Plenarprotokoll 15/43

Deutscher

Stenografischer Bericht

43. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Inhalt:

Nachträgliche Gratulation zum 60. Geburtstag Dr. Uschi Eid BÜNDNIS 90/DIE der Abgeordneten Dr. Margrit Spielmann . . 3483 A GRÜNEN ...... 3508 D Begrüßung der Präsidentin der National- Hartwig Fischer (Göttingen) CDU/CSU . . . . 3509 B versammlung der Republik Ungarn, Frau Dr. Katalin Szili ...... 3485 B Dr. SPD ...... 3509 C Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 3483 A Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von den Abgeord- Tagesordnungspunkt 3: neten , Dr. Norbert Röttgen, weiteren Abgeordneten und Abgabe einer Erklärung durch die Bun- der Fraktion der CDU/CSU einge- desregierung: Zukunft sichern – Globale brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Armut bekämpfen ...... 3485 C Stärkung der Rechte der Opfer im Strafprozess (2. Opferschutzgesetz) Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin (Drucksache 15/814) ...... 3511 B BMZ ...... 3485 C b) Zweite und dritte Beratung des vom Dr. Christian Ruck CDU/CSU ...... 3489 D Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- SPD ...... 3492 A nes ... Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches und anderer Ge- Markus Löning FDP ...... 3493 C setze – Widerruf der Straf- und Strafrestaussetzung – (... StrÄndG) Thilo Hoppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3494 D (Drucksachen 15/310, 15/954) ...... 3511 C CDU/CSU ...... 3496 A in Verbindung mit Karin Kortmann SPD ...... 3498 C Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ . . . 3500 C Zusatztagesordnungspunkt 2: Ulrich Heinrich FDP ...... 3501 D Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD ...... 3502 D , weiterer Abgeordneter und Ulrich Heinrich FDP ...... 3503 B der Fraktion der FDP: Opferrechte stär- ken und verbessern Dr. SPD ...... 3503 C (Drucksache 15/936) ...... 3511 C Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 3505 A Dr. Norbert Röttgen CDU/CSU ...... 3511 D (Meschede) SPD ...... 3506 A Joachim Stünker SPD ...... 3514 B Hartwig Fischer (Göttingen) CDU/CSU . . . . 3507 A Jörg van Essen FDP ...... 3516 C II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. , Donnerstag, den 8. Mai 2003

Jerzy Montag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3518 A in Verbindung mit

Michaela Noll CDU/CSU ...... 3519 D Zusatztagesordnungspunkt 3: Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 3521 A a) Erste Beratung des von der Bundes- Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) CDU/CSU 3523 B regierung eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zu dem Zusatzabkom- Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ men vom 27. August 2002 zum DIE GRÜNEN ...... 3525 A Abkommen vom 14. November 1985 zwischen der Bundesrepublik Daniela Raab CDU/CSU ...... 3526 A Deutschland und Kanada über So- ziale Sicherheit Erika Simm SPD ...... 3527 B (Drucksache 15/881) ...... 3529 C b) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs ei- Tagesordnungspunkt 18: nes Gesetzes zu dem Abkommen a) Erste Beratung des von der Bundes- vom 12. September 2002 zwischen regierung eingebrachten Entwurfs ei- der Bundesrepublik Deutschland nes Gesetzes zur Neustrukturierung und der Slowakischen Republik der Förderbanken des Bundes über Soziale Sicherheit (Förderbankenneustrukturierungs- (Drucksache 15/883) ...... 3529 C gesetz) c) Erste Beratung des von der Bundes- (Drucksachen 15/902, 15/949) ...... 3528 D regierung eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zu dem Internationa- b) Erste Beratung des von der Bundes- len Vertrag vom 3. November 2001 regierung eingebrachten Entwurfs ei- über pflanzengenetische Ressourcen nes Gesetzes zur Förderung von für Ernährung und Landwirtschaft Kleinunternehmern und zur Ver- (Drucksache 15/882) ...... 3529 D besserung der Unternehmensfinan- zierung (Kleinunternehmerförde- d) Erste Beratung des von der Bundes- rungsgesetz) regierung eingebrachten Entwurfs ei- (Drucksache 15/900) ...... 3529 A nes Gesetzes über die Registrierung von Betrieben zur Haltung von c) Erste Beratung des von der Bundes- Legehennen (Legehennenbetriebs- regierung eingebrachten Entwurfs ei- registergesetz – LegRegG) nes Gesetzes zur Änderung der Vor- (Drucksache 15/905) ...... 3529 D schriften zum diagnoseorientierten e) Antrag der Abgeordneten Götz-Peter Fallpauschalensystem für Kranken- Lohmann, , weiterer häuser – Fallpauschalenänderungs- Abgeordneter und der Fraktion der gesetz (FPÄndG) SPD sowie der Abgeordneten Winfried (Drucksache 15/897) ...... 3529 B Hermann, Petra Selg, weiterer Abge- e) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- ordneter und der Fraktion des BÜND- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes NISSES 90/DIE GRÜNEN: Durch zur Änderung des Gesetzes zur Bewegung und Sport Gesundheit Durchführung der Rechtsakte der und Prävention fördern Europäischen Gemeinschaft auf (Drucksache 15/931) ...... 3529 D dem Gebiet des ökologischen Land- baus (Öko-Landbaugesetz – ÖLG) (Drucksache 15/775) ...... 3529 B Tagesordnungspunkt 19: a) Zweite Beratung und Schlussabstim- f) Erste Beratung des von der Bundes- mung des von der Bundesregierung regierung eingebrachten Entwurfs ei- eingebrachten Entwurfs eines Geset- nes Zweiten Gesetzes zur Änderung zes zu dem Abkommen vom 31. Juli des Vierten Buches Sozialgesetzbuch 2001 zwischen der Regierung der (Drucksache 15/898) ...... 3529 B Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreiches g) Unterrichtung durch die Bundesregie- Thailand über den Seeverkehr rung: Erfahrungen mit dem in § 47 a (Drucksachen 15/716, 15/951) ...... 3530 A des Arzneimittelgesetzes vorgesehe- nen Sondervertriebsweg b) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 14/6766) ...... 3529 C Ausschusses für Verkehr, Bau- und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 III

Wohnungswesen zu der Unterrichtung Tagesordnungspunkt 5: durch die Bundesregierung: Vorschlag Beschlussempfehlung und Bericht des für eine Richtlinie des Europäischen Ausschusses für die Angelegenheiten der Parlaments und des Rates zur Ände- Europäischen Union rung der Richtlinie 2001/25/EG des Europäischen Parlaments und des – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD Rates über Mindestanforderungen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- für die Ausbildung von Seeleuten NEN: Der europäischen Verfassung KOM (2003) 1 endg.; Ratsdok. 5369/03 Gestalt geben – Demokratie stärken, (Drucksachen 15/611 Nr. 2.12, 15/912) 3530 B Handlungsfähigkeit erhöhen, Ver- fahren vereinfachen

Zusatztagesordnungspunkt 4: – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/ Dr. Claudia Winterstein, weiterer Ab- CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- geordneter und der Fraktion der FDP: NEN und der FDP: Änderung des Zeit- Das neue Gesicht Europas – Kern- raumes für den Bericht der Bundes- elemente einer europäischen Verfas- regierung über den Stand der sung Auszahlungen und die Zusammenarbeit (Drucksachen 15/548, 15/577, 15/950) . . der Stiftung „Erinnerung, Verantwor- 3550 C tung und Zukunft“ mit den Partneror- ganisationen und den Bericht der Bun- in Verbindung mit desregierung über den Stand der Rechtssicherheit für deutsche Unter- nehmen im Zusammenhang mit der Zusatztagesordnungspunkt 6: Stiftung „Erinnerung, Verantwortung Antrag der Abgeordneten , und Zukunft“ , weiterer Abgeordneter und (Drucksache 15/938) ...... 3530 C der Fraktion der CDU/CSU: Ein Verfas- sungsvertrag für eine bürgernahe, de- mokratische und handlungsfähige Eu- Zusatztagesordnungspunkt 5: ropäische Union (Drucksache 15/918) ...... Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frak- 3550 D tion der CDU/CSU: Berichte über höchste April-Arbeitslosigkeit seit der in Verbindung mit Wiedervereinigung, Praxistauglichkeit des Hartz-Konzeptes und Ausbaupläne des Vorstandes der Bundesanstalt für Zusatztagesordnungspunkt 7: Arbeit Antrag der Abgeordneten Dr. , CDU/CSU ...... 3530 D Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der Klaus Brandner SPD ...... 3531 D FDP: Initiativen des Brüsseler Vierer- gipfels zur Europäischen Sicherheits- FDP ...... 3533 B und Verteidigungs-Union (ESVU) über BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 3534 C den Europäischen Verfassungskonvent vorantreiben Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU ...... 3536 A (Drucksache 15/942) ...... 3550 D Hans-Werner Bertl SPD ...... 3537 B Hans Martin Bury, Staatsminister AA ...... 3551 A CDU/CSU ...... 3538 B Peter Hintze CDU/CSU ...... 3552 D BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3539 C Anna Lührmann BÜNDNIS 90/DIE Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 3540 D GRÜNEN ...... 3555 A Dr. Michael Fuchs CDU/CSU ...... 3541 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP ...... 3557 A , Parl. Staatssekretär BMWA . . . 3542 D fraktionslos ...... 3558 D Wolfgang Meckelburg CDU/CSU ...... 3545 C Michael Roth (Heringen) SPD ...... 3559 C Karin Roth (Esslingen) SPD ...... 3546 D Peter Altmaier CDU/CSU ...... 3561 D Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 3548 A Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/DIE Walter Hoffmann (Darmstadt) SPD ...... 3549 B GRÜNEN ...... 3564 A IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Gerd Müller CDU/CSU ...... 3565 B Tagesordnungspunkt 8: SPD ...... 3567 B Antrag der Abgeordneten , Gudrun Kopp, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP: Tagesordnungspunkt 6: Sperrzeiten für Außengastronomie ver- braucherfreundlicher gestalten Antrag der Abgeordneten Dr. Michael (Drucksache 15/674) ...... 3591 C Meister, Heinz Seiffert, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU: Ernst Burgbacher FDP ...... 3591 D Förderung des Finanzplatzes Deutsch- Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär land BMWA ...... 3593 A (Drucksache 15/748) ...... 3569 A Ernst Hinsken CDU/CSU ...... 3594 A in Verbindung mit Brunhilde Irber SPD ...... 3596 A Undine Kurth (Quedlinburg) BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 8: DIE GRÜNEN ...... 3597 C Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Finanz- Zusatztagesordnungspunkt 10: platz Deutschland weiter fördern (Drucksache 15/930) ...... 3569 A Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- CDU/CSU ...... 3569 C zes zum Vertrag vom 27. Januar 2003 Nina Hauer SPD ...... 3571 B zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und dem Zentralrat der Juden in Dr. FDP ...... 3573 C Deutschland – Körperschaft des öffent- lichen Rechts – Hubert Ulrich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3574 D (Drucksache 15/879) ...... 3599 B Stefan Müller (Erlangen) CDU/CSU ...... 3576 C Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 3599 B () SPD ...... 3578 D Wolfgang Bosbach CDU/CSU ...... 3600 C BÜNDNIS 90/DIE Zusatztagesordnungspunkt 9: GRÜNEN ...... 3602 A Antrag der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Hans-Joachim Otto () FDP ...... 3602 D Rossmann, Jörg Tauss, weiterer Abgeord- SPD ...... 3603 B neter und der Fraktion der SPD, der Abge- ordneten Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Tagesordnungspunkt 9: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN so- wie der Abgeordneten Ulrike Flach, Antrag der Abgeordneten Wolfgang (Homburg), weiterer Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Ham- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: burg), weiterer Abgeordneter und der Für eine erfolgreiche Fortsetzung der Fraktion der CDU/CSU: Vorrang für die gemeinsamen Bildungsplanung von Ostseesicherheit Bund und Ländern im Rahmen der (Drucksache 15/465) ...... 3604 B Bund-Länder-Kommission für Bil- dungsplanung und Forschungsförde- rung (BLK) Zusatztagesordnungspunkt 11: (Drucksache 15/935) ...... 3580 D Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. SPD ...... 3581 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Neuregelung des Rechts der CDU/CSU ...... 3582 C Kriegsdienstverweigerung (Kriegs- Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3584 C dienstverweigerungs-Neuregelungsge- setz – KDVNeuRG) Ulrike Flach FDP ...... 3585 C (Drucksache 15/908) ...... 3604 C , Parl. Staatssekretär BMBF ...... 3586 D Tagesordnungspunkt 10: CDU/CSU ...... 3588 A Beschlussempfehlung und Bericht des SPD ...... 3590 A Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 V

nungswesen zu dem Antrag der Abgeord- der Fraktion der FDP: Zukunftsorien- neten Dirk Fischer (), Eduard tierte Energieforschung – Fusions- Oswald, weiterer Abgeordneter und der forschung in Deutschland und Europa Fraktion der CDU/CSU: Transrapid-Pro- vorantreiben jekt Berlin–Hamburg unverzüglich wie- (Drucksache 15/685) ...... 3616 A der aufnehmen (Drucksachen 15/300, 15/489) ...... 3604 D in Verbindung mit Hans-Günter Bruckmann SPD ...... 3605 A Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU ...... 3606 C Zusatztagesordnungspunkt 13: Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Katherina DIE GRÜNEN ...... 3608 A Reiche, Dr. Peter Paziorek, weiterer Abge- (Bayreuth) FDP ...... 3608 C ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Unterstützung für eine Bewerbung des Norbert Königshofen CDU/CSU ...... 3609 A Standortes Greifswald/Lubmin für den ITER (Internationaler Thermonuklea- rer Experimenteller Reaktor) Tagesordnungspunkt 7: (Drucksache 15/929) ...... 3616 A Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Nächste Sitzung ...... 3616 C Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Deter- Anlage 1 genzien KOM (2002) 485 endg.; Ratsdok. Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 3617 A 12319/02 (Drucksachen 15/173 Nr. 2.79, 15/736) . . 3610 B Anlage 2 Tagesordnungspunkt 11: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Vorrang für die Ostseesicherheit Beschlussempfehlung und Bericht des (Tagesordnungspunkt 9) Rechtsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, Dr. SPD ...... 3617 B Dr. Norbert Röttgen, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU: Ver- Dr. CDU/CSU ...... 3618 A sorgungsausgleich umgehend regeln – Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) . . 3619 B Keine Schlechterstellung von Frauen bei der Alterssicherung Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/DIE (Drucksachen 15/354, 15/953) ...... 3610 C GRÜNEN ...... 3620 C Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 3610 D Hans-Michael Goldmann FDP ...... 3621 B CDU/CSU ...... 3611 D , Parl. Staatssekretärin Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ BMVBW...... 3622 C DIE GRÜNEN ...... 3613 C FDP ...... 3614 D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zum Entwurf Zusatztagesordnungspunkt 12: eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung (Kriegsdienst- Antrag der Abgeordneten Ralf Göbel, verweigerungs-Neuregelungsgesetz) (Zusatz- Wolfgang Bosbach, weiterer Abgeordne- tagesordnungspunkt 11) ter und der Fraktion der CDU/CSU: Aus- schreibung des BOS-Digitalfunks im Andreas Weigel SPD ...... 3623 D Jahr 2003 einleiten (Drucksache 15/816) ...... 3615 C Thomas Dörflinger CDU/CSU ...... 3624 C BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 3625 D Tagesordnungspunkt 12: Ina Lenke FDP ...... 3626 B Antrag der Abgeordneten , Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und Christel Riemann-Hanewinckel SPD ...... 3626 C VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Anlage 4 Ralf Göbel CDU/CSU ...... 3634 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 3636 C der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- Ernst Burgbacher FDP ...... 3637 A schen Parlaments und des Rates über Deter- Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 3637 C genzien (Tagesordnungspunkt 7) ...... 3627 D Heinz Schmitt (Landau) SPD ...... 3627 D Anlage 7 Marie-Luise Dött CDU/CSU ...... 3629 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung CDU/CSU ...... 3630 A der Anträge: Dr. Antje Vogel-Sperl BÜNDNIS 90/DIE – Zukunftsorientierte Energieforschung – GRÜNEN ...... 3630 D Fusionsforschung in Deutschland und Birgit Homburger FDP ...... 3632 A Europa vorantreiben – Unterstützung für eine Bewerbung des Standortes Greifswald/Lubmin für den Anlage 5 ITER (Internationaler Thermonuklea- Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des rer Experimenteller Reaktor) Antrags: Versorgungsausgleich umgehend re- (Tagesordnungspunkt 12 und Zusatztagesord- geln – Keine Schlechterstellung von Frauen bei nungspunkt 13) ...... 3638 C der Alterssicherung (Tagesordnungspunkt 11) Ulrich Kasparick SPD ...... 3638 C SPD ...... 3632 C Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) CDU/CSU 3640 A CDU/CSU ...... 3641 A Anlage 6 Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung GRÜNEN ...... 3641 D des Antrags: Ausschreibung des BOS-Digital- funks im Jahr 2003 einleiten (Zusatztagesord- Ulrike Flach FDP ...... 3643 A nungspunkt 12) ...... 3633 C Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär Hans-Peter Kemper SPD ...... 3633 C BMBF ...... 3644 A

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3483

(A) (C) Redetext

43. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Landwirtschaft (f) Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Die Kollegin Dr. Margrit Spielmann feierte am d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- 29. April ihren 60. Geburtstag. Im Namen des Hauses ten Entwurfs eines Gesetzes über die Registrierung von gratuliere ich nachträglich sehr herzlich und wünsche al- Betrieben zur Haltung von Legehennen (Legehennenbe- les Gute. triebsregistergesetz – LegRegG) – Drucksache 15/905 – (Beifall) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Landwirtschaft Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ih- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Götz-Peter nen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: Lohmann, Dagmar Freitag, Helga Kühn-Mengel, weiterer (B) Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- (D) 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der SPD und ordneten , Petra Selg, , des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Situation im Hin- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- blick auf das akute Atemwegssyndrom (SARS) in der SES 90/DIE GRÜNEN: Durch Bewegung und Sport Ge- Bundesrepublik (siehe 42. Sitzung) sundheit und Prävention fördern – Drucksache 15/931 – 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen, Überweisungsvorschlag: Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und Sportausschuss (f) der Fraktion der FDP: Opferrechte stärken und verbessern Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Drucksache 15/936 – 4 Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache (Ergän- Überweisungsvorschlag: zung zu TOP 19) Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP: Ände- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe rung des Zeitraumes für den Bericht der Bundesregierung über den Stand der Auszahlungen und die Zusammenar- 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren beit der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zu- (Ergänzung zu TOP 18) kunft“ mit den Partnerorganisationen und den Bericht a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- der Bundesregierung über den Stand der Rechtssicherheit ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen für deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit der vom 27. August 2002 zum Abkommen vom 14. No- Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ vember 1985 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- – Drucksache 15/938 – land und Kanada über Soziale Sicherheit – Drucksa- 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: che 15/881 – Berichte über höchste April-Arbeitslosigkeit seit der Wie- Überweisungsvorschlag: dervereinigung, Praxistauglichkeit des Hartz-Konzeptes Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung und Ausbaupläne des Vorstandes der Bundesanstalt für b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- Arbeit ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hintze, Peter 12. September 2002 zwischen der Bundesrepublik Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer Abgeordneter und der Deutschland und der Slowakischen Republik über So- Fraktion der CDU/CSU: Ein Verfassungsvertrag für eine ziale Sicherheit – Drucksache 15/883 – bürgernahe, demokratische und handlungsfähige Europä- Überweisungsvorschlag: ische Union – Drucksache 15/918 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Überweisungsvorschlag: c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Union (f) Vertrag vom 3. November 2001 über pflanzengeneti- Auswärtiger Ausschuss sche Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft Innenausschuss – Drucksache 15/882 – Sportausschuss 3484 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Präsident Wolfgang Thierse (A) Rechtsausschuss 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralf Göbel, (C) Finanzausschuss Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und der Fraktion der CDU/CSU: Ausschreibung des BOS- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Digitalfunks im Jahr 2003 einleiten – Drucksache 15/816 – Landwirtschaft Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss Innenausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Verteidigungsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina Reiche, Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Dr. Peter Paziorek, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter Entwicklung und der Fraktion der CDU/CSU: Unterstützung für eine Be- Ausschuss für Tourismus werbung des Standortes Greifswald/Lubmin für den Ausschuss für Kultur und Medien ITER (Internationaler Thermonuklearer Experimentel- Haushaltsausschuss ler Reaktor) – Drucksache 15/929 – 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Überweisungsvorschlag: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, (Münster), Ausschuss für Bildung, Forschung und weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Initiativen Technikfolgenabschätzung (f) des Brüsseler Vierergipfels zur Europäischen Sicherheits- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und Verteidigungs-Union (ESVU) über den Europäischen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Verfassungskonvent vorantreiben – Drucksache 15/942 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 14 – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung (f) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Auswärtiger Ausschuss Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Auf- Verteidigungsausschuss enthalts und der Integration von Unionsbürgern und Aus- ländern (Zuwanderungsgesetz) – Drucksachen 15/420, 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des 15/522 – (Erste Beratung 31. Sitzung) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Finanzplatz Deutsch- land weiter fördern – Drucksache 15/930 – – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. , Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiteren Überweisungsvorschlag: Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Finanzausschuss (f) Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung Rechtsausschuss der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit der Integration von Unionsbürgern und Ausländern Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetz) (B) Landwirtschaft – Drucksache 15/538 – (D) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (Erste Beratung 31. Sitzung) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter (4. Ausschuss) – Drucksache 15/955 – Rossmann, Jörg Tauss, , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Grietje Bettin, Berichterstattung: Hans-Josef Fell, (Köln), weiterer Abgeordneter Abgeordnete Rüdiger Veit und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie Dr. Michael Bürsch der Abgeordneten Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Hom- Hartmut Koschyk burg), Cornelia Pieper, Dr. und der Frak- (Recklinghausen) tion der FDP: Für eine erfolgreiche Fortsetzung der ge- Josef Philip Winkler meinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern im Dr. Max Stadler Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungs- b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß planung und Forschungsförderung (BLK) – Druck- § 96 der Geschäftsordnung – Drucksache 15/951, 15/960 – sache 15/935 – Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Abgeordnete Susanne Jaffke Ausschuss für Bildung, Forschung und Klaus Hagemann Technikfolgenabschätzung Anja Hajduk 10 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Vertrag vom 27. Januar 2003 15 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD, zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Zen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP einge- tralrat der Juden in Deutschland – Körperschaft des öf- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset- fentlichen Rechts – Drucksache 15/879 – zes zur Neuregelung des Schutzes von Verfassungsorganen Überweisungsvorschlag: des Bundes – Drucksache 15/805 – Innenausschuss (f) (Erste Beratung 40. Sitzung) Rechtsausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wahl- Haushaltsausschuss prüfung, Immunität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss) gemäß § 96 GO – Drucksache 15/969 – 11 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Berichterstattung: Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz Kriegsdienstverweigerung (Kriegsdienstverweigerungs- (Heilbronn) Neuregelungsgesetz – KDVNeuRG) – Drucksache 15/908 – Volker Beck (Köln) Überweisungsvorschlag: Jörg van Essen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martina Innenausschuss Krogmann, Ursula Heinen, Karl-Josef Laumann, weiterer Ab- Verteidigungsausschuss geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Den Missbrauch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3485

Präsident Wolfgang Thierse (A) von Mehrwertdiensterufnummern grundlegend und um- und die Freiheitsliebe, die Ungarn 1989 nicht zum ersten (C) fassend bekämpfen – Drucksache 15/919 – Mal in seiner Geschichte bewiesen hat, nicht vergessen Überweisungsvorschlag: werden. Wir freuen uns darauf, mit Ihnen in der Europä- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) ischen Union demnächst gemeinsam die Zukunft Euro- Rechtsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- pas gestalten zu können. schaft Ich hoffe, dass Sie bei Ihren Gesprächen und Begeg- Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – so- nungen die freundschaftliche Dankbarkeit spüren wer- weit erforderlich – abgewichen werden. den, die wir für Ihr Land empfinden. Darüber hinaus wurde vereinbart, den Tagesordnungs- Ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche Ihnen punkt 14 – europäische Ausländer-, Asyl- und Zuwande- einen angenehmen Aufenthalt in Berlin. rungspolitik – und den Tagesordnungspunkt 18 d – Gen- technikrecht – abzusetzen. (Beifall) Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschuss- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: überweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste auf- Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie- merksam: rung: Der in der 40. Sitzung des Deutschen Bundestages Zukunft sichern – Globale Armut bekämpfen überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- lich dem Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zur Mit- Es liegen drei Entschließungsanträge der Fraktion der beratung überwiesen werden. CDU/CSU vor. Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN über die Ver- die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- ordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in der rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen vertragsärztlichen Versorgung – Druck- Widerspruch. Dann ist so beschlossen. sache 15/800 – Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat überwiesen: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenar- beit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul. Der in der 41. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für (B) lich dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre (D) Hilfe zur Mitberatung überwiesen werden. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesetzentwurf der Abgeordneten Joachim Auf den Tag genau heute vor 58 Jahren haben die Ver- Stünker, Hermann Bachmaier, Sabine Bätzing, einigten Staaten von Amerika mit anderen zusammen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD unser Land vom Hitler-Faschismus befreit. Wir alle, sowie der Abgeordneten , Hans- auch ich ganz persönlich, danken dem amerikanischen Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), weiterer Vo lk d a f ür. Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN zur Umsetzung des Rah- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE menbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) zur Terrorismusbekämpfung und zur Ände- rung anderer Gesetze – Drucksache 15/813 – Die USA haben die Zukunft in schwerer Zeit gesichert und die Vereinigung unseres Landes ermög- überwiesen: Rechtsausschuss (f) licht. Die engen Bindungen zu den USA und ihren Bür- Innenausschuss gern und Bürgerinnen werden deshalb immer fortbeste- hen und nicht durch Meinungsunterschiede – sollten Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wi- diese auch in noch so wichtigen Fragen bestehen – be- derspruch. Dann ist so beschlossen. rührt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri- In den letzten Monaten hat sich die ganze Welt mit büne haben die Präsidentin der Nationalversammlung der Einlösung der Resolution 1441 des UN-Sicher- der Republik Ungarn, Dr. Katalin Szili, und ihre Dele- heitsrates befasst; jeder kannte diese Ziffer. Ich möchte, gation Platz genommen, die ich herzlich willkommen dass alle politisch Handelnden und die Weltöffentlich- heiße. keit mit der gleichen Leidenschaft auch für die Umset- (Beifall) zung der Resolution 55/2 der UN-Generalversammlung arbeiten, mit der die Staats- und Regierungschefs im Im September 1989 hat Ungarn mit der Öffnung des September 2000 beschlossen haben, der Armut entge- Eisernen Vorhangs das Tor zur Wiedervereinigung genzutreten und sie drastisch zu reduzieren. Dies ist eine Deutschlands und Europas aufgestoßen. Mit dem bevor- wichtige weltweite Aufgabe für die Zukunft. stehenden Beitritt zur Europäischen Union vollendet sich für Ihr Land der Weg, der damals begonnen wurde. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie können gewiss sein, dass wir Deutschen den Mut DIE GRÜNEN) 3486 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Bis zum Jahr 2015 soll der Anteil der Menschen, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) von weniger als 1 US-Dollar am Tag leben müssen, DIE GRÜNEN) halbiert werden. Tatsächlich sind Taten notwendig: 1,2 Milliarden Menschen – ich sagte es – leben von we- Allein der Nachtragshaushalt, den die amerikanische Re- niger als 1 US-Dollar am Tag und sind damit extrem gierung zum Irakkrieg vorgelegt hat – 80 Milliarden US- arm. 113 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter Dollar –, beträgt ungefähr das Anderthalbfache dessen, können nicht zur Schule gehen. Täglich sterben was alle Industriestaaten jährlich an Mitteln zur Ent- 6 000 Kinder unter fünf Jahren, weil sie keinen Zugang wicklungszusammenarbeit ausgeben. Im Jahre 2002 wa- zu sauberem Trinkwasser haben. ren das 57 Milliarden US-Dollar. Diese Zahlen müssen uns aufrütteln. Aber – auch das Prävention ist nicht nur menschenwürdiger, sondern muss ich sagen – wir haben auf der Frühjahrstagung von auch billiger und verantwortungsbewusster. Wir alle Weltbank und Internationalem Währungsfonds vor ge- spüren doch täglich, dass wir nicht auf einer Insel leben, rade einem Monat einen Bericht zur Umsetzung dieser dass uns global verursachte Umweltkatastrophen errei- Ziele gehört. Dabei wurde festgestellt, dass sich die Rah- chen sowie Unsicherheit und Gewalt zunehmen. Des- menbedingungen zur Erreichung dieser Ziele drastisch halb möchte ich uns allen einprägen: Entwicklungszu- verschlechtert haben. Die Gründe liegen in der weltwirt- sammenarbeit ist die kostengünstigste Sicherheitspolitik. schaftlichen Situation, den direkten und indirekten Aus- Das gilt auch für unsere eigene Sicherheit. Mit unserer wirkungen des Irakkrieges, den mangelnden Fortschrit- Entwicklungszusammenarbeit leisten wir daher einen ten im Welthandel und dem drastischen Einbrechen bei Beitrag zu unserer eigenen Sicherheit. den ausländischen Direktinvestitionen. Für einzelne (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Länder kommt dann noch die dramatische Belastung DIE GRÜNEN) aufgrund der SARS-Epidemie hinzu. Die Mittel, die der Kollege Struck in seinem Bereich Bei der Fortschreibung der derzeitigen Trends – es ist auch für die Prävention einsetzt, möchte ich dabei nicht wichtig, dass wir uns das vor Augen führen – bis zum gering schätzen. Jahr 2015 wäre es zwar möglich, das Ziel, den Anteil der Armen weltweit zu halbieren, zu erreichen; aber die Um- (Heiterkeit des Bundesministers Dr. Peter setzung dieses Ziels hängt davon ab, ob Länder wie Struck) China und Indien besondere Erfolge erringen. Viele Län- – Offensichtlich hat dich meine letzte Bemerkung ge- der in Afrika würden dieses Ziel jedoch verfehlen. Des- freut. – halb muss die Schlussfolgerung sein, sowohl die An- (B) strengungen zur Entwicklungsfinanzierung – nach (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) (D) Angaben der Weltbank brauchen wir weltweit zusätzlich Deshalb arbeiten wir weltweit als Partner für Entwick- 50 Milliarden US-Dollar –, besonders bezogen auf lung und Frieden zusammen. Afrika, zu verstärken als auch endlich Beschlüsse zur Beseitigung handelspolitischer Diskriminierungen der In dieser globalen Partnerschaft für Entwicklung tra- Entwicklungsländer zu erreichen. Wir sind entschlossen, gen übrigens alle Beteiligten Verantwortung: Die Ent- diese Verpflichtungen auch umzusetzen. wicklungsländer müssen dafür sorgen, dass verantwort- liche Regierungsführung praktiziert und Korruption (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bekämpft wird. Aufseiten der Industrieländer geht es um des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Investitionen, Kredite, Beratung, Technologietransfer, Meine Sorge war und ist: Wenn Kriege wieder als Marktöffnung und um die Schaffung gerechter interna- normales Instrument von Politik betrachtet werden, be- tionaler Strukturen. steht die extreme Gefahr einer Verschiebung der Ge- Das von der Bundesregierung vorgelegte Aktions- wichte auf der internationalen Tagesordnung. Schon seit programm 2015 formuliert das Armutsbekämpfungs- dem Jahr 2000 sind die weltweiten Rüstungsausgaben ziel für diesen Zeitraum und setzt dabei die Ziele in fol- wieder drastisch angestiegen. Ein neuer weltweiter Rüs- genden drei Ländergruppen um – ich bitte Sie, dies zu tungswettlauf muss vermieden werden; denn er würde verstehen –: Mittel und Aufmerksamkeit von der großen, zentralen Aufgabe der Armutsbekämpfung ablenken. Das dürfen Erstens geht es um die Zusammenarbeit mit den Län- wir nicht zulassen. dern, die eine besonders verantwortliche Regierungsfüh- rung zeigen. Dabei wollen wir zukünftig verstärkt auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die „Neue afrikanische Initiative“ erreichen und unter- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stützen. Wir müssen die Mittel auf den Kampf gegen Armut, Zweitens geht es aber auch um die Zusammenarbeit Ungerechtigkeit, Hunger und Unwissenheit konzentrie- in Krisenregionen und in politisch instabilen Ländern, ren. Jenseits aller aktuellen Diskussion empfinde ich es um zur Lösung von Konflikten beizutragen und um als einen niemals hinzunehmenden Skandal, dass Mittel rechtsstaatliche Institutionen und gesellschaftliche Of- für Krieg in Milliardenhöhe schlagartig mobilisiert wer- fenheit zu fördern. den können, im Kampf gegen Armut und gegen das Ster- ben von Kindern aber um jeden Dollar und jeden Euro Drittens geht es um Zusammenarbeit beim gesell- zusätzlich gerungen werden muss. schaftlichen und staatlichen Aufbau nach Krisen, Krie- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3487

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) gen oder Bürgerkriegen, wie etwa in Südosteuropa oder sind und für Schulbücher, für Klassenräume usw. ver- (C) auch in . wendet wurden. Das ist nicht nur ein Beitrag dazu, ver- stärkt Kontrolle auszuüben und die Wirksamkeit der Liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders ent- Maßnahmen zu verstärken, sondern auch dazu, die Zivil- täuscht zeigen sich die Entwicklungsländer weltweit da- gesellschaft und die Demokratie zu fördern sowie dafür von, dass die Industrieländer ihre Ankündigungen bisher zu sorgen, dass die Mittel aus der Armutsbekämpfung nicht eingelöst haben, aus der Doha-Handelsrunde eine und der Entschuldung tatsächlich den Menschen vor Ort Entwicklungsrunde zu machen. Sie sind zu Recht ent- zugute kommen – ein gutes Beispiel, denke ich. täuscht. Alle hehren Sprüche über die Segnungen des freien Handels und der Marktwirtschaft müssen für die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Menschen in den Entwicklungsländern hohl klingen, so- DIE GRÜNEN) lange nach wie vor die Praxis der Exportsubventionen im Agrarbereich fortgesetzt und den Entwicklungslän- Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit den Maßnah- dern damit unfaire Konkurrenz auf den Weltmärkten und men zur Bekämpfung von Armut verbinden wir – das in ihren eigenen Ländern gemacht wird. Das ist nicht muss man im Zusammenhang sehen – zum einen Ernäh- hinnehmbar. rungssicherheit, zum anderen aber auch die Stärkung der Rechte der Frauen, Initiativen für eine , (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für den Zugang zu sauberem Trinkwasser und für die DIE GRÜNEN) Chance, dass alle Kinder vom siebten bis zum 14. Lebensjahr wenigstens die wichtigste Grundbildung Sie werden sich auch so lange enttäuscht fühlen, wie erhalten. ihnen die im Jahr 2001 zugesagte verbilligte Einfuhr von Arzneimitteln für die Bekämpfung von Epidemien nicht Lassen Sie mich mit der Bekämpfung des Hungers ermöglicht wird. Ich weise darauf hin, dass es ein Land beginnen. Die deutsche Politik steht fest zu dem interna- gibt, das sich unter dem Einfluss seiner Pharmakonzerne tionalen Ziel, das Recht auf Nahrung weltweit durchzu- einer solchen Regelung widersetzt hat. Ich fordere die setzen. Es ist ein Skandal, dass immer noch fast Regierung dieses Landes und die internationale Gemein- 800 Millionen Menschen hungern, obwohl genug Nah- schaft insgesamt auf, diese Regelung zur verbilligten rungsmittel für alle Menschen produziert werden. Einfuhr von Medikamenten in Entwicklungsländer zur Bekämpfung von Epidemien umgehend umzusetzen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Entwicklungsländer nicht weiter zu enttäuschen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wichtigste Aufgabe unserer Politik ist deshalb, dazu bei- (B) DIE GRÜNEN) zutragen, dass der Zugang zu Land und Ressourcen in (D) den Partnerländern gesichert wird und dass die EU- Wenn in diesem Bereich keine Veränderungen stattfin- Agrarpolitik geändert wird. den, wird auch die Konferenz von Cancun im Septem- ber keine Fortschritte erzielen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir unterstützen üb- rigens – das ist wichtig – nicht nur die ärmsten Entwick- Wir setzen auf das Auslaufen der Agrarexportsubven- lungsländer, sondern auch die Länder wie Brasilien, die tionen generell und wir unterstützen den Vorschlag des selbst einen anderen Weg einschlagen wollen. Brasilien französischen Präsidenten Chirac, der jetzt ein Morato- versucht mit seiner Aktion „Null Hunger“ – „Fome rium bei den Exportsubventionen gegenüber den afrika- Zero“ –, dazu beizutragen, dass die armen Menschen in nischen Ländern für die Dauer der WTO-Verhandlungen ihrem Land eine gute Perspektive haben. Das kann und fordert. Wie gesagt, der Abbau dieser Exportsubventio- muss ein ansteckendes Symbol für ganz Lateinamerika nen ist weltweit notwendig; aber es ist wichtig und gut, und für die Entwicklungsländer insgesamt sein. wenn – insbesondere auf Afrika bezogen – erst einmal mit einem solchen Schritt ein Signal gesetzt wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Lassen Sie mich an ein paar Beispielen deutlich ma- chen, wie wir versuchen, die Ziele bei der Bekämpfung Es geht uns um die Verbesserung der Grundbildung. der Armut umzusetzen, die sich die internationale Ge- Wir werden unsere Neuzusagen für Grundbildung inklu- meinschaft im Jahr 2000 vorgenommen hat. So haben sive beruflicher Bildung von 135 Millionen Euro im Jahr wir die Entschuldungsinitiative für die Entwicklungs- 2002 auf 150 Millionen Euro im Jahr 2003 steigern. länder beschlossen. Sie müssen seit dieser Zeit eigene Pläne zur Bekämpfung der Armut und der Arbeitslosig- Es geht uns um die Stärkung der Rolle der Frauen. Ich keit in ihrem Land vorlegen. Daran müssen sie die Zivil- will auf den Arab Human Development Report der Ver- gesellschaft beteiligen. einten Nationen hinweisen. Er führt die Tatsache, dass arabische Länder zum Teil in ihrer wirtschaftlichen Ent- Das können Sie sich vielleicht an folgendem Beispiel wicklung zurückbleiben, unter anderem darauf zurück, verdeutlichen: In einem Land wie Tansania kommen Fi- dass Frauen in diesen Ländern nicht ausreichend in die nanzmittel aus der Entschuldung zum Beispiel den Schu- gesellschaftlichen und politischen Prozesse einbezogen len zugute, damit Kinder in die Schule gehen können. sind. Deshalb ist die Stärkung der Rolle der Frauen eine Nichtregierungsorganisationen unterstützen diese Schu- wichtige Aufgabe im Interesse ihrer selbst, vor allen Din- len und die Kinder dabei und legen offen, welche Mittel gen aber auch ein Beitrag zu Modernisierung, Reform- aus der Entschuldung wirklich vor Ort angekommen fähigkeit und Aktivitäten im Sinne der wirtschaftlichen 3488 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Entwicklung. Das zu stärken ist eine ganz wichtige, zen- einlösen, um das zu erreichen, was ich eben skizziert (C) trale Aufgabe unserer Entwicklungszusammenarbeit. habe. Es geht auch darum – das tun wir –, dafür zu sorgen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass Frauen Zugang zu den Familienplanungsmöglich- DIE GRÜNEN) keiten haben. Sie müssen ihr Recht auf sexuelle Selbst- Insgesamt ist auch die Entschuldungsinitiative ein bestimmung wahrnehmen können. Sie müssen selbst großer Fortschritt. 26 Länder haben bisher einen Schul- entscheiden können, wie viele Kinder sie haben wollen. denerlass erhalten. Das entspricht einem Umfang von Sonst können sie ihre Möglichkeiten der Familienpla- 41 Milliarden US-Dollar. Unter Hinzurechnung traditio- nung überhaupt nicht nutzen und haben keine Chance. neller und zusätzlicher freiwilliger Erlassmaßnahmen Liebe Kolleginnen und Kollegen, weltweit leben beträgt die Entlastung bisher circa 60 Milliarden US- 42 Millionen Menschen mit HIV/Aids. Auch das ist ein Dollar. Das ist ein großer Schritt neben der Entwick- Aktionsfeld im Bereich der Armutsbekämpfung. In un- lungsfinanzierung, die ich genannt habe. serer Regierungszeit haben wir den Kampf gegen HIV/ Uns alle – ich habe es zu Beginn angesprochen – hat Aids jährlich – wir werden das auch im kommenden Jahr in den letzten Monaten der Krieg im Irak umgetrieben, tun – mit 300 Millionen Euro bilateral, über die Welt- ein Krieg, den wir nicht gewollt haben und den wir wie bank, aber auch über die Europäische Union unterstützt. Millionen von Menschen überall in der Welt bis zuletzt Was brauchen wir in Bezug auf eine neue Energiezu- zu verhindern gesucht haben. Jetzt sagen manche, der kunft? Die Ausgangslage ist dramatisch: Die Industrie- Krieg sei doch ganz glimpflich verlaufen, und fragen, länder verbrauchen 75 Prozent der Energie, während warum wir den Krieg kritisiert hätten. Aber ist es 2,4 Milliarden Menschen, also 46 Prozent der Weltbe- glimpflich, wenn Zehntausende Zivilisten und Soldaten völkerung, keinen Zugang zu kommerzieller Energie ha- ihr Leben verlieren, ben. Wenn wir das Ziel der Armutsbekämpfung über- (Albert Deß [CDU/CSU]: Was war denn vor- haupt erreichen wollen, dann müssen wir diesen her im Irak los? Reden Sie doch darüber!) Menschen Zugang zu Energie eröffnen. Dabei ist klar, dass das nicht nach den alten Mustern des Energiever- wenn Tausende von Kindern körperlich und seelisch brauchs und der Energieerzeugung erfolgen kann. Sonst schwer verletzt und für ihr Leben geschädigt werden, wo wäre der ökologische Kollaps programmiert. doch die Perspektive der nicht militärischen Entwaff- nung bestand? – Ich sage: Nein. Wenn wir die Investitionen erreichen wollen, die in diesem Bereich notwendig sind, müssen wir Energieeffi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) zienz und erneuerbare Energien fördern. DIE GRÜNEN) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Krieg ist militärisch gewonnen. Saddam Hussein DIE GRÜNEN) ist gestürzt und das ist gut. Aber der Frieden ist noch lange nicht erreicht. Das zeigen uns die Bilder täglich. Da haben wir einen besonderen Schwerpunkt, der wich- Jetzt geht es darum, Frieden zu schaffen und dem iraki- tig für die internationalen Beziehungen ist. Wir werden schen Volk tatsächlich die Freiheit von Diktatur und im nächsten Jahr eine Konferenz für erneuerbare Ener- Fremdherrschaft zu geben. Nur die Vereinten Nationen gien durchführen und dabei die globale Koalition für er- haben dafür die Legitimität. Die Menschen im Irak müs- neuerbare Energien stärken. Es geht darum, eine neue sen allein über die Ölvorkommen und die Erlöse aus den Energiezukunft für die Welt zu ermöglichen, eine Zu- Ölgeschäften verfügen und entscheiden dürfen. Dafür kunft, die nachhaltig und partnerschaftlich ist und auch müssen die Vereinten Nationen sorgen. deshalb niemals das Mittel Militär zur Ressourcensiche- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung einsetzt. Dies ist die Perspektive, die für die euro- DIE GRÜNEN) päischen Länder von Bedeutung ist. Das wird im Übrigen bei der Beratung der anstehen- Wenn wir diese Ziele erreichen wollen, dann müssen den UN-Resolution deutlich werden und wird dann ge- wir die Entwicklungsfinanzierung stärken. Ich weise meinsam mit der Frage der Aufhebung der Sanktionen darauf hin, dass zum ersten Mal seit dem Jahr 2002 nach zu beschließen sein. langen Jahren des Sinkens und der Stagnation der offizi- ellen Entwicklungshilfe die Ausgaben der Geberländer Ich möchte zum Schluss auf die Hilfe hinweisen, die weltweit gestiegen sind, und zwar von 53 Milliarden wir schon heute für die Menschen im Irak faktisch leis- US-Dollar auf 57 Milliarden US-Dollar. Das wird aber ten. Die Bundesregierung hat sich im Irak mit nicht ausreichen. Die deutschen Entwicklungshilfezah- 50 Millionen Euro direkt engagiert, um die unmittelbare lungen sind zwar von 2001 auf 2002 um 369 Millionen Not der Menschen zu lindern. Mit diesem Geld unter- US-Dollar auf 5,359 Milliarden US-Dollar gestiegen, stützen wir UN-Hilfsorganisationen, das Internationale was eine Steigerung um gut 7 Prozent ist. Aber der An- Rote Kreuz und auch private und kirchliche Hilfsorgani- teil am Bruttonationaleinkommen ist bei 0,27 Prozent sationen. An dieser Stelle fordere ich noch einmal aus- geblieben. Wir halten an dem Ziel fest – das werden wir drücklich: Alle Hilfsorganisationen müssen ungehinder- umsetzen –, bis 2006 einen Anteil von 0,33 Prozent, wie ten Zugang zu den leidenden Menschen haben, zugesagt, zu erreichen – trotz aller Konsolidierungsbe- unabhängig von militärischer Kontrolle und militäri- mühungen, die ich kenne. Aber wir müssen dieses Ziel schem Einfluss. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3489

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Washington hat einen Index entwickelt, der bewertet, (C) DIE GRÜNEN) wie sich die Politik der 21 wichtigsten Industrieländer auf die Entwicklungschancen der ärmsten Länder aus- Mit unserer Finanzierung liefert das Welternäh- wirkt. Ich möchte Ihnen mit großer Freude in Erinnerung rungsprogramm täglich 2 000 Tonnen Lebensmittel in rufen, dass die Bundesrepublik in diesem so genannten den Irak. Das Internationale Rote Kreuz baut allmählich Development Friendliness Index an der Spitze der G-7- die Wasserversorgung im Irak mit auf und nimmt sich Länder liegt. Ich denke, das ist eine wichtige Anerken- der Versorgung in den Krankenhäusern an. nung der Politik, die wir zugunsten der Entwicklungs- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss Ihnen aber länder leisten. mitteilen – ich stehe sowohl mit dem zuständigen EU- Kommissar als auch mit Cap Anamur, die sich nach wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vor im Land aufhalten, in Kontakt –, dass die Lage be- DIE GRÜNEN) sonders in den Slums von Bagdad nach wie vor drama- Diese Anerkennung und Auszeichnung bestärkt uns tisch ist. Die Versorgung der Bevölkerung ist in keiner darin, weiterhin entschlossen für eine progressive und Weise gesichert. starke Entwicklungspolitik einzutreten, die mit vielfälti- Deshalb war es wichtig, dass am 6. Mai der erste gen Partnerschaften und Allianzen mit allen gesell- Hilfsflug der Europäischen Union medizinische Hilfsgü- schaftlichen Gruppen arbeitet. Wir müssen es gemein- ter im Wert von 10 Millionen Euro nach Bagdad ge- sam schaffen, die Ziele der Armutsbekämpfung zu bracht hat. Wir unterstützen die Europäische Union im erreichen. Dazu müssen und werden wir die Mittel für Umfang von 100 Millionen Euro für Nothilfe und Wie- die Entwicklungszusammenarbeit, wie versprochen, aus- deraufbau. Deutschland ist damit zu rund einem Viertel weiten und uns auch durch aktuelle Krisen nicht ablen- an der Finanzierung beteiligt. ken lassen. Wir stehen in enger Verbindung mit dem Internationa- Die Menschen in den Entwicklungsländern, aber auch len Roten Kreuz und anderen Organisationen wie dem die Generationen, die nach uns kommen, werden uns da- Hammer Forum, die besonders schwer verletzte Kinder nach bewerten, was wir getan haben, um globale Armut aus dem Irak zur Behandlung nach Deutschland holen zu bekämpfen, Globalisierung gerecht zu gestalten, eine wollen. Nachdem bisher nur US-Flugzeuge im Irak lan- gerechte Weltordnung zu erreichen und den Frieden zu den konnten, war die Möglichkeit, Kinder auszufliegen, sichern. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ist nicht gegeben. Jetzt besteht diese Möglichkeit und wir sich ihrer Verantwortung bewusst und sie nimmt ihre werden sie zugunsten der verletzten Kinder nutzen. Wir Verantwortung wahr. freuen uns, dass das Hammer Forum bereits Zusagen für (B) (D) Betten in deutschen Krankenhäusern erhalten hat. Ich bedanke mich sehr herzlich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN) CDU/CSU und der FDP) Die Weltbank selbst wird – auch aufgrund unserer Präsident Wolfgang Thierse: Anregungen und mit unserer Unterstützung – mit einer Ich erteile dem Kollegen Dr. Christian Ruck, CDU/ eigenen Kommission im Land vertreten sein, um Emp- CSU-Fraktion, das Wort. fehlungen für den Wiederaufbau zu geben. Finanzielle Darlehen kann sie aber erst dann vergeben, wenn eine le- Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): gitimierte Regierung oder ein entsprechender Beschluss des UN-Sicherheitsrats sie dazu auffordert. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Debatten über Entwicklungspolitik haben immer zwei Adressaten: Der Wiederaufbau wird – selbstverständlich unter der die Menschen in den Zielländern, deren Entwicklung wir Autorität der Vereinten Nationen – so wichtige Bereiche befördern wollen, und unsere eigenen Bürger und Steuer- wie den Aufbau des Gesundheitswesens und des Bil- zahler in Deutschland, deren Unterstützung wir brauchen dungswesens, den Aufbau des Landes und die notwendi- und um die wir werben. gen Gesellschafts- und Wirtschaftsreformen umfassen müssen. Wir sind darauf vorbereitet, in diesem Rahmen Die Botschaft an unsere eigenen Bürger lautet: Ent- weitere Hilfe zu leisten, und werden uns im Rahmen un- wicklungspolitik macht Sinn; sie macht die Welt besser serer Möglichkeiten engagieren. und sie sichert auch die Zukunft unseres Landes. Wir müssen deutlich machen: Es war auch die Politik der Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fühle mich in wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung der unserer schwierigen, aber so notwendigen Arbeit immer letzten Jahrzehnte, die dazu beigetragen hat, dass in der wieder durch vielfältige Unterstützung und auch entspre- Tat viele Länder eine zum Teil phänomenale wirtschaft- chende Anregungen und Anerkennung ermutigt. Die liche und soziale Entwicklung durchlaufen haben, dass Kirchen würdigen, dass wir Armutsbekämpfung als vielerorts das Bevölkerungswachstum eingedämmt überwölbendes Ziel für alle Bereiche der deutschen Ent- wurde, dass dafür Lebenserwartung und Alphabetisie- wicklungszusammenarbeit berücksichtigen. rungsrate gestiegen sind und dass es in Schwellen-, Ent- Die Anerkennung ist nicht nur national, sondern auch wicklungs- und Transformationsländern noch nie so international. Das Zentrum für globale Entwicklung in viele Demokratien gegeben hat wie heute. 3490 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Christian Ruck (A) Wir müssen unseren Bürgern aber auch sagen, dass Unser Streit über die Frage, wie wir uns im Irak enga- (C) wir unsere Anstrengungen verstärken müssen; denn trotz gieren sollten, macht doch deutlich, dass Sie, Frau Mi- aller Erfolge sind die Probleme gewachsen und wachsen nisterin, trotz der Lippenbekenntnisse dieses Prinzip im weiter. Die Einkommensschere zwischen Industrie- und Alltag nicht beherzigen. Jetzt, in diesen Wochen und Entwicklungsländern klafft weiter auseinander, ebenso Monaten, werden die Weichen für die Zukunft des Irak wie die Chancenunterschiede in den Entwicklungslän- und der Region gestellt. Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem dern immer krasser werden. Korruption, schwache es um den Aufbau des Staates und seiner Organe sowie Strukturen, Misswirtschaft, Umweltzerstörung und ge- von Verwaltungsstrukturen und Institutionen als Voraus- walttätige Konflikte hemmen vielerorts eine weitere Ent- setzung für Stabilität und nachhaltige Entwicklung geht. wicklung und lassen für viele Länder die Globalisierung Das müsste jetzt angepackt werden. Das ist die originäre eher zum Risiko als zur Chance werden. Gerade aber in Aufgabe einer modernen Entwicklungspolitik. Jetzt Zeiten der Globalisierung lassen sich soziale Konflikte, wäre der Zeitpunkt, an dem unsere Entwicklungszusam- aber auch Natur- und Gesundheitskatastrophen sowie menarbeit im Irak den Grundstein für die Prinzipien le- Wirtschaftskrisen in der früher so genannten Dritten gen könnte, die unsere Interessen und unsere Wertvor- Welt weder von Europa – das gilt auch für Deutschland – stellungen widerspiegeln – wir müssen sie offensiv noch von den USA fern halten. Der 11. September 2001 vertreten –, nämlich Demokratie, soziale Marktwirt- ist dafür ein Menetekel. schaft, die Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaat- lichkeit und Erhaltung der Schöpfung. Deswegen müssen wir unseren eigenen Bürgern ver- deutlichen: Trotz hoher Arbeitslosigkeit in Deutschland (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und eigener politischer Misswirtschaft – Entwicklungs- neten der FDP) politik ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, son- Aber Sie, Frau Ministerin, verharren trotz Ihrer dern auch Sicherung der eigenen Zukunft. freundlichen Eingangsformulierung nach wie vor in ei- ner antiamerikanischen Ideologie und reden allenfalls (Beifall bei der CDU/CSU) von humanitärer Hilfe. Sie haben bisher auch keinen er- Sie ist kein politischer Luxus, sondern politische Haus- kennbaren Einsatz dafür gezeigt, dass wenigstens das aufgabe. Sie dient der Gefahrenabwehr, der Beseitigung UN-Embargo gegen den Irak beendet wird. Das ist in ökologischer und sozialer Zeitbomben sowie der Siche- unseren Augen ebenfalls ein Skandal. rung von Zukunftsmärkten für unsere Wirtschaft. Um Aus unseren Interessen folgt das Ziel, strategische aber zu überzeugen und Widerstände zu überwinden, rei- Kooperationen im wirtschaftlichen und wissenschaftli- chen Horrorvisionen und Appelle nicht aus. Wir brau- chen Bereich einzugehen, die uns auch bei der Lösung (B) chen auch überzeugende Konzepte. Das bedeutet auch unserer Probleme helfen. Ich denke dabei an die Zusam- (D) in der Entwicklungspolitik klare Definition der Ziele und menarbeit mit indischen oder chinesischen Wissen- Interessen, durchdachte Schwerpunktsetzung und Wahl schaftlern im Energiebereich und in der Luft- und Raum- der Instrumente, effiziente Umsetzung sowie Bündelung fahrt oder an die Sicherung wichtiger Zukunftsmärkte der Kräfte. Von einer solchen schlüssigen entwicklungs- für unsere Wirtschaft. Entwicklungszusammenarbeit politischen Konzeption, die auch durchgesetzt wird, sind kann, wenn sie richtig konzipiert ist, Türöffner und Ka- Sie, Frau Ministerin, und ist Rot-Grün – leider – weit talysator für die deutsche Wirtschaft sein. Dies liegt an- entfernt. gesichts unserer eigenen Wirtschaftskrise auch im Inte- resse der Deutschen. Aber die Verfolgung genau dieser (Beifall bei der CDU/CSU) Ziele und die Wahrnehmung genau dieser Interessen sind aus unserer Sicht während Ihrer Amtszeit verküm- Schon die Frage nach den Zielvorstellungen und Inte- mert, Frau Ministerin. Sie haben sie aus den Augen ver- ressen ist schlichtweg ungenügend beantwortet. Sie, loren oder sie sind Ihnen in Ihrem Hause entglitten. Frau Ministerin, kümmern sich in der Tat um jede Kata- Auch das kostet Verbündete. strophe und um jeden Krisenherd. Das bringt Schlagzei- len und internationale Anerkennung. Aber das birgt auch Anstatt dass Sie klare politische Leitlinien umsetzen, die Gefahr in sich, dass das Ministerium in die Ecke ei- droht der politische Alltag immer mehr zu einem Ge- nes internationalen Katastrophen- und Sozialhilfeminis- mischtwarenladen zu werden, teriums gerät. Dies ist eindeutig zu kurz gesprungen und (Karin Kortmann [SPD]: Ach Gott!) wird auf Dauer den eigenständigen Aufgabenbereich des BMZ nicht rechtfertigen können. in dem kein Thema ausgelassen wird: heute Kleinkali- berwaffen, morgen ziviler Friedensdienst, übermorgen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Blutdiamanten. Sie springen auf jede internationale Ak- tion auf; die Fülle der Themen ist inzwischen selbst für Entwicklung zu befördern bedeutet weit mehr als das Insider in Ihrem Hause nicht mehr zu überschauen. Des- Lindern der Folgen von Katastrophen und Hilfe für wegen ist von einer durchdachten Wahl der Schwer- Arme. Vorrangiges Ziel unseres Aufgabengebietes muss punkte und Instrumente keine Rede mehr. doch in der Tat der Aufbau und die Durchsetzung tragfä- higer Strukturen für Entwicklung und die Beseitigung Auch Ihr Konzentrationskonzept ist eigentlich zu entwicklungshemmender Rahmenbedingungen sein. einem Flop geworden. Der Rückzug aus der Zusammen- Dies ist die einzig nachhaltige Form von Armutsbe- arbeit mit wichtigen Schwellenländern ist strategisch kämpfung. falsch und schwächt das Ministerium. Die Aktion hat Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3491

Dr. Christian Ruck (A) dazu geführt, dass gerade Schlüsselsektoren, wie der Be- Luft bleibt, Frau Ministerin, dann treiben Sie die deut- (C) reich Bildung und Ausbildung, den Sie angesprochen sche Entwicklungspolitik in ein massives Glaubwürdig- haben, de facto auf dem Rückzug sind. Letztlich waren keitsdilemma. doch alle Bemühungen umsonst, da Ihnen eine wirkliche Konzentration nicht gelungen ist, weder in Bezug auf die Ich glaube nicht, dass Sie richtig beraten sind, beim Anzahl der Schwellenländer – sie ist von 70 auf 100 ge- Thema Armutsbekämpfung und anderen Themen Ihr stiegen – noch in Bezug auf die Sache. Heil in internationalen Organisationen zu suchen. Damit bin ich bei dem Stichwort „Effizienz und Bündelung der Ich nenne das Beispiel Indonesien: Sie sind vorsätz- Kräfte“. Wenn sich in der Entwicklungspolitik wirklich lich ausgerechnet aus dem Forstsektor ausgestiegen, etwas bewegen soll, müssen alle wichtigen Einrichtun- Frau Ministerin; angeblich weil Sie sich auf vier andere gen an einem Strang und in eine Richtung ziehen. Hier Schwerpunkte konzentriert haben. Bei unserer Reise gilt ganz konkret: Das UN-System leidet vielerorts unter fanden wir allerdings eine beachtliche Zahl von so ge- fehlender Koordinierung und Schlagkraft. Auf andere, nannten Neben- und Sonderschwerpunkten. Fazit: Ihre effizientere und wichtigere Organisationen wie die Welt- Konzentrationsbemühungen enden damit, dass eine bank nehmen wir weniger Einfluss, als uns zusteht. wirkliche Konzentration nicht stattfindet, während gleichzeitig Schlüsselthemen und Schlüsselländer aus- Auch Sie, Frau Ministerin, haben es bisher nicht ge- sortiert wurden. schafft, eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen der deut- schen und der europäischen Entwicklungszusammenarbeit Dafür haben Sie nun auf Biegen und Brechen durch- zu initiieren. Das bedeutet natürlich Reibungsverluste. gesetzt, dass Fidel Castros Kuba neues Partnerland wird. Das Land wird von einem Regime geführt, das erst vor Das Gleiche gilt für Ihr eigenes Haus. Die Umorgani- kurzem 78 Oppositionelle und Journalisten in Schnell- sation des Ministeriums vom 7. April ist nicht nur sach- prozessen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt hat. Eine lich kaum begründbar; sie hat auch dermaßen hinter dem solche Schwerpunktsetzung erweist der Glaubwürdig- Rücken der Mitarbeiter stattgefunden, dass deren Moti- keit unserer Entwicklungspolitik allerdings einen Bären- vation völlig daniederliegt – und das in einer Zeit, in der dienst. auf immer weniger Personal immer mehr Arbeit zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kommt. Dieser Vorgang ist unseres Erachtens ein ekla- neten der FDP) tantes Beispiel von Führungsschwäche, die Ihrem Haus noch jahrelang zu schaffen machen wird. Auch das führt Sie haben in Ihrer Regierungserklärung das Thema natürlich zu Reibungsverlusten. Armutsbekämpfung fokussiert. Armutsbekämpfung ist natürlich auch für uns ein zentrales Thema. Die Frage ist Die größten Reibungsverluste aber entstehen im Ka- (B) (D) nur, mit welchen Instrumenten wir wirklich einen we- binett. Inzwischen macht offensichtlich fast jedes Res- sentlichen Schritt vorankommen. Ein solches Instrument sort Entwicklungspolitik, ohne dass die eine Hand weiß, ist Empowerment, das in einigen Slums in Brasilien ein- was die andere tut. In Indonesien zum Beispiel sind wir gesetzt werden könnte; andere Instrumente sind eine durch Zufall über ein sehr großes und auch sehr gutes Landreform und die Durchsetzung einer ordentlichen Entwicklungsprojekt des Bundesforschungsministeri- Bezahlung für Lehrer in Entwicklungsländern, damit ums gestolpert. Auch das Entwicklungsministerium hat wirklich jedes Kind eine Schule besuchen kann. Zwi- dies nur durch Zufall erfahren – weil man eben nicht schen diesen Instrumenten und Schwerpunkten muss miteinander spricht. man eine Wahl treffen. Ihre Entschuldungsinitiative, die wir im Grundsatz unterstützt haben, hat erhebliche Solange sich die Spitze des Außenministeriums für Schwächen und Mängel. Zum Beispiel hat Bolivien das weite Teile dieser Welt nicht interessiert, geschweige Geld, das speziell zur Armutsbekämpfung bereitgestellt denn engagiert entwicklungspolitische Ziele unterstützt wurde, inzwischen im allgemeinen Haushalt verfrüh- – gegenüber korrupten und gewalttätigen Regimen und stückt. Politikern, zum Beispiel im Kongo; dazu wird Kollege Fischer noch eindringliche Worte an uns richten –, bleibt Das Beispiel Uganda ist besonders grotesk. Auch die- uns oft nicht mehr übrig, als zuzusehen, wie jahrelange ses Land wurde entschuldet. Uganda ist jetzt der welt- Aufbauarbeit brachliegt oder zerstört wird. Das ist politi- größte Goldexporteur – durch die Ausbeutung des über- sche Ineffizienz. fallenden Nachbarlandes Kongo. Das war nicht Sinn unseres gemeinsamen Anliegens der HIPC-Initiative. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Frau Ministerin, trotz großer Worte ist das Gewicht der Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wicklungspolitik in Deutschland fachlich und politisch Ihre neueste Überschrift „Umsetzung des Millenium- in den letzten Jahren gesunken. In der Entwicklungspoli- gipfelziels“, Halbierung der extremen Armut in den tik hat man den berühmten roten Faden und den langen nächsten 15 Jahren, ist ebenfalls heroisch. Auf der Früh- Atem verloren. Das gilt auch für die finanzielle Qualität. jahrstagung der Weltbank hieß es dazu, dass die konkrete Ich will mit Ihnen nicht wieder über einzelne Millionen Ausgestaltung eines entsprechenden Programms noch streiten, aber Tatsache ist eindeutig, dass Sie im Jahr nicht absehbar ist. Das gilt erst recht für die Bundesre- 2002 in Ihrem Haushalt 283 Millionen Euro weniger zur gierung, die uns seit zwei Jahren einen Umsetzungsplan Verfügung hatten als 1998 bei Regierungsübernahme. für dieses Ziel verspricht. Wenn aber auch von den An- Wir möchten die Zahlen, die Sie immer nennen, so nicht kündigungen eines äußerst ehrgeizigen Ziels nur heiße im Raum stehen lassen. 3492 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Christian Ruck (A) Zum Schluss Folgendes: Mit unserem Entschließungs- ahnen, was es bedeuten würde, wenn etwa SARS in von (C) antrag haben wir den Versuch unternommen, Vorstel- Armut geprägte Regionen vordringen würde, wo es lungen zu einer Trendumkehr zu entwickeln – mit wich- keine Möglichkeiten zur Bekämpfung dieser Krankheit tigen Elementen wie der Reform der Abläufe in der gibt. Daran erkennt man, wie wichtig dieses Ziel ist. Entwicklungszusammenarbeit, der Verstärkung der Ein- flussnahme und Koordination im Rahmen der multilate- Zu diesen Einzelpolitiken – das hat die Frau Bundes- ralen Zusammenarbeit, der stärkeren Verzahnung zwischen ministerin dargestellt – gehört auch der Kampf für mehr Außenpolitik, Entwicklungspolitik und Verteidigungs- Grundbildung und Gleichberechtigung von Frauen. politik und einer Konzentration unserer Hilfe zur Ent- Ohne diese beiden Elemente ist nämlich eine Bekämp- wicklung auf die Länder, in denen etwas bewegt werden fung der Armut unmöglich bzw. chancenlos; sie sind kann, und zwar mit Instrumenten, die etwas bewegen, nämlich Voraussetzung für eine Steuerung der Bevölke- und in Sektoren, die den Schlüssel zur Entwicklung dar- rungsentwicklung. stellen. Dies ist ein sehr konkreter Maßnahmenkatalog. Dazu gehört auch ein energischer Einsatz für eine glo- Er kann natürlich kritisiert werden. Es ist ein Angebot bale Energiewende. Es muss die skandalöse Situation zur Diskussion. Dieses Angebot ist ernst gemeint. Wir beendet werden, dass 20 Prozent der Bevölkerung drei alle ringen ja um den besten Weg zur Armutsbekämp- Viertel aller Energieressourcen für sich beanspruchen. fung. Aber wie in allen Politikbereichen muss diese Dies ist egoistisch, da diese Ressourcen nicht wieder Bundesregierung auch in der Entwicklungspolitik einen herstellbar sind. neuen Anlauf nehmen. Dazu fordern wir Sie nachdrück- lich auf. Schließlich gehört dazu auch die von Deutschland ausgegangene Entschuldungsinitiative. Hier wurden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zwar schon mehr als 40 Milliarden Dollar bewegt, aber neten der FDP) wenn man sich die Deformation des Weltwirtschaftssys- tems anschaut, muss man leider feststellen, dass diese Präsident Wolfgang Thierse: Erfolge durch globale Entwicklungen immer wieder konterkariert werden. Ich erteile das Wort Kollegen Gernot Erler, SPD- Fraktion. Meine Damen und Herren, so sehen die Umrisse eines Gesamtkonzeptes aus. Die Konzentration auf die Ar- Gernot Erler (SPD): mutsbekämpfung, in die 80 Prozent der Ressourcen Deutschlands für finanzielle und technische Zusammen- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In arbeit fließen, zeigt Wirkung. Das wird auch national der Regierungserklärung hat uns Bundesministerin (B) und international anerkannt. Es ist ja erst wenige Tage (D) Heidemarie Wieczorek-Zeul eine klare Botschaft vermit- her, dass die Frau Bundesministerin Wieczorek-Zeul telt. Sie lautet: Das wichtigste Ziel der internationalen eine sehr hohe Auszeichnung für ihren Einsatz bei der Politik Deutschlands und der Entwicklungszusammenar- Armutsbekämpfung erhalten hat – vom Center for Glo- beit ist die Bekämpfung der globalen Armut. Dieses ist bal Development in Washington zusammen mit der Zeit- nicht nur ein allgemeines generelles Ziel, sondern dahin- schrift „Foreign Policy“ –, wörtlich „für ihren Einsatz, ter steht der sehr konkrete Ehrgeiz, eine Halbierung der ihre Vision und ihre Vorreiterrolle zur Verringerung von Armut bis zum Jahre 2015 zu erreichen. Da bleiben, weltweiter Armut und Ungleichheit“ im Rahmen ihres Herr Kollege Ruck, nur noch zwölf Jahre. Dieses Ziel Engagements in der so genannten Utstein-Gruppe, in der überwölbt alle Politikbereiche; dahinter steht ein strate- sie gemeinsam mit den Fachministerinnen von Großbri- gisches Konzept, das viele Einzelpolitiken einschließt: tannien, Norwegen und den Niederlanden gearbeitet hat. So müssen die Anstrengungen, im Bereich der Finan- Frau Wieczorek-Zeul, ich möchte Ihnen herzlich im Na- zierung von Entwicklungspolitik voranzukommen, ver- men der SPD-Bundestagsfraktion zu dieser hohen Aus- doppelt werden. Im Zusammenhang damit steht die Ver- zeichnung gratulieren. Sie zeigt, dass wir auf dem richti- ringerung von Ausgaben für andere Dinge wie für gen Weg sind. militärische Interventionen und Aufrüstungsvorhaben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten An deren Stelle muss Prävention treten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zu diesen Einzelpolitiken gehört der Kampf für fai- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das neh- rere Austauschbeziehungen. Dieser Bereich ist vom Vo- men nur die Ignoranten von der CDU/CSU lumen her sogar größer als der der Entwicklungszusam- nicht zur Kenntnis!) menarbeit; denn hier geht es um den Abbau von Ich bin eigentlich froh, dass auch Sie, Herr Ruck, in ge- Exportsubventionen, ganz besonders im Agrarsektor, um wisser Weise der Ministerin Anerkennung zollen. Sie ha- den Abbau von Schutzzöllen, eben um eine Umsetzung ben nämlich ganz vergessen, in Ihren eigenen Antrag hi- der Marktöffnung, von der die Industrienationen bisher neinzuschauen, den Sie zu dieser Debatte vorgelegt immer nur reden, und um eine Verdopplung von fairem haben. Handel. All das sieht die Bundesregierung vor. Da finde ich den Satz: Ein wichtiger Bestandteil ist auch die Bekämpfung von Seuchen wie Aids, Malaria und Tuberkulose, die Deutsche Entwicklungspolitik hat sich den Ruf er- ganze Regionen entvölkern und damit eine erfolgreiche worben, selbstkritisch, seriös und frei von kurzsich- Bekämpfung der Armut völlig unmöglich machen. Wir tigem Eigeninteresse zu sein. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3493

Gernot Erler (A) (Dr. [CDU/CSU]: Der ist zur Kriegsverhinderung, einzusetzen, wenn wir es (C) schon alt!) nicht schaffen, die auf diese Weise verbrauchten Res- sourcen für die globale Armutsverringerung einzusetzen, Das ist eine ganz gute Bewertung: Wenn ich das mit dem dann haben wir keine Chance, das Ziel der Halbierung vergleiche, was Sie früher zur Entwicklungspolitik ge- der globalen Armut bis zum Jahr 2015 zu erreichen. sagt haben, grenzt das beinahe an positiven Enthusias- mus. Dass Sie hier als Pflichtübung ein paar kritische Das wird – ich glaube, da sind wir uns einig – nicht Anmerkungen emotionslos vorgetragen haben, gehört zu nur eine moralische, sondern auch eine sicherheitspoliti- einer parlamentarischen Debatte dazu. Aber ich denke, sche Niederlage sein, die wir alle teuer, sehr teuer, zu es überwiegen die konsensfähigen Passagen auch in Ih- teuer bezahlen werden müssen. Deswegen werden wir rem Antrag. Das ist im Grunde genommen eine gute Ba- diese Auseinandersetzung auf jeden Fall hier in diesem sis für künftige gemeinsame Zusammenarbeit. Parlament und auch anderswo fortsetzen müssen. Aber ich freue mich, dass die Gemeinsamkeiten und die Un- Meine Damen und Herren, „Zukunft sichern – Armut terstützung der Konzentration auf Armutsbekämpfung in bekämpfen“, das ist ein anspruchsvolles Ziel, das ein Bezug auf die Politik der Bundesregierung überwiegen. Land alleine nicht leisten kann. Das kann nur eine hand- lungsfähige Weltgemeinschaft leisten. An dieser Stelle Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. müssen wir uns intensiv mit der Frage befassen, inwie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten weit eigentlich die Ereignisse der letzten Wochen, inwie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) weit der Irakkrieg zu einer solchen Handlungsfähigkeit der Weltgemeinschaft beigetragen hat. Präsident Wolfgang Thierse: Ich will noch einmal festhalten: Jede militärische In- Ich erteile Kollegen Markus Löning, FDP-Fraktion, tervention begrenzt die Möglichkeit anderen Handelns, das Wort. weil Entscheidungen über die Nutzung begrenzter Res- sourcen getroffen werden. Wenn man die Kosten zusam- menzählt – die Kriegskosten selber, die Kosten für die Markus Löning (FDP): Wiederherstellung des durch Kriegsschäden beeinträch- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe tigten Landes und die Kosten für die nachhaltigen Siche- Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Ministerin, wenn Sie rungssysteme, die anschließend geschaffen werden müs- mir die Vorbemerkung erlauben: Sie haben zu Beginn sen –, steht schon heute fest, dass der Irakkrieg ein Ihrer Rede ein gewisses Bekenntnis zur deutsch-ameri- Mehrfaches von dem, was die Weltgemeinschaft im Jahr kanischen Freundschaft abgegeben; aber im Laufe der für Entwicklungshilfe ausgibt, verbraucht hat und ver- (B) Rede kam doch der eine oder andere antiamerikanische (D) brauchen wird. Das ist eine Katastrophe. Ebenso wissen Reflex zum Vorschein. wir, dass durch die langfristigen Sicherungssysteme auf dem Balkan, in Afghanistan und nun künftig auch im (Zurufe von der SPD: Oh!) Irak auf Dauer enorme Ressourcen gebunden werden, Wir hatten das Thema gestern im Ausschuss. Ich fordere die wir eigentlich dringend für die Armutsbekämpfung Sie von dieser Stelle aus noch einmal ausdrücklich auf: brauchen. Unterstützen Sie unsere amerikanischen Freunde bei Deswegen ist es sehr bedeutsam, sich an dieser Stelle dem Ziel, das Embargo gegen den Irak so schnell wie darüber auseinander zu setzen, ob es eine Alternative zu möglich aufzuheben. diesem Krieg gegeben hat, ob er vermeidbar war. Wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten beharren darauf, dass er vermeidbar war, und wir werden der CDU/CSU) uns mit Ihnen weiter darüber auseinander setzen. Dieses Embargo war immer gegen Saddam Hussein und Ich mache hier deutlich, Herr Kollege Schäuble: Wir nie gegen die Bevölkerung gerichtet. halten Ihre Feststellungen in dem Papier, das Sie am 28. April als Beschluss Ihrer Partei vorgestellt haben, für Wenn wir einen erfolgreichen Aufbau im Irak wollen, nicht akzeptabel. Sie versuchen damit, die Verbindlich- dann ist es wichtig, dass das Embargo möglichst schnell keit der Prinzipien der staatlichen Souveränität und der verschwindet. territorialen Integrität sowie das völkerrechtliche Inter- Wir reden heute über das Thema Armut. Sie haben ventionsverbot herabzusetzen. Genau das Gegenteil ist die entsprechenden Zahlen schon genannt. Etwa ein notwendig, wenn die weltweite Armut bekämpft werden Fünftel der Weltbevölkerung ist von Armut betroffen. soll. Auf lange Sicht gesehen stellt das eine Verbesserung dar; (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des denn noch vor 50 Jahren war mehr als die Hälfte der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Weltbevölkerung von absoluter Armut betroffen. Wir sollten absolute Armut aber nicht nur unter materiellen Wenn wir es nicht schaffen – das ist zwar eine andere Gesichtspunkten sehen, sondern wir sollten auch klar- Ebene, hat aber mit unserem heutigen Thema zu tun –, stellen: Armut beschränkt und raubt Lebenschancen, von dem Prinzip nachträglicher Reparatur durch Stabili- führt zu Krankheit und zu weniger Bildungschancen; Ar- tätsregime, durch Stabilitätspakte, also von militärischen mut verhindert ein Leben in Würde. Deswegen ist für Interventionen, wegzukommen und es nicht endlich hin- uns Liberale die Armutsbekämpfung ein zentraler Be- bekommen, Stabilitätspakte, Stabilitätsregime vorher, standteil der Entwicklungspolitik. 3494 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Markus Löning (A) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Karin letzten 50 Jahren in der Armutsbekämpfung erfolgreich (C) Kortmann [SPD]) gewesen sind, dann müssen wir sagen, dass es die Län- der gewesen sind, die ihre Märkte geöffnet haben, die Lassen Sie mich auf drei Aspekte kurz eingehen. sich vom Staatsdirigismus abgewandt haben, die ihren Sie haben das Thema Entschuldung angesprochen. Bürgern und ihren Unternehmen Freiräume gegeben ha- Ich sage wie der Kollege Ruck: Wir brauchen eine Ent- ben, sich zu entfalten. Es sind vor allem die Länder, die schuldung der ärmsten Länder – im Prinzip. Sie führen Handel ermöglicht haben, die Subventionen, Zollschran- in diesem Zusammenhang das Beispiel Tansania an. Wa- ken und andere Handelshemmnisse abgebaut haben. Aus rum führen Sie aber nicht das Beispiel Bolivien an? Ich Handel entsteht Wohlstand, Handel bekämpft die Armut. erwarte von der Bundesregierung, dass kritisch hinge- Zahlen aus Asien belegen das. Dort lebte noch vor schaut wird, wenn es nicht funktioniert hat, wenn der 25 Jahren weit mehr als die Hälfte der Menschen in ab- Partner die versprochenen und erhaltenen Mittel nicht so soluter Armut. Inzwischen liegt dieser Anteil bei unge- einsetzt, wie es vereinbart wurde. Bolivien setzt die Mit- fähr 20 Prozent. Das ist immer noch viel zu viel, zeigt tel nicht zur Armutsbekämpfung ein. Ich erwarte von der aber deutlich, dass es eine Entwicklung in die richtige Bundesregierung, dass sie hier tätig wird und dass sie Richtung gibt. gegenüber den bolivianischen Partnern klar macht: So geht das nicht! (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich fordere Sie nachdrücklich auf: Reden Sie nicht so der CDU/CSU) schlecht über die Globalisierung, sondern reden Sie über die darin liegenden Chancen für die Ärmsten der Armen, Lassen Sie mich auf einen weiteren Aspekt eingehen: die Armut zu bekämpfen! Korruptionsbekämpfung. Wenn wir Armut effektiv bekämpfen wollen, brauchen wir Wohlstand. Die Men- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schen müssen in die Lage versetzt werden, ihren eigenen der CDU/CSU) Lebensunterhalt zu verdienen. Kleine und große Unter- nehmen müssen sich entwickeln können. Das kann nur Präsident Wolfgang Thierse: geschehen, wenn wir eine funktionierende Marktwirt- schaft haben. Für eine funktionierende Marktwirtschaft Ich erteile das Wort dem Kollegen Thilo Hoppe, brauchen wir effektive Gesetze und eine verlässliche Bündnis 90/Die Grünen. Verwaltung. Korruption steht dem entgegen. Korruption ist ein Erzübel in der Entwicklungspolitik. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Er- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE lauben Sie mir einen kurzen religiösen Einstieg: Als GRÜNEN) Christ darf ich eigentlich nicht an die Reinkarnation Korruption behindert Unternehmen beim Wachstum; glauben. Dennoch hänge ich manchmal der Frage nach, sie behindert gerade kleine Unternehmen, die den Schritt wie es wäre, wieder geboren zu werden – das nächste vom informellen in den formellen Sektor tun wollen, die Mal aber auf der anderen Seite des Globus, auf der Ver- kreditwürdig sein wollen, die Genehmigungen brauchen liererseite, in den Elendsvierteln von Lima oder Kal- und die Arbeitsplätze schaffen wollen. Korruption be- kutta. Eine solche Vorstellung könnte uns noch stärker hindert das aufs Schwerste und verhindert die Entste- motivieren, die Überwindung von extremer Armut als hung von Wohlstand. Die Korruptionsbekämpfung muss etwas anzusehen, was uns selber betrifft. Aber auch ohne daher ein ganz zentraler Teil jeder Entwicklungspolitik die Vorstellung der Reinkarnation gibt es sehr viele gute sein. Gründe, den notwendigen Nord-Süd-Ausgleich als Weltinnenpolitik zu verstehen. Korruption behindert auch Direktinvestitionen. Aus- ländische Direktinvestitionen werden dringend benötigt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um in den Entwicklungsländern Arbeitsplätze zu schaf- und bei der SPD) fen. Sie wird es aber nicht geben, solange dort korrupte Die ungeheuren Herausforderungen sind von der Mi- Verwaltungen existieren, die abkassieren, die die Ge- nisterin ausführlich beschrieben worden. Sie gipfeln da- winne abschöpfen, die behindern, wo sie nur können, rin, dass trotz aller Bemühungen und Fortschritte die und die nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Kor- Zahl der Hungernden noch erschreckend hoch ist. ruption muss mit allem Nachdruck bekämpft werden. Rund 25 000 Menschen verlieren jeden Tag den Kampf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten um das Überleben; sie sterben den Hungertod. Dies ist der CDU/CSU) ein ungeheurer Skandal deshalb, weil dieses – ich kann es nicht anders ausdrücken – Massensterben vermeidbar Lassen Sie mich auf einen weiteren Aspekt eingehen, ist. Zahlen sind Zahlen. Doch dahinter stehen Menschen. der von Ihrer Seite oft sehr kritisch beleuchtet wird. Ich Wer den vom Hungertod gekennzeichneten Menschen glaube, wir müssen in der Globalisierungsdiskussion schon einmal hautnah begegnet ist, den wird die Frage sehr viel stärker darauf dringen, dass die Chancen der nicht mehr loslassen: Warum? Warum gibt es dieses Globalisierung bei der Bekämpfung von Armut gesehen Hungerleid, obwohl auf der Welt genügend Nahrungs- werden. Wenn wir uns anschauen, welche Länder in den mittel für alle angebaut werden? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3495

Thilo Hoppe (A) Ich möchte bei den Erklärungsmustern vor zwei Fal- Auch die Bemühungen um eine grundlegende Reform (C) len warnen: des IWF und der Weltbank, die Schaffung eines internatio- nalen Insolvenzrechts im Sinne eines fairen und transpa- Falle Nummer eins ist der Versuch, die Ursachen für renten Schiedsverfahrens und die Einführung einer inter- das Hungerelend nur in den Ländern zu suchen, die da- nationalen Devisenspekulationssteuer müssen innerhalb von betroffen sind: Naturkatastrophen, Bevölkerungsex- des gesamten Kabinetts verstärkt werden. Doch dass es in plosion, schlechte Regierungsführung, primitive Anbau- diesen Bereichen auf der Frühjahrstagung von IWF und methoden, Korruption, Bürgerkrieg könnten beispielhaft Weltbank keine nennenswerten Fortschritte gegeben hat, genannt werden. lag nicht an der Bundesregierung, sondern an der Blocka- Falle Nummer zwei ist der Versuch, die Menschen in dehaltung der USA. der so genannten Dritten Welt allesamt nur als unschul- Welche fatalen Folgen für die Entwicklungsländer die dige Opfer anzusehen und die Ursachen allein im Kolo- gegenwärtige Agrarpolitik der EU – besonders die nialismus und seinen Folgen, allein in den ungerechten Agrarexportsubventionen – hat, hat Frau Wieczorek- Strukturen der Weltwirtschaft auszumachen. Zeul schon ausführlich benannt. Das wird in einem Ko- Nur beide Erklärungsversuche zusammen, in Kombi- alitionsantrag deutlich, der sich noch in den Ausschuss- nation, führen weiter. beratungen befindet. Deutschland nimmt bei den Bemü- hungen um die Durchsetzung des Rechts auf Nahrung Hunger ist kein Schicksal; Hunger ist gemacht. Hun- und beim Ringen um eine andere Haltung der EU gegen- ger ist oft eine Folge verfehlter Regierungspolitik, einer über den Entwicklungsländern eine Vorreiterrolle ein. Bad Governance. Die Regierung von Simbabwe ist ein Renate Künast allein kann es aber nicht richten, sie besonders krasses Beispiel dafür. braucht Bündnispartnerinnen und Bündnispartner inner- halb der EU. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Hoffnungsvoll stimmt mich, dass Heidemarie CDU/CSU und der FDP) Wieczorek-Zeul, Renate Künast und Jürgen Trittin jetzt gemeinsam für fair gehandelte Produkte aus den Län- Aber es gibt auch Regierungen im Süden – das sind dern des Südens Werbung machen. Sie appellieren dabei viele, die meisten –, denen es wirklich um die Menschen an die Bevölkerung, nicht nur auf die billigsten Waren geht. Warum sind so viele ernst gemeinte Bemühungen zurückzugreifen, sondern auch der Frage nachzugehen: von Regierungen gescheitert, die wirklich Good Gover- Wo kommen diese Produkte eigentlich her und wer hat nance praktizieren? sie unter welchen Bedingungen produziert? (B) Wer bereit ist, genau hinzusehen, wird zu dem Ergeb- Ein solcher Gerechtigkeits- und Ökoaufschlag wie (D) nis kommen, dass auch Strukturanpassungsmaßnahmen überhaupt jede Form von Entwicklungshilfe seien ein des Weltwährungsfonds das Elend im Süden vergrößert Luxus für bessere Zeiten, wenn es uns selber schlecht haben. Devisenspekulation, der Verfall der Rohstoff- gehe, hätten wir weniger abzugeben, meinen manche. In preise – besonders krass zurzeit auf dem Kaffeemarkt – Zeiten der enger zu schnallenden Gürtel sei Entwick- und die Zerstörung vieler Märkte im Süden durch Agrar- lungszusammenarbeit nicht mehr trendy, sagte mir exportsubventionen der USA und Europas, all das sind kürzlich ein Kollege. Hoffentlich ist das nur eine Einzel- äußere Faktoren – kaum beeinflussbar von den Entwick- stimme. lungsländern –, die Armut und Hungerelend verschärfen. Ich wünsche mir sehr – darüber gibt es Gemeinsam- Beides, Missstände in einigen Entwicklungslän- keiten auch in den Redebeiträgen –, dass wir gemeinsam dern und ungerechte Strukturen der Weltwirtschaft, erklären: Bei der Entwicklungszusammenarbeit geht es ist dafür verantwortlich, dass mehr als 800 Millionen nicht um Almosen; es geht um Partnerschaft und darum, Menschen hungern. Der Entschließungsantrag der CDU/ dass wir unsere Politik dort korrigieren, wo sie zur Ver- CSU, der heute vorgelegt worden ist, hat die Tendenz, in größerung des Elends mit beiträgt. Ich nenne nur das die Falle Nummer eins zu tappen und den zweiten Be- Stichwort: Agrarexportsubventionen. reich, den internationalen, zu vernachlässigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es ist deshalb richtig und – im wahrsten Sinne des und bei der SPD) Wortes: „Not wendend“ – notwendig, dass die Entwick- lungspolitik seit 1998 nicht nur als Entwicklungshilfe, Eine neue Partnerschaft mit den Ländern des Südens sondern auch als globale Strukturpolitik verstanden und ein stärkeres Engagement für Gerechtigkeit sind In- wird. Die Richtung stimmt. Ob das Tempo stimmt, darü- vestitionen in die Zukunft und in die gemeinsame Si- ber kann man – auch innerhalb der Koalition – geteilter cherheit. Langfristig gesehen ist es auch unter volkswirt- Meinung sein. Ich hoffe, dass es gelingt, auch den Fi- schaftlichen Gesichtspunkten vernünftiger, auf einen nanzminister und die Haushälter davon zu überzeugen, gerechten Ausgleich zwischen Nord und Süd hinzuwir- dass wir 2004 mehr Mittel für die Entwicklungszusam- ken als ein weiteres Auseinanderklaffen hinzunehmen. menarbeit brauchen. Mehr Gerechtigkeit und Solidarität sind zwar nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Nulltarif möglich, aber so, dass alle gewinnen kön- sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. nen: Zukunftsperspektiven, Lebensqualität, Sicherheit Arnold Vaatz [CDU/CSU]) und Würde. 3496 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Thilo Hoppe (A) Ich danke Ihnen. über die Entwicklungspolitik der Bundesrepublik (C) Deutschland schimpfen; denn bei der Entwicklungspoli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tik geht es nicht nur um die Regierung, sondern auch um und bei der SPD) viele selbstlose Entwicklungshelfer, die in den betreffen- den Ländern ihren Dienst tun und es verdient haben, Präsident Wolfgang Thierse: dass wir uns hinter sie stellen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Arnold Vaatz, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- CDU/CSU-Fraktion. neten der FDP)

Arnold Vaatz (CDU/CSU): Mittelfristig ist die Qualität, in der diese Aufgabe ge- löst wird, nicht allein für die betroffenen Menschen ele- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich mentar, sondern sie auch elementar in Bezug auf unsere glaube, wir brauchen den Gedanken an eine Reinkarna- Zukunft hier in den gesamten hoch entwickelten Län- tion, den der Kollege Hoppe gerade erwähnt hat, nicht, dern; denn wenn wir die Not nicht lindern, schlägt das um uns bei dieser Angelegenheit in unserer Haut nicht auch auf uns zurück. allzu wohl zu fühlen. Das beginnt bereits damit, dass wir gelegentlich dazu neigen, das Thema Entwicklungszu- Deshalb kann Entwicklungszusammenarbeit nur sammenarbeit und Menschenrechte an die Peripherie un- langfristig angelegt sein. Um das zu erreichen, muss man serer Plenartage zu setzen, also erst am späten Abend zu dafür sorgen, dass Hilfe wirklich helfen kann. Das setzt verhandeln. Frau Bundesministerin, ich bin der Bundes- Rahmenbedingungen in den Adressatenländern voraus, regierung dankbar, dass wir es heute geschafft haben, zu die es ermöglichen, dass die zugedachte Hilfe an dem diesem Thema in der Kernzeit zu diskutieren. Punkt wirkt, für den sie gedacht ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Dass das Interesse der Bundesregierung eindeutig bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- auch darauf zielt, diese Rahmenbedingungen entwickeln NISSES 90/DIE GRÜNEN) zu helfen, daran habe ich meine Zweifel. Ich nenne dazu ein Beispiel: Wir haben vorhin darüber gesprochen, dass Ich denke, alle heute hier Anwesenden finden es gut, und sich das öffentliche Interesse in den letzten Monaten ich bedauere, dass der Saal nicht etwas voller ist; denn sehr stark auf den Irak konzentriert hat. Wir in diesem das Thema hätte es wirklich verdient. Saal sind uns darüber einig, dass es im Irak diese Rah- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der menbedingungen für eine sinnvolle Entwicklung eben SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nicht gab. Dort herrschte – auch darüber sind wir uns ei- (B) NEN) nig – ein grausamer Diktator. (D) Der Kollege Ruck hat es bereits richtig ausgeführt: Es gehört zu den großen Fehlleistungen unserer ame- Der Gedanke an die Notwendigkeit von Entwicklungs- rikanischen Freunde – das will ich durchaus einräumen –, hilfe muss natürlich zuallererst bei den Bürgern in der dass sie diesen Menschen anfangs zu unkritisch bewertet Bundesrepublik Deutschland präsent gemacht werden. und unterstützt haben. Aber solche Fehlleistungen sind Das ist nicht möglich, wenn der Eindruck entsteht, wir kein amerikanisches Privileg. Ich nenne nur das Beispiel würden uns nur halbherzig darum kümmern. Deshalb Mugabe, auf das ich später noch zu sprechen kommen werben wir für die Entwicklungspolitik und versuchen, werde. dafür die öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. (Klaus-Jürgen Hedrich [CDU/CSU]: Fidel Demzufolge will ich anerkennen, Frau Ministerin, dass Castro!) es Ihnen vergleichsweise oft gelingt, die Entwicklungs- zusammenarbeit und damit natürlich auch Ihre Person in Ich komme zurück zu Saddam Hussein. Wir ahnen den Medien zu platzieren. heute, dass die genaue oder zumindest ungefähre Zahl seiner Opfer – wenn überhaupt – wohl erst in den nächs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ten Monaten oder Jahren korrekt eingeschätzt werden Abg. Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE kann. Er und seine Paladine haben dieses Land geplün- GRÜNEN) dert, wie es sich ein Mitteleuropäer auch unter Aufbie- Mit Pressearbeit allein ist es aber nicht getan. Ent- tung all seiner Phantasie kaum vorstellen kann. Es wird wicklungspolitik braucht Inhalte, sie braucht Strategien, berichtet – Sie haben das alle gelesen –, dass er noch Ressourcen und die richtigen Instrumente. Ihre Mängel kurz vor seinem Sturz versucht hat, mit Traktoren Dol- hat Ihnen der Kollege Ruck bereits eindrucksvoll erklärt, larnoten aus dem Irak zu bringen. Allein dass eine solche ich muss das nicht wiederholen. Ich will aber an die Nachricht glaubhaft ist, sagt über diesen Menschen mehr Adresse des Kollegen Erler ergänzend sagen: Sie haben aus als tausend Worte. unseren Antrag als Lob für Ihre Entwicklungshilfepolitik (Beifall bei der CDU/CSU) aufgefasst. Sie hätten auch das Recht, dies so aufzu- fassen, wenn Sie die Bundesrepublik Deutschland seit Dabei ist dieses Land eines der erdölreichsten Länder 50 Jahren regieren würden. Entwicklungspolitik muss der Welt, ein Land, das sich unter geeigneten Rahmenbe- aber kontinuierlich betrieben werden. Es ist auch nicht dingungen wie kein anderes Land selbst helfen könnte. so, dass wir, wenn wir mit einer Reihe von Maßnahmen Der Irak hat ein Vielfaches der Rohstoffe von Deutsch- der Bundesregierung nicht einverstanden sind, gleich land. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3497

Arnold Vaatz (A) Als der Irakkrieg begann, ist die deutsche Bundesre- Frau Wieczorek-Zeul, es wäre besser gewesen, wenn Sie (C) gierung in dem Glauben, gegen dieses Land werde ein die Energie, die Sie in Ihre antiamerikanischen Attacken ungerechter Krieg geführt, so weit gegangen, die engsten investiert haben, Beziehungen zu unserem wichtigsten transatlantischen Partner nachhaltig zu beschädigen und ihm in den Arm (Widerspruch bei der SPD) zu fallen. ansatzweise dazu benutzt hätten, dieses Regime anzu- Meine Damen und Herren von der Koalition, im Er- greifen, das zwei vernichtende Kriege geführt hat und stellen der Krisenszenarien haben Sie sich gegenseitig unzählige Menschen das Leben gekostet hat. überboten. Sie sollten dazu einmal den Beitrag von Hans (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Kom- Magnus Enzensberger, der vor einiger Zeit im Feuilleton men Sie doch endlich zur Entwicklungszusam- der „FAZ“ erschienen ist, lesen. menarbeit!) (Karin Kortmann [SPD]: Haben wir gelesen!) Jetzt ist der Diktator weg. Jedes Kind versteht, dass Dort wird ein Album der rot-grünen Untergangsorgiastik sich die wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht auf die ausgebreitet: So erwartete Herr Trittin etwa Hunderttau- platte Formel reduzieren lässt: Wer bombt soll zahlen. Es sende Opfer und Frau Beer hatte die Vision, der ganze geht im Irak um die Wiederherstellung von Stabilität, mittlere Osten würde in die Luft fliegen. Menschenrechten, Minderheitenrechten und Frauenrech- ten. Dabei hilft diese Ideologie nicht; vielmehr sind Rea- Aus all diesem geht hervor: Die Amerikaner waren lismus und Pragmatismus gefragt. Deshalb fordere ich Ihnen ein viel größerer Stein des Anstoßes als dieser die Bundesregierung auf, zusammen mit unseren euro- Diktator, der Berichten zufolge päischen Partnerstaaten umgehend ein gemeinsames und überzeugendes Konzept für den Neubeginn im Irak (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Reden zu erarbeiten. Sie doch einmal über Entwicklungszusam- menarbeit!) Wenn Sie ein Konzept haben, dann fordere ich Sie auf, sich dafür einzusetzen, dass es – im Gegensatz zu seine Fedajin zu Kannibalen abgerichtet hat. Das ist die der Situation der letzten Monate, als es verschiedene Realität in der Bundesrepublik Deutschland und das ist Vorstellungen gab – von den EU-Staaten einmütig ver- beschämend. treten wird und dass versucht wird, es in Kooperation mit und nicht gegen die Vereinigten Staaten von Ame- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt rika umzusetzen. Es ist nämlich ganz offensichtlich ein (B) [Salzgitter] [SPD]: Blanker Unsinn!) Ausdruck von Hilflosigkeit, wenn Sie Ihre Kräfte für (D) Die tollsten Stilblüten, Frau Ministerin Wieczorek- immer neue Achsenkonstruktionen und Sondergruppie- Zeul, haben Sie abgeliefert. Sie meinten, eine deutsche rungen in der Europäischen Union verwenden. Wir hät- Beteiligung beim Wiederaufbau müsse rundweg abge- ten von Ihnen zum Beispiel gerne gehört, wie Sie in- lehnt werden. Sie meinten, wer bombt, habe zu zahlen. haltlich zu den polnischen Vorschlägen über eine Deshalb halte ich es für besonders wichtig, dass Sie Beteiligung der Bundeswehr bei der Stabilisierung der heute allmählich Zeichen senden, dass die Bundesregie- Nachkriegsordnung im Irak stehen. Das wäre, auch für rung in dieser Frage umdenkt. Dass das schließlich ge- die Öffentlichkeit, wichtig gewesen. Bisher haben Sie schehen ist, schreibe ich auch dem beharrlichen Druck dazu aber nur Proben von gekränkter Eitelkeit abgege- unserer Unionsfraktion zu. ben, mehr nicht. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie wa- (Zuruf von der SPD: Wie peinlich!) ren doch nun völlig abgemeldet!) Erst wenn diese Fragen geklärt sind, können im Irak erstmalig die politischen Rahmenbedingungen für eine Was ich aber für dreist halte, das ist die hier immer langfristige wirtschaftliche Entwicklung hergestellt wer- wieder unkritisch vorgetragene Meinung, es habe eine den. Um die Herstellung der Rahmenbedingungen muss Chance auf eine friedliche Entwaffnung bestanden. es bei einer entwicklungspolitischen Debatte gehen. Hel- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So ist fen Sie dabei und beginnen Sie sofort mit den Vorpla- es!) nungen. Das ist eine ungeheuerliche Ignoranz gegenüber der tat- Ich finde es beunruhigend, dass die Bundesregierung sächlichen Lage in diesem Land. Denn was steckt hinter die Aufmerksamkeit, die sie dem Irakkonflikt intensiv dieser Haltung? – Sie sagen damit, dass Sie bereit gewe- – das war aber politisch destruktiv – hat zukommen las- sen wären, die Aufgabe, diesen Diktator zu beseitigen, sen, in dieser Zeit anderen Krisenherden in der Welt, vor dem unterdrückten, geknechteten, geknebelten und be- allen Dingen den Entwicklungsländern, verweigert hat. drohten irakischen Volk zuzumuten und zuzusehen, wie In nenne als Beispiel Afrika. Die CDU/CSU-Fraktion es bei dem Versuch zugrunde geht. Das ist zynisch und hat heute einen Antrag die Demokratische Republik unwürdig. Diesen Standpunkt können wir nicht teilen. Kongo betreffend eingebracht; Kollege Hartwig Fischer wird sich gleich damit befassen. Demzufolge kann ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zu einem anderen regionalen Konflikt sprechen, und neten der FDP) zwar zu dem in Simbabwe. 3498 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Arnold Vaatz (A) Welche Hoffnungen hatte die Welt vor 30 Jahren in kampfs bei aller berechtigten Ehre, die man ihnen bisher (C) Robert Mugabe gesetzt! In der Zwischenzeit hat er sich erwiesen hat, mittlerweile Auffassungen angeeignet ha- zu einem erbarmungslosen und korrupten Diktator ent- ben, die denen ihrer ehemaligen Widerparts ähnlicher wickelt, der dieses Land mit seinen als Landreform titu- sind als denen von Demokraten. lierten Massenenteignungen weißer Farmer in ein wirt- schaftliches und humanitäres Desaster gestürzt hat. Präsident Wolfgang Thierse: Inzwischen ist der größte Teil der 4 500 kommerziellen Farmen unter Begleiterscheinungen wie Folter, Vanda- Herr Kollege Vaatz, Sie müssen bitte zum Ende kom- lismus und Mord zwangsgeräumt worden. Nicht nur die men, da Sie Ihre Redezeit schon deutlich überschritten weißen Farmer sind die Leidtragenden; insgesamt haben. 900 000 Menschen, vor allem schwarze Farmarbeiter, befinden sich auf der Flucht, es liegen riesige Ackerflä- Arnold Vaatz (CDU/CSU): chen brach, Ernten wurden gezielt vernichtet. Für Ich komme zum Ende, Herr Präsident. – Geißeln Sie 9 Millionen Menschen bahnt sich eine Katastrophe an. das mit der erforderlichen Schärfe! Ich meine, damit Man hat den Eindruck, diese Katastrophe sei gewollt, können Sie mehr für eine gedeihliche Entwicklung tun das dortige Regime wünsche sie sich zum Machterhalt. als durch den Einsatz von mehreren Millionen Euro. Seit Beginn der Terrorkampagne hat die CDU/CSU- Vielen Dank. Fraktion viele Appelle für ein konsequentes Einschreiten an die Bundesregierung und an die internationale Staa- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tengemeinschaft gerichtet. Sie sind entweder gar nicht oder viel zu spät und zu halbherzig beachtet worden. Präsident Wolfgang Thierse: Deshalb ist es zu begrüßen, dass unsere Fraktion mit ih- Ich erteile der Kollegin Karin Kortmann, SPD-Frak- rer letzten Simbabwe-Initiative nun offenbar doch end- tion, das Wort. lich einen Stein ins Rollen gebracht hat. Wir begrüßen es, dass die südafrikanische Regierung, von deren Good- Karin Kortmann (SPD): will Mugabes Regime ein Stück weit abhängt, inzwi- schen sogar zu einer grundsätzlichen Überprüfung ihrer Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge- Position bereit ist. statten Sie mir, dass ich auch Dr. Ruth Pfau hier begrüße, die sich seit vielen Jahrzehnten für Lepra- und Tuberku- Solange die Bundesregierung und die anderen demo- losekranke einsetzt und heute im Gesundheitsministe- kratischen Regierungen der Welt ihren Blick nur halb- rium in Pakistan arbeitet. Sie wohnt dieser Debatte bei (B) herzig auf diese Region richten, so lange besteht die Ge- und zeigt damit, wie wichtig es ist, dass eine solche Re- (D) fahr, dass aus dem Ungeist der Mugabe-Diktatur eine gierungserklärung, die vor zwei Jahren zum ersten Mal Kettenreaktion entsteht, die eines Tages die gesamte Re- gehalten wurde, in einem wiederkehrenden Rhythmus gion erfassen könnte. Wenn Sie die Äußerungen von abgegeben wird. Sam Nujoma in Namibia ernst nehmen, dann wissen Sie, dass auch dort nichts Gutes zu erwarten ist. Eine ähnli- Ein Kollege der Union fragte gestern, ob wir keine che Situation steht also auch dort bevor. anderen Themen haben, sodass es zu dieser Debatte heute kommt. Dazu muss ich sagen: Es handelt sich für Deutschland ist der größte Entwicklungshilfegeber uns um eine der wichtigsten Zukunftsdebatten. Sie Namibias. Deshalb möchte ich Sie auffordern, Frau macht den Stellenwert deutlich, den dieses Thema im Bundesministerin Wieczorek-Zeul: Wenden Sie sich an Gegensatz zur Union – diesen Eindruck habe ich durch dieses Land und senden Sie die unmissverständliche den Beitrag von Herrn Vaatz gewonnen – innerhalb der Warnung, dass die Dinge, die sich in Simbabwe zugetra- SPD hat. gen haben, in Namibia auf keinen Fall von der deutschen Entwicklungshilfe geduldet werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich möchte betonen, dass es für uns alle erleichternd Meine Damen und Herren, ich könnte noch sehr viel war, in der vergangenen Woche die Worte des amerika- sagen, aber meine Redezeit geht leider zu Ende. Auf ein nischen Präsidenten zu hören, wonach der Krieg im Irak Land im südlichen Afrika möchte ich aber noch ganz weitgehend beendet sei. Wir leben in einer umkämpften kurz zu sprechen kommen, die Republik Südafrika. Welt, in der es um den Zugang zu Ressourcen geht. Es Die Republik Südafrika verliert im Augenblick pro Mo- geht um den Zugang zu Wasser, Energie, Öl und – bei- nat mehr Spezialisten als Russland. Dort ist momentan spielsweise in Angola – auch um den Zugang zu und die ein unglaublich starker Wegzug von weißen Spezialisten Herrschaft über Tropenhölzer und Diamanten. und Experten, die einen großen Teil der Wirtschaftsin- Wir werden auch heute nicht müde, zu bekräftigen, frastruktur bilden, zu verzeichnen. Wenn dieser Prozess dass die globalen Probleme nicht durch Kriege, sondern so weitergeht, dann wird die Republik Südafrika nicht nur durch nichtmilitärische Sicherheit zu lösen sind. mehr die Lokomotive einer afrikanischen Hoffnung sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Demzufolge bitte ich Sie: Lösen Sie sich von Ihrer al- ten Antiapartheidromantik und nehmen Sie zur Kennt- Die Roadmap – oder besser gesagt: der vorgelegte Frie- nis, dass sich einige Symbolfiguren des Antiapartheid- densplan – für Israel und die palästinensischen Gebiete Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3499

Karin Kortmann (A) könnte ein Beispiel für diese neue Sicherheitspartner- schenrechte zu garantieren und Kernarbeitsnormen zu (C) schaft werden und zur Befriedung einer ganzen Region respektieren sowie die Beteiligung der Armen zu sichern beitragen. Dieser Zusammenschluss wird von den Ver- und verantwortungsvolle Regierungsführung zu stärken. einten Nationen, der EU, Russland und den Vereinigten Das ist ein bunter, aber kein in sich gegensätzlicher Staaten gefördert. Er verdient unsere Unterstützung. Strauß; es sind Zielkriterien, die aufeinander aufbauen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des und sich gegenseitig bedingen. Für uns kommt es darauf BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) an, Entwicklung und Frieden im Zeichen der Globali- sierung neu zu definieren und eine Politik zur Gestal- Die Bundesregierung, Herr Vaatz, liebe Kolleginnen tung dieser Ziele international zu vereinbaren, die den und Kollegen der Opposition, hat überhaupt keinen Ländern des Südens und des Ostens Entwicklungs- und Grund, sich angesichts ihrer humanitären Hilfeleistungen Teilhabechancen ermöglicht, die denen der Länder des für den Irak zu verstecken oder das Büßergewand überzu- Nordens und des Westens vergleichbar sind. Eine Auf- streifen. Ich will Ihnen Folgendes deutlich machen: Wir teilung in die erste, zweite, dritte oder gar vierte Welt ist haben 6 Millionen Euro für das Welternährungspro- nicht nur ethisch verwerflich und ökonomisch gefähr- gramm, 3 Millionen Euro für den UNHCR, 4 Millionen lich, sondern bietet auch sozialen Sprengstoff, der nicht Euro für das IKRK, 500 000 Euro für UNICEF und mehr zu steuern ist. 200 000 Euro für die Caritas zur Verfügung gestellt. Zur- zeit wird geprüft, inwieweit für CARE weitere Mittel be- (Beifall des Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgit- reitgestellt werden können, damit die Trinkwasserversor- ter] [SPD]) gung gewährleistet werden kann. Insofern hat der Satz von – das zeigt den Während des Krieges besaßen Sie die Unverfroren- roten Faden innerhalb der SPD – heute mehr denn je heit, bereits einen Stabilitätspakt für den Irak vorzule- seine Berechtigung: „Wo Hunger herrscht, kann Friede gen, aber Sie haben nicht ausgeführt, wie der humanitä- nicht Bestand haben.“ ren Katastrophe begegnet werden kann. Ihnen ging es schon sehr früh um eine Nachkriegsordnung, nicht um (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Frage, wie der leidenden Bevölkerung in der aktuel- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) len Situation geholfen werden kann. Kollegen und Kolleginnen der Opposition, Sie haben (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das einen Antrag vorgelegt, der in seiner Analyse sehr wohl gehört doch zusammen!) nachvollzieht, dass wir uns in der entwicklungspoliti- schen Zusammenarbeit in einer Umbruchphase befin- Ich bin froh darüber, dass unsere Ministerin in der den. Von den Beziehungen zwischen Geber- und Emp- (B) Lage ist, auf aktuelle Notlagen schnell zu reagieren und fängerländern, von der Art und Weise, wie Hilfe (D) Instrumente zur Krisenprävention und -bewältigung geleistet wird, und von den Rahmenbedingungen für die zur Verfügung zu stellen. Wo wären wir denn heute, Entschuldung der ärmsten Länder ist darin die Rede. wenn wir damals beim Hurrikan „Mitch“ nicht schnell Viele der alten, sich heute nicht mehr bewährenden For- hätten Hilfe leisten können? Welche Hilfeleistungen hät- men der entwicklungspolitischen Hilfe werden schritt- ten die Menschen in Mosambik zu erwarten gehabt? weise durch neue, vor allem auch wirkungsvollere er- Ähnliches gilt für die Erdbebenkatastrophen. In der Poli- setzt. Was ich aber bei Ihnen vermisst habe, ist, dass dies tik des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusam- zum großen Teil durch die erneut bekräftigte Verpflich- menarbeit und Entwicklung ist der rote Faden erkennbar. tung der internationalen Staatengemeinschaft zur Be- kämpfung der weltweiten Armut begründet ist. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Mehr rot als Faden!) Drei wichtige Etappen haben in den letzten zweiein- halb Jahren zu diesem Erfolg geführt: Es sind das die Heidemarie Wieczorek-Zeul hat allen Grund, auf diese Millenniumserklärung der Vereinten Nationen im Arbeit stolz zu sein, die viel Respekt und Unterstützung Jahre 2000, der Monterrey-Konsens, bei dem es um die verdient. Frage der Entwicklungsfinanzierung ging, und die UN- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Konferenz in Johannesburg und die dortige Verständi- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gung auf einen breitenwirksamen Aktionsplan. Von Ih- nen kam dazu kein einziges Wort, weil Sie diese Ereig- Die Bundesregierung bietet – das habe ich bereits er- nisse anscheinend nicht realisiert haben. Die Halbierung wähnt – unterschiedliche, sich ergänzende Instrumenta- der Armut bis zum Jahr 2015 ist deswegen für diese rien an, um die Ursachen von Krieg und Vertreibung ein- Bundesregierung zur größten Herausforderung, zum zudämmen. Damit auch für Sie klar ist, worum es geht: überwölbenden Ziel der internationalen Staatengemein- Es geht um die wirtschaftliche Dynamik und die aktive schaft erklärt worden. Teilhabe der Armen und darum, diese zu erhöhen. Es geht um das Recht auf eine eigenständige Nahrungssi- Die Millennium Development Goals sind Teil eines cherung und um faire Handelschancen für die Entwick- in den letzten Jahren entstandenen internationalen ent- lungsländer. Es geht darum, Verschuldung abzubauen wicklungspolitischen Weltkonsenses. Sie sind Ausdruck und Entwicklung zu finanzieren. Es geht darum, soziale für diese neue globale Partnerschaft zwischen Nord und Grunddienste zu gewährleisten und den Zugang zu le- Süd. Damit wird ein neuer Ansatz verfolgt, der von der bensnotwendigen Ressourcen zu sichern und vor allem bisherigen Projektförderung weggeht und stärker in Pro- eine intakte Umwelt zu fördern. Es geht darum, Men- grammen, in Sektoren und in Regionalkonzepten denkt. 3500 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Karin Kortmann (A) Ich glaube, gestern im Ausschuss haben wir alle verstan- Lesen Sie ein wenig mehr in den Papieren aus dem (C) den, dass der Stabilitätspakt für Südosteuropa ein leben- BMZ; das würde auch Ihnen helfen. diges Beispiel für diesen Ansatz ist. Er leistet länder- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ übergreifend schnelle, unbürokratische und effektive DIE GRÜNEN) Hilfe für eine ganze Region und fördert dadurch den Di- alog und das Miteinander sich ehemals bekämpfender Gruppen. Ich bitte die Bundesregierung dringendst, sich Präsident Wolfgang Thierse: dafür einzusetzen, dass dieser Stabilitätspakt fortgesetzt Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatsse- werden kann, weil Frieden und Entwicklung sowie hohe kretärin Uschi Eid. Zuwachsraten im Außenhandel Deutschlands mit den Staaten des Stabilitätspaktes nach Darstellung des Deut- Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- schen Industrie- und Handelskammertages und der KfW ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- gerade das Ergebnis dieser neuen Entwicklungskoopera- wicklung: tion sind. Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- Die Zeiten, Kolleginnen und Kollegen der Opposi- gen! In der Entwicklungspolitik ist echte Partnerschaft tion, in denen Nationalstaaten glaubten, Entwicklungs- der Grundsatz unserer Zusammenarbeit; die Bundesmi- probleme allein lösen zu können, wie es beispielsweise nisterin hat dies sehr deutlich dargelegt. Die afrikani- jahrelang durch den bilateralen Schuldenerlass versucht schen Reformpolitiker haben sogar ihrer neuen Entwick- wurde, sind passé. Internationale Problemstellungen er- lungsstrategie diesen Namen gegeben und sprechen von fordern auch internationale Lösungen und die Suche der „neuen Partnerschaft für Afrikas Entwicklung“. nach einer globalen Ordnungspolitik, die sich an den Woran aber zeigt sich, ob wir die Menschen in der Zielen einer zukunftsfähigen, menschenwürdigen und Dritten Welt auf gleicher Augenhöhe als echte Partner ökologisch nachhaltigen kohärenten Politik ausrichten. und gleichberechtigte Gegenüber akzeptieren? Es zeigt Ich hätte mir gewünscht, dass Sie diese Fragestellungen sich darin, dass alle Seiten, also auch wir, ihre eigenen auch aufgreifen. Interessen klar und offen formulieren. Eine solche Of- Daher unterstütze ich die Politik der Bundesregie- fenheit nützt allen, nicht nur wegen eines ehrlichen Um- rung – nicht weil ich eine gute Sozialdemokratin bin, gangs miteinander; vielmehr ist sie auch notwendig, da- sondern weil ich finde, dass die Bundesministerin ei- mit sich die Entwicklungsländer auf die Anforderungen nen richtigen Ansatz verfolgt, wenn sie für eine Stär- der Globalisierungsprozesse einstellen können. Nur kung der Vereinten Nationen eintritt, wenn sie sich für wenn entsprechende Anpassungsleistungen und Refor- men erbracht werden, dann können sich diese Länder (B) eine beteiligungsfreundlichere Ausrichtung von IWF (D) und Weltbank einsetzt, auch wenn die Bundesregierung stärker in die internationale Wirtschaftsdynamik inte- mit den Ergebnissen der Frühjahrstagung nicht ganz grieren. Weil sie das selber wollen, um die Lebensbedin- einverstanden ist; sie will, dass die zivilgesellschaftli- gungen in ihren Ländern zu verbessern, unterstützen wir chen Organisationen in den Politikdialog einbezogen sie darin. Ich glaube, die Ministerin hat sehr deutlich die werden und ihr Konsultativstatus in den internationalen Schritte aufgezeigt, wie wir sie unterstützen. Gremien Unterstützung findet. In meiner Aufgabe als Afrika-Beauftragte des Bun- deskanzlers erlebe ich, wie viele afrikanische Politiker Ich merke jetzt, dass meine Redezeit leider abläuft, bestrebt sind, nachhaltige Armutsbekämpfung durch und wiederhole zum Schluss: Hören Sie auf mit der wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Sie wissen, Drehtürpolitik! Sie reden hier im Parlament darüber, die dass die Vorbedingung für Wirtschaftswachstum ein der Entwicklungspolitik mit Kuba einzustellen. Gleichzeitig ökologischen und sozialen Marktwirtschaft förderliches wird aber beim Präsidenten der Reisekostenantrag einge- Umfeld ist. Herr Löning, das müssen wir ihnen nicht sa- reicht, um an der UN-Konferenz gegen Wüstenbildung gen; das wissen sie selber. in Havanna teilzunehmen. Es ist schön, wenn viele von Ihnen nach Kuba reisen. Wir wollen doch einen Wandel Dieses förderliche Umfeld ist notwendig, damit Un- durch Annäherung. Was wäre in seinem Interesse besser, ternehmen wieder mehr wirtschaftliches Interesse an als diese vor zwei Jahren hier begonnene Politik zu sta- Afrika haben. Entsprechend versuchen Regierungen wie bilisieren? Sie können nicht auf der einen Seite für einen zum Beispiel in Ghana, in Mosambik, in Südafrika oder rechtsstaatlichen Dialog mit China sein und auf der an- in Kenia, Afrika wieder zu einem attraktiveren Standort deren Seite, weil es Ihnen nicht passt, die Entwicklungs- für wirtschaftliche Investitionen zu machen. Dabei geht zusammenarbeit mit Kuba auflösen. Das passt nicht zu- es aber in erster Linie nicht um Investitionen aus dem sammen. Ausland, sondern um inländische Investitionen. Es muss deshalb alles getan werden, um die Kapitalflucht (Beifall bei Abgeordneten der SPD) aus Afrika zu beenden. Ihr Antrag ist ein Sammelsurium, ein Bauchladen von Dazu sind zwei Punkte wichtig. Zum einen müssen Ansätzen, in dem der rote Faden, Herr Ruck, den Sie so die Rahmenbedingungen wirtschaftsfreundlicher gestal- nachdrücklich gefordert haben, nicht erkennbar ist. tet werden: Rechtsstaatlichkeit, Vertragssicherheit, gere- gelte Eigentumsrechte, ein funktionierendes Bankensys- (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das haben tem und selbstverständlich Kampf gegen Korruption. Sie nur nicht verstanden!) Das ist gar keine Frage; da sind wir uns alle hier im Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3501

Parl. Staatssekretärin Dr. Uschi Eid (A) Hause einig. Unternehmen aus Europa und Afrika brau- schen Einzelhandel ist durch diese Partnerschaft (C) chen beide verlässliche und transparente Rahmenbedin- geholfen. Denn er wird durch transparente Monitoring- gungen, um langfristige Investitionen tätigen zu können. Verfahren wieder ein Stück Vertrauen der Verbraucher Wir sind bereit, in unserer Entwicklungskooperation ei- zurückgewinnen. So können wir eine klassische Situa- nen wesentlichen Beitrag zur Formulierung der notwen- tion erreichen, bei der alle Seiten nur gewinnen können. digen Reformen für wirtschaftliche Entwicklung zu leis- ten. Auch bieten wir Beratung für kleine und Einen ähnlichen Ansatz starten wir für die Kaffee- mittelständische Unternehmen an, damit diese auf den wirtschaft in der nächsten Woche in London. Dort wird Exportmärkten wie zum Beispiel der Europäischen auf Initiative des BMZ mit den großen Kaffeekonzernen, Union konkurrenzfähig werden. der Internationalen Kaffeeorganisation, mit Gewerk- schaften und internationalen Nichtregierungsorganisati- Es war notwendig, dass wir uns auf Initiative der onen ein Verhaltenskodex für die Produktion und die Bundesministerin das Ziel gesetzt haben, dass die ärms- Vermarktung von Kaffee entwickelt. ten Länder bei uns alles außer Waffen verkaufen können. Sie sehen, wir gehen neue Wege in der Handels- und Aber eine reine Marktöffnung nützt nichts, wenn die Entwicklungspolitik. Wir brauchen solche neuen Part- Länder noch nicht konkurrenzfähig sind. Damit sie das nerschaften mit der Wirtschaft und allen gesellschaftli- werden, unterstützen wir sie in unserer Entwick- chen Gruppen, damit wir das Ziel der Bundesregierung lungskooperation. erreichen, einen relevanten Beitrag zur Halbierung der Zum Zweiten spielt die regionale Integration eine weltweiten Armut bis 2015 zu leisten. überragende Rolle. Meist ist die Kaufkraft in einzelnen Dass wir auf dem richtigen Weg sind, wurde dadurch Ländern viel zu klein, als dass sich umfangreiche Inves- unter Beweis gestellt, dass die Ministerin in den USA für titionen lohnen würden. Daher fördern wir zum Beispiel diese Politik ausgezeichnet worden ist. Frau Ministerin, die regionale Integration im südlichen Afrika, in der ich möchte Ihnen von hier aus dazu ganz herzlich gratu- SADC-Region, oder in Ostafrika, in der Ostafrikani- lieren. Das gibt uns allen Mut, gemeinsam auf diesem schen Union. Der Ausbau des innerafrikanischen Han- Weg weiter zu schreiten. dels ist der erste Schritt, um auch international wettbe- werbsfähig zu werden. Entsprechend ist die Förderung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der regionalen Integration ein Schwerpunkt unserer Zu- und bei der SPD) sammenarbeit mit Afrika. Für Afrika ist die WTO-Konferenz in Cancun von Präsident Wolfgang Thierse: größter Bedeutung. Die laufende WTO-Runde muss eine Ich erteile das Wort Kollegen Ulrich Heinrich, FDP- (B) Entwicklungsrunde sein; das haben alle Länder einver- Fraktion. (D) nehmlich beschlossen. Aber wir wissen, dass wir diesen Anspruch bisher noch nicht erfüllen konnten. Wir brau- Ulrich Heinrich (FDP): chen einen Durchbruch in den Agrarverhandlungen; sonst wird man die WTO-Runden nicht als Erfolg wer- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- ten können. Afrika braucht mehr Zugang zu unseren gen! Nachhaltige Entwicklung und nachhaltige Armuts- Agrarmärkten. Europa darf seine Überschüsse nicht zu bekämpfung sind das Ziel unserer Entwicklungspolitik. Dumping-Preisen auf die afrikanischen Märkte drücken. Wir bekennen uns ausdrücklich zum Millenniumsziel der Halbierung der Armut. Bezüglich der Frage, wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treffsicher wir allerdings bei dieser Arbeit sind und wie und bei der SPD) viele Erfolge wir aufzuweisen haben, möchte ich eine kurze nüchterne Bilanz ziehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen aber auch, dass die traditionelle Handelspolitik in einer Welt Wenn wir mit den Institutionen über die Evaluierung global vernetzter Produktionsstrukturen durch neue Ko- ihrer Projekte reden, bekommen wir fast überall die Ant- operationsformen ergänzt werden muss. Deshalb fördern wort, etwa 75 Prozent der Projekte seien erfolgreich. wir so genannte strategische Partnerschaften und ar- Das zieht sich so ungefähr durch alle Bereiche. Ist das beiten mit Unternehmen, Gewerkschaften und Nichtre- nun gut oder schlecht? Sind die Angaben auch bei einer gierungsorganisationen zusammen. nachhaltigen Betrachtungsweise noch haltbar? Ich für meinen Teil habe erhebliche Zweifel. Es gibt auch nicht Lassen Sie mich das für den Bereich Bekleidung il- wenige sachkundige Beobachter der Entwicklungszu- lustrieren. Hier sind mehrere große Handelsketten auf sammenarbeit, die zu anderen Ergebnissen kommen, uns zugekommen, um bei ihren Zulieferern weltweit die nämlich dass nach vielen Jahrzehnten gut gemeinter, Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards häufig auch sehr teurer Entwicklungspolitik die Bilanz durchzusetzen. Wir beteiligen uns daran, indem wir den eher mager aussieht. Das ist nicht nur auf bundesrepubli- Unternehmen in den Entwicklungsländern helfen, sich kanischer Ebene, sondern weltweit festzustellen. auf die Anforderungen von deutschen Verbrauchern und Unternehmen einzustellen. Dadurch sichern wir nicht Lassen Sie uns deshalb gemeinsam darangehen, effi- nur langfristig die Handelsbeziehungen. Wenn wir mit zienter zu werden, um mit dem vorhandenen Geld mehr dem Projekt erfolgreich sind, haben wir über einer Mil- zu erreichen und nicht dauernd nach mehr Geld zu rufen. lion Beschäftigten in Entwicklungsländern geholfen, un- Denn auf absehbare Zeit wird nicht mehr in der Kasse ter besseren Bedingungen zu arbeiten. Auch dem deut- sein. Da können wir uns einig sein. Knappe Kassen müs- 3502 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Ulrich Heinrich (A) sen Kreativität und Innovationen auslösen. Was müssen werden kann und es sich als aktiver Kapitalwert nieder- (C) wir verändern, um zu besseren Ergebnissen zu kommen? schlägt. Derjenige, der nichts vorzuweisen hat, ist nicht Die Vorgehensweise in den einzelnen Ländern muss in der Lage, Kredite aufzunehmen, was eine wichtige nach meiner Meinung strategischer geplant werden. Vor- Voraussetzung für wirtschaftliches Tätigwerden ist. bild könnte hier der Stabilitätspakt für Südosteuropa Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken ausfüh- sein. Hier wurde wirklich strategisch geplant, hier hat ren, Herr Präsident. Ich möchte in diesem Zusammen- man runde Tische gebildet und war in kurzer Zeit erfolg- hang die Initiative der KfW im Bereich der Einführung reicher als angenommen. des Microbanking in Südosteuropa ausdrücklich loben. (Beifall bei der FDP) Diese Erfahrungen sollten auch für andere Bereiche eine Richtschnur bieten. Es ist nämlich erstaunlicherweise Wir brauchen eine bessere Kooperation der Geber- festgestellt worden, dass von kleinen Banken nicht nur länder untereinander, um durch Verfahrensvereinfa- Kredite in Anspruch genommen werden, sondern dass chungen Duplizitäten auszuschließen. Die Geberländer auch beträchtliche Einzahlungen erfolgen. Viele haben dürfen sich von den Empfängerländern nicht gegenseitig ihr Geld unter der Matratze im Sparstrumpf aufbewahrt ausspielen lassen. Wenn ein Wettlauf der Geberländer und bringen es nun zur Bank, wodurch sie kreditwürdig vor Ort stattfindet, dann ist das unproduktiv, sinnlos und werden. eine Verschwendung von Ressourcen. Wir müssen stärker an den harten Faktoren arbeiten (Beifall bei der FDP) und dementsprechend die notwendigen Voraussetzungen Wenn Sie sehen, dass in einem durchschnittlichen zur Verbesserung der Infrastruktur schaffen. Ein Drittel afrikanischen Staat gleichzeitig etwa 600 Entwicklungs- der gesamten Menschheit hat keinen Zugang zu Elektri- projekte laufen und darüber 2 400 Quartalsberichte ge- zität. Das sollte uns zu denken geben. schrieben werden müssen, dann werden Sie verstehen, was ich meine, wenn ich sage: Teure, ineffiziente Büro- Präsident Wolfgang Thierse: kratie muss dringend abgebaut werden. Wenn wir uns Herr Kollege Heinrich, Sie müssen jetzt zum Ende hier einig sind und uns gegenseitig loben, dann verän- kommen. Sie haben Ihre Redezeit schon fast verdoppelt. dern wir nichts an der Produktivität und der Effektivität unserer eingesetzten Mittel. (Heiterkeit) (Beifall bei der FDP) Ulrich Heinrich (FDP): In die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit muss Herr Präsident, dann war nicht mehr viel übrig. (B) stärker die Zivilgesellschaft einbezogen werden. Unser (D) Schwerpunkt liegt immer noch in der Zusammenarbeit Ich möchte nur noch etwas dazu anmerken, wie wir mit den Regierungen, die häufig korrupt sind. In diesen unser eigenes Handeln kritisch betrachten können, um Fällen ist das Ergebnis der Zusammenarbeit negativ. Wir zu neuen Schlussfolgerungen zu kommen. Wir sollten müssen die Zivilgesellschaften stärker mit einbinden, das, was erfolgreich war, fortsetzen, aber in Bereichen, damit sie sich selber emanzipieren können. Die Emanzi- in denen wir nicht erfolgreich waren, schnellstens um- pation der Bürger ist notwendig, damit sie lernen, poli- steuern. tisch mitzubestimmen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit muss der CDU/CSU) stärker vom Verhalten der Regierungen der Empfänger- länder abhängig gemacht werden. Ich nenne in diesem Präsident Wolfgang Thierse: Zusammenhang das Stichwort „Good Governance“. Zu einer Kurzintervention erteile ich der Abgeordne- Erfolgreiche Entwicklungspolitik ist nicht vorstellbar, ten Heidemarie Wieczorek-Zeul das Wort. wenn im Partnerland Korruption und Rechtschaos vor- herrschen und keine einigermaßen zuverlässigen Struk- Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): turen vorhanden sind. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Rechtschaos und ein überbetriebener Bürokratismus gen! Weil es in der Diskussion angesprochen wurde stellen in Entwicklungsländern häufig ein Hemmnis für – auch der Kollege Heinrich ist darauf eingegangen –, wirtschaftliche Aktivitäten dar. Wo überbetriebener Bü- möchte ich auf von uns in Gang gesetzte Änderungen rokratismus herrscht, kann eine nachhaltige Entwicklung hinweisen, die auch entsprechende Auswirkungen mit nicht gedeihen, und zwar unabhängig von dem von uns sich gebracht haben, zum Beispiel in den Bemühungen geleisteten Input. um mehr Effizienz. Es ist zwar richtig, dass zusätzliche Finanzmittel notwendig sind, aber diese vorhandenen Die Empfängerländer müssen ihrerseits die Bereit- Mittel müssen auch effizient genutzt werden. schaft erkennen lassen, Eigentum zu respektieren, und sie müssen die gesetzlichen Voraussetzungen für das Eine der von uns erreichten Effizienzsteigerungen hat vorhandene inoffizielle Vermögen – alles, was sie besit- sich daraus ergeben, dass wir frühzeitig die völlig unter- zen und mit dem sie tagtäglich überleben – schaffen, schiedlichen Praktiken bei der Berichterstattung für die damit mit diesem Vermögen aktiv Kapital geschöpft Entwicklungsländer wie auch bei anderen Themen – De- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3503

Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) legationen, unterschiedliche Verfahrensweisen – kriti- (Beifall bei der FDP) (C) siert haben, für die übrigens die deutsche Entwicklungs- zusammenarbeit zu Zeiten der früheren Bundesregierung Wenn Sie davon überzeugt gewesen wären, dass Sie auf mitverantwortlich war. Wir haben dafür gesorgt, dass es dem richtigen Weg sind, dann wäre es Ihnen unbenom- einen internationalen Plan gibt, der gemeinschaftliche men gewesen, in Ihrer 20-minütigen Regierungserklä- Kriterien für das Verhalten der Geberländer festlegt, so- rung auf den wichtigen Faktor des effizienten Einsatzes dass sich die Entwicklungsländer mit ihrer Entwicklung der Gelder entsprechend hinzuweisen. und mit wirtschaftlichen Chancen befassen können und Ich bedanke mich. sich nicht mit Entwicklungsbürokratie auseinander set- zen müssen. Mein Ministerium hat ebenfalls einen ent- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sprechenden Aktionsplan vorgelegt, weil wir genau der CDU/CSU) diese hier angesprochenen Punkte ausräumen wollen. Ich möchte, wenn ich darf, noch auf einen anderen Präsident Wolfgang Thierse: Punkt zurückkommen – Stichwort „Bolivien“ –, der in Das Wort hat nunmehr Kollege Dr. Hermann Scheer, der vorangegangenen Diskussion angesprochen worden SPD-Fraktion. ist. Bolivien ist von den Auswirkungen der weltwirt- schaftlichen Entwicklung besonders betroffen. Es stimmt, dass diesmal im bolivianischen Haushalt Mittel Dr. Hermann Scheer (SPD): zur Entschuldung eingestellt worden sind. Das heißt aber Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ent- nicht, dass sie zweckentfremdet worden sind. Sie sind wicklungshilfe – das ist von der Bundesministerin ge- vielmehr zur Armutsbekämpfung verwendet worden; rade vorgetragen worden und darauf ist auch schon in denn der für die Armutsbekämpfung relevante Teil des den letzten Jahren wiederholt hingewiesen worden – soll bolivianischen Haushalts ist von 10,6 auf 12,9 Prozent verstärkt auf die energetische Frage, insbesondere auf gestiegen. die Erneuerbaren Energien, ausgerichtet werden. Dieser Die bolivianische Regierung – das kritisieren auch Schwerpunktwechsel verdient eine nähere Betrachtung; wir; aber wir haben keine Möglichkeit, darauf Einfluss denn ich halte diesen Wechsel für eine der entwicklungs- zu nehmen – hat in der Tat ihre Zusage, die entsprechen- politischen Schlüsselfragen. Ich finde, dass es ein jahr- den Mittel den Gemeinden zur Verfügung zu stellen, zehntelanges Versäumnis der bisherigen Entwicklungs- nicht eingehalten. Aber mit Verlaub, auch die ärmsten, politik ist, dieses Problem nicht erkannt zu haben. hoch verschuldeten Entwicklungsländer sind weder Pro- tektorate noch können und wollen wir sie so behandeln. (Beifall bei der SPD) (B) (D) Wir können einem Land nicht vorschreiben, wie es kon- Man muss dieses Versäumnis gar nicht parteipolitisch kret die Mittel zur Armutsbekämpfung in seiner Gesell- bewerten; denn es handelt sich um ein internationales schaft verwendet. Aber dass die Länder die bereitgestell- Versäumnis, das bis zu den Verhandlungen über die ten Mittel zur Armutsbekämpfung verwenden müssen, Agenda 21 in Rio de Janeiro reichte, ohne dass es da- schreiben wir vor und darauf achten wir sehr genau. Das mals aufgefallen wäre. Daran kann man sehen, dass es wollte ich nur klarstellen, weil damit die Frage nach der diesbezüglich an Bewusstsein mangelte. Entschuldungsinitiative verbunden ist. Es ist jetzt ziemlich genau 30 Jahre her, als, durch den Danke sehr. Jom-Kippur-Krieg ausgelöst, die erste große Weltölkrise (Beifall bei der SPD) begann. Sie dauerte mit einer kurzen Unterbrechung neun Jahre. Wir haben damals zwar viel über die welt- Präsident Wolfgang Thierse: wirtschaftlichen, aber sehr wenig über die Folgen für die Dritte Welt diskutiert. 1973, also bevor diese Krise be- Kollege Heinrich, wollen Sie kurz erwidern? – Das ist gann, betrug die Gesamtverschuldung der Dritten der Fall. Bitte sehr. Welt ungefähr 200 Milliarden Dollar. Neun Jahre später, also als diese Krise zu Ende war, betrug die Gesamtver- Ulrich Heinrich (FDP): schuldung der Dritten Welt das Sechsfache: 1,2 Billio- Herr Präsident! Frau Ministerin, ich freue mich sehr nen Dollar. Diese Versechsfachung geht selbstverständ- darüber, dass Sie das, was ich angemahnt habe – es geht lich in allererster Linie auf die Ölkrise zurück. um die Frage, wie wir die zur Verfügung stehenden Mit- tel effektiver einsetzen können –, aufnehmen wollen. Die Länder der Dritten Welt, die im Wesentlichen die- selben Energiequellen wie wir haben – sie nutzen auch (Zuruf der Bundesministerin Heidemarie Biomasse; allerdings sorgen sie größtenteils nicht für Er- Wieczorek-Zeul) neuerung; das hat ebenfalls verheerende Wirkung –, müssen auf den Weltmärkten, sofern sie nicht selbst Pro- – Sie behaupten, dass Sie es gemacht hätten. duzent sind, also eigene Quellen haben, dieselben Preise Mein Resümee ist, dass hier bisher eine viel zu kurze wie wir zahlen. Da das Pro-Kopf-Einkommen in diesen Strecke zurückgelegt worden ist, dass noch allzu viele Ländern aber nur ein Zehntel oder noch weniger des Pro- Mittel nicht effizient eingesetzt werden und dass hier Kopf-Einkommens bei uns ausmacht, zahlen diese Län- – wenn es nicht stimmen würde, hätte ich es vorhin nicht der für Energie gemessen an ihrer Kaufkraft das Zehn- angesprochen – sehr viel mehr getan werden muss. fache. 3504 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Hermann Scheer (A) Dies wirkt wie eine Daumenschraube. Die falsche mentarsten entwicklungspolitischen Änderungsbedarf (C) Ausrichtung der Energiepolitik – das hängt mit der weltweit. Quellenlage zusammen; ich sage das völlig unabhängig davon, dass diese Politik gravierende Umweltprobleme Die Weltbank gibt bis heute nicht mehr als 10 Prozent hervorruft, die wir alle kennen – hat dazu geführt, dass ihrer Energiekredite für alternative Energien; es müss- die Verschuldung auch nach 1982, als die Ölkrise been- ten längst 100 Prozent sein. Die Entwicklungsbanken in det war, trotz aller Entschuldungsinitiativen im Grunde Afrika und Asien haben das noch nicht einmal intellek- genommen nicht mehr gesenkt werden konnte, sondern tuell, konzeptionell erkannt, was bei der Weltbank mitt- dass höchstens die Geschwindigkeit des Wachstums lerweile der Fall ist. durch entsprechende Entschuldungsinitiativen verlang- In der Konferenz von Rio wurde seitens der OPEC- samt werden konnte. Länder, der Vereinigten Staaten von Amerika und eini- ger anderer Länder erfolgreich versucht, diesen Zusam- 1973 mussten die afrikanischen Staaten ohne eigene menhang systematisch aus allen Dokumenten herauszu- Ölquellen noch ungefähr 5 bis 10 Prozent ihrer Export- halten. Es wurde über Wichtiges, aber nicht über diese einnahmen für den Import von Erdöl ausgeben; heutzu- Schlüsselfrage diskutiert. Es ist eine Schlüsselfrage, weil tage müssen sie fast alle 100 Prozent und mehr dafür ohne Energie nichts, aber auch überhaupt nichts möglich ausgeben. Das heißt, sie sind, solange Erdöl ihre Ener- ist, weil sie am Anfang jedweder Entwicklung und jed- giebasis ist, ökonomisch chancenlos. Einer der Mythen weder wirtschaftlichen Aktivität steht. in der internationalen Energiedebatte ist, dass die Um- stellung der Länder der Dritten Welt auf die Nutzung er- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne neuerbarer Energien – auch bei uns ist diese Umstellung Kastner) nötig – eine ökonomische Last darstelle. Diese Umstel- lung ist die einzige elementare wirtschaftliche Chance Wenn man das noch weiter verfolgt, so kann man dieser Länder, ihre wirtschaftliche Entwicklung ent- feststellen, dass der Einfluss der OPEC-Länder auf scheidend voranzubringen. große Teile der Gruppe der 77, die immer noch besteht, jedenfalls bei internationalen Konferenzen, bis kurz vor (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Johannesburg sogar noch so weit reichte, dass erneut der DIE GRÜNEN) Versuch unternommen wurde, das Thema herauszuhal- ten, was aber schließlich nicht gelang, weil unsere Re- Hinzu kommt ein weiterer Faktor. Ein grundlegender gierung und der UN-Generalsekretär dagegen votierten Fehler der Entwicklungspolitik in den letzten Jahrzehn- und diese Thematik erfolgreich in das Zentrum der Kon- ten war die Auffassung – ich denke dabei insbesondere ferenz von Johannesburg gehoben haben. (B) an die großen kontinentalen Entwicklungsbanken und an (D) die Weltbank, die diesen Fehler zwar erkannt, daraus Wir stehen hier vor der Situation, dass ähnlich wie aber noch längst nicht die richtigen Schlussfolgerungen vor einigen Jahrzehnten – damals gab es die grüne Revo- gezogen hat –, man könne unser Energiesystem in die lution, um den Hunger in den Dritte-Welt-Ländern zu Länder der Dritten Welt transferieren. überwinden; sie hat teilweise Erfolg gehabt, teilweise auch nicht, wegen einer falsch verstandenen Landwirt- Unser Energiesystem hat sich im Laufe eines Jahr- schaftspolitik – eine große und konzentrierte Anstren- hunderts allmählich von einem System dezentraler Ver- gung erfolgen muss, nämlich für eine Initiative hin zur sorgung hin zu einem System zentraler Versorgung ent- Veränderung und zur Umorientierung der Energiever- wickelt. Wir wissen inzwischen, dass das eine sorgungsstrukturen auf die heimischen Energien der Fehlentwicklung war. Man hat in den letzten 30 bis Länder, also die Erneuerbaren Energien. Dort steht der 40 Jahren in den Ländern der Dritten Welt – deren Struk- entwicklungspolitische Aspekt, der wirtschaftliche Ent- tur war zuvor total dezentralisiert; bis heute leben dort wicklungsaspekt, noch sehr viel mehr im Vordergrund noch immer 60 bis 90 Prozent der Bevölkerung in ländli- als der Umweltaspekt, der bei uns die Schlüsselfrage chen Räumen – eine zentralisierte Energieversorgungs- darstellt. struktur eingeführt, unter anderem durch entsprechende Investitionen und Vergabe von Krediten. Die unmittel- bare Folge war das Einsetzen der Landflucht, weil man Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nur in den Städten Strom bekam. Das Leben in den Städ- Herr Kollege Scheer, Sie müssen zum Schluss kom- ten wurde immer überlasteter. Damit einher ging die men. Slumbildung, die wir alle kennen, und die zunehmende Verarmung der Menschen in den ländlichen Räumen, wo Dr. Hermann Scheer (SPD): sehr viele bis heute noch nicht einmal Energie für kleine Maschinen haben, weil sie das gar nicht bezahlen kön- Ich bin beim letzten Satz. – Deswegen hat alles, was nen oder weil die Infrastruktur dazu nicht ausreicht. von der Regierung in dieser Richtung gemacht wird, was von ihr zum Schwerpunktwechsel auf diesem Gebiet Selbst wenn die Infrastruktur – sie ist am kostspieligs- versucht wird – bei eigenen Maßnahmen und darüber hi- ten – in den ländlichen Räumen besser würde – ich naus; das geht bis hin zu der vorgesehenen Gründung ei- denke an den Ausbau großer Leitungsnetze usw. –, dann ner internationalen Agentur für Erneuerbaren Ener- nützte das nichts mehr, weil die herkömmlichen Energie- gien –, eine Türöffnerfunktion für das, was an neuer ent- versorgungsquellen bis dahin wahrscheinlich schon wicklungspolitischer Philosophie in der eben angegebe- längst erschöpft sind. Das heißt, wir haben hier den ele- nen Richtung notwendig ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3505

Dr. Hermann Scheer (A) Danke schön. chen Gründe für die zunehmende Armut in den Entwick- (C) lungsländern. Eine Aufgabe der Weltbank ist die Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kämpfung der Armut. Mit der stärkeren Verkopplung DIE GRÜNEN) von Weltbank und IWF, dem Internationalen Wäh- rungsfonds, in den 80er-Jahren trat die Bekämpfung der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Armut in den Hintergrund. Der IWF verbindet mit der Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Gewährung von Krediten politische und ökonomische Lötzsch, fraktionslos. Forderungen, die die Souveränität der Länder drastisch einschränken. Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Nun kann man sagen: Wer das Geld gibt, kann auch Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute sagen, was damit passiert. Doch die letzten Jahrzehnte ist der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom Hitler-Fa- haben gezeigt, dass der IWF mit seiner Politik nicht zur schismus. Sie, Frau Ministerin, sind eingangs Ihrer Rede Krisenbewältigung beigetragen hat. Ganz im Gegenteil. mit folgendem Satz auf diesen Tag eingegangen: Die Er verschärft vielmehr die Krisen und hinterlässt Chaos Vereinigten Staaten von Amerika haben mit anderen zu- und Armut. Die Asienkrise etwa hat in den vergangenen sammen unser Land vom Hitler-Faschismus befreit. – Jahren den Anteil der Bevölkerung, der in Armut lebt, Ich bin über die partielle Betrachtung der Realität sehr beispielsweise in Ländern wie Indonesien, dramatisch verwundert. Wir befinden uns hier im Reichstag in Ber- ansteigen lassen. Gerade die Länder, die den Mut hatten, lin. Berlin wurde von der Roten Armee befreit. Wer es sich nicht an die Vorgaben des IWF zu halten, sind aus dem Geschichtsbuch nicht weiß, kann es zumindest schneller aus der Wirtschaftskrise herausgekommen als an den Inschriften in diesem Gebäude ablesen. die Länder, die den Vorschlägen des IWF folgten. Wir brauchen also ein Konkursrecht für Entwicklungsländer. (Gernot Erler [SPD]: Was soll das? Sie hat ge- sagt: „mit anderen zusammen“!) Jetzt ist der Internationale Währungsfonds Konkurs- richter und Gläubiger zugleich. Die Kreditrückzahlung Die Völker der Sowjetunion haben in diesem Krieg ei- ist für den IWF oft wichtiger als die Sicherung der wirt- nen Blutzoll von 20 Millionen Toten bezahlt und Sie, schaftlichen Basis des jeweiligen Landes. Seine Aufla- Frau Ministerin, gehen mit einem sehr eingeschränkten gen führen in der Regel zum Sozialabbau und auch zum Blickwinkel an diesen Tag heran. Konkurs von bis dato gesunden Unternehmen. Die For- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lesen Sie derung nach Liberalisierung der Märkte ohne Regeln das Protokoll noch einmal genau nach!) und Rechtsordnungen führt immer wieder in schwere Krisen. Russland ist nur ein schlimmes Beispiel. Mit- (B) (D) Wir von der PDS im Bundestag erneuern unseren hilfe forscher Berater aus den USA und auch aus der Vorschlag, den 8. Mai zum offiziellen Gedenktag, zum Bundesrepublik wurde es praktisch in die Dritte Welt ka- Tag der Befreiung, zu erheben. tapultiert. Die Liberalisierung der russischen Märkte (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – ohne klare Rechtsnormen hat zu einer gigantischen Ver- [CDU/CSU]: Gedenktag für nichtung gesellschaftlichen Vermögens, zu Korruption Russland, oder?) und Armut geführt. Frau Bundesministerin, Sie sind sicherlich bemüht, Ich will mich hier gar nicht über das magere Budget alles zu tun, um die Armut in den Entwicklungsländern der Entwicklungsministerin auslassen. Ich will mich zu bekämpfen. Sie haben viele Projekte auf den Weg ge- auch nicht darüber auslassen, dass die 0,8 Prozent des bracht und partiell können diese Projekte sicherlich hel- BIP, zu denen man sich selbst verpflichtet hatte, nicht fen. Aber die Wurzeln des Problems Armut können sie aufgebracht werden. Ich denke, das zentrale Problem be- nicht beseitigen. 1,2 Milliarden Menschen in der Dritten steht darin, dass die Armutsbekämpfung nicht auf der Welt sind von extremer Armut betroffen. Die Einkom- Agenda des Kanzlers und des Außenministers steht. Die mensdifferenz, die zwischen den reichsten und den Bundesrepublik hätte nämlich die Macht, in der Welt- ärmsten Ländern besteht, betrug im Jahr 1960 das bank und im IWF etwas zu ändern. 37fache; heute beträgt sie das 74fache. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Die drei reichsten Personen der Welt besitzen ein Ver- Doch davon ist nichts zu hören. mögen, das ebenso hoch ist wie zusammengenommen das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder. Im Jahr Es wäre auch dringend notwendig, in der EU über die 2001 waren es 826 Millionen Menschen, die Hunger lit- Abschaffung von Handelsrestriktionen zu sprechen. ten. Die Zahl der erwachsenen Analphabeten betrug Warum führt zum Beispiel der Bundeskanzler nicht mit 854 Millionen. 300 Millionen Kinder bleiben der Schule seinem französischen Amtskollegen eine Allianz gegen fern. 2 Milliarden Menschen brauchen lebenswichtige die Armut an? Ich finde, man sollte den Entwicklungs- Medikamente zu niedrigen Preisen, haben sie aber nicht. ländern eine würdige Chance geben, indem ihnen die Jährlich sterben mindestens 11 Millionen Kinder unter Möglichkeit eröffnet wird, ihre Produkte auf dem euro- fünf Jahren infolge vermeidbarer Ursachen. 500 000 päischen Markt zu fairen Preisen zu verkaufen. Menschen erblinden aufgrund von Mangel an Vitamin A. Abschließend, meine Damen und Herren, möchte ich Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, ehemaliger darauf verweisen, dass der brutalste Produzent von Ar- stellvertretender Chef der Weltbank, benennt die wirkli- mut der Krieg ist. Die Kriege der Ersten Welt gegen die 3506 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Gesine Lötzsch (A) Dritte Welt werden jetzt schon als Entwicklungshilfe de- Lassen Sie uns im Internationalen Jahr des Süß- (C) klariert. Es wird gebombt und dann wird aufgebaut. Das wassers gemeinsam mit Kofi Annan die Rettungsleine ist besonders perfide. Hier kann ich Frau Wieczorek- für das Überleben der Menschen im 21. Jahrhundert aus- Zeul nur beipflichten, die sich über diese Art der Ent- werfen. Wir wollen und müssen dafür zusätzliche finan- wicklungshilfe zu Recht empört hat. Sie wurde von zielle Ressourcen erschließen. Ohne privates Engage- ängstlichen Kollegen zurückgepfiffen, denn diese hoffen ment können wir die weltweit notwendigen Investitionen offenbar immer noch, Bush würde deutsche Unterneh- im Wasserbereich nicht finanzieren. men am Wiederaufbau des Irak beteiligen. Doch so, meine Damen und Herren, kann Entwicklungshilfe nicht Eine Privatisierung des Wassersektors auf Kosten der funktionieren. Armen und Schwachen dagegen wird es mit uns nicht geben. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Wasser ist ein öffentliches Gut. Regierungen müssen das Recht auf Wasser gewährleisten. Im Aufbau der dafür Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: notwendigen Institutionen unterstützen wir unsere Part- Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt, nerländer. SPD-Fraktion. Wenn es nicht gelingt, den Zugang zu den und die Nutzung der knappen Wasserressourcen gerecht zu re- Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): geln, werden sich die Wasserkrisen von heute zu bedroh- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Stellen lichen Konflikten von morgen verschärfen. Das Gebot Sie sich vor, es käme kein Wasser aus Ihrem Wasserhahn der Stunde lautet, eine neue Friedenspolitik zu verwirk- und die nächste Wasserstelle wäre 10 Kilometer weit lichen, deren Ziel die globale Zukunftssicherung für uns weg. Das ist wohl für jeden von uns unvorstellbar, und und die kommenden Generationen ist. Man spricht hier erst recht aus der Perspektive einer Frau. Als Mann ha- auch von Nachhaltigkeit. ben Sie nach traditioneller Arbeitsteilung in vielen Ge- Damit sind die angeblich „weichen“ Themen der Ent- sellschaften eine Frau, die das allernötigste Wasser be- wicklungspolitik längst „harte“ Themen der Außen- und schafft. Als Frau dagegen stehen Sie in der Pflicht, Tag Sicherheitspolitik geworden. Sicherheitsfragen auf das für Tag vorsorgend für die Familie die dürftige, dennoch Militärische zu verengen ist fatal. Entwicklungspolitik schwere Menge heranzutragen. ist mehr als nur ein Nischenthema oder Reparaturbe- trieb. (B) Laut Weltgesundheitsorganisation liegt der Mindest- (D) bedarf eines Menschen an Wasser bei 20 Litern pro Tag. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Viele Menschen müssen jedoch mit 2 Litern ver- schmutztem Wasser auskommen. Wir dagegen verbrau- Meine Damen und Herren von der Opposition, neh- chen siebenmal so viel – 140 Liter pro Kopf und Tag. men Sie Entwicklungspolitik endlich als selbstständigen Das heißt, an jenen Verhältnissen gemessen hätten wir Bestandteil einer umfassenden Friedenspolitik, einer seit Ende Februar unseren statistischen Jahresmittelwert globalen Strukturpolitik zur Kenntnis. Wir verfolgen seit bereits verbraucht. 1998 konsequent eine Politik der Krisenprävention und friedlichen Konfliktbeilegung. Das heißt, strukturelle Ein Bewusstsein für diese ungerechte Verteilung führt Ursachen von Gewalt und Konflikten abbauen, gewalt- nicht zwingend zu Konflikten und Krisen; aber eine la- freie Konfliktbearbeitung fördern, regionale Kooperatio- tente Gefahr ist dieser Gerechtigkeitsfrage immanent. nen unterstützen, und das heißt auch, nach gewaltsamen Auseinandersetzungen partizipatorische Strukturen eta- Während im Irak die ersten Bomben fielen, trafen auf blieren. dem dritten Weltwasserforum in Kioto mehr als 10 000 Teilnehmer aus 165 Ländern zusammen, um über Ich will Ihnen, meine Damen und Herren, nicht ohne Maßnahmen zur Lösung der globalen Wasserprobleme Stolz einige unserer Initiativen nennen: Das Bundesmi- zu diskutieren. Auf dem Weltgipfel für nachhaltige Ent- nisterium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat seit wicklung in Johannesburg hat sich die Weltgemeinschaft 1999 Sitz und Stimme im Bundessicherheitsrat. Seit dem ein ehrgeiziges Ziel gesetzt, nämlich den Anteil der Jahr 2000 legt die Bundesregierung jährlich einen Rüs- Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser und tungsexportbericht vor. Unsere Rüstungsexportpolitik zu sanitären Einrichtungen bis 2015 zu halbieren. folgt verbindlichen restriktiven Grundsätzen. Mit dem auf drei Jahre angelegten Projekt der GTZ zur Kleinwaf- Die Weltkommission für Dämme verdient es, dass ih- fenkontrolle nimmt Deutschland weltweit eine Vorreiter- rer verantwortungsvollen Arbeit Beispiele folgen. rolle ein. Unsere Regierung gehört bei alledem zu den treiben- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: den Kräften. Sie hat den Wassersektor seit Jahren konse- Die Zahlen sagen etwas anderes!) quent zu einem Schwerpunkt ausgebaut. Wir sind auf diesem Gebiet mit rund 350 Millionen Euro jährlich der Wir haben das Instrument des Zivilen Friedensdienstes größte bilaterale Geber in Europa. Vor allem in Afrika ins Leben gerufen und werden es in den kommenden brauchen die Armen sauberes Wasser und Sanitärein- Jahren weiter ausbauen. Wissenschaftliche und instituti- richtungen. onelle Friedensforschung wie durch die Gruppe Frie- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3507

Dagmar Schmidt (Meschede) (A) densentwicklung hat bei uns ihren begründeten Rück- ums Leben gekommen. Die „Neue Zürcher Zeitung“ (C) halt. vom 6. Mai dieses Jahres schreibt hierzu: Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder eine unilate- Im Morgengrauen des 3. April hatten Milizionäre rale Weltordnung noch Präventivkriege lösen die Pro- der Lendu-Ethnie den Ort Drodro und vierzehn um- bleme dieser Welt. Wenn wir die Zukunft unserer Kinder liegende Weiler in einer gut koordinierten Aktion sichern wollen, müssen wir in globaler Verantwortung angegriffen. In einer rund dreistündigen Blutorgie die Armut bekämpfen sowie das multilaterale Krisenma- ermordeten sie Hunderte von Zivilisten, viele von nagement und partizipatorische Dialogfähigkeiten stär- ihnen mit Macheten. Die Opfer gehörten der Volks- ken. Das tut unsere Regierung. Wie schön wäre es, wenn gruppe der Hema an.... sich Journalisten gerade für diese verantwortungsvolle Aufgabe einbetten ließen. Beim Massaker von Drodro wurden nach einer von Anwohnern zusammengestellten Namensliste (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 966 Personen abgeschlachtet. Zwei Tage nach dem DIE GRÜNEN) Blutbad traf eine Untersuchungskommission der Monuc ein und inspizierte unter anderem mehr als Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 20 frische Massengräber. Später wurden die ersten Schätzungen auf 300 bis 400 Todesopfer korrigiert, Nächster Redner ist der Kollege Hartwig Fischer, doch in Wirklichkeit kann niemand genau angeben, CDU/CSU-Fraktion. wie viele Hema ermordet worden waren.... (Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!) Mit dem Helikopter nach Drodro gelangt sind auch eine Untersuchungskommission der Monuc und Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): zwei forensische Experten aus Argentinien.... Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Auf Anweisung der Argentinier machen sich Dorf- Herren! Die Entwicklungen der vergangenen Monate in bewohner daran, das Grab mit Hacken und Schau- Afghanistan und im Irak haben die Krisenherde und die feln zu öffnen. Als sie in etwa einem Meter Tiefe Brennpunkte in anderen Teilen der Welt in den Hinter- auf verrottende Bananenblätter stossen, überneh- grund gedrängt. Beispielhaft möchte ich hier das Gebiet men die Experten das Zepter und legen sorgfältig der Großen Seen und der Demokratischen Republik einen Teil der Grube frei.... Unter den Bananenblät- Kongo nennen. Hier fand und findet tagtäglich eine der tern und einer dunkel gefärbten Decke kommt als schlimmsten menschlichen Tragödien statt, die seit 1998 Erstes ein Arm ans Licht. Mit Plastichandschuhen bis heute weit mehr als 3 Millionen Tote fordert – die (B) hebt einer der Argentinier vorsichtig den Kopf der (D) meisten Toten in einem Krieg auf dieser Welt seit dem Leiche in die Höhe. Es ist eine Frau. In ihrem Na- Zweiten Weltkrieg. Einige indigene Volksgruppen wie cken klafft ein tiefer Schnitt. „Machete“, lautet der die Pygmäen stehen unter Umständen sogar vor der Aus- einzige Kommentar des Fachmanns. Das makabre rottung. Schauspiel beobachtet auch ein junger Mann – die Wo ist hier die Stimme der Bundesregierung im Augen voller Tränen... „Meine Frau und unsere drei Sicherheitsrat? Nach dem Tod von fast 1 Million Men- Kinder liegen hier“, sagt er mit erstickter Stimme. schen 1994 im Ruanda-Konflikt, dem die UNO weitge- Immer wieder wird von den Verantwortlichen vor Ort hend tatenlos zugesehen hat, erleben wir jetzt, dass im gefordert, Truppen nach Drodro zu schicken, um die Kongo nach dem Pretoria-I- und dem Pretoria-II-Ab- Hema vor den Lendu zu schützen. Bei Abzug der kommen und trotz mehrerer UN-Resolutionen kaum ugandischen Truppen besteht Todesgefahr. Doch die eine Verbesserung der Lage eintritt. MONUC hat weder das Mandat noch die Truppen dazu. Die freiwillige Entwaffnung und Demobilisierung der Herr Erler, Sie haben vorhin die Handlungsfähigkeit bewaffneten in- und ausländischen Kämpfer im Ost- der Weltgemeinschaft beschworen. Als Mitglied des Si- kongo durch die Peace-Keeping-Mission MONUC fin- cherheitsrates der Vereinten Nationen ist es auch Auf- det nur schleppend statt. Die Bundesregierung schaut ta- gabe der Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass tenlos zu, wie immer noch bis zu 30 000 Menschen der Zustand der Recht- und Straflosigkeit im Osten des jeden Monat durch Kriegshandlungen, durch Massaker Kongo wirksam bekämpft wird. und durch sich infolge des Krieges dramatisch ver- schlechternde Lebensbedingungen zu Tode kommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Das Sterben in Afrika, das Sterben im Gebiet der Großen des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE Seen und im Kongo findet weitestgehend ohne öffentli- GRÜNEN]) che Kenntnisnahme, ohne Medien statt, anders als im Irak. Übrigens: Vor dem Krieg im Irak fand das Sterben Besonders in der bereits erwähnten Region Ituri sind unter Saddam auch weitgehend ohne öffentliche Kennt- schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Massenhin- nisnahme statt. richtungen, systematische Vergewaltigungen, Kanniba- lismus, Vertreibungen und Plünderungen an der Tages- Allein in den ersten Aprilwochen 2003 sind bei Aus- ordnung. Überlebende Pygmäen berichten, sie seien von einandersetzungen zwischen Angehörigen der Volks- der Rebellenbewegung zum Verspeisen von Angehöri- gruppen der Hema und Lendu mehrere hundert Men- gen gezwungen worden. So erklärte der Pygmäe schen bei einem Gemetzel in Drodro im Distrikt Ituri Amuzati Nzoli, Warlord-Milizen hätten sein Dorf über- 3508 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Hartwig Fischer (Göttingen) (A) fallen und er habe mit ansehen müssen, wie sein sechs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (C) jähriger Neffe von Angreifern verspeist wurde. Kämpfer bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- rissen dem Kind mit Macheten das Herz aus dem Körper NISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. und aßen es, nachdem sie es über dem Feuer geröstet Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos]) hatten. Die Pressesprecherin der UN-Mission im Kongo bestätigte ebenso wie der Bischof aus Beni-Butembo die Um insbesondere im Ostkongo tätig sein zu können, Kannibalismusvorwürfe. brauchen die NGOs aber Sicherheit, die nur durch die UN hergestellt werden kann. Nur so wird es für die Zu- Die Bevölkerung leidet massiv unter den Auswirkun- kunft möglich sein, dass die reichhaltigen Rohstoffvor- gen dieser Kämpfe, die deren ohnehin schon katastro- kommen dazu beitragen, die Armut der Bevölkerung zu phale Situation weiter verschlechtert. 16 Millionen Kon- lindern und gleichzeitig die Voraussetzungen für eine golesen hungern bzw. leiden an Unter- oder positive wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. Dies Mangelernährung. 80 Prozent der Bevölkerung haben alles ist auch Voraussetzung für den Aufbau von Rechts- keinen Zugang zu sauberem Wasser. 70 Prozent haben staatlichkeit und Demokratie. Es ist daher auch Aufgabe keinen Zugang zu qualifizierter Gesundheitsversorgung. der Bundesregierung, Druck auf die UNO auszuüben. Die Aidsrate steigt infolge systematischer Vergewalti- Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun, die gungen und Prostitution. Kinder werden von den Kriegs- menschliche Tragödie und das unermessliche Leid der parteien gewaltsam als Soldaten rekrutiert. Menschen im Kongo endlich zu beenden. Wir wollen Meine Damen und Herren, das Mandat von MONUC mit unserem Antrag zur „Tragödie im Kongo“ die Öf- fentlichkeit sensibilisieren. Wir wollen die Medien akti- muss ausgeweitet werden und die Mission muss perso- vieren. Wir wollen, dass die Bundesregierung ihre Mög- nell massiv verstärkt werden, damit die UNO nicht wie lichkeiten ausschöpft. in den vergangenen Wochen bei schwersten Menschen- rechtsverletzungen und Übergriffen tatenlos zusieht. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Bravo!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Es soll niemand in Zukunft zu dem Morden und Ster- GRÜNEN) ben im Kongo sagen können: Wir haben nichts gesehen, wir haben nichts gehört, wir haben nichts gewusst und Zwar ziehen sich derzeit ugandische Truppenteile aus deshalb nichts getan. dem Osten der Demokratischen Republik Kongo zurück; aber durch das entstandene Machtvakuum entsteht die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- (B) Gefahr von neuen gewalttätigen Auseinandersetzungen (D) zwischen konkurrierenden Ethnien. Allein in der letzten NISSES 90/DIE GRÜNEN) Woche haben deshalb wieder 20 000 Angehörige der Hema aus Angst vor neuen Übergriffen der mit ihnen be- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: feindeten Lendu die Grenze nach Uganda überquert. Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin Die Bundesregierung muss sich mit aller Kraft dafür Uschi Eid. einsetzen, dass sichergestellt wird, dass das bestehende Machtvakuum nicht dazu genutzt wird, neue Konflikt- Dr. Uschi Eid (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): herde zu schüren und alte mordend fortzusetzen. Dazu Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Kollege Fischer! muss MONUC mit weit reichenden Befugnissen ausge- Bezüglich der Demokratischen Republik Kongo hat sich stattet werden. diese Regierung überhaupt nichts vorzuwerfen, das möchte ich klarstellen. Ruanda hat zwar seine Truppen auf Druck abgezo- gen; aber die Entwaffnung der Hutu-Milizen, die eine (Beifall bei der SPD) Bedrohung für Ruanda darstellen, steht immer noch aus. Die Regierung in Kinshasa ist zu dieser Entwaffnung Einige Regierungsmitglieder beobachten sehr genau seit nicht in der Lage. Sie braucht die Unterstützung der Jahren das, was in dieser Region passiert. UNO. Die UN müssen weiterhin sicherstellen, dass an Ich will Ihnen jetzt konkret auf das antworten, was dem Friedensprozess, der noch kommen soll, alle Volks- Sie von uns eingefordert haben. Die Bundesregierung gruppen beteiligt werden. Ohne das Engagement der unterstützt, insbesondere im Rahmen der Europäischen nicht staatlichen Zusammenarbeit, zum Beispiel das Union durch den Sonderbeauftragten Ajello und als vonseiten der deutschen Kirchen, wären in vielen Regio- nicht ständiges Mitglied des VN-Sicherheitsrates die Be- nen die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem mühungen um einen umfassenden und dauerhaften Frie- längst völlig zusammengebrochen. den in der Demokratischen Republik Kongo und in der gesamten Region. An dieser Stelle möchte ich daher im Namen meiner Fraktion den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Das Auswärtige Amt hat die Mission von Sir Quett der NGOs und der Kirchen, die im Kongo tätig sind, Masire, dem ehemaligen Staatspräsidenten von Bots- unseren großen Dank und unseren großen Respekt für wana, finanziell in großem Maße unterstützt, weil er der ihre hervorragende Arbeit aussprechen, die oft nur unter Mediator war, der versuchte, die verfeindeten Gruppen Gefahr für Leib und Leben erfolgen kann. zusammenzubringen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3509

Dr. Uschi Eid (A) Wir unterstützen mit großem Engagement im VN-Si- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C) cherheitsrat die Umsetzung der Resolution des Sicher- heitsrates zur Region der Großen Seen. Wir unterstützen Dr. Sascha Raabe (SPD): eine Anpassung des Mandats für MONUC, um unter an- derem die Präsenz von MONUC im Ostkongo zu stärken. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Irakkrieg ist zu Ende, der Wir haben in den letzten Jahren 20 Millionen Euro im 11. September 2001 jährt sich bald bereits zum zweiten Rahmen eines Weltbankprogramms für die Entwaffnung Mal und so langsam kehrt wieder Ruhe ein, zumindest und die Reintegration von Exkombattanten ausgegeben. auf den Bildschirmen in unseren Wohnzimmern. Doch Während wir auf der einen Seite das Regime von dieser scheinbare Frieden ist trügerisch: Das für uns laut- Mobuto isoliert haben, haben wir mit den Menschen vor lose Sterben von täglich 24 000 Menschen infolge von Ort – und das bereits unter der CDU/CSU-FDP-Regie- Hunger und Armut geht weiter, Tag für Tag, Stunde für rung – in Vereinbarung mit der GTZ und der KfW kleine Stunde, ohne Sendepause. lokale Programme unterstützt, um die Menschen von der kommunalen Basis her zu stärken, damit ihr Überleben Schon allein deshalb müssen wir aus humanitären gesichert ist. Gründen all unsere Kraft darauf verwenden, den tägli- chen Massentod durch Hunger und Armut zu überwin- Wir lassen uns von der CDU in dieser Sache nichts den. Nur dann werden wir dem Terrorismus dauerhaft vorwerfen. Wir haben den Friedensprozess in den letzten den Nährboden entziehen können. Herr Kollege Vaatz, Jahren massiv unterstützt und werden das auch weiterhin es ist schon bedenklich, dass Sie aus dem Irakkrieg die tun. Wir werden an der Seite der Kongolesen, aber auch Lehre gezogen haben – so haben Sie es süffisant ausge- der gesamten Region wie auf der Seite der Südafrikaner führt –, dass sich alle Befürchtungen und Sorgen nicht stehen, die diesen Prozess hoffentlich bald zu einem bestätigt hätten. So viele Opfer habe es gar nicht gege- friedlichen Ende führen können. ben; einen falschen Krieg schnell zu gewinnen, das sei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) quasi die Lösung. Wenn Sie das wirklich meinen, haben Sie nicht verstanden, dass es nicht darum geht, die Men- Ich weise die Kritik, die Sie hier geäußert haben, wirk- schen zu bekämpfen. Vielmehr können wir nur dann, lich mit aller Schärfe, auch im Namen der Ministerin, wenn wir die Armut bekämpfen und dann auch überwin- zurück. den, für eine dauerhaft friedliche und gerechte Welt sor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen. und bei der SPD – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [CDU/CSU]: Das war eine schlechte Rede!) DIE GRÜNEN) (B) (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Allein mit den klassischen Mitteln der Entwicklungs- politik wie der bilateralen Projektförderung wird die Ar- Herr Kollege Fischer, Sie können antworten. mutsbekämpfung nicht erfolgreich sein. Wir müssen Entwicklungspolitik in Zeiten der Globalisierung neu Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): definieren. Heidemarie Wieczorek-Zeul hat dies erkannt Frau Abgeordnete Eid, ich habe keinen Zweifel an der und betont seit 1998 immer wieder die Bedeutung von Arbeit der NGOs, die Sie gerade angesprochen haben. Entwicklungspolitik als globaler Strukturpolitik. Ein be- Ich habe aber festgestellt, dass die Maßnahmen, die von eindruckendes Beispiel ist unter anderem die von der der UNO im Pretoria-I-Abkommen vom 30. Juli 2002, Bundesregierung maßgeblich forcierte Entschuldungs- im Pretoria-II-Abkommen vom 17. Dezember 2002 und kampagne. im Sun-City-Abkommen vom 1. April 2003, das man si- Trotz dieser großen Anstrengungen sind wir von einer cherlich noch nicht beurteilen kann, weil es erst seit kur- gerechten Weltwirtschaftsordnung noch weit entfernt. zem in Kraft ist, beschlossen wurden, in Bezug auf das Natürlich ist für eine erfolgreiche wirtschaftliche Ent- Morden der Hema und Lendu im Ostkongo nichts ge- wicklung und Armutsbekämpfung auch Good Gover- nützt haben. Deshalb habe ich Sie aufgefordert, Ihre nance in den Entwicklungsländern notwendig, wie wir Kraft im Sicherheitsrat dafür einzusetzen, dass der Auf- es zu Recht von unseren Partnerländern einfordern. Aber trag für MONUC geändert wird. Dazu gehört, dass leisten wir als Industrieländer auch wirklich unseren ei- MONUC auch militärisch eingreifen darf. genen Beitrag für eine Good Global Governance? Die Erfüllung dieser Aufgabe erwarte ich von Ihnen Das Ziel, den Anteil der Entwicklungshilfe in allen im Sicherheitsrat, unter Umständen sollten Sie dafür Staaten auf 0,7 Prozent des jeweiligen Bruttoinlandspro- auch die neue Achse zu Frankreich und Russland ein- duktes zu steigern, ist zweifellos richtig. Genauso richtig schalten. ist es jedoch, die Entwicklungsländer fair am Welthan- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- del zu beteiligen, damit sie langfristig selbstständig, also neten der FDP) ohne fremde Hilfe ihre Lebensgrundlage erwirtschaften können. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Sascha Raabe, SPD-Fraktion. Abg. Markus Löning [FDP]) 3510 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Sascha Raabe (A) Momentan gehen den Entwicklungsländern durch die EU an die Entwicklungsländer nochmals überdenken, (C) Importzölle der Industrieländer doppelt so viele Einnah- bevor wir Entscheidungen treffen. men verloren, wie sie durch öffentliche Entwicklungszu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sammenarbeit erhalten. Die OECD-Staaten geben pro DIE GRÜNEN) Tag etwa 1 Milliarde Dollar für Agrarsubventionen aus. Das ist das Sechsfache dessen, was sie an öffentlicher Es ist auch klar: Wenn uns als deutsche Parlamenta- Entwicklungshilfe aufbringen. Diese Subventionen drü- rier mit all unseren wissenschaftlichen Hilfsdiensten die cken die Preise auf dem Weltagrarmarkt erheblich nach Beurteilung der komplizierten WTO-Verhandlungen unten. Im ländlichen Raum, wo drei Viertel der Hun- schon schwer fällt, so ist dies für Entscheidungsträger gernden und Armen der Welt leben, zerstören diese der Entwicklungsländer noch viel schwieriger. Deshalb künstlichen Niedrigpreise die Märkte für Kleinbauern. ist es richtig, dass die Bundesregierung die Kapazitäten Deshalb nehmen die Agrarverhandlungen im Rahmen der Entwicklungsländer weiter stärkt, damit diese ihre der aktuellen Welthandelsrunde für die Armutsbekämp- Chancen im Verhandlungsprozess nutzen können. fung eine Schlüsselstellung ein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben – darauf ist vom Kollegen Hoppe schon des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hingewiesen worden – gemeinsam mit unserem Koaliti- Es gibt viele Gründe, sich der Armutsbekämpfung onspartner einen entsprechenden Antrag in den Deut- und der fairen Ausgestaltung der Globalisierung zu wid- schen Bundestag eingebracht, der auch von unserer Mi- men. Wir haben hier schon viel über humanitäre und si- nisterin sowie unseren Kolleginnen und Kollegen im cherheitspolitische Erwägungen geredet. Für Deutsch- Landwirtschaftsausschuss nachdrücklich unterstützt land als Exportland sind Kaufkraft und Wohlstand in den wird. Entwicklungsländern wichtig, um zu einem weiteren Das ist der Unterschied zu Ihnen, verehrte Kollegin- Wirtschaftswachstum bei uns beizutragen. nen und Kollegen von der Union. Sie propagieren in So unterschiedlich uns die Auswirkungen der welt- Sonntagsreden oft den Subventionsabbau, aber in Wirk- weiten Armut betreffen, so vielfältig müssen die Lö- lichkeit geben sich bei Ihnen die Lobbyisten der Agrar- sungsansätze sein. Deshalb werden wir Heidemarie industrie die Klinke in die Hand. Sie müssen einmal so Wieczorek-Zeuls Prinzip einer kohärenten Politik, wo- ehrlich sein, sich das einzugestehen, und daran etwas än- nach alle Ressorts in ihren Entscheidungen die Folgen dern. für die Entwicklungsländer berücksichtigen müssen, weiterhin zur Leitlinie unserer Entwicklungspolitik ma- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen. (B) DIE GRÜNEN) (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Neben dem Agrarbereich sind auch die so genannten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) GATS-Verhandlungen über die Liberalisierung von Dienstleistungen ein wichtiger Aspekt in der WTO- Herr Dr. Ruck, noch ein Satz zu Ihrer Kritik, die Sie Runde. Liberalisierungen im Sinne eines gesunden vorhin geäußert haben. Sie haben uns vorgeworfen, dass Wettbewerbs zur Schaffung effizienter Infrastrukturen sich bei uns so viele unterschiedliche Ressorts mit Ent- durch private Unternehmen können durchaus Verbesse- wicklungspolitik beschäftigen würden. Das ist ein Kom- rungen auch für die armen Bevölkerungsschichten in pliment für uns und ein Zeichen dafür, dass Sie die He- Entwicklungsländern bringen, insbesondere wenn man rausforderungen der Globalisierung in ihrer Komplexität sich die oft nicht vorhandene oder ineffiziente und kor- noch nicht verstanden haben. rupte staatliche Infrastruktur anschaut. Allerdings kön- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nen Privatisierungen zum Beispiel bei der Trinkwasser- DIE GRÜNEN) versorgung auch dazu führen, dass zwar die Ober- und Mittelschicht von einem verbesserten Angebot profitiert, Die WTO-Runde im September in Cancun wird ein aber die Ärmsten sich das Wasser nicht mehr leisten wichtiger Prüfstand werden. Noch haben wir die können. Auch die Kollegin Schmidt hat auf diese Pro- Chance, dass es tatsächlich eine Entwicklungsrunde blematik hingewiesen. wird. Ich appelliere deshalb an uns alle: Lasst uns in Cancun mit dem wertvollsten öffentlichen Gut handeln! Deswegen müssen wir sorgfältig prüfen, in welchen Lasst uns mit Gerechtigkeit handeln! Dann werden wir Sektoren und unter welchen Bedingungen Liberalisie- Erfolg haben. rungen wirklich etwas zur Armutsbekämpfung beitra- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gen. Dazu sind wissenschaftliche Folgeabschätzungen notwendig. Das gilt übrigens für die Auswirkungen auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Entwicklungsländer genauso wie für die Konsequenzen DIE GRÜNEN) von Liberalisierung bei uns. Auch die Enquete-Kommis- sion „Globalisierung der Weltwirtschaft“ hat solche Fol- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: geabschätzungen dringend empfohlen. Der Deutsche Herr Kollege Raabe, ich gratuliere Ihnen recht herz- Bundestag hat aus diesem Grund vor wenigen Wochen lich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause und einen Parlamentsvorbehalt gegenüber dem EU-Ange- wünsche Ihnen persönlich und politisch alles Gute. botskatalog innerhalb der GATS-Verhandlungen einge- bracht. Genauso sollten wir den Forderungskatalog der (Beifall) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3511

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich schließe die Aussprache. Innenausschuss (C) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Haushaltsausschuss Fraktion der CDU/CSU. Sie hat beantragt, den Ent- b) Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat schließungsantrag auf Drucksache 15/921 zur federfüh- eingebrachten Entwurfs eines… Gesetzes zur renden Beratung an den Ausschuss für Menschenrechte Änderung des Strafgesetzbuches und anderer und humanitäre Hilfe und zur Mitberatung an den Aus- Gesetze – Widerruf der Straf- und Strafrest- wärtigen Ausschuss sowie an den Ausschuss für wirt- aussetzung – (... StrÄndG) schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu über- weisen. Diese Federführung ist jedoch strittig. Die – Drucksache 15/310 – Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen (Erste Beratung 31. Sitzung) wünschen die Federführung beim Ausschuss für wirt- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion der CDU/CSU abstimmen, wonach die Fe- – Drucksache 15/954 – derführung beim Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe liegen soll. Wer stimmt für diesen Berichterstattung: Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Abgeordnete Erika Simm haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit den Daniela Raab Stimmen der Koalition und der FDP abgelehnt. Jerzy Montag Jörg van Essen Wer stimmt für den Überweisungsvorschlag der Frak- tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, wo- ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van nach die Federführung beim Ausschuss für wirtschaftli- Essen, Rainer Funke, Rainer Brüderle, weiterer che Zusammenarbeit und Entwicklung liegen soll? – Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überwei- Opferrechte stärken und verbessern sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen der CDU/CSU angenom- – Drucksache 15/936 – men. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Der Entschließungsantrag ist damit federführend an Innenausschuss den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (B) Entwicklung und zur Mitberatung an den Auswärtigen (D) Ausschuss sowie an den Ausschuss für Menschenrechte Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für und humanitäre Hilfe überwiesen. die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 15/922 und 15/923 sollen zur federführenden Beratung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege an den Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit Dr. Röttgen, CDU/CSU-Fraktion. und Entwicklung sowie zur Mitberatung an den Aus- wärtigen Ausschuss, an den Ausschuss für Umwelt, Na- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): turschutz und Reaktorsicherheit und an den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe überwiesen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und werden. Darüber hinaus soll der Entschließungsantrag Herren! Mit dem Gesetzentwurf, den die CDU/CSU- auf Drucksache 15/923 zusätzlich an den Haushaltsaus- Fraktion heute vorlegt, zielen wir auf eine grundlegende schuss, an den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit und Neubestimmung der Rolle des Verletzten im Strafpro- an den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- zess. Uns geht es darum, dass die Stellung der Opferzeu- folgenabschätzung überwiesen werden. Sind Sie damit gen, der Zeugen also, die Opfer einer Straftat geworden einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- sind, vom Beweismittel, das als Objekt behandelt wird, weisungen so beschlossen. zu einem eigenständigen Verfahrensbeteiligten, der ei- gene Rechte hat, aber auch schutzbedürftig ist, aufge- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie wertet wird. Wir wollen also die Aufwertung des Opfer- Zusatzpunkt 2 auf: zeugen vom Beweismittel zum Verfahrensbeteiligten. 4 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Opferschutz ist nicht nur auf der Ebene der Rhetorik, Wolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, sondern auch auf der Ebene des politischen Handelns ein Hartmut Koschyk, weiteren Abgeordneten und Kernelement christlich-demokratischer Rechtspolitik. der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- Praktisch alle Meilensteine im Opferschutz, die es in wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte den letzten 20 bis 25 Jahren – man kann sogar sagen: in der Opfer im Strafprozess (2. Opferschutzge- der deutschen Rechtsgeschichte nach 1945 – gegeben setz) hat, sind das Ergebnis christdemokratischer und liberaler Rechtspolitik in den 80er- und 90er-Jahren. Wir haben – Drucksache 15/814 – Opferschutz praktiziert. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 3512 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Norbert Röttgen (A) Es hat mit dem Opferschutzgesetz von 1986 begon- (Joachim Stünker [SPD]: Ganz schön dicke (C) nen, durch das insbesondere der Zeugenbeistand einge- Backen!) führt wurde. Wir sind im Jahre 1994 mit der Einführung Nun komme ich zum Entwurf des 2. Opferschutzge- der Regelungen zum Täter-Opfer-Ausgleich fortgefah- setzes, den wir heute vorlegen. Er geht zurück auf Über- ren und haben 1998 mit dem Zeugenschutzgesetz, durch legungen des Deutschen Juristentages im Jahre 1998. das insbesondere die Videovernehmung zum Schutz Die Überlegungen sind also schon einige Jahre alt. Sie kindlicher Zeugen, die Opfer von Gewaltverbrechen, sind im Jahre 2000 in eine Bundesratsinitiative einge- zum Beispiel von Sexualverbrechen, geworden waren, in flossen. Über diese Initiative des damals noch sozialde- den Strafprozess eingeführt wurde, weitergemacht. mokratisch geführten Hamburger Senats – Justizsenato- Die Opfersituation hört ja nicht plötzlich auf. Viele rin war Frau Peschel-Gutzeit – wurde im Bundesrat ein Opfer sind auch nach Abschluss der Tat noch Opfer, da Jahr lang intensiv diskutiert. die psychischen Belastungen fortdauern. Darum handelt (Joachim Stünker [SPD]: Was Sie abgeschrie- es sich beim Strafprozess immer auch ein wenig um eine ben haben, ja!) Wiederholung und Verlängerung der Opfersituation, weshalb die Opfer den Schutz der Rechtsordnung benö- Es hat zahlreiche Änderungen gegeben. Zum Schluss tigen. Darauf zielen wir mit unserem Gesetzentwurf ab. wurde der gemeinsame Entwurf des Bundesrates mit großer Mehrheit verabschiedet. Über diesen haben wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hier im Bundestag debattiert. Seitdem Rot-Grün regiert, ist auf dem Gebiet des Op- Es gab große Ankündigungen von Ihnen. Sie sagten: Wir ferschutzes praktisch nichts mehr passiert. machen das, wir führen eine große Reform durch. Seit- (Jörg van Essen [FDP]: Genauso ist es!) dem Sie regieren, hat es nichts außer großen Worten und Rhetorik gegeben. Auf dem Gebiet des Opferschutzes Im Jahre 1999 haben Sie eine kleine Regelung zum Tä- handeln Sie nicht. Sie tun nichts. ter-Opfer-Ausgleich eingeführt. Ansonsten herrscht Fehlanzeige; es ist nichts passiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Kerstin Müller, Staatsministerin: Das stimmt Ich habe in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen nicht!) Zeitung“ das Interview mit Frau Zypries, der Bundesjus- tizministerin, gelesen. Sie kann heute nicht anwesend – Genau so ist es. sein und hat sich dafür entschuldigt; sie muss an einem Auch in dieser Legislaturperiode haben wir erneut Treffen des Justizministerrats teilnehmen. Die Über- Initiativen ergriffen. Wir haben uns dagegen gewehrt, schrift dieses Interviews lautet: „Wir wollen die Rechte (B) (D) dass bei Rot-Grün nur die Opfer rechtsextremistischer der Opfer stärken“. Heribert Prantl fragt sie, warum sie Gewaltverbrechen eine Entschädigung des Staates erhal- dem Vorschlag der CDU/CSU nicht einfach zustimme. ten können. Wir sind der Auffassung: Das ist ungerecht. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Man kann die Opfer extremistischer Gewalt nicht unter- NEN]: Weil einige Fehler darin sind!) schiedlich behandeln. Bei uns sollen die Opfer aller ex- tremistischer Gewalttaten eine Entschädigung erhalten. Ihre Antwort lautet – ich zitiere –: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich würde es begrüßen, wenn sich die Union unse- ren weiter gehenden Ansätzen nicht verschließt. Es ist zutiefst ungerecht, nach der politischen Motivation der Täter zu unterscheiden. Sie haben sich dem verwei- Es ist absolut dreist, nichts zu tun und dann unsere Zu- gert und dies ignoriert. sammenarbeit einzufordern. Wir haben einen Antrag zum Opferentschädigungsge- Wo sind denn Ihre weiter gehenden Vorschläge? setz vorgelegt. Im Anschluss daran haben Sie wieder et- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) was abgeschrieben. Das ist Ihr Markenzeichen in dieser Legislaturperiode. Sie betreiben eine reaktive Rechtspo- Es liegt nichts auf dem Tisch, kein Gesetzentwurf, noch litik. Wenn wir einen Gesetzentwurf zum Sexualstraf- nicht einmal ein Antrag. Sie legen nichts vor und fordern recht vorlegen, legen Sie zwei Wochen später eine uns auf, uns dem Nichts anzuschließen, während wir ei- schlechte Kopie vor. nen eigenen Gesetzentwurf vorweisen können. Dieser Stil der Arroganz und Ignoranz ist nicht in Ordnung. So (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE kann man in der Rechtspolitik nicht mit anderen umge- GRÜNEN]: Eine bessere!) hen. Wenn wir einen Antrag zum Opferentschädigungsgesetz (Joachim Stünker [SPD]: Herr Röttgen, blasen Sie stellen, dann schreiben Sie auch etwas auf. sich wieder ab! Lassen Sie die Luft raus!) (Joachim Stünker [SPD]: Herr Röttgen, wo Frau Zypries übernimmt alle unsere Vorstellungen kommt er denn her?) und außer heißer Luft kommt von ihr nur ein eigener Wir haben in unserer Fraktion in dieser Woche einen Ge- Vorschlag: Zusätzlich zu dem Gesetzentwurf der CDU/ setzentwurf zum Opferentschädigungsgesetz beschlos- CSU sollen die Opfer von Straftaten etwa über Haftent- sen. Ich bin gespannt, ob Ihren Worten auch Taten folgen lassungen informiert werden. Das ist angeblich einer der werden, so wie das bei uns der Fall ist. Gründe, warum sie unserem Gesetzentwurf nicht zu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3513

Dr. Norbert Röttgen (A) stimmen kann. Herr Staatssekretär, vielleicht können Sie Es kann nicht sein, dass es in der Rechtspolitik zu ei- (C) die Bundesjustizministerin über die geltende Rechtspra- ner Kombination aus eigener Inaktivität auf der einen xis in gut regierten Bundesländern unterrichten. Ich kann Seite und dem Missbrauch Ihrer Mehrheit auf der ande- Ihnen beispielsweise aus dem Bundesland Bayern schil- ren Seite kommt, mit der Sie unsere Vorschläge blockie- dern, dass diese Forderung durch eine Verwaltungsvor- ren und boykottieren. Das würde wirklich zu einer Kata- schrift präzise umgesetzt wird. Die Justizvollzugsanstal- strophe, zu einem Stillstand in der Rechtspolitik führen. ten sind angewiesen, die Opfer über die entsprechende Ihnen selber fällt nichts ein, aber unsere Vorschläge boy- Haftentlassung zu informieren. Das, was die Bundesjus- kottieren Sie, nur weil sie von uns kommen. tizministerin fordert, ist in manchen Bundesländern schon geltende Praxis. Sie kennt sich noch nicht einmal Worauf zielt unser Gesetzentwurf ab? Wir wollen die in dieser Materie aus. Dieser Fehler sollte einer Bundes- Rechte des Opfers auf drei Ebenen stärken. Erstens wol- justizministerin nicht unterlaufen. len wir den Persönlichkeitsschutz von Zeugen gesetzlich verankern. Zweitens wollen wir eine aktive Teilnahme Ich will bei dieser Gelegenheit noch einmal auf das des Opfers am Verfahren durch Wahrnehmung eigener Interview eingehen. Frau Zypries verteidigt ihren Vor- Rechte ermöglichen. Drittens wollen wir die Durchset- schlag der Anzeigepflicht bei Kindesmissbrauch mit zung materieller Ansprüche, den Ausgleich materieller dem Hinweis, auch dies sei Opferschutz. Es geht um den Schäden schon im Strafverfahren ermöglichen. Um diese Vorschlag, die Anzeigepflicht strafbewehrt zu machen, drei Ziel zu realisieren, haben wir diesen Gesetzentwurf wenn Nachbarn eine entsprechende Vermutung haben. vorgelegt. Diejenigen, die von Berufs wegen etwas wissen können – Sozialtherapeuten, Familientherapeuten, Anwälte und Ich nenne beispielhaft einige Maßnahmen, in denen andere Berufsgeheimnisträger – sind alle von der Straf- sich der Persönlichkeitsschutz von Opfern im Straf- barkeit ausgenommen. Aber Frau Zypries will Nach- verfahren niederschlägt. Es hat mich überrascht und im barn, die einen Verdacht haben und nicht Anzeige erstat- Grunde auch entsetzt, dass es folgende Regelung noch ten, bestrafen. Diese Anzeigepflicht soll mit den Mitteln nicht gibt: Wir wollen, dass eine vergewaltigte Frau, eine des Strafrechts durchgesetzt werden. Frau, die Opfer eines Sexualverbrechens geworden ist, das Recht haben soll, dass körperliche Untersuchungen Dieser Vorschlag wurde von allen abgelehnt. an ihr von einer Frau, von einer Ärztin vorgenommen werden, nicht von einem Mann. Das ist nicht geltendes (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) Recht. Wenn man sich vorstellt, dass eine durch männli- In der Sachverständigenanhörung haben insbesondere che sexuelle Gewalt traumatisierte Frau nicht das Recht die von Ihnen benannten Sachverständigen, egal ob sie hat, die körperliche Untersuchung durch eine Frau zu (B) aus der Rechtspraxis oder der Rechtswissenschaft ka- verlangen, kann man nur sagen: Ihre Untätigkeit ist (D) men, diesen Vorschlag vehement abgelehnt. skandalös. (Jörg van Essen [FDP]: So war es!) (Joachim Stünker [SPD]: Ja, 16 Jahre Kohl- Regierung! Skandalös! Nichts habt ihr ge- Dieser Vorschlag wird von den Opferverbänden, vom macht!) Kinderschutzbund und den Frauenverbänden abgelehnt. Keiner will das Instrument des Strafrechts einsetzen, um Wir waren auf diesem Gebiet aktiv, aber Sie machen seit Nachbarn zu verunsichern, die vielleicht einen Verdacht fünf Jahren nichts, sondern halten nur Reden. Meine Da- haben. Sie alle fürchten die Folgen. Wenn an der Vermu- men und Herren, handeln Sie endlich! tung, die Sie strafrechtlich kriminalisieren wollen, nichts dran ist, kann mit einer solchen Anzeige großes Unheil an- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – gerichtet werden. Wenn die Vermutung aber der Wahrheit Widerspruch bei der SPD) entspricht und es aufgrund der Verpflichtung sehr früh zu – Sie regieren seit fünf Jahren. Sie wären sehr gut, wenn einer Anzeige kommt, die Beweislage für eine Verurtei- Sie nur die Hälfte dessen getan hätten, was wir gemacht lung jedoch nicht ausreicht, kann diese Anzeigepflicht, haben. die die Opfer unvorbereitet trifft, weil sie auf die Zeugen- vernehmung nicht vorbereitet sind, für missbrauchte Kin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der und Frauen die Hölle bedeuten. Darum erweisen Sie Lachen bei der SPD) den Opfern mit dieser Idee einen Bärendienst. Wir wollen die Anwendung der Videotechnik aus- Frau Zypries hat sich total verrannt. Es wäre gut ge- weiten. Sie soll bei bestimmten Verbrechen, etwa bei Se- wesen – Minister haben bekanntlich noch andere Pflich- xualverbrechen, nicht nur bei kindlichen und jugendli- ten –, wenn sie an der Sachverständigenanhörung zu die- chen, sondern bei allen Opfern angewandt werden. Dem sem Teil teilgenommen hätte. In dem Fall hätte sie kann man sich nicht verschließen. erfahren, dass diese Idee von allen abgelehnt wird. Ich warne Sie im Interesse der Opfer davor, das Strafrecht an Wir wollen das so genannte Mainzer Modell in die dieser Stelle mit der Operation Gesichtswahrung der Strafprozessordnung aufnehmen, also die auf Videotech- Bundesjustizministerin zu belasten, die sich in diese Idee nik gestützte Übertragung der Vernehmung in einen an- verrannt hat. Nehmen Sie von diesem Vorschlag, der deren Raum, um für kindliche Zeugen eine Vertrauensat- falsch ist, einfach Abstand. So geht es nicht. mosphäre zu schaffen, die sie überhaupt erst in die Lage versetzt, auszusagen, die ihre Aussagefähigkeit herstellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies ist unser zweiter Vorschlag. 3514 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Norbert Röttgen (A) Wir wollen ein Verbot der Herausgabe von Bild- unter denen die Praxis geächzt hat und weshalb die Pra- (C) und Tonaufzeichnungen gegen den Willen der Opfer. xis am Gesetzgeber verzweifelt ist. Solche Aufzeichnungen von Opfern, die möglicherweise Wir haben 1998 in der Tat angefangen, wieder eine sehr kurz nach der Tat entstehen, zeigen das Opfer in sei- sachorientierte Rechtspolitik zu betreiben. Herr Kollege ner Verletztheit und dürfen darum nicht herausgegeben Dr. Röttgen, alles das, was Sie eben vorgetragen haben, werden. zeigt mir, dass es angelernt war. Entschuldigen Sie, wenn ich sage: Es war wirklich aufgeblasen. Herr Kol- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lege, mit dem, was Sie erzählt haben, sind Sie der Be- Herr Kollege, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten. deutung des Strafprozesses im Bereich der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht einmal im Ansatz gerecht gewor- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): den. Weitere Redner unserer Fraktion werden Einzelheiten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dazu darstellen. DIE GRÜNEN) Wir wollen Verfahrensrechte der Opfer begründen. Ich kann nur hoffen, dass möglichst viele in der Praxis Wir wollen die schnelle Durchsetzung von Schadens- das gehört haben, was Sie erzählt haben. Denn die Quali- ersatzansprüchen schon im Strafverfahren realisieren. tät der Rechtspolitik ist in Ihren Worten heute Mittag um Dazu haben wir konkrete Vorschläge gemacht. 12 Uhr hier im Deutschen Bundestag sehr deutlich ge- worden. Ich komme zum Schluss und sage am Ende nur noch einen Satz. Ich bin sicher, dass die von uns gemachten Strafverfahren sollen künftig zügiger abgeschlossen Vorschläge, die im Bundesrat auch von sozialdemokrati- werden können. Sie sollen zugleich die Bedürfnisse der scher Seite Zustimmung gefunden haben, in der Sache Kriminalitätsopfer deutlicher als bisher berücksichtigen. auch bei Ihnen fast durchgängig Zustimmung finden Ziel ist es, die Verfahren ohne Einbußen an Rechtsstaat- werden. Darum ist meine letzte Bitte: Missbrauchen Sie lichkeit bei der Wahrheitsfindung auf die jeweils ent- Ihre Mehrheit, die Sie im Bundestag leider haben, nicht scheidenden Fragen zu konzentrieren. zur Blockade von guten Vorschlägen zum Opferschutz, Den Interessen der Opfer soll durch eine verbesserte nur weil sie von unserer Fraktion kommen. Entscheiden Information über den Ablauf des Strafverfahrens ent- Sie sich endlich für eine ideenreiche, sprochen werden. Vermehrte Verwertungsmöglichkeiten (Erika Simm [SPD]: Ein langer Satz!) von früheren Beweiserhebungen werden den Opfern oftmals quälende Mehrfachvernehmungen ersparen. (B) aber insbesondere für eine konstruktive Rechtspolitik. Schnellere Verfahrensbeendigung und damit früherer (D) Nehmen Sie unsere Vorschläge auf. Damit tun wir den Rechtsfrieden lassen es zu, dass Opfer von Straftaten das Opfern in diesem Land einen guten Dienst. Sie warten erlebte – oft traumatisierende – Geschehen wirklich ver- schon zu lange darauf, dass gehandelt wird. arbeiten können. Herzlichen Dank. Durch stärkere Nutzung von Gesprächen der Verfah- rensbeteiligten bereits in einem frühen Stadium kann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) häufiger als bisher ein Täter-Opfer-Ausgleich dem Opfer die Möglichkeit geben, den Täter mit den materiellen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und immateriellen Folgen der Tat zu konfrontieren. Nächster Redner ist der Kollege Joachim Stünker, (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ SPD-Fraktion. CSU]: Allgemeinplätze!)

Joachim Stünker (SPD): Durch Begrenzung des Prozessstoffes im Zwischen- verfahren kann die Ladung von entbehrlichen Zeugen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und unterbleiben. Dies erspart insbesondere den Opfern von Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Straftaten die psychische Belastung, die häufig bereits Röttgen, wir haben im Deutschen Bundestag nicht „lei- durch die Ladung ausgelöst wird, und gewährleistet da- der“ die Mehrheit, sondern berechtigterweise, durch effizienten Opferschutz. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Opferinteressen werden auch durch die Beteili- NEN]: Zum Glück!) gung der zugelassenen Nebenklage in einem frühen Sta- um insbesondere zu einer sachorientierten Rechtspolitik dium des Verfahrens gewahrt. zurückzukommen, Die Einführung eines strafgerichtlichen Wiedergut- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) machungsvergleichs wird eine endgültige einvernehmli- che Einigung über den Schadensausgleich noch in der um von der Fülle der so genannten Justizentlastungsge- Hauptverhandlung ermöglichen. setze wegzukommen, mit denen Sie in den 80er- und 90er-Jahren die Justiz in Deutschland überzogen haben, Diese Maßnahmen befördern insgesamt das berech- tigte Interesse des Opfers, Wiedergutmachung und Ge- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja, Sie ha- nugtuung zu erfahren. Ergänzend werden die weiteren ben doch gerade eines angekündigt!) Möglichkeiten zur Verbesserung der Geltendmachung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3515

Joachim Stünker (A) zivilrechtlicher Ansprüche im nahen zeitlichen Zusam- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aber es steht (C) menhang mit dem Ermittlungs- und Strafverfahren zu ei- noch nicht in der Strafprozessordnung!) nem besseren Nachtatschutz der Opfer von Straftaten – Hören Sie einen Augenblick geduldig zu! Ich komme führen. jetzt zu Ihrer Kritik. (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die Geduld CSU]: Werden Sie jetzt bitte mal kon- wird sehr strapaziert!) kret! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wo- von reden Sie jetzt? Sind das Ihre Vorschläge Sie als Opposition fragen zu Recht – das würde auch ich oder ist das ein Entwurf?) an Ihrer Stelle so machen –: Warum habt ihr euer Eck- punktepapier in diesen zwei Jahren nicht umgesetzt? – Liebe Kolleginnen und Kollegen, das, was ich Ihnen Warum ist noch nichts im Bundesgesetzblatt? Wo ist eben in komprimierten Worten vorgetragen habe, ist der euer Gesetzentwurf? Punkt 1 des Eckpunktepapiers, das die Koalitionsfraktio- nen im Sommer des Jahres 2001 hier vorgelegt haben, (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Genau!) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist Wer ein bisschen vom Strafprozess versteht und wer schon ein Weilchen her! – Siegfried Kauder hören will, für den ist es relativ einfach. [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: Was nützt das (Zuruf von der CDU/CSU: Nämlich?) den Opfern?) Die Strafprozessordnung, die historisch betrachtet in ih- Darüber ist auf dem Deutschen Juristentag diskutiert rem Kerngehalt als Magna Charta des Beschuldigten worden ist und darüber wird seitdem in der Fachpraxis konzipiert ist, stellt ein zusammenhängendes, verzweig- sehr detailliert diskutiert – eine Entwicklung, die offen- tes Normengeflecht dar, in dem bei der Verfolgung des sichtlich an Ihnen vorbeigegangen ist. staatlichen Strafanspruches im Vor-, Zwischen- und Wenn Sie sich die Eckpunkte, die ich Ihnen eben vor- Hauptverfahren alles sehr kooperativ und zusammenfüh- getragen habe, ansehen, dann werden Sie feststellen, rend geregelt ist. Sie müssen bei jeder einzelnen Neure- dass die drei Zielrichtungen Ihres Gesetzentwurfs, die gelung, die Sie vornehmen wollen, die Gesamtkonzep- Sie, Herr Kollege Röttgen, vorgetragen haben, darin ent- tion beachten und dürfen sie nicht aus dem Auge lassen. halten sind. Wir widersprechen uns da also auch nicht im Alles hängt mit allem zusammen und daher hat sich un- Ansatz. ser Eckpunktepapier nicht in dem einen Punkt erschöpft, sondern wir haben zwölf Punkte vorgelegt, wie wir uns (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wir müssen ein modernes, reformiertes Strafprozessrecht für die (B) doch Gesetze machen, nicht Eckpunkte!) Zukunft vorstellen. (D) Deshalb darf ich zu Ihrem Gesetzentwurf vom Dazu gehört nicht nur der Opferschutz, obwohl er bei 8. April dieses Jahres sagen: Willkommen im Klub! Wir uns der Eckpunkt eins gewesen ist, sondern dazu gehö- freuen uns, dass Sie zukünftig mit dabei sind. Auch Sie ren auch die Stärkung der Rechte der Verteidigung, die haben jetzt endlich die Notwendigkeit der verstärkten Stärkung der Stellung des Beschuldigten im Strafverfah- Implementierung des Opferschutzes im Strafprozess er- ren, die Förderung konsensualer Elemente im Ermitt- kannt. Nachdem Sie jahrelang immer nur mit Verschär- lungsverfahren, die Einführung eines Anhörungstermins fungen im Bereich des Strafrechtes aufgetreten sind, be- im Zwischenverfahren, die Eingangsstellungnahme der greifen Sie jetzt langsam auch, dass der Opferschutz in Verteidigung bereits in der Hauptverhandlung, die ver- der Strafprozessordnung eine stärkere Bedeutung be- stärkte Verwertbarkeit von im Ermittlungsverfahren er- kommen muss. hobenen Beweisen, eine transparentere Hauptverhand- lung mit Normierung von Verständigungselementen, der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vermehrte Einsatz technischer Mittel, die Optimierung Ich darf hinzufügen, dass der Entwurf, den Sie vorge- der Rechtsmittel von Berufung und Revision und eine legt und so vehement erläutert haben, nicht einmal von Reihe von Einzelvorschlägen aus der Praxis, die hier Ihnen stammt. Sie selber haben es zwischen den Zeilen noch hinzukommen. zugegeben. Vielmehr hat Hamburg vor einiger Zeit einen In der Tat: Unser Eckpunktepapier war und ist sehr entsprechenden Antrag in den Bundesrat eingebracht. Er anspruchsvoll. Das entspricht aber auch der skizzierten ist dann als Gesetzentwurf des Bundesrates verabschie- Aufgabenstellung; denn eine Strafprozessordnung kön- det und dem Bundestag auf Drucksache 14/4661 zuge- nen Sie nicht stückweise ändern, sonst passt nachher leitet worden. Jetzt haben Sie ihn abgeschrieben und als nichts mehr zusammen. Das ist genau der Punkt. eigenen Entwurf eingebracht. Ein Urheberrecht geltend machen zu wollen wäre in der Tat sehr vermessen, Herr (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wir haben Röttgen. Daher war Ihr Auftritt wirklich unsäglich. es doch gemacht! Finden Sie das nun richtig oder falsch?) (Beifall bei der SPD – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ CSU]: Wir müssen es beschließen!) Ich darf Ihnen daher heute sagen – nun mache ich Ih- nen ein Angebot und dann können wir vielleicht wieder Alles, was Sie vorgetragen haben, ist in der Debatte zur sachlichen Arbeit zusammenkommen –: Wir haben nichts Neues. Darüber findet die rechtspolitische Dis- mit der Umsetzung dieses Eckpunktepapiers in einen kussion seit zwei Jahren statt. Referentenentwurf im Jahr 2001 begonnen und wir 3516 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Joachim Stünker (A) werden Ihnen noch im Herbst dieses Jahres eine umfas- Schönen Dank. (C) sende Novellierung der Strafprozessordnung, wie ich sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eben skizziert habe, vorlegen. DIE GRÜNEN) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Warum stimmen Sie unserem Vorschlag nicht zu? Was Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kritisieren Sie denn?) Der nächste Redner ist der Kollege Jörg van Essen, – Sie hören nicht zu, darum begreifen Sie nichts. Wenn FDP-Fraktion. Sie mir zuhören würden, könnten Sie mir vielleicht fol- gen und würden begreifen, was ich Ihnen zu erklären Jörg van Essen (FDP): versuche. Sie als Zivilrechtler scheinen nicht begreifen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zu können, wenn ich Ihnen sage, dass man die Vorschrif- Ich bedauere es außerordentlich, dass der Kollege ten nicht stückweise ändern kann, sondern ein Gesamt- Stünker in dieser Debatte nicht den Ton gefunden hat, konzept haben muss. den das Thema meiner Meinung nach verdient hat. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) doch allgemeines Gerede! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja lachhaft! – Mit kleinlichen Vorwürfen kommen wir und vor allen Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Alle Bun- Dingen die Opfer von Verbrechen nicht weiter. desländer finden es gut!) Ich denke, unsere Verpflichtung bzw. unser gemeinsa- Wir werden Ihnen also im Herbst dieses Jahres hierzu mes Anliegen in der heutigen Debatte zum Thema Op- einen Entwurf vorlegen. Was wir nicht wollen, das sind ferschutz – ich freue mich sehr über diese Debatte, die Teillösungen im Fünften Buch der Strafprozessordnung, wir erstmals in der Kernzeit des Bundestages, also an wie sie jetzt von Ihnen vorgelegt worden sind. prominenter Stelle, führen – sollte darin bestehen, Ver- besserungen zu erzielen, eine Bestandsaufnahme vorzu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nehmen und herauszufinden, an welcher Stelle Ergän- DIE GRÜNEN) zungen notwendig sind. Darin sehe ich auch den Sinn Teillösungen geben den Menschen im Ergebnis Steine meiner Bemühungen als Redner der FDP in dieser De- statt Brot. Das ist blinder Aktionismus, Rechtspolitik, batte am heutigen Vormittag. die nicht durchdacht ist und nur tagespolitisch opportun Ich möchte meine Rede in drei Teile aufteilen. Der erscheint, Herr Kollege Röttgen. Das ist Ihre Rechtspoli- erste Teil soll sich mit Maßnahmen befassen, die keine tik seit 1998 gewesen. Mit diesem Entwurf setzen Sie (B) gesetzlichen Änderungen erfordern, die aber nach mei- (D) diese Politik fort. ner Auffassung den Opferschutz ein großes Stück voran- (Beifall bei der SPD) bringen könnten. Ich bin sicher, dass wir, wenn wir diesen Weg ge- In Baden-Württemberg ist auf Vorschlag einer Kom- meinsam gehen – in der Sache sind wir ziemlich nahe mission eine Einrichtung geschaffen worden, die sich als beieinander –, sehr zeitnah in dieser Legislaturperiode außerordentlich hilfreich erwiesen hat. Dort werden Re- eine moderne Strafprozessordnung mit der besonderen ferendare – junge Juristen, die sich in der Ausbildung Betonung des Opferschutzes im Bundesgesetzblatt ste- befinden – darum gebeten, Zeugen, insbesondere Opfer- hen haben werden und ein modernes Strafverfahrens- zeugen, vor der Gerichtsverhandlung zu betreuen, sie auf recht haben werden, das den Sicherheitsbedürfnissen der die Verhandlung vorzubereiten und ihnen diese zu erklä- Allgemeinheit, den Anforderungen der Praxis, den ren. Das hat einen doppelten Vorteil: Auf der einen Seite Rechten der Beschuldigten und den Rechten und An- fühlen sich die Zeugen ernst genommen und auf der an- sprüchen der Opfer jeweils gleichermaßen gerecht wird; deren Seite lernen junge Juristen, welche Folgen Verbre- ich betone: gleichermaßen gerecht wird. chen für die Opfer haben. Das prägt sie in ihrem weite- ren Werdegang. Wir Juristen – ich bin von Beruf Ich fordere Sie auf: Lassen Sie uns diese große Auf- Oberstaatsanwalt – sind nämlich in der Regel zu sehr auf gabe gemeinsam lösen. Sie ist es wert, dass sie gemein- die Täter fixiert. Der Richter muss die Schuld feststellen; sam gelöst wird. Sie ist es aber nicht wert, opportunis- wir Staatsanwälte müssen die Täter anklagen und der tisch zur Tagespolitik gemacht zu werden, weil Ihnen Verteidiger wird dafür bezahlt, dass er ihre Rechte wahr- nichts anderes mehr einfällt, um die Bundesjustizminis- nimmt. Insofern übersehen wir sehr häufig die Opfer. terin treiben zu können. Denn Ihre Ausführungen zum sexuellen Missbrauch von Kindern und zu den Anzeige- Ich begrüße es, dass das Modell in Baden-Württem- pflichten, die normiert werden sollen, zeigen nur eines, berg ermöglicht, dass junge Juristen auch die Opferper- spektive kennen lernen. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sie wollen es doch selber auch nicht!) (Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES was bedenklich und bedauerlich ist: Sie instrumentalisie- 90/DIE GRÜNEN) ren Rechtspolitik zur Tagespolitik, Herr Kollege Röttgen, und damit springen Sie viel zu kurz. Damit Ich werbe dafür, dieses Modell bundesweit umzusetzen. werden Sie im Ergebnis den Menschen in diesem Lande Ich glaube, dass wir damit einen großen Schritt voran- und dem allgemeinen Wohl nichts Gutes tun. kommen würden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3517

Jörg van Essen (A) Auch ein weiterer Schritt zugunsten der Opfer erfor- die es ermöglicht, dass deutsche Terroropfer im Ausland (C) dert kein gesetzgeberisches Handeln. Ein Blick in die genauso behandelt werden wie Opfer im Inland. Das ist Zeitungen zeigt, dass Journalisten in aller Regel sehr in- damals von der Koalition leider abgelehnt worden. Wir tensiv über das Vorleben von Tätern berichten. Das kann haben diesen Antrag nach dem Anschlag in Bali wieder auch durchaus interessant sein, beispielsweise weil darin aufgegriffen und unmittelbar nach der Bundestagswahl einer der Gründe für die Tat liegen kann. Ich wünsche wieder in den Deutschen Bundestag eingebracht. Erst jetzt mir aber auch, dass genauso intensiv über die Folgen ei- bewegt sich die Koalition ganz vorsichtig. Ich freue mich, ner Tat für das Opfer berichtet wird. Denn dadurch wird dass die beiden Oppositionsfraktionen in dieser Frage ei- auch deutlich, dass eine Tat in aller Regel nicht damit ner Meinung sind. Wir brauchen eine gesetzliche Rege- endet, dass beispielsweise eine Geldbörse gestohlen oder lung, die die Opfer von Terror im Ausland nicht schlech- jemand zusammengeschlagen worden ist, sondern dass ter stellt. Ich hoffe, dass eine solche Regelung nicht zu die Wirkungen sehr viel länger anhalten. Die Taten ha- spät kommt. Wir alle haben im Moment die Situation in ben häufig erhebliche Auswirkungen auf die Opfer. Ich Algerien vor Augen. Ich denke an unsere Landsleute, die denke, dass eine intensivere Berichterstattung über die dort verschleppt worden sind. Das macht die Größe der Folgen einer Tat für die Opfer dazu beitragen würde, Aufgabe deutlich, für entsprechende gesetzliche Rege- dass die Opfer in der Gesellschaft ernster genommen lungen zu sorgen, und zeigt auch, welch große Verant- werden. wortung wir in dieser Frage haben. Der zweite Teil meiner Ausführungen soll sich mit Ein anderer Bereich, der für uns außerordentlich Maßnahmen befassen, die wir im Bundestag beschlossen wichtig ist, ist das Adhäsionsverfahren, das schon vom haben und mit deren Umsetzung ich nicht zufrieden bin. Kollegen Röttgen angesprochen worden ist. Ich weiß, Der Kollege Röttgen hat mit Recht darauf hingewiesen, dass viele meiner Kollegen in der Justiz das nicht mö- dass in der Wahlperiode 1994 bis 1998 mit der Einfüh- gen. Ich möchte denjenigen, die keine Juristen sind, das rung des Opferanwalts – um nur dieses Beispiel zu nen- Verfahren erklären. Im Strafverfahren wird über die nen – erhebliche Fortschritte im Opferschutz erzielt wor- Schuld des Täters entschieden und dann eine Strafe fest- den sind. Ich danke an dieser Stelle dem ehemaligen gesetzt. In aller Regel sind durch die Straftat auch Schä- Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig, der inzwi- den verursacht worden. Im Augenblick muss aber in schen aus dem Bundestag ausgeschieden ist. Er hat we- Deutschland über Schadensersatzansprüche in einem sentlich dazu beigetragen, diese Verbesserungen zu er- weiteren Verfahren, in einem Zivilverfahren entschieden reichen. werden mit dem Ergebnis, dass das Opfer noch ein zwei- Wir haben es ermöglicht, dass zum Beispiel Verneh- tes Mal angehört werden muss und dass ihm dadurch das mungen aus einem Nebenraum übertragen werden ganze Geschehen wieder präsent wird. Deshalb müssen (B) (D) können, was insbesondere vergewaltigten Frauen hilft. wir dafür sorgen, dass in Deutschland das zur Selbstver- Ich habe es als Staatsanwalt häufig miterlebt, wie ständlichkeit wird, was in vielen anderen Ländern, bei- schwierig es für vergewaltigte Frauen ist, in großer spielsweise in Frankreich, bereits eine lange Tradition räumlicher Nähe zum Täter zu sitzen, wenn sie als Zeu- hat, dass nämlich im Strafverfahren gleichzeitig über gin vernommen werden. Deshalb haben wir diese Mög- Schadensersatzansprüche entschieden wird. Ich hoffe, lichkeit geschaffen. Ich ärgere mich darüber, dass in der dass wir in diesem Punkt ein Stück vorankommen. Praxis davon so wenig Gebrauch gemacht wird. Ein Si- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gnal in der heutigen Debatte muss sicherlich darin beste- hen, die Erwartung des Bundestags zu bekräftigen, dass Ein weiterer Punkt, der mir persönlich außerordent- von solchen bereits geschaffenen Möglichkeiten stärker lich wichtig ist, ist die Stärkung der Opferrechte im Gebrauch gemacht wird. Jugendstrafverfahren. Da das Jugendverfahren päda- gogisch ausgerichtet ist, ist es für mich überhaupt nicht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einsichtig, warum eine Beteiligung des Opfers pädago- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE gisch nachteilig sein soll. Ich halte es für richtig, dass GRÜNEN) das Opfer Mitgestaltungsmöglichkeiten hat, weil dem Das Gleiche gilt im Übrigen für die Einführung von betreffenden Jugendlichen auf diese Weise klar wird, Aufzeichnungen in die Hauptverhandlung. Auch das welche Wirkung seine Tat gehabt hat. Wir sollten des- führt dazu, dass Belastungen insbesondere für kindliche halb in dieser Frage offener als in der Vergangenheit sein Opfer erheblich reduziert werden können. Ich erwarte und diese Möglichkeit zusätzlich eröffnen. von meinen Kollegen in der Justiz, dass sie in diesem Der letzte Punkt ist mir auch deshalb wichtig, weil ich Bereich mehr Feingefühl aufbringen und viel stärker als als Oberstaatsanwalt in der Praxis entsprechende Erfah- bisher davon Gebrauch machen. In vielen Justizverwal- rungen gemacht habe. Wer mitbekommen hat, welche tungen sind nämlich die entsprechenden Einrichtungen Wirkung beispielsweise die Tötung eines Kindes auf die dafür schon bereitgestellt worden. Ich weiß das aus mei- betroffene Familie hat, der weiß, dass es in solchen Fäl- nem eigenen Bundesland. len beispielsweise die dringende Notwendigkeit einer Im letzten Teil meiner Ausführungen möchte ich mich psychologischen Betreuung gibt. Eine solche Betreu- damit befassen, was wir als FDP vorschlagen. Das erste ung hat der Staat bisher nicht finanziert. Wir wollen, Thema muss die Entschädigung von Terroropfern sein. dass in Zukunft auch die Kosten einer psychologischen Ich habe für meine Fraktion unmittelbar nach dem An- Betreuung erstattet werden. Ich glaube, dass das ein rich- schlag in Djerba im Bundestag eine Regelung beantragt, tiger und notwendiger Schritt ist. 3518 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Jörg van Essen (A) Ich freue mich – damit schließe ich –, dass der Opfer- Röttgen –, er sei „eine grundlegende Neubestimmung (C) schutz wieder ein Thema ist. Der Kollege Stünker hat der Rolle des Verletzten im Strafprozess“. 1997 aber, bei vorhin gesagt, die Strafprozessordnung sei die Magna der letzten Regelung des Opferschutzes, haben Sie Fol- Charta des Beschuldigten. Ich hoffe, dass sie auch die gendes geschrieben: Magna Charta der Opfer wird. Den besonderen Bedürfnissen schutzwürdiger Zeu- Herzlichen Dank. gen bei Vernehmungen im Strafverfahren kann auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der Grundlage des geltenden Rechts in weitem Um- fang Rechnung getragen werden. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Joachim Stünker [SPD]: Schau! Schau! Der nächste Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Schau! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Bündnis 90/Die Grünen. Das haben wir jetzt noch besser gemacht!) Was wollen Sie denn jetzt? Halten Sie eine grundlegende Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Neubestimmung für notwendig oder kann im Wesentli- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- chen alles beim Alten bleiben? Das waren doch 1997 raten heute den von der CDU/CSU eingebrachten „Ent- Ihre Überlegungen. wurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte der Opfer (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja, aber im Strafprozess“. Dieser Titel klingt gut. jetzt haben wir 2003! Es gibt eine Weiterent- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Der Inhalt wicklung!) ist es auch!) Diesen Widerspruch können wir auflösen, indem wir Es erscheint schwer vorstellbar, dass irgendjemand in uns zwei Fragen widmen. Die erste ist: Woher kommt diesem Hohen Hause aus Prinzip gegen eine Stärkung Ihr Gesetzentwurf? Er kommt eigentlich gar nicht von der Rechte der Opfer im Strafverfahren ist. Ihnen. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Doch!) Opferschutz kann sich aber nicht auf das Strafverfahren – Nein! Im Bundestagsprotokoll vom 21. Juni 2001 ist beschränken, sondern muss viel früher anfangen. eine Rede der damaligen hamburgischen Justizsenatorin Peschel-Gutzeit zu lesen. Legen Sie bitte Ihren Gesetz- Wir haben in unserer bisherigen Regierungszeit unser entwurf als Blaupause auf das Original dieser Rede! Augenmerk darauf gerichtet, Menschen zu helfen, gar Herr Röttgen, Sie haben alles Wort für Wort abgekup- (B) nicht erst Opfer von Straftaten zu werden, sich gegen (D) fert! Straftaten selbst und mithilfe des Staates zur Wehr zu setzen und mit zivilen Mitteln des Rechts einzugreifen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Aus einer ganzen Reihe von Maßnahmen will ich an die- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – ser Stelle folgende erwähnen: Das Gewaltschutzgesetz Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Macht es hilft Frauen gegen häusliche Gewalt. Das Kinderrechte- das jetzt besser oder schlechter?) verbesserungsgesetz hilft Kindern. Wir setzen die Ak- tionspläne der Bundesregierung zur Bekämpfung von In der allgemeinen Begründung steht kein einziger ei- Gewalt gegen Frauen und zum Schutz von Kindern und genständiger Satz von Ihnen; alles ist wortwörtlich abge- Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung um. schrieben! Das von uns gegründete Deutsche Forum für Kriminal- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- prävention leistet wichtige Beiträge zur Entwicklung SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – langfristiger Präventionsstrategien. Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Warum Der Opferschutz im Strafverfahren und vor allem lehnen Sie es dann ab? Macht es das Gesetz seine Stärkung ist zweifelsohne auch ein wichtiges besser oder schlechter?) Thema. Er ist durch das Opferschutzgesetz von 1986 Es gibt noch eine Erklärung für Ihren Sinneswandel. und das Zeugenschutzgesetz von 1998 – Sie haben Es könnte sein, dass Sie glauben, Sie hätten in Ihrer Re- diese bereits erwähnt, Herr Röttgen – in der Strafpro- gierungszeit doch viel zu wenig für Opfer getan, weswe- zessordnung verankert. Das bedeutet aber nicht, dass wir gen Sie jetzt aus der Opposition heraus nachlegen wol- uns über weitere notwendige Verbesserungen keine Ge- len. Wenn ich mir dieses Gesetz anschaue, stelle ich aber danken machen. fest: Sie haben etwas völlig anderes im Sinn. Unter dem (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Vorwand des Opferschutzes wollen Sie Verteidiger- und Verteidigungsrechte so beschneiden, dass die fra- Aber Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, gile Balance der Rechte im Strafprozess – Herr Stünker müssen sich an diesen beiden Gesetzen, die in Ihrer Re- hat das angesprochen – völlig zerstört wird. gierungszeit beschlossen wurden, und an Ihren früheren Aussagen zum Opferschutz im Strafprozess messen las- (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: sen. Das glauben Sie doch selbst nicht!) In der Einleitung des Gesetzentwurfs, über den wir Ich will Ihnen dafür Belege liefern, die in Ihrem Ge- heute beraten, steht – das haben auch Sie angeführt, Herr setzentwurf stehen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3519

Jerzy Montag (A) Erstens. Durch die Änderung des § 58 a StPO wollen den Zeugen jegliches Fragerecht – jegliches Fragerecht! – (C) Sie das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers in Akten- abschneiden, und zwar in allen Fällen des sexuellen teile aushebeln, die als Ton- und Bildaufnahmen von Missbrauchs Erwachsener, in allen Fällen der Vergewal- Zeugenaussagen vorliegen. Was haben Sie 1997 zu die- tigung, des Menschenhandels, der Aussetzung, der Miss- sem Vorschlag selbst gesagt? Sie haben gesagt, dass Sie handlung und – hören Sie zu! – in allen Fällen der Kör- darauf verzichten, perverletzung. In all diesen Fällen soll unabhängig von der Fallgestaltung nur noch der Vorsitzende Fragen an weil dies die Rechte und Befugnisse des Verteidi- den Zeugen stellen dürfen. Es ist nicht übertrieben, dies gers unzumutbar beeinträchtigt. als eine Amputation eines zentralen Rechts der Verteidi- (Lachen bei der SPD) gung in solchen Prozessen zu bezeichnen. Der Verteidiger des Beschuldigten ist in der Regel (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) auf Kopien der Videobänder angewiesen. Bezeichnend, Herr Röttgen, ist, dass Sie nur noch im Das sind Ihre Worte, meine Damen und Herren von der Fall des § 181 a StGB dem Staatsanwalt und dem Vertei- Opposition. diger ein eigenes Fragerecht zugestehen wollen. In dem Fall handelt es sich bei den Opfern ja nur um Prostitu- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ierte, in Ihren Augen wohl keine schutzwürdigen Opfer. SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Zuhälter aber sollen bei Ihnen ein höheres Maß an Ver- Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Und was teidigung als andere Angeklagte bekommen. ist Ihre Meinung dazu?) (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Unerhört! – – Da habe ich Sie zitiert. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Zweiter Punkt. Mit der Änderung des § 247 a StPO GRÜNEN]: Da muss man fragen, wer über- wollen Sie das so genannte Mainzer Modell der Be- haupt Prostituierte besucht!) weisaufnahme als Regel in die Strafprozessordnung Herr Röttgen, Opferschutz wird von uns so gemacht einführen, und zwar nicht in der Form, wie das jetzt der werden, wie der Kollege Stünker es skizziert hat. Diesen Fall ist und wie ich das auch begrüße. In geeigneten Son- Gesetzentwurf werden wir mit Ihnen sicherlich nicht derfällen ist das Gericht vollständig mit allen Verfah- weiterverfolgen. rensbeteiligten im Gerichtssaal und der Zeuge oder die Zeugin wird aus einem anderen Saal heraus vernommen. Danke schön. Nach Ihrem Vorschlag jedoch soll der Vorsitzende allein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem Zeugen irgendwo sitzen. Die Verfahrensbetei- und bei der SPD) (B) ligten werden zu Statisten. Sie sind nicht mehr aktiv Be- (D) teiligte an einem Prozess, sondern sie erleben eine Live- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: show über Video. Das ist eine Perversion des Strafprozesses. Das Wort hat die Kollegin , CDU/CSU- Fraktion. (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD]) Deswegen haben Sie, Herr Röttgen, das 1997 mit folgen- Michaela Noll (CDU/CSU): den Worten abgelehnt – Zitat –: Eine solche Regelung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! würde schwierigste strafprozessuale Fragen aufwerfen. Täglich hören oder lesen wir von Pädophilie, Kinderpor- (Joachim Stünker [SPD]: Sehr gut!) nographie und Sexualstraftaten. Wir reagieren erschüt- tert, vor allem wenn Frauen und Kinder die Opfer sind. Das tut sie tatsächlich. Ich könnte das im Einzelnen auf- Unser Mitleid gehört allein den Opfern oder Hinterblie- führen. Dazu fehlt aber die Zeit. benen. Ihnen, Herr Stünker, empfehle ich, einmal mit Drittens. Mit der Änderung des § 405 StPO wollen Sie Opfern zu reden. Dann müssten Sie wissen, dass endlich die Strafgerichte zwingen – Sie wollen sie zwingen! –, in gehandelt werden muss. allen Fällen des versuchten Mordes, des versuchten Tot- (Joachim Stünker [SPD]: Das müssen Sie mir schlags, der Vergewaltigung und – hören Sie zu! – in al- nicht erzählen! 28 Jahre lang habe ich mit Op- len Fällen der Körperverletzung, also im absoluten Mas- fern geredet! 28 Jahre lang! – Jerzy Montag sengeschäft des Amtsgerichts, die Adhäsion [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fast so lange, durchzuführen, und zwar auch dann, wenn das Gericht wie die Kollegin alt ist!) nach sorgfältiger Prüfung in dem konkreten Strafprozess eine Adhäsion für ungeeignet hält. Ich wünsche Ihnen – Jetzt habe ich das Rederecht. viel Spaß bei dem Gespräch mit den Rechtspraktikern Mit dem hier zu debattierenden Gesetzentwurf wer- über diesen Vorschlag! den die Rechte der Opfer im Strafprozess gestärkt. Wa- (Joachim Stünker [SPD]: Und mit den Län- rum eine Stärkung der Rechte der Opfer? Weil Mitleid dern! – Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] für die Opfer nur so lange vorhält, bis der Täter oder die [CDU/CSU]: Sie haben doch keine Ahnung!) Täterin vor Gericht steht. Dann fordert unsere humane Gesellschaft, dem Täter Gerechtigkeit widerfahren zu Viertens. Mit der Änderung des § 241 a StPO wollen lassen. Ist der Täter gefasst, rückt er ins Blickfeld der Sie dem Staatsanwalt und dem Verteidiger bezogen auf Öffentlichkeit. Die Ausrichtung aller Interessen ist auf 3520 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Michaela Noll (A) den Täter gerichtet: seine Persönlichkeit, seine Verant- dells auch auf die Hauptverhandlung bedeutet praktisch (C) wortlichkeit, seine rechtliche Stellung. Die schreckliche eine stärkere Berücksichtigung des Kindeswohls. Sehr Kindheit, die Schulprobleme, die soziale Inkompetenz geehrter Herr van Essen, nach Ihrem für mich sehr er- werden berücksichtigt, die Schuldfähigkeit wird geprüft, freulichen Redebeitrag weiß ich genau, dass Ihnen das Therapievorschläge werden unterbreitet. Dies hat zu ei- Wohl des Kindes sehr am Herzen liegt. ner starken Täterorientierung geführt. Da muss man sich natürlich die Frage stellen: Welche Rolle spielt das Kinder, die als Zeugen geladen werden, wissen oft gar Opfer? Ich meine: eine zu geringe. Zwar hat sich die Po- nicht, was mit ihnen geschieht. Oftmals hat es sie schon sition des Opfers im Strafprozess verbessert, dennoch große Mühe gekostet, sich überhaupt zu offenbaren. Es gibt es bislang keinen umfassenden Schutz von Opfer- muss von daher alles getan werden, um das Kind vor zeugen. weiteren, es besonders belastenden Situationen zu schüt- zen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn wir verlangen, dass sich die Bevölkerung im Interesse einer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bekämpfung der Kriminalität aktiver als bisher einsetzt, dann müssen die Tatopfer auch die Gewissheit haben, Nicht vergessen werden darf, dass im Bereich des dass sie im Strafverfahren keine Nachteile und keine ent- sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendli- würdigende Behandlung erfahren. Nicht nur der Täter chen rund 94 Prozent der Täter aus der Familie und ihrer hat einen Anspruch auf ein faires Verfahren. Das gilt Umgebung kommen. Gerade für Kinder ist es daher not- im besonderen Maße auch für die Opfer. Davon sind wir wendig, eine vertrauensvolle Vernehmungsatmosphäre weit entfernt. Viele Opfer fühlen sich im Verfahren er- zu schaffen. Helfen wir kindlichen Zeugen und Opfern neut als Opfer. von Sexualstraftaten, indem wir die Befragung men- schenwürdig, fürsorglich und rücksichtsvoll durchfüh- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren! Bei kindgerechter Vernehmung ist gewährleistet, dass das Kind vor einem weiteren seelischen Trauma be- Fakt ist: 91 Prozent aller Straftaten werden von Bür- wahrt wird. Alle sprechen immer wieder vom Kindes- gern angezeigt und nicht von den Ermittlungsbehörden wohl. Sprechen wir nicht nur davon, sondern handeln entdeckt. Von diesen 91 Prozent sind wiederum wir auch danach, damit das Kindeswohl im Strafverfah- 71 Prozent Straftaten, die von den Opfern angezeigt wer- ren nicht ein Lippenbekenntnis bleibt. den. Was heißt das? Die Strafrechtspflege ist nur dann funktionstüchtig, wenn die Opfer anzeige- und aussage- Es ist auch Pflicht, körperliche Untersuchungen nach bereit sind. Wenn wir diese Bereitschaft fördern wollen, § 81 d StPO als Frau zu dulden. Die Frau, die Opfer ei- dann muss das erste Opferschutzgesetz in vielfacher ner Gewaltstraftat geworden ist, ist fast immer Opfer ei- (B) (D) Hinsicht neu geregelt werden. nes männlichen Täters und fast immer traumatisiert. Menschen, die oft Kontakt zu Opfern von Sexualstrafta- (Joachim Stünker [SPD]: Dann schlagen Sie ten haben, wissen, was diese ertragen müssen. Es sind etwas vor!) nicht allein der Missbrauch, die Vergewaltigung oder die Folter. Oft empfinden die Opfer durch die erneute Kon- Wenn Sie von der Regierungskoalition den Opferschutz frontation mit dem Tathergang den Strafprozess als ernst nehmen, dann müssen Sie in der weiteren Diskus- Qual. Deshalb bedürfen sie der besonderen Fürsorge und sion – ich nenne nur das Stichwort nachträgliche Siche- Rücksichtnahme. Dazu gehört auch das Recht, auf ihr rungsverwahrung – Farbe bekennen und klar Ja oder Verlangen hin von einer Frau oder Ärztin untersucht zu Nein sagen. Jein geht da nicht. werden (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber ein entsprechendes Recht Liebe Kolleginnen und Kollegen, kein Gesetz ändert muss ein Mann auch haben!) von sich aus die Situation von Opferzeugen. Ziel die- ses Gesetzentwurfes ist es unter anderem, die Situation und eine Vertrauensperson hinzuziehen zu können. Die- der kindlichen Zeugen in der Hauptverhandlung durch ser Rechtsanspruch ist vielen unbekannt. Einführung des Mainzer Modells zu verbessern. Zur Er- Die Einführung einer Belehrungspflicht in § 81 d innerung und damit das Publikum diesem Vortrag auch Abs. 1 hilft der Frau, ihr Unterlegenheitsgefühl abzu- folgen kann: Bereits Mitte der 90er-Jahre wurde in dem bauen, und zeigt eine besondere Sensibilität für ihre Si- so genannten Wormser Missbrauchsprozess Videotech- tuation. nologie zum Schutz der kindlichen Zeugen eingesetzt. Zur Vernehmung begab sich der Richter in einen Extra- Liebe Kolleginnen und Kollegen, unterstützen Sie raum, sie wurde aber per Video in den Sitzungssaal über- bitte den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion im Inte- tragen. Dieses Verfahren wurde dann als Mainzer Mo- resse eines bestmöglichen Opferschutzes im Strafpro- dell bekannt. zess. Der Opferschutz sollte uns allen am Herzen liegen. Lassen Sie die Opfer nicht erneut zu Opfern werden! Der Gesetzgeber hat das Mainzer Modell in Ermitt- lungsverfahren in § 168 e StPO bereits zugelassen. Op- Danke schön. ferschutz für Kinder muss heißen: Orientierung am Wohl des Kindes. Die Ausweitung des Mainzer Mo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3521

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kann auch das Jugendamt sein. Straffrei bleiben alle die, (C) Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär bei die ernstlich und auf jede erdenkliche Art und Weise et- der Bundesministerin der Justiz, Alfred Hartenbach. was unternommen haben, um den sexuellen Missbrauch zu verhindern. Ich denke, es muss deutlich gemacht wer- den, dass die Weggucker bestraft werden und wir zum Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Wohle des Kindes Hingucker brauchen. desministerin der Justiz: Verehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ehrte Kolleginnen und Kollegen! Opfer von Straftaten, Die zweite Seite der Medaille: Rechtspolitik er- besonders Frauen und Kinder, bedürfen aller nur mögli- schöpft sich nicht in der Gesetzgebung. Wir haben eine chen Aufmerksamkeit und Unterstützung auch von staat- ganze Menge getan. licher Seite. Wir alle haben noch die Bilder schlimmer Verbrechen aus jüngster Zeit vor Augen. Es kann nicht (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Was denn?) oft genug betont werden, dass wir alles tun müssen, da- Wir haben das Bündnis für Demokratie und Toleranz mit es gar nicht erst zu solchen Straftaten kommt. Wenn geschaffen, welches ein breites Netzwerk bietet, in dem wir uns darin einig sind, haben wir eigentlich schon ge- gerade junge Menschen dafür sensibilisiert werden, ge- wonnen. gen Gewalt vorzugehen. Ich habe in diesem Frühjahr Die eine Seite der Medaille ist: Der Gesetzgeber muss mehrere Schulen, mehrere Initiativen ausgezeichnet und im Strafgesetzbuch Strafandrohungen vorsehen, die auf dabei festgestellt, dass das genau der richtige Weg ist. Es potenzielle Täter abschreckend wirken und eine konse- ist uns zum Beispiel gelungen, im Deutschen Forum für quente Strafverfolgung ermöglichen. Dort, wo die Erhö- Kriminalprävention Bund, Länder, Kommunen, Reli- hung von Strafandrohungen sinnvoll ist und wo schär- gionsgemeinschaften, Verbände und auch die Wirtschaft fere Sanktionen tatsächlich zu einem besseren Schutz an einen Tisch zu bringen. Die Tätigkeit dieses Gre- vor Straftaten führen, werden wir das Recht ändern. Des- miums ist eine echte Erfolgsgeschichte. Als Vorsit- halb entwickeln wir gerade die Strafvorschriften gegen zende des Kuratoriums wird sich Frau Bundesministerin sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, behin- Zypries für die Fortschreibung dieser Erfolgsgeschichte derten und widerstandsunfähigen Menschen fort und einsetzen. Der Präventionstag kürzlich in Hannover – schließen dabei empfindliche Strafbarkeitslücken. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ doch ein anderes Thema! Kommen Sie mal CSU]: Mit beträchtlichen Fehlern!) zum Thema!) (B) Dazu gehört auch die Anzeigepflicht von Kindes- – übrigens geprägt vom DFK und unter der Schirmherr- (D) missbrauch. Bei diesem Punkt, verehrter Herr Kollege schaft Ihres Kanzlerkandidaten für 2010, von Herrn Dr. Röttgen, haben Sie sich heute wieder einmal als ein Wulff, – war eine eindrucksvolle Veranstaltung. Bratenwender der Rechtspolitik erwiesen. Terroropfer, Herr van Essen, finden natürlich unsere (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des besondere Aufmerksamkeit. Ich denke, es muss an die- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ser Stelle erwähnt werden, dass wir im Haushalt 9 Millionen Euro für die Entschädigung solcher Terror- Sie wenden den Braten Rechtspolitik und das Sachthema opfer eingesetzt haben, wie zum Beispiel der Opfer des Opferschutz so lange hin und her, bis der Braten ver- Terroranschlags von Djerba. Wir haben sofort reagiert, brannt ist. Für Sie aber bleibt ein trübes, erkleckliches wie auch nach dem Terroranschlag auf Bali. Sößlein übrig, mit dem Sie Ihre populistischen Belange befriedigen. (Jörg van Essen [FDP]: Sie haben aber keinen gesetzlichen Anspruch formuliert!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael Ich bitte Sie, sich folgende Frage zu stellen: Muss die- Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sie fangen ja ser Staat für alles Gesetze schaffen, noch nicht einmal an zu kochen!) (Jörg van Essen [FDP]: Bei den Terroropfern, Wenn Sie exakt zitiert hätten, wüssten Sie, dass nicht ja!) eine bloße Vermutung, wie Sie gesagt haben, die Anzei- damit überall und zu jeder Zeit die Sicherheit garantiert gepflicht auslöst, sondern die sichere Kenntnis, dass wird? Es gibt auch andere Methoden wie zum Beispiel strafbare Handlungen gegenüber Kindern vorgenommen die Fondslösung, die wir in diesem Fall bevorzugen. Ich werden. Nur dann besteht die Anzeigepflicht – wenn zum bin gerne bereit, mit Ihnen dieses Thema etwas exakter Wohle des Kindes keine anderen Möglichkeiten beste- zu besprechen. hen, den sexuellen Missbrauch zu verhindern. – Ich weiß nicht, was Ihr Grinsen soll, Herr Röttgen. Das Thema ist Unser Recht werden wir dort reformieren, wo es im ernst genug. Interesse der Opfer, der Prävention, der Resozialisierung und des fairen Verfahrens geboten ist. Hier geht es vor (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Es lehnen allem auch um die Hilfe für Schwächere, wie sie schon nur alle ab!) die sozialdemokratische Rechtspolitik der letzten Legis- Was ist denn die Anzeigepflicht? Die Anzeige erfolgt laturperiode geprägt hat. Die Stärkung des Täter-Opfer- entweder bei der Polizei oder bei einer Behörde; das Ausgleichs im Strafverfahren und die Einführung der 3522 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind Beispiel da- war auch einmal Staatsanwalt und Richter –: Hier muss (C) für. teilweise auch ein Umdenken in den Köpfen stattfinden. Seit März 2001 gelten auf der Grundlage eines Rah- (Jörg van Essen [FDP]: Aber klar!) menbeschlusses in allen Mitgliedstaaten der EU einheit- Andere Punkte, die Sie vorbringen, sind auch nicht liche Mindeststandards für die Rechte des Verletzten unproblematisch. Herr Kollege Montag hat schon auf im Strafverfahren. Daran werden wir anknüpfen, auch das Mainzer Modell hingewiesen, das Sie selbst abge- unter Beachtung der Tatsache – diese wollen wir nicht lehnt haben und gegen das Sie im Rahmen der Diskus- leugnen –, dass unser Opferrecht in Europa vorbildlich sion über den Vorschlag von Frau Peschel-Gutzeit gere- ist. Die anderen europäischen Staaten sollten in diesem det haben. Auch darüber müssen wir noch einmal Bereich bitte nachziehen. nachdenken. Auch in praktischen Bereichen ist vieles verbessert Wir werden in Kürze einen Entwurf in den Bundestag worden. Ich möchte hier nur zwei vom Bundesministe- einbringen, rium der Justiz herausgegebene Informationswerke nen- nen, an denen übrigens die Länder in dankenswerter (Zuruf von der CDU/CSU: Wann ist denn „in Weise mitgearbeitet haben, nämlich die „Handreichung Kürze“?) zum Schutz kindlicher Opferzeugen“ und die „Opfer- fibel“. Auch das ist Opferschutz, Herr Dr. von Röttgen. der umfassend und systematisch in sich geschlossene Regelungen zu den Rechten von Verletzten und Zeugen (Beifall bei der SPD – Joachim Stünker [SPD]: im Strafverfahren enthalten wird. Wir werden dabei auf Herr Staatssekretär, „von“ ist er noch nicht!) sorgfältige Vorarbeiten zurückgreifen können – Herr Stünker hat das Eckpunktepapier schon erwähnt –, die – Wer eine Tankstelle, ein Dorf und ein Schloss hat, den unter anderem durch eine Sachverständigenanhörung kann man schon mal adeln. zum Adhäsionsverfahren und ein Gutachten der Großen Weitere Verbesserungen der Rechte des Verletzten im Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes Strafverfahren sind notwendig. Ich kann daher der Ziel- zur Nebenklage geleistet worden sind. richtung Ihres Gesetzentwurfs in Grundzügen zustim- Ich will einige Kernpunkte nennen, über die wir men. Der Gesetzentwurf entspricht ja aufs Komma dem noch sehr eingehend diskutieren werden: Wir stärken die Entwurf des Bundesrates aus der vergangenen Legisla- Verfahrensrechte der Verletzten, also der Personen, die turperiode, initiiert von der ehemaligen Hamburger durch eine Straftat zu Schaden gekommen sind, indem SPD-Justizsenatorin Peschel-Gutzeit. Wenn Sie Ihre Re- wir den Anwendungsbereich für den Opferanwalt und (B) den von damals – vor allen Dingen die Reden von Herrn die Beistandsrechte bei Vernehmungen erweitern sowie (D) Kollege Geis – ernst nehmen würden, dann dürften Sie die Beiordnung von Dolmetschern vorsehen. Wir erwei- diesen Gesetzentwurf eigentlich gar nicht einbringen. tern die Informationsrechte der Verletzten. Sie sollen Außerdem zeigt Ihr Entwurf, dass Sie nicht mehr auf der Terminmitteilungen und Informationen zum Verfahren Höhe der rechtspolitischen Diskussion sind. erhalten, damit sie wissen: Was passiert in dieser Sache, in der ich durch eine Straftat zu Schaden gekommen bin? (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dies tun wir, Herr Röttgen, nicht nur mithilfe einer Ver- NEN]: Jawohl!) waltungsanordnung wie in Bayern, sondern auf einer ge- Seit dem Wirken von Frau Peschel-Gutzeit sind drei setzlichen Grundlage. Jahre ins Land gegangen. Die Fragestellungen sind in Wir führen zudem eine umfassende Hinweispflicht dieser Zeit aber ganz andere geworden. Mit diesen neuen ein, damit der Verletzte erfährt, welche Rechte er hat. Fragestellungen müssen Sie sich befassen. Die Schadenswiedergutmachung verbessern wir durch (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Womit be- den Ausbau und die Weiterentwicklung des Adhäsions- fassen Sie sich denn?) verfahrens, damit Schadensersatzansprüche der Verletz- ten gleich im Strafverfahren mit erledigt werden können. – Ich komme noch darauf zu sprechen. Nur ruhig Blut! Wir erweitern und konzentrieren die Nebenklage auf De- likte, die Menschen besonders tief in ihrer Persönlichkeit Ich will auch nicht verhehlen, dass Ihr Entwurf an verletzen. Dazu zählen unter anderem Opfer von Prosti- manchen Stellen einfach zu kurz greift. Ich nenne Ihnen tution oder Zuhälterei. Gerade sie brauchen das Recht zwei Beispiele: Sie wollen die Information des Verletz- zur Nebenklage, um aktiv am Strafverfahren teilnehmen ten verbessern, begnügen sich aber damit, dass in der zu können. Zeugenladung auf Vorschriften und Betreuungsmöglich- keiten hingewiesen werden soll. Was fehlt, ist ein um- Lassen Sie mich nun in den letzten 75 Sekunden mei- fassender Informationsanspruch des Verletzten über ner Redezeit etwas zum Entwurf des Bundesrates zum die Umstände, die für ihn wichtig sind, wie zum Beispiel Widerruf der Strafaussetzung und der Strafrestaus- die Frage nach dem Fortgang und vor allem nach dem setzung sagen. In diesem Entwurf geht es um Fälle, in Ausgang des Verfahrens. Auch Ihre vorgelegten Vor- denen ein Gericht im Rahmen einer nachträglichen Ge- schläge zum Adhäsionsverfahren werden kaum etwas samtstrafenbildung oder einer Strafrestaussetzung eine daran ändern. Ihre Umsetzung würde leider nur dazu Bewährung ausgesprochen hat und dabei nicht wusste, führen, dass diese Verfahrensart ein Schattendasein dass der Betroffene zwischenzeitlich schon wieder eine führt. Ich sage – Herr van Essen, Entschuldigung, ich neue Straftat begangen hat. Hiergegen etwas zu tun ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3523

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) sicherlich ein berechtigtes Anliegen. Allerdings waren Ich kann es nicht mehr hören. Sie wollen den großen (C) solche Fälle in der Praxis schon immer eine Seltenheit. Wurf mit einer umfassenden Reformgesetzgebung errei- chen. Beim Opferschutz hat noch nie der große Wurf Seit Herbst 1998 haben wir zudem das Zentrale funktioniert. Schauen Sie sich § 406 ff. StPO an! Er Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister, an das mitt- reicht vom Buchstaben a bis zum Buchstaben h, was do- lerweile lediglich drei kleinere Bundesländer noch nicht kumentiert, angeschlossen sind. Es dürfte jetzt nur noch in wenigen Einzelfällen zu Bewährungsentscheidungen auf unzurei- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE chender Tatsachengrundlage kommen. Die Staatsanwalt- GRÜNEN]: Das war Flickschusterei! Das muss schaften können heute nahezu bundesweit auf Informa- mal richtig gemacht werden!) tionen über fast sämtliche laufenden Strafverfahren zurückgreifen. Damit erfahren sie auch von Straftaten, dass man immer wieder etwas hineingeflickt hat. die noch nicht rechtskräftig abgeurteilt sind, aber bereits Der große Wurf gelingt nicht. zu staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen geführt haben. (Joachim Stünker [SPD]: Flickenteppich! – Auch wenn sich das Problem damit sehr relativiert, Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE müssen wir bedenken, dass eine solche Regelung, wie GRÜNEN]: Warum nicht?) sie vorgeschlagen worden ist, immerhin die Rechtskraft einer früheren Bewährungsentscheidung durchbricht. – Sie fragen, „warum nicht?“, Herr Ströbele? Sie von Wir werden also auch da sehr sorgfältig prüfen, wie wir Rot-Grün kritisieren die Stellen in unserem Entwurf, die hier vorgehen können. Sie nicht mittragen wollen. Mir wäre es viel lieber, wenn wir uns an einen Tisch setzten und Sie mitteilten, wo Sie Wir wollen all diese Dinge nicht punktuell wie die mitmachen wollen. Fliegenpilze im Wald, sondern in einem großen, um- fangreichen Reformprojekt der Strafprozessordnung re- (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig! – Joachim geln. Dazu lade ich Sie, Herr Kollege van Essen, sehr Stünker [SPD]: Das habe ich doch gesagt!) herzlich ein; die Rest-FDP, die anwesend ist, natürlich Es gibt einen Aspekt, den Sie gar nicht anzusprechen auch. Sie, Herr Kollege Dr. Röttgen, natürlich auch Sie, wagen: Warum ist der Prozess über einen jugendlichen Frau Noll – Sie haben dankenswerterweise sehr vernünf- Straftäter nicht öffentlich – alle sind ausgeschlossen – tig und gut über das Thema der Opfer gesprochen –, und und der Prozess über ein jugendliches Tatopfer öffent- ihre Fraktion sowie meine Kolleginnen und Kollegen der lich? Sollten wir darüber nicht einmal diskutieren? Koalition wissen uns Arm in Arm in einem Boot. (Joachim Stünker [SPD]: Er kann auch nicht (B) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (D) öffentlich sein!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Herr Stünker, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Wenn zuhörten. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber davon ha- das kein Kuschelkurs ist!) ben Sie zu wenig Ahnung. Der Prozess ist öffentlich, nur während der Vernehmung des Zeugen ist die Öffentlich- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: keit ausgeschlossen. Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder, (Beifall bei der CDU/CSU) CDU/CSU-Fraktion. Wir lassen die Opfer seit vielen Jahren in wichtigen Aspekten im Regen stehen. Das darf nicht sein. Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nehmen Sie den Fin- seit gut einem halben Jahr im Deutschen Bundestag und ger runter!) seit mehr als zehn Jahren aktiv in der Opferarbeit tätig. Das Adhäsionsverfahren, das ein Schattendasein ge- Lassen Sie mich deswegen die Diskussion, so wie ich sie nießt, obwohl es für die Opfer existenziell wichtig ist, heute miterlebt habe, einmal aus der Sicht eines Opfer weil sie auf anderem Wege nicht zu ihrem Schadenersatz schützenden Mitarbeiters Revue passieren! Es wird über kommen, muss wieder belebt werden. Urheberrechte diskutiert. Das habe ich in einer Diskus- sion über Opferschutzrechte noch nie erlebt. Eines kann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ich Ihnen allen mit nach Hause geben: Keiner der hier Anwesenden hat ein Urheberrecht auf Opferschutzge- Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen, dass Sie auf eine danken. Urheberrechte haben Zehntausende von ehren- Expertenanhörung zum Adhäsionsverfahren hingewie- amtlich Tätigen in Deutschland, die tagtäglich mit Op- sen haben. Sie fand vor etwa drei Jahren statt. Ich war fern zu Gerichten gehen, sie nach traumatisierenden dazu eingeladen und habe bis heute noch nichts über die Erlebnissen betreuen und aus dieser täglichen Arbeit Ergebnisse dieser Expertenbefragung gehört. Ich kann wissen, was Schutz für Opfer bedeutet und wo Lücken Ihnen eines sagen: Schauen Sie einmal in die Schublade bestehen. Ihrer Ministerin! Ganz unten liegt mein komplett ausge- arbeiteter Gesetzentwurf. Sie bräuchten ihn nur aus der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schublade zu nehmen. Das ist aber nicht mehr nötig, neten der FDP) weil er in unserem Antrag enthalten ist. 3524 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Ist es gerecht, dass das Opfer eines versuchten Tö- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster (C) tungsdelikts den Opferanwalt auf Staatskosten bekommt, [SPD]: Wo sind denn Ihre praktischen Erfah- die Hinterbliebenen eines getöteten Tatopfers aber nicht? rungen? – Joachim Stünker [SPD]: Was wir Hier mache ich niemandem in der Politik einen Vorwurf, uns hier von Ihnen gefallen lassen müssen, ist eine Unverschämtheit! Unglaublich ist das! – (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: GRÜNEN]: Das stimmt doch nicht!) Völlig daneben!) man hat wohl nicht daran gedacht. Muss man jetzt aber Der Opferschutz ist eine Baustelle mit vielen Facet- ein großes Reformwerk abwarten, um diese Lücke zu ten. In einem Punkt gebe ich dem Kollegen Montag schließen? Lassen Sie uns Eckpunkte beschließen: das Recht: Adhäsionsverfahren und der Hinterbliebenenanwalt auf Staatskosten. (Joachim Stünker [SPD]: Sie diffamieren hier herum!) Ich möchte Ihnen an einem Beispiel plakativ vor Au- gen führen – auch das haben wir in unseren Antrag auf- Opferschutz ist immer auch ein Aspekt, den man unter genommen –, wie der Stand des Opferschutzes in dem Gesichtspunkt einzuschränkender Verteidigungs- Deutschland ist: Eine sexuell missbrauchte Frau muss rechte von Tätern, die ja noch Beschuldigte sind, für die sich auf Tatspuren untersuchen lassen. Die Untersu- die Unschuldsvermutung spricht, sehen muss. chung führt eine Frau oder ein Arzt durch. Sie findet durch einen Arzt statt, wenn das Schamgefühl der Frau (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE verletzt ist. Was Schamgefühl ist, ist nach objektiven GRÜNEN]: Sehr gut!) Kriterien zu bestimmen, so ist die derzeitige Gesetzes- Deswegen ist das immer eine Gratwanderung. lage. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ich bin der Meinung, es kommt auf das subjektive GRÜNEN]: So ist es!) Gefühl der Frau an. Unter dem Eindruck der Tat, die ein Mann begangen hat, muss sie durchaus sagen dürfen, ich Die Beispiele, die ich Ihnen vor Augen geführt habe, will in dieser Situation nicht von einem Mann untersucht schränken die Verteidigungsrechte nicht ein. werden. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Richtig! Danke!) NEN]: Und umgekehrt! – Hans-Christian Eine Maßnahme jedoch, die wir vorsehen, schränkt die Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei Verteidigungsrechte ein. Wir wollen nämlich nicht, dass (B) Männern muss das auch gelten!) (D) Videos von Vernehmungen der Tatopfer dem Verteidi- Das lässt die derzeitige Gesetzeslage schlicht und ergrei- ger ausgehändigt werden; aber nicht etwa, weil wir den fend nicht zu. Überlegen Sie einmal, was das für den Op- Verteidigern misstrauen. Seit der BGH-Entscheidung in feranwalt bedeutet: Wenn eine misshandelte Frau nicht BGHSt 29, Seite 99 f., wissen wir Anwälte, dass wir die von einem Mann untersucht werden will, kann der Rich- Unterlagen, die wir in Kopien und Mehrfertigungen vom ter die zwangsweise Untersuchung dieser Frau durch ei- Gericht bekommen, dem Mandanten aufgrund des Man- nen Mann anordnen. datsverhältnisses aushändigen müssen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da rennen Sie offene Türen ein, GRÜNEN]: Nein, Beweisstücke nicht! – Jerzy Herr Kauder!) Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsch! Sie sind kein Praktiker! Sie haben Der Opferanwalt kann Beschwerde einlegen, die keine keine Ahnung!) aufschiebende Wirkung hat. Bis darüber entschieden wurde, ist das Opfer längst untersucht. Der Mandant hat seit dieser BGH-Entscheidung darauf einen Anspruch. Wir wollen nicht, dass der Verteidiger (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE in die Bredouille kommt, Unterlagen an den Mandanten GRÜNEN]: Das macht doch kein Mensch! herausgeben zu müssen, die die Persönlichkeitsrechte Wir sind doch in Deutschland!) des Opfers betreffen. Die Frage ist genau richtig. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Der Praktiker erzählt NEN]: Sie sind offensichtlich überhaupt kein von einem Popanz!) Strafverteidiger! – Joachim Stünker [SPD]: Ein typischer Verbandsfunktionär, der vom Ich lade Sie ein, die Praxis zu erleben. Das, was Sie hier Prozess keine Ahnung hat!) tun, ist nichts anderes, als über Dinge zu theoretisieren, von denen Sie – das sage ich hier so offen, wie ich es Deswegen wollen wir die Änderung dieser gesetzlichen meine – viel zu wenig Ahnung haben, Vorschriften. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin mir sicher, dass in der Sache kein großer Dis- Sie sind nicht der einzige Praktiker hier!) sens besteht. weil Sie sich um die Praxis nicht kümmern. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: So ist es!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3525

Siegfried Kauder (Bad Dürrheim) (A) Ich bin mir aber sicher, dass wir noch lange nicht alles (Dr. [CDU/CSU]: Das müssen (C) gemacht haben, was wir im Opferschutz tun könnten. Ich wir uns von einem Terroristenanwalt sagen wäre Ihnen allen herzlich dankbar, wenn Sie mein Angebot lassen!) annehmen – das meine ich auch für mich persönlich – und wir uns an einen Tisch setzen würden, um zu überlegen, Ihre Behauptung, dass es heute Richter gibt, die ent- wie wir den Opferschutz so gestalten können, dass wir nicht sprechende Anordnungen gegen den Willen des betroffe- in zwei Jahren schon wieder eine Diskussion darüber füh- nen Opfers treffen, also beispielsweise bei einer Frau an- ren müssen. Es muss Schluss sein damit, dass Opfer ih- ordnen, dass sie sich von einem männlichen Arzt ren Rechten immer hinterherrennen müssen. Lassen Sie untersuchen lassen muss, ist einfach nicht richtig. Ich uns als deutsches Parlament in diesem Punkt einmal den weiß nicht, wo Sie praktiziert haben, aber in Berlin wird Vorreiter spielen! selbstverständlich schon heute darauf Rücksicht genom- men. Herr Kollege Röttgen, Sie haben ein anderes Bei- Vielen Dank. spiel genannt, wo das in der Praxis schon richtig ge- (Beifall bei der CDU/CSU) macht wird. Ich sagen Ihnen: Das hier ist einer der ersten Bereiche gewesen, in denen so etwas möglich war. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Genauso wenig ist das richtig, was Sie, Herr Kollege Nächster Redner ist der Kollege Christian Ströbele, Kauder, gesagt haben. Ich selber habe in spektakulären Bündnis 90/Die Grünen. Strafprozessen Nebenkläger vertreten, und zwar auf Staatskosten. Hierzu gehört beispielsweise das Strafver- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE fahren zum Anschlag in Mölln – dabei sind eine Reihe GRÜNEN): von türkischen Bürgerinnen und Bürgern zu Tode ge- kommen –, bei dem ich die Nebenkläger gegen die da- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- mals Verdächtigen und inzwischen verurteilten Täter gen! Herr Kollege Kauder, lassen Sie uns von Kollege zu vertreten habe. Es gibt also schon heute die Möglichkeit, Kollege, vielleicht auch von Anwaltskollege zu An- dass Anwälte auf Staatskosten die Nebenkläger vertre- waltskollege reden. Einiges von dem, was Sie gesagt ha- ten. Dies tun sie hoffentlich auch wirksam und nehmen ben, ist richtig, anderes ist einfach nicht richtig. Ich will auch bei langen Prozessen an jedem Verhandlungstag versuchen, das in den dreieinhalb Minuten Redezeit, die teil. Das, was Sie gesagt haben, ist einfach nicht richtig. mir zur Verfügung stehen, zu sortieren. (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/ Richtig ist – das stand auch in dem Entwurf aus Ham- CSU]: Das ist doch etwas ganz anderes! Sie burg –, dass sich in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten sind auf der falschen Baustelle!) (B) die Bedürfnisse – so schreiben Sie; ich würde lieber sa- (D) gen: die Interessen – der Opfer mehr in das Blickfeld Wir müssen dieses Gesetz an die heutige Zeit anpas- und das Bewusstsein der Bevölkerung und damit auch sen, es vervollständigen und vor allen Dingen dafür sor- des Gesetzgebers gerückt worden sind. Das ist richtig gen, dass eine ausgewogene Balance hergestellt wird, und da muss man weitermachen. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Stellen Sie Ich fange mit einer Selbstkritik an: Ich habe seit Ende Anträge dazu!) der 60er-Jahre in vielen Strafprozessen verteidigt, auch in Strafprozessen, in denen es um Vergewaltigung ging, eine ausgewogene Balance zwischen den berechtigten in denen ich also einen der Vergewaltigung Beschuldig- Interessen der Opfer, die berücksichtigt werden müssen ten verteidigt habe. In den Jahren und Jahrzehnten da- – da sind wir in vielen Einzelheiten konform –, und den nach habe ich in der Anwaltschaft in Berlin, aber auch in berechtigten Interessen der Angeklagten, die nicht hint- anderen Städten eine sehr heftige und sehr emotionale angestellt werden dürfen, sondern auch ausreichend be- Diskussion darüber erlebt, ob unsere Praxis in den 70er- rücksichtigt werden müssen. Jahren richtig war oder ob wir nicht die Opfer erneut zu Opfern gemacht haben. Das hat dazu geführt, dass viele Daran fehlt es Ihrem Gesetzentwurf, so wie er vor- Kollegen – ich habe das auch eine Zeit lang praktiziert – liegt, in vielen Punkten. Natürlich ist es richtig, dass Op- gesagt haben: Wir können es nicht mehr verantworten, fer möglichst früh die Möglichkeit erhalten sollen, sich solche Beschuldigten zu verteidigen. Das war eine sehr der Hilfe eines Anwalts oder einer Anwältin zu bedie- ans Eingemachte gehende Diskussion unter der Anwalt- nen, und dass diese staatlich finanziert wird. Aber dann schaft. Heute sieht man das etwas geläuterter, fordert müssen wir auch dafür sorgen, dass im gleichen Stadium aber natürlich – nicht etwa, weil man die Opferinteres- des Verfahrens, das ja unter dem Gesichtspunkt der Waf- sen wieder hintanstellt –, dass jeder Richter, Staatsan- fengleichheit organisiert ist – ich sage nur „fair trial“ –, walt und auch jeder Verteidiger die Opferinteressen im auch die Beschuldigten einen Anwalt oder eine Anwältin Strafprozess berücksichtigt. bekommen, wenn sie wollen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Balance gewahrt bleibt – das ist in Ihrem Geset- Was für die Praktiker gilt, gilt natürlich auch für den zesvorhaben überhaupt nicht berücksichtigt –, und dass Gesetzgeber. Dazu sage ich Ihnen: Der Entwurf in der wir wichtige rechtsstaatliche Errungenschaften unserer jetzt vorliegenden Fassung ist unzureichend und ordnet Strafprozessordnung nicht aufs Spiel setzen. sich nicht genügend in die geltende Strafprozessordnung mit dem notwendigen Schutz auch der Interessen des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beschuldigten ein. und bei der SPD) 3526 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der Herr Staatssekretär hat vorhin zu Recht die (C) Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Raab, Rechtskraftdurchbrechung angesprochen. Sie ist in mei- CDU/CSU-Fraktion. nen Augen dringend erforderlich und geboten. Schließ- lich hat der Täter durch seine erneute Straffälligkeit die Möglichkeit einer Strafaussetzung selber verwirkt. Daniela Raab (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der CDU/CSU) Herren! Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll in erster Li- Der Bundesrat hat den Gesetzentwurf bereits im nie dazu dienen, die Allgemeinheit zu schützen. Außer- Jahre 1997 in den Deutschen Bundestag eingebracht. dem soll er natürlich dem Straftäter zu der Einsicht ver- Dort ist er allerdings dem Grundsatz der Diskontinuität helfen, dass man für begangenes Unrecht auch zum Opfer gefallen. Wir, die Mitglieder der CDU/CSU- einzustehen hat. Der Wortlaut des Gesetzes heißt: Bundestagsfraktion, unterstützen diesen Antrag aus- drücklich. Ihre Weigerung, sich uns anzuschließen, passt Der Vollzug soll den Willen und die Fähigkeit des allerdings in das Bild der Untätigkeit und Trägheit der Gefangenen wecken und stärken, künftig ein ge- rot-grünen Koalition in der Rechtspolitik. setzmäßiges und geordnetes Leben zu führen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dies ist leider nicht immer so, eher sogar viel zu selten. Wir dagegen wollen nicht noch länger zögern und ab- Uns geht es heute insbesondere um die Fälle, in denen warten, bis ein neues, schon lange angekündigtes Paket bereits verurteilte Straftäter erneut straffällig werden, ih- von Änderungen geschnürt ist, sondern wir wollen sofort nen in Unkenntnis dieses Umstandes gewährte Strafaus- tätig werden. setzungen zur Bewährung aber nicht widerrufen werden können. Das ist ein Missstand, den wir so auf keinen Fall Die Bundesregierung ist zwar der Meinung, der inten- akzeptieren und stehen lassen können. sive Datenaustausch – der Staatssekretär hat es angespro- chen – zwischen den Justizbehörden würde mittlerweile (Beifall bei der CDU/CSU) dazu führen, dass solche Fehlurteile und Fehleinschätzun- Die Prämisse der Unionsfraktion ist ganz klar, die Be- gen bezüglich des Strafmaßes nur noch ganz selten vor- völkerung zu schützen. Das ist auch unsere Aufgabe als kommen. Legislative. Es ist an uns, die Voraussetzungen zu schaf- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fen, dass sich unsere Bürger sicher fühlen und die Ge- So ist es!) wissheit haben können, vor einschlägig bekannten Straf- tätern geschützt zu werden. Unserer Meinung nach reicht aber schon ein Fall aus, bei (B) dem es zu einem solchen Fehlurteil kommt, um entwe- (D) Die hessische Initiative im Bundesrat, die dem vor- der Menschen ins Unglück zu stürzen oder um ein Leben liegenden Gesetzentwurf zugrunde liegt, hat zum Ziel, zu zerstören. Jeder Fall ist ein Fall zu viel. Lücken beim Widerruf der Straf- und Strafrestausset- zung zur Bewährung zu schließen. Eine solche Rege- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. lungslücke besteht im Moment leider noch immer, näm- Jörg van Essen [FDP]) lich dann, wenn ein Verurteilter ab dem Verkündungs- In erster Linie wollen wir unsere redlichen Bürger schüt- zeitpunkt des letzten tatrichterlichen Urteils bis zu der zen und gerade nicht die Straftäter. Deshalb muss hier Entscheidung über die Strafrestaussetzung weitere Straf- gehandelt werden. Den Richtern muss diese von uns ge- taten begangen hat, oder aber in Fällen der nachträgli- forderte Möglichkeit des Widerrufs unbedingt zugestan- chen Gesamtstrafenbildung, wenn der Verurteilte inner- den werden. halb der Bewährungszeit einer einbezogenen Sache wieder straffällig wird. Um das etwas plastischer zu machen, möchte ich als Beispiel den Entführungsfall Fiszman anführen. Im Auch durch optimale Zusammenarbeit der Strafver- Jahre 1991 haben zwei Männer – Vater und Sohn – zwei folgungsbehörden mit den Gerichten oder durch die ver- Kleinkinder entführt, die später wieder freigelassen wur- besserte Datenvernetzung der Behörden lässt sich nicht den. Im Jahre 1996 haben dieselben Täter Jakub Fiszman immer verhindern, dass bestimmte Straftaten den Ge- entführt; es wurde ein Lösegeld gefordert. Letztlich richten bei der Entscheidung über eine Aussetzung des wurde das Opfer getötet. Die beiden Angeklagten wurden Strafrestes noch gar nicht bekannt sind. So kann es pas- verurteilt. Das Tragische an diesem Fall ist, dass der sieren, dass das Gericht in Unkenntnis dieser weiteren Hauptangeklagte zur Zeit der ersten Entführung eigent- Straftat die Aussetzung der Restvollstreckung ausspricht lich im Gefängnis hätte sitzen müssen. Ab 1981 hat er und der Straftäter auf freien Fuß kommt, obwohl dies so eine elfjährige Freiheitsstrafe verbüßt. Die Reststrafe nicht gewollt sein kann. wurde 1986 zur Bewährung ausgesetzt. Zu dieser Ausset- Nach der noch immer gültigen Rechtslage bleibt ein zung der Reststrafe zur Bewährung hätte es nicht kom- Gericht an seine Entscheidung der Strafaussetzung je- men dürfen; denn Rainer K. hatte zu diesem Zeitpunkt als doch gebunden. Das ist ein grober Missstand in einem Freigänger bereits mehrere Straftaten begangen, ohne Rechtsstaat, der so nicht hingenommen werden kann. dass die Strafvollstreckungskammer davon Kenntnis hatte. Erst zwei Jahre später hat sie davon erfahren. Vielmehr muss auch hier die Möglichkeit bestehen, Sie sehen, es gibt viele tragische „hätte“, „wäre“, die Aussetzung gegebenenfalls zu widerrufen. „wenn“. Sie sagen immer, dass das seltene Fälle sind; Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3527

Daniela Raab (A) das mag schon sein. Es sind aber ein paar seltene Fälle ren Seite immer Respekt hatten. Wir haben uns nie – Herr (C) zu viel. Darum unterstützen wir den Gesetzentwurf und van Essen ist mein Zeuge – die fachliche Kompetenz ab- lassen uns auch nicht davon abbringen. gesprochen. Wir wussten voneinander, welche berufli- chen Karrieren wir durchlaufen hatten, ehe wir Mitglie- (Beifall bei der CDU/CSU) der des Deutschen Bundestages wurden. Ich bitte die Lassen Sie mich noch einige Sätze zur Sanktionspra- Kollegen, die heute hier gesprochen haben und neu im xis in Deutschland allgemein sagen. Rechtsausschuss sind, sich einmal zu überlegen, ob es nicht ein guter Stil wäre, an diese Tradition des Um- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) gangs, den wir bisher gepflegt haben, anzuknüpfen. Sie ist von sehr vielen Aussetzungen zur Bewährung ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kennzeichnet. Auch die Union sieht eine Aussetzung zur der FDP – Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] Bewährung prinzipiell als sinnvoll und richtig an [CDU/CSU]: Sie meinen aber auch die Zwi- (Joachim Stünker [SPD]: Das kann ich auch schenrufe, nehme ich an!) sagen! Unglaublich! Das kann man kaum Herrn Stünker zu unterstellen, er habe nie Kontakt mit glauben! Welch ein Fortschritt!) Opfern gehabt, ist vollkommen neben der Sache und – ja, Sie werden es kaum glauben –, um eine zügige wertet auch sein Berufsleben ab. Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nein!) voranzutreiben und dem Straftäter einen Anreiz zu einer straffreien Lebensführung zu geben. Wenn ich es richtig weiß, war er neun Jahre Jugendrich- ter, zehn Jahre Vorsitzender einer großen Wirtschafts- Wird die Bewährung aber in Unkenntnis von weiteren strafkammer und drei Jahre Vorsitzender einer Schwur- begangenen Straftaten ausgesprochen, dann muss sie kammer. auch widerrufen werden können; Herr Stünker, das wer- den Sie nicht bestreiten wollen. Das Mitglied des Deutschen Bundestages Erika Simm war neun Jahre Jugendrichterin und hat im Strafrecht bis (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) zum Landgericht alles durchlaufen, was man in Bayern Andernfalls würde der Rechtsstaat an Glaubwürdigkeit im Bereich des Strafrechts üblicherweise durchläuft: verlieren. Staatsanwältin, Ermittlungsrichterin, Steuerstrafrichte- rin. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP]) (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Muss man nicht inhaltlich sprechen, wenn man eine Rede (B) (D) Es ist mir eine besondere Freude, hier wieder mal ei- hält?) nen bayerischen Politiker, nämlich den bayerischen In- nenminister Günther Beckstein, zitieren zu können. Er Ich bin Mitglied in einer Reihe von Einrichtungen wie hat gesagt: Notruf und Frauenhaus und habe als Vorsitzende des Pa- ritätischen Wohlfahrtsverbandes permanent Kontakt zu Die Interessenabwägung muss hier lauten: Was hat Vereinen und Organisationen, die Träger solcher Ein- Vorrang – der Schutz unschuldiger Opfer oder das richtungen sind. Wohlergehen der Straftäter? (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Thema der Unsere Priorität ist völlig klar: Es geht um den Schutz Rede!) der Bürger. Das sollte auch Ihre Priorität sein. Meine herzliche Bitte ist, dass wir einander nicht die Vielen Dank. sachliche Kompetenz absprechen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das richtet sich aber an alle!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich habe mir bisher nie erlaubt, einer jungen Kollegin – ich Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Erika Simm, darf an die gestrige Diskussion im Rechtsausschuss erin- SPD-Fraktion. nern – ihr jugendliches Alter und die zwangsläufig beste- hende relative berufliche Unerfahrenheit im Vergleich zu Erika Simm (SPD): meiner langjährigen Erfahrung in der allgemeinen bayeri- schen Justiz vorzuwerfen. Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich erlaube mir etwas, was ich eigentlich (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Inhaltlich sonst nie tue. Ich möchte eine persönliche Bemerkung kommt nichts!) über den Verlauf der Debatte und darüber, wie ich sie Die Unterstellungen beinhaltende Darstellung, wie wahrgenommen habe, machen. Gerichte mit Opfern umgehen, ist ein Stück weit Diffa- Ich sitze seit einigen Jahren im Rechtsausschuss. Ich mierung der Staatsanwälte und Richter. war immer gerne Mitglied dieses Ausschusses. Es hat (Beifall bei der SPD) mir gefallen, dass wir trotz inhaltlich unterschiedlicher Positionen vor der Fach- und Sachkenntnis und vor dem Wer solche Dinge, wie sie heute geäußert worden sind, beruflichen Hintergrund der Kollegen der jeweils ande- sagt, hat nicht mitvollzogen, dass sich gerade im Bereich 3528 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Erika Simm (A) der Justiz und vor allem bei Sexualstraftaten Gott sei nächste geeignete das Strafgesetzbuch ändernde Gesetz (C) Dank ein Umdenken durchgesetzt hat und wir heute mit als Omnibus, um diese Sache endlich einmal aus der Opfern, aber auch Tätern im Hinblick auf die Härte der Welt zu schaffen, bei der wir offensichtlich alle mitein- verhängten Strafen anders umgehen. ander etwas versäumt haben. Dies wollte ich als Einleitung sagen; denn das Thema, (Siegfried Kauder [Bad Dürrheim] [CDU/CSU]: zu dem ich spreche, lässt sich in relativ wenigen Sätzen Immer auf die lange Bank schieben!) abhandeln. Es geht um den Gesetzentwurf – die Kollegin Raab hat ihn schon vorgestellt – zum Widerruf der Straf- – Herr Kauder, Sie wissen doch selber, welche Detail- und Strafrestaussetzung. Es ist unbestritten, dass es hier änderungen wir in den letzten Jahren im Strafgesetzbuch eine Lücke im Gesetz gibt. Aber ich darf daran erinnern, ständig vorgenommen haben. Als ich 1999 bereits zu dass diese Lücke schon seit 1986 existiert. 1995 fand diesem Thema reden durfte, gab mir Herr Ströbele eine Umfrage unter den Landesjustizverwaltungen zu Recht, dass man mit dem Einordnen der Seiten mit Än- diesem Problem statt. Sie hat ergeben, dass dieses Pro- derungen zum Strafgesetzbuch in die Loseblattsamm- blem kein massenhaftes, aber auch kein völlig zu ver- lung des Schönfelders nicht mehr nachkommt. nachlässigendes ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Der erste Gesetzentwurf dazu kam 1997 von der rot- Verstehen Sie: Bei nächster passender Gelegenheit erle- grünen hessischen Landesregierung. Ich darf dazu an- digen wir diese Geschichte; das verspreche ich Ihnen. merken: Zu dieser Zeit hat Rot-Grün im Bundestag noch Sie hat aber bei weitem nicht mehr die frühere Brisanz; nicht die Mehrheit gehabt; sie hatte nie eine große Brisanz; es war jedoch ein Pro- (Dirk Niebel [FDP]: Das war die gute alte blem. Ich werde jedenfalls daran denken. Ich wäre Ihnen Zeit!) dankbar, wenn Sie mich gegebenenfalls daran erinner- ten, damit wir es nicht wieder alle miteinander verges- CDU/CSU und FDP besaßen damals die Regierungs- sen, wie wir das jetzt zwei Wahlperioden lang getan ha- mehrheit. Dieser Gesetzentwurf ist seinerzeit der Dis- ben. kontinuität anheim gefallen. Es ist für mich nicht mehr recht nachvollziehbar, warum. Ich bedanke mich. Der gleiche Vorgang hat sich in der darauf folgenden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Legislaturperiode wiederholt. Ich kann mich nicht erin- DIE GRÜNEN) nern, dass irgendjemand aus der CDU/CSU-Fraktion moniert hätte, dass dieser Gesetzentwurf zwar 1999 ein- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (B) gebracht, aber nie im Rechtsausschuss behandelt worden (D) ist. Wir haben ihn jetzt wieder auf dem Tisch. Ich denke, Danke schön. Ich schließe die Aussprache. wir haben Grund, uns mit einer gewissen Zerknirschung Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- mit dem Gesetzentwurf auseinander zu setzen und ihn würfe auf Drucksache 15/814 an die in der Tagesord- angemessen zu behandeln. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Folgendes ist ebenfalls Faktum: Seit 1995 und seit dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. 1997 hat sich etwas verändert. Seit 1998 gibt es das Zen- Dann ist die Überweisung so beschlossen. trale Staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister, auf Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- das die Staatsanwaltschaften und Gerichte praktisch wurf des Bundesrates zur Änderung des Strafgesetzbu- bundesweit Zugriff haben und bei dem sie abfragen kön- ches und anderer Gesetze – Widerruf der Straf- und nen, welche Verfahren gegen einen Beschuldigten bzw. Strafrestaussetzung. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Verurteilten noch anhängig sind. Drucksache 15/954, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich Ich gehe davon aus – ich denke, das kann ich mit bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Recht tun, auch vor dem Hintergrund meiner beruflichen len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Ent- Praxis, auf die ich mich hier ausdrücklich berufe –, haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen (Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) die Stimmen von CDU/CSU und FDP abgelehnt wor- dass damit das Problem ein erhebliches Stück weit ent- den. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die schärft ist. Ich weiß nämlich noch, wie es vorher war: weitere Beratung. Damals gab es ein Namensregister bei der Staatsanwalt- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf schaft. Wessen Name nicht oder noch nicht darin stand Drucksache 15/936 an die in der Tagesordnung aufge- oder versehentlich herausgeflogen war, war eben als führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan- Straftäter nicht existent. Damals tauchte permanent die den? – Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung so be- Frage auf, welche weiteren Strafverfahren gegen den Ju- schlossen. gendlichen anhängig sind. In dieser Hinsicht hat sich et- was geändert. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c und 18 e bis 18 g sowie Zusatzpunkt 3 a bis 3 e auf: Vor dem Hintergrund dessen, dass sich an diesem Problem einiges entschärft hat, halte ich es für sachge- 18 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- recht und für vertretbar, zu sagen: Wir benutzen das gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3529

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Neustrukturierung der Förderbanken des Bundes g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (C) (Förderbankenneustrukturierungsgesetz) gierung – Drucksachen 15/902, 15/949 – Erfahrungen mit dem in § 47 a des Arzneimit- telgesetzes vorgesehenen Sondervertriebsweg Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) – Drucksache 14/6766 – Innenausschuss Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfah- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung ren Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Ergänzung zu TOP 18) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- dem Zusatzabkommen vom 27. August gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung 2002 zum Abkommen vom 14. November von Kleinunternehmern und zur Verbesserung der 1985 zwischen der Bundesrepublik Unternehmensfinanzierung (Kleinunternehmer- Deutschland und Kanada über Soziale Si- förderungsgesetz) cherheit – Drucksache 15/900 – – Drucksache 15/881 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und dem Abkommen vom 12. September 2002 Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus zwischen der Bundesrepublik Deutschland Haushaltsausschuss mitberatend und der Slowakischen Republik über Sozi- und gemäß § 96 GO ale Sicherheit

(B) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 15/883 – (D) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Überweisungsvorschlag: rung der Vorschriften zum diagnoseorientierten Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Fallpauschalensystem für Krankenhäuser – Fall- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung pauschalenänderungsgesetz (FPÄndG) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu – Drucksache 15/897 – dem Internationalen Vertrag vom 3. No- vember 2001 über pflanzengenetische Res- Überweisungsvorschlag: sourcen für Ernährung und Landwirt- Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) schaft Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 15/882 – e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset- Landwirtschaft (f) zes zur Durchführung der Rechtsakte der Europä- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ischen Gemeinschaft auf dem Gebiet des ökologi- Reaktorsicherheit schen Landbaus (Öko-Landbaugesetz – ÖLG) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung – Drucksache 15/775 – eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Registrierung von Betrieben zur Haltung Überweisungsvorschlag: von Legehennen (Legehennenbetriebsregis- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und tergesetz – LegRegG) Landwirtschaft (f) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Drucksache 15/905 – f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz- buch e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Götz-Peter Lohmann, Dagmar Freitag, Helga – Drucksache 15/898 – Kühn-Mengel, weiterer Abgeordneter und der Überweisungsvorschlag: Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Winfried Hermann, Petra Selg, Birgitt 3530 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Bender, weiterer Abgeordneter und der Frak- rungen für die Ausbildung von Seeleuten (C) tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN KOM (2003) 1 endg.; Ratsdok. 5369/03 Durch Bewegung und Sport Gesundheit – Drucksachen 15/611 Nr. 2.12, 15/912 – und Prävention fördern Berichterstattung: – Drucksache 15/931 – Abgeordnete Dr. Überweisungsvorschlag: Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- Sportausschuss (f) sen empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Bundesregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim- Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorge- men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist schlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung auf- mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und geführten Ausschüsse zu überweisen. Zu dem Entwurf FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen eines Förderbankenneustrukturierungsgesetzes liegt in- worden. zwischen auf Drucksache 15/949 die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundes- Wir kommen nun zu Zusatzpunkt 4: rates vor, die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, soll. Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE sind die Überweisungen so beschlossen. GRÜNEN und der FDP Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung zu Vorlagen, Änderung des Zeitraumes für den Bericht der zu denen jeweils keine Aussprache vorgesehen ist. Bundesregierung über den Stand der Auszah- lungen und die Zusammenarbeit der Stiftung Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 19 a auf: „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ Zweite Beratung und Schlussabstimmung des mit den Partnerorganisationen und den Be- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs richt der Bundesregierung über den Stand der eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Juli Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen 2001 zwischen der Regierung der Bundesrepu- im Zusammenhang mit der Stiftung „Erinne- blik Deutschland und der Regierung des Kö- rung, Verantwortung und Zukunft“ nigreiches Thailand über den Seeverkehr – Drucksache 15/938 – – Drucksache 15/716 – (B) Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 15/938? – (D) (Erste Beratung 37. Sitzung) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- einstimmig angenommen worden. ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: (14. Ausschuss) Aktuelle Stunde – Drucksache 15/951 – auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth) Berichte über höchste April-Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung, Praxistauglichkeit Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- des Hartz-Konzeptes und Ausbaupläne des desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Ab- Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit kommen vom 31. Juli 2001 mit der Regierung des Kö- nigreiches Thailand über den Seeverkehr. (Zahlreiche Abgeordnete der SPD-Fraktion verlassen den Saal – Hartmut Schauerte Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- [CDU/CSU]: Das ist wieder typisch, jetzt geht sen empfiehlt auf Drucksache 15/951, den Gesetzent- die SPD! Bei der Arbeitslosigkeit! – Gegenruf wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir gehen entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das tun jetzt arbeiten!) alle. Stimmt jemand dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen worden. – Sobald hier Ruhe eingekehrt ist, werde ich die Aus- sprache eröffnen. – Ich erteile dem Abgeordneten Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 19 b: Johannes Singhammer das Wort. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Johannes Singhammer (CDU/CSU): Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu der Unter- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! richtung durch die Bundesregierung Ich kann verstehen, dass eine ganze Reihe von Abgeord- neten der Regierungsfraktionen bei diesem Thema die Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Flucht ergreift. Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2001/25/EG des Europäischen Par- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wir gehen zur Ar- laments und des Rates über Mindestanforde- beit!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3531

Johannes Singhammer (A) Aber mit Flucht werden Sie dem Thema Arbeitslosigkeit Angaben des Bundesrechnungshofs ebenfalls mehrere (C) nicht gerecht werden. Hunderttausend. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Angesichts dieser Zahlen ist mir einiges unbegreif- lich. Es ist mir unbegreiflich, dass Herr Gerster diese Noch nie seit den Wirren des Zweiten Weltkrieges Steilvorlage des Bundesrechnungshofs nicht schon war die Arbeitslosigkeit in einem April so hoch wie im längst genutzt hat, um Milliarden fehlgeleiteter Ausga- April 2003. Nach fünf Jahren rot-grüner Bundesregie- ben einzusparen. rung wird die Zahl der Arbeitslosen immer größer und die der sicheren Arbeitsplätze immer kleiner. Alle von (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Der ist Rot-Grün verabreichten und angepriesenen Heilmittel mit dem Umbau der Vorstandsetage beschäf- haben sich als wirkungslos erwiesen: das JUMP-Pro- tigt!) gramm – ein Flop, das Job-AQTIV-Programm – eine Es ist mir ebenso unbegreiflich, dass der Wirtschafts- Luftblase, das als Breitbandtherapeutikum angepriesene minister nicht eingreift und lieber zusieht, wie ständig Hartz-Konzept – ohne erkennbare Wirkung, neue Forderungen von der Bundesanstalt für Arbeit an (Dirk Niebel [FDP]: Placebo!) die Bundesregierung kommen, um den Etat entgegen al- len Bekundungen aufzufüllen. Es ist ein noch schlimme- die Ich-AG – mehr und mehr eine unfaire Konkurrenz res Zeichen von Desorganisation, wenn die Verantwor- für ausbildende Handwerksbetriebe, das Mainzer Modell tung für diesen Skandal zwischen der Bundesanstalt und – ein Fiasko, der Jobfloater – ein Ausfall. Insgesamt ist dem Bundeswirtschaftsministerium hin und her gescho- dies eine bestürzende Kette grandioser Misserfolge. ben wird und in einem kleinen Bermudadreieck ver- schwindet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: In einem Statt die Menschen von der Seuche Arbeitslosigkeit zu großen Bermudadreieck! – Dirk Niebel [FDP]: befreien, weitet sich die Beschäftigungslosigkeit in epi- Das kennen wir doch schon!) demischer Form zum Flächenbrand aus. – In einem großen Bermudadreieck, richtig. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage Ihnen, Herr Staatssekretär Andres, der Sie Die Menschen haben jegliches Vertrauen in die An- stellvertretend für die Bundesregierung hier sind: kündigungen von Rot-Grün verloren. Die Gewerkschaf- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Jetzt ist aber genug!) ten stellen mittlerweile die Machtfrage und drohen mit Generalstreik. Zur Bekämpfung der Seuche Arbeitslo- Die Bundesregierung hat keine Legitimation, von den (B) (D) sigkeit braucht Deutschland deshalb zuallererst ein Ver- Arbeitslosen harte Opfer zu verlangen, wenn sie es nicht trauenswachstum und dann eine Strategie für wirtschaft- vorher schafft, die Milliardenverschwendung, die der liches Wachstum. Bundesrechnungshof aufgedeckt hat, abzuschaffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Der Chef der Bundesanstalt für Arbeit hat offenkun- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dig den Überblick über das Ausmaß der Beschäftigungs- losigkeit und die Finanzen verloren. Wie anders wäre es Herr Kollege Singhammer, Sie haben nur fünf Minu- zu erklären, dass im November vergangenen Jahres, also ten. jetzt bereits vor sechs Monaten, der Bundesrechnungs- hof festgestellt hat, dass annähernd 1 Million Arbeitslose Johannes Singhammer (CDU/CSU): zu Unrecht in der Statistik aufgeführt sind und ein größe- Ich komme zum Ende. – rer Anteil davon zu Unrecht Geldleistungen erhält. Der Schaden ist gewaltig: bei den Arbeitsämtern, aber auch (Zuruf von der SPD: Sie sind am Ende!) beim Finanzminister und bei den Kommunen. Der erste Schritt zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit Nach dem Bericht des Bundesrechnungshofs erhalten ist, dass die geltenden Gesetze eingehalten werden. 367 000 Arbeitslose zu Unrecht Leistungen. Nun kann Wenn Sie das nicht schaffen, dann treten Sie ab! sich jeder ausrechnen – dazu bedarf es keiner besonde- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren Mathematikkenntnissse –, wie viel das ist, wenn man von einer durchschnittlichen Leistung für einen Arbeits- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: losen von derzeit 1 211 Euro pro Monat ausgeht. Wenn man das für zwölf Monate hochrechnet, dann kommt Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Brandner. man auf eine Summe, die sich bei 5 Milliarden Euro be- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ein Teil des wegt. Problems!) Hinzu kommen nach dem Bericht des Bundesrech- nungshofs die Anwartschaften für die so genannten Klaus Brandner (SPD): Nichtleistungsempfänger. Diesen wird die Altersvor- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten sorge in der Regel in Form von Pauschalbeiträgen von Damen und Herren! Ständig Aktuelle Stunden zum sel- der Bundesanstalt für Arbeit überwiesen. Das sind nach ben Thema zu beantragen, meine Damen und Herren 3532 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Klaus Brandner (A) von der Opposition, zeugt nicht gerade von einem hohen [SPD]: Richtig! Das sollten Sie mal zur Kennt- (C) politischen Profil. nis nehmen und nicht immer herumfuchteln!) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Warum ma- und immerhin noch 800 000 Arbeitsplätze mehr werden chen wir das? Sie verwechseln Ursache und es 2003 sein. Auch das Erwerbspotenzial steigt laut Wirkung!) IAB-Studie in diesem Jahr noch um durchschnittlich 115 000. Ich habe den Eindruck, Sie beantragen die Aktuellen Stunden, um Übungen zum Auswendiglernen im Parla- In einer solchen Situation nur schwarz zu malen und ment durchzuführen, nicht aber um neue Impulse zu set- keine Konzepte zu haben, wie Herr Ahrens es öffentlich zen. Ich werde darauf zurückkommen. zugibt, ist beschämend. Beschämend ist auch, dass Sie in einer solchen Zeit Aktuelle Stunden beantragen und Zeit (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Solch ein verplempern, statt innovativ darauf hinzuwirken, dass Anfang bei einem derartigen Thema!) den Menschen in diesem Lande geholfen wird. Völlig klar ist doch, dass die Bekämpfung der Arbeitslo- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sigkeit tatsächlich das wichtigste Ziel in der Gesellschaft DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Solange und in der Politik ist. Sie hier sitzen, können Sie wenigstens nichts (Beifall bei der SPD – Wolfgang Meckelburg falsch machen! Alles, was die Regierung in [CDU/CSU]: Welch eine Erkenntnis, Herr diesem Saal festhält, verhindert, dass sie wie- Brandner!) der Mist macht!) Sie wollen sich im Bundestag mit Umbaumaßnahmen Mit der Agenda 2010 haben wir die notwendigen der Bundesanstalt für Arbeit und immer wieder densel- Schritte eingeleitet. Dazu gehören ein aktiver Sozial- ben Dingen beschäftigen. Ihnen fällt offenbar nicht viel staat, das Konzept „Fördern und Fordern“ als generelles ein. Wie konzeptionslos und leer Ihre Auftritte sind, Prinzip, die Durchführung von Strukturreformen, die ef- zeigt eine Aussage Ihres obersten Arbeitnehmervertre- fiziente Sozialsysteme organisieren, wie auch geringe ters, Hermann-Josef Ahrens. Ich zitiere aus der „West- Einschnitte, die aufgrund der Demographie notwendig deutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 6. Mai 2003: sind. „Auch das Unionskonzept schafft keine neuen Arbeits- Wir stellen uns der Verantwortung. Wir setzen alles plätze.“ daran, die Wachstums- und Vertrauenskrise zu überwin- den. Sie aber setzen scheinbar alles daran, die Vertrau- (Dirk Niebel [FDP]: Dann nehmen wir doch enskrise erst herzustellen. Damit helfen Sie keinem Ar- am besten das von der FDP!) (B) beitslosen in diesem Land. Das sollten Sie sich bewusst (D) Ich frage mich, ob es wohltuend oder beschämend ist, machen. ein solches Eingeständnis öffentlich zu formulieren. Für (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wer führt Sie ist es jedenfalls beschämend, wenn Sie Aktuelle denn das Mitgliederbegehren durch?) Stunden zu Themen wie Arbeitslosigkeit beantragen. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, die Arbeitslosig- Fest steht: Mit den Maßnahmen, die wir einleiten, lei- keit abzubauen, anstatt uns regelmäßig Ihre Sprechbla- ten wir auch psychologische Wirkungen ein. Diese wer- sen anhören zu müssen. den auch Wachstumskräfte entfalten. Die Wirtschaft un- terstützt jedenfalls unseren Kurs. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Mir ist schon klar, dass Ihnen die Aktuelle Stunde (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wo nicht passt! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: denn?) Was haben Sie eigentlich am 1. Mai gemacht?) Insofern will ich betonen, dass wir für eine nachhaltige Meine Damen und Herren, die Lage ist schlecht, aber Strategie eintreten, die auch notwendig ist, zum Beispiel nicht hoffnungslos. 4,5 Millionen Arbeitslose ist eine bei der Rückführung der Staatsverschuldung, die Sie uns hohe Zahl, die uns nicht zufrieden stellen kann. auf dem bisher höchsten Niveau hinterlassen haben. Al- lein die Arbeitslosigkeit verursacht Kosten in Höhe von (Lachen bei der CDU/CSU – Hartmut Schauerte 80 Milliarden Euro pro Jahr bzw. 18 300 Euro je Ar- [CDU/CSU]: So eine Aussage!) beitslosen. Wir wollen nichts beschönigen. Allerdings ist die Lage Deshalb muss es uns gelingen, aus Arbeitslosen wie- auch nicht so schlecht, wie Sie sie regelmäßig darstellen. der Steuer- und Beitragszahler zu machen. Mit den Maß- (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Sie ist eher noch nahmen, die wir dafür vorbereitet haben, mit einem In- schlechter!) frastrukturprogramm für die Kommunen und der Schaffung von Ausbildungsplätzen, zum Beispiel durch 1998 gab es zwar etwas weniger Arbeitslose, aber einen Pakt für Ausbildung, sind wir auf dem richtigen eine höhere Arbeitslosenquote. Es gibt immer noch be- Weg. trächtlich mehr Arbeitsplätze als zu Kohls Zeiten: Circa 1 Million mehr Arbeitsplätze waren es 2002 Wir sollten die Arbeitgeber gemeinsam in die Pflicht nehmen und uns den Diffamierungen von Interessen- (Zuruf des Abg. Hans-Joachim Fuchtel [CDU/ gruppen widersetzen, wie kürzlich durch den Präsiden- CSU] – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster ten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3533

Klaus Brandner (A) Philipp, der in, wie ich meine, diffamierender Weise den (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C) Wegfall des Meisterzwangs – er bedeutet quasi die Mo- der CDU/CSU) dernisierung des Handwerks – nutzt, um deutlich zu ma- chen, dass diese Maßnahme mit einem Schlag 60 000 Herr Gerster hat gestern die Arbeitsmarktzahlen prä- Ausbildungsplätze kosten würde. Das ist Panikmache. sentiert. Im April dieses Jahres waren demnach 4,5 Millionen Menschen arbeitslos – und das in einem Helfen Sie mit, dass solchen Panikmachern das Hand- Monat, in dem sich sonst die konjunkturelle Belebung werk gelegt wird! Damit leisten Sie in dieser Gesell- aufgrund des beginnenden Frühjahrs sehr positiv auf den schaft gute Dienste. Arbeitsmarkt auswirkt! Das sind fast 500 000 mehr als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im gleichen Monat des Vorjahres, die höchste Arbeitslo- DIE GRÜNEN) senzahl, die jemals in einem April gemessen worden ist. Auch saisonbereinigt ist die Arbeitslosenzahl weiter ge- Lassen Sie mich noch eines anmerken. Das Hartz- stiegen – diesmal um 44 000 –, wie bereits seit Jahren Konzept beginnt zu greifen. Viele Maßnahmen dieses Monat für Monat. Trotzdem tun Sie so, als ob wir keine Konzepts werden in den nächsten Monaten in Kraft tre- Probleme hätten, und die Regierung tut so, als ob die ten. Die Quickvermittlung tritt am 1. Juli, die Personal- Opposition das Problem und nicht ihre furchtbare Politik Service-Agenturen treten derzeit in Kraft. Sie haben wäre. zwar in der „Welt“ immer wieder herumposaunt, die Per- sonal-Service-Agenturen seien staatliche Vermittlungs- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) einrichtungen; aber wir haben in allen Bereichen private Wir müssen den Menschen in diesem Land Chancen Personal-Service-Agenturen akquirieren können. Die geben, damit sie mitmachen können. Wir brauchen also neuen Regelungen zu den Minijobs sind vor kurzem in endlich Strukturreformen. Das bedeutet, dass das biss- Kraft getreten. Einen enormen Schub verzeichnen wir chen, was der Kanzler am 14. März angekündigt hat, bei den Existenzgründern. Allein im April haben nicht wieder von Ihnen weichgespült werden darf. Wer 8 763 Frauen und Männer mithilfe des Arbeitsamtes eine gesehen hat, wie die Ergebnisse der Hartz-Kommission Ich-AG gegründet. Die Gesamtzahl von Ich-AGs hat im Gesetzgebungsverfahren umgesetzt worden sind – aus sich inzwischen auf 16 000 erhöht, also mehr als verdop- der angekündigten 1 : 1-Umsetzung ist eine 2 : 1-Umset- pelt. zung zugunsten von Engelen-Kefer und Konsorten ge- worden –, der kann sich vorstellen, dass dann von der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Agenda 2010 noch zwei Zehntel übrig bleiben. Das bringt Herr Kollege, auch Sie muss ich an die Zeit erinnern. die Arbeitsmarktpolitik in diesem Land nicht voran. (B) (Beifall bei der FDP) (D) Klaus Brandner (SPD): Wir brauchen Strukturreformen, und zwar solche, die Weiterhin läuft das bewährte Instrument des Überbrü- dazu führen, dass Arbeitsplätze geschaffen werden, da- ckungsgeldes gut. Allein im April gab es 14 000 Neu- mit die Menschen die Chance bekommen, ihren Lebens- gründungen. Insgesamt waren es 50 000. unterhalt zumindest teilweise durch eigener Hände Ar- Helfen Sie, statt Polemik in diesem Hause zu verbrei- beit zu verdienen. Wir müssen deshalb am Steuerrecht ten, mit, dass durch Existenzgründungen und Reformen ansetzen. Die Menschen und die Betriebe müssen mehr am Arbeitsmarkt die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft von dem behalten können, was sie verdienen. Nur dann wird! Dann tun Sie ein gutes Werk für die Menschen in können sie mehr konsumieren und investieren. Im Mo- diesem Land. ment sitzen selbst diejenigen, die Geld haben, auf ihrem Geld; denn angesichts Ihrer Politik weiß niemand mehr, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ob er Vertrauen in die Zukunft haben kann. Das muss als DIE GRÜNEN) Allererstes geändert werden.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel. Wir brauchen Strukturreformen in den sozialen Siche- Dirk Niebel (FDP): rungssystemen. Das, was der Bundeskanzler angekündigt hat – und was Ihre Gewerkschaftsvertreterinnen und -ver- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und treter massiv zu boykottieren versuchen –, ist nur ein Herren! Bisher habe ich gedacht, die rot-grüne Regie- Trippelschritt in die richtige Richtung. Auch wenn das im rung macht schlechte Politik. Wesentlichen keine neuen Arbeitsplätze schaffen wird, (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE entwickelt es vielleicht eine positive psychologische Wir- GRÜNEN]: Sie haben gedacht? – Dr. Uwe kung, sodass die Menschen wieder Vertrauen in die Zu- Küster [SPD]: Das war schon der erste Fehler, kunft haben und dass dann wieder Arbeitsplätze geschaf- dass Sie angefangen haben zu denken!) fen werden. Deshalb ist es so wichtig, dass sich Ihr Kanzler Ihnen gegenüber durchsetzt. Wenn er das nicht Das wäre schon schlimm genug für das Land. Nach Ihrer schafft, dann ist er die längste Zeit Kanzler gewesen. Rede, Herr Kollege Brandner, merke ich, dass die Regie- rung an Realitätsverlust leidet. Das ist noch viel schlim- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der mer. Das ist nämlich eine Katastrophe für dieses Land. CDU/CSU) 3534 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dirk Niebel (A) Wir brauchen auch Reformen im Arbeitsrecht. Es müssen die Landkreise und die Gemeinden einbezogen (C) kann doch nicht sein, dass gut gemeinte Vorschriften das werden; denn sonst werden die Jobcenter allein bei der Kartell der Arbeitsplatzbesitzenden zulasten der Arbeit- Bundesanstalt für Arbeit angesiedelt und Kostenent- suchenden weiter absichern. Es muss doch möglich sein, scheidungen zulasten der Träger der Sozialhilfe getrof- dass Vorschriften, die nach unser aller Erkenntnis dazu fen. Das wollen wir verhindern. führen, dass die Menschen nicht mehr in den Arbeitspro- zess zurückkehren, revidiert und reformiert werden, da- All das haben Sie, Herr Brandner, nicht erwähnt. Sie mit diejenigen, die außerhalb des Arbeitsmarktes sind, haben stattdessen die Opposition ersatzweise für Ihre wieder eine Chance haben, mitzumachen. Das sollte eine schlechte Politik beschimpft. So holen Sie keinen Ar- soziale Aufgabe sein. Ich möchte wirklich wissen, wo beitslosen von der Straße. die SPD ihre sozialdemokratische Seele gelassen hat! Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Wir brauchen außerdem Reformen in der Bundesan- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: stalt für Arbeit. Es reicht nicht, wenn Herr Gerster sagt, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Fritz Kuhn. dass diejenigen, die, obwohl sie Geld bekommen oder Ansprüche erwerben, nicht verfügbar sind, aus der Sta- tistik herausgenommen werden könnten. Nein, wer nicht Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verfügbar ist, der ist bei den Arbeitsämtern als Leis- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tungsempfänger fehl am Platz. Wenn die Regierung Herr Niebel, es war schon eine starke Leistung, dass Sie meint, dass 25-jährige Männer oder 25-jährige Frauen es fertiggebracht haben, der SPD innerhalb von nur fünf Kindergeld bekommen sollen, dann soll sie es im Bun- Minuten vorzuwerfen, sie sei sowohl zu viel als auch zu deskindergeldgesetz und nicht über die Bundesanstalt wenig sozialdemokratisch. für Arbeit regeln. Das wäre ein sauberer Weg. (Dirk Niebel [FDP]: Sie wissen nicht, was sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wollen! Das sind Klassenkämpfer ohne sozia- der CDU/CSU) les Herz!) Wir müssen also dafür sorgen, dass diejenigen, die Leis- Daran zeigt sich, dass Sie das, was Sie sagen, nicht ernst tungen beziehen, tatsächlich in der Lage und bereit sind, meinen. Sie müssen sich meines Erachtens für einen die- einen Arbeitsplatz anzunehmen. ser beiden Vorwürfe entscheiden. (B) Wir brauchen des Weiteren eine Reform der Bundes- Zur Sache: Es ist doch völlig klar, dass die Zahlen (D) anstalt für Arbeit selbst. Bisher ist nur der Kopf ausge- richtig schlecht sind. Die Arbeitslosigkeit ist enorm wechselt worden. Viel mehr ist nicht geschehen. Aber hoch. wie soll Herr Gerster denn erfolgreich sein, wenn er – er ist teilweise mit guten Ideen vorstellig geworden – von (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber Herr den eigenen Genossen in der Regierung und von dem Brandner bezweifelt das!) Apparat in Nürnberg blockiert wird? Das bedeutet, dass Für uns ist entscheidend, ob wir die Talsohle mittler- wir das ganze System verändern müssen. Die Bundesan- weile erreicht haben und ob wir aus dieser Situation ge- stalt für Arbeit muss eine neue Struktur bekommen. Sie meinsam herauskommen oder nicht. Die Zahlen kann muss in eine Versicherungsagentur und in eine Arbeits- man aber nicht beschönigen; auch ich will das nicht tun. marktagentur aufgeteilt werden. Die Versicherungsagen- tur – das kann durchaus eine selbstverwaltete Körper- Die Union spricht jetzt davon, dass es sich um die schaft sein – sorgt für die Gewährleistung des schlimmsten Zahlen nach dem Krieg handelt. Schauen Lebensunterhalts. Die Arbeitsmarktagentur wird für eine Sie sich einmal die Rahmenbedingungen an! 1997 gab es Redemokratisierung der Arbeitsmarktpolitik sorgen, so- 4,34 Millionen Arbeitslose, dass wir in den Haushaltsberatungen über den effizien- ten Einsatz der Mittel entscheiden können. Das wäre der (Dirk Niebel [FDP]: Das ist weniger als richtige Weg. 4,5 Millionen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bei einem Wachstum des Bruttosozialprodukts von der CDU/CSU) 2,1 Prozent. 1998 gab es 4,42 Millionen Arbeitslose bei einem Wachstum von 3,1 Prozent. Um Arbeitsplätze schaffen und vorhandene Arbeits- plätze schnell vermitteln zu können, brauchen wir Job- (Dirk Niebel [FDP]: Wir hatten noch Wachs- center, und zwar nicht solche, wie Sie sie im Rahmen der tum!) Hartz-Kommission konzipiert haben, sondern solche, die Das heißt, in Ihrer Regierungszeit war die Arbeitslosig- die gesamte Vermittlungskompetenz in Deutschland zu- keit sehr hoch – sie lag sehr nahe bei dem heutigen Wert –, rate ziehen. Das heißt, wir müssen auch diejenigen ein- allerdings unter völlig anderen wirtschaftlichen Rah- beziehen, die als Träger der Sozialhilfe hervorragende menbedingungen. Arbeit bei der Vermittlung von besonders schwierigen Fällen geleistet haben. Gerade vor dem Hintergrund der (Dirk Niebel [FDP]: Warum haben Sie denn Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe kein Wachstum?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3535

Fritz Kuhn (A) Darauf hinzuweisen relativiert zwar Ihre Argumente, Vieles von dem, was bisher Schwarzarbeit war, wird (C) nützt uns aber praktisch überhaupt nichts. jetzt legal über Minijobs geleistet. Unsere Erwartungen in die Leiharbeit dagegen sind noch nicht erfüllt worden. Ich möchte nun auf das zu sprechen kommen, was Warum? Die Personal-Service-Agenturen werden gerade jetzt geschehen muss. In der heutigen Lage hilft nur ein aufgebaut und alle, die etwas davon verstehen, wissen, umfassendes Paket von Maßnahmen, deren einziges Ziel dass das Instrument Leiharbeit erst greifen kann, wenn die Ermöglichung von Investitionen in neue Arbeits- das Beschäftigungsvolumen wieder zunimmt. plätze ist. Für meine Fraktion ist ganz klar: Die Eck- punkte der Agenda 2010 müssen umgesetzt werden, vor (Dirk Niebel [FDP]: Das wird es aber nicht!) allem mit dem Ziel, die – zu hohen – Lohnnebenkosten zu senken. Entscheidend wird sein, ob Unternehmer, wenn die Kon- junktur wieder anzieht, das zusätzliche betriebliche Be- (Dirk Niebel [FDP]: Was sagt denn der Herr schäftigungsvolumen wieder über Überstunden abde- Hermann dazu?) cken werden – das ist der traditionelle Weg – oder ob sie Das ist entscheidend. Wenn die Lohnnebenkosten nicht die Angebote der Personal-Service-Agenturen in An- spruch nehmen und die Arbeit gerecht aufteilen werden. sinken, dann wird es in der Bundesrepublik keinen Im- puls zur Schaffung neuer Arbeitsplätze geben. Da der Erst wenn die Entwicklung so weit vorangeschritten ist Bundesrat den meisten Gesetzentwürfen, mit denen die und die Jobcenter eingerichtet sind, können Sie über die Vorschläge der Hartz-Kommission richten. Agenda 2010 umgesetzt werden soll, zustimmen muss, wird es sehr darauf ankommen, dass die Union für die Meines Erachtens ist es eine unverantwortliche Oppo- damit verbundenen Initiativen hier mit eintritt. sitionspolitik, ein Instrument, das noch nicht voll eta- Außerdem wird die Steuerreform in Kraft treten, und bliert ist, das noch nicht greifen kann, schon schlecht zu zwar, wie beschlossen, zum 1. Januar 2004. Die Wirt- reden. Damit machen Sie sich für die Verschlechterung schaft geht davon aus, dass die Steuersätze ab diesem der Stimmung mit verantwortlich. Ich verstehe, dass eine Zeitpunkt sinken. Davon wird vor allem der Mittelstand Opposition sagen muss, was schief läuft, aber wenn die profitieren. Opposition in der Stunde der Verantwortung aus eige- nem Kalkül die Stimmung zusätzlich schlecht redet, (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Och, auf einmal?) (Dirk Niebel [FDP]: Pfui! Das ist eure schlechte Politik, die diese Situation bewirkt!) Zum 1. Januar 2005 wird dann die nächste Stufe der Steuerreform in Kraft treten. Sie, Herr Schauerte, haben dann versündigt sie sich an den Arbeitslosen. Das sollte keine finanzierbare Alternative vorgeschlagen. sie meines Erachtens nicht tun. (B) (D) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Doch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Im Gegenteil, Ihre Parteikollegen haben die Sanierung der öffentlichen Haushalte, also auch der Haushalte der Dann komme ich noch zu einem Punkt, der die Fi- Gemeinden, durch ihr Verhalten im Bundesrat blockiert. nanzpolitik betrifft. Auch das behindert uns jetzt im Kampf gegen die Ar- beitslosigkeit. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Kollege – – sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich möchte etwas zu den Vorschlägen der Hartz-Kom- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mission sagen. Herr Laumann und andere Experten der Nur noch einen ganz kurzen Satz. – Natürlich müssen Union sollten wirklich wissen, welche von der Hartz- wir die Bedingungen für Investitionen so verbessern, Kommission vorgeschlagenen Punkte schon greifen dass Innovationen verstärkt werden, vor allem indem wir können und welche nicht. Mancher Vorschlag ist gesetz- tatsächlich in Bildung und Forschung investieren. Die lich noch gar nicht umgesetzt. Herr Laumann hat gestern Haushalte müssen aber die Spielräume dazu hergeben. über die Pressestelle der CDU erklären lassen, die Vor- Deswegen sind alle, die sich bei Subventionskürzungen schläge der Hartz-Kommission seien von Anfang an ein verweigern, wie Sie es tun, mit verantwortlich. Sie ha- Flop gewesen. Das war nichts als Propaganda. ben schließlich keinen Vorschlag zum Abbau der Sub- ventionen in der Bundesrepublik Deutschland einge- Die Förderung der Minijobs ist schon sehr gut ange- bracht, laufen. (Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt nicht!) (Unruhe bei der CDU/CSU) zu dem Sie dann auch wirklich stehen, – Sie haben den entsprechenden Vorlagen doch zuge- stimmt. Auch Sie wollten es doch. Unsere Positionen lie- (Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt nicht! Nein, gen nicht weit auseinander. nein!) (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU) zu dem Sie dann auch mit Ihrer Ländermehrheit stehen. – Jetzt beruhigen Sie sich doch einmal! Die Mittags- (Dirk Niebel [FDP]: Das ist völlig falsch! Das pause ist schon vorbei; seien Sie nicht so nervös. ist die absolute Unwahrheit!) 3536 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Fritz Kuhn (A) Nur wenn Subventionen abgebaut werden, können wir – Sie sagen es zu Recht, Herr Kollege Niebel: ohne das, (C) zusätzlich investieren. Auf Schuldenbasis können wir im was sonst noch gefordert wird. Hinblick auf die Generationengerechtigkeit, die für uns Unter der Führung der Rot-Grünen steuert dieses wichtig ist, nicht investieren. Land auf eine Arbeitsmarkt- und Haushaltskatastrophe zu. Das muss verhindert werden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- Punkt! ruf von der CDU/CSU: Die ist schon da!) (Dirk Niebel [FDP]: Das war ein sehr langer Das gilt ganz besonders auch vor dem Hintergrund, dass Satz!) es in Europa Länder gibt, die gezeigt haben, dass man es auch anders machen kann. Herr Kuhn, Sie haben auf das Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jahr 1997 – Wachstum: 3,1 Prozent – rekurriert. Hätten Fazit: alle zusammen! Dann wird es gehen. – Ich bin Sie in der Opposition damals über den Bundesrat nicht schon am Ende, Frau Präsidentin. alles blockiert, was im Bundestag bereits beschlossen worden war – das ging von der Steuerreform bis hin zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Reformen der Sozialsysteme –, dann hätte dieses und bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Das Land die Kurve gekriegt und wir stünden so gut da wie beste war der Satz: „Ich bin schon am Ende“! andere Länder in Europa. Auch das haben Sie zu verant- Der stimmt auch!) worten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Tauss [SPD]: Es ist doch schön, wenn man ein Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Joachim einfaches Weltbild hat!) Fuchtel. Aus der Sicht des Haushaltspolitikers ist es in der jet- zigen Situation in besonderem Maße schädlich, dass wir Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): weitere konsumtive Ausgaben tätigen und diese über Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute Schulden finanzieren müssen. Wir bräuchten investive sagt der Kollege Kuhn hier: Es ist doch völlig klar, dass Ausgaben, damit ein wirtschaftlicher Prozess in Gang die Lage schlecht ist. – Vor nicht einmal zwei Monaten gesetzt werden kann. Was sich hier abspielt, ist Gift für haben dieselben Leute von der Koalition hier dafür ge- die Wirtschaft. Das haben Sie zu verantworten – nie- sorgt, dass der Nullzuschuss bei der Bundesanstalt für mand anders! Wir sehen, wie wenig Abgeordnete Ihrer (B) Arbeit mit Mehrheit durchgesetzt wurde. Fraktion jetzt hier sind. Wenn Sie für die Leute im Lande (D) eintreten wollen und hier gerade mal ein Dutzend Abge- (Klaus Brandner [SPD]: Ach nein, das ist ordnete auftauchen, dann müssten Sie sich eigentlich schon wieder eine Lüge!) schämen. Das ist die wirkliche Lage. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Jetzt wird es noch primitiver als (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sonst! Unglaublich!) Allen Warnungen zum Trotz ist das von Ihnen so ge- Ich möchte jetzt noch etwas Konkretes zu dem sagen, macht worden. Sie haben vorgegaukelt, dass es mit Ihren was wir bei den Beratungen in der Praxis erleben. Herr Wunschträumen weitergehen würde. Gerster, Vorstandsvorsitzender der Bundesanstalt für Ar- Das ist vorbei. Jetzt gestehen Sie selbst zu, dass ein beit, war fünfmal persönlich zu Terminen in den Haus- zusätzlicher Bedarf von 7,5 Milliarden Euro besteht. halts- und den Rechnungsprüfungsausschuss bestellt. Merken Sie eigentlich nicht, dass Sie von der Realität Viermal ist dieser Mann nicht erschienen. immer schneller eingeholt werden? Herr Brandner, was (Dirk Niebel [FDP]: Pfui!) Sie hier gesagt haben, ist ein Skandal ersten Ranges. Noch nie hat es in Deutschland so viele junge Arbeits- Das ist doch keine Zusammenarbeit mit dem Parlament! lose gegeben wie unter Rot-Grün, nämlich 522 000. Und Der Vorsitzende des Rechnungsprüfungsausschusses, da sagen Sie: Die Lage ist doch eigentlich gar nicht so der SPD-Abgeordnete Rübenkönig, hat ihm erst vor kur- schlecht. – Ich kann mir nur wünschen, dass möglichst zem geschrieben: viele Leute am Fernseher mitbekommen, was die SPD in Die Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses dieser Situation an Arroganz an den Tag legt. haben mit großer Verwunderung zur Kenntnis ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nommen, dass Sie ... nicht teilnehmen werden und Ihre Absage nicht einmal persönlich mitgeteilt ha- Die Wahrheit ist, dass nunmehr zusätzliche Ausgaben ben. in Höhe von 12 Milliarden Euro prognostiziert werden. Selbst dann, wenn einige Ihrer Maßnahmen wirken, ste- Nachdem fraktionsübergreifend der Wunsch geäu- hen immer noch 10 Milliarden Euro neue Schulden an, ßert worden war, Sie als Vorstandsvorsitzenden der die nicht verkraftet werden können. Bundesanstalt für Arbeit persönlich zu dieser Sit- zung einzuladen, möchte ich hiermit mein Bedau- (Dirk Niebel [FDP]: Ohne DGB-Vorschläge!) ern darüber äußern, dass Sie als ehemaliger Parla- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3537

Hans-Joachim Fuchtel (A) mentarier offenbar keinen großen Wert auf eine verkommt das Ganze zu Ritualen, mit denen nur noch ei- (C) konstruktive Zusammenarbeit mit dem Parlament gene Interessen und Besitzstände für das Hier und Jetzt legen. zementiert werden. Der Finger der massiven Aufforde- rung, alles zu verändern, zeigt dabei immer auf die ande- Meine Damen und Herren, das ist die Wahrheit. Da zeigt ren. Anscheinend heißt die Philosophie bei uns – dieses sich doch, wie marode das alles mittlerweile ist und dass Fazit ziehe ich –: Es muss dringend alles anders werden, Sie die Lage nur noch abwickeln. aber bei uns darf sich nichts ändern. Doch wir alle wis- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sen: Wenn wir das europäische Sozialstaatsmodell erhal- ten wollen und die Lebensrisiken von Menschen absi- Bezüglich des Haushalts – dazu wollte ich eigentlich chern wollen, müssen wir das für alle trag- und ertragbar reden – haben Sie die neue Formulierung geprägt: Das gestalten. ist nicht wirklich so gewollt. – Jede Aussage muss erst daraufhin untersucht werden, ob sie überhaupt belastbar Wir haben einen Berg fehlerhafter früherer Entschei- ist. Das, was Sie im Bundeshaushalt für die Bundesan- dungen abzuarbeiten. stalt veranschlagt haben, können Sie so wirklich nicht gewollt haben, denn es ist nicht belastbar. (Lachen des Abg. [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich sage aber auch: Das Jammern hilft heute gar nichts. Entscheidend ist: Mit den bereits verabschiedeten bzw. Insofern kann ich Ihnen nur zurufen: Gehen Sie auf anstehenden Maßnahmen zur Neugestaltung der Arbeits- die Opposition zu, marktpolitik bzw. der Sozialpolitik gehen wir zugegebe- (Jörg Tauss [SPD]: Ach was!) nermaßen einen schweren und vielleicht auch für man- chen zu schweren Weg – eben weil vieles anders werden versuchen Sie zusammen mit der Opposition, wirklich muss. einen Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts der Bundesanstalt für Arbeit zu leisten, und hören Sie, Herr (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wovon reden Kollege Brandner, mit solchen Mätzchen der Oberfläch- Sie?) lichkeit, wie Sie sie vorhin geboten haben, auf! Zu viel von dem, an das wir uns gewöhnt haben, war üb- Vielen Dank. rigens geprägt von der Philosophie, es jetzt uns mög- lichst einfach zu machen; die Belastungen aber für dieje- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg nigen, die nach uns dran sind, sind dabei häufig aus dem Tauss [SPD]: Sie sind die personifizierte Ober- Blickfeld geraten. flächlichkeit!) (B) Von der Opposition habe ich bis heute keine Antwor- (D) ten auf die drängenden Fragen erhalten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat der Abgeordnete Hans-Werner Bertl das (Dirk Niebel [FDP]: Dann lesen Sie mal un- Wort. sere Bundestagsdrucksachen!) Machen Sie dabei mit, dass sich Menschen in Deutsch- Hans-Werner Bertl (SPD): land einfacher selbstständig machen können? Machen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Sie mit, dass man sich in kaum gesehenen Nischen unse- Kollegen! Im Angesicht der bedrückenden Situation von rer Wirtschaft in eine geregelte Wertschöpfungskette be- fast 4,5 Millionen Menschen ohne Arbeit brauchen wir geben kann? hier keine ideenlosen Inszenierungen. Nötig sind Kon- (Dirk Niebel [FDP]: Wir müssen gar nichts zepte, Maßnahmen und Antworten, machen! Sie haben doch eine Mehrheit! Nut- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Fünf zen Sie sie doch!) Jahre Zeit gehabt!) Machen Sie mit, die notwendige Qualifizierung gerade die nachhaltig wirken und auch Unternehmensführungen der vielen Langzeitarbeitslosen so zu gestalten, dass sie, in den Stand versetzen, die Marktfähigkeit von intelli- die Betroffenen, eine Chance auf dem Arbeitsmarkt ha- genten Produkten und Dienstleistungen aus unserem ben und nicht vorrangig die Interessen der am Markt Land vor allen Dingen mit qualifizierten Mitarbeitern agierenden Träger? Machen Sie mit, über 70 Prozent der real und tatsächlich zu erhalten oder wiederherzustellen. Unternehmen in Deutschland zu motivieren, sich der Das ist die einzige Chance, den Menschen in unserem Verantwortung für die Generation der jetzigen Schulab- Land Arbeit und soziale Sicherheit zu verschaffen. gänger zu stellen? Und wenn diese das nicht tun: Ma- chen Sie dabei mit, Konsequenzen zu ziehen? (Manfred Grund [CDU/CSU]: Auf geht es!) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wer regiert Wie sieht die Realität in diesem Land aus, leider auch denn eigentlich?) bei der Opposition? Jedwede Interessenvertretung in un- serem Land beteiligt sich scheinbar hoch motiviert und Statt den Bundestag als Plattform für ideologische Aus- von Einsichtsnotwendigkeit getrieben an der Präsenta- einandersetzungen zu sehen, ist das Mitmachen gefragt, tion ihrer Vorschläge, die unter vielfältigen Überschrif- um ganz real dafür zu sorgen, dass junge Menschen nach ten laufen: Bürokratieabbau, Subventionsabbau, Deregu- ihrer Schullaufbahn eine Perspektive geboten bekom- lierung oder Bewahrung alles Alten. Letztendlich men. 3538 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Hans-Werner Bertl (A) Mir fallen noch viele Fragen ein, die ich Ihnen als Op- Um Investitionen in das Jobfloater genannte Wertpapier, (C) position stellen könnte, auf die wir bis heute keine Ant- das besser „Jobflopper“ genannt werden sollte, attraktiv wort bekommen haben. zu machen, sollen Anleger steuerliche Vorteile erhalten. Das Konzept war von Anfang an verfehlt. Die Neuein- (Dirk Niebel [FDP]: Machen wir eine Oppositi- stellungen werden subventioniert. Trotz dieses zweifel- onsbefragung! Das ist doch mal was anderes!) haften Ansatzes wurden in den neuen Ländern nicht ein- – Ja, man müsste eine Fragestunde für Fragen an die Op- mal 500 Neueinstellungen erreicht. Inwieweit es sich position einführen, dann hätten wir es manchmal etwas hierbei um reine Mitnahmeeffekte handelt, kann nur ver- leichter. mutet werden. Die Kunstjobs aus dem Hartz-Paket hät- ten am Markt ohne Staatssubvention keine Überlebens- (Lachen bei der CDU/CSU und FDP) chance; mit Staatssubvention machen sie dem Mittel- Ich kann Ihnen nur eines sagen: Die Flucht in die al- stand ungebührlich Konkurrenz. ten Antworten hilft nicht weiter. Wir werden Antworten geben müssen und Wege gehen müssen, die vielleicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- unbequem sind. neten der FDP) (Zuruf von der CDU/CSU: Ihre Antworten! – Es war klar, dass sich mit den vorgeschlagenen För- Dirk Niebel [FDP]: Sie streiten sich doch unter- derprogrammen die hartnäckigen Strukturprobleme am einander!) Arbeitsmarkt im Osten nicht lösen lassen würden. Un- sere Wirtschaft ist überwiegend mittelständisch struktu- Auch Sie als Opposition werden sich vor diesen Antwor- riert und hat wenig Eigenkapital. Gerade die Klein- und ten nicht drücken können. Mittelbetriebe leiden unter der hohen Bürokratiebelas- Vielen Dank. tung sowohl auf der Kosten- als auch auf der Personal- seite. Während der Mittelstand den vollen Kapital- und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eigentümerrisiken ausgesetzt ist, bürgt der Staat für die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) finanziellen Risiken seiner Unternehmen. So wird der Wettbewerb zulasten des Mittelstandes verzerrt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der permanente Ruf nach dem Staat zur Korrektur Das Wort hat die Abgeordnete Vera Lengsfeld. unbefriedigender Marktergebnisse ist das falsche wirt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schaftspolitische Signal und verringert die Fähigkeit, un- ternehmerische Antworten im Markt selbst zu finden. (B) Vera Lengsfeld (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Der Staat muss endlich Rahmenbedingungen setzen, die legen! Seit Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung die Kräfte der Selbstregulierung in der Wirtschaft stär- ist die Schere zwischen den alten und den neuen Ländern ken. Interventionistische Eingriffe müssen auf ganz we- weiter aufgegangen und die Arbeitslosigkeit erreicht mit nige Ausnahmen beschränkt bleiben. 108 000 Arbeitslosen mehr als vor einem Jahr neue Re- kordhöhen. Das als Wunderwaffe angepriesene Hartz- (Klaus Brandner [SPD]: Die Rede hätten Sie Konzept entpuppt sich besonders in den neuen Ländern Anfang der 90er-Jahre halten sollen!) als Rohrkrepierer. – Dazu hatte ich seinerzeit noch gar keine Gelegenheit. Nehmen wir doch einmal, Herr Kollege Brandner, die von Ihnen gelobten Personal-Service-Agenturen, von (Klaus Brandner [SPD]: Aber Sie hätten dafür denen ja erst wenige gegründet sind. Ich sage Ihnen: eintreten können!) Diese PSA sind Staatswirtschaft à la DDR. – Jetzt können Sie einmal zuhören, Herr Kollege, jetzt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommen nämlich meine Vorschläge. Sie werden nicht funktionieren, denn sie bringen die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Menschen in staatliche Abhängigkeit statt in Arbeit. Angesichts der katastrophalen Situation am Arbeits- (Klaus Brandner [SPD]: Wir müssen das aus- markt ist Mut gefragt, der Mut, unpopuläre Maßnahmen baden, was Kohl an Luftblasen versprochen endlich einzuleiten. hat!) (Jörg Tauss [SPD]: Ja, welche?) Ein Vorhaben von Herrn Hartz war, mithilfe einer Ka- pitalmarktanleihe der Kreditanstalt für Wiederaufbau – Hören Sie doch zu, ich sage es Ihnen ja jetzt! 150 Milliarden Euro zur Förderung des Mittelstandes (Jörg Tauss [SPD]: Da sind wir gespannt!) und zum Ausbau der Infrastruktur in Ostdeutschland zu beschaffen. So sollten 1 Million neue Arbeitsplätze ent- Wir brauchen in den neuen Ländern mehr Freiräume, stehen. um den Rückstand bei Wachstum, Beschäftigung und Produktivität aufzuholen. (Klaus Brandner [SPD]: Kohl hatte blühende Landschaften versprochen, auf denen Sie ge- (Klaus Brandner [SPD]: Sie wollen, dass die baut haben! Und was hat er uns hinterlassen?) Arbeitsmarktzuschüsse reduziert werden! Das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3539

Vera Lengsfeld (A) ist Marktwirtschaft pur im Osten! Das haben Zudem sind arbeitsmarktpolitische Aktivitäten teuer. (C) Sie den Menschen versprochen!) Diese Mittel wären für Investitionen besser eingesetzt. Weil Arbeitsmarktpolitik nicht flächendeckend durchge- Wichtige Schritte auf diesem Weg sind Bürokratieabbau, führt werden kann, ist sie außerdem ungerecht. Die Senkung der Lohnnebenkosten, Deregulierung des Ar- ABM kaschieren viel. Der Druck wird kurzzeitig gemil- beits-, Bau- und Planungsrechts und vor allem die Flexi- dert; die Probleme werden aber nicht gelöst. Dabei ist bilisierung des Arbeitsmarktes. Das Problem in den Problemlösung doch das, was wir von der Regierung neuen Ländern ist der unflexible Arbeitsmarkt. Internati- wirklich erwarten können. onale Vergleiche zeigen deutlich, dass mit einer geringe- ren Regulierungsdichte auf dem Arbeitsmarkt höhere (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Beschäftigung möglich ist. Barrieren für Neueinstellun- neten der FDP) gen bei Betrieben müssen fallen. Die Bundesländer benötigen mehr Spielräume. In vie- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: len Bereichen ist die Zeit bundeseinheitlicher Regelun- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anja Hajduk. gen überholt. Ersten Initiativen der mitteldeutschen Län- der über den Bundesrat, die Lage in Deutschland zu Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): verändern, werden weitere folgen. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Wir brauchen in den neuen Ländern – mehr als Herren! Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist wahrlich dra- anderswo – eine grundlegende Reform des Arbeitsmark- matisch. Die uns gestern vorgestellten Zahlen markieren tes. Nötig sind: Reform der Tarifpolitik, flexiblere For- einen traurigen Höchststand. Aber ich glaube, statt im men der Entlohnung, Änderung in der betrieblichen Mitbe- Parlament einen Streit über diese Fakten zu entfachen, stimmung, flexiblere Reformen der Arbeitszeitgestaltung, sollten wir alle diese Fakten unseren Debatten zugrunde grundlegende Reform des Umschulungs- und Weiterbil- legen. Das heißt aber auch – das sage ich jetzt in Rich- dungsbereiches für Arbeitslose und konsequente Durch- tung Opposition –: Der Streit sollte sich nicht in dem forstung von Verordnungen und Vorschriften, die den Vorwurf erschöpfen „So haben sich die Zahlen entwi- Arbeitsmarkt belasten. ckelt, so dramatisch ist die Lage!“, Hauptstreitpunkt sollte vielmehr sein, mit welchen Instrumenten wir die Wir müssen auch die ABM überdenken. Wenn Herr Lage verändern können. Gerster, der bislang eher als Raumausstatter der Nation aufgefallen ist, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Dirk (B) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- Niebel [FDP]) (D) wie bei Abgeordneten der FDP) Wir sollten über alternative Instrumente diskutieren und vorschlägt, die Zahl der Teilnehmer an Beschäftigungs- streiten, anstatt nur den Vorwurf zu wiederholen: Es ist programmen wieder zu erhöhen, ist das genau der fal- ein Höchststand erreicht. – Denn zu allen Zeiten lassen sche Weg. Wir kommen an einem Umdenken nicht vor- sich Höchststände errechnen. bei. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren und sind leider selten die erhoffte Brücke in die reguläre Beschäf- (Dirk Niebel [FDP]: Das sagen Sie mal dem tigung. Ganz im Gegenteil: Sie sind eher eine Fortset- Brandner! Er sagt, alles wird gut!) zung des Sozialismus mit Westgeld. Der Sozialismus Diesen Anspruch habe ich an die Opposition, aber auch – das sage ich Ihnen – wird auch mit Westgeld nicht an uns selbst. Wir sind gut beraten, wenn wir der drama- funktionieren. tischen Lage Rechnung tragen und sie der betroffenen (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Öffentlichkeit deutlich machen. Gudrun Kopp [FDP] – Klaus Brandner [SPD]: (Franz Romer [CDU/CSU]: Dann schlagen Sie Wer hat ihn denn eingeführt? Das ist ja ein doch mal was Vernünftiges vor!) Eingeständnis Ihrer unqualifizierten Politik!) – Ich komme jetzt zu den Vorschlägen. Es gibt ernst zu nehmende Anzeichen dafür, dass sich die Beschäftigungschancen verschlechtern und Teilneh- Es ist keineswegs so, als gebe es keine Vorschläge. mer an Maßnahmen ihre Suchbemühungen reduziert ha- Ganz im Gegenteil: Die Agenda 2010, die jetzt zur Dis- ben. kussion steht, und die Entscheidungen, die wir im Rah- men der Umsetzung des Hartz-Konzeptes getroffen ha- (Anhaltende Zurufe von der SPD) ben, sind ohne Alternative. Die dramatischen Zahlen bestärken uns darin, mit den Reformen weiterzugehen. – Ja, sicher. Ich kritisiere das ganz allgemein. Aber ge- rade habe ich mich darauf bezogen, dass Sie dabei sind, (Dirk Niebel [FDP]: Gucken Sie nicht zu uns! die Mittel dafür wieder zu erhöhen, statt sie abzubauen. Gucken Sie zu den anderen!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster – Wir machen das. Ich gucke zu Ihnen, weil Sie vorhin [SPD]: Sehen Sie zu, dass Sie genau diesen gesagt haben, all diese Bausteine würden nicht wirken. Standpunkt in Ihrem Wahlkreis vertreten – so- Zu dieser Aussage lassen sich leider auch einige Redner fern Sie einen haben!) der Union immer wieder hinreißen. Das ist aber falsch. 3540 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Anja Hajduk (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN des- und der Länderebene. Deswegen werden Sie erle- (C) und bei der SPD) ben, dass wir Ihre Vorschläge konstruktiv aufnehmen. Denn es nützt gar nichts, wenn wir uns gegenseitig für Das wissen auch Sie; denn Sie haben einige Vorschläge schwierige Situationen verantwortlich machen. In dem ganz bewusst mitgetragen. Bei den Minijobs haben Sie Moment, in dem wir einen Vorschlag zu einer Verände- sogar einige Vorschläge formuliert, bevor wir es getan rung machen, erwarte ich von Ihnen, dass Sie bei dieser haben. Veränderung zum Teil mitmachen oder Alternativen ein- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Genau bringen, die wir dann konkret bewerten können. die laufen!) (Dirk Niebel [FDP]: Wir sind da schon weiter! Ist es denn schlimm, wenn wir Ihnen heute Recht geben? Wir haben sie schon eingebracht!) Lassen Sie uns doch ehrlich sagen, welche Instrumente es zur Lösung der Probleme gibt! Eines ist für mich ausschlaggebend und klar: Wir müssen den Faktor Arbeit entlasten. Ein größeres Pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN blem als die steuerliche Belastung ist die Belastung und bei der SPD) durch die Lohnnebenkosten. Wir befinden uns in einem Dabei sollten Sie dann bitte aber auch mitmachen. Teufelskreis steigender Arbeitskosten, was Arbeitslosig- keit bewirkt, unterdurchschnittliches Wachstum gene- (Dirk Niebel [FDP]: Lassen Sie uns doch gleich riert und zu großen Finanzproblemen führt. Um aus die- das Original machen! Treten Sie ab!) sem problematischen Kreislauf herauszukommen, müssen wir die Lohnnebenkosten senken. Es gibt Unterschiede; über diese sollten wir streiten. Aber Sie verteufeln aus der Opposition heraus immer al- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie steigern sie les. Davor möchte ich Sie warnen. Denn ich sagte: Die doch gerade!) Lage ist dramatisch. Die Erwartung der Bürger richtet sich an alle Politiker in der Opposition und in der Regie- Wir kommen um schwere Einschnitte nicht herum. rung. Natürlich sind wir in der Regierung besonders ver- Vor dem Hintergrund, dass wir eine alternde Gesell- antwortlich; das will ich nicht leugnen. schaft sind – auch das ist ein wichtiges Thema –, brau- ( [CDU/CSU]: Mit uns können Sie chen wir reden! Das ist kein Problem!) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Mehr Ich will Sie auf noch etwas hinweisen: Obwohl wir Kinder!) bestimmte Schritte gehen, zum Beispiel die Agenda (B) 2010 und auch die Hartz-Reformen – auch Sie wissen, wesentlich mehr Investitionen und Innovationen. Wir (D) dass das teilweise noch nicht wirken konnte, weil die brauchen neue Freiräume in einem beengten Haushalt, Gesetze erst in Kraft treten müssen; wir hoffen, dass sie um zukünftig mit weniger Arbeitsplätzen die volkswirt- wirken werden –, steht eines fest: Es gibt in der Arbeits- schaftliche Basis zu erwirtschaften, die wir für eine al- marktpolitik keine Wunder. Wir sollten der Öffentlich- ternde Gesellschaft brauchen. keit ehrlich sagen: Eine Besserung wird erst nach dem Dazu gehört extrem viel Kooperation im politischen nächsten Wahltag erfolgen. Diese Ehrlichkeit sollten wir Feld. Ich freue mich, dass Sie mir in einigen Punkten haben. Denn Reformen in solch einem Gebiet sind nicht meiner Rede sehr viel Zustimmung haben zukommen falsch, wenn sie nicht kurzfristig wirken. Vielmehr soll- lassen. Damit wäre vielleicht ein Grundstein für die ten wir alle ehrlich genug sein, zu sagen: Wir werden in nächsten Monate gelegt. Deutschland in der Arbeitsmarktpolitik über mehrere Jahre ein Problem haben. Wir sind gut beraten, da keine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN falschen Erwartungen zu wecken. und bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: An uns soll es nicht liegen! – Wolfgang Meckelburg Trotzdem brauchen wir Reformen. Dass es keine ar- [CDU/CSU]: Das hätten Sie schon vor Jahren beitsmarktpolitischen Wunder gibt, das wissen Sie selbst haben können!) aus der langen Zeit Ihrer Kohl-Regierung. Herr Kuhn hat zu Recht darauf hingewiesen, dass auch Sie bei günsti- geren Wachstumsbedingungen eine schlechte Bilanz hat- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ten. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gesine Lötzsch. Deswegen sage ich: Es gibt keine arbeitsmarktpoliti- schen Wunder. Aber Reformschritte sind notwendig; wir Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): brauchen sie. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie auffordern, konkrete Alternativen zu benennen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt guten Grund, sich über die dramatischen Arbeitslosen- (Dirk Niebel [FDP]: Haben wir schon! Liegt zahlen zu erregen. Doch ich verstehe nicht, warum das als Bundestagsdrucksache vor!) gerade die Damen und Herren von der CDU/CSU tun. Dann können wir zusammen etwas machen. Sie haben noch kein Rezept gegen die Arbeitslosigkeit vorgetragen. Was Sie als Alternative zur Agenda 2010 Denn wir brauchen für sehr viele Reformen Koopera- vorgelegt haben, ist nicht besser, sondern nur grausa- tion. Wir brauchen eine Kooperation zwischen der Bun- mer. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3541

Dr. Gesine Lötzsch (A) Ein Beispiel: Die Regierung will das Arbeitslosen- Zweitens. Die sozialen Sicherungssysteme müssen (C) geld auf das Niveau der Sozialhilfe kürzen. auf eine breitere Basis gestellt werden. Weil viele nicht einzahlen, steht weniger Geld für die Allgemeinheit zur (Dirk Niebel [FDP]: Die Arbeitslosenhilfe! Verfügung. Das ist ein Unterschied!) Drittens. Wir wissen doch alle, dass nicht mehr Arbeit – Genau, die Arbeitslosenhilfe. Gut, dass Sie genau zu- entstehen wird und die Arbeit, die jetzt geleistet wird, hören, Herr Kollege Niebel. Das finde ich Klasse. aufgrund der Erhöhung der Produktivität in immer kür- (Dirk Niebel [FDP]: Deswegen sitze ich ja zerer Zeit erledigt werden kann. Ein wichtiger Schritt hier! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: wäre folglich eine drastische Arbeitszeitverkürzung. Wir verfolgen alles ganz genau!) Diese sollte als Prinzip durchgesetzt werden. Ein alter Vorschlag – ich erwähne ihn hier erneut –, der den Kom- Dies ist eine alte Forderung der CDU/CSU. Das reicht munen sofort helfen würde, ist, ein kommunales Investi- Ihnen aber jetzt nicht mehr. Sie fordern die Absenkung tionsprogramm aufzulegen, damit die Infrastruktur aus- der Sozialhilfe um 30 Prozent, wenn ein Sozialhilfeemp- gebaut und gesichert werden kann. fänger eine bestimmte Arbeit ablehnt. Druck auf Arbeitslose und Kürzung der Mittel – das (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig ist sehr fantasielos. Ich glaube, es gibt viele gute Vor- so!) schläge. Wenn man genügend Fantasie aufbringt, ist es Dafür erhalten Sie in bayerischen Bierzelten sicherlich möglich, diese Vorschläge in die Realität umzusetzen. viel Beifall. Vielen Dank. (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Nicht nur (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – dort!) Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie befinden sich, so glaube ich, in vielen Fällen Schütterer Beifall!) neben der Realität. Schauen wir uns einmal das Heimat- land von Frau Merkel, Mecklenburg-Vorpommern, an. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dort kommen auf einen Arbeitsplatz 22 Erwerbslose. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Fuchs. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: PDS-Re- (Beifall bei der CDU/CSU) gierung!) 100 000 Menschen bekommen eine Arbeitslosenhilfe Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): (B) von durchschnittlich 469 Euro und 44 000 Menschen be- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (D) kommen eine Sozialhilfe von durchschnittlich 279 Euro. Herren! Frau Hajduk, ich muss Ihnen einen gewissen (Dirk Niebel [FDP]: Wie viele beziehen bei- Realitätsverlust vorwerfen. Sie reden davon, die Lohn- des, sodass man es sinnvollerweise zusam- nebenkosten zu senken, menziehen sollte?) (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Merkel will von den 279 Euro noch 30 Prozent ab- Das ist das Ziel!) ziehen. während heute in den Zeitungen steht, dass Sie sie stei- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ger. Die Beiträge zur Rentenversicherung werden im stimmt nicht! Sie erzählen Unsinn!) nächsten Jahr um 0,3 Prozent steigen, die Beiträge zu den Krankenversicherungen um 0,7 Prozent. Dann bleiben noch 195 Euro zum Leben. So viel bezahlt (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Merkel für ein ordentliches Abendessen in einem Berliner Luxusrestaurant. Wollen Sie sie noch weiter steigern?) Sie ziehen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Ich frage Sie: Wie soll davon ein Mensch in Würde mit diesen Maßnahmen das Geld aus der Tasche. Ma- leben? Es kommt aber noch schlimmer: Der Chef der chen Sie den Bürgern nichts vor. Bundesanstalt für Arbeit, Herr Gerster, legt Quoten für Sperrzeiten fest, wie die „Wirtschaftswoche“ berichtet. (Beifall bei der CDU/CSU – Anja Hajduk Das heißt, jeder nichtige Grund wird jetzt genutzt, um [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie den Arbeitslosen das Arbeitslosengeld zu sperren. Das sie nicht senken?) Ergebnis sind nicht weniger Arbeitslose, sondern Ar- Herr Brandner, ich muss mich an Sie wenden. Wissen beitslose, die weniger Geld bekommen. Sie, warum wir Aktuelle Stunden brauchen? Wir brau- Dabei gibt es eine Menge Alternativen: Erstens. Wir chen sie, weil Sie keine Gesetze vorlegen, über die wir müssen Steuergerechtigkeit herstellen. Es müssen dieje- diskutieren können. Jetzt beginnen Sie Diskussionen, die nigen besteuert werden, die genug Geld haben. Ich kann sich bis zum 1. Juni hinschleppen. Am 1. Juni werden es auch gern wiederholen: Ein Baustein ist die Wieder- wir sehen, was von der Agenda 2010 übrig bleibt. Herr einführung der Vermögensteuer, die von der rot-grünen Niebel hat völlig zu Recht gesagt, es werden zwei Zehn- Koalition bereits in der Koalitionsvereinbarung von tel sein. Dann werden wir erleben, welche Bestandteile 1998 festgeschrieben wurde. Sie verzichten auf 10 Milli- der Agenda 2010 als Gesetzentwürfe eingebracht wer- arden Euro pro Jahr für die öffentlichen Haushalte. den. Wie lange wird das dauern? Es wird sicher nicht 3542 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Michael Fuchs (A) mehr vor der Sommerpause passieren; nein, wir werden blem, es wird schon besser; die Hoffnung bleibt uns ja (C) die Gesetzentwürfe irgendwann im September im Parla- noch“, kann nicht richtig sein. ment beraten. Ab 1. Januar sollen sie wirken. Zu diesem Ich nenne noch einen Punkt: Sie versuchen jetzt, im Zeitpunkt wird es wahrscheinlich 5 Millionen Arbeits- Osten ein Jobprogramm für 100 000 Arbeitslose aufzu- lose geben. legen, um sie mittels der alten Auffanggesellschaften in (Dirk Niebel [FDP]: Das ist eine optimistische Scheinbeschäftigung zu halten. Betrachtung!) (Dirk Niebel [FDP]: Finanziert mit einer Steu- So sieht das Nichtstun Ihrer Koalition aus. Ich finde das ererhöhung!) äußerst bedauerlich und es ärgert mich gewaltig. Das wird zu nichts anderem führen, als dass eine weitere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Milliarde Euro, die durch Steuern bezahlt wird, weg sein Klaus Brandner [SPD]: Herr Fuchs, wir wer- wird. Genau das brauchen wir nicht. den Sie beim Wort nehmen, wenn Sie uns hel- fen können, die Gesetze zu verabschieden!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Wenn Sie zuhören würden, würden Sie es endlich ver- Zum Osten fällt mir noch ein zweiter Punkt ein, der stehen. Das ist auch notwendig. mich besonders bestürzt. Herr Brandner, ich hätte gerne Ihre Hilfe als IG-Metall-Mitglied. Es kann nicht sein, Herr Kuhn, Sie haben hier von Arbeitsmarktmaßnah- dass man in einer Situation, in der die Arbeitslosigkeit in men, so beispielsweise von den PSA, gesprochen. Was Kommunen 20 Prozent und mehr beträgt – die Kollegin ist denn dabei herausgekommen? Ich habe in meinem Lengsfeld hat das vorhin beschrieben –, anfängt zu strei- Wahlkreis nachgefragt. Es gibt zurzeit keine einzige ken, um eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- PSA. Wahrscheinlich wird es welche nach der Sommer- ausgleich zu erreichen. Damit wird der einzige noch ver- pause geben. In Rheinland-Pfalz rechnet man mit 49 bliebene Standortvorteil der Regionen im Osten PSA nach der Sommerpause. vernichtet, deren Wettbewerbsfähigkeit jetzt noch besser In Ihrem Papier steht, es sollen in drei Jahren 750 000 ist als die mancher Regionen im Westen und vor allen Arbeitsplätze geschaffen werden. Jetzt gehen Sie von Dingen besser als die der EU-Beitrittsländer. 50 000 Arbeitsplätzen aus und selbst diese Zahl werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie nicht erreichen. Es gibt 15 900 Bewilligungen für Ich-AGs. Lassen Sie nicht zu, dass das kaputtgemacht wird. Hier erwarte ich Ihre Hilfe, Herr Brandner. Es wäre not- (Klaus Brandner [SPD]: Worin haben Sie gele- wendig, dass Sie die IG Metall dabei auf den Boden der (B) sen?) Realität zurückführen und hier nicht noch zusätzlich Ar- (D) Die Umsetzung des Hartz-Konzeptes hat bisher nichts beitsplätze kaputtgestreikt werden. bewirkt. Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt sind gewaltig, (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: aber Sie finden nur Lösungen – hier bin ich besonders Ihre Rede bewirkt schon einiges!) von den Grünen enttäuscht, Frau Hajduk – für die Wäh- ler von heute, aber nicht für die Kinder von morgen. Wir haben eine durchschnittliche Arbeitslosigkeit von 4,6 Millionen in diesem Jahr. Das sind rund 500 000 (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mehr als in Ihren Prognosen. Das zeigt uns, wie drama- Das müssen Sie sagen! Das aus Ihrem Mund!) tisch die Probleme der Arbeitslosenversicherung sind. Das ist eine Politik nach dem Motto „Kinder haften für (Klaus Brandner [SPD]: Herr Fuchs, haben Sie ihre Eltern“. So sollte es nicht weitergehen. Machen Sie die Hartz-Gesetze mit beschlossen?) damit endlich Schluss und bringen Sie den Arbeitsmarkt in Ordnung. Sie haben Zuschüsse bei Neueinstellungen älterer Ar- beitnehmer beschlossen. Die Bundesanstalt hat bisher Vielen Dank. 363 solcher Fälle registriert. Bei 1,146 Millionen Ar- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – beitslosen über 50 Jahre machen diese 363 Fälle gerade Hans-Werner Bertl [SPD]: Entschuldigen Sie einmal 0,03 Prozent aus. Aber mit Promille kennt sich sich bei dem Kollegen Brandner für Ihre fle- Herr Brandner besser aus, also: 0,3 Promille. gelhafte Bemerkung!) Dazu kann ich Ihnen nur eines sagen: Warum gehen Sie nicht auf die hohe Zahl der Pleiten ein? In Deutsch- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: land wird es in diesem Jahr 42 000 Pleiten geben. Das Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär sind pro Tag 115 Unternehmen und mindestens Gerd Andres. 1 000 Stellen, die in Deutschland durch Pleiten wegfal- len. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- (Hans-Werner Bertl [SPD]: Vielleicht ent- nister für Wirtschaft und Arbeit: schuldigen Sie sich mal!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Das ist die Realität. Darüber zu spaßen und zu sagen: Herren! Die Themenpalette dieser von der CDU/CSU- „Die 4,5 Millionen Arbeitslose sind kein großes Pro- Fraktion beantragten Aktuellen Stunde ist breit. Offen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3543

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) sichtlich ist es zwischenzeitlich auch der Opposition be- Ich erinnere Sie an eine Debatte – auch das war eine (C) wusst geworden, dass für die zum Ritual jeder Sitzungs- Aktuelle Stunde –, die vor genau einem Jahr stattgefun- woche gewordene Aktuelle Stunde die aktuelle den hat. In ihr wurde von Ihnen der Vorwurf erhoben, die Arbeitsmarktlage als Thema nicht mehr ausreicht. Also Bundesregierung plane eine Statistikbereinigung, um die schaut man die Presse durch und packt noch ein paar Arbeitslosenstatistik zu fälschen und die Arbeitslosen- Dinge drauf oder man inszeniert sie sogar. zahlen künstlich nach unten zu drücken. Ein wunderbares Beispiel dafür war der Abgeordnete (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ha- Singhofer. ben Sie doch vorgehabt!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Singhammer Das ist eine Doppelbödigkeit von Ihnen. oder Seehofer!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Entschuldigung. Er ist ein Hammer, der Hofer ist ein DIE GRÜNEN) anderer. Wenn Sie der Meinung sind, wir müssten hier etwas än- (Dirk Niebel [FDP]: 4,5 Millionen Arbeits- dern, legen Sie doch einen Entwurf dazu auf den Tisch. lose und der Staatssekretär macht Dönekes! – Dann werden wir auch darüber reden. Aber ich sage Ih- Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ein biss- nen: Wir brauchen Ihren Entwurf eigentlich nicht, weil chen Niveau, Herr Staatssekretär!) wir mit der Umsetzung von Hartz III genau das machen Auf den komme ich noch zu sprechen. Jetzt komme ich werden. zu dem Kollegen Singhammer. Damit bin ich beim nächsten Thema, auf das ich zu Herr Singhammer, Sie sind das klassische Beispiel für sprechen kommen möchte. Hier finde ich die gleiche Desinformation und Doppelbödigkeit. Das sage ich Ih- Doppelbödigkeit vor, die mich – entschuldigen Sie, Frau nen hier. Lengsfeld – anwidert. Sie haben en passant die Formu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lierung verwendet, wonach Herr Gerster der Raumaus- statter der Nation ist. Sie haben die Statistikdebatte über das „Handelsblatt“ angefacht. Darin werden Sie sogar zitiert. Auch in Ihrem (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Redebeitrag hier haben Sie mit Einsparungen in Höhe – Lachen Sie nur freundlich. Ich hätte Ihnen empfohlen, von 7 Milliarden Euro gerechnet. sich vorher zu informieren, bevor Sie diese Bemerkung Ich lese Ihnen einmal einen kurzen Absatz aus einem nebenbei fallen lassen und die Union dies zum Anlass ei- (B) Brief des Präsidenten des Bundesrechnungshofes vor. Er ner Aktuellen Stunde nimmt. (D) lautet: (Zuruf von der CDU/CSU: Seien Sie doch Der Bundesrechnungshof erhebt nicht, wie im nicht so humorlos!) „Handelsblatt“ dargestellt, den Vorwurf, dass so ge- nannte Scheinarbeitslose sich in größerem Umfang Ich will Ihnen sagen, worum es konkret geht, damit aus der Arbeitslosenkasse bedienen. Auch die im alle wissen, worüber wir reden. Es geht zum einen um „Handelsblatt“ genannte Zahl den Aufbau von zwei modernen Konferenzsälen mit der dafür notwendigen Infrastruktur. Dafür sind 2,3 Millionen – von Ihnen hier wiederholt und vorgerechnet – Euro bei der Bundesanstalt für Arbeit eingeplant. Diese von 7 Milliarden Euro an möglichen jährlichen Ein- Maßnahme entspricht vor allem dem Wunsch von Pres- sparungen ist abwegig, weil es sich bei den unter- severtretern, endlich zumutbare Arbeitsbedingungen zu suchten Gruppen von arbeitslos Gemeldeten über- erhalten. Die Bundesanstalt braucht diese Konferenz- wiegend nicht um Bezieher von Leistungen der technik dringend. Zum anderen erhalten die drei Vor- Bundesanstalt für Arbeit handelt. standsmitglieder Arbeitsräume auf einer Ebene. Dafür sind 295 000 Euro vorgesehen. Guten Tag, Herr Singhammer. Ich kann nur sagen: Was Sie hier machen, ist so was von doppelbödig. Wenn in einem solchen Zusammenhang angesichts der hohen Arbeitslosigkeit der Vorwurf laut wird – das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des unterstützen Sie auch noch –, diese Vorhaben hätten et- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) was von goldenen Wasserhähnen an sich, dann ist das Ich nenne noch einen zweiten Punkt, die Statistikdebatte. schlicht hinterhältig. Wir alle wollen doch, dass die Bun- Bitte nehmen Sie mir ab, dass ich davon persönlich tief desanstalt für Arbeit zu einem modernen Dienstleister betroffen bin. Wir sind uns doch einig – wenn wir unterei- am Arbeitsmarkt ausgebaut wird und nander darüber reden –, dass in der Arbeitslosenstatistik (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das Fälle enthalten sind, die nicht in diese Statistik hineinge- fängt in der Vorstandsetage an!) hören. Diese wurden – das will ich als kurze Anmerkung sagen – in Ihrer Regierungszeit dort hineingebastelt. Sozi- dass die Strukturen umgebaut werden. Wir konnten es alrechtsinduzierte Arbeitslosigkeit gehört aus der Statistik überall lesen: Die Bundesanstalt ist ein grauer Betonbau heraus. Wieso sind dort zum Beispiel Empfänger von aus den 70er-Jahren – er ist mittlerweile 30 Jahre alt –, Kindergeld enthalten? Ich könnte noch andere Beispiele der an einen stalinistischen Bau aus den Vorstädten von nennen. Wladiwostok erinnert. Wenn der Vorstand Bemühungen 3544 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) unternimmt, sich vernünftige Arbeitsbedingungen zu bar! Dann müssen Sie diese Entwicklung zu- (C) schaffen, dann halte ich das für richtig. grunde legen! Sie haben überhaupt keine Ahnung!) (Dirk Niebel [FDP]: Da haben Sie Recht! Aber lassen Sie uns nun über die Arbeitslosigkeit re- – Beim Haushalt ist es etwas anders gewesen, falls Sie den!) das noch nicht verstanden haben, Herr Kollege. Die Eck- daten hierzu stammten vom Oktober. Als wir diese bera- Dass es dort keine goldenen Wasserhähne geben wird, ten haben, war nicht absehbar, wie die internationale darauf werden sowohl der Rechnungsprüfungsausschuss Entwicklung und andere Bedingungen aussehen würden. als auch der Haushaltsausschuss achten. Also auch hier: Fehlanzeige. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Die Trockenheit! – Dirk Niebel [FDP]: Sie haben (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Tun Sie die Flut vergessen!) jetzt endlich etwas gegen die Arbeitslosigkeit! – Dr. [CDU/CSU]: Jetzt – Ich bin dafür, dass wir sachlich und fachlich vernünftig zum Thema!) reden. – Von der nachlassenden wirtschaftlichen Dyna- mik waren alle Länder in Europa gleichermaßen betrof- Ich komme nun zum Thema der hohen Arbeitslosen- fen. Das können Sie sich anschauen. zahlen im April. Die Ursachen für diese Entwicklung sind vor allem in (Zuruf von der CDU/CSU) den außergewöhnlichen Konstellationen der Weltwirt- – Nein, nein, Herr Kollege, diese Aktuelle Stunde war schaft zu sehen. von Ihnen beantragt. Deswegen bekommen Sie nun auch (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Antworten auf alle Fragen, die Sie haben. 11. September! Irakkrieg!) Gegenüber dem Vormonat ist die Zahl der Arbeitslo- Ich könnte jetzt viele Bedingungen dafür aufzählen. Es sen um 113 000 Personen zurückgegangen. Saisonberei- gibt auch bestimmte Einschätzungen durch die Institute nigt ist sie angestiegen. Es stimmt: Wir haben mit bezüglich der Perspektiven für dieses Jahr. Ich will da- 4,495 Millionen Arbeitslosen eine bedrückend hohe mit gar nicht ablenken. Ich sage Ihnen: Wir brauchen Zahl an Arbeitslosen und es sind die höchsten Aprilzah- eine entsprechende Entwicklung der Weltwirtschaft len mindestens seit der deutschen Einheit. Ich brauche dringend. Wir haben aber nur relativ geringe Einfluss- keine von Ihnen beantragte Aktuelle Stunde, um dies möglichkeiten darauf; auch das muss man wissen. Um- einzugestehen und hier zu erklären. gekehrt brauchen wir auch die Reformen im Inneren, um (B) Diese Zahl macht deutlich, unter welch unglaubli- eine andere Dynamik und Entwicklung in diesem Lande (D) chem Reformdruck wir stehen, zu entfalten. (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Habt ihr Deswegen spreche ich auch das dritte Problem an. es endlich verstanden!) Wir haben Hartz I und II umgesetzt und wir werden Hartz III und IV umsetzen; darauf können Sie sich ver- welchen unglaublichen Reformdruck wir der Gesell- lassen. schaft zumuten müssen und – das erkläre ich für die Bundesregierung – auch zumuten werden. (Dirk Niebel [FDP]: Eins zu zwei oder eins zu drei?) (Dirk Niebel [FDP]: Gut, dass Herr Wiesehügel nicht mehr Mitglied dieses Hauses ist!) Damit wird die Reform der Bundesanstalt weiter voran- getrieben. Wir führen ein neues Leistungsrecht für die Wir befinden uns nämlich in dem Teufelskreis von sich Arbeitslosenversicherung ein und fassen die Instrumente langfristig deutlich abschwächenden Wachstumsraten, des Arbeitsmarkts zusammen. Hartz IV, die Zusammen- einer sich daraus erhöhenden oder verfestigenden Ar- fassung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe, wer- beitslosigkeit und daraus sich ergebenden hohen sozia- den wir ebenfalls umsetzen. Dazu werden wir am kom- len Kosten. Alles zusammen ist Ursache dafür, dass die menden Freitag in der Kommission auch mit Vertretern Wachstumskräfte nicht freigesetzt werden können. der Länder und der Opposition diskutieren. Ich kann Ih- Um das zu erkennen, brauchen wir keine Aktuelle nen versprechen: Wir werden uns zu all diesen Projekten Stunde. Das hat die Bundesregierung im Übrigen auch in diesem Saal und auf anderer Ebene wiedersehen. nicht überrascht; (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: End- (Zurufe von der CDU/CSU: Aha! – Wolfgang lich!) Meckelburg [CDU/CSU]: Deswegen die große Ich habe mir einmal genauer angeschaut, was die Rede am 14. März!) Union will. Sie hat einen großen Einigungsgipfel durch- denn wir haben – bleiben Sie ganz ruhig – bei unserer geführt. Ich halte das für eine tolle Veranstaltung der jüngsten Revision der gesamtwirtschaftlichen Eckwerte zwei Parteien. eine solche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt berück- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir sichtigt. brauchen keine Regionalkonferenzen! – Dirk (Dirk Niebel [FDP]: Das ist in der Haushalts- Niebel [FDP]: Wie heißt das bei Ihnen? Ich gesetzgebung überhaupt nicht nachvollzieh- glaube, Sonderparteitag!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3545

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Bei dem Einigungsgipfel kam etwas heraus, von dem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Herr Merz sagt – das wurde öffentlich zitiert –, dass er DIE GRÜNEN – Dirk Niebel [FDP]: Macht es nicht viel davon hält; auch das werden wir sehen. doch! Wir haben ja gar nichts gegen die Refor- men!) Ich habe mir auch angeschaut, was Sie bei der Ar- beitslosenversicherung vorschlagen. Sie sagen, dass das Arbeitslosengeld bis zu zwölf Monate lang gezahlt wer- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: den soll. In Bezug auf die unter 55-Jährigen gibt es also Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang wahrscheinlich überhaupt keinen Streit mehr. Meckelburg. (Dirk Niebel [FDP]: Mit Herrn Wiesehügel vielleicht! – Wolfgang Meckelburg [CDU/ Wolfgang Meckelburg (CDU/CSU): CSU]: Macht das doch sofort und wartet Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht!) Lieber Herr Staatssekretär Andres, wie sehr müssen Sie eigentlich mit dem Rücken zur Wand stehen, dass Sie Ferner geht es um die Berechnung der Beitragsjahre. hier so reagieren und reden wie gerade? Den Vorschlag von 45 Jahren finde ich toll. Darauf kom- men wir im Verfahren zurück. Ich finde, das wirkt anders (Klaus Brandner [SPD]: Er hat sich aber doch als bei der Rentenversicherung. Sie machen Vorschläge, ganz schön frei bewegt!) bei denen man weder richtig Maus noch Falle ist und die Diese Art des Redens kenne ich aus dem letzten Jahr, weder Fisch noch Fleisch sind. Wir werden darüber re- als es um Ihre Zahlen sehr schlecht bestellt war. Ich den. Genau bei diesen Fragen werden wir uns erneut be- frage Sie: Muss das wirklich so „niveauvoll“ sein, dass gegnen. Sie hier zynisch über Kollegen herziehen? Das muss (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Gerne!) wirklich nicht sein. Bleiben Sie an diesen Stellen bitte sachlich. Wir werden auch durch Strukturreformen auf einem verkrusteten Arbeitsmarkt dafür sorgen müssen, dass (Beifall bei der CDU/CSU) Strukturprobleme gelöst werden. Wir haben die große Mein verehrter Herr Staatssekretär, Sie haben gerade Aufgabe, die Arbeit, die in diesem Lande vorhanden ist, behauptet, die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt habe so zu organisieren, dass sie von den in diesem Lande le- Sie nicht überrascht. Ich frage Sie ernsthaft: Warum benden Menschen legal geleistet werden kann. wurde die Agenda 2010 erstellt und warum wurde eine (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das große Rede gehalten? Warum haben Sie das den Leuten nicht vor der Wahl gesagt, wenn Sie das alles doch nicht (B) müssen Sie der linken Seite des Hauses sagen (D) und nicht uns! Das sind nämlich Ihre überrascht hat? Das ist die Frage, die die Menschen im Ansprechpartner! – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ Land umtreibt. CSU]: Vor sechs Jahren haben Sie noch das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dirk Gegenteil erzählt! Wirklich wahr!) Niebel [FDP]: Das wird im Untersuchungsaus- Sie können sich darauf verlassen: Wir werden die schuss geklärt!) Agenda 2010 genauso wie alle Teile der Hartz-Refor- Wenn Sie sich an uns wenden und Strukturmaßnah- men, die wir schon angekündigt haben, umsetzen. men fordern, dann kann ich dazu nur sagen: Die Türen (Dirk Niebel [FDP]: Weiß das Frau Engelen- bei uns sind weit offen. Sie und die auf der linken Seite Kefer schon?) sitzenden Fraktionen waren es, die sich jahrelang gewei- gert haben, zur Kenntnis zu nehmen, dass Strukturen ge- Deswegen sage ich Ihnen: Es macht immer viel Spaß, al- ändert werden müssen. Das ist Ihr Problem. les mies zu machen. Diese Veranstaltungen sind dazu da, um alles mies zu machen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Vor sechs Jahren haben Sie das Gegenteil von dem er- Ich möchte an dieser Stelle auf die Zahlen nicht wei- zählt!) ter eingehen. Es macht wirklich keinen Spaß mehr, über die Zahlen zu reden. Die Aktuellen Stunden zum Thema Es kommt darauf an, mitzumachen. Das bedeutet, Arbeitslosigkeit sind nötig, weil der Druck von Woche dass auch Sie sich Ihrer Verantwortung für dieses Land zu Woche größer wird. Ich hoffe, Sie spüren ihn. Vor bewusst werden und auf eine Strategie setzen müssen. zwei Jahren haben wir uns darüber ausgetauscht, ob die (Dirk Niebel [FDP]: Wir sind hier nicht auf der Arbeitslosenzahlen unter Kohl oder unter Ihrer Regie- Regionalkonferenz in Hannover!) rungszeit schlechter waren. Diese Zahlen interessieren heute keinen mehr. Die Arbeitslosigkeit ist inzwischen Herr Singhammer, Sie setzen darauf, dass diese Regie- so hoch und das Vertrauen in Ihre Regierung so gering, rung zerrieben wird und abtritt. Ich kann Ihnen vorhersa- dass die Leute den Wunsch haben, dass sich endlich et- gen: Sie können noch lange warten. Wir werden diese was ändert. Aber Sie bringen es nicht fertig. Das ist das Reformen durchführen. Sie werden sich an vielen dieser Problem. Reformen sehr handfest beteiligen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schönen Dank. neten der FDP) 3546 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Wolfgang Meckelburg (A) Wenn ich das Revue passieren lasse, was wir in den Das war natürlich eine Krux. Auf Nachfragen hat Herr (C) letzten viereinhalb Jahren erlebt haben, dann stelle ich Müntefering so getan, als hätten wir nichts angepackt. verschiedene Phasen fest: In einer Phase wurde über die Nein, wir haben einiges auf den Weg gebracht. Probleme möglichst lange geredet, es wurden viele Vor- (Klaus Brandner [SPD]: Nur zu wenig! Das schläge eingebracht und damit die Menschen verunsi- wissen Sie doch auch! Deswegen sind Sie ab- chert. In einer anderen Phase wurde zwar gehandelt, aber gewählt worden!) es waren Hauruck-Aktionen, in der Gesetze in zwei Wo- chen – das ist im letzten Jahr mehrfach passiert – verab- Sie aber haben zu Beginn Ihrer Regierungszeit vor vier- schiedet wurden. Die Vermittlung von Arbeitslosen einhalb Jahren vieles zurückgenommen. Inzwischen ha- durch private Anbieter wurde in zwei Wochen einge- ben Sie mit unserer Hilfe wieder eine Rolle rückwärts führt: ein hektischer Durchgang. Die Einsetzung der gemacht. Herr Kuhn, wissen Sie, warum die Minijobs Hartz-Kommission hat nur zwei Wochen gedauert: ein inzwischen so gut angenommen werden? Weil sie näm- hektischer Durchgang. Die Umsetzung von Hartz I und lich eine Befreiung von den Regulierungen darstellen, Hartz II nach der Wahl im Parlament hat ebenfalls nur mit denen Sie den Arbeitsmarkt vier Jahre lang strangu- zwei Wochen in Anspruch genommen: ein hektischer liert haben. Wir haben über den Vermittlungsausschuss Durchgang. Wenn man sich einmal anschaut, ob diese geholfen, dass die Sache mit den Minijobs so gut läuft. Maßnahmen überhaupt wirken, dann ist dies ein berech- (Klaus Brandner [SPD]: Der Fuchs sagt, das tigtes Anliegen des Parlaments und als Kontrolle der Re- läuft nicht, und bei Meckelburg läuft es! Das gierung notwendig, Herr Staatssekretär. ist ein Ding!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Meine Bitte zum Schluss an die Bundesregierung und der FDP) an die Fraktionen von Rot-Grün: Fangen Sie endlich mit Die mangelnde Glaubwürdigkeit dieser Regierung den Reformen an! Verzichten Sie auf den Parteitag! Hö- versetzt alle miteinander in Starre. Keiner tut mehr rich- ren Sie mit den Regionalkonferenzen auf! Legen Sie die tig etwas. Herr Staatssekretär, wenn Sie die Entwicklung Gesetzentwürfe auf den Tisch! Jeder Tag, der ungenutzt auf dem Arbeitsmarkt schon vorher kannten, dann frage verstreicht, ist ein verlorener Tag für Deutschland. Tun ich mich, warum hier und heute keine konkrete Gesetz- Sie endlich etwas! gebung zur Agenda 2010 vorgelegt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dirk Niebel [FDP]: Wegen Frau Engelen- neten der FDP – Dirk Niebel [FDP], zur SPD- Kefer!) Fraktion gewandt: Sie haben doch ein freies Mandat! Wozu brauchen Sie denn einen Par- (B) Wir könnten in der nächsten Sitzungswoche mit dem, teitag?) (D) was Sie vorhaben, beginnen, wenn Sie die Gesetzesvor- lagen auf den Tische legten. Aber was erleben wir statt- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: dessen? Vier Regionalkonferenzen, Abwarten bis zum Juni, bis der Parteitag der SPD stattgefunden hat. Da- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Karin Roth. nach bleibt bis zur Sommerpause nur noch wenig Zeit. Wir alle miteinander wissen: Was dort vorgeschlagen Karin Roth (Esslingen) (SPD): wird, wirkt erst mittel- und langfristig. Wir verlieren Tag Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! für Tag die Zeit, die notwendig ist, um die Reformen Meine Herren! Herr Meckelburg, angesichts Ihrer Aus- endlich anzupakken. sagen bin ich ein wenig ratlos. (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP]) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ver- stehe ich! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Herr Staatssekretär, ich freue mich schon darauf, dass Sie sind generell ratlos!) wir uns bald wiedersehen werden; denn viele der Vor- schläge, die jetzt als Agenda 2010 – das ist aber nicht Einerseits werfen Sie uns vor, dass wir nichts auf den weitreichend genug – vorgetragen werden, betreffen Weg bringen und nur diskutieren. Maßnahmen, über die wir vier Jahre lang diskutiert ha- (Dirk Niebel [FDP]: Sie haben das Falsche auf ben. den Weg gebracht!) (Dirk Niebel [FDP]: Wir haben sie sogar bean- Andererseits sagen Sie im gleichen Atemzug, dass es Ih- tragt und wurden dafür beschimpft!) nen bei den Hartz-Konzepten zu schnell geht. Sie müs- Auch ein Abgeordneter hat abends die Gelegenheit sen sich schon entscheiden. Ein kräftiges Sowohl-als- fernzusehen. Gestern Abend habe ich daher den ge- auch ist richtig falsch. Es ist gar keine Frage: Wir alle schätzten Kollegen Müntefering im Fernsehen gesehen. hier im Parlament wissen, dass wir in einer äußerst Er wurde mit einer im Bild festgehaltenen Aussage von schwierigen Lage sind. 1993 konfrontiert, die zeigte, wie sich die SPD gegen (Klaus Brandner [SPD]: Aber die CDU rotiert! Änderungen struktureller Art bei der Sozialhilfe, dem Sie hat keinen festen Platz, keinen festen Arbeitslosengeld und anderen Dingen während unserer Standpunkt!) Regierungszeit wehrte. Die Frage, worin die Ursachen für die hohe Arbeitslo- (Dirk Niebel [FDP]: Zehn Jahre verschenkt!) sigkeit liegen, muss beantwortet werden, damit wir die Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3547

Karin Roth (Esslingen) (A) richtigen Maßnahmen treffen. Das bedeutet, dass wir Wir haben gesagt, wir brauchen mehr Geld für Inno- (C) nicht nur die Innenpolitik beachten, sondern auch auf vationen und Investitionen. Einer der Gründe, warum das sehen, was außenwirtschaftlich geschieht. Da ist es wir dafür eintreten, die Gemeindefinanzierungsreform doch unstrittig – es sei denn, Sie lesen nicht die Gutach- nach vorn zu bringen, ist, dass wir wissen, dass insbe- ten des DIW und anderer zur Weltwirtschaft und zur eu- sondere dadurch schnell Arbeitsplätze entstehen. Auch ropäischen Wirtschaft –, dass alle europäischen Länder, diesbezüglich hoffe ich auf einen Konsens in diesem insbesondere die in der Eurozone, die gleichen Schwie- Hause. Aber das Problem ist – Herr Singhammer, jetzt rigkeiten in Bezug auf die Wachstumsrate haben. Das hat komme ich auf Sie zu sprechen –, dass man sich dann sehr viele Gründe; ich will einige nennen. mit der CDU/CSU einigen muss. Allerdings weiß sie nicht so ganz genau, was sie im Bereich der Gemeindefi- Einer dieser Gründe ist, wie wir wissen, dass das nanzierungsreform eigentlich will. Will sie die Gewerbe- Wachstum insbesondere durch den Krieg und die daraus steuer oder will sie sie eigentlich nicht? resultierenden psychologischen und ökonomischen Fol- gen gehemmt worden ist. Das bestreitet kein Mensch, (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Was kein Wirtschaftswissenschaftler und hoffentlich auch Sie wollen Sie denn?) nicht. Das bedeutet, dass wir bei einem Reformprojekt sehr So tragen beispielsweise die Börsenverluste dazu bei, viel Zeit verlieren, das insbesondere den Kommunen dass die Menschen in unserem Land weniger Geld ha- helfen würde, vor Ort über Investitionen Arbeit zu schaf- ben. Dies nicht zu thematisieren wäre ebenfalls falsch. fen, und zwar nicht kreditfinanziert, sondern indem die Kassen der Gemeinden stärker gefüllt werden, wie wir (Dirk Niebel [FDP]: Weshalb wird dann jetzt es alle wollen. die Tabaksteuer erhöht?) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die Steuer Es geht hier also nicht um einen Punkt der Politik für erhöhen!) mehr Arbeitsplätze, sondern darum, dass wir ein Ge- samtpaket von Reformen auf den Weg bringen müssen. Es ist natürlich auch keine Frage, dass im Bereich der Das heißt, wir müssen zunächst und vor allen Dingen Innovationen das Thema Technologieentwicklung eine versuchen, auf der einen Seite die Wachstumsentwick- große Rolle spielt. Auf diesem Gebiet müssen wir auch lung voranzubringen und auf der anderen Seite die Ar- mehr tun; darüber gibt es Konsens, hoffentlich auch im beitsmarktreformen fortzusetzen. Das ist gar keine Parlament. Aber darüber hinaus geht es um die Frage, Frage. welche Maßnahmen wir am Arbeitsmarkt einleiten. (Dirk Niebel [FDP]: So viel zu den Worthül- Wir haben zu Recht gesagt: Wir setzen jetzt Hartz III (B) sen! Wo sind die Gesetzesinitiativen?) und IV um. Es ist zutreffend, dass über den richtigen (D) Weg gestritten wird, aber ich halte es auch für notwen- Zu Recht hat mein Kollege Kuhn darauf hingewiesen, dig, dass wir hier vor allen Dingen diejenigen zur Ver- dass Sie auch einmal in die Statistik der vergangenen antwortung ziehen, die etwas versprochen haben. Das Zeit sehen sollten. Da werden Sie auch sehen, Herr gilt insbesondere für die Wirtschaft im Zusammenhang Meckelburg, mit den Ausbildungsplätzen. Natürlich sind Reformen notwendig – wir leiten sie ein –; aber die Wirtschaft hat (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Ich habe im Rahmen des Bündnisses für Arbeit versprochen, ge- sie hier!) nügend Ausbildungsplätze zu schaffen. Jetzt ist die Wirt- dass beispielsweise unter der Regierung Kohl bei einem schaft an der Reihe, genau diese Ausbildungsplätze ein- Wachstum von über 3 Prozent 4,28 Millionen Menschen zurichten, damit die Jugendlichen eine Zukunftschance arbeitslos waren. haben. Was ist das Wort der Wirtschaft wert, wenn sie dies im Bündnis für Arbeit verspricht, es aber im (Dirk Niebel [FDP]: Jetzt ist gar kein Wachs- Jahr 2003 nicht realisiert? tum mehr da!) (Zuruf von der CDU/CSU: Die sind alle Pleite Im letzten Jahr betrug das Wachstum 0,2 Prozent und im gegangen!) Jahresdurchschnitt waren 4,06 Millionen Menschen ar- beitslos. Es ist also notwendig, dass die Wirtschaft die 70 000 Aus- bildungsplätze, die zurzeit noch fehlen, in den nächsten (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Höhere Monaten schafft, damit davon ein Signal ausgeht. Arbeitslosigkeit, kein Wachstum! – Dirk Niebel [FDP]: Kein Wachstum, kein Konzept, (Dirk Niebel [FDP]: Ziehen Sie die Steuer- keine Hoffnung!) reform vor! Dann wird ein Signal an die Wirt- schaft ausgesandt!) Das heißt nicht, dass wir nichts tun müssten, aber es deu- tet darauf hin, dass wir uns Gedanken darüber machen Die Wirtschaft trägt die Verantwortung dafür, dass es in müssen, wie wir das Wachstum in Gang bringen können, unserem Land qualifizierte Arbeitskräfte gibt. um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. In dieser Hinsicht Lassen Sie mich noch etwas zur Frage sagen, was von haben wir einen richtigen Weg beschritten. der Union kommt. (Dirk Niebel [FDP]: Sie könnten zum Beispiel (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: abtreten! Das wäre eine Möglichkeit!) Nix kommt!) 3548 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Karin Roth (Esslingen) (A) Interessant ist, was alles bei der CDU/CSU diskutiert (Klaus Brandner [SPD]: Dann unterstützen Sie (C) und überlegt wird. Ich greife nur einen Punkt heraus, die also unser Reformprogramm?) kurzfristige Kürzung des Arbeitslosengeldes um 25 Prozent. Auf dieses Problem haben Sie bisher keine wirklichen Antworten gegeben. Die einzige Antwort, Herr Brandner, die die IG Metall für den Teil unseres Vater- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: landes gibt, in dem die Arbeitslosigkeit am höchsten ist, Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit. Sie kön- besagt, auch dort endlich die Arbeitszeit auf 35 Stunden nen nur noch einen Schlusssatz sagen. zu verkürzen. Ich prophezeie Ihnen eines: Wir werden über kurz oder lang darüber nachdenken müssen, ob wir nicht gemeinsam die Arbeitszeit verlängern, um unsere Karin Roth (Esslingen) (SPD): Probleme verkleinern zu können. Durch die fortgesetzte Auch dies gehört zu den Maßnahmen, mit denen vor- Verkürzung der Arbeitszeit ist ein wesentlicher Teil un- gegeben wird, es werde sich etwas ändern. Interessant ist serer Probleme entstanden, weil die Wettbewerbsfähig- aber, dass Herr Merz, der heute nicht da ist, keit der deutschen Volkswirtschaft im internationalen Vergleich kaputtgegangen ist. Darüber werden wir also (Dirk Niebel [FDP]: Doch, er war da!) noch reden müssen. diesen Punkt schon wieder zurückgenommen hat. Man Ich hätte von der Bundesregierung gern etwas dazu darf darauf gespannt sein, ob von der Union mehr Rheto- gehört, ob sie die Entwicklung hin zur 35-Stunden-Wo- rik oder mehr Vorschläge kommen. Wir zählen auf Ihre che in den neuen Ländern begrüßt und als einen Beitrag Vorschläge, werden aber fortdauernd prüfen, ob Sie Ihre zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ansieht oder nicht. Vorschläge am Ende im Bundesrat mit uns gemeinsam Wenn es richtig wäre, dass die Verkürzung der Arbeits- umsetzen. zeit zum Abbau der Arbeitslosigkeit beiträgt, Herr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Andres, dann kämen Sie nicht darum herum, die Arbeits- DIE GRÜNEN) zeit in Deutschland generell zu verkürzen. Davor scheuen Sie zurück, weil Sie wissen, dass es falsch ist. So falsch es aber für ganz Deutschland wäre, so falsch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ist es auch für die neuen Länder, was dort jetzt geschieht. Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Schauerte. Dagegen müsste die Bundesregierung etwas unterneh- men. Hartmut Schauerte (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen (D) und Kollegen! Frau Roth, ein bisschen Logik ist in die- Das Dilemma der SPD ist folgendes: Mit dem weni- ser Debatte schon vonnöten; danach werde ich mich mit gen, was sie auf den Weg bringt, hat sie bereits existen- dieser Art der Argumentation nicht mehr weiter befas- zielle Probleme, es überhaupt bei sich durchzusetzen. sen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Klaus Brandner [SPD]: Aber jetzt nicht ober- Wie eine widerspenstige Selbsterfahrungsgruppe geht lehrerhaft!) die SPD im Moment vor. Obwohl die Probleme täglich schneller als unsere Lösungsansätze wachsen, richtet die Sie haben gerade gesagt, in der Schlussphase der Regie- SPD Selbsterfahrungsgruppen ein, um die Widerspensti- rung von hätten wir ein Wachstum von gen in dieser Partei zähmen zu können. Wissen Sie aber, mehr als 3 Prozent und zugleich eine hohe Arbeitslosig- welches Problem Sie am Ende haben werden? Sie wer- keit gehabt. Das ist wahr. Das Wachstum zog an und wir den das wenige unter Aufbietung aller Disziplinierungs- waren guten Mutes, damit die Arbeitslosigkeit wirksam kräfte durchsetzen und Ihre unvernünftigen Mitglieder bekämpfen zu können. zur Räson bringen. Dann werden Sie feststellen, dass die (Klaus Brandner [SPD]: Wissen Sie, welches Probleme weiter wachsen, weil Sie nicht weit genug ge- Wachstum Sie in den 90er-Jahren hatten?) gangen sind. Dann aber sind Sie fertig; denn zweimal oder dreimal können Sie eine solche existenzielle Diszi- Aufgrund dessen, was Sie in den letzten fünf Jahren ge- plinierung Ihren Mitgliedern und Ihren Gewerkschaften leistet haben, haben wir heute Nullwachstum und wach- und Herrn Brandner nicht zumuten. sende Arbeitslosigkeit, während sie vor 1998 abnahm. Was soll also Ihre Aussage? In Ihrer Argumentation soll- (Klaus Brandner [SPD]: Sie sind ein Welt- ten Sie wenigstens logisch sein. meister im Ablenken!) Die Lage in Deutschland ist unglaublich ernst. Unsere Das ist Ihr Problem, zugleich aber unsere Sorge. gemeinsame Sorge muss es sein, ob die bisher vorgeleg- (Klaus Brandner [SPD]: Stoiber greift Merkel ten Konzepte überhaupt dem Ernst der Lage gerecht an, Seehofer greift Merz an! Sie lenken von Ih- werden können. Wir sind die Industrienation, in der die ren Problemen ab!) jungen Leute am spätesten in den Beruf gehen, in der die älteren Mitarbeiter am frühesten in die Rente gehen und – Ich verstehe nicht, wie jemand von der SPD sagen in der es die kürzeste Tages-, Wochen- und Jahresar- kann, unsere beiden Parteien hätten ein Problem, sich zu beitszeit gibt. verständigen. Wir haben uns mühelos im leichten Durch- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3549

Hartmut Schauerte (A) gang auf eine einvernehmliche Linie geeinigt. Sie, die Das Thema ist – das wissen wir alle – fürchterlich (C) Sie in der Verantwortung für Entscheidungen stehen, ha- ernst. Ich finde es wenig konstruktiv – ich sage das noch ben sich bis heute nicht geeinigt, haben bis heute keine sehr nett –, wenn einzelne Kollegen unter uns mit Be- Mehrheit und wissen nicht, wohin die Reise geht. griffen bezeichnet werden, die weder in der Sache wei- terhelfen noch ein stilvoller Beitrag in der Diskussion (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sind. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch et- (Vera Lengsfeld [CDU/CSU]: Meinen Sie jetzt was über die Rolle der Opposition sagen. Im Moment ist Ihren Staatssekretär?) der Marienmonat Mai. Sie müssten eigentlich den gan- zen Tag – Ich habe gedacht, Sie würden schweigen. – Wenn man (Klaus Brandner [SPD]: Rosenkranz beten!) zum Beispiel sagt, der Kollege Brandner kenne sich mit Promille besser aus Kerzen für die Mutter Gottes anstecken, und zwar aus Dankbarkeit, dass Sie eine Opposition haben, die Ihren (Dirk Niebel [FDP]: Das habe ich nicht ge- Kurs im Grundsatz will. So etwas hatten wir in Deutsch- sagt! Das hat mir auch nicht gefallen!) land noch nie. Wir sagen: Im Grundsatz gehen die – nein, das war Herr Fuchs –, oder wenn man die politi- Schritte in die richtige Richtung. Wir streiten uns äußers- schen Gegner als „Konsorten“ bezeichnet, dann ist das tenfalls über die Menge und sind der Meinung, dass das, ein schlechter und übler Stil. was ihr tut, nicht genug ist. Solch eine Opposition hätte ich mir für die CDU vor Jahren gewünscht. (Dirk Niebel [FDP]: Ich sagte: Frau Engelen- Kefer und Konsorten!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel [FDP]: Das gilt auch für die FDP!) Ich habe mir das notiert. Wir sollten nicht in diesen Stil verfallen. Dazu ist das Thema insgesamt zu ernst. Wir bleiben konsequent auf Kurs. Wir legen bei je- Die Menschen draußen schauen schon sorgfältig, welche dem Reformpaket mehr vor, als Sie zu machen bereit konkreten Forderungen man stellt und in welcher Form sind. und in welchem Stil man sich mit dem Thema auseinan- (Klaus Brandner [SPD]: Gut, dass Sie zuge- der setzt. ben, dazugelernt zu haben!) (Dirk Niebel [FDP]: Wenn Sie sich unter Kon- Jetzt wird eins nach dem anderen abgearbeitet. Wir sorten von Frau Engelen-Kefer einordnen, sind im Arbeitsmarkt weiter. Warum bewegen Sie sich bitte schön!) nicht? Ein Thema sind die Bündnisse für Arbeit. Warum (B) Zweite Anmerkung: Es ist das Stichwort „Pappkame- (D) sollen Betriebe miteinander nicht vernünftige Regelun- raden“ gefallen. Herr Niebel, es führt nicht weiter, stän- gen in bestimmten Korridoren finden können, um Ar- dig irgendwelche Pappkameraden aufzubauen, um an- beitsplätze zu sichern? schließend darauf zu klopfen. Ich habe sorgfältig notiert, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – welche Vorschläge Sie machen. Sie fordern eine Reform Klaus Brandner [SPD]: Das machen doch die der Bundesanstalt für Arbeit, Sie fordern Jobcenter, die Tarifvertragsparteien!) in Kooperation mit Sozialämtern tätig werden sollen. Sie wissen doch ganz genau, dass in der dritten und vierten Das lehnen Sie konsequent ab. Wenn Sie sich bei sol- Stufe des Hartz-Konzepts exakt dies vorgesehen ist. chen Kleinigkeiten nicht bewegen, dann reichen Ihre Re- zepturen nicht aus und Sie werden vor der nächsten Re- (Dirk Niebel [FDP]: Nein!) formhürde stehen und sie reißen. Wir kommen in Es gibt schriftliche Erklärungen und Erläuterungen, in Deutschland nicht weiter, unseren Arbeitslosen wird denen das alles bekannt gemacht worden ist. Nun bauen nicht geholfen und unseren Jugendlichen wird keine Per- Sie einen Popanz auf und tun so, als ob das etwas Neues spektive gegeben. Sie stehen in der Verantwortung. Tun wäre. Auch das ist kein konstruktiver Beitrag. Sie etwas! Sie haben eine höchst vernünftige Opposi- tion. Die hat es in der Geschichte der Bundesrepublik (Dirk Niebel [FDP]: Legen Sie ein Gesetz vor, Deutschland in dieser Klarheit noch nicht gegeben. in dem das steht!) (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner Frau Lengsfeld, ich komme aus einem westlichen [SPD]: Das war das Wort zum Sonntag!) Bundesland. Aber eine Äußerung von Ihnen hat mich seltsam berührt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Dirk Niebel [FDP]: Wenn Sie mit den anderen Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Walter Hoffmann. Bemerkungen fertig sind, können Sie dann zum Thema kommen?) Walter Hoffmann (Darmstadt) (SPD): Man kann Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bewerten, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und wie man will. Jeder hier im Raum hat eine kritische Herren! Der letzte Redner hat einige Vorteile. Ein Vorteil Grundeinstellung zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. besteht darin, dass man auf die eine oder andere Sache Nach meinen Informationen nimmt die Zahl der Arbeits- eingehen kann und niemand anders Gelegenheit hat, beschaffungsmaßnahmen in den westlichen Ländern so- noch einmal darauf zu antworten. wieso, aber auch in den östlichen Bundesländern tenden- 3550 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Walter Hoffmann (Darmstadt) (A) ziell ab. Aber die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) eine mit Westgeld subventionierte Form des Sozialismus DIE GRÜNEN) zu bezeichnen empfinde ich gegenüber vielen betroffe- nen Menschen, die keine andere Chance haben, als in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen tätig zu werden, schlicht und ergreifend ein Stück weit arrogant. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie die DIE GRÜNEN) Zusatzpunkte 6 und 7 auf: Herr Fuchtel und auch meine Vorgängerin haben eine 5. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Gruppe angesprochen, die uns in der Tat große Sorgen richts des Ausschusses für die Angelegenheiten bereitet und von der wir meinen, dass wir sie stärker in der Europäischen Union (20. Ausschuss) unsere Aktivitäten einbeziehen müssen. Es ist richtig, – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des dass es die sehr hohe Zahl von mehr als 500 000 jungen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Arbeitslosen gibt. Eine ähnlich schwierige Situation stellt sich zurzeit auf dem Lehrstellenmarkt dar. Der europäischen Verfassung Gestalt geben – Demokratie stärken, Handlungsfähigkeit er- Ich denke, dass wir – weil die Agenda 2010 erst im höhen, Verfahren vereinfachen zweiten Halbjahr im Gesetzgebungsverfahren diskutiert bzw. beschlossen wird – unsere Aktivitäten besonders auf – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine diese Personengruppen konzentrieren müssen. Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Claudia Winterstein, Jürgen Türk, weiterer Abgeordne- Weil wir heute viel Kritik austauschen, möchte ich ter und der Fraktion der FDP aber auch einen Bereich erwähnen, in dem es uns gerade in den vergangenen Tagen zum Teil gemeinsam gelun- Das neue Gesicht Europas – Kernelemente ei- gen ist, positive Akzente zu setzen. Ihnen allen ist die ner europäischen Verfassung Diskussion über behinderte und benachteiligte Jugendli- che bekannt. Im Januar und Februar war die Situation in – Drucksachen 15/548, 15/577, 15/950 – diesem Land extrem schwierig, weil viele junge Men- Berichterstattung: schen sich an die Bundesanstalt für Arbeit wandten, weil Abgeordnete Michael Roth (Heringen) sie einen Job oder eine berufsvorbereitende Maßnahme Peter Altmaier suchten oder in einer Werkstätte unterkommen wollten. Anna Lührmann Die Bundesanstalt konnte diesen jungen Menschen aber (B) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (D) keine Zusage geben. ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Es gab daraufhin im ganzen Land Proteste, Demons- Hintze, Peter Altmaier, Dr. Gerd Müller, weiterer trationen und heftige Auseinandersetzungen. Behinderte Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU gingen auf die Straße und erkämpften ihr Recht auch ein Stück weit. Ich denke, es ist für uns alle ein Erfolg, dass Ein Verfassungsvertrag für eine bürgernahe, kurz vor Ostern zunächst die Bundesanstalt für Arbeit, demokratische und handlungsfähige Europäi- aber dann auch der Bundeskanzler und der Wirtschafts- sche Union minister klar und eindeutig festgestellt haben, dass die – Drucksache 15/918 – betroffenen Behinderten – sowohl die Benachteiligten Überweisungsvorschlag: als auch die Behinderten – im zweiten Halbjahr ein ak- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) zeptables Angebot erhalten werden. Das Förderniveau Auswärtiger Ausschuss soll, wie es heißt, mindestens auf dem Niveau des Vor- Innenausschuss jahres verbleiben. Sportausschuss Rechtsausschuss Alle Sparmaßnahmen, die aufgrund bestimmter Vo- Finanzausschuss raussetzungen drohten, sind zurückgenommen worden. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Die zentrale Bewirtschaftung der Mittel ist aufgehoben Landwirtschaft worden, sodass im Ergebnis jeder einen Ausbildungs- Verteidigungsausschuss bzw. einen Arbeitsplatz bekommt oder an einer konkre- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ten berufsvorbereitenden Maßnahme teilnehmen kann. Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Das ist ein kleiner, aber entscheidender und wichtiger Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Beitrag zu einer verbesserten Arbeitsmarktsituation be- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe sonders für junge Menschen im zweiten Halbjahr. Ich Ausschuss für Bildung, Forschung und denke, darüber können wir alle froh sein. Wenn es uns Technikfolgenabschätzung gelingt, in Verbindung mit der Realisierung der Rahmen- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bedingungen, die uns allen bekannt sind, auch in anderen Ausschuss für Tourismus Bereichen die Kooperation zu verbessern und einen Aus- Ausschuss für Kultur und Medien bildungskonsens zu erreichen, dann gehen wir, denke Haushaltsausschuss ich, auch positiveren Zeiten entgegen. ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Werner Vielen Dank. Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Daniel Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3551

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der wohl in Europa als auch darüber hinaus. Deshalb setzen (C) Fraktion der FDP wir uns für das Amt eines europäischen Außenminis- ters ein, der der Außenpolitik der Union Gesicht und Initiativen des Brüsseler Vierergipfels zur Eu- Stimme geben und der für eine gemeinsame europäische ropäischen Sicherheits- und Verteidigungs- Außenpolitik Sorge tragen soll. Schon allein die Tatsa- Union (ESVU) über den Europäischen Verfas- che, dieses neue Amt im Verfassungsentwurf verankert sungskonvent vorantreiben zu haben – wir hoffen auf einen Konsens im Konvent –, – Drucksache 15/942 – ist ein großer Erfolg der Konventsmethode und der Kon- Überweisungsvorschlag: ventsarbeit. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Auswärtiger Ausschuss Durch mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehr- Verteidigungsausschuss heit und die Verpflichtung zur Abstimmung außenpoliti- scher Positionen sollen die Grundlagen für einheitliches Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für außenpolitisches Handeln geschaffen werden. Dazu ge- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich hört auch eine europäische Sicherheits- und Verteidi- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. gungspolitik. Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst dass die Antwort auf die Irakkrise nicht weniger Ame- Herr Staatsminister Bury. rika, sondern mehr Europa lautet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle- Wir müssen unsere eigenen Fähigkeiten verbessern, um gen! Die Bundestagsdebatte zur europäischen Verfas- im Sinne wirklicher Partnerschaft den europäischen sung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt: Am Pfeiler des transatlantischen Bündnisses zu stärken. Mit 24. April hat das Präsidium seine Vorschläge für die zen- dem Vorschlag des Vierergipfels knüpfen wir an frühere tralen institutionellen Artikel der künftigen europäischen Initiativen Frankreichs, Deutschlands, aber auch Groß- Verfassung vorgestellt. In wenigen Tagen – am 15. und britanniens an. Wir wollen das Instrument der verstärk- 16. Mai – wird der Konvent darüber beraten. Die Bun- ten Zusammenarbeit in der europäischen Sicherheits- desregierung hält den vom Präsidium vorgestellten Ent- und Verteidigungspolitik nutzen, damit eine Avantgarde wurf insgesamt für eine gute Grundlage für die weiteren die Integration auch in diesem Bereich vorantreibt, und Arbeiten, auch wenn wir im Einzelnen durchaus Verbes- zwar nicht als Closedshop, also nicht in einem exklusi- serungsbedarf sehen. ven, sondern in einem offenen Prozess, an dem sich alle (B) Europa ist eine Erfolgsgeschichte: In 50 Jahren hat heutigen und zukünftigen Mitgliedstaaten der EU betei- (D) sich die Wirtschaftsgemeinschaft der sechs schrittweise ligen können. Ich bin sicher – das bestätigen zahlreiche zur politischen Union der 25 entwickelt. Jetzt müssen Gespräche, nicht zuletzt diejenigen, die vor wenigen Ta- wir dafür sorgen, dass die Union nicht an ihrem eigenen gen beim informellen Außenministertreffen geführt wor- Erfolg scheitert, sondern auch mit 25 und mehr ihre den sind –, dass sich viele beteiligen werden, dass die Handlungsfähigkeit bewahrt. Attraktivität dieses Modells hoch ist. Ein wichtiger Indikator für das Zusammenwachsen Um die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union der Union ist, dass sich der Konvent schon sehr früh da- dauerhaft zu gewährleisten, muss das institutionelle rauf geeinigt hat, die Grundrechte-Charta als rechts- Dreieck – Parlament, Rat und Kommission – insgesamt verbindlichen Teil in die Verfassung zu integrieren. Da- gestärkt und sein Gleichgewicht erhalten werden. Wir mit gibt sich die Union eine Werteordnung, die die begrüßen deshalb den Vorschlag des Präsidiums, das Würde des Menschen als unantastbare Grundlage fest- Mitentscheidungsverfahren, in dem Rat und Parlament schreibt und die neben dem Bekenntnis zu liberalen Frei- gleichberechtigte Gesetzgeber der Europäischen Union heitsrechten auch soziale Rechte und Gleichheitsrechte sind, zum Regelfall europäischer Gesetzgebung zu ma- enthält. chen. Nicht zuletzt im Bereich Justiz und Inneres haben wir im Konvent bereits erstaunliche Fortschritte erzielt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Besonders wichtig ist uns die Wahl des Kommissi- onspräsidenten durch das Europäische Parlament. Diese gemeinsamen europäischen Grundwerte werden es uns erleichtern, auch in Zeiten der Globalisierung das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ europäische Sozialmodell zu verteidigen und uns welt- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine weit für nachhaltige Entwicklung in ihrer wirtschaftli- Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) chen, sozialen und umweltpolitischen Dimension einzu- Das würde die Kommission stärken und ihre demokrati- setzen. sche Legitimation verbessern. Wichtig ist aber auch: Die Irakkrise und die Ereignisse der letzten Wochen Wenn sich die Europawahlen sichtbar auf die personelle haben gezeigt: Wir brauchen mehr Europa. Wir müssen Besetzung dieser zentralen europäischen Institution aus- Strukturen, in denen wir als Europäer unseren politi- wirken, dann wird dies das europapolitische Interesse schen Willen gemeinsam bilden können, und Mechanis- der Bürgerinnen und Bürger stärken. Wahl und Über- men entwickeln, mit denen wir den europäischen Werten nahme politischer Verantwortung werden so untrennbar und Überzeugungen Geltung verschaffen, und zwar so- miteinander verknüpft. Deshalb sollte der Europäische 3552 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Hans Martin Bury, Staatsminister für Europa (A) Rat auch nicht alleine, wie im Präsidiumsentwurf vorge- zeugt: Wir können in dieser Zeit und unter diesem Eini- (C) sehen, den Kandidaten vorschlagen. Wir haben angeregt, gungsdruck echte Fortschritte erzielen. dass eine von Europäischem Parlament und Europäi- schem Rat paritätisch besetzte Findungskommission im Auch die anschließende Regierungskonferenz sollte Lichte der Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen kurz sein und sich nicht wieder in Detaildiskussionen Parlament eine Kandidatin bzw. einen Kandidaten be- verlieren. Wir – ich sage das in dieser Debatte als Regie- nennt, dass das Parlament sie oder ihn mit der Mehrheit rungsvertreter – haben unsere Erfahrungen mit Regie- seiner Mitglieder wählt und dass der Europäische Rat rungskonferenzen. Ich glaube, dass uns der Konvent ei- mit qualifizierter Mehrheit bestätigt. nen entscheidenden Schritt weiterbringt. Aus diesem Grunde haben wir die Konventsmethode als Regelver- Als Hüterin der Verträge und Vertreterin des europäi- fahren für künftige Verfassungsänderungen vorgeschla- schen Gesamtinteresses ist die Kommission in einem er- gen. weiterten Europa wichtiger denn je. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ihre Stärkung ist daher ein wesentliches Ziel unserer Ar- DIE GRÜNEN) beit im Konvent. Wir begrüßen, dass der Präsidiumsvor- Selbst wenn wir eine hervorragende Arbeit abliefern schlag die Begrenzung der Zahl der Kommissare auf – ich hoffe, dass wir das tun werden –, wird der fort- 15 vorsieht, schreitende Integrationsprozess auch in der Zukunft Ver- (Beifall der Abg. Sabine Leutheusser- fassungsänderungen notwendig machen. Wir sollten Schnarrenberger [FDP]) dann auf dieses sich gerade bewährende Verfahren zu- rückgreifen. unterstützt von Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Deutschland und Frankreich haben mit gemeinsamen (Heiterkeit) Initiativen immer wieder Brücken zwischen eher inter- gouvernemental und eher integrationistisch ausgerichte- aber auch von delegierten Mitgliedern, um die Funk- ten und argumentierenden Mitgliedern dieses Konvents tionsfähigkeit der Kommission als Kollegium zu erhal- gebaut. Viele kleinere Mitgliedstaaten sehen uns in der ten. Auch die Beneluxstaaten haben diesem Vorschlag in entscheidenden Rolle, Brücken zwischen Großen und der Zwischenzeit zugestimmt. Wichtig ist uns auch das Kleinen zu bauen. Wir sind uns dieser Verantwortung ausschließliche Initiativrecht der Kommission, abgese- bewusst und wir nehmen sie gern wahr. hen von wenigen Ausnahmen im Bereich der polizeili- chen Zusammenarbeit und in der Außenpolitik. Alle Beteiligten, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden für den Konsens über ihren Schatten springen Als Vertretung der Staaten auf europäischer Ebene (B) müssen – in die Sonne eines vereinten Europas, eines (D) wird der Ministerrat weiterhin eine wichtige Rolle spie- Europas der Freiheit, der Sicherheit und der Solidarität. len. Er muss durch die Ausweitung der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit jedoch effektiver arbeiten. Vielen Dank. Mit der Vereinfachung der Instrumente und der Annä- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ herung an innerstaatliche Gesetzgebungsverfahren erhö- DIE GRÜNEN) hen wir die Transparenz europäischen Handelns und da- mit die Bürgernähe der Europäischen Union. Die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gesetzgebungsarbeit soll in Zukunft ein Legislativrat leisten, der, wie die zweite Kammer in föderalen Staaten, Ich möchte im Namen von uns allen auf der Tribüne öffentlich tagt. Professor Meyer, unseren früheren Kollegen, begrüßen. Er hat die Ehre und die große Aufgabe, uns in dieser (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frage im Verfassungskonvent zu vertreten. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Peter Altmaier (Beifall) [CDU/CSU]) Das Wort hat der Abgeordnete Peter Hintze. Ein dauerhafter Vorsitzender des Europäischen Ra- tes – Sie wissen, dass das für einige unserer Partner für (Beifall des Abg. Peter Altmaier [CDU/CSU]) eine Einigung entscheidend ist – soll schließlich die Kontinuität der europäischen Politik verbessern. Für uns Peter Hintze (CDU/CSU): ist dabei eine klare Abgrenzung zu den Aufgaben der Kommission und zu denen ihres Präsidenten erforder- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und lich, um die erwähnte Balance im institutionellen Drei- Herren! Mitten in die Schlussphase der Konventsbera- eck zu wahren. tungen hinein hat die Bundesregierung als Teilnehmer am so genannten Pralinengipfel in Brüssel ein schweres In wenigen Wochen soll der Konvent den Staats- und Risiko in Kauf genommen: Europa in der Gemeinsamen Regierungschefs einen Verfassungsentwurf vorlegen. Außen- und Sicherheitspolitik zu spalten. Ich möchte Ich bin der Meinung, dass wir den vorgesehenen Zeit- deswegen zu Beginn unserer Debatte sagen: Statt ein ge- plan unbedingt einhalten sollten. Nur so kann der Eini- schlossenes Treffen der USA-Kritiker zum Thema „eu- gungsdruck aufrechterhalten werden und nur so können ropäische Verteidigung“ durchzuführen, wäre es besser wir das Momentum der Konventsarbeit nutzen. Wir ha- gewesen, ein offenes Treffen aller NATO-Freunde in der ben bereits beachtliche Fortschritte erzielt. Ich bin über- EU zu organisieren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3553

Peter Hintze (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen Fähigkeiten ausgestattet ist, wird Außenpolitik, (C) denke ich, für Europa gut. Für uns in der CDU/CSU ist klar: Die europäische Si- cherheits- und Verteidigungspolitik muss in gutem Ein- (Beifall bei der CDU/CSU) verständnis mit der NATO stattfinden und für alle offen Jeder mag beurteilen, ob das von dem vom „Spiegel“ ins sein, die mitwirken wollen. Gespräch gebrachten Kandidaten abgedeckt wird. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne In der Europapolitik gibt es eine Diskussion darüber, Kastner) ob die Einigung auf die Inhalte oder ob die Form der Deshalb wollen wir in der europäischen Verfassung die Entscheidungsfindung von größerer Bedeutung ist. Ich rechtlichen Voraussetzungen für die gemeinsame Si- will zum Verhältnis von Form und Inhalt die These auf- cherheits- und Verteidigungspolitik verbessern. stellen, dass faire und transparente Entscheidungsver- fahren die Erzielung richtiger Ergebnisse begünstigen. Dazu gehört erstens die Aufnahme einer Beistands- Deshalb kommt in der europäischen Verfassung der Aus- klausel, die dem Art. V des WEU-Vertrages entspricht. gestaltung der EU-Institutionen und ihrer Ausbalancie- Ob bei terroristischer oder militärischer Bedrohung: Eu- rung untereinander allerhöchste Bedeutung zu. Insge- ropa muss bei der Gefährdung seiner Sicherheit zusam- samt brauchen wir eine Parlamentarisierung der menstehen. Europäischen Union. Zweitens. Der Weg zu einer europäischen Armee (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wird über die Methode der verstärkten Zusammenarbeit neten der SPD und der FDP) zu erschließen sein, die auch für die Verteidigungspolitik in der neuen Verfassung ermöglicht werden muss. Die Kammer der Bürger, das Europäische Parlament, muss gestärkt werden. Die Kammer der Nationen, der Drittens. In den Fragen der Gemeinsamen Außen- Rat, muss als Gesetzgeber öffentlich und in fester Zu- und Sicherheitspolitik brauchen wir eine Einigungsklau- sammensetzung tagen. sel, die alle Mitgliedstaaten verpflichtet, in Fragen der Viele Menschen beschwert beim Thema Europa, dass Außenpolitik der Europäischen Union eine Eini- sie sich ohne Einfluss fühlen. Deswegen sollen nach un- gungschance zu geben, bevor nationale Festlegungen er- serem Willen die Bürger in Europa über die Wahl des folgen. Hätten wir in der Irakkrise eine solche Eini- Europäischen Parlaments entscheidenden Einfluss auf gungsklausel gehabt, wäre uns vielleicht die deutsche den Gang der Dinge bekommen. Deshalb muss das Eu- Vorfestlegung auf dem Marktplatz von Goslar erspart ropäische Parlament in Zukunft das Recht bekommen, geblieben. den Kommissionspräsidenten mit Mehrheit zu wählen. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Der jüngste Vorschlag vom deutschen Regierungsver- Neben einem verbesserten Regelwerk brauchen wir treter im Konvent, Minister Fischer, birgt dagegen die auch handlungsfähigere Institutionen. So braucht Europa Gefahr einer veritablen Verfassungskrise in sich. Laut einen europäischen Außenminister, eine Stimme, die diesem Vorschlag soll nämlich nach der Wahl des Präsi- Europa vertritt, die für Europa spricht und die für Europa denten der EU-Kommission durch das Europäische Par- handeln kann. Schon der Hohe Beauftragte, Javier lament der vom Parlament Gewählte nur dann ins Amt Solana, hat trotz aller Beschränkungen seines Amtes be- kommen, wenn ihn der Europäische Rat mit qualifizier- wiesen, was man in der Außenpolitik für Europa und die ter Mehrheit ernennt. Völkergemeinschaft tun kann. Daran kann man anknüp- (Peter Altmaier [CDU/CSU]: Unerhört!) fen. Wir wollen demgegenüber, dass allein die parlamen- Das Nachrichtenmagazin „“ will wissen, tarische Mehrheit im Europäischen Parlament über den dass sich Bundesminister Fischer Hoffnungen auf dieses Chef der europäischen Exekutive bestimmt. Für den europäische Spitzenamt macht. Ich hätte ihn gern ge- Wahlvorschlag muss das Ergebnis der Europawahl – nichts fragt, ob er diesen Wunsch hat und nach den EU-Sternen anderes – ausschlaggebend sein. Nur so bekommen die greift. Bürger Einfluss auf den Gang der Dinge in Europa. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ob dabei die Dokumentation des dänischen Fernsehens Wie bei uns der Bundespräsident so sollte in Europa über die Differenz von öffentlichen und persönlichen der Europäische Rat lediglich eine Notarfunktion bei Aussagen von Minister Fischer zum Türkeibeitritt hilf- seinem Wahlvorschlag an das Europäische Parlament reich ist, wird sich zeigen. wahrnehmen. Dazu bedarf es keiner neuen Findungs- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wohl eher kommission. Ich denke, die Vorschläge des deutschen nicht!) Regierungsvertreters im Konvent müssen noch einmal gründlich bedacht und besprochen werden. Vom zukünftigen europäischen Außenminister er- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Am besten vom warte ich jedenfalls zwei Fähigkeiten: zum einen inte- Tisch!) grativ nach innen zu wirken und zum anderen gute und faire Beziehungen zu Europas wichtigstem Bündnispart- – Das Allerbeste wäre – ich greife den Zwischenruf des ner in der Welt, den USA, zu pflegen. Wenn er mit sol- Kollegen Hoyer auf –: ohne längere Debatte vom Tisch. 3554 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Peter Hintze (A) Nun zur Arbeit des Europäischen Rates: Die Schaf- delns. Deswegen gehört die Charta an den Anfang unse- (C) fung des Amtes eines hauptamtlichen Ratspräsidenten rer europäischen Verfassung. mit eigenem Verwaltungsunterbau würde zu beachtli- chen Reibungsverlusten führen und dieser stünde in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Dauerkonkurrenz zum Kommissionspräsidenten. Des- neten der FDP) halb brauchen wir für den Europäischen Rat eine Für mich gehört auch ein klares Bekenntnis zu unserer schlanke Vorsitzlösung. Etwas mehr Kontinuität ist in Verantwortung vor Gott und den Menschen an den An- Ordnung, ein Super-Ratspräsident wäre zum Nachteil fang der europäischen Verfassung. Die Präambel unseres Europas. Das würde mehr kosten, mehr Intransparenz Grundgesetzes bietet hierfür ein exzellentes Vorbild. hervorrufen und wenig effizient sein. Deswegen sollten auch diese Überlegungen möglichst rasch wieder vom (Beifall bei der CDU/CSU) Tisch. Für uns muss der Grundsatz der Subsidiarität, das (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wohl wahr!) heißt die Wahrung der Eigenverantwortung von Bürgern, Mit der Verfassung wollen wir Europa bürgernäher, Kommunen, Regionen und Mitgliedstaaten, wo immer effizienter und demokratischer gestalten. Hierfür haben hierdurch bessere Ergebnisse garantiert werden, gesi- wir den bestmöglichen Weg gewählt. Die Europäische chert werden. Die Kompetenzen Europas dürfen nicht Union versteht sich ja nicht nur als Union der Staaten, aus allgemeinen Zielvorgaben abgeleitet werden, son- sondern auch als Union der Bürgerinnen und Bürger. dern müssen sich auf konkrete Einzelermächtigungen Deshalb war es gut, dass wir die Erarbeitung der Verfas- gründen. Nach unserem Verständnis gehört dazu auch, sung nicht in die Hände von hinter verschlossenen Türen dass die Überprüfung der Einhaltung des Grundsatzes tagenden Regierungen gelegt haben, sondern zu einer der Subsidiarität durch die zuständigen Institutionen der Angelegenheit der Parlamentarier und des Konvents ge- Mitgliedstaaten kritisch begleitet werden kann. Wir for- macht haben, in dem die Vertreter der Parlamente und dern deshalb, dass regionale Gesetzgebungskörperschaf- Regierungen und auch die der Beitrittsländer ihre Ge- ten, wie bei uns die Bundesländer, aber auch Bundesrat danken und Überlegungen mit einbringen und diskutie- und Bundestag, Verstöße gegen die Subsidiaritätsgrund- ren können. Nie war Europa parlamentarischer und nie sätze vor dem EuGH in eigener Verantwortung rügen wieder darf es ein Zurück in den vorparlamentarischen können. Wo die Verwaltung auf niedrigen, bürgernahen Zustand in Europa geben, liebe Kolleginnen und Kolle- Ebenen besser handelt, muss sie weiter zuständig blei- gen. ben. Diese Ebenen müssen auch ihr Recht vor dem Euro- päischen Gerichtshof einfordern können, wenn sie einen (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Verstoß gegen diese Grundsätze feststellen. (B) (D) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD und der FDP) Meine Damen und Herren, wenn wir von der Parla- mentarisierung der Europäischen Union sprechen, müssen Unser Dank gilt unseren Vertretern im Konvent. Der wir auch darüber nachdenken, wie wir uns als Deutscher auf der Besuchertribüne wurde schon besonders begrüßt; Bundestag im Prozess der europäischen Rechtsetzung es kam schon Neid bei den Kollegen auf, die noch dem einbringen. Bei der Ratifizierung der europäischen Ver- Deutschen Bundestag angehören, weil sie nicht einzeln fassung durch den Deutschen Bundestag werden wir von der Präsidentin begrüßt wurden. Ich möchte außer- auch über eine wirksamere Beteiligung des deutschen dem Erwin Teufel, Peter Altmaier, und Parlaments bei der Kontrolle der deutschen Vertreter im Joachim Wuermeling nennen, die im Konvent eine her- Ministerrat zu reden haben. vorragende Arbeit für unsere Parteienfamilie leisten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Das ist nicht nur ein allgemeiner Grundsatz, der in diesem Hause vom Kollegen Müller schon oft und zu Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Recht erhoben wurde. In diesen Tagen wird wieder deut- Zugleich bestimmen ihre Regeln unser Zusammenleben lich, wie aktuell das ist. Es kann nicht sein, dass wir in in immer größerem Maße. Deshalb gehört für mich die zentralen Fragen eine große innenpolitische Auseinan- bereits erarbeitete Grundrechte-Charta zwingend an dersetzung führen – denken wir an die Themen Asyl- den Anfang unserer europäischen Verfassung, und zwar recht und Zuwanderung – und dass dann der deutsche in vollem Wortlaut. Innenminister in der Lage ist, Bundestag und Bundesrat über Europa auszuhebeln, ohne dass wir Gelegenheit ha- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ben, uns parlamentarisch zu äußern oder die Regierung der FDP) festzulegen. Damit verbunden ist auch die Aussage – es handelt sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht nur um die rechtliche Frage, ob sie im Protokoll die gleiche Wirkung entfalten könne –, dass wir uns mit den Deswegen wollen wir Art. 23 des Grundgesetzes vor Grundrechten zu den fundamentalen Menschen- und der Ratifizierung der europäischen Verfassung so än- Bürgerrechten als den Errungenschaften unserer christ- dern, dass der Bundestag bei zentralen europäischen lich geprägten abendländischen Zivilisation bekennen. Entscheidungen und Gesetzgebungsvorhaben besser als Sie sind Leitidee und der Maßstab europäischen Han- bisher beteiligt wird. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3555

Peter Hintze (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Erarbeitung ei- bekommen, als es im Entwurf des Präsidiums vorgese- (C) ner europäischen Verfassung durch den Konvent ist ein hen ist. epochales Ereignis in der Geschichte der Europäischen Union. Zum ersten Mal geben sich die Staaten Europas Das Präsidium schlägt nämlich eine Stärkung des Eu- eine Verfassung, die auf gemeinsamen Werten menschli- ropäischen Rates vor. So würden die Staats- und Regie- chen Zusammenlebens beruht und den Geist von Frei- rungsvertreter ihren Einfluss weiter ausbauen. Der Euro- heit, Solidarität und Gerechtigkeit atmet. Wir haben die päische Rat ist bislang als Impulsgeber der EU definiert. große Chance, für die Europäische Union eine eigene Er soll sozusagen die allgemeinen politischen Zielset- Identität zu schaffen, die weit über den gemeinsamen zungen festlegen. Aber natürlich wissen wir alle hier, Markt hinausreicht. Das Ziel muss eine starke Europäi- dass diese harmlos klingenden Worte in Art. 4 des EU- sche Union sein, mit der wir die politischen, wirtschaftli- Vertrages in der Praxis ganz andere Auswirkungen ha- chen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit und ben. Der Europäische Rat hat sich zu einer Art Superre- der Zukunft annehmen können. visionsinstanz für alle Räte entwickelt. Wenn ein Fachrat in einer wichtigen Frage nicht mehr weiterweiß, dann Ich danke Ihnen. müssen die Chefs im Europäischen Rat ran. Formell hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Europäische Rat zwar keine Gesetzgebungsbefugnis, aber da die Fachräte die Entscheidung hinterher einfach nachvollziehen, ist das doch eher eine unheilvolle Aus- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: weitung seiner Rechte. Nächste Rednerin ist die Kollegin Anna Lührmann, Bündnis 90/Die Grünen. In „Package Deals“ werden dann – wie auf dem Basar – inhaltliche Zugeständnisse gegen Posten und nationale Sonderregelungen getauscht. Das alles geschieht wie zu- Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): letzt in Nizza in Nächten der langen Messer unter Aus- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- schluss der Öffentlichkeit. Heraus kommen skurrile Er- gen! Das war ja ein ganz schöner Schock, den uns gebnisse, die den Bürgerinnen und Bürgern überhaupt Konventspräsident Giscard d’Estaing kurz nach Os- nicht zu vermitteln sind. tern versetzt hat, schenkte er uns allen doch ziemlich faule Ostereier. Der Vorschlag, mit dem er in die Präsidi- Ein Beispiel aus jüngster Zeit: Beim letzten Europäi- umssitzung gegangen war, ließ den Integrationsfreunden schen Rat in Brüssel kümmerten sich die Chefs um die in Europa das Herz in die Hose rutschen. Da war es wie- Zinsbesteuerung, weil vorher der Ecofin-Rat zu keiner der, das alte Europa, das alte Europa der Intransparenz, Einigung gekommen war. Das drohende Veto eines Mit- (B) des Demokratiedefizits und der Dominanz der großen gliedstaates konnte erst in letzter Minute durch ein völlig (D) Staaten. sachfremdes Zugeständnis bei der Milchquote erkauft werden. So sieht im Moment die traurige Realität des Ich habe mich gefragt: Hat da vielleicht jemand die Europäischen Rates aus. Konventsdebatten der letzten 14 Monate verschlafen? Der Konvent ist schließlich angetreten, um genau dieses Deshalb frage ich mich, warum der Präsident des Eu- alte Europa zu beenden. Das Ziel ist ein neues Europa, ropäischen Verfassungskonvents, Giscard d'Estaing, die- ein Europa der Demokratie, ein Europa der Bürgernähe, ses Gremium auch noch stärken möchte. ein Europa, das für jede Bürgerin und für jeden Bürger verständlich ist und das die Probleme des 21. Jahrhun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derts effektiv löst. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Denn die Vorschläge des Präsidiums sehen dauerhaft ei- und bei der SPD sowie des Abg. Peter nen Präsidenten des Europäischen Rates vor, bei dem es Altmaier [CDU/CSU]) sich um einen ehemaligen Staats- oder Regierungschef Wir müssen uns alle beim Präsidium des Konvents handeln soll, der sein Amt Vollzeit ausüben soll. Außer- bedanken, dass die Vorschläge des Konventspräsidenten dem wünscht Giscard d’Estaing neben diesem einen Prä- nicht eins zu eins übernommen worden sind. Die Arti- sidenten auch noch drei Präsidiumsmitglieder. Dann hät- kelentwürfe, die dem Konvent jetzt vorgelegt worden ten wir vier Politiker, die für das alte Europa der sind, sind weit besser als Giscard d’Estaings ursprüngli- Intransparenz und der mangelnden Demokratie arbeiten. che Ideen. Wir alle hier haben sehr viel Erfahrung im Umgang Leider blieben aber auch einige seiner Vorschläge mit Politikern gesammelt. Wir wissen alle, dass es ein erhalten. Besonders die vom Präsidium vorgeschla- guter Politiker wirklich versteht, so viel Einfluss wie gene Machtverteilung zwischen Europäischem Rat möglich an sich zu reißen. Wer gerät also am meisten in und Europäischem Parlament muss verändert wer- Gefahr, Aufgaben und Ansehen zu verlieren? Das ist der den. Im Verhältnis dieser beiden Gremien zueinander Kommissionspräsident. Aber unserer Meinung nach entscheidet sich nämlich die Machtfrage in Europa: Wer sollte er es sein, der neben dem europäischen Außenmi- hat das Sagen in Europa oder soll es haben: die Diplo- nister die EU nach außen vertritt. Schließlich soll der maten der Regierungen oder die gewählten Repräsentan- Kommissionspräsident – Staatsminister Bury hat dies ten der Bürgerinnen und Bürger? Ich würde mir wün- schon erwähnt – in Zukunft derjenige in Europa sein, der schen, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr Einfluss die höchste demokratische Legitimation hat. 3556 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Anna Lührmann (A) Er soll nämlich vom Europäischen Parlament gewählt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) werden. So würden sich die Ergebnisse der Europawahl und bei der SPD) ganz konkret in der Bildung einer europäischen Regie- Drei Verbesserungsvorschläge für diesen Bereich rung niederschlagen. Ich begrüße es daher ausdrücklich, möchte ich anmerken: Erstens sollten auch Entscheidun- dass der Modus zur Wahl des Kommissionspräsiden- gen in der Außenpolitik mit qualifizierter Mehrheit ge- ten verbessert werden soll, auch nach Vorstellung des troffen werden. Präsidiums. Allerdings machen mir auch hier einige De- tails Sorgen. Ich finde es problematisch, dass der Euro- Zweitens sollte das Europäische Parlament an diesem päische Rat den Präsidenten der Kommission vorschla- Politikbereich stärker beteiligt werden. gen soll. Drittens ist es ganz wichtig, dass der europäische Au- Viel wichtiger wäre es, dass das Europäische Parla- ßenminister von einem diplomatischen Dienst unter- ment in allen Bereichen weiter gestärkt wird. Deshalb stützt wird, damit er auch wirklich effizient arbeiten ist die Ausweitung des Mitentscheidungsrechtes des Par- kann. laments ein sehr guter Vorschlag. Allerdings ist es mei- Wirklich gut finde ich übrigens die Pläne für ein euro- ner Meinung nach heikel, dass viele bisherige Kompe- päisches Freiwilligenkorps. Ich weiß nicht, ob Ihnen tenzen des Parlaments in den jetzigen Artikelentwürfen dieser Vorschlag bei der Lektüre der aktuellen Artikel nicht mehr zu finden sind. Beispielsweise fehlt in Art. 15 des Konvents aufgefallen ist. Hier wird vorgeschlagen, das Misstrauensvotum oder das Fragerecht des Parla- dass Jugendliche aus verschiedenen EU-Ländern ge- ments. So dünn darf der Artikel über das Europäische meinsam im Bereich der humanitären Hilfe arbeiten und Parlament nicht bleiben, wenn wir wirklich mit dem Ziel so hautnah die europäische Solidarität und Identität erle- ernst machen wollen, ein Europa der Bürgerinnen und ben können. Bürger und der Staaten zu schaffen. Es gibt viele weitere gute Vorschläge des Präsidiums: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Strukturen von Ministerrat und Kommission sollen und bei der SPD sowie des Abg. Peter zum Beispiel effizienter werden. Qualifizierte Mehr- Altmaier [CDU/CSU]) heitsentscheidungen im Rat sollen ausgeweitet und die Natürlich soll das Europäische Parlament auch über das Erfordernisse dafür sollen vereinfacht werden. Dies, so politische Leben in Europa debattieren. Ich denke, dafür denke ich, ist ein sehr großer Integrationsfortschritt, zu brauchen wir keinen unnötigen Kongress der Völker. dem die Konferenz von Nizza noch nicht bereit war. Allen Unkenrufen zum Trotz zeigt sich jetzt, dass die Im gesamten Bereich der gemeinsamen Außen-, Si- Konventsmethode erfolgreich ist. Der Konvent hat (B) (D) cherheits- und Verteidigungspolitik finde ich die Vor- schon jetzt den Anfang vom Ende des alten Europa ein- schläge des Präsidiums erstaunlich gut. Sie stellen einen geläutet. Transparenz und Offenheit sind nämlich erfolg- sehr großen Schritt nach vorne dar. Die geplante Benen- reicher als Verhandlungen hinter verschlossenen Türen. nung eines EU-Außenministers ist ein wirklicher Mei- lenstein in der Außenpolitik. In diesem Punkt stimmen Insgesamt stimmt mich die aktuelle Diskussion im wir alle überein. Das Gleiche gilt auch für das Ziel, die Konvent sehr optimistisch. Doch die Verfassung ist noch verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Außenpolitik lange nicht fertig. Noch ist nicht hundertprozentig si- zu nutzen und die Beistandsverpflichtung aus dem cher, ob wir auch wirklich eine Verfassung für das neue WEU-Vertrag in den EU-Rahmen zu überführen. Dies Europa bekommen. Der Konvent muss jetzt darauf ach- ist eine Forderung, die ich ebenfalls unterstütze. ten, dass seine Änderungsvorschläge vom Präsidium übernommen werden. Die Zeit drängt. Deshalb sollte so Ich finde es gut, dass jetzt die Grundlagen für eine bald wie möglich ein konsolidierter Verfassungsentwurf gemeinsame Verteidigungspolitik geschaffen werden. vorgelegt werden, der die Änderungswünsche der Mehr- Denn im Ernst: Alle EU-Staaten – wir erleben das auch heit des Konvents aufnimmt. in Deutschland – haben Haushaltsprobleme. Wozu brau- chen wir angesichts der Sicherheitslage in Europa noch Lassen Sie mich zum Ende meiner Rede zu einem 15 bzw. in Zukunft 25 verschiedene Armeen? Das will Punkt kommen, der das Ende eines jeden Verfassungs- mir nicht in den Kopf. Auch wenn wir – das wird aus der prozesses darstellt: Die Annahme der Verfassung steht Arbeit des Konvents deutlich – vom Aufbau einer ge- noch vor uns. Die europäische Verfassung wird der EU meinsamen Armee noch weit entfernt sind, so zeigt doch eine neue Qualität geben: eine Europäische Union der die Entwicklung im Konvent, dass diejenigen falsch lie- Bürgerinnen und Bürger und der Staaten. Ich finde es gen, Herr Hintze, die immer wieder behauptet haben deshalb notwendig, dass wir auch bei der Annahme der oder immer noch behaupten, dass die unterschiedlichen Verfassung neue Wege gehen. Die Ratifizierung durch Meinungen der EU-Staaten in der Irakfrage zu einer dau- Bundestag und Bundesrat ist zwar für internationale Ver- erhaften Spaltung der EU in der Außenpolitik führen träge vollkommen in Ordnung. Aber eine Verfassung werden. sollte von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen werden. So würde sie eine größere Legitimation erhalten. (Zuruf von der CDU/CSU: Schauen wir mal!) Nun sieht das Grundgesetz für diesen Fall bekanntli- Im Gegenteil: Europa lernt aus den Fehlern der Vergan- cherweise keinen Volksentscheid vor. Aber das Grund- genheit und stärkt jetzt die gemeinsame Handlungsfähig- gesetz kann man in dieser Frage ändern, wie es viele Ab- keit. geordnete in diesem Hause fordern. Lassen Sie uns jetzt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3557

Anna Lührmann (A) die Grundlage dafür schaffen, dass die Bürgerinnen und Damit ist der Standort in der Verfassung eben nicht nur (C) Bürger über ihre europäische Verfassung abstimmen Technik, sondern bringt auch eine ganz klare Werteent- können! In einem Großteil der EU-Mitgliedstaaten wer- scheidung zum Ausdruck. den die Bürger gefragt. Lassen Sie uns den Menschen hierzulande das gleiche Recht geben! Lassen Sie uns Die Arbeiten im Konvent, die wir von Anfang an un- mutig sein und am Tag der Europawahlen im kommen- terstützt haben, folgen der Parlamentslogik und nicht den Jahr über die europäische Verfassung ein Referen- mehr der Regierungslogik, wie wir sie von den Regie- dum abhalten! Denn dann hätten wir es: das Europa der rungskonferenzen her kennen. Deshalb sind wir froh, Bürgerinnen und Bürger und der Staaten. dass sich diese Methode auch mit dem, was bisher an Entwürfen vorgelegt wurde – bei aller Notwendigkeit (Beifall der Abg. Sabine Leutheusser- gewisser Änderungen –, so erfolgreich gezeigt hat. Des- Schnarrenberger [FDP]) halb wollen wir natürlich, dass diese Konventsmethode Vielen Dank. nach erfolgreichem Abschluss der Arbeiten an einer eu- ropäischen Verfassung weiter bestehen bleibt und dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach dieser Methode auch künftige grundlegende Wei- und bei der SPD) terentwicklungen erarbeitet werden.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aber jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, läuft uns als nationales Parlament die Zeit davon. Es liegen erst Nächste Rednerin ist die Kollegin Leutheusser- die Texte für den ersten Teil der europäischen Verfas- Schnarrenberger, FDP-Fraktion. sung vom Präsidium und vom Konventsplenum vor. Der zweite Teil ist überhaupt noch nicht konzipiert, mit Aus- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): nahme des Teils über die Fragen der Freiheit, der Sicher- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- heit und des Rechtes. Es wird für uns fast unmöglich nen und Kollegen! Der europäische Verfassungskon- werden, hier im Plenum einen gemeinsamen fundierten vent tritt in seine entscheidende Phase ein. Am 20. Juni, und soliden Standpunkt – dieser wäre aus unserer Sicht also in wenigen Wochen, soll der Entwurf einer europäi- wünschenswert – zur gesamten europäischen Verfassung schen Verfassung vorliegen, die die Grundlage für das zu beziehen. Eine Bewertung der jetzigen Teile – auch Europa der 25, 27 oder auch 28 sein soll. Es geht also eine Bewertung der Kompetenzen der Europäischen um eine ganz grundlegende Weichenstellung und Neu- Union – kann aufgrund der Verzahnung mit all dem, was orientierung der Europäischen Union zu einem demokra- noch kommt, nicht abschließend sein; wir müssen alles tischen, bürgernahen, einer gemeinsamen Wertebasis, im Zusammenhang sehen. (B) nämlich der Grundrechte-Charta, verpflichteten Staaten- (D) gebilde besonderer Art – Juristen sagen: sui generis –, Die FDP-Fraktion hat sehr frühzeitig in ihrem Antrag das handlungsfähig und nachvollziehbar seine Entschei- „Das neue Gesicht Europas – Kernelemente einer euro- dungen für jetzt 380 Millionen Bürger und als Europa päischen Verfassung“ klar gesagt, wohin der Weg in der der 25 für 450 Millionen Bürger treffen muss. Es geht Europäischen Union gehen soll. Wir freuen uns sehr, also nicht um etwas mehr oder weniger Technik bei der dass weite Teile der jetzigen Beratungen im Konvent in Abstimmung im Rat, um etwas mehr oder weniger quali- die Richtung gehen, die wir in unserem Antrag sehr fizierte Mehrheiten oder um etwas mehr oder weniger deutlich gekennzeichnet haben. Es gibt unstreitige For- Kompetenzen. Es geht darum, ob Demokratie, Rechts- derungen, die alle hier im Hause vertreten. staatlichkeit, Gewaltenteilung und eine klare Zuordnung Von meinen Vorrednern wurde zum Beispiel die der Aufgaben auf europäischer und nationalstaatlicher Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäi- Ebene in der künftigen europäischen Verfassung veran- sche Parlament erwähnt. Auch das ist nicht nur eine kert werden. kleine Änderung! Wir müssen uns einmal vorstellen, Die Grundrechte-Charta ist nicht so selbstverständ- was es bedeutet, wenn man sich darauf verständigt: Eu- lich, wie wir heute über sie reden. ropa hat ein Gesicht und die Bürgerinnen und Bürger, die das Parlament wählen, treffen damit die Entschei- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Sehr wahr!) dung darüber, wer denn an der Spitze der Kommission Wenn man sich bei der Erarbeitung dieser Charta in wei- stehen soll. Damit werden wir die Bürgerinnen und Bür- ten Teilen an der Europäischen Menschenrechtskonven- ger mehr begeistern können. Wir personalisieren damit tion, aber auch an vielen Artikeln in unserem Grundge- die Europawahl. setz orientiert und das auch festschreibt, zeigt das, dass der Wille da ist, sich auf ein gemeinsames Wertefunda- Aber bitte lassen Sie – gerade Herr Fischer und auch ment zu verständigen. Deshalb ist es ganz selbstver- Sie, Herr Bury – die Finger davon, eine Findungskom- ständlich, dass die Grundrechte-Charta nicht in einem mission aus gleichberechtigten Teilen des Europäischen Protokoll versteckt werden darf, sondern mit ihrem Geist Parlamentes und des Europäischen Rates für ein Vor- die Verfassung prägen muss und deshalb natürlich an schlagsrecht einzurichten. Eine Kungelrunde, in der eu- den Anfang gehört. ropäischen Verfassung verankert, kann doch nicht unsere Vorstellung sein. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter SES 90/DIE GRÜNEN) Altmaier [CDU/CSU]) 3558 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Wir wollen klare Texte in der Verfassung, aber doch schwächen würde. Denn dort in der Kommission liegt (C) nicht Gremien, in denen – wahrscheinlich mit vielen an- die Integrationskraft und dort soll sie bleiben. Daher sind deren personellen Besatzungen – ausgehandelt wird, was Änderungsanträge dringend notwendig, die deutlich ma- im Moment vielleicht am besten passt. Das Parlament chen: Ein fester Vorsitz für die Dauer von zwei Jahren ist schafft das allein; denn durch das Ergebnis der Europa- richtig, nicht jedoch, dem Ratspräsidenten mehr Kompe- wahl sind die Mehrheitsentscheidungen getroffen wor- tenzen zuzuweisen. den. Wir brauchen natürlich auch den Außenminister in Dass das Parlament gestärkt werden muss, gehört für Europa. Wir brauchen mehr Europa in der Gemeinsamen uns mit an die erste Stelle, neben allen anderen wichti- Außen- und Sicherheitspolitik. gen Aspekten wie Kompetenzen, Subsidiaritätsgrund- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten satz und der Arbeitsweise im Rat. Deshalb sind das der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- Haushaltsrecht des Parlaments auf der Ausgabenseite SES 90/DIE GRÜNEN) und natürlich die volle Beteiligung am Gesetzgebungs- verfahren für uns selbstverständlich. Das haben wir als liberale Fraktion schon immer gesagt. Darüber hat es bislang keine Verwerfungen gegeben, wie (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der wir sie in den letzten Wochen in der Europäischen Union SPD) erleben mussten. Man kann nur hoffen, dass die Konsul- Ich sage klar: Wir sind die Einzigen, die das fordern, tationsmechanismen, wie sie derzeit im Entwurf vorge- was eigentlich erst ein Parlament ausmacht, nämlich das sehen sind, dazu führen, dass es endlich wieder um den Initiativrecht. gemeinsamen Dialog und nicht um das Gegeneinander geht, dass wir solche Vierergipfel und isolierte Aktionen (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD nicht mehr haben werden, sondern dass im Konvent da- und der CDU/CSU) rüber debattiert wird, was wir für eine Gemeinsame Au- Davor scheut man zurück. Wir haben das in unserem ßen- und Sicherheitspolitik und besonders für eine Si- Antrag ausdrücklich gefordert. cherheits- und Verteidigungspolitik wollen. Das gehört in den Konvent. Wir wollen mit unserem Antrag, den (Beifall des Abg. Michael Roth [Heringen] wir eingereicht haben, den europäischen Pfeiler in der [SPD]) NATO stärken. In dem Kapitel über den Raum der Freiheit, der Si- Zum Schluss: Wir haben uns überhaupt noch nicht cherheit und des Rechts wird ein Initiativrecht der Mit- mit der Wirtschaftsverfassung befasst. Wir wollen, dass gliedstaaten mit einem Quorum, wie es bisher schon der auch Wettbewerb und Marktwirtschaft als Kernelemente (B) (D) Fall ist, aufgeführt, aber kein Initiativrecht des Parla- in der europäischen Verfassung stehen, ments. Das darf auf keinen Fall so bleiben. Ich bitte da um Unterstützung unseres Vertreters im Konvent. Herr (Beifall bei der FDP – Michael Roth [Herin- Meyer, Sie haben ausdrücklich darum gebeten, von die- gen] [SPD]: Auch Solidarität!) sem Podium aus Aufträge zu bekommen, die Sie dann und wir wollen am Ende die Beteiligung der Bürgerin- im Konvent vertreten. Hier ist der zweite Auftrag. nen und Bürger. Ich freue mich, dass einige in diesem (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Gut!) Haus gesagt haben: Eine Volksabstimmung über diese Verfassung ist wichtig. Wir müssen das Grundgesetz än- Wir unterstützen die Kommission darin, kleiner zu dern. Eine rein konsultative Beteiligung reicht nicht aus; werden. Die Begrenzung auf 15 Kommissare haben wir damit würde man dem Bürger etwas vormachen. schon immer gefordert. Teilweise wurden wir etwas mit- leidig nach dem Motto "Das ist doch illusorisch“ ange- Ich fordere Sie auf, der Initiative, die die FDP ergrei- schaut. Jetzt steht es im Entwurf des Präsidiums des fen wird, im Plenum zuzustimmen. Dann werden wir es Konvents. Wir unterstützen das. Uns geht es aber nicht schaffen, die Bürgerinnen und Bürger viel intensiver in allein um die Zahl, sondern um das andere Denken, um diesen Prozess einzubeziehen. die andere Struktur der Kommission. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Michael Roth der CDU/CSU) [Heringen] [SPD]) Das ist für uns das Entscheidende. Entscheidend ist nicht Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der nationalstaatlich entsandte Kommissar, der in erster Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, frak- Linie die Interessen seines Mitgliedstaates vertritt. Ent- tionslos. scheidend sind qualifizierte Fachleute – hoffentlich mit Erfahrung auf europäischer Ebene – die ihre Forderun- Petra Pau (fraktionslos): gen im Interesse der Europäischen Union formulieren. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Ratspräsidenten ist viel gesagt worden. Unser Ende Juni wird der Konvent den Entwurf einer EU-Ver- Antrag ist klar und eindeutig. Wir wollen keinen aufge- fassung vorlegen. Er betrifft alle EU-Staaten und natür- werteten Ratspräsidenten, der den Kommissionspräsi- lich alle Bürgerinnen und Bürger der EU. Insofern ist es denten hinsichtlich seiner Aufgaben und seiner Funktion höchste Zeit, dass sich der Bundestag damit befasst und Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3559

Petra Pau (A) auch eigene Ansprüche deutlich formuliert. Es liegt an Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) uns, die EU-Verfassung so in die Öffentlichkeit zu brin- Nächster Redner ist der Kollege Michael Roth, SPD- gen, dass sie wahr- und angenommen werden kann. Fraktion. Damit komme ich zu einem Punkt, der im Antrag der Regierungskoalition eher versteckt steht. Ich zitiere: Michael Roth (Heringen) (SPD): Der Deutsche Bundestag bittet den Konvent zu prü- Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! fen, wie die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar im Viele Kolleginnen und Kollegen haben – es sind heute Wege eines Bürgerentscheids über die Annahme leider nur wenige anwesend – die Europawoche genutzt, der europäischen Verfassung entscheiden können. um Flagge für das großartige Projekt des vereinten Euro- pas zu zeigen. Deswegen steht es auch dem Deutschen Ich finde, der Bundestag sollte klarer dafür plädieren, Bundestag gut an, in dieser Woche Flagge zu zeigen und dass die EU-Verfassung in Volksentscheiden angenom- denjenigen Unterstützung zuteil werden zu lassen, die men wird. Das wäre der Größe angemessen und oben- sich der mühsamen Aufgabe, die Zukunft Europas aktiv drein demokratischer. Ganz nebenbei würden wir im zu gestalten, stellen. Das ist nicht einfach. Deswegen Bundestag auch noch die Hausaufgabe machen, die wir möchte ich von hier aus ein herzliches Dankeschön an uns schon in der letzten Legislaturperiode vorgenommen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten richten, die hatten, nämlich Volksentscheide und direkte Bürgerbe- diese Kärrnerarbeit leisten. Aber nicht nur an sie. Ich möchte neben Jürgen Meyer und Martin Bury auch den teiligung auf Bundesebene endlich auch in der Bundes- Außenminister, den ich nicht zur Sozialdemokratie republik in Form eines Gesetzes Wirklichkeit werden zu zähle, lassen. (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen be- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hubert ginnt mit einem Bekenntnis zur EU. So weit, so gut. Al- Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir lerdings sollten Sie sich in Ihrer Euphorie etwas brem- auch nicht! – Peter Hintze [CDU/CSU]: Das sen; denn Sie lobpreisen in Ihrem Antrag als kann alles noch werden!) Erfolgsstory, dass alle Bürgerinnen und Bürger der Euro- päischen Union in Frieden, Freiheit, Sicherheit und und Klaus Hänsch nennen. Klaus Hänsch gehört dem Wohlstand leben können. Ich muss Sie doch wohl nicht Präsidium an. Das Präsidium hat erfolgreiche Arbeit ge- an die fast 5 Millionen Arbeitslosen in der Bundesrepu- leistet – sie war sehr schwierig – und hat das, was vom blik oder an die weit über 20 Millionen Arbeitslosen in Konventspräsidenten vorgeschlagen wurde, demokrati- (B) (D) der EU erinnern. Auch gerade deshalb wiederhole ich scher werden lassen. die Auffassung der PDS, dass die EU jetzt und in der Zu- Es steht uns auch deswegen gut an, weil der Konvent kunft vor allem eine starke soziale Komponente in der originär ein parlamentarisches Gremium ist. Dieses Gre- Verfassung braucht, die sich auch im wirklichen Leben mium konnte durch unsere Aktivitäten und unser Enga- niederschlägt. gement überhaupt erst eingesetzt werden. Dieser Kon- vent braucht parlamentarische Begleitung und Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war spätestens Unterstützung; denn er ringt mit der zentralen Heraus- seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA forderung, die uns tagtäglich auch im Bundestag be- gegen den Irak zu erwarten, dass die angestrebte schäftigt: Wie können wir die Globalisierung politisch Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik von be- gestalten, und zwar in einer Zeit, in der nationalstaat- sonderer Relevanz ist. Der Ruf nach einer gemeinsamen liches Handeln zunehmend an seine Grenzen stößt? euro-päischen Stimme ist daher sehr verständlich. Die Frage ist nur, was das Gemeinsame und das Einigende in Eigentlich müssten hier nicht nur die Europaexperten der Außen- und Sicherheitspolitik ausmacht. Ich kann sitzen, sondern auch die anderen, weil es um die Wirt- für die PDS nur wiederholen und muss warnen: Es darf schaft, den Verbraucherschutz, die Umweltpolitik und nicht nur um die Frage gehen, der Militärmacht USA Pa- viele andere Themenbereiche geht. Wir müssen es ir- roli zu bieten oder ihr zu folgen. Es muss darum gehen, gendwann einmal schaffen, diese Vernetztheit des euro- sich mit zivilen Ansprüchen von einer falschen US-Poli- päischen Handelns auch in unserem Parlament deutli- tik zu emanzipieren. cher werden zu lassen. Die Chance der EU liegt darin, dass sie wichtige Der Konvent hat zwei schwierige Aufgaben zu be- Grundsätze der zukünftigen Verfassung ernst nimmt. wältigen, um die Globalisierung aktiv zu gestalten: Er Dazu gehören das Bekenntnis zur Nachhaltigkeit, das muss mehr Demokratie wagen und den europäischen In- stitutionen sowie Europa insgesamt mehr Handlungsfä- Engagement für Vollbeschäftigung sowie die Erhaltung higkeit zuteil werden lassen. des Friedens nach innen wie nach außen. Wir werden uns von dieser Vision allerdings noch weiter entfernen, Die Vorschläge zu den institutionellen Reformen lie- wenn Sie in der Koalition beispielsweise an der gen jetzt endlich auf dem Tisch. Wenn ich mit Kollegin- Agenda 2010 des Kanzlers festhalten. Sie ist unsozial nen und Kollegen darüber rede, sagen sie, dass sie das und gemessen an der künftigen Verfassung im Übrigen alles nicht interessiert, und sie fragen mich, was das auch antieuropäisch. überhaupt soll. Bei aller verständlichen Skepsis sage ich: 3560 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Michael Roth (Heringen) (A) Es geht hier um die Machtfrage in Europa. Wer hat was, Ich verstehe die Kritik der Regierungen nicht, die im Zu- (C) wann, wie und an welchen Stellen zu entscheiden? sammenhang mit dem Präsidiumsvorschlag einen Weg aufgezeigt haben, wie der Kommissionspräsident vom Wir müssen mehr Demokratie wagen, damit das ins- Parlament zwar gewählt werden, man aber doch irgend- gesamt ein Erfolg wird. Wir brauchen einen vitalen Par- wie noch mitmischen kann. Wir brauchen hier eine klare lamentarismus, wir brauchen starke, einflussreiche und Kante; es muss eine klare Regelung geben. Der Kom- selbstbewusste Parlamente auf der europäischen Ebene missionspräsident muss von der politischen Mehrheit im und wir brauchen nationale Parlamente, die sich dieser Europäischen Parlament abhängig sein. Er muss von ihr europäischen Aufgabe besser als bislang stellen. gewählt, getragen und unterstützt werden. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) Ich glaube, das muss noch deutlicher werden; denn wenn wir es wirklich schafften, den europäischen Wahl- Die Europäische Union ist nicht nur eine Union der prozess zu europäisieren, dann gäbe es auch europäische Staaten – so wie das eben schon zum Ausdruck gebracht Spitzenkandidaten. Ich bin mir sicher: Wenn die Kolle- wurde –, sondern sie ist auch eine Union der Bürgerin- ginnen und Kollegen der konservativen Seite einen euro- nen und Bürger. Offensichtlich herrscht darüber kein päischen Spitzenkandidaten aufzustellen haben, dann Konsens; denn sonst hätte der Präsident des Konvents, werden sowohl Ministerpräsident Juncker als auch Mi- der ja nicht irgendeiner extremistischen Minderheit in nisterpräsident Aznar daran beteiligt sein, ihn zu benen- Europa angehört, diese gefährlichen Vorschläge nicht nen und ihm das Vertrauen zu schenken. Deswegen kann unterbreitet. Es ist ein zum Teil gefährliches Selbstver- ich es nicht nachvollziehen, warum man dem Europäi- ständnis, das hier zum Tragen kommt und zum Ausdruck schen Parlament nicht das Vertrauen entgegenbringt, wel- gebracht wird; denn die Europäische Union ist nicht al- ches es braucht, um stark, einflussreich und mächtig sein lein die Domäne der Staaten und ihrer Regierungen. Was zu können. Vielleicht schaffen wir es dann endlich, nicht für ein demokratisches Selbstverständnis wäre das? länger nur über europäische politische Familien, sondern auch über kraftvolle europäische Parteien zu reden, die Was heißt, mehr Demokratie für Europa wagen? Hier das tun, was auf europäischer Ebene notwendig ist. sind wir glücklicherweise einer Meinung. Das heißt zu- nächst einmal: Das Europäische Parlament muss ein (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) starkes Parlament als Kammer der Bürgerinnen und Bür- ger sein. Natürlich ist es wichtig, dass wir auch über uns selbst und über die Rolle der nationalen Parlamente spre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen. Ich kann die Skepsis mancher Kolleginnen und DIE GRÜNEN) Kollegen durchaus verstehen. Ich habe das bei der Erar- (B) (D) Wir brauchen dabei selbstbewusste und vom Vertrauen beitung unseres Antrages gemerkt. Es gibt Vorbehalte. der Bürgerinnen und Bürger getragene Europaabgeord- Diese erwachsen aus der Frage: Was wird aus uns, wenn nete. Wir wissen doch, wie schwierig das ist. Das erfah- mehr und mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene ren wir aus unseren Gesprächen mit den Kolleginnen verlagert werden? Wir müssen uns aber vor allem als und Kollegen aus dem Europäischen Parlament. Deswe- Partner des Europäischen Parlaments begreifen und eine gen ist es wichtig, dass wir Wahlkreise einrichten, um ih- Arbeitsteilung zwischen den Parlamenten vornehmen. nen die Chance zu geben, näher bei den Bürgerinnen und Das bedeutet, dass wir innerstaatlich stärker am europäi- Bürgern zu sein. Dadurch können sie – wie jeder Bun- schen Handeln mitwirken und auch dann mitentschei- destagsabgeordnete auch – ein überschaubares Gebiet den, wenn es den Regierungen gelegentlich nicht gefällt. bearbeiten, sodass sie sich heimisch und von den Men- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schen, die sie oder ihn gewählt haben, getragen fühlen können. Herr Kollege Hintze, Sie haben vorhin an einigen Punkten Kritik geübt. Wir müssen die Möglichkeiten, die Wir müssen auch dem Prinzip „One man, one vote“ in Art. 23 des Grundgesetzes zugrunde gelegt werden, eine stärkere Durchschlagskraft verleihen; das ist ein offensiv nutzen. Ich glaube, dass es hier noch Spielraum ganz wichtiger Punkt. gibt – das sage ich im Hinblick auf alle Fraktionen –, der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ungenutzt brachliegt. Diesen sollten wir nutzen. Aber wenn der Verfassungsentwurf vorliegt, müssen wir uns Herr Kollege Müller, wir wissen, dass eines dabei natür- wie nach dem Vertrag von Maastricht überlegen, welche lich sehr deutlich sein muss: Bei den ganz kleinen Mit- Konsequenzen wir daraus für unser parlamentarisches gliedstaaten wird es eine gewisse Mindestrepräsentanz Handeln auf der nationalen Ebene ziehen. Es darf keine geben müssen. Problemverlagerung auf die europäische Ebene geben, (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das Prinzip ist indem wir irgendeine Institution schaffen, über die die aber Voraussetzung, um weiterzumachen!) nationalen Parlamentarier in Brüssel entscheiden. Es darf keinen Kongress der Völker Europas und auch keine Zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat, weitere Kammer für die nationalen Parlamente geben. der als Kammer der Staaten durch die Regierungen re- Wir haben hier genug zu tun, um Europapolitik aktiv mit- präsentiert wird, muss bei der Gesetzgebung natürlich zugestalten. Das nämlich ist unsere Aufgabe. Gleichberechtigung herrschen. Der entscheidende Punkt ist, dass das Europäische Parlament den Chef der Exeku- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tive wählen muss. Wir brauchen ein Gesicht für Europa. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3561

Michael Roth (Heringen) (A) Die Europäische Union und die europäische Demokratie Genauso müssen Sie uns einmal sagen, was die CSU (C) brauchen europataugliche nationale Parlamente, die die – bei aller Wertschätzung einzelner Kollegen – eigent- Europapolitik ihrer Regierungen effizient und durch- lich will. Sie gefällt sich nämlich in fatalistischen La- schlagsfähig kontrollieren. mentos. Immer wieder hören wir im Ausschuss: Das al- les können wir nicht machen. Wenn von unseren Mehr Demokratie bedeutet aber auch eine Weiterent- Delegierten im Europaausschuss berichtet wird, dann wicklung des Ministerrates zu einer starken Kammer, die kommt von der CSU: Wir dürfen gar nicht richtig mitar- öffentlich tagt und mit Mehrheit entscheidet. Wir wollen beiten. Ich stelle Ihnen nun die Frage: Was wollen Sie kein Einstimmigkeitsprinzip mehr. Daher unterstützen denn eigentlich? Wo bleiben denn Ihre konstruktiven Al- wir auch unseren Konventsdelegierten. Mehr Demokra- ternativvorschläge zu dem, was wir in unserem Antrag tie bedingt auch einen von der Mehrheit des Parlaments fordern? Zeigen Sie einmal Flagge und machen Sie deut- getragenen und nicht allein vom Wohlwollen der Regie- lich, wo Ihre Alternativen liegen! rungen abhängigen Kommissionspräsidenten. (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE Aber mehr Demokratie verlangt auch eine engere An- GRÜNEN]: Sehr gut!) bindung der Parlamente an die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Ich bin stolz auf das, was wir im Die Machtfrage in Europa ist gestellt. Aus meiner Deutschen Bundestag vor allem in der Verteidigungspo- Sicht kann diese Machtfrage nur demokratisch oder gar litik leisten; denn wir haben eine Parlamentsarmee. Weil nicht beantwortet werden. Für die letzte Etappe wünsche wir uns als Seismographen der Gesellschaft verstehen ich allen viel Kraft und Ausdauer, aber auch die Bereit- und nah an den Bürgerinnen und Bürgern sind, kommen schaft zum Kompromiss. Deswegen habe ich auch Ver- verteidigungspolitische Entscheidungen verantwor- ständnis dafür, wenn sich der Außenminister mit einem tungsbewusst zustande. Ich glaube, dass dieses parla- Vorschlag zur Wahl des Kommissionspräsidenten, der mentarische Verständnis von Verteidigungspolitik gut uns vielleicht nicht unbedingt schmeckt, in den Konvent für unser Land ist. Es wäre auch gut für Europa, wenn begibt und versucht, eine Kompromisslinie aufzuzeigen. wir das Europäische Parlament noch stärker an diesen Bei aller Kritik, die wir in dieser Frage vielleicht teilen, grundlegenden Fragen der Außen-, Sicherheits- und Ver- brauchen wir auch die Bereitschaft zum Kompromiss; teidigungspolitik beteiligten. anderenfalls kann das ganze Projekt nicht gelingen. Des- wegen unseren Delegierten, unseren Schaffern vor Ort in Weniger Demokratie bedeutete es aber, wenn wir ei- Brüssel: Glück auf für die letzte Etappe! nen mächtigen Ratspräsidenten hätten, der sich allein Danke schön. den Regierungen verpflichtet fühlt. Weniger Demokratie (B) bedeutete es auch, wenn wir stur am Einstimmigkeits- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) prinzip festhielten, wenn es uns nationalstaatlich ge- DIE GRÜNEN) nehm ist. Der Koalitionsantrag, der schon einige Male ange- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sprochen wurde – von der Kollegin Pau hätte ich mir ge- Nächster Redner ist der Kollege Peter Altmaier, wünscht, sie hätte ihn etwas aufmerksamer gelesen –, CDU/CSU-Fraktion. soll Richtschnur und Stütze für unsere Konventsdele- gierten sein. Er macht deutlich: Die SPD war, ist und Peter Altmaier (CDU/CSU): bleibt eine Europapartei, die nicht nur theoretisiert, son- dern sich tagtäglich abmüht, Europa menschlicher, soli- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe darischer, gerechter und friedlicher werden zu lassen. Kolleginnen und Kollegen! Dieser Konvent war die rich- Das ist unsere große Aufgabe. tige Antwort auf die großen Reformherausforderungen der Europäischen Union. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ( [CDU/CSU]: Jawohl!) Er war nicht deshalb die richtige Antwort, weil die Dele- Das Referendum ist angesprochen worden. Sie brau- gierten so besonders gut sind. Das sind sie vielleicht chen gar nichts mehr zu entwickeln oder vorzuschlagen, auch, jedenfalls einige. Er war auch nicht deshalb die Frau Leutheusser-Schnarrenberger. Diese Koalition hat richtige Antwort, weil er in Brüssel und nicht an einem einen Vorschlag für mehr plebiszitäre Elemente im deut- anderen Ort tagt. Vielmehr war er die richtige Antwort, schen Grundgesetz vorgelegt. Dieser Vorstoß ist aber je- weil er unter den Augen und unter der Kontrolle der Öf- des Mal vor allem an der CDU/CSU gescheitert. Deswe- fentlichkeit und nicht hinter verschlossenen Türen tagt. gen schlage ich Ihnen vor: Wir debattieren über mehr Es ist im Laufe der letzten anderthalb Jahre immer wie- plebiszitäre Elemente in der Bundesrepublik. Ich bin der gelungen, die Aufnahme von Vorschlägen, die ge- dann gespannt, wie sich die CDU/CSU verhalten wird; fährlich und problematisch waren, dadurch zu verhin- denn sie hat diesen Vorschlag auf nationalstaatlicher dern, dass der Druck der öffentlichen Meinung Ebene ständig abgelehnt. Aus diesem Grunde kann ich mobilisiert worden ist. Dies zeigt, dass es in einer demo- nicht verstehen, warum Herr Stoiber für die europäische kratischen Gesellschaft keine Alternative zu einer öf- Ebene jetzt etwas fordert, was er nationalstaatlich mas- fentlichen politischen Debatte gibt. siv abwehrt und dem er sich verweigert. Diese Frage müssen Sie uns beantworten. (Beifall im ganzen Hause) 3562 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Peter Altmaier (A) Dieser Konvent kann, wenn er den selbst gesteckten Bevormundung durch die großen wegen des Direktori- (C) Erwartungen gerecht wird, ein wirklich historisches Er- ums gewachsen ist. Das hat nicht in erster Linie etwas gebnis erreichen, mit dem Europa, die europäische Inte- damit zu tun, dass das Konventspräsidium Vorschläge gration auf eine neue qualitative Stufe gestellt wird. Er gemacht hat, die an der einen oder anderen Stelle verbes- wird aber – auch das müssen wir den Menschen draußen serungsbedürftig sind, sondern damit, dass durch die De- sagen – Europa nicht neu erfinden, nicht alles verändern batten der letzten Monate auch im Zusammenhang mit und nicht alles in Frage stellen. Vielmehr soll er auf den dem Thema Irak das Grundvertrauen in Europa beschä- Errungenschaften aufbauen, die seit 50 Jahren erreicht digt worden ist. Leider Gottes ist die Bundesrepublik worden sind, sie verbessern und so ausgestalten, dass sie Deutschland zum ersten Mal als gerechter Makler zwi- den Herausforderungen der heutigen Zeit gerecht wer- schen Groß und Klein ausgefallen. Ich bitte Sie, Herr den. Staatsminister Bury, helfen Sie mit, dies wieder zu repa- rieren. Davon hängt der Erfolg des Konvents in entschei- Das sind keine Schlagworte. Wenn wir über Bürger- dender Weise ab. nähe und Demokratie reden, dann bedeutet dies in der heutigen Zeit zuvörderst, dass die Bürger die Möglich- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) keit haben müssen, mitzuentscheiden. Die Europäische Union ist kein Staat und wird durch diesen Konvent auch Meine Damen und Herren, so wichtig es ist, über kein Staat, aber sie hat in vielen Bereichen Zuständigkei- Groß und Klein, über den Ausgleich zwischen Arm und ten wie ein Staat. Daher muss sie auch wie ein Staat or- Reich, zwischen Nord und Süd sowie zwischen Alt und ganisiert sein. Das heißt, die Bürger müssen die Mög- Neu zu diskutieren, so sehr müssen wir darauf achten, lichkeit haben, ihre Regierung zu wählen und dass dies nicht die einzigen Fragen sind, die die politi- abzuwählen. Deshalb ist die in diesem Konvent aufge- sche Debatte in Europa bestimmen. Wir müssen in Zu- worfene Frage, ob das Europäische Parlament den Präsi- kunft nicht über Groß und Klein diskutieren, sondern denten der Europäischen Kommission wählt, keine tech- darüber, ob eine Entscheidung richtig oder falsch ist und nische Frage, sondern die entscheidende Frage nach ob durch sie die Probleme gelöst werden. Dafür brau- Demokratie und Bürgernähe. chen wir die Reform der politischen Institutionen. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Wir müssen den Europäischen Rat und Europa insge- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- samt effizienter machen. Was nützt es den Bürgern, ten der SPD) wenn Europa für die Lösung seiner Probleme in immer weiteren Bereichen zuständig ist, es aber zehn, 15, 17 In diesem Zusammenhang richte ich an die Adresse oder 18 Jahre dauert, bis eine notwendige gesetzliche des Vertreters der Bundesregierung die Bitte, noch ein- Maßnahme verabschiedet wird, und dann, wenn nach (B) mal über Folgendes nachzudenken: Wenn wir mehr De- 15-jährigen Beratungen die europäischen Regierungs- (D) mokratie und Bürgernähe erreichen wollen, dann passt chefs hinter verschlossenen Türen einen Kompromiss der Vorschlag des Bundesaußenministers nicht dazu, gefunden haben, die Beamten eine Woche lang darüber dass nach der Wahl des Kommissionspräsidenten rätseln, was eigentlich beschlossen worden ist? Solche durch das Europäische Parlament – derjenige, der nach Entscheidungsverfahren können wir uns nicht mehr leis- einer Europawahl im Europäischen Parlament die Mehr- ten. heit hat, wird gewählt – der Europäische Rat mit qualifi- zierter Mehrheit dann noch einmal darüber entscheidet, Aus diesem Grunde ist es so wichtig, dass wir das ob er diese Person auch tatsächlich ernennt. Prinzip der Mehrheitsentscheidung auf alles ausdeh- nen, was auf der europäischen Ebene zu entscheiden ist. (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Abenteuerlich!) Wir können es uns nicht länger leisten, durch einstim- Das wäre so ähnlich, als müsste der vom Bundestag ge- mige Entscheidungen und Vetorechte für jedes einzelne wählte Bundeskanzler anschließend mit absoluter Mehr- Land die Europäische Union erpressbar zu machen und heit vom Bundesrat bestätigt werden. die Blockademöglichkeiten zu vergrößern. Deshalb muss dort, wo Europa zuständig ist, in Zukunft mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mehrheit entschieden werden. Dies setzt die Bereitschaft voraus, sich auch einmal überstimmen zu lassen; denn es Das ist noch nicht einmal parlamentarische Monarchie; ist besser, dass es zu einer Entscheidung kommt, als dass das ist vorparlamentarische Monarchie. alles jahrelang blockiert wird. Wenn wir Europa effizient Ich bitte Sie ganz herzlich: Denken Sie noch einmal und fit machen, starke Institutionen haben und mit darüber nach und ziehen Sie diesen Antrag zurück! Die Mehrheit entscheiden, dann müssen wir aber auch dafür gesamte Debatte über Ratspräsidentschaft und über insti- sorgen, dass klar ist, welche Ebene in Europa wofür zu- tutionelle Arrangements – die die Bürger nur begrenzt ständig ist, damit nicht über diese Mehrheitsentschei- interessieren, aber im Konvent so schrecklich wichtig dungen immer mehr Zuständigkeiten schleichend auf die sind – hat natürlich auch zum Gegenstand, wie man Eu- europäische Ebene abwandern. ropa so organisieren kann, dass es zu einem gerechten Deshalb ist es auch der Mühe wert, einmal darüber zu Interessenausgleich zwischen Großen und Kleinen in diskutieren, ob man bei einer Vergemeinschaftung des Europa kommt. Asylrechts nicht sagen muss, wir wollen beispielsweise Aus der Konventsarbeit der letzten Tage und Wochen die Einwanderung weiterhin national regeln, weil die muss man dazu sagen, dass das Misstrauen vor allen Mitgliedstaaten viel dichter an der Frage sind, wie viele Dingen der kleinen Mitgliedstaaten in Bezug auf eine Personen in den Arbeitsmarkt zuwandern können. Diese Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3563

Peter Altmaier (A) Debatte muss in den letzten Wochen im Konvent geführt Wir müssen klar machen: Wenn Europa etwas zu sa- (C) werden. gen haben und eine Rolle spielen soll, dann darf es in Zukunft weder für Deutschland noch für irgendein ande- (Beifall bei der CDU/CSU) res Land einen nationalen Sonderweg geben, dann kann Im Hinblick auf den europäischen Stabilitätspakt es nur gemeinsame europäische Entscheidungen geben. wollen wir erreichen, dass in Zukunft im Ministerrat Meine Damen und Herren, wenn Europa funktionie- nicht hinter verschlossenen Türen gekungelt wird, ren soll, mit Kompetenzen wie ein Staat, mit Institutio- (Günter Gloser [SPD]: Da wird nicht gekun- nen, die stark und unabhängig sind, dann braucht es auch gelt!) eine gemeinsame Identität. Denn nur wenn sich die Bürgerinnen und Bürger zu diesem Europa bekennen, ob ein Land einen blauen Brief bekommt oder nicht. wenn sie das Gefühl haben, in diesem Europa zu Hause Vielmehr muss die Kommission nach einem objektiven zu sein, werden sie es auch auf lange Sicht unterstützen. Verfahren die Mitgliedstaaten zur Einhaltung ihrer Ver- pflichtungen anhalten. Deshalb müssen wir zwei Dinge deutlich machen. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern erstens deut- (Beifall bei der CDU/CSU) lich machen: Dieses Europa wächst zusammen und es In diesem Falle brauchen wir aber nicht noch eine zu- wird nach dieser großen Reform besser als zuvor in der sätzliche Zuständigkeit der Europäischen Union für die Lage sein, ihre Probleme in dem Bereich zu lösen, für Koordinierung der Wirtschaftspolitiken insgesamt. Das den Europa zuständig ist. Wir müssen ihnen aber auch heißt, das Prinzip „Weniger, aber besser“ sollte für uns die Angst nehmen, dass die europäische Integration ir- die Leitschnur bei der Neuordnung der Kompetenzen gendwann dazu führt, dass der Nationalstaat überflüssig sein. wird und dass die eigene nationale Identität verloren geht. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass wir zum Natürlich müssen wir die Verfahren zur Erhebung der ersten Mal in der europäischen Verfassung eine Vor- Mehrwertsteuer und anderer indirekter Steuern so re- schrift haben werden – Art. 9 Abs. 6 –, die ausdrücklich geln, dass sie europaweit kompatibel sind. Aber brau- besagt, dass bei der Anwendung der Kompetenzen der chen wir wirklich eine eigene Steuer für die Europäische Europäischen Union die nationale Identität der Mit- Union oder zahlen die Bürger nicht schon Steuern ge- gliedstaaten einschließlich der föderalen Gliederung nug, sodass eigentlich Steuersenkungen, nicht aber wei- und der kommunalen Selbstverwaltung zu achten ist. tere Steuererhöhungen erforderlich wären? (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abgeord- Meine Damen und Herren, wir brauchen ein System der neten Anna Lührmann [BÜNDNIS 90/DIE (B) (D) Kompetenzausübung, das auch dazu führt, dass der Euro- GRÜNEN]) päische Gerichtshof aus der Kritik kommt. Der Europäi- sche Gerichtshof ist aus exzellenten Juristen – Richtern Das ist ein wichtiger Fortschritt, weil er Ängste weg- und Generalanwälten – zusammengesetzt, die eine her- nimmt und dazu führt, dass die Akzeptanz von Europa vorragende Arbeit leisten und das europäische Recht so verbreitert wird. auslegen, dass es Wortlaut und Sinn der Europäischen Dazu gehört auch, dass wir unsere Grundwerte klar- Verträge entspricht. In der Vergangenheit wurden sie im- machen und deutlich machen, woher wir kommen und mer nur zugunsten der Integration ausgelegt. Wenn wir auf welchen Traditionen wir aufbauen. Peter Hintze hat aber erreichen wollen, dass Mitgliedstaaten und Europäi- gesagt: Wir wollen einen Bezug zu Gott. Ich unterstrei- sche Union über einen Kernbereich an Aufgaben verfü- che das nachdrücklich. Alle Redner haben gesagt, sie gen, dann muss in Zukunft in bestimmten Bereichen auch wollten, dass die Europäische Grundrechte-Charta zugunsten der Mitgliedstaaten entschieden werden kön- rechtsverbindlich wird, damit sie unser europäisches nen. Wenn wir die Kompetenzordnung so regeln, dann Erbe zum Ausdruck bringt. Dazu gehören Demokratie, wird der EuGH auch dafür sorgen, dass die Kompeten- Rechtsstaatlichkeit, Gleichberechtigung von Mann und zen der Mitgliedstaaten geachtet werden, genauso wie Frau und vieles andere mehr. Wenn wir es schaffen, dies er es jetzt bei den Kompetenzen der Europäischen Union in verständlicher Form in die europäische Verfassung zu tut. schreiben, dann ist sie weniger technisch und leichter Wir brauchen in Europa in der Tat endlich eine verständlich. Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die diesen Namen verdient. Es gibt im Zeitalter der Globali- Ich komme zum letzten Punkt. Lieber Michael Roth, sierung mit Ausnahme der Vereinigten Staaten von ich freue mich sehr, dass Sie gesagt haben: Wir stehen zu Amerika heute keine großen Länder mehr. Das haben unseren Vorschlägen für ein europäisches Referendum nur noch nicht alle Länder bemerkt. Meine Befürchtung und für mehr direkte Bürgerbeteiligung. Wenn ich aber ist, dass es auch im deutschen Bundeskanzleramt nicht sehe, wie panisch Herr Müntefering und Herr Scholz re- überall bemerkt worden ist. Sonst hätte man nicht im agiert haben, als zwölf Kolleginnen und Kollegen von August letzten Jahres vom deutschen Weg in der Außen- Ihnen politik geredet. Das hat dazu geführt, dass in Europa (Peter Hintze [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Misstrauen entstanden ist. Das hat dazu geführt, dass die Verhandlungen im Konvent im Bereich der Außen- und von dem Institut der Mitgliederbefragung Gebrauch ge- Sicherheitspolitik schwierig geworden sind. macht haben, das in Ihrer eigenen Parteisatzung vorhan- 3564 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Peter Altmaier (A) den ist, dann sollten Sie auch über diesen Vorschlag Ich bitte Sie alle, zumindest eines mitzutragen, näm- (C) noch einmal nachdenken. lich dass wir uns dafür einsetzen, dass diese europäische Verfassung in einer Sprache formuliert wird, die die (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Das ist Dikta- Menschen in diesem Lande verstehen können. tur! Parteiendiktatur! – Gegenruf des Abge- ordneten Michael Roth [Heringen] [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Wir sollten alles tun, damit wir den Zeitplan einhal- CDU/CSU und der FDP) ten, damit der Konvent in die Lage kommt, wie vorgese- hen im Juni einen vernünftigen, einen weiterführenden Denn die technischen Formulierungen im Verfassungs- Vorschlag zu unterbreiten. Wir sollten ihn dann in der entwurf verstehen nur Lobbyisten und Insider wie wir. Regierungskonferenz zügig verabschieden. Dann wird uns dieser neue Verfassungsvertrag in die Lage verset- Ich möchte noch versuchen, etwas richtig zu stellen, zen, dass wir uns endlich um das kümmern, was die Bür- was sowohl von dem Kollegen Altmaier als auch von dem Kollegen Hintze dargestellt worden ist. Die Initiati- ger von uns erwarten, nämlich die Lösung ihrer drängen- den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme. ven, die die deutsche Bundesregierung zusammen mit In diesem Sinne Glückauf! Frankreich, Belgien und Luxemburg unternommen hat, sind in dieser Darstellung aus meiner Sicht in der histori- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen Bewertung in ein völlig falsches Licht gerückt worden. Sie berauben sich auch der Chance, das umzu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: setzen, was Sie immer gewollt haben. Sie haben nämlich in Ihrem Antrag zum Élysée-Vertrag mit Recht genau das Der nächste Redner ist der Kollege Rainder gefordert, Kollege Hintze, was die Bundesregierung jetzt Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen. initiiert hat, nämlich mit der Achse Paris–Berlin als Mo- tor eine europäische Sicherheits- und Verteidigungs- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- union voranzutreiben, und zwar nicht im Sinne eines NEN): Kerneuropas, das andere Länder ausschließt, sondern im Sinne eines Modells, mit dem jemand vorangeht und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! feststellt, dass es sich – vor allem nach den Ereignissen Lieber Kollege Altmaier, wenn es jemanden gibt, der der letzten Zeit – um eine zentrale Frage europäischer keinen Anlass hat, mit Häme über Elemente der direk- Politik für die Zukunft handelt, europäische Sicherheits- ten Demokratie zu sprechen, dann glaube ich, dass das und Verteidigungspolitik gemeinsam zu definieren und Ihre Fraktion ist. dafür Ressourcen zur Verfügung zu stellen. (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD) Wir haben Ihre Fraktion seit Jahren in diesem Hause er- Darin sollten wir uns einig sein und das sollten wir auch lebt, wenn es darum ging, die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam unterstützen. außerhalb von Wahlen direkt an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, wofür wir uns immer eingesetzt und auch Bei dem Vierergipfel hat es sich keineswegs um ein entsprechende Gesetzentwürfe vorgelegt haben. So rich- Treffen von Spaltern gehandelt. Vielmehr sind die Im- tig auch vieles in Ihrer Rede meiner Meinung nach ist, pulse, mit denen wir Europa voranbringen wollen, auf Kollege Altmaier, bitte ich doch an dieser Stelle darum, Integration angelegt. Die Geschichte der Europäischen parteipolitische Polemik außen vor zu lassen. Union zeigt, dass es immer das Prinzip großer Verände- rungen in Europa war, dass sich einige auf den Weg ge- Wir befinden uns in einer Situation – das hat die De- macht und Initiativen entwickelt haben. Oftmals muss- batte in diesem Hause gezeigt, die auf einem sehr hohen ten andere Staaten erst von diesen Vorschlägen Niveau verläuft; es gibt viele Forderungen, die von die- überzeugt werden. sem Hohen Haus gemeinsam nach Europa getragen wer- den –, in der wir auch ein großes Interesse daran haben Der EU-Vertrag ist voll von Initiativen einzelner Staa- müssten, die Menschen in diesem Lande mitzunehmen. ten. Schengen zum Beispiel geht auf eine Initiative von Denn diese Debatte wird – das zeigt die geringe Zahl der Deutschland und Frankreich zurück. Die Initiative zur Abgeordneten, die das Hohe Haus hier repräsentieren – Beschäftigungspolitik wurde von Schweden angestoßen. diesem Thema und seiner historischen Bedeutung nicht Die gesamte Umweltpolitik wurde im Grunde von einer gerecht. deutsch-dänischen Achse in Europa vorangebracht. Die Unionsbürgerschaft ist von Spanien und Portugal entwi- Angesichts der Debatte in der Öffentlichkeit bzw. in ckelt und in die EU hineingetragen worden. den Medien dieser Republik kann nicht davon die Rede sein, dass es uns bisher gelungen ist, die Menschen in Europa lebt von solchen Initiativen. Wir sollten uns diesem Lande an diesen historischen Entscheidungen im positiven Sinne darauf beziehen, statt im Nachklapp zu beteiligen, die Europa über Generationen hinweg prä- zu Debatten, die hier geführt worden sind und in denen gen und die Grundlage für ein immer demokratischeres, sich der eine oder die andere vielleicht unwohl gefühlt friedliches, solidarisches, aber auch nachhaltiges Europa hat, zu mäkeln. Wir sollten in dem Wissen, dass wir die schaffen werden. In diesem Bereich gibt es Versäum- Thematik, die von den Teilnehmern des Vierergipfels an- nisse. diskutiert worden ist, in der Europäischen Union ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3565

Rainder Steenblock (A) meinsam voranbringen wollen, nach vorne gerichtet dis- Es ist zwar schön, wenn wir Abgeordnete uns einig sind (C) kutieren. Das sollte unser Interesse bestimmen. bzw. gemeinsame Linien entwickeln. Aber entscheidend ist natürlich, welche Vorschläge der Bundesaußenminis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ter in den Konvent einbringt. Ich hätte gern mit ihm hier und bei der SPD) vor der deutschen Öffentlichkeit über sein Konzept dis- Zum Schluss möchte ich noch auf einen Wert hinwei- kutiert. Er fährt stattdessen in Begleitung von zehn Fern- sen, der gerade für die Fraktion der Grünen neben dem sehkameras zu den Konventsitzungen in Brüssel, gibt Wettbewerb und den Zielen der ökonomischen Entwick- anschließend Zwei-Minuten-Statements ab und ver- lung, die Sie, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, für die schwindet wieder. Das ist nicht dem Ernst und der Zu- FDP angesprochen haben, wichtig ist. Europa wird aus kunftsbezogenheit dieses Projektes angemessen. unserer Sicht nur dann eine Zukunft haben, wenn es ein (Beifall bei der CDU/CSU) Europa der Nachhaltigkeit ist, wenn es also zukünftigen Generationen Lebensperspektiven bietet und ein Europa Lassen Sie mich im Angesicht unserer leibhaftigen Kon- ist, in dem die Ökonomie nicht zulasten der Schwachen, ventsvertreter, Herrn Altmaier und Herrn Professor der Natur, die sich nicht wehren kann, und der zukünfti- Meyer, die sich in hervorragender Weise auch um den gen Generationen, die sich nicht wehren können, entwi- Kontakt zum Parlament bemühen, einige Anmerkungen ckelt wird. Ein Europa der Nachhaltigkeit ist ein Europa, aus der Sicht meiner Partei über den derzeitigen Diskus- das mit seinen Ressourcen vernünftig umgeht, das zum sionsstand machen. Der Verfassungskonvent – Herr Beispiel vom Erdöl wegkommt und eine eigene Energie- Altmaier hat schon darauf hingewiesen – ist keine revo- versorgung auf der Grundlage regenerativer Energien lutionäre Nationalversammlung im Sinne der von 1789 schafft, ein Europa, das die Bildungspolitik und die For- oder des Konvents von Herrenchiemsee. Wir versuchen schungspolitik als Ressourcen seiner zukünftigen Mög- vielmehr, Schritt für Schritt auf die Osterweiterung, auf lichkeiten erkennt, die exportiert werden können, ein Eu- ein Europa der 25 oder der 35, die passenden Antworten ropa, das nicht danach strebt, andere zu unterdrücken, der Zusammenarbeit zu geben. Dabei wäre es zunächst und das nicht auf Konkurrenz aufgebaut ist, sondern das einmal notwendig, eine Diskussion über die Finalität im Kern solidarisch ist und dessen Länder füreinander der Europäischen Union zu führen. Das bundesstaat- einstehen. Diese Form der Nachhaltigkeit in Europa ist liche Modell war die Antwort auf ein Europa der zwölf für uns ein Wert, für den wir besonders kämpfen. oder 15 Mitgliedstaaten. Nunmehr ist die politische Ent- scheidung gefallen, nächstes Jahr die Europäische Union Vielen Dank. auf 25 zu erweitern. Im Prinzip ist auch die Vorentschei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dung gefallen, im nächsten Schritt die Europäische und bei der SPD) Union – unter anderem mit der Aufnahme der Türkei, (B) (D) Rumäniens und Bulgariens, möglicherweise auch von Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Balkanstaaten – auf 35 zu erweitern. An dieser Stelle verabschiedet sich die Europäische Union natürlich vom Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerd Müller, bundesstaatlichen Modell; denn ein solches Modell CDU/CSU-Fraktion. kann zwar mit zwölf Mitgliedern erfolgreich sein, nicht aber mit 35. Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Wir müssen diese Debatte miteinander ernsthaft führen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach Die Prinzipien „Erweiterung“ – sofern man dies will – und dem Binnenmarkt, dem Euro und der Osterweiterung ist „Vertiefung“ sind natürlich ein Stück weit widersprüch- das Projekt eines europäischen Verfassungsvertrages ein lich. Wir müssen eine Diskussion über das Thema „Nation weiterer großer Reformschritt. Ich finde die Debatte und Europa“ führen. Wir müssen klären, welchen Stellen- prima, die wir Parlamentarier geführt haben. Sie ist of- wert die Nation zukünftig im Verhältnis zur europäischen fen. Es gibt eine Schnittmenge an Vorschlägen, die über und zur regionalen Ebene hat. Herr Altmaier ist darauf alle Fraktionsgrenzen hinweg als interessant betrachtet eingegangen: Europa ist kein Staat; es wird auch in Zu- werden. Wir sind Deutsche, die ihre Positionen zu dem kunft auf Nationalstaaten aufbauen. Umgekehrt sind wir europäischen Verfassungsvertrag formulieren. Das intel- uns alle einig: Der Nationalstaat braucht auch Europa, lektuelle Niveau der Debatte ist vielleicht auch deshalb weil kein Staat die zentralen Herausforderungen allein re- so gut, weil die Bundesregierung daran fast gar nicht geln kann. Was die Regelungsdichte angeht, sollte Europa teilnimmt. Einerseits bedauere ich das. Herr Bury, ich das Große besser machen und sich aus dem Kleinen weit- meine nicht Sie persönlich. Auf der anderen Seite ist es gehend zurückziehen. schon erschreckend, dass bei der Diskussion über ein solches Projekt mit weit reichender Bedeutung wie das CDU und CSU haben ein Gesamtkonzept vorgelegt. eines europäischen Verfassungsvertrages weit und breit Von der Bundesregierung, Herr Bury, liegt so etwas lei- kein Bundeskanzler und kein Bundesaußenminister zu der nicht vor. Es gibt zwar Änderungsanträge; aber wir sehen sind. Die gesamte Bundesregierung glänzt durch wissen nicht, wohin Sie insgesamt wollen. Angesichts Abwesenheit. Das ist natürlich auch ein Affront gegen der Endphase der Arbeit des Konvents möchte ich, Herr dieses Parlament. Meyer und Herr Altmaier – Sie sind unsere Vertreter im Konvent –, einige Schwerpunkte kurz ansprechen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP – Widerspruch beim Erstens. Wir brauchen im Verfassungsvertrag eine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nachvollziehbare Kompetenzordnung, eine klare 3566 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Gerd Müller (A) Kompetenzabgrenzung – was macht Brüssel, was macht fen für alle Religionen, nicht nur für das Chris- (C) Berlin, was machen die Landesregierungen in Düssel- tentum!) dorf oder in München? –, die für den Parlamentarier und für den Bürger nachvollziehbar ist, und keine Auswei- Die Finanzierung der Europäischen Union muss tung der Kompetenzen, so wie es sich jetzt abzeichnet. weiterhin auf Beiträgen der Mitgliedstaaten beruhen. Von 1998 bis 2001 hat die Europäische Union allein im Die Schaffung einer Rechtsgrundlage für eine EU-Steuer Umweltrecht 1 500 Rechtsakte erlassen! ist abzulehnen. Wenn ich eine Hochrechnung auf Grund- lage der neuen Vorschläge von Barnier anstelle, dann ist Zweitens. Die Zuständigkeiten liegen grundsätzlich davon auszugehen, dass in zwei bis drei Jahren eine bei den Mitgliedstaaten. Neue Zuständigkeiten der EU Mehrwertsteuererhöhung oder höhere Einnahmen aus müssen daher ausdrücklich mittels konkreter und klarer der Tabaksteuer für die Finanzierung benötigt werden. Einzelermächtigungen begründet werden. Herr Profes- Dies wollen wir nicht. sor Meyer, die zuletzt vorgeschlagenen Zielbestimmun- gen – Vollbeschäftigung, Daseinsvorsorge, Gesundheits- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der schutz usw. – sind zu weit gefasst, da sie weit über die SPD: Sagen Sie das mal Ihrem Ministerpräsi- Handlungsbefugnisse der EU hinausgehen. denten! Der fand den Vorschlag ganz toll!) Drittens. Die Europäische Union sollte nicht das Der Bereich der Zuwanderung muss in nationaler Recht zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik besit- Verantwortung bleiben. Damit komme ich zu einem zen- zen – das ist jetzt vorgesehen –; denn eine Koordinierung tralen Punkt. Parallel zu dieser Sitzung tagen in Brüssel der Wirtschaftspolitik, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer die Innen- und Justizminister. Die Innen- und Justizmi- auf der Besuchertribüne und außerhalb des Plenarsaals, nister entscheiden über ein neues Zuwanderungsrecht. würde bedeuten, dass Brüssel in Zukunft die Generaler- Dazu gibt es Vorlagen. Nach den EU-Vorgaben sollen mächtigung für die Bereiche der Arbeitsmarkt-, Steuer- Asylbewerber mehr Leistungen erhalten und Flüchtlinge und Sozialpolitik hat. Wenn wir dies wollen, dann kön- nach zwölf Monaten den Zugang zum deutschen Ar- nen wir sofort den Beschluss fassen, diese Bundesregie- beitsmarkt erhalten. Das Europäische Parlament hat rung abzuschaffen – das wäre das eine – diese Vorschläge gebilligt und sich am 12. Februar mehrheitlich für eine weitgehende Öffnung des Ar- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das wäre nicht beitsmarkts für Drittstaatler ausgesprochen. das eine, das wäre das Beste!) Ich spreche dieses aktuelle Beispiel an, weil die theo- und – das wäre das andere – den Bundestag aufzulösen. retische Forderung nach Mehrheitsentscheidungen na- Wie Sie sehen, bleibt der Beifall an dieser Stelle aus. türlich Konsequenzen hat. Wenn wir die Mehrheitsent- Auch unsere Bürgerinnen und Bürger wollen nicht, dass (B) scheidung im Rat und die Mitentscheidung im (D) es die Bundesregierung und den Bundestag nicht mehr Europäischen Parlament einführen, ist dieser Beschluss, gibt. nämlich die weitgehende Öffnung des Arbeitsmarkts für Viertens. Die Mitgliedstaaten müssen – das ist ein Drittstaatler, beispielsweise im Bereich der Zuwande- zentraler Punkt, über den sich alle Fraktionen dieses rung, europäisches Gesetz, ohne dass sich der Deutsche Hauses einig sind; im Europäischen Verfassungskonvent Bundestag ein einziges Mal damit beschäftigt hat. Dies gibt es aber auch Vertreter, die eine entgegengesetzte kann nicht die Zukunft der europäischen Gesetzgebung Auffassung vertreten und das auch durch Änderungsan- sein. träge zum Ausdruck bringen – Herren der Verträge blei- (Beifall bei der CDU/CSU) ben. Es ist daran festzuhalten, dass die Begründung oder die Änderung von Kompetenzgrundlagen, die in Teil I Deshalb gilt es natürlich, bei der Frage „Wo Mehr- und Teil II des Verfassungsvertrages festgehalten sind, heitsentscheidungen und wo Einstimmigkeit?“ noch ein- der Ratifikation durch die Parlamente der Mitgliedstaa- mal genau hinzuschauen. Leider liegt der entsprechende ten bedarf. Teil II des Vertragsentwurfs noch nicht vor, Herr Bury. Das kann man dann auch nicht innerhalb von drei Tagen (Beifall bei der CDU/CSU) leisten. In diesem Punkt gibt es keinen Verhandlungsspielraum, Der Kollege Peter Hintze hat eine neue inhaltliche auch nicht für Herrn Brok und andere Delegierte im Forderung der CDU/CSU eingeführt. Ich würde mich Konvent. freuen, wenn die Kolleginnen und Kollegen aus den Fünftens – Herr Altmaier hat dies angesprochen –: Fraktionen der SPD, der Grünen und der FDP dieses der Wertebezug des Verfassungsvertrages. Die Europäi- Thema anhand der Thematik „Befassung der Innen- und sche Union soll mehr als nur eine Freihandelszone sein. Justizminister mit der Zuwanderungsfrage“ einmal Die Gefahr, dass sie das wird, besteht natürlich, wenn sie durchdenken würden. um die Türkei, um den Kosovo und vielleicht auf 35 Wir schlagen eine Ergänzung des Art. 23 des Mitgliedstaaten erweitert wird. Europa ist eine Werte- Grundgesetzes vor. Wir wollen, dass im Deutschen gemeinschaft und deshalb kämpfen wir für einen Werte- Bundestag in Zukunft bei der Sekundärrechtsetzung im bezug, auch für einen Gottesbezug in der Verfassung. Zusammenhang mit grundlegenden Entscheidungen des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ministerrats – die Zuwanderungsentscheidung heute Michael Roth [Heringen] [SPD]: Was hat das Nachmittag ist eine solche – wie folgt verfahren wird: denn mit der Türkei zu tun? Wir sind doch of- Am Tag vor einer solchen grundlegenden Entscheidung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3567

Dr. Gerd Müller (A) oder in der Woche davor sollte der Innenminister, Herr nur in die Debatte um den europäischen Verfassungskon- (C) Schily, in den Deutschen Bundestag kommen, seine Po- vent eingebracht werden, sondern ihn auch, wie es im sition darlegen, sich bei uns der Diskussion stellen, ein Titel heißt, in diese Richtung vorantreiben. Votum mit nach Brüssel nehmen und so abstimmen, wie es der Deutsche Bundestag ihm mit auf den Weg gege- Ich glaube, dass auch angesichts des heutigen histori- ben hat. schen Datums des 8. Mai, des Jahrestages der Befreiung unseres Landes von Nationalsozialismus und Diktatur, (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das geht doch das Thema Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik jetzt schon über den Europaausschuss!) und die Frage, wie wir uns den Herausforderungen der Zeit und des internationalen Terrorismus stellen und die Das muss die Zukunft sein. Wenn wir so verfahren, Sicherheitspartnerschaft in der NATO gestalten, heute zu dann finden wir auch wieder Resonanz und Interesse behandeln sind, denn all diese Dinge spielen für Europa beim Bürger und bei den Parlamentariern. Das Entschei- in Zukunft eine noch stärkere Rolle. Aber nicht nur das, dende ist: Wir bekommen wieder die Rückkopplung sie müssen auch in der jetzt zu erarbeitenden europäi- zum Bürger, zum Volk. Wir dürfen Europa nicht einfach schen Verfassung so strukturiert ausgearbeitet werden, nur obendrüber stülpen. Wir müssen die Themen beim dass diese Verfassung in Europa den Weg für eine Ge- Bürger verankern. Das nationale Parlament ist der meinsame Sicherheits- und Verteidigungsunion bereitet. Strang, an dem der Bürger die Gesetzgebung nach wie vor festmacht. Wir müssen die Kontrolle gegenüber Lassen Sie mich auch das noch vorweg sagen: Ich dem Ministerrat durch diese Grundgesetzänderung ef- kann zwar verstehen, wenn vonseiten der Opposition fektiv ergänzen. Der Bundesrat hat sich dieses Recht – der Kollege Hintze hat es ja getan – noch einmal eine längst geholt. kritische Rückschau auf die Dinge, die im Vorfeld des Vierergipfels geschehen sind, gehalten wird. Das Ent- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: scheidende ist aber, jetzt nach vorne zu schauen. Wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben uns die Herr Kollege, Ihre Redezeit ist zu Ende. Frage zu stellen, was wir einbringen müssen und ein- bringen können, damit schon bei den Beratungen des Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Konvents zur europäischen Verfassung eine Gemein- Jawohl. same Außen- und Sicherheitspolitik wirklich konkrete Gestalt annimmt. Ich finde es in diesem Zusammenhang Das ist ein Punkt, bei dem sich heute zu meiner gro- schon interessant, dass der ehemalige Bundesaußenmi- ßen Freude ein Stück Konsens abgezeichnet hat, bei dem nister Genscher erklärt hat, dass die Vorschläge des wir aufeinander zugehen können. Wenn das nicht so ge- (B) Brüsseler Gipfels nicht nur auf der Linie der EU-Be- (D) schieht, verabschieden wir den Verfassungsvertrag, ge- schlüsse seit 1999 liegen, sondern auch einen richtigen ben weitgehende weitere Rechte nach Brüssel, an den und vernünftigen Beitrag für den Konvent darstellen. Ministerrat und an das Europäische Parlament, ab, und in Zukunft wird kein Bürger mehr Interesse an dem ha- (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: ben und Notiz von dem nehmen, was im Deutschen Bun- Im Konvent diskutieren!) destag passiert. Das wollen wir alle nicht. – Richtig, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, deshalb Herzlichen Dank. gehört das in den Konvent hinein. Insofern lassen Sie mich auch noch einige Dinge zur Diskussion im Kon- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vent sagen. neten der FDP) Zunächst möchte ich unterstreichen – das erscheint Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mir für uns ganz wichtig –, dass sich die Initiative des Vierergipfels in vielen Dingen mit dem, was das Präsi- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege dium des Konvents vorgeschlagen hat, deckt. Diese Ini- Dietmar Nietan, SPD-Fraktion. tiative unterstützt also die Dinge, die jetzt vom Präsi- dium eingebracht worden sind. Ich halte es auch, trotz Dietmar Nietan (SPD): aller Diskussionen im Zusammenhang mit diesem Vie- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, rergipfel, für sehr wichtig, noch einmal darauf hinzuwei- lassen Sie mich am Schluss dieser Debatte, die wirklich sen, dass die daran beteiligten Regierungen, also auch eine Debatte ist, die Vorbildcharakter für das Parlament die Bundesregierung, ausdrücklich gesagt haben, dass hat, weil sie sehr sachlich ist und weil sie die wirklich ihre Initiativen zur Schaffung einer europäischen Vertei- wichtigen Punkte herausarbeitet, noch einmal auf einen digungs- und Sicherheitsunion eine Stärkung des euro- Punkt zurückkommen, der in den Beratungen des Kon- päischen Pfeilers im transatlantischen Bündnis zum vents jetzt eine große Rolle spielen wird, nämlich die Inhalt haben. Dieser Punkt ist sehr wichtig; wir sollten Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und den ihn nicht zerreden, sondern da auch die Beteiligten beim Weg hin zu einer gemeinsamen europäischen Sicher- Wort nehmen. heits- und Verteidigungsunion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wir haben dankenswerterweise den Antrag der Kolle- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der ginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion. Sie fordern, Abg. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger dass die Initiativen des Brüsseler Vierergipfels nicht [FDP]) 3568 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dietmar Nietan (A) Die von uns gewünschte Stärkung kann aber nur er- von den einstimmigen Entscheidungen und dass es – so (C) zielt werden, wenn wir alle Mitgliedstaaten – da rede ich schlägt Professor Meyer vor, auch um Ängste zu beseiti- jetzt nicht von den derzeit 15, sondern von den zukünftig gen – auch bei der europäischen Sicherheits- und Vertei- 25 Mitgliedstaaten – auf diesen Weg mitnehmen und ih- digungspolitik am Ende das Ziel sein muss, zu erhöhten nen die Chance zur Beteiligung geben. Es ist auch aus- qualifizierten Mehrheiten zu kommen. Ich glaube, das ist drücklich im Vorfeld und auch nach dem Vierergipfel der richtige Weg. Wir sollten diese Initiative als deutsche gesagt worden, dass es sich bei der Initiative nicht um ei- Regierung und als deutsche Parlamentarier unterstützen. nen Closed Shop handelt, sondern sie in die Richtung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gehen soll, im Konvent Strukturen zu schaffen, die es er- DIE GRÜNEN) möglichen, alle Mitgliedstaaten auf den Weg hin zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik mitzuneh- Wenn alle auf dem Weg mitgenommen werden sollen, men. muss auch auf nationale Eigenheiten eingegangen wer- den können. Gerade vor dem Deutschen Bundestag be- Es lohnt sich deswegen auch noch einmal ein genauer tone ich, dass der Parlamentsvorbehalt für mich essen- Blick in den Entwurf für den Konvent, den das Präsi- zieller Bestandteil der deutschen Kultur ist, wenn es um dium vorgelegt hat. Ich bitte dabei die Kollegen militärische Entscheidungen geht, und dass dieser Parla- Altmaier und Professor Jürgen Meyer, noch einmal auf mentsvorbehalt deshalb nicht stiekum über eine europäi- einen Punkt in den Beratungen des Konvents ganz be- sche Verfassung oder über europäische Entscheidungen sonders zu achten: Im Verfassungsentwurf finden wir ausgehöhlt werden darf, zumindest so lange nicht, wie es unterschiedliche Möglichkeiten der Zusammenarbeit: keine Parlamentarisierung der europäischen Verteidi- einmal die strukturierte Zusammenarbeit in Fragen von gungspolitik hin zum Europäischen Parlament gibt. Sicherheit und Verteidigung sowie die engere Zusam- Wenn es einen Parlamentsvorbehalt für das Europäische menarbeit. So weit, so gut. Man muss aber insbesondere Parlament gäbe, könnten wir uns darüber sicherlich auch darauf achten, dass es bezüglich der strukturierten Zu- im nationalen Entscheidungsrahmen unterhalten, aber sammenarbeit heißt, dass hohe Ansprüche an die militä- solange das nicht der Fall ist, muss es hier in diesem rischen Fähigkeiten der EU-Mitgliedstaaten gestellt wer- Hause den Parlamentsvorbehalt bei militärischen Ent- den sollen, die daran teilhaben wollen. An der Stelle scheidungen geben. müssen wir darauf aufpassen, dass wir nicht im Verfas- sungsentwurf durch die Unterscheidung in strukturierte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und vertiefte Zusammenarbeit ein Konstrukt schaffen, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der das das Ziel, alle auf den Weg hin zu einer Gemeinsa- CDU/CSU und der FDP) men Außen- und Sicherheitspolitik mitzunehmen, er- Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal sagen: Die (B) schwert. Es ist meine Bitte an die Konventsmitglieder, (D) große Chance, in der Gemeinsamen Außen- und Si- an dieser Stelle noch einmal genau aufzupassen. cherheitspolitik durch den jetzt zu verabschiedenden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Verfassungsentwurf zu guten Regelungen zu kommen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist da und wir sollten sie gemeinsam nutzen. Sie ist auch eine Herausforderung; denn ich glaube, nur wenn wir es Ich glaube, dass in diesem Punkt auch die Erklärung schaffen, durch eine gute europäische Verfassung eine der vier Staaten vom Brüsseler Gipfel weiter geht. Dort Grundlage zu schaffen, die uns zwingt, uns alle mitein- heißt es ausdrücklich, dass es allen Staaten, die es wün- ander zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspo- schen, ermöglicht werden soll, im Rahmen einer ver- litik zusammenzuraufen, haben wir die Möglichkeit, stärkten Zusammenarbeit tiefere und weitgehendere mi- durch eine solche Gemeinsame Außen- und Sicherheits- litärische Verpflichtungen einzugehen. Dieser Geist von politik an Gewicht zu gewinnen, und zwar – das betone Brüssel, alle einzuladen und ihnen entsprechend ihren ich an dieser Stelle – nicht gegen die USA, nicht gegen Fähigkeiten die Chance zu geben, mitzuwirken, die transatlantische Zusammenarbeit. Im Gegenteil, wer (Peter Hintze [CDU/CSU]: Sehr gut!) für die transatlantische Zusammenarbeit ist, braucht ein starkes Europa. Nur dann kann sie funktionieren. sollte auch die Leitlinie für die Beratungen im Konvent sein. In diesem Sinne hoffe ich, dass der Konvent zu guten Ergebnissen kommt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vielen Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wenn wir alle mitnehmen wollen, dann ist es wichtig, DIE GRÜNEN) dass wir bereit sind, voranzugehen, als Bundesrepublik Deutschland das Signal zu setzen, dass wir auch in die- sem Feld der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tik, der gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspo- Ich schließe die Aussprache. litik bereit sind, nationale Souveränität abzugeben. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Deswegen will ich an dieser Stelle die Vorschläge des schusses für die Angelegenheiten der Europäischen Kollegen Professor Meyer ausdrücklich unterstützen, Union auf Drucksache 15/950. Der Ausschuss empfiehlt der im Konvent gesagt hat, dass wir für die GASP eine unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des qualifizierte Mehrheit brauchen, dass wir wegmüssen Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/ Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3569

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Die Grünen auf Drucksache 15/548 mit dem Titel „Der Leo Dautzenberg (CDU/CSU): (C) europäischen Verfassung Gestalt geben – Demokratie Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt stärken, Handlungsfähigkeit erhöhen, Verfahren verein- zwei Faktoren, die den Finanzmarkt von anderen Märk- fachen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – ten abheben: Erstens ist hier der internationale Konkur- Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- renzdruck besonders hoch. Zweitens hat der Finanz- lung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim- markt eine hohe volkswirtschaftliche Bedeutung. Ein gut men der CDU/CSU und der FDP angenommen. funktionierender Finanzmarkt mit einem modernen Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt rechtlichen Rahmen ist eine notwendige Voraussetzung der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion für eine gut funktionierende Volkswirtschaft. der FDP auf Drucksache 15/577 mit dem Titel „Das Aus diesen Gründen muss die Politik die Finanzmarkt- neue Gesicht Europas – Kernelemente einer europäi- entwicklung aktiv begleiten und gestalten. Traditionell schen Verfassung“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- herrscht hierüber in diesem Hohen Hause Einigkeit und fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- dementsprechend ein kooperativer Geist. Von daher stim- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition men wir einigen Vorschlägen aus dem Eckpunktepapier gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der CDU/ von Bundesminister Eichel zum Finanzmarktförderplan CSU angenommen. 2006 zu. Gleiches gilt – zumindest auf dem Papier – auch für den von den Regierungsfraktionen vorgelegten Zusatzpunkte 6 und 7: Interfraktionell wird Überwei- Antrag. Aber wie alles, was uns Rot-Grün zur Überwin- sung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/918 und 15/942 dung des wirtschaftlichen Stillstands in Deutschland prä- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sentiert, ist der Plan Eichels kein Teil eines schlüssigen vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist Gesamtkonzepts. Es werden einzelne Punkte formuliert, der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. ohne dass absehbar wäre, welches Ziel Rot-Grün errei- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie Zusatz- chen möchte. punkt 8 auf: Das Thema Finanzplatz ist sehr komplex. Deshalb ist in diesem Bereich ein umfassender politischer Ansatz 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten notwendig. Einen solchen Ansatz bietet unser Antrag Dr. , Heinz Seiffert, Leo „Förderung des Finanzplatzes Deutschland“ auf Druck- Dautzenberg, weiterer Abgeordneter und der sache 15/748, der nicht ohne Grund 50 Punkte umfasst. Fraktion der CDU/CSU Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass wir es ange- Förderung des Finanzplatzes Deutschland sichts der Vielschichtigkeit des Themas für sehr un- (B) (D) – Drucksache 15/748 – glücklich halten, dass die Zahl der zur geplanten Anhö- rung geladenen Sachverständigen auf zwölf begrenzt Überweisungsvorschlag: wurde. Meine Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion und Finanzausschuss (f) ich sind einhellig der Auffassung, dass diese mit den Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Stimmen der übrigen Fraktionen beschlossene Ein- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und schränkung bei diesem Thema unangemessen ist. Landwirtschaft Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (Beifall bei der CDU/CSU) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Wir hätten sehr gerne noch mehr hochkarätigen Sachver- stand gehört oder man hätte sich von Anfang an auf ein ZP 8 Beratung des Antrags Fraktionen der SPD und internes Fachgespräch beschränken sollen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Doch zurück zu unserem Antrag. Er verbindet eine Finanzplatz Deutschland weiter fördern klare Konzeption mit konkreten Detaillösungen. Nur wer beides, übergeordnetes Ziel und untergeordnete – Drucksache 15/930 – Schritte zur Erreichung des Zieles, zusammen betrachtet, Überweisungsvorschlag: kann eine gute Finanzmarktpolitik betreiben. Unsere Finanzausschuss (f) Konzeption ist klar: bewährte Strukturen des Finanz- Rechtsausschuss platzes Deutschland behutsam weiterentwickeln und Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit klare Rahmenbedingungen schaffen, damit die Markt- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft teilnehmer ihre Aufgaben weiterhin optimal erfüllen Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung können. Die Schaffung optimaler Finanzierungsbedin- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gungen für die gesamte deutsche Volkswirtschaft und insbesondere auch für den Mittelstand ist dabei unser Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Leitmotiv. Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wir bleiben jedoch nicht bei der Definition des Zieles Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion. stehen. Vielmehr zeigen wir detailliert auf, welche Schritte notwendig sind, um seitens der Finanzmarktpo- (Beifall bei der CDU/CSU) litik zu mehr Wachstum und Beschäftigung beizutragen. 3570 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Leo Dautzenberg (A) Neben den grundsätzlichen Punkten – hier geht es etwa Zunge zergehen lassen, was Rot-Grün im vorliegenden (C) um die Zukunft der Dreigliedrigkeit des deutschen Ban- Antrag fordert – ich zitiere –: kensystems sowie um die Umsetzung der EU-Finanz- marktpolitik – legen wir in fünf Schwerpunktbereichen Steuerliche Regelungen, die den Standort Deutsch- konkrete Vorschläge vor. Diese fünf Bereiche sind: ers- land fördern, stärken auch den Finanzplatz tens der rechtliche Rahmen, zweitens das Thema Alters- Deutschland. vorsorge, drittens die Frage der Bilanzierungsregelun- Meine Damen und Herren von Rot-Grün, zu dieser Er- gen, viertens das Thema Aufsicht sowie fünftens kenntnis könnte man Ihnen eigentlich nur gratulieren. Es steuerrechtliche Rahmenbedingungen. scheint fast so, als ob Sie seit dem unsäglichen Entwurf zum Steuervergünstigungsabbaugesetz dazugelernt hät- Im Folgenden möchte ich kurz einige ausgewählte ten. Dieser Eindruck drängt sich noch mehr auf, wenn Einzelpunkte nennen. Im Bereich des rechtlichen Rah- man weiterliest – ich zitiere wiederum –: mens plädieren wir unter anderem für eine Fortentwick- lung des Übernahmerechts. Wir fordern zudem einen Die Bundesregierung wird aufgefordert, bei der sinnvollen Ausgleich zwischen den Interessen von Anle- Ausgestaltung steuerlicher Maßnahmen stärker de- gern, Emittenten und Marktintermediären. Es gilt hier, ren Auswirkungen auf die Finanzierungsbedingun- übertriebenen Anlegerschutz zu vermeiden. Besonders gen der Unternehmen und den Finanzplatz wichtig, auch mit tagesaktuellem Bezug, scheint uns zu- Deutschland zu berücksichtigen dem die rechtliche Förderung von Verbriefungsmärkten, … den so genannten Asset Backed Securities, zu sein. Des Wer hat in den letzten fünf Jahren die steuerpoliti- Weiteren sprechen wir uns konkret für eine Verstärkung schen Beschlüsse der Regierung flankiert und als Regie- und Fortentwicklung der Corporate Governance aus. Wir rungsfraktion unterstützt? Jetzt aber fordert man die ei- sind – übrigens im Einklang mit den rot-grünen gene Regierung auf, etwas zu unternehmen, was man Vorschlägen – der Ansicht, dass sich die bisherige Struk- vorher selber in eine andere Richtung entwickelt hat. tur der öffentlich-rechtlichen Börsenorganisation be- währt hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Im Bereich der Rechnungslegung und Bilanzierung Ich darf in Erinnerung bringen: Noch vor einigen Wo- sollten die von der EU ermöglichten Wahlrechte bei der chen wollten Sie in einem Gesetzentwurf Verlustvorträge Einführung des Standards IAS weitgehend ausgeschöpft beschränken, Abschreibungsmöglichkeiten verschlech- werden. IAS sollte nicht für die Steuerbemessung rele- tern und die Verlustverrechnung bei Unternehmensüber- vant sein. Wie bereits kurz erwähnt, plädieren wir mit nahmen verbieten. Dies alles waren Maßnahmen, die die (B) der Bundesregierung und den Fraktionen von Rot-Grün Finanzierungsbedingungen nachhaltig verschlechtert hät- (D) für die Schaffung einer privatrechtlichen Enforcement- ten und die wir verhindert haben. Institution. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es wäre zu Ebenfalls ein hohes Maß an interfraktioneller Über- schön, um wahr zu sein, wenn Sie endlich begreifen einstimmung besteht im Bereich der Kapitalmarkt- würden, auf was es im Bereich der Finanzierungsbe- und Bankenaufsicht. Dies ist insbesondere beim dingungen für Unternehmen ankommt, um endlich Thema Basel II der Fall, bei dem wir im Finanzaus- durch anständige Rahmenbedingungen für mehr Wachs- schuss immer wieder an einem Strang gezogen, zur Ver- tum und Beschäftigung in Deutschland zu sorgen. blüffung einiger also dieselbe Richtung eingeschlagen (Beifall bei der CDU/CSU) haben. Allerdings gehen wir bei der Aufsicht über das hinaus, was die Regierung und die rot-grünen Fraktionen Ich glaube aber nicht daran, dass Sie diesen Erkenntnis- vorschlagen. So fordern wir etwa eine klare Regelung prozess schon vollzogen haben. für graue Kapitalmärkte sowie die Ansiedlung europäi- Sie haben im Schnellverfahren einen Antrag in Ihrer scher Bankaufsichtsgremien auch in Deutschland. Wir Fraktion durchgedrückt – er liegt jetzt vor –, den wahr- setzen uns für eine erhöhte Rechtssicherheit für auslän- scheinlich insbesondere die SPD-Linke noch gar nicht dische Finanzdienstleister ein. richtig gelesen hat. Wissen Sie, was passiert, wenn die Last, but not least möchte ich auf die Notwendigkeit Damen und Herren, die momentan im sozialpolitischen zu sprechen kommen, den Finanzplatz Deutschland auch Bereich jeden Mut zur Veränderung vermissen lassen, im Bereich der Steuergesetzgebung zu unterstützen. begreifen, was im vorliegenden SPD-Antrag im steuer- Auch hier unterbreiten wir konkrete Vorschläge: Ver- politischen Teil gefordert wird? zicht auf Kontrollmitteilungen, (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Da muss eine (Beifall bei der CDU/CSU) Mitgliederbefragung her!) Einführung einer Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge, Dann beginnt Ihre steuerpolitische Kakophonie von Beseitigung der steuerlichen Benachteiligung von Aus- vorne, die wir nun seit Jahren erdulden müssen. landsfonds. Begreifen Sie denn nicht, wie schädlich dieses ewige Hin und Her für das Vertrauen von Investoren, Unter- Zur steuerpolitischen Flankierung des Finanzplatzes nehmen und Konsumenten ist? haben sich nun auch die Fraktionen von Rot-Grün in ih- rem Antrag geäußert. Man sollte sich einmal auf der (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3571

Leo Dautzenberg (A) Die mangelnde Verlässlichkeit von Rot-Grün ist gerade verfassungswidrig, wenn man die Steuerpolitik betreiben (C) in der Steuerpolitik ein massives Hindernis dafür, die würde, die Sie hier vorschlagen. wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands voranzutrei- ben. Deshalb: Unterlassen Sie Ankündigungen, die Sie (Beifall bei der SPD) ohnehin nicht einhalten können, ja wahrscheinlich in Ih- Das kann kein ernsthafter Umgang und keine ernsthafte rer Gesamtheit noch nicht einmal einhalten wollen! Stärkung des Finanzplatzes in Deutschland sein. Die in Ihrem Antrag genannten Vorschläge zur steuer- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist unseriös!) politischen Flankierung des Finanzplatzes Deutschland sind in Anbetracht dessen, was Sie in den letzten fünf Sie wissen genau: Das, was der Finanzplatz an Steu- Jahren hier abgeliefert haben, völlig unglaubwürdig. erpolitik brauchte, haben wir mit viel Kraft und auch mit viel Erfolg begonnen. Wir haben die Steuersätze (Beifall bei der CDU/CSU) breit gesenkt: bei den Beziehern kleiner und mittlerer Unser Antrag hingegen passt auch steuerpolitisch in das Einkommen, aber natürlich auch bei den Unternehmen. Gesamtkonzept der Union. Die Punkte, die ich hierzu Wir haben den niedrigsten Körperschaftsteuersatz aller genannt habe – keine Kontrollmitteilungen, grundsätzli- Zeiten. Wir haben viel Kraft aufgewendet, um den che Zustimmung zu einer Abgeltungsteuer auf alle Kapi- Standort Deutschland auch in dieser Hinsicht wieder talerträge im Rahmen eines in sich stimmigen Gesamt- wettbewerbsfähig zu machen, konzeptes –, machen dies deutlich. (Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Kaputt zu Was bleibt als Fazit? Der Antrag zum Finanzplatz machen!) Deutschland vollzieht im Bereich Finanzmarktpolitik und zwar so, dass es für die öffentlichen Haushalte ver- das nach, was für die Union in der Wirtschafts- und Fi- kraftbar bleibt. Ich denke, dass die Zeichen, die wir für nanzpolitik das Leitmotiv ist: gute Rahmenbedingungen den Investitionsstandort Deutschland, aber auch für den schaffen, sodass die privaten Marktakteure mehr Wachs- Finanzplatz Deutschland gesetzt haben, deutlich waren. tum und Beschäftigung generieren können. Wir sind Wenn Sie sich die Auslandsinvestitionen anschauen, gerne bereit, in den Bereichen, in denen wir das Gleiche dann sehen Sie, dass wir mit unserem Weg großen Er- wollen, zusammenzuarbeiten. Ich erwähne hierzu noch folg gehabt haben. einmal: Basel II, bessere Vertretung deutscher Interessen auf EU- bzw. auf internationaler Ebene und die Förde- (Beifall bei der SPD) rung des ABS-Markts. Aber hören Sie auf, vorschnelle Sie sprechen immer wieder die Abgaben an. Da sind Anträge einzubringen, deren zentrale Forderungen in Ih- wir wahrscheinlich sogar einer Meinung – nicht über die ren eigenen Fraktionen so nicht durchsetzbar sind! (B) Ursachen, aber über die Ziele. Auch wir wollen die Be- (D) Vielen Dank. lastungen, die mit dem Faktor Arbeit einhergehen – wir haben diese Belastungen in Rekordhöhe von Ihnen ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erbt – reduzieren. Das nützt unserem Standort und das nützt letztendlich denen, die an diesem Standort Arbeit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: suchen und Unternehmen gründen. Nächste Rednerin ist die Kollegin Nina Hauer, SPD- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fraktion. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von der CDU/CSU: Seit fünf Jahren sind Sie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) an der Regierung! Sie haben genau das Gegen- teil von dem gemacht, was Sie machen woll- Nina Hauer (SPD): ten!) Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Herr Wir haben in den letzten Jahren einiges für die Stär- Dautzenberg, Sie haben die Ziele des CDU/CSU-An- kung des Finanzmarktes getan, an das ich hier noch ein- trags geschildert und unsere Instrumente genannt, mit mal erinnern will. Wir haben mit dem Übernahmege- denen diese Ziele – die wir auch haben – erreicht werden setz rechtlich verbindliche Regelungen für die sollen. Sie machen immer wieder Anwürfe auf unsere Übernahme börsennotierter Unternehmen geschaffen. Steuerpolitik, jetzt auch auf das, was in unserem Antrag Gerade die Umstrukturierungen in der internationalen zur Steuerpolitik enthalten ist. Sie müssen sich einmal Wirtschaft zeigen, dass wir diese Regelungen zum richti- die Vorstellungen zur Steuerpolitik, die in Ihrem Antrag gen Zeitpunkt geschaffen haben und dass sie gut an- enthalten sind, anschauen: Da fordern Sie weiterhin eine wendbar sind. Mit der geänderten Struktur haben wir der massive Absenkung der Steuersätze in Deutschland. Bundesbank die Chance gegeben, als Vertretung der deutschen Volkswirtschaft innerhalb der Europäischen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Union unseren Interessen Gewicht zu verleihen. Wir ha- Bei dieser Haushaltslage, Herr Dautzenberg, ist das grob ben mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungs- fahrlässig. Fragen Sie einmal die Ministerpräsidenten aufsicht eine moderne Aufsichtsbehörde gegründet, die der von Ihnen regierten Länder, ob sie eine weitere Sen- dazu beitragen wird, dass die vielen Produkte und die kung der Steuersätze verkraften! Herr Dautzenberg, aus- sektorübergreifenden Innovationen, die am Finanzmarkt gerechnet in Hessen, sozusagen in der Heimat des Fi- zu finden sind, jetzt auch mit einer gemeinsamen Auf- nanzplatzes in Deutschland, wird der Haushalt sicht kontrolliert werden können. Das war vorher nicht 3572 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Nina Hauer (A) der Fall. Das gehört im europäischen Rahmen mittler- Zur Verbriefung von Bankforderungen: Dieser (C) weile dazu; unsere BaFin ist auch in dieser Hinsicht vor- Tage steht in allen Medien der Finanzwelt, dass diesbe- bildlich. züglich die erste Gesellschaft gegründet werden soll. Wir haben mit unserem Kleinunternehmerförderungsge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten setz bereits einen Anstoß gegeben, die Verbriefung von des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kreditforderungen zu erleichtern. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In Deutsch- Finanzagentur GmbH haben wir das Schuldenmanage- land praktikabel zu machen!) ment des Bundes ausgelagert, um sicherzustellen, dass wir für den Bundeshaushalt nicht unnötig Gelder verlie- Wir haben in diesem Bereich insbesondere für die klei- ren, dass wir auf Entwicklungen am Markt leichter und nen Unternehmen noch einiges zu erledigen. ohne großen Aufwand reagieren und auch dazu beitra- Letztendlich zeigen die verschiedenen Entwicklun- gen können, dass das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit gen, dass der Finanzmarkt jedes Interesse hier im Deut- am Finanzmarkt auch von staatlicher Seite erhalten schen Bundestag verdient, weil er ein Motor für Be- bleibt. schäftigung, für wirtschaftliches Wachstum und für neue Mit dem Vierten Finanzmarktförderungsgesetz ha- innovative Produkte, die wir anbieten können, ist und in ben wir den Handlungsspielraum für die Börsen erwei- Zukunft noch verstärkt sein wird. Das bedeutet natürlich tert. Das ist die wichtigste Plattform des Finanzmarktes auch, dass in diesem Bereich auf die Qualifizierung der für den Handel. Für den Anlegerschutz im Aktienge- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geachtet wer- schäft haben wir das Bild des Verbrauchers überhaupt den muss, dass wir am Ball bleiben müssen, um in die- erst ins Gesetz aufgenommen, für bessere Aufsicht ge- sem Bereich das beste Ausbildungsangebot zu haben. sorgt und dazu beigetragen, dass auch da Schadenser- Wir müssen natürlich auch alle Entwicklungen um den satzforderungen geltend gemacht werden können. Das, Finanzplatz Deutschland herum beobachten und erfor- was bei jedem anderen Kauf möglich ist, muss auch am schen. Finanzmarkt möglich sein. Abgesehen davon haben wir Es wird ein neues Feld für Beratungen geben, und hier höhere Transparenzanforderungen gestellt. zwar nicht nur für den Bereich der Altersvorsorge, son- Nun ist der Finanzmarkt aber keine starre Angelegen- dern für alle Bereiche, die mit dem Kapitalmarkt zu tun heit, die sich über viele Jahre nicht verändert; im Gegen- haben. Die Menschen interessieren sich dafür, legen teil. Im Moment gibt es viele Veränderungen. Es gibt trotz der schlechten Situation am Aktienmarkt viel Geld neue Finanzprodukte, es gibt neue innovative Ideen im in Aktien oder Fonds an. Diese brauchen Beratung. Ich Ausland, aber natürlich auch an unserem Finanzplatz. denke, dass sich allein in diesem Sektor beschäftigungs- (B) (D) Allein durch die Regelungen für die Altersvorsorge im politisch einiges tun wird. Rahmen der Rentenreform eröffnen sich neue Innova- Nicht zuletzt wird es bis 2005 einen einheitlichen tionsmöglichkeiten, die in den nächsten Jahren ein im- europäischen Finanzmarkt geben. Die europäische mer größeres Gewicht bekommen werden. Wir sind uns Wertpapierdienstleistungsrichtlinie wird derzeit überar- wahrscheinlich alle darüber einig, dass die Altersvor- beitet. Gerade weil das bei den kleinen und unabhängi- sorge in den nächsten Jahren eine immer größere Rolle gen Finanzdienstleistern immer wieder Thema ist, will spielen wird und der Kapitalmarkt dafür natürlich große ich noch einmal deutlich machen: Ziel unserer Fraktion Chancen bietet. Es gibt dort sicher viele Möglichkeiten, bei diesen Verhandlungen ist es, unnötige Belastungen in die wir heute vielleicht noch gar nicht sehen. Es ist des- diesem Bereich zu vermeiden, dafür zu sorgen, dass halb notwendig, den Innovationen auch in diesem Be- nicht mehr Bürokratie aufgehäuft wird und die Wettbe- reich den Weg zu ebnen. werbsfähigkeit gerade der kleinen und unabhängigen Fi- Das Investmentgeschäft wird in den nächsten Jahren nanzdienstleister erhalten bleibt, und zwar am deutschen eine größere Rolle spielen. Die Unternehmensumstruk- Finanzmarkt, aber auch international. turierungen verlangen das. Wir reagieren auf die Veränderungen am Finanz- Durch die veränderten Vorschriften, die wir im Rah- markt. Wir sind weiterhin der Meinung – dazu nehmen men von Basel II diskutieren, gibt es auf dem Markt wir auch in unserem Antrag Stellung –, dass wir eine auch noch ganz andere Veränderungen, zum Beispiel die zentrale Aufsicht über die Börsen brauchen und dass Ratingagenturen. Wir tun gut daran, schon jetzt zu prü- eine Zusammenführung stattfinden muss. Auch wenn ei- fen, wie wir denen die Türen nach Deutschland öffnen nige Länder das vielleicht nicht so sehen, ist dies drin- und dafür sorgen können, dass sie ihre Arbeit hier unter gend notwendig. Die deutsche Börse ist das Asset unse- bestimmten Bedingungen machen können. Das ist ein res Finanzmarktes. Dafür brauchen wir eine zentrale Markt, in dem wir noch nicht gut vertreten sind. Das ge- Aufsicht. hört aber zu einem Finanzplatz. Wir tun unseren kleinen Wir stellen mit dem Finanzmarktförderplan die Unternehmen, die sich diese Dienstleistung nicht auf notwendigen Weichen. Ein Investmentgesetz muss kom- dem internationalen Markt kaufen können, Gutes, wenn men. Sie, Herr Dautzenberg haben das angesprochen. wir diese Agenturen auch in Deutschland zur Verfügung Wir sind einer Meinung: Wir wollen die Wettbewerbs- haben. nachteile in diesem Bereich beseitigen, die Genehmi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gungsverfahren straffen, die gesamte rechtliche Grund- DIE GRÜNEN) lage flexibler machen und letztendlich die steuerlichen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3573

Nina Hauer (A) Regelungen überarbeiten, damit ausländische und inlän- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) dische Fonds in gleicher Weise behandelt werden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir gehen auch einen mutigen Schritt bei der Zulas- Ich glaube, wir tun unserem Finanzmarkt einen Gefal- sung von Hedgefonds. Wir sind der Meinung, dass es len, wenn wir zu mehr Transparenz und zu mehr Sicher- mittlerweile möglich ist, in diesem Bereich die Anleger- heit für den Anleger kommen. Dann wird er wettbe- sicherheit durch Information und Transparenz zu ge- werbsfähig sein und für diejenigen, die hier investieren währleisten. Einen rechtlichen Schutz mag es für denje- wollen – ob aus dem Ausland oder dem Inland –, attrak- nigen, der das Risiko eingehen will, in Hedgefonds zu tiv bleiben. investieren, nicht geben. Wir müssen die Anleger aber Vielen Dank. über die Risiken informieren. Das tun wir, indem wir eine Informationspflicht einführen wollen. Diese gibt es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in anderen Ländern bereits, in denen auf die Möglichkeit DIE GRÜNEN) eines Totalverlustes hingewiesen werden muss. Ich glaube, dass unter diesen Bedingungen auch der deut- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sche Finanzmarkt reif dafür ist, dass Hedgefonds zuge- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto lassen werden können. Solms, FDP-Fraktion. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Wir wollen alle rechtlichen Regelungen durchforsten, Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- wie die Möglichkeiten einer Verbesserung des Rahmens ginnen und Kollegen! Die FDP hatte bereits im Januar für die Emission von Asset Backed Securities sind und einen Antrag zu diesem Thema eingebracht. Die anderen wie in diesem Bereich ein Handel ermöglicht werden Fraktionen sind dem nun gefolgt. Das sage ich völlig kann. Für die Banken, aber auch für die Unternehmen ist ohne kritischen Unterton, weil man bei Durchsicht die- das ein zentrales Thema. ser Anträge zu dem Ergebnis kommen kann, dass ge- meinsam, über die Fraktionsgrenzen hinweg eine ver- Wir haben auf die Tagesordnung natürlich auch die nünftige Initiative gestaltet werden könnte. Stärkung des Anlegervertrauens gesetzt. Diesen Punkt vermisse ich in Ihrem Antrag leider völlig. Es ist nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie so, dass viele Regularien und Gesetze den Anleger bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- schützen. Die Anleger in Deutschland haben heute viel NISSES 90/DIE GRÜNEN) mehr Erfahrungen mit dem Finanzmarkt, als das noch (B) Sicher gibt es Bereiche, bei denen wir uns nicht treffen (D) vor zwei oder drei Jahren der Fall war. werden; gerade in der Steuerpolitik dürfte das schwierig (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aufklärung werden. Aber angesichts der finanzmarktspezifischen und Transparenz sind da wichtig!) Anregungen in den verschiedenen Anträgen glaube ich, dass es möglich sein sollte, eine gemeinsame Initiative Aber wir müssen gewährleisten, dass es Transparenz zu starten. Diese wäre für die Stabilität, für das Ansehen gibt, damit die Anleger nachvollziehen können, welches und für das Vertrauen des deutschen Kapital- und Fi- Risiko bei einem bestimmten Produkt besteht, welche nanzmarktes dringend notwendig. Es wäre sehr hilfreich, Chancen es gibt, wie es finanziert wird, wer es anbietet wenn uns das gelingen würde. und wie es funktioniert. Sie müssen die Möglichkeit ha- ben, auf diese Informationen zuzugreifen. Deswegen le- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen wir Wert darauf, den Anlegerschutz weiter zu stär- In meiner sehr kurzen Redezeit will ich nur einige all- ken. Zu diesem Zweck werden wir die Regelungen dafür gemeine Bemerkungen machen und nicht auf Einzelhei- klarer machen und öffentlich dafür werben. Ein starker ten eingehen. Finanzmarkt bedeutet nicht nur das Vorhandensein star- rer Regulierungen und die Bevormundung des Anlegers Erste Bemerkung: Es geht darum, dass die Rahmen- – das sieht man auch im internationalen Vergleich –, bedingungen für den Finanzmarkt in Deutschland öko- sondern das Vorhandensein von Transparenz und klaren nomisch so gestaltet werden, dass wir mit den zentralen Haftungsregelungen. Finanzplätzen auf dem Kontinent, aber auch – global ge- sehen – in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Ich finde, es war an der Zeit, zu fragen, wieso Vor- Japan wettbewerbsfähig sind. stände und Aufsichtsräte für den Unfug, den sie verzap- fen, nicht mit ihrem eigenen Vermögen haften. Dieser (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gedanke ist in unserem 10-Punkte-Programm enthalten. Das heißt, wir dürfen uns nicht daran orientieren, was Wenn etwas schief geht, weil Manager ihren Job nicht wir gerne hätten, sondern daran, was der Wettbewerb richtig machen, sind die Beschäftigten, um deren Ar- uns vorgibt. Wir sind nicht in der Lage, das zu bestim- beitsplätze es geht, wie auch die Anleger, um deren Ak- men. tien es geht, betroffen. Aber diejenigen, die dafür verant- wortlich sind, sind nie betroffen. Deswegen glauben wir, Wir müssen dafür Sorge tragen – das liegt schließlich dass die Prüfung einer Organhaftung, die diejenigen, die in unserer Verantwortung –, dass der Kapitalmarkt in die Verantwortung tragen, einbezieht, dringend notwen- Deutschland wieder so funktionsfähig wird, dass insbe- dig ist. sondere die mittelständische Wirtschaft, die heute aus 3574 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Hermann Otto Solms (A) mehrerlei Gründen größte Probleme hat, ihre Investitio- Börsenaufsicht für die Bundesrepublik Deutschland (C) nen zu finanzieren, wieder die Chance erhält, über einen kommen kann. Das internationale Publikum kann die funktionsfähigen Kapitalmarkt an Fremd- und Eigenka- bisher gegebene Aufsplitterung nämlich überhaupt nicht pital heranzukommen. verstehen. Wir müssen hier zentraler denken; denn der deutsche Finanzmarkt wird als ein einheitlicher Finanz- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie markt angesehen. Man sieht nicht die einzelnen Börsen des Abg. Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE in Düsseldorf, Stuttgart und wo auch immer. Das muss GRÜNEN]) einheitlich geregelt werden. Wenn uns das nicht in kürzester Frist gelingt, wird die Schließlich möchte ich noch auf einen Punkt hinwei- Zahl der Insolvenzen weiter dramatisch zunehmen. Das sen. Von besonderer Bedeutung für den Finanzplatz kann die deutsche Volkswirtschaft wirklich nicht mehr Deutschland ist natürlich die Gestaltung unserer Alters- verkraften. vorsorge. Der Schritt der rot-grünen Regierung in die Zweite Bemerkung: Man muss erkennen, welche Be- private Altersvorsorge war aber richtig. Das haben wir deutung der Kapitalmarkt für diese ökonomischen Zu- als FDP immer so gesehen und unterstützt. Die Umset- sammenhänge hat und dass die Rahmenbedingungen so zung war aber eine Katastrophe. Die vielen einschrän- gestaltet werden müssen, dass das Vertrauen wiederher- kenden Bedingungen und bürokratischen Auflagen ha- gestellt werden kann. Ich weiß, dass wir uns in wesentli- ben dazu geführt, dass dieses Instrument keinen, chen Punkten der Steuerpolitik nicht treffen werden; das jedenfalls nicht den notwendigen, Erfolg am Markt er- muss aber nicht Kern dieser Diskussion sein. zielt hat. Wenn es gelänge, diese unnötigen Einschrän- kungen und bürokratischen Regelungen abzuschaffen – Ich muss aber zugeben, dass die Bundesregierung eigentlich brauchen wir bei der privaten Altersvorsorge lernfähig ist. Die Diskussion über die Abgeltungsteuer nur eine Bedingung, nämlich dass sie der Altersvorsorge zeigt, dass hier eine gewisse Bereitschaft besteht, einen dient und nur ab einem gewissen Alter ausgezahlt wird; vernünftigen Weg zu beschreiten. Ich hoffe, dass auch alles andere ist unnötig –, würde dadurch ein riesiges Fi- die Mehrheiten in den dazugehörigen Fraktionen das so nanzvolumen freigesetzt. Dies soll der deutschen Volks- sehen werden. Wir wollen abwarten, bis die Bundes- wirtschaft in ihrem Investitionsprozess und den deut- regierung ihre Entwürfe vorlegt. schen privaten Haushalten bei ihren Investitionen, etwa beim Hausbau, dienen. Dies würde auch die Refinanzie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung der deutschen Investitionen deutlich verbessern Es geht aber nicht nur um die steuerlichen Rahmenbe- und verbilligen und eine große Unterstützung für den Fi- dingungen, sondern auch um die Börsen- und Finanz- nanzplatz Deutschland bedeuten. (B) marktaufsicht sowie um die staatsanwaltschaftliche (D) Ich meine, wir sollten gemeinsam daran arbeiten, dass Überprüfung von möglicherweise auftretenden wirt- wir in diesem Bereich vorankommen. Ich hoffe, die An- schaftskriminellen Machenschaften. Das alles ist not- hörung bringt vernünftige Ergebnisse. Ich halte den wendig, um bei den Investoren, dem großen Publikum Streit, der hierzu geführt worden ist, für unnötig. Ich weltweit, Vertrauen zu schaffen, damit sie das Gefühl wünsche mir, dass wir zu einer gemeinsamen Initiative haben, dass es eine sichere Sache ist, in der Bundesrepu- kommen. blik Deutschland Geld anzulegen, und dass sie nicht Ge- fahr laufen, hier über den Tisch gezogen oder betrogen Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. zu werden. Hier bedarf es also einer strikten Kontrolle, die nicht schlechter, sondern eher besser als in den Verei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nigten Staaten sein muss, wenn ich an die Dinge denke, die in den letzten Jahren dort vorgekommen sind. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Nächster Redner ist der Kollege Hubert Ulrich, Bünd- des Abg. Hubert Ulrich [BÜNDNIS 90/DIE nis 90/Die Grünen. GRÜNEN]) Frau Staatssekretärin, ich glaube, wir haben alle Chan- Hubert Ulrich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): cen, das Umfeld so zu gestalten, dass wir einen solchen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Vertrauenshorizont in Deutschland aufbauen können. Solms, Sie haben in meinen Augen gerade ein gutes Bei- spiel dafür abgeliefert, wie man auch fraktionsübergrei- Die Börsenaufsicht ist heute noch Ländersache. In fend über ein ganz zentrales Anliegen, nämlich den Fi- diesem Zusammenhang will ich darauf hinweisen, dass nanzplatz Deutschland, einmal positiv reden kann. Wir es dringend erforderlich ist, dass Bund und Länder zu- leiden in ganz starkem Maße darunter, dass wir in die- sammenkommen, um eine gemeinsame Aufsicht zu or- sem Parlament vieles überflüssigerweise schlecht reden. ganisieren. Der ehemalige Wirtschaftsminister in Hessen, Das trifft natürlich ganz besonders für die Opposition zu. der jetzt leider nicht mehr im Amt ist, Dieter Posch – er ist Herr Dautzenberg, Sie haben dies heute nur ansatzweise Mitglied meiner Partei –, hatte bereits vor der Landtags- und nicht in der Form gemacht, wie es Ihre Fraktion nor- wahl angekündigt, dass er bereit wäre – er führte die malerweise tut. zentrale Aufsicht durch, da Frankfurt der zentrale Bör- senplatz ist –, seine Rechte in ein solches gemeinsames (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Die Realität ist Objekt einzubringen, damit es zu einer gemeinsamen viel schlimmer!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3575

Hubert Ulrich (A) Wir sollten die Diskussion über den Finanzplatz nen über die Besteuerung der Aktienmärkte zu führen. (C) Deutschland exemplarisch dazu nutzen, vorwärts gerich- Sie sind schädlich für den Finanzplatz und auch für sehr tet zu argumentieren, damit wir alle zusammen die Wirt- viele Kleinaktionäre in diesem Lande. schaft dieses Landes voranbringen. (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ein weiteres Problem kommt hinzu: Die deutschen Die Diskussion um den Finanzplatz Deutschland bietet Unternehmen sind klassisch kreditfinanziert. Angelsäch- dazu eine gute Gelegenheit. Beispiel: Viertes Finanz- sische Unternehmen sind klassisch aktienfinanziert. Da- marktförderungsgesetz. Dieses Gesetz hat die rot- rin liegt ein großes Defizit. Die Eigenkapitalschwäche grüne Regierung auf den Weg gebracht und wurde, so- deutscher Unternehmen hängt ganz klar mit diesem weit ich das richtig verstanden habe, von Ihnen nicht Umstand zusammen. Sie ist natürlich auch mit einem groß torpediert. Aber dieses Vierte Finanzmarktförde- weiteren Problem in unserem Steuersystem verknüpft: rungsgesetz ist – das müssen Sie der rot-grünen Regie- Die Bildung von Eigenkapital in Unternehmen wird rung neidlos zugestehen – ein großer Wurf für den Fi- schlichtweg nicht gefördert; es wird eben nur die Auf- nanzplatz Deutschland. nahme von Fremdkapital gefördert. Aber auch da müs- (Beifall bei der SPD) sen sich alle Parteien, wie sie hier sitzen, an die Nase fassen. Auch das ist eine Entwicklung der letzten Jahr- Stichwort BaFin: Mit der BaFin ist es gelungen, eine zehnte. zentrale Finanzdienstleistungsaufsicht zu schaffen, die wirklich die gesamten, früher problematischen Schnitt- Allerdings hat die rot-grüne Regierung dieses Pro- stellen kontrolliert und überwacht. Sie führt das zusam- blem in dem vorliegenden Papier aufgegriffen und ge- men, was früher in vielen kleinteiligen Lösungen be- sagt, davon müssen wir zumindest mittelfristig weg, trachtet wurde. Die Rahmenbedingungen, die durch das dazu müssen wir uns andere Steuergesetze geben, das ist Vierte Finanzmarktförderungsgesetz geschaffen wurden, ganz elementar für unsere Unternehmen. sind klar. Sie sind flexibel und vor allen Dingen hoch ef- (Jörg Tauss [SPD]: Das haben die Vertreter der fizient. Insgesamt kann man hier eine sehr positive Bi- früheren Bundesregierung auch gesagt, aber lanz ziehen. nichts gemacht!) Es wurden jedoch noch andere Dinge auf den Weg ge- – Da haben Sie Recht. bracht: Stichwort Wertpapiererwerbs- und Übernahme- gesetz. Hier ist der rechtliche Rahmen für Übernahmen Ein weiterer für uns als Grüne ganz zentraler Punkt ist von börsennotierten Unternehmen geschaffen worden. die private Altersvorsorge. Die Riester-Rente ist zwei- (B) Das Bundesbankgesetz wurde angepasst und eine ganze felsohne ein Schritt in die richtige Richtung; auch die (D) Reihe von weiteren Dingen wurde in die Wege geleitet. Einbeziehung von selbstgenutztem Wohnraum in die pri- Der Finanzmarkt ist dynamisch. Immer gibt es interna- vate Altersvorsorge ist wichtig. Ein weiteres, sehr wich- tionale Veränderungen, an die unsere Verordnungen an- tiges Element ist ein individuelles Altersvorsorgekonto. gepasst werden müssen. Dies geschieht auch: Stichwort Wir als Grüne haben dazu entsprechende Vorschläge ge- Finanzmarktförderplan. Die Hedgefonds wurden be- macht. Gerade bei der privaten Altersvorsorge spielt na- reits mehrfach angesprochen. Auch solche Instrumente türlich auch der Aktienmarkt eine zentrale Rolle. müssen wir an unserem Finanzplatz zulassen und eta- Ein weiterer Punkt wurde ebenfalls angesprochen – wir blieren und dafür den entsprechenden Rahmen schaffen. haben ihn in unseren Vorschlägen hervorgehoben –: eine Aber gerade als Grüner will ich eines ganz besonders zentrale Staatsanwaltschaft, um Delikte im Finanzbe- hervorheben: Wir müssen bei dem Stichwort Aktie an- reich entsprechend verfolgen zu können. Man muss sich ders argumentieren. Insbesondere vor dem Hintergrund zum Beispiel klar machen: 90 Prozent der Ermittlungen des Niedergangs der Aktie weltweit, aber auch an den in Bezug auf Delikte, die von der BaFin an deutsche deutschen Börsen müssen wir deutlich machen, welchen Staatsanwaltschaften gegeben wurden, wurden einge- Stellenwert die Aktie in unserem Wirtschafts- und Fi- stellt. Das hängt zum Teil schlichtweg mit einer Überfor- nanzsystem hat und haben muss. Wir müssen uns darü- derung bestimmter Staatsanwaltschaften zusammen, die ber klar werden, dass wir in diesem Lande beim Thema auf diesem Gebiet einfach keine Erfahrung haben. Aktie immer noch einen gewissen Nachholbedarf haben. Die Staatsanwaltschaften in Frankfurt und in Mün- Ich habe es schon einmal gesagt, will jedoch erneut chen kennen sich mit solchen Delikten aus und gehen daran erinnern: 1914, vor dem Ersten Weltkrieg, gab es angemessen damit um. in Deutschland mehr börsennotierte Unternehmen als in (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto den Vereinigten Staaten. Das war ein großer Erfolg. Solms) Durch die beiden Weltkriege ist vieles kaputtgegangen. Es gibt in Deutschland – auch diese Zahl sollte nach- Deshalb sage ich für die Grünen: Wir sollten eine zentrale denklich stimmen – mittlerweile mehr als 12 Millionen Staatsanwaltschaft schaffen und sie in Frankfurt etablie- Aktionäre. Das heißt, die meisten Aktionäre in Deutsch- ren. Vielleicht hat dann auch Herr Koch ein gewisses In- land sind Kleinaktionäre. Auch dieser Entwicklung müs- teresse daran, die Börsenaufsicht zugunsten einer zentra- sen wir Rechnung tragen. Hierbei wende ich mich insbe- len Börsenaufsicht abzugeben, wenn er dafür die sondere an die eigenen Reihen: die Grünen und auch die zentrale Staatsanwaltschaft erhält. Man sollte in der Po- SPD. Wir sollten höllisch aufpassen, weitere Diskussio- litik ja immer versuchen, solche Anreize zu setzen. 3576 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Hubert Ulrich (A) Außerdem haben wir in unserem Papier die Organisa- Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): (C) tion der Börsen angesprochen. An dieser Stelle sollte Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! man auch Folgendes erwähnen: Die öffentlich-rechtliche Herr Ulrich, Sie haben natürlich Recht: Wir sollten uns Organisation der deutschen Börse hat sich bewährt und nicht damit beschäftigen, den Finanzplatz schlecht zu re- bedeutet für diesen Standort einen echten Wettbewerbs- den. Gleichwohl muss es erlaubt sein, auch einmal zu vorteil gegenüber anderen Standorten. Sie ist hochflexi- analysieren, wo die Probleme des Finanzmarktes und Fi- bel, hat eine hohe Rechtsverbindlichkeit und integriert nanzplatzes Deutschland überhaupt liegen. Die Situation vor allen Dingen die Marktteilnehmer. Das bedeutet eine des Finanzplatzes Deutschland ist insbesondere durch hohe Schnelligkeit bei den entsprechenden Entscheidun- die dramatische Schwäche der internationalen Fi- gen und deren Umsetzung. Ein Beispiel hierfür ist die nanzmärkte geprägt, die mittlerweile seit dem Jahre Neusegmentierung, Stichwort Neuer Markt. Das Ver- 2000 anhält. Dazu kommt eine anhaltende Wachstums- schwinden des Neuen Marktes, der wirklich nicht sehr schwäche der deutschen Volkswirtschaft. erfolgreich war, hängt genau mit diesen Möglichkeiten einer schnellen Reaktion zusammen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und eine grot- tenschlechte Finanzpolitik!) Die zentrale Börsenaufsicht, wenn sie denn kommt – wie ich die Vertreter der Opposition verstanden habe, Unsere Wirtschaft ist in den letzten Jahren nur sehr schwach gewachsen; damit erzähle ich Ihnen allen nichts gibt es dort ähnliche Initiativen; also hoffe ich, dass auch Neues. Im letzten Jahr hatten wir eine Wachstumsrate bei den Ländern eine entsprechende Mehrheit zu finden von 0,5 Prozent und die Prognosen für dieses Jahr sind sein wird –, hätte natürlich den enormen Vorteil, dass weiß Gott nicht besser. Diese anhaltende Schwächeperi- dann, wenn in Brüssel entsprechende Verhandlungen ode hat zu einem drastischen Anstieg der Unterneh- stattfinden, Deutschland mit einer Stimme sprechen menspleiten in unserem Lande geführt. Im letzten Jahr würde. Heute sind dort 16 Länder mit zahlreichen Ver- stieg die Zahl der Insolvenzen auf über 40 000 an. Von tretern beteiligt, wodurch es zu enormen Abstimmungs- der steigenden Zahl der Unternehmensinsolvenzen und problemen kommt. Gerade bei der zentralen Börsenauf- den daraus resultierenden höheren Kreditausfällen sowie sicht muss gelten: ein Recht, eine Aufsicht, eine der Entwertung an den Aktienmärkten sind die deut- Auslegung des Rechts. schen Banken sehr stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Wie ich eingangs bereits sagte, halte ich es für ganz wichtig, dass wir hinsichtlich dieser Dinge den Standort Diese Entwicklungen schaden natürlich dem Finanz- positiv reden. Das gilt beim Finanzplatz, aber natürlich platz und insbesondere den deutschen Finanzdienstleis- (B) auch bei den Steuergesetzen insgesamt. Die aktuelle Dis- tern. Vor allem die deutschen Banken haben seit einiger (D) kussion um die Agenda 2010 macht häufig auf negative Zeit Ertragsprobleme, weil die Margen im zinsunabhän- Art und Weise klar, wie verrückt wir uns in unserer Rolle gigen Geschäft sinken, während sich die Verwaltungs- als Regierung bzw. als Opposition verhalten. Obwohl die kosten nicht verändert haben. Ich betone aber, dass es CDU/CSU am letzten Wochenende ein Papier vorge- keine Liquiditäts- oder Bonitätskrise in der deutschen Fi- stellt hat, das von der Agenda 2010, von den rot-grünen nanzwirtschaft gibt. Dies hat kürzlich auch der Internati- Vorhaben, gar nicht weit entfernt ist, wird immer noch so onale Währungsfonds festgestellt, indem er bemerkt hat, getan, als gäbe es elementare Widersprüche zu überbrü- dass die Stabilität des deutschen Finanzsystems nicht ge- cken, anstatt genau an dieser Stelle die Chance zu ergrei- fährdet sei. fen und zu sagen: Hier machen wir etwas Gemeinsames; Für die Ertragsprobleme der Banken ist eine Reihe wir sehen da ein gemeinsames großes Problem in diesem interner wie externer Faktoren ursächlich. Es ist Auf- Land, das wir gemeinsam anpacken und dessen Lösung gabe der Politik, klare und verlässliche Rahmenbedin- wir gemeinsam umsetzen. Dafür stehen Sie nun einmal gungen zu setzen. Unser gemeinsames Ziel – darüber mit in der Verantwortung, nicht nur wegen der 16 Regie- sind wir uns in diesem Hause sicherlich einig – muss rungsjahre, in denen Sie die Grundsteine für vieles ge- sein, die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes im All- legt haben, was wir heute wegräumen müssen, sondern gemeinen und der Finanzdienstleister im Besonderen zu auch und gerade, weil Sie über den Bundesrat in diesem stärken. Lande mitregieren. Daher sind Sie auch aufgefordert, diesbezüglich entsprechende Schritte zu unternehmen. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben deshalb einen 50 Punkte umfassenden Antrag in diesem Hause (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebracht. Unser Ziel und unsere Vision sind es, dass und bei der SPD) der Finanzplatz insgesamt stärker, innovativer und trans- parenter gemacht wird, damit er seine Aufgaben auch in Zukunft erfüllen kann. Wir brauchen einen wettbewerbs- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fähigen Finanzplatz, um eine ausreichende Versorgung Das Wort hat jetzt der Kollege Stefan Müller von der der Unternehmen mit Eigen- und Fremdkapital zu ge- CDU/CSU-Fraktion. währleisten. Der zentralen Funktion, die Wirtschaft mit Kapital zu versorgen, kann der Finanzmarkt im Augen- (Beifall bei der CDU/CSU) blick nicht in ausreichendem Maße nachkommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3577

Stefan Müller (Erlangen) (A) Dies hat zweierlei Ursachen: Die Beschaffung von Ei- Wir brauchen auch einen starken Finanzplatz, damit (C) genkapital über die Börse ist aufgrund der anhaltenden Anlegern gute und attraktive Anlagemöglichkeiten ge- Wachstums- und Börsenschwäche immer schwieriger boten werden. Gerade vor dem Hintergrund der demo- geworden. Der Markt für Aktienneuemissionen ist in graphischen Struktur in unserem Land, die die sozialen den letzten zwei, drei Jahren fast vollständig zum Erlie- Sicherungssysteme vor große Probleme stellt, ist eine gen gekommen, weil sich private und institutionelle An- private Vorsorge unumgänglich. Auch da sind wir uns in leger fast vollständig aus diesem Markt zurückgezogen diesem Hause einig. Insbesondere im Hinblick auf den haben. Ich habe mir einmal die Zahlen angeschaut: Im Aufbau von privatem Kapital zur Altersvorsorge gilt es Jahre 2000 hatten wir noch 152 Emissionen zu verzeich- vor allem, Verbesserungen herbeizuführen und die Rah- nen, im Jahr 2001 gab es noch ganze 21 und im vergan- menbedingungen insbesondere für die kapitalgedeckte genen Jahr gerade noch sechs Neuemissionen an der Altersvorsorge zu verbessern. deutschen Börse. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Ihre An- Darüber hinaus ist die Beschaffung von Fremdkapital sätze in der Rentenreform mit der Riester-Rente mögen über die Banken immer schwieriger geworden; auch die- vielleicht ein gut gemeinter Anfang gewesen sein. Frau ser Tatsache müssen wir einfach ins Auge sehen. Die Hauer, Sie haben vorhin dazu etwas gesagt. Kreditvergabepolitik der Banken hat sich in den letzten Jahren verändert. Sie ist differenzierter und in ihrer Ten- (Jörg Tauss [SPD]: Ihr habt nichts geschafft!) denz sicherlich auch restriktiver geworden. Das hängt Der große Wurf, Herr Tauss, ist Ihnen damit weiß Gott auch mit der Zunahme von ratinggestützten Kreditprü- nicht gelungen. Heute war in der „Welt“ zu lesen, die fungen sowie mit einer Differenzierung von guten und Riester-Rente werde zum Ladenhüter. schlechten Bonitäten zusammen. (Jörg Tauss [SPD]: Nur mäkeln!) All dies macht sich bei den mittelständischen Unter- nehmern bemerkbar. Gerade die kleinen und mittleren Das Interesse an der Altersvorsorge sei zwar insge- Betriebe haben fast keine andere Möglichkeit, als sich samt gestiegen, aber die Bereitschaft, einen Riester-Ver- über Fremdkapital, über Banken zu finanzieren, weil aus trag abzuschließen, gehe zurück, heißt es bei der Allianz, Kostengründen andere Finanzierungsformen in aller Re- weil das Förderverfahren und insbesondere die Zulagen- gel ausscheiden. anträge viel zu kompliziert seien. Das schreckt ab. Mit der Riester-Rente ist eine unübersehbare bürokratische Wenngleich wir davon ausgehen, dass sich die vor- Steigerung einhergegangen. Die Überreglementierung herrschende Fremdfinanzierungskultur in Deutschland hat dazu geführt, dass die Altersvorsorgeprodukte, die kurzfristig zumindest nicht verändern wird, werden sich angeboten werden, nicht wirklich attraktiv für die Anle- (B) auch künftig mittelständische Betriebe stärker anderen ger sind. (D) Finanzierungsalternativen zuwenden, beispielsweise der Finanzierung über Anleihen oder Verbriefungen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir begrüßen – das möchte ich ausdrücklich in die- Darüber hinaus muss die betriebliche Altersvorsorge sem Zusammenhang sagen – selbstverständlich auch die als dritte Säule gestärkt werden. Wir fordern die Bundes- Bemühungen der deutschen Kreditwirtschaft, mit der regierung auf, auch hier Vorschläge für eine Stärkung Kreditanstalt für Wiederaufbau eine gemeinsame der betrieblichen Altersvorsorge vorzulegen. Zweckgesellschaft zu gründen, um Kreditforderungen Neben all diesen Fragen, die insbesondere das Fi- verbriefen zu können. Wir begrüßen es insbesondere nanzmarktrecht betreffen, müssen wir uns sehr wohl da- dann, wenn dadurch gewährleistet ist, dass es den Ban- mit befassen, wie wir die volkswirtschaftlichen Rahmen- ken künftig wieder leichter möglich ist, vor allem der bedingungen insgesamt verändern können, weil auch die mittelständischen Wirtschaft wieder Kredite auszuge- besten Vorschläge und Änderungen im Kapitalmarkt- ben. recht nichts helfen werden, wenn die Rahmenbedingun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen nicht passen. Ich möchte einen weiteren Aspekt ansprechen. Natür- Deutschland leidet nach wie vor unter einer Wachs- lich wird die Finanzierung über Beteiligungskapital in tumsschwäche und strukturellen Problemen am Arbeits- Zukunft noch mehr an Bedeutung gewinnen. Auch die- markt und in den sozialen Sicherungssystemen. Hinzu ser Markt ist in den letzten Jahren fast vollständig zum tritt eine überhöhte Steuer- und Abgabenlast. Erliegen gekommen, nicht zuletzt auch im Hinblick auf Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und schwierige steuerrechtliche Gegebenheiten. von den Grünen, Sie müssen sich sehr wohl den Vorwurf Bei den Beteiligungsgesellschaften herrscht zurzeit gefallen lassen, eine große Verunsicherung vor allem in steuerlicher Hin- (Ute Kumpf [SPD]: Wir lassen uns gar nichts sicht. Vor diesem Hintergrund haben wir in unserem An- gefallen!) trag die Bundesregierung aufgefordert, die steuerlichen Rahmenbedingungen so zu verbessern, dass weder die dass Sie es in den letzten Jahren Ihrer Regierungsverant- Fonds noch die Investoren im internationalen Vergleich wortung nicht geschafft haben, diese Probleme in den benachteiligt werden. Griff zu bekommen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) 3578 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Stefan Müller (Erlangen) (A) Sie haben vielmehr durch Ihre falschen Konzepte diese Bundesrepublik in Brüssel den Bereich der Finanz- (C) Probleme noch verschärft. dienstleistungen personell aufgestockt haben. Ich denke, es war ein wichtiger und richtiger Schritt, die Mann- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: So ist es!) schaft in Brüssel zu verstärken. Ihr ständiges Hin und Her bei allen wichtigen Fragen (Beifall bei der CDU/CSU) hat – dieser Tatsache müssen Sie ins Auge sehen – zu ei- ner mangelnden Verlässlichkeit politischer Entscheidun- Eine auf die Stärkung des Finanzplatzes ausgerichtete gen geführt und den Arbeitnehmern und Unternehmern Politik erfordert vor allem eine positive Grundeinstel- in diesem Land die dringend notwendige Planungssi- lung gegenüber der Finanzwirtschaft. Insofern gebe cherheit genommen. Das alles belastet die deutsche ich Ihnen Recht, Herr Ulrich. Nach Auffassung vieler Volkswirtschaft im besonderen Maße und schwächt da- Akteure ist allerdings – beispielsweise im Gegensatz zu mit die Wettbewerbsfähigkeit des Finanzplatzes und der Großbritannien – diese positive Grundeinstellung am Fi- deutschen Finanzdienstleister. nanzplatz selber nicht vorhanden. Daran wie auch an dem Verständnis für die gesamtwirtschaftliche Bedeu- (Jörg Tauss [SPD]: Seid froh, dass ihr nicht re- tung des Finanzsektors als solchen werden wir sicherlich giert!) noch arbeiten müssen. Wir müssen die Finanzdienstleis- Wir fordern die Bundesregierung und die sie stützen- tungsbranche als einen Beitrag zur gesamten Wertschöp- den Fraktionen daher auf, endlich die nachhaltigen fung betrachten. Strukturreformen durchzuführen. Die CDU/CSU hat Es bleibt festzuhalten – damit komme ich zum an diesem Wochenende ein Programm beschlossen. Im Schluss –: Ein guter und leistungsfähiger Finanzplatz Gegensatz zu Ihnen sind wir imstande, solche Be- bietet der Wirtschaft günstige Finanzierungsmöglichkei- schlüsse schnell zu fassen. Sie brauchen dafür Sonder- ten, den Investoren attraktive Anlagemöglichkeiten und parteitage, Regionalkonferenzen und Mitgliederbegeh- den Finanzdienstleistern angemessene Erträge. Ein leis- ren. Ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommen tungsfähiger Finanzplatz sichert Wohlstand und Be- wird. Wir freuen uns darauf. schäftigung für ganz Deutschland. Wir alle sind aufge- Zu den dringend notwendigen Reformen gehören ins- fordert, unseren Teil dazu zu leisten. besondere die Schaffung eines einfachen und transparen- Vielen Dank. ten Steuerrechts, ein flexibler Arbeitsmarkt und Struk- turreformen in den Sozialsystemen in Verbindung mit (Beifall bei der CDU/CSU) mehr Eigenverantwortung und Vorsorge. Nur dadurch werden die Investitionstätigkeit der Unternehmen und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) (D) der Konsum der privaten Haushalte in diesem Lande tat- Das Wort hat jetzt der Kollege Lothar Binding von sächlich gefördert. Beides sind Elemente, die dem Fi- der SPD-Fraktion. nanzplatz unmittelbar helfen werden. (Jörg Tauss [SPD]: Und den Bundesrat nicht Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): mehr blockieren!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr Zu den Rahmenbedingungen gehört auch der Abbau verehrte Damen und Herren! Allen drei Anträgen – ich bürokratischer Hemmnisse. Darüber werden wir si- schließe den von der FDP vorgelegten Antrag mit ein – ist cherlich reden müssen; denn die Finanzwirtschaft ist da- es ein gemeinsames Anliegen, den Finanzplatz Deutsch- von betroffen. Es gibt wohl keinen anderen Wirtschafts- land durch die Schaffung verlässlicher politischer und zweig in Deutschland, der so stark reguliert ist. Keine rechtlicher Rahmenbedingungen zu stärken. Die Anträge andere Branche wird durch Auferlegung von Kontroll- stehen damit in einer sehr guten Tradition des partei- und Meldepflichten in dieser Weise zu staatlichen Auf- übergreifenden Konsenses, der die Finanzmarktförde- gaben herangezogen. Ohne einen Streit vom Zaun bre- rung und die Kapitalmarktgesetzgebung in Deutschland chen zu wollen, müssen wir das meines Erachtens nüch- auch in der Vergangenheit geprägt hat. Dennoch sind tern analysieren. Der bürokratische Aufwand geht Unterschiede festzustellen, und zwar im Umfang, im zulasten der Kunden, die letztlich die Kosten tragen Grad der Detaillierung und in der Wortwahl. müssen. FDP, CDU und CSU bestechen, gestützt auf tagesak- (Beifall bei der CDU/CSU) tuelle Betrachtungen, durch die bekannte Krisen- und Untergangsrhetorik und vergessen dabei zu untersuchen, Wir verkennen auch nicht – das haben wir in unserem wie Deutschland heute für die Zukunft aufgestellt ist. Ei- Antrag deutlich gemacht –, dass ein Großteil der Kapi- gentlich ist es unsere Aufgabe, über Wahltage hinaus zu talmarktgesetzgebung von der EU entschieden wird. denken. Aus der Sicht von 1998 leben wir heute in der Hier gilt es, Benachteiligungen der deutschen Wirtschaft Zukunft. Wir stellen fest: Damals war Deutschland zu verhindern. schlecht aufgestellt. Der Finanzplatz Deutschland muss sich in Brüssel Unser Antrag verweist auf die bisherigen Erfolge und klar und vernehmbar positionieren, damit rechtzeitig auf die guten Voraussetzungen für die weitere Entwicklung, die Entscheidungsprozesse Einfluss genommen werden übrigens auf einer fast immer gemeinsam beschlossenen kann. Frau Staatssekretärin, wir haben mit Wohlwollen Basis. Ich erinnere an die erfolgreiche Finanzmarktför- vernommen, dass Sie in der Ständigen Vertretung der dergesetzgebung der Bundesregierung, die Bundes- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3579

Lothar Binding (Heidelberg) (A) bankreform, die Gründung der Bundesanstalt für Finanz- darüber besteht parteiübergreifend Konsens. Daran soll- (C) dienstleistungsaufsicht, die Deutsche Finanzagentur und ten wir weiter arbeiten. an das Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz. Nur das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz ist schließlich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten im Vermittlungsausschuss gelandet. – Es wird deutlich, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass wir über eine sehr breite, kooperative und partei- Der FDP-Antrag ist in seiner Reduktion auf den Finanz- übergreifende Basis verfügen. – Last, but not least erin- platz Frankfurt im Verhältnis zu den abstrakt definierten nere ich an die Initiative zur Entwicklung des Corporate Zielen widersprüchlich. In der Formulierung „Die Bedeu- Governance Kodexes, die in Deutschland eine wichtige tung des Finanzplatzes für die Finanzierung der Volkswirt- Bedeutung erlangt hat. schaft …“ – und das reduziert auf Frankfurt – wird dieser All diese gesetzgeberischen Initiativen sind in die Widerspruch besonders deutlich. Zwar stimmt es, dass Mitwirkung der Bundesregierung an der Schaffung eines Frankfurt als Bankenplatz und Sitz des größten deut- integrierten europäischen Marktes für Finanzdienstleis- schen Börsenbetreibers am Finanzplatz Deutschland tungen bis zum Jahr 2005 eingebettet, also mit dem EU- eine herausragende Stellung einnimmt. Doch gibt es in Aktionsplan für Finanzdienstleistungen der Europä- Deutschland auch andere Finanzzentren, etwa München ischen Kommission koordiniert. Das Finanzministerium und Köln/ in der Versicherungsbranche, sowie teilt mit, dass schon über drei Viertel der ursprünglich starke Regionalbörsen in Stuttgart, Düsseldorf, München 42 Maßnahmen des Aktionsplanes umgesetzt seien. und Berlin/Bremen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vielleicht geht dieser Irrtum der FDP auf die An- DIE GRÜNEN) nahme des Kollegen Solms zurück, der in der gestrigen Finanzausschusssitzung sagte, die Regionalbörsen seien Ein Erfolg dieser Finanzmarktförderungspolitik zeigt Mitglieder der Deutsche Börse AG in Frankfurt. Tat- sich konkret zum Beispiel darin, dass sich die Zahl der sächlich waren die Regionalbörsen früher mit einem An- Aktionäre und der Fondsanteilsinhaber im vergangenen teil von etwa 10 Prozent am Kapital der Deutsche halben Jahr gesteigert hat. Hier besteht ein echter Zu- Börse AG beteiligt. Dieser Anteil wurde aber abgebaut. sammenhang mit den positiv-regulatorischen Maßnah- Heute befinden sich mehr als 80 Prozent der Anteile an men der Bundesregierung. der Deutsche Börse AG interessanterweise in der Hand Dabei muss uns allen allerdings klar sein, dass die ausländischer institutioneller Investoren. Die Regional- schönsten Gesetze, die feinsten Regelungen und passge- börsen in Deutschland treten also als Konkurrenten auf naue Rahmenbedingungen dauerhaft nur dann weiterhel- und sollten deshalb unseres Erachtens nicht unter den Tisch fallen. (B) fen, wenn auch die Akteure Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit (D) und Verhältnismäßigkeit walten lassen sowie Kompe- Der CDU/CSU-Antrag enthält, wie schon erwähnt, tenz aufweisen. Ich erinnere an Insidergeschäfte und an eine Reihe vernünftiger Ansätze, die sich auch im Pro- Bilanzfälschungen, um den Blick in diese Richtung zu gramm der Regierung bzw. in unserem Antrag wieder- lenken. Kompetenz ist dabei nicht unbedingt am Jahresge- finden. Jedoch – auf die Zahl von 50 Unterpunkten halt zu erkennen – Verhältnismäßigkeit schon gar nicht –, wurde schon mehrfach hingewiesen – fällt die extreme sondern an der Zukunftsfähigkeit der Entscheidungen. Kleinteiligkeit des Antrags auf, die sich als positives Si- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gnal für den Finanzplatz Deutschland nicht unmittelbar DIE GRÜNEN) eignet. Bei vielen Punkten im CDU/CSU-Antrag kann man erahnen, welche Lobbygruppe an dem Brainstor- Deshalb bestimmen Unternehmer, Manager bzw. Vor- ming beteiligt war. standsvorsitzende, Mitglieder von Aufsichtsräten sowie auch Finanzberater und Börsenjournalisten entschei- (Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Sach- dend, wie sich der Finanzplatz Deutschland entwickelt. verstand!) Die bisherige Arbeitsteilung – wenn es nicht gut läuft, wird mit dem Finger auf die Politik gezeigt; wenn es Wenn man zum Beispiel unter Punkt II. 10 – da geht es nicht schlecht läuft, dann steigen die Gehälter der Top- um das Übernahmerecht – nachschaut, dann wird rasch manager – sollten wir nicht mitmachen. deutlich, wer an der Formulierung beteiligt gewesen sein könnte. Dahinter steckt natürlich Sachverstand, mög- (Beifall bei der SPD) licherweise aber auch ein ganz konkretes individuelles Es ist sicherlich kein Zufall, dass in allen drei Anträ- Interesse. Wir aber sollten für alle Menschen Politik ma- gen die Schaffung einer Schwerpunktstaatsanwalt- chen und diese Form eher hintanstellen. schaft zur Verfolgung von Finanz- und Kapitalmarktde- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten likten angesprochen wird; denn die Strafverfolgung im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kapitalmarktbereich krankt in Deutschland an der sehr hohen Zahl von Verfahrenseinstellungen. Dies ist die Viele der aufgeführten Aspekte, nämlich die guten, Folge der oft geringen Expertise und des hohen Aufwan- werden im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen des, der bei diesen Delikten betrieben werden muss. Hier – elegant, wie ich meine; so viel Eigenlob muss sein – wollen wir auf eine Zusammenarbeit mit den Ländern durch den Hinweis auf das Zehnpunkteprogramm der hinwirken, um den Anlegerschutz durch eine Stärkung Bundesregierung zur Stärkung der Unternehmensintegri- der Verfolgungsbehörden zu verbessern. Ich denke, auch tät und des Anlegerschutzes sowie auf den Finanzmarkt- 3580 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Lothar Binding (Heidelberg) (A) förderplan 2006 des Bundesfinanzministeriums inte- die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten der Fonds- (C) griert. gesellschaften. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen Drittens: Schaffung eines Enforcement-Mechanis- enthält in hinreichendem Schärfegrad vernünftige As- mus zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit konkreter pekte aus den beiden anderen vorliegenden Resolutio- Unternehmensabschlüsse. Es ist im Grunde erschre- nen. Dort, wo FDP und CDU/CSU den Finanzplatz ckend, dass wir so etwas brauchen; aber die vorhin ge- Deutschland am Rand des Abgrunds wähnen, verweist nannten Stichworte zeigen, dass dies ein wichtiges Ziel unser Antrag auf die bisherigen Erfolge bei der Finanz- ist, um das Anlegervertrauen zurückzugewinnen. platzförderung – in, wie ich denke, angemessener (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Form. Gleichwohl weisen wir auf die notwendige Wei- DIE GRÜNEN) terentwicklung hin; denn Fortschritte bei der Entwick- lung des Finanzmarkts haben herausragende Bedeutung Viertens: Stärkung der Verantwortlichkeit der Gesell- für den Erfolg der deutschen Volkswirtschaft. schaftsorgane Vorstand und Aufsichtsrat durch die Schaffung einer persönlichen Haftung für falsche Kapi- Verlässliche politische und rechtliche Rahmenbedin- talmarktinformationen; Verbesserung der Organaußen- gungen sind eben eine der Voraussetzungen für das haftung; Ausdehnung der bisherigen Haftung, die allein Funktionieren des Finanzmarkts als Motor für Wachs- die Gesellschaft trifft. tum und Beschäftigung. Ohne die Finanzierungsfunktion des Kapitalmarkts – mit Fremdkapitalaufnahme durch Fünftens: Weiterentwicklung des Corporate Gover- Kredite oder Anleihen bzw. mit Eigenkapital durch die nance Codex. Ziel ist die Etablierung einer verantwort- Begebung von Aktien – werden keine Investitionen getä- lichen und vernünftigen Unternehmensführung und -lei- tigt und die volkswirtschaftliche Entwicklung wird ge- tung. hemmt. Diesen Weg sollten wir weiter beschreiten. Sechstens: Verbesserung der Aufsicht über den grauen Kapitalmarkt durch Einführung einer Prospekt- Über die Diskriminierung von Eigenkapital gegen- pflicht für öffentlich angebotene Kapitalbeteiligungen, über Fremdkapital haben wir schon einiges gehört. In zum Beispiel stille Beteiligungen oder Kommanditbetei- diesem Zusammenhang muss zumindest die Problematik ligungen. der Dauerschuldzinsen noch einmal betrachtet werden. Dabei bieten das Zehnpunkteprogramm der Bundesregie- Zusammenfassend möchte ich an die lange Tradition rung zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des der Gemeinsamkeiten in diesen Fragen erinnern. So Anlegerschutzes sowie der Finanzmarktförderplan 2006 wurde, wie bereits erwähnt, lediglich das Vierte Finanz- (B) des BMF eine hervorragende Grundlage. Ich möchte ei- marktförderungsgesetz schließlich im Vermittlungsaus- (D) nige wichtige Maßnahmen aus diesem Arbeitspensum schuss verhandelt. Hintergrund dafür waren aber weni- nennen. ger parteiliche Differenzen als vielmehr Konflikte zwischen dem Bund und den Ländern. Erstens: Entwicklung eines international konkurrenzfä- higen Verbriefungsmarktes, Asset Backed Securities – An diese Tradition sollten wir hinsichtlich der Gesetz- Initiative der KfW mit den großen Geschäftsbanken und gebung zur Finanzmarktförderung zum Wohle des Fi- den Genossenschaftsbanken. Durch die Verminderung nanzplatzes Deutschland anknüpfen und den Antrag der der Risikopositionen der Kreditinstitute aus Kreditforde- SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen unterstützen. rungen und -risiken wird Eigenkapitalentlastung herbei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geführt. Dies führt zu einem großen Freiraum für neue DIE GRÜNEN) Kredite. Die Finanzierungsmöglichkeiten werden da- durch auch für kleinere und mittlere Unternehmen essen- ziell verbessert. Die steuerliche Entlastung der Zweck- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gesellschaften, auf die solche Kredite oder Kreditrisiken Ich schließe die Aussprache. übertragen werden sollen, gleicht den Nachteil des Fi- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen nanzplatzes Deutschland aus. Zweckgesellschaften müs- auf den Drucksachen 15/748 und 15/930 an die in der sen nicht länger aus gewerbesteuerlichen Gründen ins Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ausland ausweichen. Dies ist ein riesengroßer Fort- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann schritt. sind die Überweisungen so beschlossen. (Beifall bei der SPD) Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 9 auf: Zweitens. Das Investmentgesetz 2003 wird Wettbe- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ernst werbsnachteile, die die deutsche Fondsindustrie in den Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Ulla Burchardt, vergangenen Jahren wiederholt beklagt hat, beseitigen. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, Vorteile von Standorten wie Irland oder Luxemburg wer- der Abgeordneten Grietje Bettin, Hans-Josef Fell, den damit ausgeglichen. Im Rahmen der anstehenden Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und Umsetzung bestimmter EG-Richtlinien wird das Umfeld der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- für die Auflegung und Verwaltung von Investmentfonds NEN sowie der Abgeordneten Ulrike Flach, in Deutschland einer kritischen Überprüfung unterzo- Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia Pieper, gen. Ziel sind dabei die Entschlackung des Gesetzes und Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der FDP Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3581

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Für eine erfolgreiche Fortsetzung der gemeinsa- der Stabilisierung gedient, etwa dann, wenn Finanzmi- (C) men Bildungsplanung von Bund und Ländern nister oder andere Interessen Angriffe auf den Bereich im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für von Bildung und Forschung gestartet haben. Wir wollen Bildungsplanung und Forschungsförderung ausdrücklich anerkennen, dass Kooperation von Bund (BLK) und Ländern auch stabilisieren kann, wenn es bestimmte Interessen gibt, die diesen Zukunftsbereich zurückstufen – Drucksache 15/935 – wollen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Es ließe sich jetzt aus der umfangreichen Geschichte Technikfolgenabschätzung referieren, was in der strategischen Bildungsplanung, in Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Vernetzung vieler Einrichtungen – vom Kindergarten Debatte eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie da- bis zur Hochschule – gemacht worden ist und was in der mit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann Forschungsförderung aufgebaut worden ist. Ich erinnere ist so beschlossen. nur daran, dass im Zuge der deutschen Einheit der Auf- wuchs von Forschungseinrichtungen in den neuen Bun- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der desländern unter anderem über die Bund-Länder-Koope- Kollege Ernst Dieter Rossmann von der SPD-Fraktion ration erfolgreich mit organisiert worden ist. Es gibt das Wort. Wissenschafts- und Hochschulprogramme, schließlich auch Modellversuche – immerhin 300 seit 1970 –, die, Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): gut gebündelt, dazu beigetragen haben, dass es im Bil- dungsbereich immer wieder Erneuerung, Innovation, ge- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und geben hat. – So weit, so gut. Kollegen! Gemeinschaftsaufgaben sollen nach unserer Verfassung erfolgreich dazu beitragen, dass von Bund Umso erstaunter, wenn nicht erschrockener waren wir und Ländern etwas für die Gesamtheit gefördert wird Bildungspolitiker, als wir im März dieses Jahres eine Er- und dass die Lebensverhältnisse aller verbessert werden. klärung aus dem zuständigen bayerischen Staatsminis- Wir haben in diesem Hause Konsens darin, glaube ich, terium vorfanden, deren erster Satz lautete: dass alles das, was Bildung, Forschung und Wissen- schaft fördert, in dem Sinn Gemeinschaftsaufgabe von Die Bildungsminister der CDU/CSU-regierten Län- Bund und Ländern ist. der haben sich darauf verständigt, aus der Gemein- schaftsaufgabe Bildungsplanung auszusteigen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der So damals Herr Zehetmair. (B) FDP) (D) Diese Kampfansage, vor dem Hintergrund auch ande- Dieser Konsens ist gewachsen. Er ist fest verankert, rer Äußerungen des Ministers – ich will nur beispielhaft weil wir wissen, dass Bildung und Forschung Lebens- aus dem erfolgreichen Diskussionsprozess des Forums chancen für den Einzelnen, Entwicklungschancen für die Bildung zitieren: „Jeder mit unnützen Zuständigkeitsde- Gesellschaft, für den Wohlstand, für die Wirtschaft und batten vergeudete Tag ist ein verlorener Tag für unsere für Nachhaltigkeit bedeuten, dass das Zusammenwirken Kinder.“ –, vieler Beteiligter von Bund und Ländern im Bereich von Bildung, Wissenschaft und Forschung, die Vernetzung, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wichtig ist. Das brauchen wir erst recht im Bildungsbe- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der reich, auch wegen der Mobilität innerhalb von Deutsch- FDP) land und innerhalb von Europa. Schließlich geht es auch immer um langfristige Fragen. Langfristige Fragen las- hat beim Bundeselternrat, Frau Hendriks, bei der GEW sen sich am besten in Zusammenarbeit behandeln. oder bei Herrn Eckinger, VBE – das ist vielleicht neutra- ler –, Reaktionen hervorgerufen, die sich wie folgt zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sammenfassen lassen: Man darf keine Krähwinkelpolitik betreiben. Wir brauchen den kooperativen Föderalismus. Deshalb haben frühere Generationen von Regierun- Die BLK ist eine wichtige Gelenkstelle, um im Födera- gen und Parlamentariern diese Gemeinschaftsaufgaben lismus Bildung und Forschung kooperativ nach vorn zu 1969 im Grundgesetz verankert. Die Aufgaben sind von bringen. den Ländern umgesetzt worden. Wir möchten von unse- rer Seite aus hier ausdrücklich festhalten: Im Bund-Län- Wir waren uns sicher, auch nach Erfahrungen, die schon der-Abkommen für Bildungsplanung sind sie sowohl in 1980 in diesem Parlament gemacht worden waren, dass der Absicht als auch in der Praxis erfolgreich umgesetzt auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dies so sehen worden. Dies können wir seit 30 Jahren so feststellen. würde. Da lagen wir falsch. Wir mussten feststellen, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des erstmals in 30 Jahren erfolgreicher BLK-Geschichte BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Auffassung ihrer Bildungsminister teilt. Das finden wir sehr bedau- Es ist erfolgreich gewesen – in Bezug auf den gewal- erlich. Deshalb möchten wir – bewusst SPD, Grüne und tigen Aufwuchs, den wir in Bildung und Forschung in FDP gemeinsam – aus diesem Parlament heraus mit die- Deutschland erlebt haben, und in Bezug auf die Moder- sem Antrag ein klares Bekenntnis zur gemeinsamen Ver- nisierung der Institutionen – und es hat durchaus auch antwortung von Bund und Ländern für die Bildungspoli- 3582 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) tik, die Bildungsförderung sowie die Forschungspolitik haben deshalb die Hoffnung, dass dann, wenn dieser An- (C) und auch die Forschungsförderung abgeben. trag aus den Ausschüssen, an die er heute überwiesen werden soll, zurückkommt, auch mit Ihrer Zustimmung (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE hier im Parlament beschlossen wird. GRÜNEN und der FDP) Danke schön. Wir möchten mit diesem Antrag, von dem eine sehr aufmerksame und liebevolle Kollegin – sie ist leider (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nicht hier – gesagt hat, dass es doch eigentlich ein ziem- GRÜNEN und der FDP) lich harmloser Antrag sei, durchaus nachdrücklich auf einen Punkt aufmerksam machen, indem wir in ihm Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sowohl den Bund wie auch die Länder nachdrücklich Das Wort hat jetzt die Kollegin Katherina Reiche von auffordern und an sie appellieren, Kooperation nicht auf- der CDU/CSU-Fraktion. zukündigen. Das Wort „Aufkündigung“ enthält die Wer- tung, dass es sich hierbei immer um einen einseitigen Vorgang handelt. Es darf eine Aufkündigung, eine ein- Katherina Reiche (CDU/CSU): seitige Veränderung, weder von Länderseite noch von Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Bundesseite geben. Vielleicht wird unser Antrag auf bei- ren! Die heutige Debatte steht im Zusammenhang mit den Seiten als politisches Wollen in all seinen Konse- der grundlegenden Neuordnung der Gemeinschaftsauf- quenzen verstanden. gaben zwischen Bund und Ländern. Es geht um Kompe- tenzabgrenzungen, die Klärung von Zuständigkeiten und (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE auch um mehr Wettbewerb. Die Zukunft der gemeinsa- GRÜNEN und der FDP) men Bildungsplanung im Rahmen der Bund-Länder- In der Konsequenz heißt das nicht, dass es keine Ver- Kommission ist ein Teil dieser übergeordneten Födera- änderungen geben könnte. Natürlich hat es Veränderun- lismusdiskussion. gen gegeben und natürlich wird es auch weiter Verände- An der Entscheidungsfindung scheint sich übrigens rungen geben müssen. Aber es ist doch etwas anderes, der Bundeskanzler, Frau Bulmahn, nicht sonderlich be- ob diese in Form einer Aufkündigung, einer Kampfan- teiligen zu wollen, denn es war Frau Zypries, die in der sage, eines einseitigen Ausstiegs oder auf der Basis einer „FAZ“ vom 16. April eine Umgestaltung der Finanzie- im Konsens getroffenen Vereinbarung geschehen. Dieser rung von Forschung und Hochschulen in Deutschland letzte Punkt ist uns wichtig: Wir brauchen im ganzen vorschlug, über den Kopf der zuständigen Ministerin Veränderungsprozess Konsens. Darauf sollten wir uns in hinweg. (B) dieser Sache verständigen. (D) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Kein Wunder, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dass Frau Bulmahn fehlt!) GRÜNEN und der FDP) Das BMBF scheint auch aus dem Lenkungsausschuss der Schließlich brauchen wir schnelle und klare Entschei- Chefs der Staatskanzleien fern gehalten zu werden, wo dungen. Denn es liefe etwas verkehrt, wenn zukünftig der Komplex der Föderalismusreform bearbeitet wird. Attentismus einträte, weil man nicht mehr weiß, wie Ich glaube, deutlicher kann der Bundeskanzler die Be- man Bund-Länder-Zusammenarbeit organisieren soll. deutungslosigkeit der Bundesbildungsministerin wirk- Das können wir uns im Bildungs- und Forschungsbe- lich nicht signalisieren. reich nicht leisten. (Beifall bei der CDU/CSU) Weiterhin haben wir in dem Antrag dargelegt, dass wir uns vor allen Dingen eine Konzentration dieser sehr Die Aufregung, die jetzt bei Rot-Grün und auch bei erfolgreichen Bund-Länder-Zusammenarbeit auf strate- der FDP herrscht, hat ihre Ursache in einem Beschluss gische Bildungsplanung wünschen. Ich bin sicher, dass der Ministerpräsidenten aller 16 Länder. Schauen wir andere Kollegen das noch entsprechend unterstützen uns in aller Ruhe einmal die Tatsachen an: Es gab am werden. 27. März dieses Jahres eine Ministerpräsidentenkonfe- renz in Hamburg, die Folgendes beschlossen hat: Ich darf mit einem Appell schließen, den Bundesprä- sident Rau auf dem Abschlusskongress des Forums Bil- Die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung soll dung, eines der letzten großen, nachhaltig wirkenden abgeschafft werden, wobei eine Koordinierung un- Vorhaben der Bund-Länder-Kommission im PISA-Pro- ter den Ländern sicherzustellen ist. zess, gesagt hat. Er hat daran erinnert: Die Forschungsförderung ist auch in Zukunft als Mischfinanzierung fortzuführen. Die Zusammenarbeit all derer, die im Bildungs- geschehen zusammenwirken müssen, ist möglich. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Reden Sie Man muss sie wollen. auch noch zu Ihrem Standpunkt?) Wir dürfen an die Adresse der CDU/CSU sagen: Wir Dabei handelt es sich nun keineswegs um einen Allein- wollen diese Kooperation, wir brauchen sie, wir brau- gang der Ministerpräsidenten von der Union, sondern chen aber auch Sie als CDU/CSU, damit diese Koopera- alle Ministerpräsidenten haben das beschlossen, übri- tion auch in Zukunft gelingt. Wir wollen keine Einseitig- gens auch mit Zustimmung der in den Ländern mitregie- keiten, sondern wollen Perspektiven aufzeigen. Wir renden FDP. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3583

Katherina Reiche (A) Zum Beispiel unterschrieb der stellvertretende Parteivor- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt poli- (C) sitzende der FDP Döring den baden-württembergischen tisch das Vorgehen der Ministerpräsidenten. Zum einen Koalitionsvertrag. Dieser enthält den Passus: ist aus der gemeinsamen Bildungsplanung seit Jahren keine weiterführende Initiative entstanden und zum an- Wir werden allem entgegentreten, was den Bewe- deren existiert mit der KMK ein Gremium, das den Ko- gungsspielraum der Länder in diesem Zusammen- ordinierungsbedarf der Länder durchaus abdeckt. hang (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – – im Zusammenhang mit der Kernkompetenz Kultur- Ulrike Flach [FDP]: Ach, Frau Reiche! Warum politik – ausgerechnet die KMK?) weiter einengt. Dazu gehören eine Deregulierung Darüber hinaus könnten durch Ad-hoc-Arbeitsgrup- bei der geplanten Novellierung des Hochschulrah- pen bildungs- und berufsbildungspolitische Fragen abge- mengesetzes, der Verzicht der Bund-Länder-Kom- deckt werden. Gegebenenfalls könnte auch das Bundes- mission auf den Bereich Bildungsplanung institut für Berufsbildung den Berufsbildungsteil ganz (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hört! Hört!) übernehmen. Insgesamt wäre ein Ausstieg aus der ge- meinsamen Bildungsplanung auch ein Beitrag zu mehr sowie eine weitere Stärkung des Selbstauswahl- Transparenz und Effizienz im Bildungswesen. rechts der Hochschulen. (Jörg Tauss [SPD]: Dafür sind Sie auch, oder Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: was? Ihre Meinung ist interessant!) Frau Kollegin Reiche, erlauben Sie eine Zwischen- Es beschleicht einen die Vermutung, Rot-Grün und frage des Kollegen Tauss? die FDP vergössen nun in ihrem gemeinsamen Antrag, der sich für die Fortsetzung der gemeinsamen Bildungs- Katherina Reiche (CDU/CSU): planung ausspricht, Krokodilstränen. Vergessen werden Nein, ich würde gern fortfahren. darf nämlich auch nicht eine nicht ganz unwesentliche Vorgeschichte. Ich erinnere an den Beschluss der Bund- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Länder-Kommission vom Juni des vergangenen Jahres, Keine Zwischenfrage! der Budgetzuwächse in Höhe von bis zu 3,5 Prozent für alle Wissenschaftsorganisationen im Haushalt 2003 be- inhaltete. Der Bund hat diesen einmütig gefassten Be- Katherina Reiche (CDU/CSU): schluss einseitig und ohne Absprache mit den Ländern Gleichzeitig begrüßen wir auch das Festhalten der (B) über Nacht aufgekündigt. Das ist ein noch nie dagewese- Länder an der gemeinsamen Forschungsförderung von (D) ner Wortbruch. Bund und Ländern. Der Zwang für Bund und Länder, sich abzustimmen, wirkt quasi wie ein Puffer gegen ex- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) treme Schwankungen in der Forschungspolitik. Ich glaube, die Länder sind es leid, dass die Bundes- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Richtig!) ministerin den Gedanken der gemeinsamen Bildungspla- nung immer wieder dazu benutzt, sich in die Kulturho- Nun beabsichtigt die Bundesregierung, im Zusam- heit der Länder einzumischen. Das Kerngeschäft ihrer menhang mit einer Föderalismusreform die Forschungs- Aufgaben, die Forschungspolitik, hat Frau Bulmahn ver- landkarte in Deutschland neu zu ordnen. Der Kanzler nachlässigt. Sie flüchtet sich nun in die Bildungspolitik, will sich – so zumindest die „FAZ“ vom 2. Mai – for- für die sie laut Grundgesetz gar keine Kompetenzen hat. schungspolitisch ein „Riesenreich“ schaffen. Die For- schungsorganisationen der Fraunhofer-Gesellschaft (Beifall bei der CDU/CSU) und der Helmholtz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Ge- Es ist allein der Initiative der unionsgeführten Länder sellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Kultusministerkonferenz zu verdanken, dass es zu sollen mit einem Forschungsvolumen von über einer Einigung über die Einführung gemeinsamer Bil- 5 Milliarden Euro in die alleinige Zuständigkeit des dungsstandards gekommen ist. Die KMK ist hier viel Bundes überführt werden. weiter als der Bund. Die Vorschläge von Frau Bulmahn (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Allmachts- zur Einrichtung einer nationalen Agentur zur Entwick- fantasie!) lung und Evaluierung von Bildungsstandards bedeuten eine weitere unerwünschte Einmischung in die Hoheit Die vom Bund vertretene Position bedeutet die Aufkün- der Länder. digung der gemeinsamen Finanzierung. Politisch läuft die Position des Bundes auf eine Gleichschaltung der Auch der Vorschlag von Frau Bulmahn, eine acht- Spitzenforschung hinaus. bzw. neunjährige Regelschule einzuführen und somit quasi das gegliederte Schulsystem abzuschaffen, ist an- (Ute Kumpf [SPD]: Ein bisschen vorsichtig maßend, rein ideologisch und verfolgt offensichtlich das mit den Worten, Frau Reiche! – Weitere Zu- Ziel einer Einheitsschule. rufe von der SPD) In unseren Augen gefährdet sie damit die Unabhängig- (Beifall bei der CDU/CSU – Nicolette Kressl keit der Forschungseinrichtungen. [SPD]: Wie der Handelskammertag in Baden- Württemberg!) (Beifall bei der CDU/CSU) 3584 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Katherina Reiche (A) Die Stärke des Wissenschaftsstandortes Deutsch- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Bei der Regie- (C) lands liegt gerade in seiner föderalen Struktur unter einer rung!) politikfreien wissenschaftlichen Begleitung durch Top- Einige Berufungsverfahren sind unterbrochen, da sich gremien wie zum Beispiel die Gutachter der DFG. Die- die Wissenschaftler momentan nicht auf diese Unge- ses Pfund darf nicht verspielt werden. DFG und MPG wissheit einlassen wollen. Wir werden das nicht mitma- sind die Flaggschiffe der deutschen Forschungsland- chen. Ich hoffe, dass es die Länder bei ihrem Gespräch schaft mit einem international hervorragenden Renom- mit dem Bundeskanzler am 26. Juni zu verhindern wis- mee. Jetzt erfahren sie aus der Presse, dass der Bund die sen. Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung faktisch aufkündigen will. Ich frage mich: Was ist das für ein Vielen Dank. Stil? (Beifall bei der CDU/CSU – (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ein ganz mieser [Spandau] [SPD]: Geschichtslos, ahnungslos, Stil!) stillos!) Wenn durch die Entscheidung der Bundesregierung der Fortbestand dieser Einrichtungen in die Grauzone Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gestellt würde, würde dies das Ansehen beider Einrich- Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin vom tungen auch in der internationalen Wahrnehmung be- Bündnis 90/Die Grünen. schädigen. Nun zu den Leibniz-Instituten. Die Einrichtungen der Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Leibniz-Gemeinschaft sollen nach den Plänen der Bun- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! desregierung in der alleinigen Zuständigkeit der Länder Nach diesem destruktiven Beitrag vorweg eine gute verbleiben. Dies ist wohl der Gipfel der Scheinheiligkeit. Nachricht: (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wohl wahr!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Thomas Rachel [CDU/ Diese Einrichtungen werden vom Bund und von den CSU]: Fangen Sie erst einmal an, sich sachlich Ländern zu jeweils 50 Prozent finanziert. Strukturell und zu äußern!) organisatorisch sind die Institute der Leibniz-Gemein- schaft die ländernächsten und liegen mit ihren Schwer- Es kommt glücklicherweise Bewegung in die Bildungs- punkten vor allem in den neuen Ländern. Was passiert landschaft. Der Jahresbericht der Bund-Länder-Kom- nun, wenn sich der Bund daraus verabschiedet? Insbe- mission zeigt uns, liebe Kollegin Reiche, wie erfolgreich (B) sondere die neuen Länder wären gar nicht in der Lage, konstruktive Zusammenarbeit über Parteigrenzen hin- (D) alle Institute zu 100 Prozent zu übernehmen. Die Ent- weg sein kann. scheidung des Bundes würde eine wenn nicht flächen- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Gerade in der deckende Schließung, so doch vermutlich große Anzahl Forschungsförderung!) von Schließungen von Leibniz-Instituten in den neuen Ländern zur Folge haben. Nicht nur auf PISA hat die BLK sachgerecht reagiert. Sie hat Empfehlungen für die Sprachförderung erarbei- Frau Bulmahn betont immer wieder, dass sie keine tet, die schon jetzt in den meisten Bundesländern – zum bildungspolitische Kleinstaaterei will. Was sie jedoch Beispiel in Schleswig-Holstein und Niedersachsen – um- mit der Wilhelm-Leibniz-Gemeinschaft vorhat, ist for- gesetzt werden. Sie hat das Ansehen des Studiums in schungspolitische Kleinstaaterei; denn jedes Land soll Deutschland mit dem äußerst erfolgreichen Marketing sich um seine eigenen Leibniz-Institute kümmern. Ge- für unsere Unis im Ausland entscheidend verbessert und rade in der Forschung brauchen wir nicht weniger, son- sie hat auch in den Jahren Ihrer Regierungzeit, liebe Kol- dern mehr Vernetzung. leginnen und Kollegen von der Union, einige Schritte für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Modernisierung des Bildungssystems getan. Wir wissen nicht, ob die Überlegungen des Bundes (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann nur als Schachzug zu bewerten sind, die Länder durch [SPD]) die Drohung mit dem Ende der gemeinsamen For- Ich denke dabei zum Beispiel an die drei Hochschulson- schungsförderung dazu zu bewegen, den Bund weiterhin derprogramme oder an den Aufbau des Hochschulwe- in der Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung mitbe- sens in den neuen Ländern. stimmen zu lassen. Gleichwohl sollten sie ernst genom- men werden. Die rot-grüne Bundesregierung zeigt näm- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, lich mit diesen Vorschlägen ihr wahres Gesicht: bei der SPD und der FDP) (Zurufe von der SPD: Oh!) Deswegen ist es für mich überhaupt nicht nachvoll- ziehbar, wenn nicht nur die unionsgeführten Länder, die Vernachlässigung der Forschung in den neuen Län- sondern sogar Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der dern und eine Monopolisierung der deutschen For- Unionsfraktion in diesem Hause, aus der gemeinsamen schungslandschaft in der Hand des Bundes. Bildungsplanung aussteigen wollen. Sie berauben sich Die Forscher – das kann ich hier sagen – sind hoch- damit doch Ihrer eigenen Gestaltungskompetenz. Dies gradig verunsichert. mit der PISA-Studie zu begründen ist ziemlich faden- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3585

Grietje Bettin (A) scheinig. Die bayerischen Schulen mögen bundesweit Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, an dem (C) und oberflächlich betrachtet vielleicht relativ gut daste- gemeinsamen Antrag der Koalition und der FDP sehen hen. International gesehen spielen sie jedoch allenfalls in Sie, dass Sie mit Ihrem Ausstieg aus der gemeinsamen der zweiten Liga. Bildungsplanung absolut allein dastehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Katherina Reiche [CDU/CSU]: 16 Minister- präsidenten!) Das Bildungsniveau dort wird sicher nicht leiden, nur weil wir in der BLK darüber sprechen. Außerdem erkau- Deshalb: Kehren Sie zum bewährten Konsens in diesem fen Sie sich diesen insgesamt mäßigen Erfolg damit, Hause zurück! Setzen Sie sich mit uns für die gemein- dass zum Beispiel Bayern auf Kosten der anderen Bun- same Bildungsplanung vor allem im Interesse der jungen desländer viel zu wenige Abiturientinnen und Abiturien- Menschen in unserem Land ein! ten ausbildet, und wenn, dann sind das erwiesenermaßen Danke schön. meist Kinder reicher Eltern. Für diese will die CSU jetzt auch noch in Elitestudiengänge investieren, wie heute im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Tagesspiegel“ zu lesen war. Glauben Sie, das ist das und bei der SPD) richtige Signal zu dieser Zeit? – Ich glaube es nicht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Das Wort hat die Kollegin Ulrike Flach von der FDP- Fraktion. Grünes Ziel ist es – das sollte auch Ihres sein –, die faktische soziale Auslese in der Schule zu beenden und Ulrike Flach (FDP): allen begabten jungen Menschen einen hohen Bildungs- abschluss zu ermöglichen. Nahezu alle Bildungsexper- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- tinnen und -experten fordern für dieses Ziel eine längere ren! Niemand in diesem Hause – auch Sie nicht, Frau gemeinsame Schulzeit. Darin liegt wohl auch der wahre Reiche – wird ernsthaft behaupten, wir bräuchten in der Grund für den angekündigten Ausstieg der Union: Das Bildungsplanung keine Koordination und keine Koope- gegliederte Schulsystem ist der Union noch immer so ration zwischen Bund und Ländern. heilig, dass sie lieber die gemeinsame Bildungsplanung (Beifall bei der FDP, der SPD und dem auf dessen Altar schlachten möchte. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bund und Länder müssen nach PISA und IGLU große Der einheitliche Bildungsraum Europa, die Herausforde- rungen im internationalen Wettbewerb der Bildungs- (B) bildungspolitische Aufgaben bewältigen. Es geht um (D) nichts Geringeres als um die Zukunftschancen unserer märkte und die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns Kinder. Bildungsstandards sollen die Qualität der Bil- nach der PISA-Studie machen dies mehr als deutlich. dung überall in Deutschland sicherstellen. Sie müssen Wer zu diesem Zeitpunkt, liebe Kollegen von der gemeinsam entwickelt werden, weil sie nicht nur schuli- CDU/CSU, die Position der Länder – das sage ich mit sche Bildung, sondern eben auch Kindergärten und Wei- sehr großem Ernst – eins zu eins, also kritiklos, und da- terbildung betreffen. Darüber hinaus stehen uns auch mit auch ihren sehr emotionsgeladenen Ärger nach dem massive Reformen im Bereich der beruflichen Bildung Motto: „Nimmst du unser Schippchen weg, dann geben ins Haus, die wir ohne BLK und ohne gemeinsame Ko- wir dir das andere wieder und hauen wir noch einmal operation von Bund und Ländern gar nicht anpacken drauf“ übernimmt und damit zu einem Beschluss könnten. kommt, der rational kaum zu begründen ist, steigt mit ei- Die Forschungsfinanzierung wäre ohne die BLK nem Paukenschlag aus der gemeinsamen Bildungspla- höchst ineffizient. Wir alle wollen die Forschung in nung aus und zerstört das kleine Pflänzchen gemeinsa- Deutschland stärken und international wettbewerbsfähig men bildungspolitischen Handelns, das wir mühsam erhalten. Wir können uns aus meiner Sicht ein planloses gepflegt haben. Nebeneinander in der Forschung absolut nicht leisten. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und bei der SPD) Wenn PISA ein Signal gab, dann ist es nicht das, dass Lassen Sie uns also zuerst über die gemeinsamen jeder für sich allein für mehr Qualität des Bildungswe- Ziele sprechen, die wir in der Bildungspolitik – vom sens in unserem Lande kämpfen soll, sondern das Signal, Kindergarten bis zur Weiterbildung – erreichen wollen! dass alle gemeinsam das tun sollten. Wenn Sie die Men- Sie werden feststellen, dass wir vielfach gar nicht so schen in unserem Lande fragen, so stellen Sie fest, dass weit auseinander liegen. Lassen Sie uns anschließend sie genau das bestätigen: Wir sollen zusammenarbeiten über die Strukturen diskutieren, die wir brauchen, um und nicht gegeneinander arbeiten. diese Ziele zu erreichen! Für eine solche Diskussion ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die BLK das ideale Forum. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dazu brauchen wir die BLK als das einzige über Jahr- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der zehnte hinweg funktionierende Scharnier zwischen FDP) Bund und Ländern. 3586 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Ulrike Flach (A) Anders übrigens als die Kultusministerkonferenz – da An dieser Stelle will ich genauso klar sagen, dass für (C) bin ich ganz anderer Meinung als Sie –, die zwar oft in mich zur Bund-Länder-Kommission auch die andere den Medien ist, aber wenig bewegt, ist die Bund-Länder- Seite der Medaille gehört: Wer gemeinsame Bildungspo- Kommission in der Öffentlichkeit eher unbekannt, dafür litik für Deutschland will, liebe Kolleginnen und Kolle- aber sehr erfolgreich. gen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, der kann sich bei der gemeinsamen Forschungsförderung nicht weg- (Beifall bei der FDP und der SPD) ducken. Die zahlreichen Vorhaben – Kollege Rossmann hat es (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Dann eben schon aufgeführt – von Wissenschaftsprogrammen haben wir uns ja verstanden!) und Marketing bis hin zu beruflicher Bildung und der gemeinsamen Bildungsplanung, auch im Bereich der Ich bin froh, Herr Dr. Rossmann, dass Sie eben so deut- Frauenförderung, haben in den letzten Jahrzehnten be- lich gemacht haben, dass Sie offensichtlich bereit sind, wiesen, dass es sich hier um eine Institution handelt, die als Fraktionen dafür zu kämpfen; es wert ist, dass um sie gekämpft wird, Frau Reiche. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP, der SPD und dem denn das, was Frau Ministerin Zypries in einer Zeitung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) angekündigt hat – da teile ich absolut die Meinung von Sicher war nicht alles erfolgreich. Es gibt übrigens in- Frau Reiche –, können wir uns auf diesem hoch sensi- dividuelle Modellversuche in den Ländern. Das Land blen Gebiet nicht leisten. Die Forschungsinstitutionen Baden-Württemberg ist so ein Fall. sind geradezu eruptionsartig verunsichert gewesen. Wir brauchen keine Schnellschüsse, sondern wir brauchen (Jörg Tauss [SPD]: Musterbeispiel!) eine inhaltlich und fachlich wohl vorbereitete Diskus- sion zu diesem Thema, dem schwierigsten Thema, das Es hat sich an vielen Modellversuchen, die die BLK auf wir überhaupt in den nächsten Monaten vor uns haben. den Weg gebracht hat, nicht beteiligt, stattdessen eigene Modellversuche durchgeführt. Dass viele Modellversu- Wer Wissenschaft optimieren und Verantwortung che der BLK nicht erfolgreich waren, soll doch aber transparenter machen will, der geht eben nicht über die nicht heißen, dass wir deswegen die gesamte Struktur Medien an das Thema heran. Ich kann uns allen raten, zerschlagen müssen. Natürlich muss sich die BLK stän- bei dieser Diskussion etwas zurückhaltender zu sein. Wir dig weiterentwickeln. Wir sind die Letzten, die dagegen haben in den letzten Jahren so viel auf den Weg gebracht sind, dass diese Institution effizienter arbeitet. Natürlich – wir mit Bio-Regio, Sie mit Inno-Regio. All dies ist in benötigt sie Reformen; da sind wir mit Ihnen einer Mei- Gefahr, wenn wir jetzt, die Forschungsförderung so (B) nung. Trotzdem hieße das, was Sie jetzt propagieren, be- gröblich misshandeln, wie das offensichtlich im Augen- (D) währte Strukturen zu zerschlagen, ohne etwas Neues zu blick geplant ist. haben, was wir den Menschen draußen im Lande anbie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten können. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der FDP, der SPD und dem GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen habe ich zum Abschluss noch eine Bitte an Damit schaffen Sie Verunsicherung und blockieren drin- Sie. Diese Diskussion ist die schwierigste, die wir in den gend erforderliche Verbesserungen für unsere Schulen nächsten Jahren vor uns haben. Sie ist auch die schwie- und Hochschulen; Herr Schlegel hat uns das letzte Wo- rigste, die ich als Parlamentarierin erlebt habe; denn sie che sehr deutlich gemacht. geht über den Zuständigkeitsbereich unseres Ausschus- ses weit hinaus, sie betrifft ebenso viele andere Aus- Wir kommen jetzt zum Beispiel bei der vorschuli- schüsse. Wir müssen also kooperieren und müssen in schen Bildung, für die das Herz übrigens aller Kollegen diesem Fall zusammenhalten. Ich freue mich, dass es das schlägt, nicht weiter. Die BLK sitzt fest, weil durch diese Angebot der Regierungsfraktionen gibt. Ich würde mich unselige Diskussion wichtige Entscheidungen blockiert sehr freuen, Frau Reiche, wenn auch die CDU/CSU mit worden sind. uns an einem Strang ziehen würde. Ich glaube, das wäre gut für dieses Land. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was wollen Sie stattdessen? Bereits im Ausschuss habe ich angesichts Ihres Vorschlages irritiert geschaut. Sie wollen doch wohl nicht wirklich vorschlagen, dass Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wir die Bund-Länder-Kommission durch die Kultusmi- Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamenta- nisterkonferenz – diese Landschildkröte der Bildungs- rische Staatssekretär Christoph Matschie. landschaft – ersetzen? (Heiterkeit und Beifall bei der FDP, der SPD Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär bei der und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bundesministerin für Bildung und Forschung: Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Die größt- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! mögliche Inkompetenz!) Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, den Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3587

Parl. Staatssekretär Christoph Matschie (A) föderalen Staatsaufbau im Sinne einer neuen Verantwor- langen Lernens zu betrachten, der im Kindergarten be- (C) tungsteilung zwischen Bund und Ländern grundlegend ginnt und über Schule, Berufsbildung und Universität zu überprüfen. bis in die Erwachsenenbildung reicht. Um einen solchen Prozess erfolgreich gestalten zu können, müssen diese (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Von dem Koali- Bereiche miteinander verknüpft werden. Dabei brauchen tionsvertrag gilt doch gar nichts mehr!) wir die gemeinsame Bildungsplanung von Bund und Dieser Prozess der Überprüfung hat in den Ländern und Ländern. auch beim Bund stattgefunden. Ich denke, es versteht sich von selbst, dass bei dieser Überprüfung auch unter- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schiedliche Vorstellungen zutage getreten sind. Die Län- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach der erwarten ein Mehr an Kompetenzen und Finanzmit- [FDP]) teln. Der Bund tritt für eine Stärkung seiner eigenen Die Erfahrung der vergangenen Jahre zeigt aber auch, Möglichkeiten ein. Dass aber die Union ausgerechnet im dass die Vernetzung mit anderen Politikbereichen, Feld der Bildungsplanung versucht, einen neuen Weg zu insbesondere mit den Bereichen Familie, Arbeit, Wirt- gehen und einen Alleingang zu machen, war nicht unbe- schaft und Finanzen, nur über eine gemeinsame Bil- dingt zu erwarten. dungsplanung möglich ist. Auch deshalb brauchen wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sie weiterhin. DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach Ich erinnere an die in diesem Hause geführte Diskus- [FDP]) sion über die zunehmende Mobilität, die den Menschen Ich glaube, man muss in dieser Debatte noch einmal in diesem Land abverlangt werden muss. Auch sie macht darauf hinweisen: Der Föderalismus ist ein zweckmäßi- ein stärker koordiniertes, bundeseinheitliches Vorgehen ges System, aber im jetzigen System knirscht es auch; es im Bildungssystem, harmonisierte Regelungen und ver- gibt Reibungsverluste. Deshalb müssen wir die Aufga- gleichbare Standards in ganz Deutschland erforderlich. benverteilung neu diskutieren. Das erklärte Ziel der Wir können mit Fug und Recht sagen: Die gemein- Bundesregierung ist dabei, national, aber auch internati- same Bildungsplanung hat einer weiteren Zersplitterung onal, etwa auf der Ebene der Europäischen Union, wie- des Bildungssystems entgegengewirkt. Auch dafür brau- der mehr politische Handlungsfähigkeit zu gewinnen. chen wir sie in der Zukunft. Das setzt klare Verantwortlichkeiten, aber auch transpa- rente und effiziente Verfahren voraus. Diese Reformen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sollen Schwachstellen beseitigen, aber – das sage ich DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach hier klipp und klar – sie sollen nicht bewährte und not- [FDP]) (B) (D) wendige Mittel und Instrumente der Zusammenarbeit Einzelne Programme – ich weise auf das Hochschul- zwischen Bund und Ländern zur Disposition stellen. sonderprogramm und das internationale Marketing für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Bildungsstandort Deutschland hin – sind nur dank DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach einer gemeinsamen Anstrengung von Bund und Ländern [FDP] möglich gewesen. Würde die gemeinsame Bildungspla- nung aufgegeben, könnten diese Programme leider nicht Deshalb glaube ich, ein Ausstieg aus der gemeinsamen fortgesetzt werden. Bildungsplanung wäre keine Verbesserung. Vielmehr würde er Bund und Länder eines wichtigen Instruments Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen von berauben, das wir in Anbetracht der Reformbedürftigkeit der Union: Überdenken Sie Ihre Position zur gemeinsa- unseres Bildungssystems heute vielleicht noch dringen- men Bildungsplanung noch einmal! Die Bundesregie- der brauchen als in der Vergangenheit. rung wird sich für die Beibehaltung dieses Instruments einsetzen, weil sie es für notwendig hält. Unterstützen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch Sie – andere Kolleginnen und Kollegen in diesem DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach Haus haben das schon deutlich gemacht – die gemein- [FDP]) same Bildungsplanung. Überdenken Sie Ihre Position Deshalb kann die Bundesregierung den Wunsch, aus der noch einmal und stimmen Sie für den vorgelegten An- gemeinsamen Bildungsplanung auszusteigen, nur mit trag. Bedauern und Unverständnis zur Kenntnis nehmen. Wir fordern in diesen Verhandlungen im Gegenteil, dass Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. diese gemeinsame Bildungsplanung zu einem verpflich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tenden Verfassungsauftrag ausgestaltet wird. DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach Warum tun wir das? Auf die Erfolge der gemeinsa- [FDP]) men Bildungsplanung ist hier schon hingewiesen wor- den. Lassen Sie es mich noch einmal sagen, Frau Kolle- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gin Reiche, wenn Sie meinen, diese Aufgabe könnten Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Rachel von auch die Länder allein erfüllen: Ein erfolgreiches Bil- der CDU/CSU-Fraktion. dungssystem ist immer mehr als die Summe seiner Teile. Wir haben nicht nur die einzelnen Teile in den Bundes- (Jörg Tauss [SPD]: Er erklärt uns jetzt, warum ländern, sondern wir haben auch den Prozess des lebens- er erst die BLK gelobt hat!) 3588 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) Thomas Rachel (CDU/CSU): nicht aber die Fortsetzung der Forschungsförderung in (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir der BLK gefordert hat. führen eine intensive Debatte über die Reform des Föde- (Beifall bei der CDU/CSU) ralismus in Deutschland und über die Neuregelung der Verantwortlichkeiten zwischen Bund und Ländern. In Wirklichkeit will diese Bundesregierung nämlich aus der gemeinsamen Forschungsförderung der Bund-Län- Mit dem heutigen Antrag versuchen SPD, Grüne und der-Kommission aussteigen und das zweite Standbein FDP letztlich bereits Fakten zu schaffen, indem sie den der BLK absägen. So viel zur Ehrlichkeit und Wahrhaf- Erhalt der Bildungsplanung der Bund-Länder-Kommis- tigkeit dieses Antrages. sion für Bildungsplanung und Forschungsförderung fest- schreiben wollen. Alles soll so bleiben, wie es in den (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Flach letzten Jahrzehnten war. Die Dinge sind aber nicht mehr [FDP]: Er hat doch das Gegenteil gesagt, Herr so, wie sie waren. Für ein fruchtbares Zusammenwirken Rachel! – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: von Bund und Ländern in einem Gremium wie der BLK Durchlesen!) ist es erforderlich, dass alle Beteiligten von der Sinnhaf- Kein Wort verlieren SPD und Grüne in ihrem Antrag tigkeit ihres Tuns sowie von der Notwendigkeit und Effi- zu dem Willen der Bundesregierung, die Rahmenge- zienz der Institution überzeugt sind. Genau dies ist aber setzgebung nach Art. 75 des Grundgesetzes aufzuheben. nicht mehr der Fall. Auch die Ministerpräsidenten der Bundesländer haben Die Bundesländer haben in der KMK die notwendi- dies gefordert. Wo bleibt der Mut der sozialdemokrati- gen Konsequenzen nach PISA selbst gezogen. Ich nenne schen und grünen Bundestagsabgeordneten, sich zu die- die nationalen Bildungsstandards und die einheitlichen sem Thema zu bekennen? Abschlussprüfungen in den verschiedenen Schulfor- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Und wo men. Die Ministerpräsidenten der SPD-geführten und bleibt Ihr Mut, dazu Stellung zu nehmen?) der unionsgeführten Länder haben am 27. März ent- schieden, die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung Ich habe dazu in dieser Debatte nichts gehört. Wir abzuschaffen und sie zur reinen Ländersache zu machen. Christdemokraten können uns zum Beispiel nicht für die Damit hat sich die Ausgangslage in Deutschland verän- vollständige Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes dert. aussprechen. (Ulrike Flach [FDP]: Für uns nicht!) (Zuruf von der SPD: Wir auch nicht!) Wir Christdemokraten haben Verständnis dafür, dass Natürlich muss das HRG entschlackt und entbürokrati- siert werden. Auch dies hat Ministerin Bulmahn bisher (B) sich die Länder aus der Bildungsplanung im Schul- (D) bereich zurückziehen wollen; denn die Schulpolitik ge- nicht geschafft; das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Die hört nun wirklich in den ausschließlichen Kompetenzbe- Grundsätze des Hochschulwesens sollten auch in Zu- reich der Bundesländer. Die ständigen Versuche von kunft durch das HRG bundeseinheitlich geregelt werden. Bildungsministerin Bulmahn, in die Schulpolitik der (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Bundesländer, für die sie überhaupt keine Kompetenz [SPD]) hat, hineinzuregieren, sind überflüssig und schädlich. Für dieses Verhalten hat Frau Bulmahn von den Bundes- Weiterhin fordert die Bundesregierung, dass die jet- ländern die Quittung erhalten. zige Gemeinschaftsaufgabe „Ausbau und Neubau von Hochschulen“ den Ländern übertragen wird. Auch die (Jörg Tauss [SPD]: Das ist eine Unverschämt- Ministerpräsidenten wollen dies. Was meint eigentlich heit!) die SPD-Bundestagsfraktion dazu? Angesichts der Meinungsbildung aller Bundesländer (Zuruf von der SPD: Was meinen Sie denn mutet das Föderalismuskonzept von Gerhard Schröder dazu?) geradezu kurios an. Wenn die Bundesregierung fordert, Auch dazu hören wir nichts. Wir meinen, dieser Punkt die gemeinsame Bildungsplanung zu einem verpflich- tenden Verfassungsauftrag umzugestalten, so zeigt dies, sollte noch einmal gründlich bedacht werden. dass Schröder lange nicht mehr mit den Ministerpräsi- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der denten der sozialdemokratisch geführten Länder gespro- SPD) chen hat. Wer garantiert eigentlich, dass der Bund den Ländern (Beifall bei der CDU/CSU) auf Dauer den hohen Millionenbeitrag für den Hoch- schulbau zur Verfügung stellt? Der heute vorliegende Antrag zur Bildungsplanung der BLK ist letztlich ein Trick; denn er versucht aus- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wer will schließlich, den Sektor der Bildungsplanung zu themati- das denn noch?) sieren und alle anderen Fragen des Zusammenwirkens In der Vergangenheit war es von Vorteil, dass der Aus- bei Bildung und Forschung – auch das ist Gegenstand bau der Hochschulen auch zwischen den Bundesländern der Föderalismusdebatte – auszuklammern. Aber das abgestimmt wurde, werden wir nicht durchgehen lassen. So ist es bezeich- nend und geradezu entblößend, dass der Antrag von SPD (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das dürfen und Grünen zwar die Fortsetzung der Bildungsplanung, wir doch auch noch bedenken!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3589

Thomas Rachel (A) damit Dubletten im inhaltlichen Profil vermieden wur- (Beifall bei der CDU/CSU) (C) den und nicht nur nach regionalpolitischen Gesichts- punkten entschieden wurde. Die gemeinsame Forschungsförderung von Bund und Ländern hat einen guten Grund. Sie verhindert bei wis- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das war senschaftlichen Aufgaben von überregionaler Bedeutung auch unsere Position!) eine Zersplitterung der Ressourcen. Statt 16 Forschungs- politiken der Länder und einer des Bundes gibt es eben Geschickt versuchen SPD und Grüne mit ihrem An- nur eine gebündelte Forschungspolitik in Deutschland. trag, die öffentliche Aufmerksamkeit nur auf den Aspekt Auch nach Ansicht der Deutschen Forschungsgemein- der Bildungsplanung zu lenken. schaft – DFG – hat sich diese gemeinsame Forschungs- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wo war förderung bestens bewährt. die FDP?) Als schon bösartig muss man die Absicht der Bundes- regierung bezeichnen, gerade die Leibniz-Gemein- In Wirklichkeit befasst sich die BLK in gleichem Maße schaft künftig nicht mehr mitzufinanzieren, sondern dies mit der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund ausschließlich den ostdeutschen Ländern zu überlassen, und Ländern. Dies wird bei Ihnen nicht angesprochen, die dazu nicht in der Lage sind. Damit wird gerade die obwohl die Bundesregierung gerade die Entflechtung für den Osten Deutschlands so wichtige Forschungsland- der Forschungsförderung nach Art. 91 b des Grund- schaft beschädigt. Dies werden wir Christdemokraten gesetzes fordert. Sie will nämlich die Forschungsorga- auf keinen Fall mitmachen. Die Herausnahme der nisationen Helmholtz-Gemeinschaft, Max-Planck-Ge- Leibniz-Gemeinschaft ist bösartige Willkür. sellschaft, Fraunhofer-Gesellschaft und Deutsche Forschungsgemeinschaft in die alleinige Zuständigkeit (Beifall bei der CDU/CSU) des Bundes und die Institute der so genannten blauen Liste in die alleinige Zuständigkeit der Länder überfüh- Wäre nur noch der Bund für die meisten Forschungs- ren. So lautet das vergiftete Angebot der Bundesregie- organisationen zuständig, stiegen die Risiken des einsei- rung. Wenn aber nur der Bund oder nur die Länder für tigen Handelns der Bundesregierung. Damit haben die die Forschungsorganisation zuständig sind, gibt es auch Forschungsorganisationen in diesem Jahr schon keinen Gegenstand für eine gemeinsame Forschungsför- schlechte Erfahrungen gemacht. Die von dieser Bundes- derung von Bund und Ländern mehr. Das, was Ihre Bun- regierung und den 16 Bundesländern bereits zugesagten desregierung vorhat, bedeutet das Aus für die BLK in Budgetzuwächse hat die Bundesregierung einseitig ge- der Forschungsförderung. kündigt und fallen gelassen. Eine solche Willkür hat es vorher noch nie gegeben. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Die korrigierende und abfedernde Wirkung der Zu- (D) Das ist die Wahrheit, die Sie hier heute unter den Tep- sammenarbeit mit den Bundesländern hat immerhin pich kehren wollen. noch der DFG geholfen. Wäre nur der Bund zuständig, würde jede Haushaltsentscheidung des Bundes voll und (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sie wis- unbarmherzig auf alle Forschungseinrichtungen durch- sen, was dieser harmlose Antrag bedeutet! – schlagen. Angesichts der Verlässlichkeit dieser rot-grü- Ulrike Flach [FDP]: Er hat aber doch gesagt, nen Bundesregierung und ihrer Wortbrüche ist dies eher dass er es tut!) eine abschreckende Perspektive. Wir Christdemokraten halten Ihre Politik der Zer- (Nicolette Kressl [SPD]: Sagen Sie auch noch schlagung der gemeinsamen Forschungsförderung von etwas zur Bildungsplanung?) Bund und Ländern wissenschaftspolitisch für verfehlt, finanziell für die betroffenen Forschungsorganisationen Die Gemeinschaftsaufgabe Forschungsförderung in für gefährlich und von der Sache her für kurzsichtig. der Bund-Länder-Kommission hat auf jeden Fall zu ei- ner sachorientierten Beratung der Forschungsschwer- Noch nicht einmal die Betroffenen wurden gefragt, punkte geführt und auch eine gewisse Politikferne garan- Herr Staatssekretär. Die Betroffenen haben aber sehr tiert. Wenn diese Bundesregierung alleine für die wohl eine Meinung dazu. Für die Leibniz-Gemeinschaft außeruniversitäre Forschung zuständig ist, wird die Wis- hat sich die gemeinsame Forschungsförderung von Bund senschaft zum Spielball der Bundesregierung. Das wol- und Ländern bewährt und ist sinnvoll. Hans-Olaf Henkel len wir nicht. spricht von Ihren Plänen als unlogisch, die Entflechtung (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- führe zu einer Kleinstaaterei in der Forschung. NEN]: Sie wollen sie zum Spielball der Union Tatsächlich ist der Ansatz der Bundesregierung ver- machen!) fehlt. Eine Neustrukturierung der Forschungslandschaft Es ist nicht erkennbar, wo das Problem liegt, für das kann man diskutieren, aber sie darf nicht allein von fi- Sie durch die Entflechtung der Forschungsförderung die nanziellen und administrativen Überlegungen abhängig Lösung suchen. Im Gegenteil: Die Bundesregierung zer- gemacht werden. Sie muss vielmehr von inhaltlichen schlägt wissenschaftlich wertvolles Porzellan. Für uns Gesichtspunkten ausgehen. Das ist aber bei Ihnen nicht Christdemokraten hat die Forschungsfreiheit einen ho- der Fall. Die Forschungsinstitutionen dürfen nicht zu ei- hen Rang. nem Verschiebebahnhof für Finanzströme zwischen Bund und Ländern werden. (Lachen bei der SPD) 3590 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Thomas Rachel (A) Deshalb unterstützen wir das Leitbild einer von der Wis- rand hinauszuschauen, können wir uns eine bildungspo- (C) senschaft selbst verwalteten und inhaltlich selbst gesteu- litische Kleinstaaterei einfach nicht leisten. erten Forschungsförderung. Dazu hat die Gemein- schaftsaufgabe Forschungsförderung von Bund und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ländern mit der BLK den notwendigen und sachgemä- DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach ßen Rahmen geboten. Sie hat sich bewährt und sollte [FDP] – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Was deshalb erhalten bleiben. macht ihr denn in der Forschung?) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Wir brauchen den breiten Horizont und den Überblick, um die bildungspolitischen Herausforderungen der (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der nächsten Jahrzehnte für die gesamte Bundesrepublik zu SPD: Und tschüs!) meistern und den Bildungsstandort Deutschland im glo- balen Wettbewerb wieder an die Spitze zu führen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Allerdings führt auch die Forderung der Wirtschafts- Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Berg von der junioren nach einer vollständigen Abschaffung der Kul- SPD-Fraktion. turhoheit der Länder in die Irre. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Unsere Fraktion, meine Damen und Herren von der Ute Berg (SPD): CDU/CSU, steht ausdrücklich zu dem Modell des ko- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! operativen Föderalismus. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Rachel, ich war (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten etwas überrascht. Ich glaube, Sie haben unseren Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht gelesen. Es ging hier um Bildungsplanung und nicht um Forschungsförderung. Ich möchte hinzufügen: Ein wenig Wettbewerb unter den Ländern kann nicht schaden. Die langfristige Zu- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Bildungs- und sammenarbeit der Länder mit dem Bund ist dabei mög- Forschungsförderung der BLK, Frau Kolle- lich und von uns gewollt, denn viele Herausforderungen gin!) können nicht in Ad-hoc-Arbeitsgruppen, wie sie Wir sind gerne bereit, uns auch über die Forschungsför- Katherina Reiche einmal gefordert hat, bewältigt wer- derung noch einmal in aller Ausführlichkeit zu unterhal- den. ten. Sie werden dann vielleicht überrascht sein, welche (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) Position wir dabei einnehmen. (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abg. Ulrike Flach [FDP]) DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach Schauen wir uns die Herausforderungen an, denen [FDP] – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das sich Deutschland in Zukunft stellen muss. Die tief grei- hättet ihr wohl gerne!) fenden soziokulturellen und ökonomischen Umwälzun- Heute möchte ich aber auf den von uns gestellten An- gen unserer Gesellschaft, die Internationalisierung von trag und auf das Thema Bildungsplanung eingehen. Ich Wirtschaft und Arbeitsmärkten fordern von einem roh- komme jetzt also zum eigentlichen Thema. „Schaffen stoffarmen Land wie der Bundesrepublik vor allem ei- Sie die Kulturhoheit der Länder ab! Wir brauchen ein- nes: Investitionen in Köpfe, Bildung und Wissen. Das heitliche Strukturen innerhalb Deutschlands.“ Diese For- nutzt dem einzelnen Menschen, aber auch der Gesell- derung stellten die Wirtschaftsjunioren aus meinem schaft insgesamt. Nur so können wir international beste- Wahlkreis auf einer Neujahrsveranstaltung im Januar hen und unseren Wohlstand für uns und unsere Kinder dieses Jahres. So äußert sich auch Dominique Döttling, erhalten. Bundesvorsitzende der Wirtschaftsjunioren Deutsch- Die Ergebnisse der oft zitierten PISA-Studie haben land. gezeigt, dass die Bundesrepublik insgesamt noch deut- Wie wir gerade gehört haben, äußern sich die Kolle- lich nachlegen muss. ginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion ganz an- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ders. Diese wollen den Ansatz einer gemeinsamen Bil- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dungsplanung von Bund und Ländern vollständig aufgeben. Ganz abgesehen davon, dass Sie sich als Bun- Leider nutzen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen desbildungspolitiker damit quasi selbst die Kompetenz von der CDU/CSU-Fraktion, die PISA-Studie nur als ar- absprechen, bahnen Sie so einer Politik den Weg, die in gumentativen Steinbruch, um in selbstgefälliger Recht- die Sackgasse führt. haberei die Bildungspolitik der SPD-regierten Länder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und der Bundesregierung zu kritisieren. Wenn es aber DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach um Konsequenzen und Lösungen geht, dann kneifen Sie, [FDP]) Herr Rachel. Das wird unter anderem an Ihrer Verweige- rungs- und Verzögerungstaktik bei der Einführung von In einer Welt, die immer globaler wird und die jedem nationalen Bildungsstandards deutlich, die Niveau und jeder Einzelnen abverlangt, über den eigenen Teller- und Gleichwertigkeit im Bildungsbereich sichern helfen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3591

Ute Berg (A) Das ist eine verantwortungslose Politik auf Kosten von her zu Recht ihre Verabschiedung aus der gesamtstaatli- (C) Eltern und Kindern. chen Bildungsplanung „Kraftmeierei auf Kosten des Wissenschaftsstandorts Deutschland“. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Abg. Ulrike Flach [FDP]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In einer Zeit, in der an Arbeitnehmer und Arbeitneh- Abschließend kann ich daher nur sagen: Ich hoffe, merinnen und deren Familien immer größere Anforde- dass Sie meine Argumente und die eben vorgetragenen rungen an Mobilität gestellt werden – Christoph Argumente meiner Fraktion, der FDP und von den Grü- Matschie hat das eben schon unterstrichen –, ist es nur nen und die anderer renommierter Vertreter aus dem folgerichtig und unumgänglich, dass deren Kinder in Wissenschafts-, Wirtschafts- und Bildungsbereich über- ganz Deutschland vergleichbare Bedingungen im Bil- zeugt haben und Sie wie in der Frage der Ganztagsschu- dungswesen vorfinden. len letztlich doch noch einlenken. Das wäre ein kleiner Schritt für Sie, aber ein großer Schritt für unser Land. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Ich selber bin im Übrigen ein gebranntes Kind. Meinen Abg. Ulrike Flach [FDP]) eigenen Kindern wurde bei einigen Umzügen von einem in ein anderes Bundesland durchaus einiges zugemutet. Ich möchte Ihr Augenmerk aber noch speziell auf den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hochschulbereich lenken. Alle Anstrengungen, die in Ich schließe die Aussprache. der Vergangenheit gemeinsam von Bund und Ländern unternommen wurden, hatten das Ziel, die Hochschul- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf landschaft in der gesamten Bundesrepublik weiterzuent- Drucksache 15/935 an den Ausschuss für Bildung, For- wickeln und dafür zu sorgen, dass es in bestimmten Re- schung und Technikfolgenabschätzung vorgeschlagen. gionen nicht zu weißen Flecken kam. Das war besonders Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann für die neuen Länder wichtig, für die wir enorme Kraft- ist die Überweisung so beschlossen. anstrengungen unternommen haben. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Burgbacher, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, wei- (B) (D) Frau Reiche, ich wundere mich, warum Sie dazu terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP nichts gesagt haben. Gerade im Hochschulbereich ist Sperrzeiten für Außengastronomie verbrau- Europäisierung und Internationalisierung unübersehbar cherfreundlicher gestalten und unverzichtbar. Mit dem Bologna-Prozess werden zum Beispiel an den Hochschulen europaweit vergleich- – Drucksache 15/674 – bare Studiengänge und Abschlüsse geschaffen. Unsere Überweisungsvorschlag: Hochschulen werden im Wettbewerb mit den übrigen Ausschuss für Tourismus (f) europäischen Universitäten aber nur dann bestehen kön- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit nen, wenn aus einer gesamtstaatlichen Perspektive ihre Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Schwächen und Stärken beurteilt und sodann die Schwä- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit chen behoben und die Stärken ausgebaut werden. Wenn aber Absprachen und Vereinbarungen zwischen den Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Ländern Europas und darüber hinaus übereinstimmend Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die als richtig und wichtig bewertet werden: Warum dann, FDP fünf Minuten Redezeit erhalten soll. – Ich höre kei- bitte schön, nicht auch im nationalen Bereich? nen Widerspruch; dann ist so beschlossen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kollege Ernst Burgbacher von der FDP das Wort. Ich nenne jetzt einige Beispiele, die diese These un- termauern. Gemeinsame Bildungsplanung ist dort be- Ernst Burgbacher (FDP): sonders sinnvoll, wo es um die Finanzierung von hoch- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und schulpolitischen Vorhaben geht, die die Kräfte eines Herren! Zum Glück liegen jetzt einige sonnige Tage hin- einzelnen Bundeslandes überfordern, oder wo es um die ter uns; ich hoffe, viele solcher Tage liegen noch vor uns. Notwendigkeit geht, kostspielige Parallelprojekte in Da wird dieses Thema natürlich wieder aktueller. Es ist mehreren Bundesländern zu vermeiden, oder wenn es auch gut, wenn man den aktuellen Bezug zum Thema darum geht, die Herausforderung zu meistern, die Zahl wirklich selbst empfindet. Es zieht die Menschen ins der Hochschulabsolventen in der Bundesrepublik zu Freie – das wissen wir –, aber in vielen Ländern heißt es steigern, weil wir diese in Zukunft auf dem deutschen nach wie vor: Um 22 Uhr ist Schluss mit lustig. Das Arbeitsmarkt dringend benötigen. Der Präsident der kann nicht sein. Deshalb haben wir heute einen Antrag Hochschulrektorenkonferenz Klaus Landfried nennt da- zur Änderung dieser Regelung vorgelegt. 3592 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Ernst Burgbacher (A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE schutzrechtes vorlegen. Wir haben das auch auf anderen (C) GRÜNEN]: Sie wollen in die „Tagesthemen“ Gebieten getan – in der TA Sportstätten wurde etwas kommen!) Identisches geregelt – und wollen jetzt nur, dass parallel dazu für die Außengastronomie etwas Entsprechendes Wir halten immer noch daran fest, dass Freiluftgast- festgelegt wird. stätten in der Regel um 22 Uhr schließen müssen. Das Konsumentenverhalten hat sich aber in den vergangenen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jahren längst verändert, indem Besuche in Gaststätten in NEN]: Fußball vor dem Reichstag, das ist richtig!) die späteren Abendstunden verlegt wurden. Wir haben Damit erhielten wir Lärmschutzwerte, die an die Realität längere Ladenöffnungszeiten. Obwohl wir seit langem angepasst sind, denn menschliches Lachen ist eben et- die Sommerzeit haben, hat sich an diesen Regelungen je- was anderes als Sägen, Hämmern oder Bohren. In dieser doch nichts geändert. Das kann doch nicht sein. Hinsicht sollten Sie sich wirklich ein Stück weit öffnen. Die Erfahrungen aus südeuropäischen Ländern besa- (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen, dass die Menschen dies genießen. Wenn sie zu uns DIE GRÜNEN) kommen, ist es auf einmal wieder vorbei. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde es schon (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE toll: Sie lachen über Probleme, obwohl Sie ganz genau GRÜNEN]: Die schlafen auch mittags!) wissen, wie viele Betroffene nur darauf warten, dass die- Meine Damen und Herren, wir sind über Fraktions- ses Parlament dies endlich seriös behandelt und auch die grenzen hinweg dabei, den Tourismusstandort notwendigen Änderungen beschließt. Deutschland attraktiver zu machen. Dazu gehört es (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) eben auch, eine ausgeprägte Biergarten- und Außengas- tronomiekultur zu haben. Sie sollten auch einmal die Sorgen der Leute draußen ernst nehmen und nicht nur theoretisch darüber reden, (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst was wir für den Tourismusstandort tun sollten. Es sind Hinsken [CDU/CSU] – Silke Stokar von keine schönen Reden, sondern konkretes Handeln ge- Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fragt. Heute haben Sie hier dazu die Möglichkeit. Coffeeshops!) (Beifall bei der FDP) Ich sage Ihnen ganz ernsthaft: Die Lage in der Gastrono- mie – diejenigen, die sich damit beschäftigen, wissen es – Meine Damen und Herren, natürlich gibt es bei die- ist im Augenblick katastrophal. Die Gastronomen sind im sem Thema auch noch eine zweite Komponente, den Schutz betroffener Anwohner. Weil dieses Argument (B) Augenblick froh über jeden Strohhalm, den wir bieten. (D) Es ist durchaus ein Thema für die Gastronomie, ob die sicherlich gleich kommen wird, sage ich dazu noch et- Gäste bei diesem Wetter um 22 Uhr hineingehen müssen was. Dies ist eine Frage der Toleranz. Es gibt viele gute oder ob es noch ein, zwei Stunden gibt, in denen man Beispiele dafür, wie es mit gegenseitiger Toleranz, nicht Umsatz machen kann. aber mit scharfen gesetzlichen Vorschriften funktioniert. Gastronomen reden mit ihren Gästen; so etwas wird eher (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ akzeptiert, als wenn man von vornherein eine Regelung DIE GRÜNEN) darüber stülpt. Man muss vernünftig damit umgehen und herausfinden, was möglich und was nicht möglich ist. – Wenn Sie hier lächeln, dann verkennen Sie wirklich die Lage; sie ist ernst. Wir als Politiker haben alles dafür Uns geht es hier überhaupt nicht darum, mehr Büro- zu tun, dass sich diese Lage ändert und bessere Voraus- kratie zu schaffen. Im Gegenteil, wir wollen die bundes- setzungen geschaffen werden. politischen Voraussetzungen dafür schaffen, dass Länder und Gemeinden diese Frage so regeln können, wie sie es (Beifall bei der FDP) für richtig halten, aber eben auch im Sinne der Bedürf- Deshalb haben wir diesen Antrag vorgelegt. nisse der Gäste und vieler geplagter Gastronomen. Sie, meine Damen und Herren, können heute beweisen, ob (Ute Kumpf [SPD]: Zum x-ten Mal der gleiche Sie das ernst nehmen oder wieder mit oberflächlichen Antrag, Herr Kollege!) Argumenten darüber hinweggehen. Weil ich mir denken kann, welche Kritik nachher ge- Ich bitte Sie, dem Antrag zuzustimmen, auch wenn er äußert werden wird, will ich gleich einiges zum Vorge- von der Opposition kommt. Viele Menschen werden Ih- hen sagen. Es ist richtig, dass die Länder dies regeln. Al- nen dankbar sein. lerdings haben die Erfahrungen gezeigt, dass die Länder Danke schön. mit ihren Regelungen ganz schnell an Grenzen stoßen, weil dann immissionsschutzrechtliche Vorschriften ins (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Feld geführt werden und es Gerichtsverfahren gibt. Des- halb müssen wir als Bund die entsprechenden Vorausset- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zungen schaffen, bevor die Länder wirklich tätig werden Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär können. Nichts anderes bezwecken wir mit unserem Ditmar Staffelt. Antrag. Wir wollen – dazu fordern wir auf – einen unbü- rokratischen, verbraucherfreundlichen und praxistaugli- ( [CDU/CSU]: Ein Hoch chen Vorschlag zur Änderung des Bundesimmissions- auf die Berliner Biergärten!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3593

(A) Dr. Ditmar Staffelt, Parl. Staatssekretär beim Bun- Wir wiederholen deshalb, dass wir im FDP-Antrag (C) desminister für Wirtschaft und Arbeit: keinen vernünftigen und sachgerechten fairen Kompro- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und mis sehen, weil er die Anwohnerinteressen vernachläs- Herren! Die Gastronomie und natürlich auch die Außen- sigt. gastronomie sind ein Teil des modernen Lebens in unse- Die geltende Sperrzeitenregelung – ich will es noch rem Lande, insbesondere des urbanen Lebens. Straßen- einmal sagen – ist Länderrecht. cafés und Biergärten prägen und beleben das Erscheinungsbild der Innenstädte. Das alles bleibt völlig (Ernst Burgbacher [FDP]: Ja, richtig!) unbenommen. Gerade jetzt zu Beginn des Sommers Die Länderbestimmungen sehen eine Delegation an steht außer Frage, dass sich Biergärten außerordentlicher die Kommunen vor. Die Kommunen sind dadurch in der Beliebtheit erfreuen. Ich vermute, dass viele Menschen Lage, unter Berücksichtigung der jeweiligen lokalen auch das südliche Flair nachempfinden, das sie im Ur- Verhältnisse sachgerechte Lösungen zu treffen. Der laub nicht nur am Tage, sondern auch am Abend und in FDP-Antrag hingegen fordert den Bundesgesetzgeber zu der Nacht genießen. Das ist schön und harmonisch und einer bundeseinheitlichen Regelung wir lieben es alle. (Ernst Burgbacher [FDP]: Das stimmt nicht!) Aber es führt auch kein Weg daran vorbei, dass dies mit Geräuschen verbunden ist. Des einen Freud‘ ist am durch imissionsschutzrechtliche Änderungen auf. Ende des anderen Leid. Ich kann dies gut beurteilen, Geht es bei der Sperrzeitenregelung wirklich darum, weil in einer so dicht besiedelten Stadt wie meiner Hei- gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder matstadt Berlin viele Konflikte dieser Art leider auch vor die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im ge- ordentlichen Gerichten ausgetragen wurden. Der Schlaf samtstaatlichen Interesse zu schaffen? Das wäre eigent- suchende, entnervte Anwohner – so drücke ich es einmal lich die Voraussetzung dafür, wenn wir die Inanspruch- aus –, der nicht die gewünschte Ruhe findet, wenn drau- nahme der konkurrierenden Gesetzgebung durch den ßen bis in die Nachtstunden hinein vielstimmig ge- Bund geltend machen wollten. Ich habe da meine Zwei- schwätzt und gelacht wird, darf in der Gesamtbetrach- fel. Der Bereich der Sperrzeiten zeichnet sich gerade tung natürlich auch nicht außer Acht gelassen werden. durch eine besondere Abhängigkeit von regionalen Ge- gebenheiten aus. Die Bundesregierung hat also diese gegenläufigen In- teressen zu beachten: auf der einen Seite die Gastwirte (Beifall bei der SPD) und Besucher solcher Außengaststätten und auf der an- In Berlin wird sicherlich manches anders entschieden als deren Seite die benachbarten Anwohner. Für den Ge- in einem Flächenstaat. (B) setz- und Verordnungsgeber gilt es, stets einen möglichst (D) sachgerechten und fairen Interessenausgleich zu finden. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Gott sei Dank!) (Beifall bei der SPD) Ich glaube, dass der FDP-Antrag auch vor dem Hin- Diejenigen, die dafür zuständig sind, bemühen sich, eine tergrund der Verfassungslage jedenfalls mit Vorsicht zu faire Kompromisslinie zu ziehen. Ihr Antrag tut dies al- genießen ist. In den Ländern ist bereits seit einiger Zeit lerdings nicht. eine Liberalisierung der Sperrzeiten zu verzeichnen. In (Ernst Burgbacher [FDP]: Oh doch!) Hamburg und Brandenburg wurde die Sperrzeit für die Außengastronomie allgemein auf 23 Uhr festgelegt. Bereits vor einem knappen Jahr haben wir dieses Hier setzt auch der Bundeswirtschaftsminister an. Wir Thema im Lichte einer großartigen Biergartenfete gleich appellieren, wie übrigens schon Herr Müller in der Ver- gegenüber in der Deutschen Parlamentarischen Gesell- gangenheit, an die Landesregierungen und die Kommu- schaft miteinander debattiert. Ich sehe keine neuen Ar- nen: Machen Sie nach bestem Wissen und Gewissen und gumente, die eine erneute Befassung rechtfertigen könn- immer orientiert am Einzelfall Regelungen möglich, die ten. genau die Spielräume schaffen, damit sich die Menschen (Ernst Burgbacher [FDP]: Steter Tropfen höhlt im Sinne eines fairen Interessenausgleichs in ihrer Frei- den Stein!) zeit vernünftig im Biergarten bewegen können, aber im Zweifel auch die Gelegenheit haben, ruhig zu schlafen, Der FDP-Antrag spricht sich im Ergebnis wieder für wenn 22 Uhr oder 23 Uhr erreicht sind. Ich finde, das eine flächendeckende Festlegung der Sperrzeit für die muss man im Sinne der Subsidiarität, für die Sie auch Außengastronomie auf 24 Uhr aus. plädieren, bei Ländern und Kommunen belassen und (Ernst Burgbacher [FDP]: Nein! Lesen Sie den nicht den Bund in einer Weise mit einer Regelung belas- Antrag doch!) ten, die unangemessen ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das würde in der Praxis Folgendes bedeuten: Angenom- DIE GRÜNEN) men, die Gastronomie schließt um Mitternacht. Dann be- ginnt der Aufbruch der Gäste und es wird halb eins oder Wir reden von Entbürokratisierung und davon, dass eins. Das bedeutet am Ende, dass in ganz erheblichem wir in vernünftiger Weise die Aufgaben in unserem Umfang die Nachtruhe, die ein hohes gesundheitliches Lande auf Bund, Länder und Kommunen verteilen. Gut ist, in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Wenn die Öffnungszeiten von Biergärten zur Bundesan- 3594 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Parl. Staatssekretär Dr. Ditmar Staffelt (A) gelegenheit werden, dann weiß ich nicht, was wir uns Ich halte das für richtig und gut, weil wir schließlich (C) demnächst noch alles an die Lampe hängen und hier im immer wieder der Kreativität das Wort reden. Wenn Bundestag debattieren. schon jemand seine Einkommensbasis verbreitern möchte, dann sollte ihm diese Möglichkeit auch einge- (Ernst Burgbacher [FDP]: Das will doch kei- räumt werden. ner!) Wir leisten zurzeit eine gewisse Nacharbeit; denn die Vielleicht werden wir dann eines Tages ein gutes Kom- Regierungskoalition hat bereits in der 14. Legislaturperiode munalparlament sein, das sich mit diesen Fragen und versäumt, die notwendigen Regelungen zu verabschie- den entsprechenden Beschwerden der Bürgerinnen und den, die weitblickende Kollegen wie der Abgeordnete Bürger zu befassen hat. Burgbacher, den ich an dieser Stelle nochmals ausdrück- Ich hoffe auf großzügige und liberale Regelungen in lich erwähnen möchte, bereits auf den Weg bringen den Kommunen und Ländern. Wir aber sollten uns mit wollten. solchen Detailfragen hier nicht befassen. Interessant ist auch, wie derzeit die Werbung gestaltet Danke. wird. Ich habe vor wenigen Tagen einen Werbeprospekt in die Hände bekommen, in dem es so schön heißt: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ „Mensch, bleib‘ hier!“ DIE GRÜNEN) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: GRÜNEN]: Keine Schleichwerbung!) Das Wort hat jetzt der Kollege Ernst Hinsken von der Was ist in dieser Werbung zu sehen? Es sind Menschen CDU/CSU-Fraktion. abgebildet, die so finster dreinschauen wie Sie (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt NEN]: Wo ist denn die Laterne?) [Salzgitter] [SPD]: Ausgerechnet Sie sagen das! Die Fröhlichsten sitzen auf dieser Seite!) Ernst Hinsken (CDU/CSU): und die dicht gedrängt in einem Flugzeug sitzen. Dem- –Im Museum. gegenüber wird mit schönen Gartenmöbeln geworben. Ich glaube, das ist der richtige Ansatz, der auch vernünf- Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kol- tig ist. Mit dem Werbeslogan „Mensch, bleib‘ hier!“ legen! Zwei Reden haben zu diesem heutigen Thema be- wird sicherlich vielen Mitbürgern aus der Seele gespro- (B) reits stattgefunden, eine pragmatische Rede des Kolle- chen. (D) gen Burgbacher, der sehr wohl sieht, welche Bedürfnisse die Mitbürger haben, und vor allen Dingen eine abweh- Einer Umfrage zufolge hat ein Drittel der Bundesbür- rende Rede von Herrn Dr. Staffelt, um zu verhindern, ger vor, auf den Urlaub im Ausland zu verzichten. Die dass sich etwas tut und sich die Situation der Außengas- Gründe dafür sind vielfältig: Sie haben Angst vor Terror- tronomie, insbesondere des Hotel- und Gaststättenge- anschlägen. Auch die Lungenkrankheit SARS wirkt ab- werbes, verbessert. schreckend. Hinzu kommt die angespannte Wirtschafts- lage, die dafür verantwortlich zeichnet, dass sich (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ mancher einen Urlaub in fernen Ländern nicht mehr er- DIE GRÜNEN]: Was ist mit den Bedürfnissen lauben kann. Auch die 4,5 Millionen Arbeitslosen, die der Menschen, die schlafen wollen?) zu verzeichnen sind, sind kein Pappenstiel. Wer arbeits- Sommerzeit ist Biergartenzeit. Ich gehe davon aus, los ist, hat andere Sorgen, als sich Gedanken über den dass viele – unabhängig davon, auf welcher Seite sie sit- Urlaub zu machen. Der daraus resultierende „Urlaub auf zen – gern einen Biergarten besuchen, um sich einen Balkonien“ bringt weitere Folgeerscheinungen mit sich. schönen Abend zu machen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Auf Balkonien?) NEN]: Wir würden gerne gehen, wenn wir – Ja, Herr Ströbele. Wir sind eben eine Fraktion, die Zeit hätten!) auch etwas für den kleinen Mann übrig hat und bemüht Die Zeit der langen Tage und kurzen Nächte ist angebro- ist, vernünftige Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, chen. Vielerorts lebt die Biergartenkultur auf, und zwar dass er ein schönes Leben führen kann, auch wenn er oft in einer sehr gepflegten Atmosphäre. Ich meine, bei aufgrund der verfehlten Wirtschaftspolitik der jetzigen dieser Gelegenheit darauf verweisen zu müssen, dass Bundesregierung nicht das notwendige Geld in der Ta- sich gut ein Drittel – das sind 80 000 bis 90 000 – der sche hat, um im Urlaub ins Ausland zu fliegen. 240 000 bis 250 000 gastronomischen Betriebe in der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bundesrepublik Deutschland auch der Außengastrono- Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mie verschrieben haben, sei es in Form eines Biergar- NEN]: Schöner Rundumschlag!) tens, sei es in Form eines Straßencafés oder eines Hotel- oder Restaurantgartens. Manche stellen im Sommer In dieser Situation bekommt beispielsweise das abendli- Stühle und Tische auf die Straße, um dadurch ihr Ein- che Treffen mit Freunden in Biergärten oder Straßen- kommen zu verbessern. cafés einen noch höheren Stellenwert. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3595

Ernst Hinsken (A) Wir müssen deshalb – dieser Aufgabe sollten wir alle Wir haben jetzt die Möglichkeit, zwei Fliegen mit ei- (C) nachkommen – den Bürgern in ihrem Wohnumfeld so ner Klappe zu schlagen, nämlich auf der einen Seite den viel Urlaubsstimmung wie möglich bieten. Dazu gehört Besuchern außengastronomischer Einrichtungen Freude meiner Meinung nach auch ein Biergarten oder ein Stra- zu bereiten und auf der anderen Seite den Gastwirten ßencafé, das nicht um 22 Uhr fluchtartig geräumt wer- mehr Umsatz zu bescheren. Deshalb meinen wir, dass den muss, sondern in dem man die Möglichkeit hat, den dem behördlichen Zapfenstreich ein Ende gesetzt wer- Abend nett ausklingen zu lassen. Denn – das hat der den muss. Im derzeit gültigen Bundes-Immissions- Kollege Burgbacher bereits ausgeführt – die Lebensge- schutzgesetz werden leider Kommunikationsgeräusche wohnheiten der Bürger haben sich gewandelt. und Arbeitslärm auf eine Stufe gestellt. Ich wiederhole die Frage des Kollegen Burgbacher: Ist es denn richtig, (Ernst Burgbacher [FDP]: So ist es!) wenn Reden und Lachen mit Bohren, Hämmern und Sä- Sei es wegen der Arbeitszeit, sei es wegen der Ladenöff- gen gleichgesetzt werden? Wir meinen, dass das geän- nungszeiten, die Menschen starten im Allgemeinen im- dert werden muss. Es kann doch nicht sein, dass bei mer später in die Abendfreizeit. Dieser Trend ist nicht Rechtsstreitigkeiten über Kommunikationsgeräusche die nur bei Jugendlichen festzustellen, sondern geht quer- TA Lärm herangezogen wird, die zwar bei der Bewer- beet durch alle Altersschichten. Wer kann daher Ver- tung von Industrielärm ihren Zweck erfüllt, die aber für ständnis dafür aufbringen, wenn die Biergärten bereits die Bewertung von Kommunikationsgeräuschen gänz- um 20 Uhr geschlossen werden sollen? Hier wird doch lich ungeeignet ist. Hier sind neue Richtwerte, aber auch der gesellschaftspolitische Aspekt völlig außer Acht ge- neue Messmethoden notwendig, um eine Regelung her- lassen. Biergärten sind für mich Kommunikationsoasen. beizuführen, die sowohl dem Lärmschutz der Anwohner als auch dem Erholungsbedürfnis der übrigen Bevölke- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung Rechnung trägt. Bei gutem Willen ist das durchaus NEN]: Jetzt übertreiben Sie aber ein biss- möglich. Hier sind die verschiedenen Bereiche gefor- chen!) dert. Sie müssen gefördert werden, weil die Kommunikation insgesamt gefördert werden muss. Wenn es im Ausland Natürlich nehme ich es jemandem ab, der in unmittel- – darauf beziehen Sie sich ja oft – flexible Regelungen barer Nähe einer außengastronomischen Einrichtung gibt, dann frage ich: Warum sind wir in der Bundesrepu- wohnt, wenn er behauptet, dass ihm Negatives wider- blik Deutschland dazu nicht in der Lage? fährt. Aber wir können doch nicht wegdiskutieren, dass es sich in Deutschland nicht an jedem Tag lohnt, einen Herr Staatssekretär Dr. Staffelt, Sie haben doch hi- Biergarten zu öffnen, weil es nicht genügend Sonnen- nausposaunt, dass Sie sich für eine Entbürokratisierung (B) schein gibt. Wie viele Tage gibt es denn bei uns, die sich (D) einsetzen würden. Beginnen Sie doch damit! Reden Sie allein aufgrund des Wetters für einen Biergartenbesuch nicht nur darüber, sondern setzen Sie endlich politische anbieten? Man kann maximal von 30 bis 40 Abenden Akzente! Schaffen Sie Gesetze, die den heutigen He- ausgehen, die für einen solchen Besuch infrage kommen. rausforderungen gerecht werden! Deshalb meine ich, dass es unser aller Aufgabe ist, nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nur, wie ich bereits vorhin erwähnt habe, über Entbüro- kratisierung zu reden, sondern ihr auch Leben einzuhau- Eines steht doch unbestritten fest: Durch längere Öff- chen. Die derzeit gültige Regelung entspricht in keiner nungszeiten kann auch der Inlandstourismus gefördert Weise den heute üblichen Lebensgewohnheiten. Sie ist werden. Das ist dringend erforderlich; denn die Über- ein Hemmschuh für das Gaststättengewerbe und kontra- nachtungszahlen – im vergangenen Jahr war ein Minus produktiv für den gesamten Inlandstourismus. Kurz ge- von 3 Prozent zu verzeichnen – sind rückläufig. Die Um- sagt: Sie muss dringend geändert werden. sätze im Gastgewerbe brechen weg. Verehrte Frau Kol- legin Irber, das Jahr 2002 war seit mehreren Jahrzehnten Deshalb sage ich den Kolleginnen und Kollegen von das schlechteste Jahr für das Gastgewerbe. der FDP-Fraktion, dass wir ihren Antrag gerne unterstüt- zen, wohl wissend, was wir tun. Auch wir fordern eine (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das kommt Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes dahin durch die Öffnungszeiten, oder was?) gehend, dass eine Verlängerung der Öffnungszeiten auf Die Umsätze sind allein im letzten Jahr um 4,7 Prozent 23 Uhr – ideal wäre 24 Uhr – erlaubt ist. gesunken. In den ersten drei Monaten dieses Jahres – verehrter Herr Kollege Schmidt, Sie sind ja einer der Geben Sie sich einen Ruck! Sie haben noch einige führenden Leute der sozialdemokratischen Fraktion – Wochen die Möglichkeit, unsere Ratschläge zu befolgen. Schaffen Sie die Voraussetzungen dafür, dass in Bezug (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das auf ein so kleines Gebiet endlich ein Zeichen gesetzt stimmt!) wird, damit die Bürger sehen: Man ist handlungsfähig, streitet sich nicht wegen der Verlängerung der Öffnungs- gab es ein weiteres Minus von sage und schreibe zeiten um eine Stunde und schlägt sich nicht gegenseitig 9,4 Prozent. Die gastronomischen Betriebe – das bekom- die Köpfe ein! men Sie zu hören, wenn Sie mit dem einen oder anderen Unternehmer sprechen – stehen momentan mit dem Rü- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. cken zur Wand. Sie wissen nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 3596 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: falsch aufgeschrieben, Frau Kollegin Irber! (C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Brunhilde Irber von Völlig falsch! Gehört sofort entlassen!) der SPD-Fraktion. Herr Burgbacher, in Ihrem jetzigen Antrag zielen Sie ausschließlich auf die Definition der Nachtzeit im im- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Endlich missionsschutzrechtlichen Sinne ab. Diese Zeit soll ge- einmal eine mit Sachverstand!) mäß Ihrem Antrag in den Sommermonaten erst um 23 Uhr oder idealerweise gar erst um 24 Uhr beginnen. Brunhilde Irber (SPD): Ich stimme Ihnen, wie bereits vor zwei Jahren, zu: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu- Bei einem großen Teil insbesondere der jüngeren Leute nächst einmal möchte ich die traurige Pflicht erfüllen, zu haben sich die Lebensgewohnheiten zum Teil verän- Beginn meiner Rede den Angehörigen der deutschen dert. Viele werden in den Sommermonaten regelrecht zu Touristen, die heute in Ungarn bei einem schweren Ver- Nachteulen. Das ist zwar schön, darf aber nicht zulasten kehrsunglück zu Tode gekommen sind, mein herzlichs- der Mitmenschen gehen. Wir haben Ihnen schon vor tes Beileid auszusprechen. Denjenigen, die verletzt sind, zwei Jahren erwidert, dass wir in unserem – bereits am möchte ich beste Genesung wünschen. 13. Februar 2001 als Antrag eingebrachten – Tourismus- (Beifall) förderprogramm die Deregulierung des Gaststättenrechts anregen. Im Grunde genommen ist es müßig, dass wir diese Der damalige Wirtschaftsminister Müller hat darauf Debatte führen. Man könnte sagen: Alles neu macht der sehr schnell reagiert und in einem Schreiben seine Kolle- Mai. Diese alte Weisheit trifft auf den Antrag der FDP gen in den Ländern aufgefordert, die Möglichkeiten der – zu diesem Ergebnis kommt man auch nach genauerem weiter gehenden Sperrzeiten zu nutzen. Alle Bundeslän- Studium der Vorlage – nicht zu; denn wie der Beginn der der bis auf Bayern haben meines Wissens die Kommu- Sommerzeit oder der Biergartenzeit bringt die FDP alle nen betraut, in den kommunalen Satzungen entspre- Jahre wieder einen Antrag mit diesem Inhalt ein. Sperr- chende Regelungen festzulegen. Vor Ort weiß man am zeiten in der Außengastronomie haben uns in der ver- besten, was für die einzelnen Bezirke gut ist. Aus diesem gangenen Legislaturperiode schon mehrfach beschäftigt. Grunde sollte vor Ort entschieden werden, wo eine Ver- Ich hätte es mir heute ganz einfach machen können: Ich kürzung der Sperrzeiten für Außengastronomien sinn- hätte hier meine Rede vom 29. Juni 2001 vortragen kön- voll ist und wo nicht. nen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Meine war an- (B) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ernst (D) ders, Frau Kollegin Irber!) Burgbacher [FDP]: Richtig!) – Herr Kollege Hinsken, Sie haben den Beginn meiner Ihr Antrag geht aber nicht in diese Richtung; schließlich damaligen Rede übernommen. Das können Sie im Proto- wollen Sie eine bundeseinheitliche Immissionsschutzre- koll nachlesen. gelung. Herr Kollege, auch deshalb geht dieser Antrag (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der ins Leere. SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Die in Ihrem Antrag als Beispiel angeführten „Touris- NEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Warum musstädte“ können von der vorhandenen Regelung Ge- haben Sie dann nichts gemacht, wenn es wirk- brauch machen. lich so wäre? Also, so etwas Primitives!) (Ernst Burgbacher [FDP]: Nein, sie können es – Herr Kollege Hinsken, ich werde im Folgenden darauf nicht!) noch zu sprechen kommen. Zuerst möchte ich mich aber mit den Ausführungen des Herrn Kollegen Burgbacher Die Kommunen wissen am besten, wie sie es regeln sol- beschäftigen. len. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie Kastner) fordern in Ihrer Kleinen Anfrage vom 8. April dieses Jahres den Abbau von Bürokratie in der Tourismusbran- Herr Kollege Burgbacher – Sie haben offensichtlich che. In dem uns jetzt vorliegenden Antrag fordern Sie schon etwas dazugelernt –, Sie fordern die Bundesregie- die Bundesregierung auf, wieder ein neues Regelwerk zu rung jetzt nicht mehr auf, § 18 des Gaststättengesetzes schaffen. zu ändern; denn wie wir alle wissen, beginnt die allge- (Ernst Burgbacher [FDP]: Nein!) meine Sperrzeit bereits jetzt – je nach Bundesland unter- schiedlich – zwischen 1 Uhr und 5 Uhr. Herr Kollege Wie passt denn das zusammen? Hinsken, Bayern ist das einzige Land, das auf diesem Gebiet noch nicht mitgezogen hat. Das sollten Sie ein- (Zuruf von der SPD: Das fragen wir uns auch!) mal Ihrem Ministerpräsidenten stecken. Das ist widersprüchlich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich möchte zitieren, was Sie fordern. Nach Ihrem BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ernst Antrag soll der Deutsche Bundestag die Bundesregie- Hinsken [CDU/CSU]: Das hat man Ihnen rung auffordern, „einen unbürokratischen, verbraucher- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3597

Brunhilde Irber (A) freundlichen und praxistauglichen Vorschlag zur Ände- Brunhilde Irber (SPD): (C) rung des Bundesimmissionschutzrechts vorzulegen“. Danke, Frau Präsidentin. Soll das etwa eine TA Menschlicher Kommunikations- lärm sein? Ist es das, was Sie wollen? Soll das nur für die Ich glaube nicht, dass Ihr Antrag die richtige Lösung Außengastronomie gelten, wie in Ihrem Antrag ausge- für das Problem ist. Lassen wir die Kirche im Dorf führt? (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: In (Ernst Burgbacher [FDP]: Wir haben es doch Niederbayern!) bei den Sportstätten auch! Das ist doch ein- fach!) und überlassen wir die Regelung der Außengastronomie den Ländern und den Kommunen! Die wissen am bes- – Wie soll es bei anderen Betrieben gehen? Andere Be- ten, wie sie es regeln sollen. triebe werden dann auch eine andere Regelung verlan- gen. Danke schön. (Ernst Burgbacher [FDP]: Nur Bedenken- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ träger!) DIE GRÜNEN – Ernst Burgbacher [FDP]: Der Wenn wir als Gesetzgeber Ihrem Antrag folgen und eine Schluss war wieder richtig!) neue gesetzliche Regelung beschließen würden, würde das allen Bundesländern übergestülpt werden. Ich glaube Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht, dass das Ihr Ernst sein kann. Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf Undine Kurth, Bündnis 90/Die Grünen. von der CDU/CSU: Sie haben sich vorgenom- men, den Menschen keine Freude zu machen! Das ist das gesamte Problem!) Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir alle setzen uns dafür ein, dass die nächtliche Ru- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Gäste! hestörung durch laute Produktionsbetriebe, durch Stra- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn wir sicher- ßenverkehrslärm oder Fluglärm weitestgehend mini- lich wieder nicht einer Meinung sein werden, möchte ich miert wird. Kollege Friedrich setzt sich auch immer für zuvörderst dem verbliebenen Rest hier im Raum doch den Lärmschutz ein. dazu gratulieren, dass er so tapfer und diszipliniert aus- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das steht hält, anstatt bei diesem Wetter innerhalb der möglichen (B) alles im BImSchG! Da ist alles geregelt!) Öffnungszeiten in einem Biergarten zu sitzen. Also, ein (D) Kompliment an uns selbst. Demzufolge nehmen wir die Wir alle wollen die gesundheitliche Beeinträchtigung Debatte durchaus ernst. durch gestörte Nachtruhe verringern. Die Rechtspre- chung ist meines Erachtens fast immer aufseiten der Klä- (Zuruf von der CDU/CSU: Reden Sie ein biss- ger, wenn es sich um nächtliche Ruhestörung handelt. chen schneller, dann können wir schneller hin!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Hinsken hat eben eine Zeitung sozusagen im Frau Kollegin, schauen Sie bitte einmal auf die Uhr! Bild zitiert. Ich zitiere jetzt eine Zeitung im Wort. Die „Frankfurter Allgemeine am Sonntag“ überschrieb einen Brunhilde Irber (SPD): kleinen Beitrag über die Debatte, die wir heute über Ih- Ja, das mache ich gern. ren Antrag führen, etwas flapsig mit „Liberale wollen länger saufen“, (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Man hat ihr zu viel aufgeschrieben! – Weiterer Zuruf von der (Ernst Burgbacher [FDP]: Habe ich gelesen!) CDU/CSU: Wenn sie das Falsche weggelassen hätte, wäre sie mit der Zeit ausgekommen!) was zunächst einmal nicht ehrenrührig ist. Man kann es aber auch netter und freundlicher ausdrücken, etwa So genannte menschliche Kommunikationsgeräusche wenn man die Klassiker bemüht: „Euch ist bekannt, was können auch Lärm sein. Aus diesem Grunde meine ich, wir bedürfen; wir wollen stark Getränke schlürfen“ – dass wir hier Interessen gegeneinander abwägen müssen, und das, wenn es geht, bei Tag und Nacht. Auch das ist die Interessen derer, die ihre Freizeit genießen wollen, nicht abzulehnen. und derer, die morgens früh aus den Federn müssen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das kur- belt auch die Wirtschaft an!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, es reicht nicht ganz aus, auf die Uhr zu Dieses Thema ist aber durchaus ernst zu nehmen. Wir schauen. Man muss dann auch entsprechend reagieren. befassen uns auch ernsthaft damit. Es ist aber eben nicht neu. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So wird das bei (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Auch das ist uns immer gemacht!) wahr!) 3598 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Undine Kurth (Quedlinburg) (A) Dieses Hohe Haus befasst sich weiß Gott nicht zum ers- – Wenn wir sie nicht haben, liegt das nicht am Bundes- (C) ten Mal mit diesem Thema. Wir tun es auf Antrag der Li- tag. – Wir wollen also optimale Lösungen für alle Betei- beralen mit schöner Regelmäßigkeit. ligten. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- NEN]: Ritualhaft immer wieder! – Zuruf: Ein- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) mal zustimmen, dann ist die Sache erledigt!) – Da könnten, wie ich finde, eigentlich alle applaudie- – „Einmal zustimmen“ hieße ja, dass man den Antrag ren. zustimmungswürdig findet. Ich werde Ihnen gleich sa- gen, warum wir ihn nicht für richtig halten. – Angesichts Regelungen nach dem Motto „Für ein paar warme dieses Antrags könnte man die Klassiker noch einmal zi- Tage im Jahr wird es schon irgendwie gehen“ greifen tieren: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten.“ nicht bzw. greifen zu kurz. Eine der erfreulichen Seiten der Klimaveränderung, die ja ansonsten weiß Gott uner- Wenn man sich den Antrag anschaut, merkt man, dass freulich ist, ist ja, dass es mehr als 30 bis 40 Abende im er nicht besonders viel Arbeit gemacht hat. 2001 forder- Jahr gibt, an denen man auch in unseren Breiten gut ten Sie kundenfreundlicher gestaltete Öffnungszeiten. draußen sitzen kann. Zu sagen, das seien so wenige Heute sollen sie verbraucherfreundlich gestaltet werden. Tage, die spielten nicht wirklich eine Rolle, griffe zu Es wäre schon ein Riesenfortschritt gewesen, wenn sie kurz. auch verbraucherinnenfreundlicher gestaltet werden sollten. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Im Winter ist es nicht sehr angenehm im Biergarten!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE – Richtig. Davon redet auch gar keiner. Der Winter be- GRÜNEN]: Im nächsten Jahr! – Ernst weist aber, dass man nicht alle Gaststätten schließen Burgbacher [FDP]: Wenn Sie dann zustim- muss, sondern Bier eventuell sogar in geschlossenen men, wird es übernommen!) Räumen trinken kann. – Dann würden Sie es übernehmen, gut. Fortschritt! Die Zunahme der Beschwerden über ruhestörenden Uns Grünen wird man sicherlich nicht absprechen Lärm müssen uns doch alarmieren. Rücksichtslosigkeit können, dass wir den lebensfreudigen Dingen dieser gibt es auch im ansonsten so freundlichen Biergarten. Welt zugeneigt sind. Auch wir wissen, dass sich Lebens- Deswegen setzen wir auf bewährtes Konfliktmanage- gewohnheiten verändert haben. Das wissen wir von uns ment. Wir begrüßen es ausdrücklich, wenn sich Anwoh- ner, Biergarten- und Gaststättenbesitzer in Konfliktfällen (B) selbst, von unseren Freunden und von unseren Familien. (D) Wir bestreiten überhaupt nicht, dass es gerade für touris- untereinander absprechen bzw. selbst einigen. Dass man tisch stark nachgefragte Orte sehr attraktiv ist, wenn man sich in der Mehrzahl der Fälle einvernehmlich einigen abends lange, länger als bis 22 Uhr und länger als bis kann, zeigt, dass gerade im Sinne einer von Ihnen immer zum Eintritt der Dunkelheit, draußen sitzen kann. Es ist wieder geforderten Deregulierung nicht zwingend neue natürlich auch ein lohnendes Geschäft für die Glückli- Verordnungen notwendig sind, um da zu einer Lösung chen, die eine solche Lokalität besitzen, wenn sie denn zu kommen. auch noch gut besucht ist. (Beifall der Abg. Brunhilde Irber [SPD]) Ich lehne auch keinen Antrag aus Prinzip ab, nur weil In den so genannten Clearingstellen, in denen sich Stö- er von der Opposition kommt. Das fände ich unsinnig. rer, Gestörte und Vertreter der zuständigen Behörden an Was aber Ihrem Antrag fehlt und an ihm zu Recht sehr einen Tisch setzen, werden ja schließlich 80 bis nachdenklich stimmt, ist das völlige Ausblenden der Ru- 90 Prozent aller strittigen Fälle gelöst. Uns scheint, dass hebedürfnisse der Anwohner. Die Einseitigkeit Ihres das durchaus kein gescheiterter, sondern ein gescheiter Antrags haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Weg ist. auch 2003 noch nicht überwunden. Es gibt zwar viele Menschen, die länger arbeiten und nach ihrer Arbeit Auch wenn Ihr Vorschlag von Emissionsgrenzwer- Ausgleich und Erholung suchen, aber es laufen nicht alle ten für Kommunikationslärm – das ist schon ein sehr schnurstracks in den nächsten Biergarten. Es gibt auch schönes und schillerndes Wort – einen gewissen Charme die Bewegung in die andere Richtung. Viele Menschen besitzt, bleibt doch die Frage, ob man diesen wirklich sehnen sich nach mehr Ruhe. definieren kann. Gerade in Biergärten können die Lärm- emissionen doch sehr unterschiedlich sein. Der normale (Ernst Burgbacher [FDP]: Wir wollen ja keine Abend unterscheidet sich vermutlich deutlich von dem, ganze Freigabe!) an dem der sangesfreudige Kegelklub da ist oder ein Für uns bleibt es daher unabdingbar: Das Spaßbedürf- Weltcup zu feiern ist. Man kann diese Werte vermutlich nis der Bevölkerung einerseits und das Ruhebedürfnis wirklich nicht verbindlich festlegen. der Anwohner andererseits müssen gleichrangig betrach- tet und vernünftig gegeneinander abgewogen werden. Uns scheint die Regelung, in Fällen der Nichteini- Was wir brauchen und wollen, sind verbraucherfreund- gung den Rechtsfrieden durch eine Würdigung der je- lich und anwohnerfreundlich gestaltete Sperrzeiten. weiligen örtlichen Gegebenheiten zu erzielen, die gangbarste und auch die fairste Methode zu sein. Die (Zuruf von der FDP: Haben wir nicht!) derzeitige Handhabung der Sperrzeitenregelung ist – das Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3599

(A) wissen Sie doch auch, liebe Kolleginnen und Kollegen – Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- (C) gar nicht so kunden- und verbraucherunfreundlich. desminister des Innern: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 27. Januar 2003 haben Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutsch- Frau Kollegin, darf ich Sie ebenfalls an die Zeit erin- land, Paul Spiegel, gemeinsam mit der Vizepräsidentin nern? und dem Vizepräsidenten einen Vertrag über die beider- seitigen Beziehungen unterzeichnet. Der Vertrag wurde Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE am 58. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und GRÜNEN): Vernichtungslagers Auschwitz im Bewusstsein der be- Ich höre natürlich auf Sie. sonderen historischen Verantwortung zur Förderung des Wiederaufbaus jüdischen Lebens in Deutschland und zur (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Schade, hört sich Verfestigung der freundschaftlichen Beziehungen zur jü- gut an!) dischen Gemeinschaft geschlossen. Die heutige erste Lesung im Deutschen Bundestag Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: findet wiederum an einem sehr denkwürdigen Tag statt. Das ist nett von Ihnen. Wir begehen heute, am 8. Mai 2003, den 58. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges und damit der Be- freiung von der Nazidiktatur. Der Krieg hinterließ eine Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE Welt der Verwüstung; Millionen Menschen verloren ihr GRÜNEN): Leben. Das schlimmste der Verbrechen dieser Zeit war Ich sage Ihnen noch einmal, Herr Hinsken: Gerade in der organisierte Massenmord an Millionen Juden. Ihre Bayern gibt es doch relativ strenge Regelungen und Europa bereichernde Kultur wurde zerstört. trotzdem ist Bayern der Inbegriff der Biergartenkultur. Demzufolge glaube ich, dass wir auf neue Regelungen Als die ersten Juden 1945 nach Deutschland zurück- verzichten und vor Ort entscheiden lassen sollten, wo kehrten, hätten sie es nicht zu hoffen gewagt, dass es in man die Situation kennt. Ich hoffe, dass wir uns darauf Deutschland jemals wieder ein aktives jüdisches Ge- einigen können. meindeleben geben würde. Im Jahr 1950, zurzeit der Gründung des Zentralrats der Juden, lebten nicht mehr Danke schön. als 25 000 Juden in Deutschland. Bis 1989 betrug ihre Zahl nicht mehr als 30 000. Heute haben die 83 jüdi- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen Gemeinden wieder rund 100 000 Mitglieder. Die- (D) und bei der SPD) ser Anstieg auf das Dreifache durch den Zuzug aus den Staaten der früheren Sowjetunion hat dazu geführt, dass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Deutschland nach Frankreich und Großbritannien die drittgrößte Gemeinschaft von Juden in Europa und Ich schließe die Aussprache. – man beachte – die weltweit am schnellsten wachsende Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Gemeinschaft hat. Drucksache 15/674 an die in der Tagesordnung aufge- Die Bundesregierung begrüßt diese Entwicklung. Sie führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- hat großen Respekt davor, dass sich Juden nach den Ver- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung brechen des Nationalsozialismus erneut in Deutschland so beschlossen. angesiedelt und eine jüdische Gemeinschaft aufgebaut Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: haben. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ver- GRÜNEN und der FDP) trag vom 27. Januar 2003 zwischen der Bun- Dies hat auch dazu beigetragen, das internationale Ver- desrepublik Deutschland und dem Zentralrat trauen in die Bundesrepublik Deutschland nach dem der Juden in Deutschland – Körperschaft des Zweiten Weltkrieg zu stärken. öffentlichen Rechts – Dieses Hohe Haus hat in Würdigung dieser Tatsachen – Drucksache 15/879 – und angesichts eines neuen beunruhigenden Antisemitis- Überweisungsvorschlag: mus im letzten Jahr eine Entschließung unter der Über- Innenausschuss (f) schrift „Antisemitismus ächten – Zusammenhalt in Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Deutschland stärken“ gefasst. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Im November letzten Jahres trat der Zentralrat der Ju- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre den in Deutschland an die Bundesregierung mit dem keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wunsch nach einem Vertrag auf Bundesebene heran, wie ihn die jüdischen Landesverbände in den meisten Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- Ländern längst haben. Er verwies insbesondere auf die mentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper. angewachsenen Aufgaben angesichts der zugewanderten 3600 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) Juden. Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich bleiben andere Leistungen an die jüdische Gemein- (C) in seinem langjährigen Bestehen große Verdienste um schaft, so zum Beispiel die staatliche Unterstützung auf- die demokratische Kultur in der Bundesrepublik grund einer Vereinbarung zwischen dem Bund und den Deutschland erworben. Ländern aus dem Jahre 1957 über die Pflege verwaister jüdischer Friedhöfe. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Das Gesetz zum Vertrag dient dazu, die vertraglichen CDU/CSU und der FDP) Vereinbarungen zügig umzusetzen und insbesondere die Voraussetzungen für die Gewährung der dort festge- Er hat den Aufbau der Demokratie in Deutschland nach schriebenen Staatsleistungen zu schaffen. dem Zweiten Weltkrieg aktiv mitgestaltet und mit kon- struktiver Kritik begleitet. Die Bundesregierung schätzt, Ich bitte um Zustimmung. wie es auch in der genannten Entschließung des Bundes- tages zum Ausdruck kommt, den jüdischen Beitrag zum Herzlichen Dank. kulturellen, geistigen und politischen Leben in Deutsch- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ land. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Mit den Zuwanderern des letzten Jahrzehnts hat die CDU/CSU und der FDP) jüdische Gemeinschaft die Möglichkeit, sich zu verjün- gen und die Gemeinden neu aufzubauen. Sie muss diese Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Chance in diesen Jahren aber auch aktiv nutzen. Der Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Bosbach, Zentralrat der Juden hilft als Dachorganisation der meis- CDU/CSU-Fraktion. ten jüdischen Gemeinden in Deutschland der wachsen- den Zahl jüdischer Einwanderer, sich hier einzugewöh- nen und sich zu orientieren. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der Verdreifachung der Zahl der Mitglie- Die Epoche der Juden in Deutschland ist zum Glück der, die der Zentralrat zu betreuen hat, ist ohne weiteres doch nicht, wie Leo Baeck 1945 konstatiert hatte, „ein nachvollziehbar, dass seine Aufgaben stark angewach- für allemal vorbei“. Inzwischen haben die jüdischen sen sind. Vor diesem Hintergrund hat die Bundesregie- Gemeinden in Deutschland wieder etwa 100 000 Mit- rung die in Jahrzehnten gewachsenen guten Beziehun- glieder, nicht zuletzt – wie gerade erwähnt – durch die gen zum Zentralrat der Juden in Deutschland erstmalig Zuwanderung von Juden aus Russland nach Deutschland auf eine vertragliche Grundlage gestellt. Mit dem Ver- im Zeitraum nach der Wiedervereinigung. trag soll ein substanzieller Beitrag dazu geleistet werden, (B) (D) dass die jüdische Dachorganisation ihren Aufgaben auch Jüdisches Leben in Deutschland hat sich wieder eta- in Zukunft nachkommen und damit die jüdische Ge- bliert. Es gibt jüdische Schulen und Kindergärten. Man meinschaft in Deutschland stärken kann. hat Altersheime gebaut und Synagogen errichtet. Den- noch bleibt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland In der Präambel wird der Vertragsschluss auch mit der von der Vergangenheit gezeichnet. 1933 lebten allein in besonderen historischen Verantwortung begründet. Berlin 170 000 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Der Vertrag schreibt eine kontinuierliche und partner- Heute sind es nur etwa 12 000. schaftliche Zusammenarbeit zwischen der Bundesregie- rung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland fest. Wir freuen uns darüber, dass in den vergangenen Der Zentralrat hat sich bereits bisher als verlässlicher Jahrzehnten wieder viele jüdische Gemeinden in Partner der Bundesregierung in vielen gesellschaftspoli- Deutschland entstanden sind und ein reges Gemeindele- tischen Fragen erwiesen. ben pflegen. Darin sehen wir ein Zeichen der Hoffnung und einen Ausdruck des Vertrauens in die Bundesrepub- Der Zentralrat wird zur Erhaltung und Pflege des lik Deutschland und in unsere gefestigte Demokratie. deutsch-jüdischen Kulturerbes, zum Aufbau einer jüdi- Das Entstehen und Wachsen jüdischer Gemeinden ist schen Gemeinschaft, für seine integrationspolitischen eine Bereicherung für unser Land. Damit wird an eine und sozialen Aufgaben sowie für die gestiegenen Kosten jahrhundertelange Tradition des Zusammenlebens in To- seines Büros eine Staatsleistung in Höhe von leranz und gegenseitigem Vertrauen und Respekt ange- 3 Millionen Euro jährlich erhalten. Die Bundesregierung knüpft. Mit Freude stellen wir fest, dass Mitbürger jüdi- geht dabei davon aus, dass insbesondere die integra- schen Glaubens in Deutschland ihre Heimat auf Dauer tions- und sozialpolitischen Leistungen allen jüdischen sehen und dass andere, die zu uns gekommen sind, bei Bürgerinnen und Bürgern, gleich welcher jüdischen uns eine neue Heimat finden. Richtung, zugute kommen. Der Zentralrat hat im Vertrag zum Ausdruck gebracht, dass er für alle jüdischen Rich- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie tungen offen ist. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Die Bundesregierung erklärt in dem Vertrag ihre Ab- sicht, auch weiterhin die Hochschule für Jüdische Stu- Wer weiß, wie stark, wie nachhaltig jüdische Mit- dien und das Zentralarchiv zur Erforschung der Ge- bürger die Entwicklung in Wissenschaft und Wirtschaft, schichte der Juden in Deutschland zu unterstützen. Beide Politik und Kultur, Medizin oder Jurisprudenz beein- Einrichtungen werden vom Zentralrat der Juden in flusst und gefördert haben, wird alles tun, damit diese Deutschland getragen. Unberührt von diesem Vertrag Kultur ihren Reichtum wieder entfalten kann. Die außer- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3601

Wolfgang Bosbach (A) ordentliche Entwicklung der Philosophie, der Wissen- Genauso unerträglich ist und bleibt es, dass führende Re- (C) schaften insgesamt, der Wirtschaft und der Kultur wäre präsentanten des jüdischen Lebens in Deutschland wie in Deutschland ohne die Beiträge der jüdischen Bürger beispielsweise Paul Spiegel oder Michel Friedman nur unseres Landes nicht möglich gewesen. unter Polizeischutz leben können. Wenn das nicht mehr notwendig ist, dann sind wir in Deutschland auf dem (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie richtigen Weg. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) (Beifall im ganzen Hause) Beispielhaft möchte ich die Namen Martin Buber, Dass der Vertrag am Tag des Gedenkens an die Op- Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Theodor Lessing oder fer der nationalsozialistischen Diktatur geschlossen Walther Rathenau nennen. wurde, ist Mahnung und Verpflichtung zugleich. In die- sem Sinne ist der Staatsvertrag auch Ausdruck dafür, Ist es nun etwas ganz Besonders oder ist es etwas dass der Kampf gegen Antisemitismus und Rechtsextre- ganz Selbstverständliches, sozusagen ein Zeichen von mismus in jeder Form zu den Grundbedingungen des Normalität, dass wir heute die Ratifizierung eines Zusammenlebens der Menschen in unserem Land gehö- Staatsvertrages mit dem Zentralrat der Juden debattie- ren muss. Der Staatsvertrag ist nicht wie bei den Debat- ren? Mit den großen christlichen Kirchen hat der Staat ten über unseren Antrag „Jüdisches Leben in Deutsch- seit langem sein Verhältnis durch Staatskirchenverträge land“ in der vergangenen Wahlperiode Anlass, die oder durch Konkordate auf eine dauerhafte Grundlage Solidarität und den Schutz darzustellen. Er ist vielmehr gestellt. Insoweit ist es ein Stück Normalität. Anlass, die positiven Entwicklungen nicht zuletzt seit Aber wir halten immer noch inne und wir hüten uns der Wiedervereinigung in den Vordergrund zu stellen. zu Recht, vorschnell von Normalität zu sprechen, wenn es um jüdisches Leben in Deutschland geht. Sicher: Die Mit diesem Staatsvertrag wird ein neues Kapitel des Entwicklung der jüdischen Gemeinden ist, was die Mit- jüdischen Lebens in Deutschland aufgeschlagen. Er ist gliederzahlen und das rege Gemeindeleben angeht, ein Zeichen der Ermutigung, auf rechtsverbindlicher höchst erfreulich. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund Grundlage den Weg der Versöhnung und der gemeinsa- ist der Staatsvertrag ein Zeichen der Ermutigung. Den- men Teilhabe an der Entwicklung unseres Landes wei- noch spürt man überall, wo heute jüdisches Leben in terzugehen. Er ist zugleich ein Beleg für das wachsende Deutschland wieder erblüht, dass die Schrecken der Vertrauen der Juden in unsere freiheitliche und rechts- Nazibarbarei nur etwas mehr als ein halbes Jahrhundert staatliche Demokratie. zurückliegen und wir sie nicht vergessen und nicht ver- Die nach Maßgabe dieses Vertrages gewährte Förde- (B) drängen dürfen. rung ist keine staatliche Subvention im klassischen (D) (Beifall im ganzen Hause) Sinne für den Zentralrat der Juden, keine Subventionie- rung der jüdischen Gemeinden. Sie ist eine Investition in Wie gerne würden wir alle, die Sprecherinnen und Spre- eine bessere Integration derjenigen, die zu uns kommen, cher aller Fraktionen, unbefangen über jüdisches Leben in die vielfachen sozialen Aufgaben und Verpflichtungen in Deutschland reden: über die Emanzipation und die der jüdischen Gemeinden und nicht zuletzt in die Pflege Anerkennung des jüdischen Beitrages zur Kultur, Wirt- und Erhaltung des deutsch-jüdischen Kulturerbes. Diese schaft und Wissenschaft unseres Landes. Doch wir alle Investitionen liegen nicht allein im Interesse des Zentral- wissen, dass dies angesichts der Schrecken der Naziver- rates der Juden in Deutschland oder der jüdischen Ge- brechen – Staatssekretär Körper hat zutreffend darauf meinden, sondern in unserem gesamtstaatlichen Inte- hingewiesen – leider nicht ohne weiteres geht. resse. Aber wir dürfen uns von dieser dunklen Vergangen- Wir appellieren zugleich an die Bundesregierung heit nicht die gemeinsame Zukunft rauben lassen. Wer – ich bin dankbar, dass dies im ersten Redebeitrag ange- ärgert sich nicht, wenn er durch das neue Berlin geht und sprochen wurde –, über die Einigung mit dem Zentralrat die vielen jüdischen Einrichtungen zuerst an den schüt- nicht die anderen jüdischen Gruppen in Deutschland zu zend davor stehenden Polizisten und gepanzerten Fahr- übersehen oder zu vernachlässigen. Mit der erfreulichen zeugen erkennt! Natürlich wissen wir, dass es leider not- Entwicklung der Gemeinden wird auch ein Teil der Viel- wendig ist, diese Schutzmaßnahmen zu ergreifen, und falt des jüdischen Lebens, die es schon einmal bei uns es Aufgabe der Polizei ist, dort Präsenz zu zeigen, um gab und die es in anderen Ländern, zum Beispiel in den Unheil zu verhindern. USA und in Israel, gibt, ganz selbstverständlich auch in Deutschland wieder einkehren. Dennoch ist und bleibt es ein Skandal – damit dürfen wir uns nicht abfinden –, dass sich diese Gesellschaft Unzweifelhaft ist aber, dass gerade der Zentralrat bei von einigen wenigen Politkriminellen aufzwingen lassen der Integration der Neuankömmlinge eine nicht nur muss, dass selbst das ganz alltägliche Leben in unseren wichtige, sondern auch entscheidende Rolle spielt. Inso- jüdischen Gemeinden nur unter Polizeischutz möglich weit können dieser Staatsvertrag und dessen Umsetzung ist. einen wichtigen Beitrag für eine gelingende Integration (Beifall im ganzen Hause) leisten. Wir wollen in Deutschland die Kultur der Ver- ständigung und des Verstehens weiter ausbauen, indem Es ist ein fortwährender Skandal, dass selbst jüdische wir das Zusammenleben von Menschen unterschiedli- Kindergärten von der Polizei geschützt werden müssen. chen Glaubens ganz selbstverständlich gestalten. Wir 3602 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Wolfgang Bosbach (A) wollen eine Kultur, in der jüdische Mitbürgerinnen und Nicht nur gewürdigt, sondern verlässlich finanziell (C) Mitbürger nie mehr infrage stellen müssen, ob es richtig unterstützt werden die zahlreichen integrativen und sozi- ist, in Deutschland zu leben. Es muss selbstverständlich alen Aufgaben, die die jüdischen Gemeinden seit vielen sein, dass sie hier leben können und auch auf Dauer hier Jahren in Deutschland wahrnehmen und die, auch mit leben wollen, den Mitteln des Staatsvertrages, weiterhin der engagier- ten ehrenamtlichen Unterstützung bedürfen. Ich (Beifall im ganzen Hause) möchte hier insbesondere die Integration der neuen Mit- weil ein Miteinander im gegenseitigen Respekt und Ver- glieder der Gemeinden aus den osteuropäischen Staaten trauen zueinander selbstverständlich ist und weil erwähnen. Wir alle wissen aus den Städten und Gemein- Deutschland ihre Heimat ist. den, wie schwierig es ist, den Weg der sozialen Integra- tion und auch der Integration in den Arbeitsmarkt zu Danke für Ihr Zuhören. schaffen, wenn man mit einer fremden Sprache nach (Beifall im ganzen Hause) Deutschland kommt. Ohne die Arbeit der jüdischen Ge- meinden würden wir diese Integration in Deutschland nicht bewältigen können. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der Staatsvertrag hat ein Zeichen des gegenseitigen Nächste Rednerin ist die Kollegin Silke Stokar, Bünd- Vertrauens gesetzt. Ich verbinde mit diesem Vertrag auch nis 90/Die Grünen. Hoffnungen. Es bleibt für mich unerträglich – auch Herr Bosbach hat dies angesprochen –, dass jüdische Einrich- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE tungen in Deutschland polizeilich geschützt werden GRÜNEN): müssen. Es ist für mich ein unerträgliches Bild, wenn jü- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am dische Kindergärten mit Sicherheitszäunen umgeben 27. Januar, dem Holocaust-Gedenktag, unterzeichneten sind und wenn wir die spielenden Kinder auf den Spiel- der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, plätzen mit Videokameras überwachen müssen. Diese Paul Spiegel, und Bundeskanzler Gerhard Schröder den Bilder, die Realität in Deutschland sind, zeigen, dass wir Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und dem weit entfernt sind von Normalität. Zentralrat der Juden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Spiegel und den und bei der SPD sowie des Abg. Hans- Mitgliedern des Zentralrates der Juden, die diese Ver- Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) tragsunterzeichnung ermöglicht haben. Die Erinnerung Auch heute, 58 Jahre nach der Befreiung des Konzen- (B) an die Schrecken nationalsozialistischer Gewaltherr- trationslagers Auschwitz, kann die Frage, ob Juden in (D) schaft bleibt präsent. In einer Zeit, die nach wie vor weit Deutschland sicher sind, nicht mit einem Ja beantwortet entfernt ist von Normalität, ist der deutschen Demokratie werden. Dies macht mich traurig und wütend und ist das Vertrauen ausgesprochen worden. Kontinuierliche Aufforderung an uns alle, für eine tolerante demokrati- und partnerschaftliche Zusammenarbeit wurde im sche Kultur in unserer Gesellschaft zu kämpfen. Staatsvertrag vereinbart. Wir alle wissen: Mit Bekenntnissen allein verändern Der 27. Januar ist nicht nur ein historischer Tag. Ich wir die Einstellungen in unserer Gesellschaft nicht. Es denke, die Unterzeichnung des Staatsvertrages war und gilt jetzt, die Botschaft des Vertrages weiter zu vermit- ist ein historisches Ereignis. teln. Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass dies (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Punkt ist, bei dem auch an den Reden deutlich wird: und bei der SPD sowie des Abg. Hans- Wir sind hier im Hause einer Meinung. Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) Danke schön. Die Bundesregierung verpflichtet sich zur Erhaltung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Pflege des deutsch-jüdischen Kulturerbes und zum und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft. Es wurde be- CDU/CSU und der FDP) reits gesagt: Mittlerweile leben wieder 100 000 Juden in Deutschland. Die deutsch-jüdische Gemeinde ist die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: drittgrößte in Europa. Mit diesem Staatsvertrag bekundet Deutschland das Interesse an weiter wachsenden jüdi- Nächster Redner ist der Kollege Hans-Joachim Otto, schen Gemeinden. FDP-Fraktion.

Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrages hat die Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): rot-grüne Bundesregierung erneut ein Zeichen für mehr Toleranz und gegen Antisemitismus und Rassismus in Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- unserer Gesellschaft gesetzt. gen! Es hat schon lange keinen Gesetzentwurf der Bun- desregierung mehr gegeben, dem wir Liberalen mit so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN großer Freude zustimmen konnten wie diesem. und bei der SPD) Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass dieser Mein Dank gilt an dieser Stelle auch Bundeskanzler Staatsvertrag einen ganz wichtigen Baustein der weite- Schröder und Innenminister Schily. ren Integration jüdischen Lebens in Deutschland bildet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3603

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) Er ist ein Vertrauensbeweis der in Deutschland lebenden Wenn wir heute feststellen können, dass 100 000 Bür- (C) Juden in die Stabilität unserer Gesellschaft und unserer gerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Deutschland Demokratie. Wir sollten diesen Schritt nicht gering eine Heimat haben, dann freut uns das nicht nur, sondern schätzen, sondern dem Zentralrat der Juden für diesen dann muss uns das mit Dankbarkeit dafür erfüllen, dass Schritt unseren Dank aussprechen, weil wir damit eine diese Menschen in eine deutsche Demokratie so viel große Integrationsleistung auf den Weg bringen können. Vertrauen setzen, dass sie sich hier wieder heimisch füh- len können. (Beifall bei der SPD) Man sagt bisweilen, die jüdischen Bürgerinnen und Im Hinblick auf manche Kritik möchte ich darauf hin- Bürger gehörten zu unserer Gesellschaft „dazu“. Viele, weisen, dass es nicht nur um die Förderung jüdischen die das so formulieren, sagen das in guter Absicht und Lebens in Deutschland geht. Dieser Staatsvertrag bedeu- mit respektabler Gesinnung. Herr Kollege Bosbach hat tet eine Förderung kulturellen Lebens in Deutschland darauf hingewiesen, dass zu Beginn der 30er-Jahre des insgesamt. Seien wir offen und ehrlich: Deutschland hat 20. Jahrhunderts in Deutschland 500 000 Deutsche jüdi- den Aderlass jüdischer Künstler und Intellektueller wäh- schen Glaubens lebten. Heute sind es ein Fünftel, rend der Nazidiktatur bis zum heutigen Tag nicht voll nämlich 100 000 Menschen. In der Weimarer Republik bewältigt. Ich setze die Hoffnung darauf – ich bin sehr gehörten neun Reichstagsabgeordnete der jüdischen zuversichtlich –, dass dieser entscheidende Beitrag jüdi- Glaubensgemeinschaft an. Der 15. Deutsche Bundestag schen kulturellen Lebens in Deutschland und für hat kein einziges Mitglied jüdischen Glaubens. Deutschland durch diesen Staatsvertrag zusätzlich belebt wird. Davon profitieren wir alle, gleichgültig welchen (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Das Glaubens wir sind. stimmt nicht! Der Kollege Montag!) (Beifall bei der FDP) – Dann will ich mich gerne korrigieren. Angesichts dieser Integrationsleistung möchte ich zu- Bis zur Zeit des Nationalsozialismus war es – bei al- nächst einmal den amtierenden Mitgliedern des Zentral- len Brüchen in der deutschen Geschichte – so, dass jüdi- rates der Juden in Deutschland danken. sche Deutsche gesellschaftlich eben nicht nur dazuge- hörten, sondern ein Element der deutschen Gesellschaft Ich möchte meine Rede aber nicht abschließen, ohne waren. Sie waren ein Teil, ohne den das Ganze nicht daran zu erinnern, dass der jetzt so erfolgreich und mit denkbar war. Deshalb war die Judenverfolgung in der Unterstützung aller Fraktionen beschrittene Weg durch Zeit des Nationalsozialismus nicht zuletzt ein Akt deut- den unvergessenen Ignatz Bubis eingeschlagen und sehr scher Selbstzerstörung. Gerade aus diesem Grund ist es maßgeblich beeinflusst wurde. Er war einer der Ersten, eine ureigene Aufgabe unseres Landes, dafür Sorge zu (B) (D) der, als Vorsitzender des Zentralrates der Juden, das tragen, dass jüdische Kultur und jüdisches Leben in Hinein nach Deutschland, das Vertrauen und die Heimat- Deutschland gute Bedingungen für ihre weitere Ent- findung der Juden in Deutschland maßgeblich gefördert wicklung finden können. hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall im ganzen Hause) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich danke den amtierenden Mitgliedern des Zentralra- Erstmals gibt es mit dem von Bundeskanzler Gerhard tes der Juden und möchte an dieser Stelle noch einmal an Schröder und dem Präsidenten des Zentralrates der Ju- Ignatz Bubis erinnern. den in Deutschland unterzeichneten Staatsvertrag eine rechtlich verbindliche Grundlage für die Zusammenar- (Beifall im ganzen Hause) beit. Mit erheblich mehr Mitteln als bisher werden die Arbeit des Zentralrates für Erhalt und Pflege des Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: deutsch-jüdischen Kulturerbes gefördert und der Aufbau Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege der jüdischen Gemeinden unterstützt. Außerdem wird Sebastian Edathy, SPD-Fraktion. die integrationspolitische und soziale Arbeit des Zentral- rates, vor allem was die Aufnahme und die Begleitung von Neubürgern jüdischen Glaubens insbesondere aus Sebastian Edathy (SPD): Osteuropa betrifft, finanziell besser abgesichert als bis- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und her. Weil die Arbeit, die die jüdische Gemeinschaft er- Herren! Diese Debatte hat sehr deutlich unterstrichen, bringt, eine gemeinsame Aufgabe für unsere gesamte dass die Demokratie in Deutschland ein starkes Funda- Gesellschaft ist, ist dieser Staatsvertrag richtig, vernünf- ment hat, weil es bei allem Streit einen Konsens in zen- tig und gut. tralen Grundfragen gibt. Es gibt unter anderem einen Konsens darüber, dass die Förderung des Wiederaufbaus Aber die Wahrnehmung dieser Mitverantwortung für jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Ende der die weitere Entwicklung jüdischen Lebens in Deutsch- NS-Zeit ein gemeinsames Anliegen aller gesellschaftli- land ist, wenn der Staatsvertrag vom Deutschen chen Kräfte unseres Landes sein muss. Bundestag – wie ich glaube, einmütig – bestätigt werden wird, noch längst nicht erledigt. Im November letzten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahres wurde eine repräsentative Studie des Instituts des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Infratest vorgelegt. Es ist in Deutschland unter anderem Abg. Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]) gefragt worden, was die Befragten empfinden würden, 3604 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Sebastian Edathy (A) wenn sie wüssten, dass der Nachbar Jude ist. 17 Prozent Überweisungsvorschlag: (C) der Befragten sagten: Juden möchte ich als Nachbarn lie- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Auswärtiger Ausschuss ber nicht haben. Ferner wurde in dieser Umfrage gefragt, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ob Juden in Deutschland zu viel Einfluss hätten. Ausschuss für Tourismus 20 Prozent sagten, ja, sie hätten zu viel Einfluss. Gar Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 27 Prozent vertraten die Auffassung, ihr Einfluss auf die öffentliche Meinung in Deutschland sei zu hoch. Für die Aussprache war eine halbe Stunde vorgese- hen. Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Es gibt aber auch ein ermutigendes Ergebnis dieser Dr. Christine Lucyga, Dr. Maria Flachsbarth, Rainder Untersuchung. Auf die Frage, ob Antisemitismus in Steenblock, Hans-Michael Goldmann und der Parlamen- Deutschland ein Problem sei, sagten 60 Prozent der Be- tarischen Staatssekretärin Angelika Mertens sind zu Pro- fragten, ja, sie würden darin ein Problem sehen. Diese tokoll gegeben worden.1) Menschen haben Recht. Es gibt ein solches Problem. Wir werden uns diesem Problem in Deutschland zu stel- Deswegen kommen wir gleich zur Abstimmung. In- len haben, in diesem Jahr wie auch in den kommenden terfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Druck- Jahren und Jahrzehnten. sache 15/465 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- Es bleibt eine gemeinsame Aufgabe für alle demokra- den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- tischen Kräfte, die Mehrheit für dieses Nein zum Antise- schlossen. mitismus zu vergrößern, jedem Ansatz von Antisemitis- mus entgegenzutreten und ihm die Basis zu entziehen. Ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf: Dazu gehört, dass wir an allen Orten und jederzeit fol- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- genden Grundsatz unterstreichen und für ihn einstehen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- müssen: Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens lung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung gehören nicht nur zu unserer Gesellschaft dazu, sondern (Kriegsdienstverweigerungs-Neuregelungsge- sie sind Teil unserer Gesellschaft. setz – KDVNeuRG) (Beifall im ganzen Hause) – Drucksache 15/908 – Und diejenigen, die deutsche Juden zu diffamieren oder Überweisungsvorschlag: an den Rand zu drängen versuchen, grenzen nicht die Ju- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) den in Deutschland aus, sondern sich selbst. Innenausschuss Verteidigungsausschuss Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschlie- (B) ßend sagen: Ich freue mich, dass wir im Bundestag mit Auch hierfür war eine Redezeit von einer halben (D) dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Initiative zu bera- Stunde vorgesehen. Die Parlamentarische Staatssekretä- ten haben, die gut und richtig ist und die, wie wir heute rin Christel Riemann-Hanewinckel, die Kollegen gemerkt haben, die Unterstützung aller Fraktionen fin- Andreas Weigel, Thomas Dörflinger und Winfried den wird. Ich bin zugleich stolz darauf, dass es eine Nachtwei und die Kollegin Ina Lenke haben ihre Reden SPD-geführte Regierung ist, die 58 Jahre nach Ende des allerdings zu Protokoll gegeben.2) Nationalsozialismus diese wichtige Initiative auf den Damit kommen wir zur Abstimmung. Interfraktionell Weg gebracht hat. wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksa- Vielen Dank. che 15/908 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der weisung so beschlossen. FDP) Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich schließe die Aussprache. richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Wohnungswesen (14. Ausschuss) zu dem Antrag wurfs auf Drucksache 15/879 an die in der Tagesord- der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es , , weiterer Ab- anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann geordneter und der Fraktion der CDU/CSU ist die Überweisung so beschlossen. Transrapid-Projekt Berlin–Hamburg unver- Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: züglich wieder aufnehmen Beratung des Antrags der Abgeordneten – Drucksachen 15/300, 15/489 – Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordne- Berichterstattung: ter und der Fraktion der CDU/CSU Abgeordneter Reinhard Weis (Stendal) Vorrang für die Ostseesicherheit 1) Anlage 2 – Drucksache 15/465 – 2) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3605

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Rot-Grün sollte danach handeln und nicht nur die (C) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Parteischiene fahren. keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Kollegin Renate, das kann man nur unterschreiben. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Hans-Günter Bruckmann, SPD-Fraktion. Der Witz an dieser Aussage meiner Kollegin liegt na- türlich darin, dass nicht alle in der Opposition zu den gleichen Ergebnissen gekommen sind. Wir von der Re- Hans-Günter Bruckmann (SPD): gierungskoalition stehen sowohl der Anwendung der Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Transrapidtechnologie in NRW als auch in Bayern ein- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mir deutig offen gegenüber. durchaus vorstellen können, dass die beiden größten Städte der Bundesrepublik mit dem Transrapid verbun- (Lachen des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] den werden. Wir alle wissen aber, dass dies in den nächs- [FDP]) ten Jahrzehnten nicht der Fall sein wird; denn am Für beide Länderprojekte werden die Mittel als Zu- 5. Februar des Jahres 2000 ist die Entscheidung zur Ein- schüsse zur Verfügung gestellt, wenn die Rahmenbedin- stellung der Planung gefallen, weil der vorgesehene Be- gungen stimmen. Ich würde mich freuen, wenn beide treiber, die Deutsche Bahn AG, aus dem Projekt ausge- Projekte als Public-Private-Partnership-Projekte umge- stiegen ist. setzt werden würden; denn dann käme eine in Deutsch- Daraufhin hat die Bundesregierung richtig gehandelt land erfundene Zukunftstechnologie, für die der Erfinder und die Mittel für den Ausbau der vorhandenen Schie- Hermann Kemper schon 1934 das Reichspatent erhielt, nenstrecke beschlossen. auch bei uns zum Einsatz. Es wäre schön, wenn die Op- position an dieser Stelle die Worte der Kollegin Blank (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist das erste ernst nehmen würde und die übliche Parteitaktik zurück- Mal, dass es jemand wagt, zu sagen, dass die stellen könnte. Bundesregierung richtig gehandelt hat!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Tatsache ist, dass der Ausbau der Schienenstrecke Ber- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lin–Hamburg für eine Höchstgeschwindigkeit von 230 Kilometer in der Stunde planmäßig vorangeht. Beide Projekte sollen gleichermaßen fair behandelt werden, und zwar nicht nur in diesem Parlament, son- (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn? Ich sehe dern auch in der konkreten Auseinandersetzung vor Ort. nichts!) Hier sehe ich jedoch noch erhebliche Defizite. Viele der (B) Nur eines bringt den Ablauf ein klein wenig durcheinan- Argumente, die beispielsweise gegen das Metrorapid- (D) der: Das ist das Adlerpärchen, das im Bereich der Bahn- projekt in NRW vorgebracht werden, sind schlicht strecke brütet; Sie haben es sicherlich der Presse entnom- falsch oder gehen an der Sache vorbei. Ein Argument, men. Das hat die Wirkung, dass sich dieses Projekt um das gerne verbreitet wird, lautet: Der Transrapid ist we- drei Monate verzögern wird. Ich gehe davon aus, dass gen seiner hohen Geschwindigkeit für kurze Strecken nicht nur wir, sondern auch Sie sehr natur- und umwelt- gar nicht gedacht und geeignet. Dazu ist zu sagen, dass freundlich sind, sodass wir alle dies gerne akzeptieren. diese Technologie aufgrund der speziellen Antriebstech- nik und damit in der Erreichung der jeweils gewünschten (Zuruf von der CDU/CSU: Daraus werden ein Endgeschwindigkeit immerhin jedem konventionellen paar Jahre!) Schienenfahrzeug überlegen ist. – Wie ich gerade höre, haben Sie dafür natürlich Ver- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Und zwar ständnis. – Die Strecke wird deshalb erst Mitte 2005 in haushoch!) Betrieb genommen werden. In zwei Jahren wird man also in knapp 90 Minuten von Hamburg nach Berlin fah- Diese Fähigkeit und auch das bessere Steigvermögen ren können. sind ein Grund dafür, weshalb die Transrapidtechnologie auf der Neubaustrecke Frankfurt–Köln erste Wahl gewe- Lieber Kollege Fischer, vor diesem Hintergrund ist es sen wäre. Sie hätte nicht eine Vielzahl von teuren Tun- natürlich abwegig, eine Wiederaufnahme der Planungen neln und Brücken benötigt. Die Tatsache, dass ein Fahr- für eine Transrapidstrecke mit dieser Relation zu for- zeug hervorragend für hohe Geschwindigkeiten geeignet dern. Die meisten von uns sind nach wie vor dafür, die ist, muss aber nicht ausschließen, dass es auch für kür- Transrapidtechnologie in unserem Land anzuwenden. zere Distanzen einsetzbar ist. Der Transrapid ist beides. Seit zig Jahren passiert in dieser Frage das eine oder an- Als Metrorapid erreicht er aufgrund seiner hohen Be- dere. Dabei sind wir uns in diesem Hause im Wesentli- schleunigung und kurzen Bremswege eine Durch- chen eigentlich einig. Ich zitiere die Kollegin Renate schnittsgeschwindigkeit von 130 km/h, und zwar im öf- Blank. Sie hat im Januar dieses Jahres gesagt: fentlichen Personennahverkehr. Damit liegt er nur Der Transrapid ist ein Projekt mit Signalwirkung für unwesentlich unter der eines Intercityexpress, der auf unser Land. Diese Technologie steht für die Innova- der Strecke von Essen nach Berlin als Nahverkehrsmittel tions- und Erneuerungsfähigkeit unseres Landes und im Schnitt rund 150 Kilometer pro Stunde erreicht. Das ist zugleich ein gewaltiges Konjunkturprogramm. Gerede von der Bimmelbahn ist daher purer Unsinn. Danach empfahl sie Rot-Grün: (Siegfried Scheffler [SPD]: Genau!) 3606 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Hans-Günter Bruckmann (A) Ein weiteres Pseudoargument lautet: Der Metrorapid den Reihen der Hochtechnologieländer beweisen. Das (C) passt nicht in die Verkehrslandschaft; denn die Vernet- ist der richtige Weg. zung mit dem restlichen öffentlichen Personennahver- kehr wird nicht funktionieren. Auch dieses Argument Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. wird durch stetige Wiederholung nicht richtiger. Der (Beifall bei der SPD) Metrorapid unterscheidet sich lediglich durch seine An- triebstechnik und seine eigene Trasse. Manche würden sich wünschen, so etwas auch haben zu können. Der ent- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: scheidende Punkt ist: Wir geben zur Förderung dieser Nächster Redner ist der Kollege Dirk Fischer, CDU/ Technologie Bundesmittel aus. In diesem Zusammen- CSU-Fraktion. hang möchte ich gerne meinen Kollegen Weis zitieren: (Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald Von Beginn an war klar, dass eine Magnetbahnstre- [CDU/CSU]: Jetzt zieht euch warm an!) cke in Deutschland kein reines Verkehrsprojekt ist. Vielmehr ging und geht es auch heute noch um die Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Technologiepolitik. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Ich kann nur sagen: Reinhard Weis, du hast absolut Kollege Bruckmann, der Ausbau der Strecke Ham- Recht behalten. burg–Berlin geht zügig voran? 230 Kilometer pro Für die Rhein-Ruhr-Region zum Beispiel ist der Me- Stunde auf einer Ausbaustrecke durch geschlossene Ort- trorapid nicht nur ein bloßes Nahverkehrsprojekt – ich schaften? Bisher werden Ausbaustrecken in Deutschland greife das auf, was schon unsere Kollegin Blank gesagt mit maximal 200 Kilometer pro Stunde befahren. Als hat –, sondern für uns ist es ein wesentliches Projekt, mit früher schon einmal der Antrag an das EBA herangetra- dem wir die Identität des Ruhrgebietes und des Landes gen wurde, sagten dessen Vertreter, man könne sich Nordrhein-Westfalen mit einem Symbolcharakter stär- überhaupt nicht vorstellen, dass dies genehmigt werden ken wollen. Man darf vom Strukturwandel nicht immer würde. nur reden, sondern man muss ihn, wenn man die Chance Im Übrigen: Bleiben Sie bescheiden. Im „Stern“ vom dazu hat, auch umsetzen. Nur so kommt man weg von 3. Februar 2000 wird eine Formulierung von Bahnchef dem Bild von Kohle und Stahl zu einer Dienstleistungs- Mehdorn in einem Interview wiedergegeben: und Wissensgesellschaft und zur Anwendung von Hoch- technologie. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ich weiß genau, was jetzt (B) Mit den in den Debatten teilweise vorgetragenen kommt!) (D) Geisteshaltungen wäre es nie dazu gekommen, die Rad- Schiene-Technik vor mehr als 150 Jahren einzusetzen. Dann brauchen wir das gar nicht, sondern wir fah- Wenn jemand den Metrorapid oder Transrapid nicht be- ren in anderthalb Jahren, also Mitte 2001, in treiben will, weil er glaubt, sie passten nicht zu seinen 90 Minuten zwischen Hamburg und Berlin. bisherigen Systemen, dann sage ich dazu in aller Öffent- lichkeit: Es wird sich herausstellen, ob im Rahmen der Deswegen kann ich nur sagen: Lassen Sie sich nicht auf Netzöffnung und des Wettbewerbs nicht andere aufge- solche Sachen ein. Sie verlieren Ihre Glaubwürdigkeit schlossenere Betreiber Interesse an diesen Projekten ha- und können noch nicht einmal etwas dafür. ben könnten. Ich bin mir sicher: Es werden sich eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Reihe von Betreibern dafür finden. neten der FDP) Der Metrorapid ist wie der Transrapid nicht irgendein Das ist also ganz traurig für Sie. beliebiges Verkehrsprojekt, sondern eigentlich ein Quan- tensprung in der Verkehrstechnologie. In China hat man Es ist abenteuerlich, wie verantwortungslos die rot- nach einer Vorlaufzeit von acht Jahren 24 Monate ge- grüne Bundesregierung mit dem Transrapid im Fernver- braucht, um das Projekt in Schanghai zu realisieren. kehr zwischen Hamburg und Berlin umgegangen ist. 24 Monate sind eine gut genutzte Zeit. Trotz aller Liebesschwüre von Bundeskanzler Schröder, der Transrapid sei eine „vorzügliche Lösung der Mobili- Die Chancen für diese Technologie in den USA und tätsprobleme“ – so in der Neujahrsansprache 2003 –, anderen Ländern der Welt werden dann besser, wenn wir trotz des „Transrapidfans“ Stolpe, der sich als solcher im eigene, unterschiedliche Referenzen in Form von An- NDR-Inforadio Anfang des Jahres geoutet hat und im wendungen auch in Deutschland vorweisen können. Die „Focus“ vom 30. Dezember 2002 mit den Worten zitiert Projekte in Bayern und NRW werden dabei die Wirt- wird, Hamburg–Berlin sei seine Traumstrecke, passiert schaft unterstützen, diese Technologie zu exportieren. in Wahrheit gar nichts. Ihre Haltung zu dieser Zukunfts- Deshalb freue ich mich darüber, dass sich in diesem Ho- technologie hat sich in all den Jahren, seitdem eine hen Hause interfraktionell diejenigen im Gesprächskreis CDU/CSU-FDP-geführte Bundesregierung am 2. März Transrapid zusammengefunden haben, die diese Techno- 1994 die Bauentscheidung für Hamburg–Berlin getrof- logie nicht totreden wollen, sondern sie parlamentarisch fen hat, nicht geändert. unterstützen; denn in einem Punkt bin ich mir ganz si- cher: Deutsche Innovationen müssen auch in Deutsch- (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Aber die Fi- land ihre Chance bekommen. Nur so können wir uns in nanzierung hat sich geändert!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3607

Dirk Fischer (Hamburg) (A) Nur sind Sie nicht mehr so ehrlich wie damals, als bei- in meinem System nicht haben.“ Dann ist er für die An- (C) spielsweise die Ministerpräsidentin von Schleswig-Hol- wendung dieser Technologie eigentlich auch nicht der stein, , am 15. Februar 1997 in der „Säch- richtige Partner. sischen Zeitung“ sagte, (Beifall bei der CDU/CSU – Siegfried Scheffler (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ [SPD]: Haben Sie einen anderen?) DIE GRÜNEN]: Ich weiß genau, was jetzt kommt!) Meine Damen und Herren, Rot-Grün hat den Trans- rapid gegenüber der herkömmlichen Rad-Schiene-Tech- der Transrapid führe „verkehrspolitisch ins Abseits, fi- nik niemals fair und ordnungspolitisch gleich behandelt. nanziell in den Sumpf und industriepolitisch nicht zum Folgende Äußerung der damaligen SPD-Abgeordneten Ziel“. Heute wird zwar anders gesprochen, aber es wird und heutigen Parlamentarischen Staatssekretärin unverändert genauso gedacht. Mertens (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ neten der FDP) DIE GRÜNEN]: Am Wievielten?) Rühmliche Ausnahme bleibt nur der ehemalige Ham- ist für Ihre total unaufrichtige Politik in dieser Sache be- burger SPD-Bürgermeister Henning Voscherau, der be- zeichnend: reits am 9. Juli 2001 im „Hamburger Abendblatt“ resi- gniert feststellte: Ich (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: musste nachträglich zusehen, wie das fast fertig Lächerlich!) durchgeplante Projekt kurzsichtig vernichtet wurde ohne gleichzeitige Kompensation durch die dann Das milliardenschwere Prestigeobjekt Transrapid selbstverständlich notwendige ICE-Neubaustrecke. hatte einen gravierenden Schönheitsfehler: Es ba- sierte nicht auf seriösen Wirtschaftlichkeitsberech- Sie kommt jetzt allerdings auch nicht. nungen, sondern auf dem Prinzip Wunsch und Wol- ken. Die DB AG und die rot-grüne Bundesregierung haben die Transrapidpläne für Hamburg–Berlin am 5. Februar Dies sagte sie am 18. Februar 2000 im Deutschen Bun- 2000 böswillig zerstört und dadurch Infrastrukturent- destag. scheidungen, die der Deutsche Bundestag getroffen hat, in Wahrheit später zunichte gemacht. Die DB AG wäre (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war eigentlich für die Realisierung der Strecke zwischen den doch Ihr Prinzip! – Albert Schmidt [Ingol- (B) beiden größten deutschen Städten nicht unersetzlich ge- stadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das (D) wesen. Bahnchef Mehdorn hätte unter keinen Umstän- stimmt!) den erlaubt werden dürfen, die Bindungswirkung des Sie wissen, Herr Schmidt, dass beim Rad-Schiene-Sys- Magnetschwebebahnbedarfsgesetzes zu konterkarieren; tem die Infrastruktur aus dem Haushalt bezahlt wird. Die denn er hat – zitiert nach der „Wirtschaftswoche“ – am Refinanzierung des Fahrwegs oder gar steuerliche 26. Juli 2001 wörtlich gesagt: Abschreibungen werden nicht in die Wirtschaftlichkeits- Den Leuten, die das Transrapidsystem zum Fern- berechnungen einbezogen. Beim Transrapid Ham- verkehrssystem in Deutschland erklären wollen, ist burg–Berlin sollten die Kosten für den Fahrweg vom Be- leider der Größenwahn unter die Hirnschale gefah- treiber durch das Nutzungsentgelt auch noch peu à peu ren. zurückverdient werden. Natürlich hat dies für die Ertrags- erwartung eines Betreibers äußerst negative Konsequen- So ist Mehdorns Einstellung zu dieser Technologie. zen. Dass er dann lieber einen Schienenweg geschenkt nimmt, als dass er die Kosten für einen Transrapidfahrweg (Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) zurückverdienen muss, ist aus seiner egoistischen unter- Auch den Fahrweg hätte jedes andere Industrieunter- nehmerischen Position heraus verständlich. Das Verhalten nehmen bauen können, vielleicht sogar ohne die Verzö- des Staates jedoch ist ordnungspolitisch absolut skanda- gerungen und dramatischen Mehrkosten, an die wir uns lös, benachteiligend, unfair und unverständlich. Deswe- – ich erinnere an den Lehrter Bahnhof, die Neubau- gen darf dieses Verhalten nicht fortgeführt werden. strecke Frankfurt–Köln und die Neubaustrecke Nürn- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- berg–Ingolstadt–München – mittlerweile schon viel zu neten der FDP) sehr gewöhnt haben. Zudem werden die hohen Kostenüberschreitungen Die beabsichtigte Übertragung der Betriebsfüh- beim ICE-Streckenbau wie selbstverständlich akzeptiert. rung auf die DB AG hätte zwar Parallelverkehre ver- Ist es dann fair, beim Transrapid eine Abrechnung zum mieden, den Fernverkehr so auf den Transrapid gebün- Schätzkostenpreis von 6,1 Milliarden DM ohne Inflati- delt und eine unternehmensinterne Verknüpfung onsausgleich zu verlangen? – Vermarktung, Fahrplan, Fahrpreise, Gepäck – ermög- licht. Allerdings wollte die DB AG niemals wirklich Jetzt betreiben Sie Nahverkehrskonzepte. Aber der eine Alternative zum traditionellen Rad-Schiene-System Transrapid ist doch von Schmidt und Leber nicht in ers- zulassen. Mehdorn sagte am 26. Januar 2000 vor dem ter Linie als ein Vorortszug konzipiert worden. Als sol- Verkehrsausschuss wörtlich: „Ich will diese Technologie cher lässt er sich auch einsetzen; aber das ist nicht sein 3608 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Dirk Fischer (Hamburg) (A) primäres Anwendungsziel gewesen. Nur auf einer Lang- (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Der Horst (C) strecke – die Strecke Hamburg–Berlin beträgt 292 Kilo- weiß jetzt gar nichts mehr dazu zu sagen!) meter – kann er das Geschwindigkeitspotenzial der Ma- gnetschwebetechnik voll ausnutzen. Nur hier ist der Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Transrapid eine echte Alternative zum Flugzeug, zum ICE und zum Auto. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrter Herr Kollege Weis, Sie werden kaum er- Hamburg und Berlin sind dynamisch wachsende Bal- leben, dass ich mich hierher stelle und nicht weiß, was lungszentren, zwischen denen die Sinnhaftigkeit und Ef- ich sagen soll. Ich mache es mir nicht ganz so einfach fizienz einer Transrapidverbindung am überzeugendsten wie der Kollege Schmidt, der sagt, alles sei schon gesagt nachgewiesen werden kann. Das Transrapidprojekt zwi- und deshalb solle man zum Tagesgeschäft übergehen. Zu schen Hamburg und Berlin ist technisch und wirtschaft- diesem Thema ist leider noch nicht alles gesagt und es lich nach wie vor machbar, es ist durchgeplant und be- ist tatsächlich so, dass in weiten Bereichen mit falschen wertet. Die Verbindung brächte eine enorme Zahlen und Argumenten immer wieder Gegenteiliges Entwicklungsdynamik in den norddeutschen Raum und behauptet wird. in die Region Berlin-Brandenburg. Ich erinnere an die Anhörung zum Transrapid, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir vor der Planung der Strecke Hamburg–Berlin gehabt haben. Uns wurden von Rot-Grün – damals in der Oppo- Deswegen, meine Damen und Herren, fordert die sition – Berechnungen von der Deutschen Bahn und an- CDU/CSU-Bundestagsfraktion nachdrücklich die Wie- deren vorgestellt, die lauteten: Für 1 Milliarde DM sei deraufnahme dieses Projektes. Geben Sie endlich die auf der Strecke von Hamburg nach Berlin eine ICE-Qua- richtige Antwort auf die globalen Herausforderungen lität zu schaffen, mit der die Fahrtzeit zwischen diesen des Massenverkehrs im 21. Jahrhundert! beiden Zentren 90 Minuten betrage. Deswegen sei der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Transrapid überflüssig. Die Realität sieht so aus: Bis jetzt sind 1,935 Milliar- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den Euro in die ICE-Strecke Hamburg–Berlin geflos- Nächster Redner ist der Kollege Albert Schmidt, sen, mit der Konsequenz, dass der Zug nach wie vor Bündnis 90/Die Grünen. 160 Stundenkilometer fährt. Laut aktueller Prognose müssen weitere 700 Millionen Euro investiert werden, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE um tatsächlich irgendwann 230 Stundenkilometer zu GRÜNEN]: Jetzt geht’s los!) fahren. Wenn man das zusammenzählt, ist man bei unge- (B) fähr 2,7 Milliarden Euro, also umgerechnet etwa (D) Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE 5,4 Milliarden DM. Ich erinnere daran, dass es angeblich GRÜNEN): für 1 Milliarde DM zusätzlich funktionieren sollte. Das Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und ist ungefähr die Größenordnung, um die die Bahn bei all Kollegen! Die Debatte um den Transrapid Ham- ihren Fernstrecken gegenüber den Planzahlen im Negati- burg–Berlin ist eine mumifizierte Debatte. ven abweicht. Insofern wäre es zumindest reeller gewe- sen, diese Situation auch bezogen auf den Transrapid an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ständig zu erörtern. und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie haben heute nicht einen einzigen Satz gesagt, von dem ich Ihnen nicht schon vorher hätte sagen können, Fakt ist allerdings auch, dass die Planung nach Fertig- dass er kommt. Ich kenne die Sätze inzwischen auswen- stellung von 19 der insgesamt 20 Planfeststellungsab- dig. Ich sehe gar nicht ein, warum so viele so hoch be- schnitte gestoppt worden ist, dass das Magnetschwebe- zahlte Leute, wie sie hier sitzen, den Rest des Abends bahngesetz aufgehoben wurde und alle Vorbedingungen verschwenden sollen, bloß weil sich der Kollege Fischer weg sind. Ob nun tatsächlich im Jahre 2004 oder 2005 nicht von seiner transrapidalen Fixierung lösen kann. nach Fertigstellung der ICE-Strecke zusätzlich eine Transrapidstrecke verwirklicht werden kann, ist auch (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ von unserer Seite mit einem Fragezeichen zu versehen. DIE GRÜNEN und bei der SPD) Umgekehrt – das ist das eigentlich Entscheidende –: Ich verzichte daher auf den Rest meiner Redezeit, Mit jeder weiteren Strecke, die über die beiden jetzt auf denn ich könnte auch nichts Neues dazu sagen. Alles ist Wunsch der Regierungskoalition hinaus zu diskutieren- hundertmal gesagt worden und es ist richtig entschieden den Strecken des Metrorapid und der Strecke vom Flug- worden. In diesem Sinne wünsche ich einen schönen hafen zum Hauptbahnhof München hinaus geht, gebe Abend. ich dieser famosen Mehrheit die Möglichkeit, sich vor (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ der eigentlichen Entscheidung zu drücken, die Technik DIE GRÜNEN und bei der SPD) tatsächlich umzusetzen. Nicht weil wir gegen die Trans- rapidstrecke Hamburg–Berlin sind, sondern weil ich den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zeitpunkt für diesen Antrag für taktisch falsch halte, werden wir uns bei der Abstimmung enthalten. Nächster Redner ist der Kollege Horst Friedrich, FDP-Fraktion. Danke sehr. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3609

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ (C) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege DIE GRÜNEN]: Nicht zugesagt, sondern in Norbert Königshofen, CDU/CSU-Fraktion. Aussicht gestellt!) Hinzu kommen weitere 338 Millionen Euro nach dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bundesschienenwegeausbaugesetz. Das macht zusam- men mehr als 2,3 Milliarden Euro. Norbert Königshofen (CDU/CSU): Der Metrorapid wird aber seine Fahrgäste zu Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe 75 Prozent dem bestehenden Rad-Schiene-System weg- Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktio- nehmen. Dabei handelt es sich nicht um Vernetzung, lie- nen, die Ablehnung unseres Antrags ist ein schwerwie- ber Herr Kollege Bruckmann; vielmehr ist das, was in gender Fehler. diesem Zusammenhang betrieben wird, Kannibalismus. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Das heißt, der Metrorapid wird die anderen Strecken DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie selbst aussaugen. nicht!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie wissen nicht, was Kannibalismus ist!) – Doch, ein schwerwiegender Fehler, Herr Schmidt. Das ist ein schwerer Schlag gegen die Exportchancen deut- – Herr Ströbele, Sie haben bei anderen Punkten genug scher Technik. Zeit, sich zu äußern. Hören Sie jetzt einmal den Experten zu! (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen beim Die Argumente, die Sie vorgebracht haben, sind BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der – wenn man genau hinschaut – nur Ausreden. Wenn Sie SPD – Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜND- unserem Antrag zustimmen würden, würde die Strecke NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Kannibalismus- Berlin–Hamburg die Strecke sein, auf der man die Vor- experte Königshofen!) züge dieser deutschen Technik vorführen könnte: Schnelligkeit und Umweltfreundlichkeit. Deswegen bin Fernreisende aus dem Ruhrgebiet werden künftig ge- ich von Ihrer Einlassung sehr enttäuscht. zwungen, in Dortmund oder Düsseldorf umzusteigen. Stattdessen halten Sie an dem verkehrspolitisch un- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ sinnigen Metrorapid-Projekt im Ruhrgebiet fest. Dass DIE GRÜNEN]: Gezwungen? Wir sind in ei- Sie auf Ihre Redezeit verzichten, Herr Schmidt, bedauere nem freien Land! Wir sind nicht in China!) (B) (D) ich deswegen besonders, weil ich gerne gehört hätte, wie Der Metrorapid, den Sie statt auf der Strecke Ham- Sie sich dazu einlassen. burg–Berlin im Ruhrgebiet fahren lassen wollen, wird (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ alle 13 Kilometer halten. Wie Sie damit der Welt die DIE GRÜNEN]: Aber das ist doch gar nicht Vorzüge dieses modernen Systems zeigen wollen, bleibt Gegenstand der Debatte!) Ihr Geheimnis. Der Bundesrechnungshof hat – das wird gerne ver- – Natürlich ist das Gegenstand der Debatte. schwiegen; deswegen meiden Sie auch diese Debatte – (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ schon festgestellt, dass dieses Projekt nicht realisie- DIE GRÜNEN]: Nicht nach der Tagesord- rungswürdig ist. Denn der Kosten-Nutzen-Quotient liegt nung!) weit unter 1. Sie können die Strecke Hamburg–Berlin nur im Zusam- Bei einigen von Ihnen setzt zurzeit eine gewisse menhang mit den anderen Strecken sehen. Denn nur weil Nachdenklichkeit ein. Ich habe mit Interesse festgestellt, Herr Mehdorn die Strecke Hamburg–Berlin auf Ihren dass der Haushaltsausschuss nur 20 Millionen der Wunsch hin kaputtgemacht hat, sind Sie zu den Alterna- 80 Millionen Euro, die Nordrhein-Westfalen gefordert tivstrecken übergegangen, die von vornherein schlechter hat, freigegeben hat; 60 Millionen Euro sind eingefroren geeignet waren als die ursprünglich geplante Strecke. worden. Das ist die Wahrheit. Jetzt hoffen Sie darauf, dass das Nordrhein-Westfalen selbst verfügt nicht über die be- Vorhaben im Laufe der Zeit scheitert und Sie sich nicht nötigten Mittel; es muss sich diesen Betrag leihen. Die dazu äußern müssen. Deswegen hätte ich es begrüßt, Situation, in der sich Nordrhein-Westfalen befindet, ist wenn Sie sich heute dazu geäußert hätten, Herr Schmidt. uns ein bisschen aus Südamerika bekannt. Der Bund soll das Metrorapid-Projekt im Ruhrgebiet (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ mit insgesamt 2,3 Milliarden Euro fördern. DIE GRÜNEN]: Nestbeschmutzer!) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ – Ich kann doch über mein Bundesland Nordrhein-West- DIE GRÜNEN]: Das ist immer noch weniger falen nicht gut reden, weil Sie dort bereits seit 1966 die als bei der Strecke Hamburg–Berlin!) Regierung stellen. Das kann doch nicht gut gehen! Davon sollen zunächst 1,75 Milliarden Euro fließen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Herr Stolpe hat weitere 0,25 Milliarden Euro zugesagt. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]) 3610 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Norbert Königshofen (A) Die Grünen hoffen, dass auf der Basis der freigegebe- Wir kommen deshalb zur Abstimmung über die Be- (C) nen 20 Millionen Euro nachgewiesen wird, dass sich das schlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur- ganze Projekt nicht rechnet. Das Projekt wird nach Aus- schutz und Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung durch sage von Experten einen jährlichen Zuschuss von die Bundesregierung über einen Vorschlag für eine Ver- 90 Millionen Euro erfordern. Deshalb wird auch aus der ordnung des Europäischen Parlaments und des Rates Public Private Partnership nichts. Denn niemand wird in über Detergenzien, Drucksache 15/736. Der Ausschuss das Projekt investieren, wenn er nichts davon hat. empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bun- desregierung eine Entschließung anzunehmen. Wer Insofern haben Sie Recht, Frau Mertens: Was zurzeit stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! läuft, ist sozusagen Wunsch und Wolke. Deshalb darf ich – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Sie auffordern: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der FDP bei (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Enthaltung der CDU/CSU angenommen. DIE GRÜNEN) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Sie können damit dazu beitragen, dass die Strecke Ham- burg–Berlin mit unserer deutschen Technik zur Muster- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- strecke für die Welt wird. Alles andere ist zum Scheitern richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu verurteilt. dem Antrag der Abgeordneten Annette Widmann-Mauz, Dr. Norbert Röttgen, Ilse (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU DIE GRÜNEN]: Gehen Sie doch nach Schanghai! Gehen Sie doch in den Osten!) Versorgungsausgleich umgehend regeln – Keine Schlechterstellung von Frauen bei der Alterssicherung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich schließe die Aussprache. – Drucksachen 15/354, 15/953 – Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Berichterstattung: empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Abgeordnete Christine Lambrecht Wohnungswesen auf Drucksache 15/489 zu dem Antrag Ute Granold der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Transrapid- Irmingard Schewe-Gerigk Projekt Berlin–Hamburg unverzüglich wieder aufneh- Sibylle Laurischk men“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (D) sache 15/300 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – keinen Widerspruch. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koa- lition gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- der FDP angenommen. mentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- desministerin der Justiz: richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Frau Granold, und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der Un- ich bitte um Nachsicht. Ich drängle mich nicht vor, son- terrichtung durch die Bundesregierung dern werde gedrängt. Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- Das Bundesministerium der Justiz hat bereits in der schen Parlaments und des Rates über Detergen- ersten Beratung des Unionsantrags darauf hingewiesen: zien KOM (2002) 485 endg.; Ratsdok. 12319/02 Das Recht des Versorgungsausgleichs gehört zu den – Drucksachen 15/173 Nr. 2.79, 15/736 – schwierigsten Materien überhaupt. Dies scheint manche geradezu herauszufordern, ungerechtfertigte Ängste in Berichterstattung: der Öffentlichkeit zu schüren sowie die Bürgerinnen und Abgeordnete Heinz Schmitt (Landau) Bürger im Land zu verunsichern. Ich kann im Interesse Marie-Luise Dött der betroffenen Ehegatten – um diese sollte es doch ei- Dr. Antje Vogel-Sperl gentlich gehen – nur appellieren, zu einer sachgerech- Birgit Homburger ten Diskussion zu finden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Die Bundesregierung hat dazu ihren Beitrag geleistet. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen gewesen. Da Wir sind den Wünschen der gerichtlichen und der rechts- aber die Kollegen Heinz Schmitt (Landau), Marie-Luise anwaltlichen Praxis gefolgt und haben die Barwert-Ver- Dött, Eberhard Gienger, Dr. Antje Vogel-Sperl und ordnung teilaktualisiert. Wenn der Bundesrat der Ände- Birgit Homburger ihre Reden zu Protokoll gegeben ha- rung dieser Verordnung am 23. Mai dieses Jahres ben, entfällt die Aussprache1). zustimmen wird – nach der gestrigen Entscheidung im Rechtsausschuss des Bundesrates hoffe ich, dass er das 1) Anlage 4 tun wird –, wird diese noch in diesem Monat der Praxis Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3611

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) zur Verfügung stehen, so wie es die Bundesministerin der gende Strukturreform des Versorgungsausgleichs ist (C) Justiz am 13. Februar dieses Jahres an dieser Stelle ange- notwendig. kündigt hat. Damit sind wir aber noch nicht am Ende. Erstens. Diese muss ein einfaches, klares und transpa- Wir müssen über den Versorgungsausgleich vor dem rentes Recht schaffen. Die Zersplitterung der Vorschrif- Hintergrund der Alterssicherung der Frauen diskutie- ten – einige stehen im BGB, andere in verschiedenen ren. Auch die Verfasserinnen und Verfasser des Antrages Nebengesetzen – müssen wir bereinigen. machen sich hierüber Gedanken. Das ist verdienstvoll; Zweitens. Die Strukturreform muss auch die materiel- denn die Bilanz ist in der Tat ernüchternd. Die durch- len und verfahrensrechtlichen Probleme des Versor- schnittlichen Alterssicherungsleistungen, die Frauen gungsausgleichs zufriedenstellend lösen. Für den Versor- heute aufgrund eigener Ansprüche aus der gesetzlichen gungsausgleich bei nicht voll dynamischen Anrechten Rentenversicherung beziehen, liegen deutlich unter den- sollten wir die Realteilung so weit wie möglich einfüh- jenigen der Männer. In den alten Bundesländern errei- ren. Wir müssen auch prüfen, ob die Aufgaben bei chen sie gerade einmal ein gutes Drittel der Leistungen, Durchführung des Versorgungsausgleichs zwischen den die Männer erhalten. Die Ursachen sind bekannt: die ge- Familiengerichten und den Versorgungsträgern neu auf- ringere Anzahl von Erwerbsjahren, Arbeit in Wirt- geteilt werden sollen. schaftszweigen und Berufen mit unterdurchschnittlichen Arbeitsentgelten, mehr Teilzeit, Erziehungsarbeit oder Drittens. Die Strukturreform muss vor allem die wei- Pflege von Familienangehörigen, als dies bei den männ- tere Entwicklung der Alterssicherungssysteme bewälti- lichen Erwerbstätigen der Fall ist. gen. Sie muss also auch neue Altersvorsorgeformen wie die Riester-Rente einbeziehen. Eine Kommission aus Immerhin gibt es einen positiven Trend: Der Anteil namhaften Expertinnen und Experten, die im Bundesmi- von Frauen mit eigener Alterssicherung steigt deutlich nisterium der Justiz an der Lösung dieser Probleme des an. So wächst – ganz im Sinne der Zielsetzung der Bun- Versorgungsausgleichs arbeitet, wird hierzu Vorschläge desregierung – die Quote erwerbstätiger Frauen zumin- vorlegen. Damit kann die Strukturreform des Versor- dest in den alten Bundesländern. In den neuen Bundes- gungsausgleichs noch in dieser Legislaturperiode auf ländern war sie schon immer höher. Je höher die den Weg gebracht werden. Qualifikation ist, umso geringer sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen beim Einkommen. Wer den Versorgungsausgleich bewahren will, der muss ihn fortentwickeln. Ich bin sehr gespannt, ob die Daneben greifen zunehmend Veränderungen im Verfasser des Entschließungsantrags, über den heute zu Recht der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Einfüh- entscheiden ist, den Mut dazu haben. Ich habe da meine rung der kindbezogenen Höherbewertung von Beitrags- Zweifel. Man scheint sich zu sehr an alte, wohl bekannte (B) zeiten durch die Rentenreform 2001 war sicherlich ein Denkweisen im Versorgungsausgleich zu klammern. (D) ganz wichtiger Schritt. Auch die staatliche Förderung der ergänzenden kapitalgedeckten Alterssicherung ent- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So hält Familienkomponenten, die oftmals Frauen zugute scheint es zu sein!) kommen. Vor allem aber verstärkt die Bundesregierung Aber ich lasse mich gerne positiv überraschen. Ich freue die Bemühungen, Frauen bei und nach der Kindererzie- mich auf die Zusammenarbeit, die immer wieder ange- hung im Beruf zu halten, etwa durch die Verbesserung mahnt wird und zu der wir gerne bereit sind. der staatlichen Kinderbetreuung. Vielen Dank fürs Zuhören. Frau Präsidentin, vielen Aber wir alle wissen, dass der Weg weit ist. Bei allen Dank für Ihre Großzügigkeit. Bemühungen wird zwischen der Versorgungssituation von Männern und der Versorgungssituation von Frauen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Kinder erziehen, auf absehbare Zeit eine Lücke blei- DIE GRÜNEN) ben. Im Normalfall werden diese Unterschiede innerhalb der Ehe, also zwischen den Ehegatten, ausgeglichen. Da- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mit können aber diejenigen Frauen nicht rechnen, deren Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/ Ehe scheitert. Hier setzt der Versorgungsausgleich an. CSU-Fraktion. Der Alterssicherungsbericht 2001 zeigt, dass geschie- dene Frauen im Vergleich zu verheirateten Frauen über Ute Granold (CDU/CSU): deutlich mehr eigene Versorgungsanrechte verfügen. Das ist in erheblichem Maße auf den Versorgungsaus- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gleich zurückzuführen. Der Versorgungsausgleich ist da- Herr Staatssekretär, Sie haben dankenswerterweise die mit ein wesentliches Instrument, um das Prinzip der schlechte Alterssicherung der Frauen aufgrund ihrer ty- Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Fall der pischen Erwerbsbiografien beschrieben und damit die Ehescheidung zu verwirklichen. Dieses Instrument gilt Berechtigung unseres Antrags – Sie haben ihn inhaltlich es zu sichern. auch als konstruktiv bezeichnet – bestätigt. Lassen Sie mich aber doch einige Ausführungen zu Wer sich mit der Materie näher befasst – das haben unserem Antrag und zur Historie machen. Ich bedauere wir getan –, der wird feststellen, dass der Gesetzgeber ein wenig die Schärfe in Ihren Ausführungen. seit etwa 20 Jahren die immer gleichen Probleme vor sich herschiebt. Die Teilaktualisierung der Barwert-Ver- (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Ich ordnung ist nur eine Zwischenlösung. Eine grundle- war ganz lieb heute!) 3612 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Ute Granold (A) Sie haben uns unterstellt, dass unsere Novellierungsvor- hat es weit mehr als zwei Jahre gedauert, bis die Bundes- (C) schläge rückwärts gerichtet sind. Sie werden in der Bera- regierung Ende März 2003 die neue Barwert-Verord- tung sehen, dass es anders ist. nung beschlossen hat, nämlich am 26. März 2003. Wir haben bereits vor knapp drei Monaten an dieser Die Welt ist damit aber noch lange nicht wieder in Stelle über das Thema gesprochen, das zwar nur einen Ordnung; denn es handelt sich hierbei nur um eine Teil unserer Bevölkerung, nämlich die von Scheidung Teilaktualisierung. Die Daten bezüglich Sterbe- und In- Betroffenen, berührt, dies aber in einer Weise, die von validitätswahrscheinlichkeit sind zwar angepasst, aber existenzieller Bedeutung ist. Es geht um den Versor- alle übrigen auf den Barwert eines Rechtes Einfluss neh- gungsausgleich, das heißt, um die Klärung der Frage, menden Bestimmungsgrößen des geltenden Rechts, wie und in welchem Umfang von Ehegatten in der Ehe- nämlich Rechnungszins, Rentendynamik und ge- zeit erworbene Anwartschaften auf Altersversorgung bei schlechtsdifferenzierende Barwertfaktoren, bleiben un- der Scheidung ausgeglichen werden. Da es eine Vielzahl verändert. recht unterschiedlicher Versorgungsrechte gibt – betrieb- So hätte zum Beispiel die Aktualisierung des Rech- liche Zusatzversorgungen mit festen Auszahlungsbeträ- nungszinses von derzeit 5,5 Prozent auf realistische 3,5 gen oder dynamisiert, berufsständische Altersversor- oder 4 Prozent gerade für so genannte rentennahe Ehe- gungssysteme, Lebensversicherungen und andere –, leute oder solche, die bereits Rente beziehen, erhebliche müssen diese verschiedenen Versorgungsrechte mit der positive Auswirkungen. Es wird also nach wie vor ein Versorgung nach dem Prinzip der gesetzlichen Renten- Versorgungsausgleich stattfinden, der in der Regel zulas- versicherung vergleichbar gemacht werden. Das ge- ten der Frauen geht. schieht mithilfe der Barwert-Verordnung, über die wir heute unter anderem sprechen. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Dann muss der BGH das wieder aufheben! – Zuruf des Nun hat bekanntlich der Bundesgerichtshof in seinem Abg. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]) Beschluss vom September 2001 eine weitere Anwendung der Barwert-Verordnung über den 31. Dezember 2002 hi- – Hören Sie meinen Ausführungen doch zu! Da können naus wegen der veralteten Parameter ausgeschlossen. Bis Sie noch etwas lernen. dahin hatte die Bundesregierung Zeit, mit Zustimmung (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wir sind des Bundesrats die Barwert-Verordnung zumindest be- hier doch nicht im Seminar!) züglich der biometrischen Daten, also Sterbe- und Inva- liditätswahrscheinlichkeit, zu aktualisieren. Die letzte Wenn der Bundesrat, der der vorgelegten Barwert- Anpassung stammte aus dem Jahre 1984. Seitdem ist un- Verordnung noch zustimmen muss, seine Zustimmung ter anderem die Lebenserwartung deutlich gestiegen. erteilt – Herr Staatssekretär, Sie haben auf die Sitzung (B) (D) Dies wiederum bedeutet, dass ein Versorgungsrecht vom 23. Mai 2003 verwiesen –, dann geschieht das vor mehr wert ist. Eine fortdauernde Bewertung nach der al- dem Hintergrund, dass zum einen eine sofortige Neure- ten Barwert-Verordnung würde zu einer Schlechterbe- gelung dringend geboten ist, um das rechtliche Vakuum wertung der betroffenen Anrechte führen. Damit würden zu füllen und den Versorgungsausgleich auf eine verläss- die ausgleichsberechtigten Ehegatten – das sind in der liche Grundlage zu stellen, und dass zum anderen das Regel die Frauen; ich bestätige hiermit Ihre Ausführun- neue Recht sowieso nur bis zum 31. Mai 2006 gelten gen, Herr Staatssekretär – weniger Geld bekommen, als soll. Der Rechtsausschuss des Bundesrates hat in der Tat ihnen tatsächlich zusteht. Da es hier um Rentenansprü- in seiner gestrigen Sitzung ein eindeutiges Votum für ein che geht, brauche ich über die Bedeutung der Sache In-Kraft-Treten abgegeben, aber nur, damit die Gerichte wohl keine weiteren Ausführungen mehr zu machen. endlich wieder handeln und arbeiten können. Leider hat es die Bundesregierung trotz ausreichender Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang aus der Zeit versäumt, fristgerecht eine novellierte Barwert- Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins vom Fe- Verordnung vorzulegen. Die Folge ist, dass die Famili- bruar 2003 zu zitieren, die sich inhaltlich nur unwesent- enrichter in Deutschland, die ohnehin hoffnungslos über- lich von der Stellungnahme der Bundesrechtsanwalts- lastet sind, seit dem 1. Januar 2003 die Scheidungsver- kammer unterscheidet: fahren entweder insgesamt aussetzen, den Versorgungs- Der Deutsche Anwaltverein nimmt mit Erleichte- ausgleich vom Scheidungsverfahren abtrennen oder rung zur Kenntnis, dass in absehbarer Zeit wenigs- teure versicherungsmathematische Gutachten einholen, tens eine provisorische nachgebesserte Barwert- um den Barwert im konkreten Fall zu ermitteln. Das ist Verordnung entsprechend den Vorgaben des Bun- ein Skandal. desgerichtshofs erstellt werden soll. (Beifall bei der CDU/CSU) (Christine Lambrecht [SPD]: Vorlesen kann je- Aufgrund der bereits seitens der Rechtsprechung und der!) der Literatur erhobenen gewichtigen Einwände weiß die – Hören Sie bitte zu, werte Kollegin von der SPD. Bundesregierung seit langem – und nicht erst seit der er- wähnten BGH-Entscheidung vom September 2001 – von Der DAV hätte eine in jeder Hinsicht modernisierte der dringend notwendigen Überarbeitung der nicht voll Barwert-Verordnung vorgezogen. Im forensischen dynamischen Rechte. Sie selbst hatte dies bereits in ei- Alltag macht sich aber auch das Fehlen der Bar- nem Schreiben vom November 2000 festgestellt. Dieses wert-Verordnung so katastrophal bemerkbar – es ist Schreiben wird in dem BGH-Beschluss zitiert. Trotzdem nicht zu hoch gegriffen, wenn man sagt, dass in ei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3613

Ute Granold (A) nem Drittel der anstehenden Scheidungen Abtren- Positiv anzumerken ist in diesem Zusammenhang le- (C) nungen erfolgen –, dass jede, auch eine noch un- diglich das Bemühen der neuen Bundesjustizministerin vollständige Lösung begrüßt werden muss. vom Oktober letzten Jahres, die Thematik anzugehen und einen Gesetzentwurf zur Ergänzung und Änderung (Christine Lambrecht [SPD]: Ist ja wohl zu des Rechts des Versorgungsausgleichs vorzulegen. Die- hoch gegriffen! Völlig realitätsfern!) ser Gesetzentwurf wurde allerdings nach der verheeren- Auch wenn es Ihnen von der SPD-Fraktion nicht passt den Kritik aus der gerichtlichen und anwaltlichen Praxis und Sie es nach wie vor notorisch bestreiten, bleibt es wieder zurückgezogen. Heute sind wir nun so weit, dass dabei, dass von der Untätigkeit der Regierung viele ein Baustein aus dem Versorgungsausgleich, nämlich die Richter und Scheidungswillige vor Ort massiv betroffen Barwert-Verordnung, teilweise statt in toto novelliert sind. wurde. So sieht es aus. Deshalb ist auch der Antrag der Union noch nicht erledigt. Lediglich unser Hilfsantrag (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die Frauen wurde umgesetzt. Der Rest steht noch aus. können das auslöffeln!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Insbesondere die Frauen. – Die Zahlen des Deutschen Anwaltvereins sind realistisch. Ich kann sie aus meiner Die Bundesregierung hat jetzt mehrfach das drin- eigenen–– gende Erfordernis einer grundlegenden Überarbeitung des Versorgungsausgleichs festgestellt – die von Ihnen, (Christine Lambrecht [SPD]: Sie sollten ein- Herr Staatssekretär, eben beschriebene Strukturreform – mal den Richtigen fragen und nicht nur den und Taten angekündigt. Anwaltverein!) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ankündi- – Frau Kollegin, hören Sie doch einfach einmal zu, ich gen kann sie ja!) lasse Sie doch sonst auch ausreden. Was hierbei zwingend zu beachten ist, können Sie unse- (Christine Lambrecht [SPD]: Wenn die Zahlen rem Antrag entnehmen. Solange dies nicht umgesetzt ist, so falsch sind, höre ich nicht zu!) ist unser Antrag auch nicht erledigt. – Dann halten Sie doch Ihren Mund. Wir werden weiterhin wachsam die Bemühungen der (Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt Bundesregierung begleiten, insbesondere auch deshalb, [Salzgitter] [SPD]: Ein bisschen verbissen, weil eine Vielzahl von Verfassungsgerichtsaufträgen zur Frau Kollegin! Nicht kritikfähig!) Gesamtreform des Versorgungsausgleichs vorliegt. Herr Staatssekretär, ich denke, Sie sollten sich an die Arbeit (B) (D) Ich kann diese Zahlen aus meiner eigenen Tätigkeit als machen. Scheidungsanwältin nur bestätigen. Vielen Dank. Exemplarisch für eine Vielzahl von Entscheidungen ist der Beschluss des Familiengerichts Mainz vom (Beifall bei der CDU/CSU) 5. März 2003, also aus meinem Bezirk. Ich zitiere: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Schon wieder!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Irmingard Schewe- Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen. Da die anzuwendende Bartwert-Verordnung ihre Gültigkeit zum 31.12.2002 endgültig verloren hat und die Bundesregierung ihrer Verpflichtung zur Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE Neufassung noch nicht nachgekommen ist, muss GRÜNEN): das Verfahren bis zum 30.06.2003 ausgesetzt wer- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den. Lassen Sie mich zu Beginn der Debatte eines festhalten, verehrte Frau Granold: Selten haben wir in diesem (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lobby- Hause über einen Antrag debattiert, der so überflüssig ist istin des Anwaltvereins!) wie dieser; So lautet exemplarisch die Entscheidung eines deutschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gerichtes. und bei der SPD) Die Union hat mit ihrem Antrag vom Januar dieses denn das zentrale Anliegen Ihres Antrages ist durch den Jahres ein Problem aufgegriffen, an das die Bundesre- Kabinettsbeschluss vom 26. März dieses Jahres bereits gierung schon in der letzten Legislaturperiode nicht he- umgesetzt. Ich erlaube mir, Ihnen den Ablauf hier noch ran wollte. Der Versorgungsausgleich ist zwar in der Tat einmal darzustellen. ein komplexes und schwieriges Thema, dennoch haben die Gerichte und die Bürger ein Recht auf eine lücken- Der Bundesgerichtshof hatte den Gesetzgeber in sei- lose und gerechte Rechtsetzung. Ebenso muss die Bun- nem Urteil vom 5. September 2001 dazu aufgefordert, desregierung ihrer Pflicht als Verordnungsgeber nach- die Barwert-Verordnung den geänderten tatsächlichen kommen, allemal dann, wenn das höchste deutsche Verhältnissen anzupassen. Die Bundesregierung ist die- Zivilgericht unter Fristsetzung dazu auffordert. ser Aufforderung durch den erwähnten Kabinettsbe- 3614 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Irmingard Schewe-Gerigk (A) schluss nachgekommen und hat die notwendige Teilak- jetzt aktualisierte Barwert-Verordnung als Übergangs- (C) tualisierung der Barwert-Verordnung vorgenommen. recht zur Anwendung kommen. Sie bietet eine prakti- kable Lösung für die Familiengerichte und die weiteren Eigentlich könnten wir an dieser Stelle aufhören und Anwender und Anwenderinnen in der Praxis. die Debatte wäre beendet. Alles, was Sie in Ihrem An- trag fordern, ist bereits erledigt. Meine Damen und Herren von der Opposition, meine (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ausführungen haben gezeigt, dass es nicht einen Punkt in Ihrem Antrag gibt, den die Bundesregierung nicht be- Erforderlich wurde diese Änderung, da die biometri- reits umgesetzt bzw. zu dem sie nicht Initiativen ergrif- schen Daten als Grundlage der Barwert-Verordnung fen hätte. Insofern hätte ich mir gewünscht, Sie hätten schlicht und ergreifend veraltet waren. Die jetzige Neu- diesen Antrag zurückgezogen. Ich finde, wir sollten un- regelung berücksichtigt deshalb die durchschnittlich ge- sere Arbeitszeit effektiver nutzen. Es gibt wirklich wich- stiegene Lebenserwartung. tige Dinge, die wir hier zu erledigen haben. Obwohl es erst drei Monate zurückliegt, dass wir in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diesem Hause über die Barwert-Verordnung debattiert und bei der SPD) haben – ich hatte damals eigentlich den Eindruck ge- wonnen, dass die offensichtlichen Missverständnisse Aber abgesehen davon werte ich das nochmalige Ein- aufseiten der Antragsteller und Antragstellerinnen aus- bringen Ihres Antrages als Interesse am Zustandekom- geräumt worden seien –, erkläre ich es gerne noch ein- men einer kurzfristig für alle Beteiligten praktikablen mal: und gerechten Lösung. So nehme ich an, dass die CDU- geführten Länder am 23. Mai im Bundesrat der Ände- Bei der Barwert-Verordnung handelt es sich um rung der Barwert-Verordnung zustimmen werden. Viel- eine Umrechnungstabelle zur vergleichbaren Berech- leicht überzeugen Sie bis dahin Ihre Kollegen und Kolle- nung von dynamischen und nicht dynamischen Renten- ginnen aus Baden-Württemberg, den angekündigten ansprüchen, das heißt von Rentenansprüchen der gesetz- Maßgabebeschluss nicht einzubringen; denn der würde lichen Rentenversicherung und der Beamtenversorgung die Frist bis zum In-Kraft-Treten der Verordnung nur un- gegenüber Altersversorgungsansprüchen, die nicht der nötig verzögern. Entwicklung der Arbeitseinkommen folgen, insbeson- dere Betriebsrenten oder Renten aus Versorgungswer- (Christine Lambrecht [SPD]: Hört! Hört!) ken. Im Fall einer Scheidung müssen selbstverständlich Ich bitte Sie, das umzusetzen. Das ist im Interesse Ih- sämtliche Ansprüche der ehemaligen Ehepartner und res Antrages und im Interesse der Frauen. Ehepartnerinnen berücksichtigt werden. (B) (D) Damit diese unterschiedlichen Formen der Altersver- Vielen Dank. sorgungsansprüche vergleichbar gegeneinander aufge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rechnet werden können, wird die Barwert-Verordnung und bei der SPD – Hans-Christian Ströbele als Umrechnungshilfe verwandt, zu deren Berechnung [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bravo! – auch die biometrischen Daten einbezogen werden. Wir Christine Lambrecht [SPD]: Zugabe!) haben festgestellt, dass durch diese Umrechnung sehr viel an Wert verloren geht. Auch deshalb ist es notwen- dig, hier eine Änderung herbeizuführen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk, Wie bereits ausgeführt, berücksichtigt die aktuali- FDP-Fraktion. sierte Verordnung nun die durchschnittlich höhere Le- benserwartung. Dies führt in der Konsequenz zu einer Erhöhung des errechneten Barwerts. In der überwiegen- Sibylle Laurischk (FDP): den Zahl der Fälle kommt das der besseren sozialen Ab- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau sicherung von Frauen zugute. Damit ist ein weiteres An- Schewe-Gerigk, ich bin nicht der Auffassung, dass diese liegen Ihres Antrages, nämlich einer eventuellen Debatte völlig überflüssig ist. In der Debatte Ende März Schlechterstellung, wie Sie es bezeichnen, von Frauen habe ich die Justizministerin aufgefordert, die von ihrer bei der Berechnung ihrer Altersversorgungsansprüche Vorgängerin nicht mehr bearbeitete Reform des Versor- gegenüber dem ehemaligen Ehepartner vorzubeugen, gungsausgleichsrechts anzupacken und sozusagen eine bereits erledigt. nicht aufgeräumte Schublade aufzuräumen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP) und bei der SPD) Mittlerweile kann man die Situation so beschreiben, dass Darüber hinaus arbeitet die Bundesregierung – wir zwar die Schublade näher gesichtet wurde, aber doch haben es gerade von Herrn Staatssekretär Hartenbach noch einiges aufzuräumen bleibt. gehört – an einer umfassenden Strukturreform des Versorgungsausgleichs, mit der eine grundlegende Der BGH hat in seiner Entscheidung vom Neuordnung zum Ausgleich nicht volldynamischer Ver- 5. September 2001 die Barwert-Verordnung als nicht sorgungsrechte angestrebt wird. Auch darüber haben wir mehr vereinbar mit den heutigen gesellschaftlichen Ver- bereits anlässlich der Debatte im Februar gesprochen. hältnissen und rechtspolitischen Rahmenbedingungen Bis zum In-Kraft-Treten dieser Neuregelung wird die erachtet. Er hat deshalb den Gesetzgeber aufgefordert, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3615

Sibylle Laurischk (A) bis Ende 2002 – man höre und staune: bis Ende 2002 – Ich halte den Antrag nicht für überflüssig; denn das (C) eine Neuregelung vorzulegen. Dies ist nicht geschehen. Thema „Neufassung des Versorgungsausgleichsrechts“ ist schon einmal liegen geblieben. Das wollen wir in die- Immerhin war der BGH weitsichtig genug, in seiner ser Legislaturperiode nicht noch einmal erleben. Entscheidung zu erklären, dass „zur Wahrung der Rechtseinheit und im Interesse der Rechtssicherheit… in Danke schön. der Übergangszeit bis zum In-Kraft-Treten einer Neu- regelung weiterhin die Barwert-Verordnung der Bar- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) wertermittlung – jedenfalls im Regelfall – zugrunde zu legen“ ist. Die Familiengerichte können ein Scheidungs- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: verfahren bis zur Neuregelung der Barwert-Verordnung auch ruhen lassen oder das Scheidungsverfahren abtren- Die Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion, hat 1) nen und mit dem Versorgungsausgleich abwarten. ihre Rede zu Protokoll gegeben . Mittlerweile hat die Bundesregierung eine neue Bar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wert-Verordnung beschlossen, die aber nur bis zum DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgit- 31. Mai 2006 in Kraft sein soll. Es wird also eine reine ter] [SPD]: Sehr verdienstvoll!) Übergangsregelung, was nicht zufrieden stellen kann. Wir kommen deshalb zur Abstimmung über die Be- Die Biografie von Frauen hat sich gegenüber den schlussempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksa- 70er-Jahren grundsätzlich verändert, als der Versor- che 15/953 zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU gungsausgleich mit der Familienrechtsreform eingeführt mit dem Titel „Versorgungsausgleich umgehend regeln – wurde. Die Grunddaten der bisherigen Barwert-Verord- Keine Schlechterstellung von Frauen bei der Alterssi- nung sind damit über 60 Jahre alt. Die veränderte Le- cherung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf benssituation von Frauen und auch von Männern muss Drucksache 15/354 abzulehnen. Wer stimmt für diese deshalb dringend seinen Niederschlag in der Gesetzge- Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? bung finden. – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko- alition bei Gegenstimmen der CDU/CSU und der FDP (Beifall bei der FDP) angenommen. Ursprünglich sollte der Versorgungsausgleich den Le- Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf: bensunterhalt von geschiedenen Frauen im Alter sicher- stellen. Dies betraf zum überwiegenden Teil Frauen, die Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralf entweder nur wenige Jahre oder gar nicht erwerbstätig Göbel, Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, (B) gewesen waren. Mittlerweile ist es für die meisten weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (D) Frauen selbstverständlich, berufstätig zu sein und dem- CDU/CSU entsprechend eigene Rentenanwartschaften aufzubauen. Ausschreibung des BOS-Digitalfunks im Jahr Das Versorgungsausgleichsverfahren verzögert ein 2003 einleiten ansonsten unkompliziertes Scheidungsverfahren oft- mals unzumutbar. Daran sind nicht die Gerichte schuld, – Drucksache 15/816 – sondern eine mühsam arbeitende Rentenversicherungs- Überweisungsvorschlag: bürokratie, die bei der Klärung von Rentenansprüchen Innenausschuss (f) mit Auslandsbezug oder von zu Zeiten der DDR erwor- Finanzausschuss benen Anwartschaften oft völlig zum Erliegen kommt. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Hier kann ein Scheidungsverfahren leicht zwei Jahre und Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen länger dauern. Ein unkomplizierter Verzicht auf den Ver- Haushaltsausschuss sorgungsausgleich, der sich bei geringen Ausgleichsan- sprüchen anbietet, ist nicht ohne richterliche Genehmi- Es wäre nach einer interfraktionellen Vereinbarung gung oder Gang zum Notar möglich – aus liberaler Sicht für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die eine überholte Bevormundung von scheidungswilligen Kollegen Hans-Peter Kemper, Ralf Göbel, Grietje Frauen und Männern. Bettin, Ernst Burgbacher und der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper haben ihre Reden zu Letztendlich sind die versicherungsmathematischen Protokoll gegeben.2) Grundlagen des Versorgungsausgleichs kaum noch nachvollziehbar und für Laien schlichtweg unverständ- Deshalb kommen wir zur Abstimmung. Interfraktionell lich. Das Prinzip der Rechtssicherheit und der Rechts- wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/816 an klarheit bleibt also auf der Strecke. Deshalb fordere ich die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- für meine Fraktion nachdrücklich, das Versorgungsaus- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der gleichsrecht neu zu durchdenken, neu zu konzipieren Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. und zu entbürokratisieren. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatz- Ihre Ausführungen, Herr Staatssekretär, lassen mich punkt 13 auf: zumindest hoffen. ( [SPD]: Doch kein hoff- 1) Anlage 5 nungsloser Fall dieser Staatssekretär!) 2) Anlage 6 3616 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (C) Pieper, Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Hom- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wäre für der FDP die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Zukunftsorientierte Energieforschung – Fu- FDP fünf Minuten erhalten sollte. Die Kollegen Ulrich sionsforschung in Deutschland und Europa Kasparick, Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn), Michael vorantreiben Kretschmer, Hans-Josef Fell und die Kollegin Ulrike Flach sowie der Parlamentarische Staatssekretär – Drucksache 15/685 – Christoph Matschie haben ihre Reden zu Protokoll gege- Überweisungsvorschlag: ben.1) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Wir kommen deshalb zur Abstimmung. Interfraktio- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit nell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union chen 15/685 und 15/929 an die in der Tagesordnung auf- Haushaltsausschuss geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- ZP 13Beratung des Antrags der Abgeordneten sung so beschlossen. Katherina Reiche, Dr. Peter Paziorek, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- der CDU/CSU ordnung. Unterstützung für eine Bewerbung des Stand- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- ortes Greifswald/Lubmin für den ITER (Inter- destages auf morgen, Freitag, den 9. Mai 2003, 9 Uhr, nationaler Thermonuklearer Experimenteller ein und wünsche allen Kolleginnen und Kollegen sowie Reaktor) den Besuchern einen schönen Abend. – Drucksache 15/929 – Die Sitzung ist geschlossen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und (Schluss: 20.41 Uhr) Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 1) Anlage 7

(B) (D) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3617

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten An dieser Stelle soll aber insbesondere die HELCOM erwähnt werden, in der Deutschland bisher viel umset- zen konnte. Auf dem jüngsten Treffen im März dieses entschuldigt bis Jahres in Rostock wurden wichtige Festlegungen getrof- Abgeordnete(r) einschließlich fen, die sich zum Teil in den Forderungen des vorliegen- den Antrages finden, aber inzwischen bereits auf den Eichhorn, Maria CDU/CSU 08.05.2003 Weg gebracht worden sind. Soweit solche Maßnahmen internationales Völkerrecht betreffen, wie zum Beispiel Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 08.05.2003 die Forderung nach der Lotsenannahmepflicht in der Haack (Extertal), Karl SPD 08.05.2003* Kadetrinne oder die Ausweisung der Ostsee als PSSA- Hermann Gebiet, kann nur ein gemeinsames, abgestimmtes Vorge- hen zum Erfolg führen. Deshalb werden Expertengrup- Jonas, Klaus Werner SPD 08.05.2003* pen, in denen Deutschland federführend arbeitet oder zu- Kelber, Ulrich SPD 08.05.2003* mindest hochkarätig eingebunden ist, IMO-taugliche Vorlagen erarbeiten. Dr. Köhler, Heinz SPD 08.05.2003 Vorangekommen ist auch die Verständigung über Krüger-Leißner, SPD 08.05.2003 eine zügigere Ausphasung von Einhüllentankern vor Angelika 2015, über die Verbesserung der Hafenstaatenkontrol- len und die Haftung und über die Festlegung besonde- Laumann, Karl-Josef CDU/CSU 08.05.2003 rer Verkehrstrennungsgebiete bis hin zur Ausweisung Schily, Otto SPD 08.05.2003 der Ostsee als Sondergebiet. An dieser Stelle möchte ich auf das 8-Punkte-Programm der Bundesregierung Schulz (Everswinkel), SPD 08.05.2003 zum Schutz der Meeresumwelt und der Küstenregio- Reinhard nen verweisen. Vogt (Pforzheim), Ute SPD 08.05.2003 Mit Russland wird es in Zukunft eine engere Zusam- menarbeit geben, um zu mehr Schiffssicherheit zu kom- men; auch darum hat sich die Bundesregierung intensiv bemüht. Deutschland ist durch Schaden klug geworden (B) * (D) für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- und hat mit dem Sicherheits- und Notfallkonzept eine lung des Europarates Vorreiterrolle für Europa übernommen. Das deutsche Notschleppkonzept ist europaweit führend und mit der Einrichtung eines gemeinsamen Havariekommandos in Anlage 2 Cuxhaven ist eine handlungsfähige Einheit geschaffen Zu Protokoll gegebene Reden worden, in der Kompetenzen gebündelt werden. Dies muss auch Wirkungen auf andere europäische Staaten zur Beratung des Antrags: Vorrang für die Ost- haben, die jetzt nachziehen müssen. seesicherheit (Tagesordnungspunkt 9) Richtig ist der Hinweis auf eine schwieriger wer- dende Sicherheitslage durch terroristische Bedrohung. Christine Lucyga (SPD): Als ich mich auf meinen Ob das neu installierte Havariekommando hier zusätzli- Beitrag für diese Debatte vorbereitete, hörte ich – solche che Aufgaben bekommt, wird eine Arbeitsgruppe auf Zufälle gibt es – den Sänger Reinhard Mey mit seinem ministerieller Ebene zu klären haben. Song „Das Meer“. Beeindruckender kann man wohl kaum ausdrücken, was das Meer dem Menschen bedeu- Im vorliegenden Antrag der Opposition sehe ich kei- tet und was andererseits der Mensch dem Meer allzu oft nen Dissens in den Zielen; dies wird auch im Vergleich antut. Aber anders als der Künstler, der zu dem Schluss zu unseren Anträgen „Schiffssicherheit auf der Ostsee kommt: „Wir brauchen das Meer, doch das Meer braucht verbessern“ und „Seesicherheit optimieren“ deutlich, de- uns nicht“, meine ich, dass das Meer unsere Hilfe drin- ren Auflagen – bis auf den Prüfauftrag des Weitbereichs- gend braucht, wenn wir seinen Reichtum ohne Raubbau radars für die Kadetrinne – als erfüllt gelten können. Es nutzen und es gleichzeitig erhalten wollen. Dies betrifft gibt also keinen Grund, bereits Erledigtes noch einmal die Ostsee ebenso wie andere ökologisch hochsensible zu beschließen, weshalb wir Ihrem Antrag auch nicht zu- Binnenmeere – das Schwarze Meer etwa –; denn der stimmen werden. Schutz der Meere ist eine internationale Aufgabe und Herausforderung. Meine Schlussbemerkung möchte ich der Europäi- schen Seeagentur widmen. Natürlich wäre es gut, wenn So gesehen ist es zu begrüßen, dass nationale Parla- eine solche Institution in Deutschland ihren Sitz hätte, mente, Regierungen, internationale Organisationen und und natürlich setzt sich die Bundesregierung auch für auch der Europarat immer öfter die Thematik von der eine Berücksichtigung deutscher Standortangebote ein. Schiffssicherheit und dem Schutz der Meere aufgreifen. Wir wissen jedoch, dass das entscheidende Gremium, Auch die heutige Debatte verstehe ich in diesem Sinne. der Europäische Rat, eine faire Berücksichtigung solcher 3618 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) Mitgliedsstaaten anstrebt, die noch nicht Sitz einer euro- mit 100 000 Tonnen Rohöl im finnischen Meer im Eis (C) päischen Institution sind. Deshalb meine ich auch, dass festsaß. Der Tanker war nur für Eisstärken bis 30 Zenti- wir, neben der Standortfrage, auf Kompetenz und Exper- meter zugelassen. Er hätte bei einer Eisdecke von tenwissen für die Zusammenarbeit setzen müssen; denn 60 Zentimeter und einem Packeis von 2 Meter gar nicht unsere Seesicherheitsbilanz kann sich in Europa nun auslaufen dürfen. Völlig unverständlich hat Russland es wirklich sehen lassen. abgelehnt, einen Eisbrecher zu entsenden. Nur unter gro- ßem Einsatz gelang es Finnland, die Fahrtrinne frei zu Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Die Ostsee ist bekommen und eine Ölkatastrophe in letzter Minute zu eines der am stärksten befahrenen und gefährlichsten verhindern. Schiffsverkehrsgebiete der Erde. In der Kadetrinne Daher begrüßt die CDU/CSU-Fraktion die Entschei- zwischen dem dänischen Falster und dem deutschen dung des EU-Ministerrates, den Transport der besonders Darß gibt es jährlich etwa 65 000 Schiffsbewegungen, umweltgefährdenden Schweröle nur noch in doppelwan- 8 200 davon sind Tanker. Tag für Tag sind hier Einhül- digen Tankern zuzulassen. Dieser Beschluss entspricht lentanker unterwegs – spätestens seit der Havarie der unserem Antrag. Er muss nun umgehend vom europäi- „Prestige“ im November 2002 wissen wir – es können schen Parlament bestätigt und umgesetzt werden! Ein- tickende Zeitbomben sein. In den letzten 10 Jahren kam wandige Tanker gehören nicht in die Ostsee, und zwar es zu über 20 schweren Schiffsunfällen in dem nur ab sofort! 50 Quadratkilometer großen Gebiet der Kadetrinne. Die CDU/CSU-Fraktion fordert den Bundeskanzler Die Ostsee als Ökosystem hat nun einige Besonder- nachdrücklich auf, seine guten Beziehungen zu Präsi- heiten, die die Gefährdungen, die durch Schiffsunglücke dent Putin zu nutzen, möglichst schnell die russische drohen, potenzieren. Sie ist fast ein Binnenmeer; weitge- Blockade einer europäischen Ostseesicherheitslösung zu hend vom Festland umschlossen und besitzt mit dem beenden, dies auch vor dem Hintergrund, dass sich die Kattegat und Skagerak nur sehr enge und flache Verbin- von russischer Seite ausgehende Unfallgefahr durch die dungen zur Nordsee, so dass der Wasseraustausch zwi- Inbetriebnahme beziehungsweise Planung russischer Öl- schen der Ost- und Nordsee nur sehr eingeschränkt mög- häfen in St. Petersburg und Vystok mit einer Kapazität lich ist. Die Verweilzeiten, das heißt, die Dauer, die ein von insgesamt 40 Millionen Tonnen pro Jahr dramatisch Wasserteilchen theoretisch in der Ostsee verbringt, lie- verschärft. gen zwischen 25 und 35 Jahren. Alles, was in die Ostsee eingetragen wird, verbleibt dort also sehr lange. Meine Damen und Herren, auf europäischer Ebene wurde Anfang dieses Jahres begonnen, eine Europäische Ein zweites Problem ist die Lage der Ostsee in einer Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs, EMSA, ein- (B) niederschlagsreichen, so genannten humiden Klimazone. zurichten. Deren Erfolg setzt aber voraus, dass auch auf (D) Der Niederschlag und die Zufuhr von Flusswasser sind nationaler Ebene entsprechende Maßnahmen eingeleitet zusammen wesentlich größer als die Verdunstung. Der werden. Als Konsequenz aus dem „Pallas“-Unglück hat Salzgehalt in der Ostsee wird durch diesen Süßwasser- sich die Bundesregierung für die Bildung eines Havarie- überschuss verdünnt. kommandos in Cuxhaven entschieden. Dies ist sicher- lich ein Schritt in die richtige Richtung, doch ist diese Das hat dann eine dritte große Problematik zur Folge: Maßnahme noch lange nicht ausreichend, das Wirrwarr Das Tiefenwasser ist salzhaltiger als das darüberliegende an Kompetenzen und Zuständigkeiten hinsichtlich des Wasser und dadurch dichter. Im Ergebnis mischen sich deutschen Küstenschutzes zufriedenstellend zu lösen. beide unterschiedlich dichten Wassermassen kaum mit- einander. Der Prozess der Wassererneuerung in der Tiefe Wir brauchen eine nationale Küstenwache, nach dem ist dadurch sehr stark behindert; die Ausbreitung von Vorbild der US Coast Guard und Dänemarks, das nach Sauerstoffmangel und Schwefelwasserstoff in den Tie- dem „Pallas“-Unglück alle Sicherheitskräfte in eine fenbecken der Ostsee ist ein natürliches Phänomen. Nur Hand gelegt hat. Zu diesen Kräften müssen auch Zoll, unter ganz bestimmten Witterungsbedingungen, die BGS und Bundesmarine gehören, die über einschlägiges mehrere Jahre auf sich warten lassen können, gibt es so Know-how und Equipment verfügen. Deshalb wieder- genannte Salzwassereinbrüche; bei denen salz- und hole ich für die Union unsere Forderung nach einem Un- sauerstoffhaltiges Nordseewasser in großen Mengen in fallmanagement aus einem Guss mit klaren Zuständig- die Ostsee vordringen kann. keiten, einheitlicher Führung und dem Recht des direkten Zugriffs auf alle Einheiten, weil wir im Fall ei- Meine Damen und Herren, warum erläutere ich das? ner Havarie kurze Reaktionszeiten benötigen, weil wir Ein Ölunfall vom Ausmaß der „Prestige“ – ich möchte eine straffe, alle Kompetenzen umfassende Organisation nicht unerwähnt lassen, dass die Prestige auf ihrer letz- brauchen, weil alle an der Rettung Beteiligten nach ein- ten Fahrt die Ostsee passiert hat – hätte für das Fastbin- heitlichen Grundsätzen handeln müssen und weil die nenmeer Ostsee verheerende, um nicht zu sagen kata- Handelnden als Team aufeinander eingespielt sein müs- strophale Folgen für Umwelt, Fischerei und Tourismus. sen und nicht erst im Fall einer Havarie kurzfristig zu- Dieser hat in den strukturschwachen Regionen der deut- sammengerufen werden können. schen Küstenländer eine nicht hoch genug zu bewer- tende wirtschaftliche Bedeutung. Von einer solchen Ka- Wir brauchen nicht nur ein Havariekommando, das tastrophe sind wir täglich nur einen Augenschlag – seinem Namen entsprechend – erst im Falle eines Un- entfernt. Ich erinnere beispielsweise an den russischen glücks, einer Havarie zum Einsatz kommt. Wir brauchen Öltanker „Minerva Nounou“, der vor wenigen Wochen eine nationale Küstenwache, um möglichen Schiffs- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3619

(A) unglücken vorzubeugen, auch wenn dazu eine Änderung Ich verkenne nicht, dass die EU und auch die Bundes- (C) des Grundgesetzes – Artikel 87,1 und 89 – notwendig regierung aus eigenem Antrieb, aber auch aufgeschreckt wäre. Die kürzlich erfolgte Ablehnung der Bundesregie- durch anklagende Bilder schrecklicher Ölverschmutzung rung im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages, durch die „Prestige“, weitere Maßnahmen zur Risiko- eine nationale Küstenwache für die Bundesrepublik ein- minimierung getroffen haben. Doch wenn diese erst wie zurichten, ist ein deutliches Signal in die falsche Rich- bei dem Doppelhüllen-Gebot für Großtanker in zehn tung. Jahren greifen und nicht internationaler Standard wer- den, schaffen sie eine Scheinsicherheit, keinen tatsäch- Die EU-Kommission, meine Damen und Herren, hat lichen Sicherheitsgewinn. Anfang dieses Jahres die Mitgliedstaaten aufgefordert, die in der Richtlinie über die Seeverkehrsüberwachung Wenn die EU eine neue Altersbegrenzung für Schiffe vorgeschriebene Ausweisung von Notliegeplätzen vor einführen will, Russland sich jedoch knallhart weigert, den 1. Juli 2003 vorzuziehen. Auch hier ist die Antwort andere Flaggenstaaten der IMO die kalte Schulter zei- Deutschlands mehr als unzureichend: Die Bundesregie- gen, bleibt das Gefährdungspotenzial für die Ostsee auf rung hat auf eine entsprechende Anfrage des Kollegen Jahrzehnte erhalten. Börnsen zu Nothäfen an der deutschen Küste geantwor- Aus Sach- und Zeitgründen muss die Seesicherheit tet, es gäbe 40 davon. Nur, meine Damen und Herren, Chefsache werden. Fachministerkontakte der Ostsee- wo und welche? Besonders erschüttert hat mich eine anrainer sind notwendig, ein Spitzentreffen der Regie- Anmerkung von Frau Staatssekretärin Angela Mertens rungschefs zu dieser Problematik ist jedoch erforderlich. im Plenum des Deutschen Bundestages am 20. Februar Es gilt, zu verbindlichen nationalen und internationalen dieses Jahres. Ich zitiere wörtlich: „Zu den Nothäfen Abkommen für die Ostsee zu kommen. Darauf dringen möchte ich anmerken – ... –, dass wir keine Nothäfen wir. Und es darf keine Zeit verstreichen. Die Ostsee ist ausweisen. Das macht übrigens mit Ausnahme Norwe- ein Fast-Binnenmeer. Eine Öl- oder Chemikalienkata- gens niemand. Wir haben Ihnen in unserer Antwort strophe hier bewirkt eine ungleich größere Umweltzer- deutlich gemacht, dass wir Notliegeplätze vorhalten. ... störung als in jedem Ozean. Mensch und Natur, Fauna (Es ist) bekannt, dass jede Reede und jeder Hafen als und Flora, Küsten und Strände würden dauerhaft belas- Notliegeplatz dienen können. ... Es muss immer eine tet, beschädigt. Dazu darf es nicht kommen. Einzelentscheidung getroffen werden. Havarierte Doch fast täglich schrammen wir in der Ostsee an ei- Schiffe mit bestimmten Problemen können nicht überall ner Katastrophe vorbei. Das gilt für die Kadetrinne, in hingebracht werden. Insofern rate ich zu mehr Gelassen- der es auf engstem Raum bis zu 65 000 Schiffsbewegun- heit.“ gen jährlich gibt, ohne Lotsenannahmepflicht, ohne aus- (B) Frau Staatssekretärin, ihre Antwort ist ein Wider- reichende Radarüberwachung. Das gilt für die nördliche (D) spruch in sich. Sie wollen jeden Hafen als Notliegeplatz, Tankerroute, auf der verstärkt Öl aus Russland befördert gleichzeitig aber Einzelfallentscheidungen, weil nicht wird, teilweise auf Schiffen, die nicht nur als Seelenver- alle Schiffe überall hingebracht werden können. Sie soll- käufer bezeichnet werden, sondern eine Bordwandstärke ten uns tatsächlich endlich Notliegeplätze vorhalten, bis- haben, die für Eisgang völlig ungeeignet ist. her haben Sie sie uns eher vorenthalten. Und was ihre Seit 1995 haben sich die Öltransporte verdoppelt. Gelassenheit betrifft, so ist sie in Anbetracht dessen, was Greenpeace dokumentierte es: Durchschnittlich einmal ich eingangs über das Ökosystem Ostsee gesagt habe, am Tag passiert ein Ölfrachter von der „Güteklasse“ der nun wirklich fehl am Platz! 26 Jahre alten gesunkenen „Prestige“ die risikoreiche Kadetrinne. Allein drei dramatische Situationen hat die Ich fordere die Bundesregierung daher nochmals im finnische Regierung in diesem Winter durch festsitzende Namen der Union eindringlich dazu auf, eine Liste der Öltanker ausgemacht. In keinem Fall war Russlands Re- Notliegeplätze öffentlich vorzulegen und Auskunft über gierung bereit zu handeln. Wer so die Sicherheit aller ihre personelle und technische Ausstattung zu machen, missachtet und nicht bereit zur Kooperation ist, hat we- um im Falle einer Havarie wirksam und unverzüglich der Kredite verdient noch, als Bündnispartner ernst ge- helfen zu können. nommen zu werden. Doch die Beinaheunglücke umfassen nicht nur zu alte Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Reali- und ungeeignete Schiffe, sondern nach Experten-Auffas- tät ist: Die Seesicherheit auf der Ostsee hat nicht zu- sung auch die Doppelhüllen-Tanker der ersten Genera- sondern in den letzten Jahren Zug um Zug abgenom- tion. Auch wenn die Doppelwand eine deutliche Sicher- men. Der Ostsee fehlt ein verbindliches Seesicherheits- heitsverbesserung bei Havarien oder Grundberührung konzept. Die Gefahr nicht mehr beherrschbarer Um- bedeutet, so sind Schiffe dieser Bauart in den ersten Jah- weltkatastrophen steigt. Dieser Trend muss gestoppt, ren vor dem In-Kraft-Treten der MARPOL-Vorschriften muss in sein Gegenteil verkehrt werden. Das ist das 1992 mit einer Konstruktion aus hochfestem Stahl aus- Hauptziel dieses Antrages der CDU/CSU-Bundestags- gestattet worden, die als problematisch angesehen wer- fraktion. den, wo die Gefahr des Auseinanderbrechens besteht. Bei Bulk-Carriern dieser Bauart hat es entsprechende Wir brauchen eine Sicherheitswende für die Ostsee, Unglücke bereits gegeben. die Nordsee und die anderen Meere. Das verheerende Öltankerunglück der „Prestige“ vor Spaniens Küste Hier sind tickende Zeitbomben unterwegs, die mehr sollte als anhaltende Mahnung verstanden werden. internationale Kontrolle notwendig machen. Diese 3620 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) Einschätzung gilt nicht für die Doppelhüllen-Tanker der Unabhängig davon wiederhole ich noch einmal: Der (C) neuen Generation, wie sie zum Beispiel durch die Linde- Ostsee fehlt ein verbindliches Seesicherheitskonzept. nau Werft in Kiel hergestellt werden. Hier wird hervorra- Eine Richtungsänderung ist dringend geboten. Deshalb gende Sicherheit produziert. Das Ziel in Europa muss fordere ich Sie auf, unserem Antrag heute zuzustimmen. sein, dass nicht nur ein Ausphasen der alten Tanker er- reicht wird, sondern dass die Ersatztonnage auch in Eu- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ropa gebaut wird. NEN): Die großen Tankerkatastrophen der letzten Jahre Doch der europäische Qualitätsstandard gilt nicht haben die Öffentlichkeit in hohem Maße für die Fragen weltweit. Bei der IMO häufen sich Beschwerden über der Schiffssicherheit und der Meeresverschmutzung sen- schwerwiegende Qualitätsmängel bei Schiffsneubauten. sibilisiert. Das ökologische und ökonomische Gefähr- dungspotenzial im Falle einer Tankerkatastrophe ist für Es werden international verbindliche Bauvorschrif- die Ostsee und die Küstenanrainer enorm. Deshalb ist es ten gefordert. Wir schließen uns dem an. richtig und wichtig, hier in diesem Hohen Hause ver- stärkt über Sicherheitsstrategien zu reden. In diesem Der enorme Kostendruck durch subventionierte Dum- Sinne begrüße ich grundsätzlich den Antrag der CDU/ pingpreise im Weltschiffbau verhindert Sicherheit, so ar- CSU, auch wenn ich in der Sache in einigen Punkten gumentieren Schiffbauer und Reeder. In sechs Berichten deutliche Differenzen zu den vorgelegten Forderungen der EU-Kommission wurde dieser Sachverhalt doku- habe. mentiert. Besonders betroffen sind Schiffsneubauten aus Fernost. Und noch ein Risikoaspekt bleibt oft uner- Die Bundesregierung und die Europäische Union wähnt: Große Pötte, die zum Beispiel Container trans- (EU) haben in ihren Aufgabenbereichen viele vernünf- portieren, sind in der Regel Einwandboote, bunkern je- tige Initiativen ergriffen, die für mehr Sicherheit auf den doch allein an Treibstoff bis zu 12 000 Tonnen Öl, das Meeren und in den Küstengewässern sorgen. Ich nenne Doppelte von dem, was kleinere Tanker geladen haben. hier nur die beiden „Erika“-Maßnahmenpakete der EU Verunglückt ein solches Schiff in der Ostsee, ist ein un- und die Schaffung eines Havarie-Kommandos in Cuxha- ermesslicher Schaden ebenso gegeben. ven. Aber damit ist noch nicht alles getan, was notwen- dig wäre, um die Sicherheit der Meere nachhaltig zu ge- Bei Tankerneubauten gilt schon heute die Doppel- währleisten. Insbesondere bereitet mir die Situation in wandpflicht bei einer Ladung ab 5 000 Tonnen. Hier der Kadetrinne Sorgen. Angesichts der deutlich steigen- müssen gleiche Standards für alle Schiffstypen geschaf- den Schiffsdurchfahrten ist das nicht mehr zu verantwor- fen werden. Auch für Tanker unter 5 000 Tonnen muss ten. Deshalb ist die Forderung richtig, umgehend mit den die Doppelwand Pflicht sein. Gerade sie bedeuten eine Ostseenachbarn eine Lotsenannahmepflicht und eine besondere Gefahr für Mensch und Natur; denn sie wer- (B) Meldepflicht zu vereinbaren. Dies gilt auch für ein ost- (D) den hauptsächlich im Küstenverkehr eingesetzt. seeweites Netz von Notliegeplätzen und Nothäfen und Allein die hier genannten Beobachtungen zeigen den für den Ausbau der Radarüberwachung. Im Rahmen von Umfang der Risikospanne für die Ostsee. Hinzu kommt: HELCOM sind viele vernünftige Initiativen verwirklicht Der Schiffsverkehr im Baltischen Meer nimmt Jahr um worden, die ein Mehr an Sicherheit für die Ostsee ge- Jahr zu, leider auch das Alter der Boote. Hinzu kommt: bracht haben. In dieser Tradition sollten auch Verhand- Die Öltanker werden immer größer. Auch damit steigt lungen geführt werden, die Ostsee als Sondergebiet aus- das Risiko. Noch immer gibt es mehr Ein- als Doppel- zuweisen, in dem nur noch Doppelhüllentanker wandschiffe im Baltischen Meer. Und nach den gelten- zugelassen sind. den Bestimmungen wird sich dieser Sachverhalt erst in Aber Sie wissen auch, dass in all diesen Fragen die gut zehn Jahren ändern. Zehn Jahre weitere halbherzige nationalen Kompetenzen eng begrenzt sind. Und auch Sicherheit auf der Ostsee sind nicht vertretbar. Wir er- wenn fast alle Ostseeanrainerstaaten schon Mitglieder warten, dass die Ostsee zu einem Sondergebiet erklärt der EU sind oder es in Kürze sein werden, ohne die Ein- wird, es besondere Kontrollen für Risikoboote gibt und bindung der Russischen Förderation wird es nicht zu ei- gleiche Sicherheitsauflagen für alle Ostseeanrainer – nem überzeugenden Sicherheitskonzept für die Ostsee Russland eingeschlossen. kommen. Und deshalb ist es richtig, dass die deutsche Unser Appell zur Optimierung der Seesicherheit rich- Bundesregierung diesen Verhandlungen höchste Priorität tet sich aber zugleich an die Schiffsbetreiber und Billig- beimisst. Flaggen-Staaten. Wenn vorrangig nach der Devise „Erst In all diesen Fragen sind wir praktisch einer Meinung der Gewinn, dann die Sicherheit“ verfahren wird, ist zu und die sollten wir auch im Interesse unseres Landes, der prüfen, ob der Landweg mit Ölpipelines eine Risiko- Sicherheit der Meere und unserer Küsten gemeinsam minimierung bedeutet. Auch unser Land benötigt eine vertreten. stabile Ölversorgung, doch sie muss umweltverantwort- lich erfolgen. Der weitaus überwiegende Teil der deut- Was wir allerdings nicht mitmachen, ist eine Grund- schen und europäischen Reeder handelt überaus verant- gesetzänderung durch die Hintertür. Die Regelung, die wortungsbewusst und ist an Sicherheit orientiert. Es sind Sie für eine künftige Küstenwache vorschlagen, ist mit die schwarzen Schafe, die die Seesicherheit durch man- der grundgesetzlichen Trennung von polizeilicher und gelnde Technik und unvertretbare Behandlung des Bord- militärischer Gewalt nicht vereinbar und auch völlig un- personals gefährden. Hier setzt die Eigenverantwortung nötig. Der Einsatz der Bundeswehr in Katastrophenfäl- der Verbände an. len ist eindeutig geregelt. Den Versuch der CDU/CSU, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3621

(A) Bundeswehreinsätze im Inneren durch immer neue trick- als Opposition sollten wir dort, wo es geboten erscheint, (C) reiche Varianten durchzusetzen, werden wir entschieden auch einmal die Regierung loben. Wir können Russland und beharrlich zurückweisen. nun einmal nicht zwingen, einer Lotsenannahmepflicht zuzustimmen. Wir können nur immer wieder in den Ver- Allerdings halten auch wir die Weiterentwicklung des handlungen auf die Wichtigkeit abstellen und müssen Havarie-Kommandos in Cuxhaven zu einer noch schlag- durch Beharrlichkeit zum Ziel kommen. kräftigeren Organisation für geboten. Parallele Struktu- ren und unterschiedliche, sich teilweise gegenseitig be- Im Bereich der internationalen Bemühungen für ver- hindernde Kompetenzhierachien müssen konsequent bindliche Übereinkommen zum Schutz der Ostsee aner- abgebaut werden. Nur dann werden wir über eine kenne ich das Bemühen der Bundesregierung ausdrück- schlagkräftige Küstenwache verfügen, die im Notfall lich. schnell und effektiv reagieren kann. Immer wieder skandieren Sie von der CDU und Sie Unverständlich erscheint mir in ihrem Antrag der von der Bundesregierung: Verbietet endlich die Einhül- Hinweis auf eine mögliche Sonderbehandlung von Malta lentanker und unsere Probleme mit der Gefahr von Öl- und Zypern bei den EU-Beitrittsverhandlungen im Hin- transporten sind gelöst. blick auf das Seerecht. Auch nach nochmaliger Lektüre des Beitrittsvertrages ergeben sich keine Sonderbedin- Ich warne davor, den Menschen an der Küste diese gungen für diese Staaten. Mit dem Beitritt Maltas und anscheinend einfache Lösung in dieser Form zu verkau- Zyperns gelten alle diesbezüglichen Regeln der EU ab fen. Natürlich bieten Doppelhüllentanker eine große La- dem ersten Tag ihrer Mitgliedschaft. dungssicherheit und vor allem minimale Ladungsreste. Und auch ohne Verbote gehen die Charterungen von Lassen Sie mich zum Schluss noch vier Punkte nen- Einhüllentankern zurück. Aber Doppelhüllentanker sind nen, die unverzichtbar sind, wenn wir die Sicherheit auf kein Allheilmittel in Sachen Küstenschutz. der Ostsee nachhaltig erhöhen wollen. Wir haben vergangenen Montag eine maritime Fach- Erstens müssen wir verstärkt Gebrauch machen von tagung durchgeführt. Dort wurde von den Experten deut- der Möglichkeit, bestimmte Gebiete als besonders emp- lich herausgestellt, dass es vor allem auf Unfallvermei- findliche Meeresgebiete (PSSA) auszuweisen und dies dung ankommt und da vor allem auf so wichtige Dinge an die International Maritime Organisation (IMO) zu wie Ausbildung, ausgereifte Sicherheitstechnik und Si- melden. Innerhalb eines PSSA können wir, international cherheitsverfahren. legitimiert, höhere Sicherheitsauflagen für alle Schiffe durchzusetzen. Auch Doppelhüllentanker können als Havaristen en- den. Ein Bergungsfachmann meinte gar, ein gut gepfleg- (B) Zweitens müssen wir die Versicherungs- und Haf- ter Einhüllentanker sei ihm allemal lieber als ein Dop- (D) tungssummen den tatsächlichen Schadensereignissen an- pelhüllentanker, die viel anfälliger für Korrosion und im passen. Havariefall viel schwerer leerzupumpen seien. Mir Drittens müssen wir dafür sorgen, dass die Hafenstaa- wurde berichtet, dass die heutige Technik kaum in der tenkontrollen noch stringenter auch in den deutschen Lage sei, einen gesunkenen Doppelhüllentanker ab ei- Ostseehäfen durchgeführt werden. nem bestimmten Neigungswinkel so anzubohren, dass ein Leerpumpen ermöglicht wird. Ein Forschungsantrag Viertens müssen wir uns dafür einsetzen, die interna- beim BMBF zur Entwicklung neuer Techniken wurde tionalen Standards in der Ausbildung der Seeleute zu er- leider auf das nächste Jahr verschoben, obwohl höhen. Nur eine gut ausgebildete und untereinander 50 000 Euro Drittmittel eingeworben wurden. kommunikationsfähige Schiffsbesatzung, das heißt eine Besatzung, die dieselbe Sprache spricht, kann in Gefah- Mit diesem Beispiel will ich verdeutlichen, dass dem rensituationen schnell und richtig reagieren. In diesem Küstenschutz nicht gedient ist, wenn man mit plakativen Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass wir Forderungen um sich wirft, sondern dass man sich zur auch unter dem Gesichtspunkt der Schiffssicherheit kein Verbesserung des Küstenschutzes schon einmal in die Interesse an einer weiteren Ausflaggung haben können. Niederungen der Detailprobleme begeben muss. Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal darauf hin- Wir haben uns letzten Montag auch mit einem weite- weisen, dass die Vermeidung von Gefährdungen die ren Thema aus dem Antrag der CDU beschäftigt: die beste Sicherheitsstrategie ist. Das heißt, jeder Tropfen Forderung nach Schaffung einer nationalen Küstenwa- Öl, der nicht über die Weltmeere nach Deutschland ge- che. Ich schiebe es gleich vorweg: Die FDP hat sich zu bracht wird, sondern durch Energieeinsparung oder rege- diesem Thema noch keine abschließende Meinung gebil- nerative Energien ersetzt wird, ist die beste aller Sicher- det, da es auch hier nicht mit dem plakativen Aufstellen heitsvorkehrungen überhaupt. einer Forderung getan ist. Angesichts der immer noch fehlenden Detailregelungen für das Havariekommando hege ich durchaus Sympathie für die Forderung nach ei- Hans-Michael Goldmann (FDP): Ich freue mich, ner Küstenwache, wie sie auch von der Schutzgemein- dass wir abermals die Gelegenheit haben, in diesem schaft Deutsche Nordseeküste immer wieder erhoben Hause über maritime Fragen zu sprechen. Auch wenn wird. der eigentliche Anlass, der Antrag der CDU/CSU, zu weniger Freude Anlass bietet. Natürlich haben sie Recht Doch die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ mit einer Reihe von Forderungen in Ihrem Antrag. Doch CSU bleiben jedes Detail für diese Forderung schuldig 3622 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) und das wundert mich auch nicht, da auch hier der Teu- terschiede bei den Wettbewerbsbedingungen. Es ist ein- (C) fel in eben demselben steckt. fach nicht hinnehmbar, wenn einige unserer Nachbarn bis zu 100 Prozent Lohnnebenkosten und Lohnsteuer- Schon das Havariekommando ist eine Sonderstelle, subventionen gewähren und die so bevorteilten Reeder die nicht in die Struktur der Wasser- und Schifffahrtsver- entscheidende Vorteile gegenüber ihren deutschen Mit- waltung eingebunden ist, die langjährige Erfahrung mit bewerbern genießen. Da müssen wir uns dann auch nicht dem Sicherheitsmanagement auf den deutschen Gewäs- wundern, wenn der deutsche maritime Standort immer sern vorweisen kann. Bevor wir uns hier hinstellen und weiter unter Druck gerät. Hier erwarte ich Antworten eine Küstenwache fordern, sollten wir uns doch erst ein- und Taten der Bundesregierung und keine Sonntagsre- mal Gedanken machen über die Probleme, die mit der den auf nationalen maritimen Konferenzen. Umsetzung einer solchen Forderung verbunden sind. Ich möchte zum Beispiel nicht, dass eine zu schaffende Küs- tenwache wegen der von den Innenpolitikern geltend ge- Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- machten Sicherheitsinteressen bei der Terroristenabwehr desminster für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Der im Innenministerium angesiedelt würde. Wir dürfen Antrag der CDU/CSU-Fraktion fordert die Bundesregie- keine Strukturen schaffen, die die bisherigen Seesicher- rung, die Ostseeanrainerstaaten und die EU-Kommission heitsbemühungen auf den Kopf stellen. zur Entwicklung eines gemeinsamen Sicherheitskonzep- tes auf. Da drängt sich eine Frage auf: Wer hat die Eulen Wir müssen Strukturen schaffen, die das maritime nach Athen getragen? Know-how bündeln und andere Aspekte der Gefahren- abwehr und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung Es ehrt den Antragsteller, den Kollegen Börnsen, dass bei den maritimen Fachleuten integriert. Dann kämen er hartnäckig das Thema Ostseesicherheit wohl vor al- wir entscheidende Schritte weiter. lem seinen eigenen Leuten näher bringen will. Die Bun- desregierung kann er wirklich nicht meinen! Der größte Ich halte das Thema Küstenwache für ein wichtiges Teil Ihrer Forderungen liegt bei uns in guten Händen. Thema – für ein so wichtiges Thema, dass wir es hier nicht mit einem solchen Schnellschuss beerdigen sollten. Aber nun ist Opposition bekanntlich jener erkenntnis- Wir sollten gemeinsam und ergebnisoffen in eine Fach- fördernde Zustand, in dem eine Partei zu der Einsicht diskussion hierzu eintreten. kommt, dass Missstände, die während ihrer eigenen Re- gierung zu klein und unbedeutend waren, nun wirklich In anderen Bereichen der Ostseesicherheit sind wir überhand nehmen. entscheidende Schritte weiter gekommen. So haben wir seit einigen Monaten endlich den Notfallschlepper Ost- Auch die Opposition weiß, dass der EU-Rat im De- see im Einsatz und ich habe mich bei einem Besuch auf zember letzten Jahres ein umfangreiches Paket an Maß- (B) (D) der „Fairplay 26“ von dem großen Know-how der Besat- nahmen zum Schutz der Meeresumwelt und der Küsten- zung in Seesicherheitsfragen überzeugen können. regionen angenommen hat. Umso weniger kann ich die Bundesregierung verste- Bundesminister Dr. Stolpe hat im Dezember 2002 ein hen, dass sie sich nach wie vor weigert, angesichts leerer 8-Punkte-Programm für die schnelle Umsetzung der von öffentlicher Kassen an einem öffentlich gebauten und öf- der EU beschlossenen Maßnahmen zu mehr Sicherheit fentlich betriebenen Schadstoffbekämpfungsschiff fest- auf See vorgelegt. Dabei wurde besonderes Augenmerk zuhalten. Das SUBS für die Ostsee könnte von privater auf Maßnahmen gerichtet, die zur Verbesserung der Seite bereedert werden und ich bin überzeugt, dass wir Schiffssicherheit in der Ostsee führen. damit auch gutes Know-how einkaufen würden. Sie wissen aber auch, dass verbindliche Festlegungen Abschließend noch eine Bemerkung zur allgemeinen für ein Sicherheitskonzept für die Ostsee nur im Rahmen maritimen Politik der Bundesregierung. Eines ist bei un- der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation, IMO, er- serem Maritimen Forum ganz deutlich geworden: Die folgen können. Die Bundesregierung setzt sich interna- Fachleute fragen sich, wozu die Bundesregierung aber- tional mit Nachdruck dafür ein, die bereits beschlosse- mals zu einer Nationalen Maritimen Konferenz einlädt, nen Maßnahmen zur Verbesserung der Umweltsituation wenn die Beschlüsse der letzten Konferenzen zu einem in der Ostsee und der Sicherheit der Schifffahrt wie zum großen Teil nicht nur keine Beachtung finden, sondern Beispiel die Einrichtung von Verkehrstrennungsgebieten durch Bestrebungen der Finanzpolitiker immer wieder oder die Ausweisung der Ostsee als Sondergebiet fortzu- konterkariert werden. Wie ernst nimmt die Bundesregie- entwickeln. rung denn ihre nationalen maritimen Konferenzen selbst, Minister Stolpe hat mit dem russischen Verkehrsmi- wenn sie immer wieder an der Tonnagesteuer kratzt oder nister Frank am 12. April 2003 vereinbart, eine gemein- den Lohnsteuereinbehalt infrage stellt? Für die nächste same hochrangige Arbeitsgruppe einzurichten, die sich Tagung in zwei Wochen könnten die Reden der letzten mit allen Fragen der Schiffssicherheit, insbesondere der Konferenz allesamt wieder aus dem Archiv geholt wer- Tankersicherheit in der Ostsee, befassen soll. Deutsch- den und niemand würde es wahrscheinlich merken. land wird die russische Delegation zu einem ersten Ge- Wir brauchen endlich eine nationale Offensive zur spräch noch vor der Sommerpause nach Hamburg einla- Förderung der Schifffahrt mit all ihren Potenzialen. Kein den. Die russische Seite hat anlässlich dieser Gespräche anderer Wirtschaftszweig muss sich in gleichem Maß ei- bereits zugesichert, dass keine Einhüllentanker mehr in nem globalen Wettbewerb stellen wie die Seeschifffahrt. den neuen russischen Ölhafen Primorsk einlaufen dür- Doch schon innerhalb der EU haben wir drastische Un- fen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3623

(A) Ihrer Forderung nach einer flächendeckenden Radar- Deutschland hat eine umfassende Richtlinie für die (C) überwachung der Ostsee werden wir deshalb nicht nach- Zuweisung von Notliegeplätzen im Rahmen der mariti- kommen, weil dies weit entfernt vom Stand der Technik men Notfallvorsorge erarbeitet; diese wird zurzeit mit ist und die Ostseeanrainer schon viel weiter sind. den Küstenländern abschließend abgestimmt. Für die deutsche Küste sind 40 Notliegeplätze vorgesehen. Im Rahmen der Helsinki-Kommission, HELCOM, wird von den Ostseeanrainerstaaten derzeit vielmehr ein Das deutsche Notschleppkonzept für Nord- und Ost- ostseeweites AIS-gestütztes – Automatic Identification see basiert auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnis- System – Beobachtungssystem festgelegt, das mit dem sen und ist bereits jetzt in Europa führend. Mit einem gemeinschaftlichen Überwachungs- und Informations- Kostenaufwand von 13 bis 15 Millionen Euro jährlich system für den Schiffsverkehr der EU kompatibel sein werden flächendeckend Notschleppkapazitäten vorge- soll. halten, die Eingreifzeiten zu einem Havaristen von ma- ximal 2 Stunden gewährleisten sollen. Am 1. Januar 2003 hat ein einheitliches Havariekom- mando seinen Dienst zur Koordinierung von Einsätzen Sie sehen, Ihr Anliegen nach mehr Sicherheit in der im Küstenbereich und auf Hoher See aufgenommen. Ostsee ist lange vor dem Druck dieses Antrages aufge- Dieses Kommando führt die unterschiedlichen Einsatz- nommen worden. Wir wissen alle, dass es eine letzte Si- kräfte und Ressourcen in einem gemeinsamen Unfallma- cherheit nicht gibt. Aber Sie können sicher sein, dass wir nagement in Nord- und Ostsee zusammen. Damit wird uns mit besonderer Hartnäckigkeit auf europäischer und gewährleistet, dass die Reaktion auf Schadensfälle un- internationaler Ebene einsetzen werden, was größtmög- verzüglich und unter einheitlicher und strukturierter liche Schiffssicherheit und Sicherheit in Nord- und Ost- Führung erfolgt. see betrifft. Die sich ständig verändernde Gefährdungslage, vor allem die veränderte Sicherheitslage aufgrund terroristi- scher Bedrohung, erfordert laufend Maßnahmen zur Ver- Anlage 3 besserung der Schlagkraft und Effizienz der Gefahrenab- Zu Protokoll gegebene Reden wehr im Bereich Seeverkehr. Hierzu wird in Kürze eine Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesministeri- zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung ums des Innern ihre Arbeit aufnehmen. des Rechts der Kriegsdienstverweigerung (Kriegsdienstverweigerungs-Neuregelungsge- Aus unserer Sicht ist es wichtig, dass bei allen Vor- setz) schlägen zur Verbesserung der Schiffssicherheit, insbe- sondere bei der Außerdienststellung älterer Einhül- (Zusatztagesordnungspunkt 11) (B) (D) lentanker, bei den Kontrollen und den Haftungsfragen Andreas Weigel (SPD): Der vorliegende Gesetzent- bestmögliche und einheitlich praktizierte Standards auf wurf zur Neuregelung des Kriegsdienstverweigerungs- breiter Grundlage zur Anwendung kommen. gesetzes ist ein weiteres gutes Signal aus dem Bundes- Über eine vorgezogene Außerdienststellung von Ein- familienministerium. Das Ministerium unter Renate hüllentankern von 2015 auf 2010 haben sich die EU- Schmidt erkennt den notwendigen Handlungsbedarf und Verkehrsminister im März verständigt und bereits bei der zieht daraus die Konsequenzen. Es passiert etwas in der IMO als gemeinsamen Antrag der EU-Mitgliedstaaten Familien- und Jugendpolitik. Ich möchte Ihnen, Frau vorgelegt. Ein Hafenanlaufverbot für besonders gefährli- Riemann-Hanewinkel, auch im Namen meiner Fraktion che Einhüllentanker wird im Juli 2003 nach Inkrafttreten dafür meine Anerkennung aussprechen. Der vorliegende der entsprechenden Rechtsvorschrift praktiziert werden. Gesetzentwurf ist beispielhaft für Ihre Arbeit. Ein generelles Verbot für Einhüllentanker in der Ost- Das Kriegsdienstverweigerungsgesetz ist in seiner see kann nur im internationalen Rahmen der IMO durch- heutigen Form ein Relikt aus einer anderen Zeit. Solda- gesetzt werden. So lange diese Schiffe den internationa- ten, die in Ihrer Dienstzeit den Kriegsdienst verweigern, len Anforderungen entsprechen, kann ihnen nämlich die werden noch immer vor Ausschüsse geladen, um in ei- friedliche Durchfahrt in internationalen Gewässern nicht ner mündlichen Verhandlung ihre Gewissensentschei- verwehrt werden. Verbote können unter bestimmten Be- dung prüfen zu lassen. Das ist ein Verfahren aus Zeiten dingungen für den Hafenanlauf ausgesprochen werden, des Kalten Krieges und passt nicht mehr in die bundes- außerdem besteht die Möglichkeit, durch eine gemein- deutsche Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts. Durch den same Initiative der Ostseeanrainerstaaten für die Tank- historischen und politischen Wandel wird Kriegsdienst- schiffe einen küstenfernen Schifffahrtsweg vorzugeben. verweigerung in unserer Gesellschaft mittlerweile ganz Daran wird derzeit im Rahmen der HELCOM gearbeitet. anders gesehen als noch vor 20 Jahren. Für die EU-Beitrittskandidaten gibt es im Bereich der Deshalb gibt es die mündliche Prüfung für die meisten Seesicherheit keine Übergangsvorschriften. Mit dem Kriegsdienstverweigerer schon lange nicht mehr. Das Beitritt muss der „acquis communautaire“ erfüllt sein. Bundesamt für den Zivildienst bearbeitet jährlich über Die EU und die Mitgliedstaaten helfen den neuen Mit- 180 000 schriftliche KDV-Anträge. Dieses Verfahren hat gliedern bei der Erfüllung des „acquis“ und die in Ihrem sich längst bewährt. Da fragt man sich zu Recht: Warum Antrag genannten Länder werden auf die Notwendigkeit sollen die durchschnittlich etwa nur 2 300 Anträge jähr- hingewiesen, unverzüglich Maßnahmen zur Verbesse- lich aus den Reihen der Soldaten – das sind knapp mehr rung der Schiffssicherheit zu ergreifen. als 1 Prozent aller Anträge – weiterhin durch ein 3624 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) aufwendiges und überhaupt nicht mehr zeitgemäßes Ver- Es gehört zu den höchsten Aufgaben parlamenta- (C) fahren geschleust werden? rischer Arbeit, die Gesetzgebung auf den Punkt zu bringen, sie zu straffen, sie auf das Wesentliche zu redu- Auf diesen offensichtlichen Anachronismus hat das zieren. Mit Debatten von gestern erhalten wir bürokrati- Familienministerium nun in bemerkenswerter Weise rea- schen Aufwand von gestern. giert. Man hat alle Betroffenen an einen Tisch geholt. Man hat das Gesetz gemeinsam vereinfacht und ent- Wenn wir jetzt nicht schnell den vom Bundesfamili- staubt. Als Ergebnis liegt uns eine Neuregelung vor, die enministerium eingeschlagenen Weg mitgehen, dann für alle Beteiligten eine Erleichterung bedeutet. Der Ge- wird das Verteidigungsministerium zum 1. Januar 2004 setzentwurf findet im Verteidigungsministerium genauso wieder Ausschüsse neu besetzen müssen, dann werden Zustimmung wie bei der Zentralstelle für Recht und die Kommunen ebenfalls neue Beisitzer wählen müssen, Schutz der Kriegsdienstverweigerer. dann werden die Kammern sich weiterhin mit aufwendi- gen Widerspruchsverfahren bemühen müssen. Kurz: Das Die Verantwortung für alle Anträge auf Kriegsdienst- ganze mühsame und überflüssige Verfahren würde wie- verweigerung soll jetzt dort liegen, wo sie hingehört: der neu in Gang gesetzt. Ich kenne niemanden, der das beim Bundesamt für den Zivildienst. Es wird keine pa- will. rallelen Strukturen zwischen Bundesamt und Verteidi- gungsministerium mehr geben. Damit wird ein enormer Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, bürokratischer Aufwand vollständig beseitigt und durch lassen Sie uns die erkennbare Einigkeit zur Neuregelung den Wegfall der Prüfungsausschüsse werden auch die des Kriegsdienstverweigerungsgesetzes nutzen. Lassen Kommunen finanziell und organisatorisch spürbar ent- Sie uns das Gesetz im parlamentarischen Verfahren lastet. Kurz: Hier werden Strukturen deutlich ver- schnell auf die Beine stellen! schlankt. Das neue Kriegsdienstverweigerungsgesetz wird 13 Paragraphen haben, das alte hat 23 Paragraphen. Thomas Dörflinger (CDU/CSU): Diese Bundesre- Dennoch wurden alle im Vorfeld geäußerten Bedenken gierung trifft auf eine konstruktive Opposition. Das wird im Gesetzentwurf berücksichtigt. So ist es jetzt auf An- sich auch heute in dieser Debatte um das von der Bun- regung des Deutschen Bundeswehrverbandes ausdrück- desregierung vorgelegte Kriegsdienstverweigerungsneu- lich vorgesehen, dass bei KDV-Anträgen von Zeit- und regelungsgesetz erweisen. Im Gegensatz zu Rot-Grün, Berufssoldaten eine Stellungnahme bei den Disziplinar- das hat sich ja heute Morgen in der Debatte um den Op- vorgesetzten eingefordert wird. Sollten dabei Unge- ferschutz gezeigt, lehnen wir Ihre Gesetzentwürfe nicht reimtheiten auftauchen, so kann das Bundesamt dem einfach ab, sondern wir sehen sie uns zunächst an, be- nachgehen. Mit dieser Lösung können alle leben und ein werten sie und fällen dann eine Entscheidung, ob das zu- befürchteter Missbrauch des Gesetzes wird verhindert. (B) stimmungsfähig ist oder nicht. (D) Aber auch für die übrigen Verfahren sieht der Gesetz- entwurf Veränderungen vor. Das sind ebenfalls Verände- Um es vorwegzunehmen: Der Kernpunkt des von Ih- rungen, mit denen das Gesetz unserer heutigen Zeit an- nen heute eingebrachten Gesetzesentwurfs ist berechtigt. gepasst wird. Allein die geschlechtergerechte Aus- Da die Gewissensprüfung im herkömmlichen Sinne formulierung des Gesetzes berücksichtigt endlich auch heute nicht mehr stattfindet, sind die Ausschüsse und hier, dass Frauen in der Bundeswehr mittlerweile zur Kammern zur Abnahme dieser Prüfung im Grunde obso- Normalität unserer Gesellschaft gehören. Genauso ist let. Und es ist berechtigt, Überlegungen anzustellen, wie der unnötige finanzielle Aufwand für Kriegsdienstver- man zu einer Vereinfachung des Verfahrens kommen weigerer, grundsätzlich ein polizeiliches Führungszeug- kann. nis vorlegen zu müssen, nicht mehr angemessen. Das Allerdings: Nach über vier Jahren Erfahrung rot-grü- wird zukünftig nur noch im Zweifelsfall vonnöten sein. ner Regierungspolitik sind berechtigte Zweifel ange- Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung bracht, wenn Rot-Grün zum Bürokratieabbau ansetzt. spiegelt die gesellschaftliche Einstellung zur Kriegs- Die Tatsache, dass ein Gesetz nach der Novelle weniger dienstverweigerung wider. Verabschieden wir uns end- Paragraphen hat als vorher, ist nämlich per se noch kein lich vom Verfahren der zweifelhaften Gewissensprü- Ausweis dafür, dass tatsächlich Bürokratieabbau stattge- fung, von einem Verfahren, das aus Zeiten stammt, die funden hat. wir Gott sei Dank hinter uns gelassen haben! Zeigen wir Ich will hierfür zwei konkrete Beispiele nennen und den jungen Menschen, dass sie mündige Bürger inner- gleichfalls auch Verbesserungsvorschläge unterbreiten: halb unserer Zivilgesellschaft sind, dass sie sehr wohl vor ihrem Gewissen entscheiden können, in welcher Erstens. Mir leuchtet nicht ein, weshalb künftig bei Form sie sich als Bürger in unserer Gesellschaft engagie- der Antragstellung auf Kriegsdienstverweigerung die ren wollen. Wir wollen, dass unsere Jugend eine freie Vorlage eines Führungszeugnisses unterbleiben soll. Das Entscheidung über die Form ihres gesellschaftlichen hat gar nichts mit pauschalen Verdachtsmomenten zu Dienstes trifft. Dabei darf nicht das Hinterfragen dieser tun. Wenn das Führungszeugnis auch künftig Bestandteil Entscheidungen im Vordergrund unseres politischen des Antrags wäre, könnten wir uns Abs. 3 des § 6 im Ge- Handelns stehen. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, die setzesentwurf sparen, der sich nämlich damit beschäf- Attraktivität der verschiedenen Dienste zu erhalten und tigt, dass das Bundesamt ein Führungszeugnis anfordern auszubauen. Davon profitieren die zivilen Dienste ge- kann. Das wäre ein Beitrag zur Verwaltungsvereinfa- nauso wie die Bundeswehr. chung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3625

(A) Zweitens. Es wäre sinnvoll, wenn zukünftig der An- uns auch auf ein Abo der „Süddeutschen“ verständigen, (C) tragseingang ausschließlich beim Kreiswehrersatzamt das dann aber die Bundesregierung bezahlen müsste. angesiedelt wäre und die Möglichkeit, nach einer Frist- verlängerung den Antrag direkt beim Bundesamt zu stel- Das ist nicht nur eine Missachtung des Parlaments len, entfiele. Wir könnten hierdurch auf die Abs. 2 und 3 und seiner Ausschüsse, das schafft auch ein Klima der des § 2 verzichten. In der Praxis bedeuteten die Vorga- fortgesetzten Verunsicherung bei allen Beteiligten. Trä- ben des Gesetzesentwurfs nämlich, dass ein Teil der Per- ger und Zivildienstleistende brauchen wenigstens eine sonalakte beim Kreiswehrersatzamt und ein Teil beim mittelfristige Planungssicherheit, ansonsten wird man Bundesamt eingeht, weshalb dann ein umständliches Zu- sich aus der Beschäftigung von Zivildienstleistenden sammenführen notwendig wird. Auch hier also ein kon- verabschieden. kreter Vorschlag von uns zur Verwaltungsvereinfachung. In jedem Wahlkreis gibt es mittlerweile junge Män- Drittens. Auch bei diesem Gesetzesentwurf gelten die ner, die auf ihre Einberufung warten, aber nicht einberu- Grundsätze der Haushaltsklarheit und -wahrheit. So fen werden – mit allen negativen Konsequenzen in der muss betont werden, dass die in Rede stehenden 66 Plan- Lebensplanung der jungen Leute. Eine Lehrstelle finden stellen im Bundesministerium der Verteidigung nicht diese jungen Männer aber auch nicht, da wir in Deutsch- eingespart werden, sondern eine andersartige Verwen- land grassierenden Lehrstellenmangel haben. Wenn von dung finden. Freilich: Mögliche Anhörungen werden im diesen jungen Männern der eine oder andere angesichts Zweifelsfall nicht durch das Kreiswehrersatzamt, son- dieser Situation den Glauben an Politik und Staat zu ver- dern direkt durch das Bundesamt vorgenommen. Das lieren droht, dann habe ich hierfür Verständnis. provoziert Mehrkosten alleine schon durch die Fahrtkos- tenerstattungen vom Heimatort nach Köln. Das mag in Ich würde mir wünschen, dass Sie in der Zivildienst- der Summe – noch – keine große Zahl sein; es müsste politik zu einem ehrlichen Verfahren zurückkehren. Las- aber wenigstens in der Begründung zu diesem Gesetz er- sen Sie uns die Dinge einmal wertneutral betrachten: wähnt werden. Das ist nicht der Fall und dies bemängeln Durch den Einspruch des Bundesrates reagierte das wir. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Ich hoffe, dass wir in den Ausschussberatungen zu ei- Jugend mit einer Verschärfung der Kontingentierung. nem vernünftigen Verfahren kommen können und Sie Mittlerweile hat der Deutsche Bundestag, haben Sie mit ausnahmsweise die Vorschläge der Opposition nicht nur der Kanzlermehrheit diesen Einspruch zurückgewiesen. deswegen ablehnen, weil sie von der Opposition stam- Logische Folge müsste also sein, dass die Verschärfung men. der Kontingentierung wieder zurückgenommen wird. (B) Das genau erfolgt aber nicht, was zur Konsequenz hat, (D) Eine solche Debatte muss aber auch Anlass sein, ei- dass die Träger gegenwärtig nicht einstellen, weil sie um nige Worte zur gegenwärtigen Situation im Zivildienst ihr Kontingent im nächsten Herbst fürchten. So lässt zu verlieren. Dabei geht es nicht darum, die Lage unnö- man junge Menschen in der Luft hängen; das ist rot-grü- tig verbal zu dramatisieren; sie ist dramatisch genug. Ex- nes Chaos pur. emplarisch hierfür steht eine Meldung der „Stuttgarter Zeitung“ von heute, wo unter der Überschrift „Keine Be- Hier geht es nicht einfach nur um Verwaltungsarbeit, treuung ohne Zivis“ der Körperbehindertenverein Stutt- die man so oder auch anders machen könnte. Hier geht gart darstellt, dass er in den vergangenen Jahren Som- es um das Schicksal von Pflegebedürftigen und Behin- merfreizeiten und Fahrdienste reduzieren musste und derten. Hier geht es um die Lebensplanung junger Leute. eine ganz bittere Situation fürchtet, wenn die Wehr- Hier geht es darum, dass die Bundesregierung endlich pflicht und damit auch der Zivildienst fiele. ihre Hausaufgaben macht und ein verlässliches Konzept für Wehrdienst und Zivildienst vorlegt, das nicht nur die Genau diese Frage, nämlich die Zukunft des Zivil- Halbwertszeit anderer Jahrhundertreformen dieser Koa- dienstes, war Gegenstand der Ausschusssitzung vom lition hat. 8. April diesen Jahres. Gestützt auf eine Meldung der „Süddeutschen Zeitung“ vom gleichen Tag, nach der in der Bundesregierung eine Entscheidung getroffen wor- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den sei, Wehrpflicht und Zivildienst auf sechs Monate zu Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen begrüsst die verkürzen, fragte ich die Parlamentarische Staatssekretä- Neuregelung des Kriegsdienstverweigerungsgesetzes rin Riemann-Hanewinckel, was es denn damit auf sich ebenso wie alle Verbände, die sich seit Jahren für die habe und weshalb der Ausschuss hierüber nicht infor- Kriegsdienstverweigerer und ihre Rechte einsetzen. Mit miert werde. Die Antwort lautete seinerzeit sinngemäß, diesem Gesetz wird nicht nur eine beträchtliche gesetz- dass die Berichterstattung der „Süddeutschen Zeitung“ liche Vereinfachung erreicht – von bisher 23 Paragra- einer realen Grundlage entbehre. In der gleichen Zeitung phen bleiben nur noch 13, mit diesem Gesetz endet eine vom 5. Mai diesen Jahres läßt sich nun der SPD-Vertei- fragwürdige Regelung, die über Jahrzehnte das Grund- digungspolitiker Arnold mit der Forderung vernehmen, recht auf Kriegsdienstverweigerung überschattete: Das den Wehrdienst auf sechs Monate zu verkürzen. Und mündliche Verfahren zur Prüfung der KDV-Gewissens- heute nachmittag erfahre ich, dass die Ministerin dem entscheidung wird vollständig abgeschafft, die Aus- Ausschuss am 4. Juni die Ehre geben wird. Ich frage schüsse und Kammern für Kriegsdienstverweigerung ent- mich, ob wir dann endlich erfahren, was denn eigentlich fallen. Bis 1983 mussten Hunderttausende junger Männer im Zivildienst Sache sein wird. Ansonsten könnten wir ihre Gewissensentscheidung vor diesen Einrichtungen 3626 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) rechtfertigen, seitdem noch verweigernde Einberufene, heitliche Regelung des Anerkennungsverfahrens auch (C) Soldaten und Reservisten. für Berufssoldaten, Soldatinnen und Soldaten auf Zeit gefunden wurde, ist richtig. Diese Prüfverfahren wurden immer wieder als frag- würdig, zum Teil inquisitorisch erfahren. Es blieb eine In den Beratungen im Ausschuss werden wir zu prü- Unmöglichkeit, Gewissen zu prüfen. Das mündliche fen haben, ob das Kriegsdienstverweigerungsverfahren Verfahren erwies sich auch als auffällig willkürlich. Auf so ausgestaltet ist, dass eine ernsthafte Gewissensent- meine Fragen hin teilte das Verteidigungsministerium im scheidung des Kriegsdienstverweigerers nachvollziehbar August letzten Jahres mit, dass die Anerkennungsquoten ist. extrem schwanken: zwischen 23 Prozent und 95 Prozent bei Ausschüssen, zwischen 36 Prozent und 83 Prozent Erfreulich ist, dass durch dieses Gesetz – das sicher bei den Kammern. Die „taz“ titelte zu Recht: „Die Wehr- unter anderem auch durch den Kostendruck auf die öf- pflicht verliert eine Schikane.“ fentlichen Kassen mit ausgelöst ist – 66 Planstellen ge- strichen werden und nur sieben neue Stellen im Bundes- Weitere Bestimmungen des Gesetzentwurfes sind: amt für Zivildienst eingerichtet werden. Vereinfachung des schriftlichen Verfahrens; abgelehnte Kriegsdienstverweigerer werden nicht mehr auf den Kla- Dass durch dieses Gesetz auch bei den Kommunen geweg verwiesen, sondern können zunächst Wider- eine Entlastung, finanziell und organisatorisch, stattfin- spruch einlegen, ohne gleich ein Kostenrisiko einzuge- den wird, begrüße ich. hen. Besonders wichtig ist für uns die Neuregelung, dass Was für mich nicht nachvollziehbar ist: Erst drei Mo- nach dem neuen Recht auch Frauen, die Zeit- und Be- nate nach Verabschiedung des Gesetzes soll es in Kraft rufssoldatinnen sind, den Kriegsdienst verweigern kön- treten. Warum? Das Bundesamt für den Zivildienst muss nen. Hiermit wurde eine Rechtsunsicherheit im alten Ge- keine neuen Strukturen für die Bearbeitung von Anträ- setz beseitigt. gen aufbauen. Diese Strukturen existieren bereits. Das Das Gesetz erbringt Einsparungen in Millionenhöhe. Bundesamt für den Zivildienst ist sicherlich in der Lage, Die heutige Einbringung der KDV-Neuregelung erregt kurzfristig Stellen umzuschichten, ohne dass es zu Bear- kein besonderes Aufsehen mehr. Nichtsdestoweniger beitungsengpässen kommt. Wir werden hoffentlich recht sind wir froh, dass endlich umgesetzt wird, was die Grü- zügig in unserem Ausschuss das Gesetz prüfen und bera- nen seit vielen Jahren gefordert haben. ten.

Vor kurzem gab das Verteidigungsministerium verän- Christel Riemann-Hanewinckel, Parl. Staatssekretä- derte Einberufungsregeln für Wehrpflichtige bekannt, rin bei der Bundesministerin für Familie, Senioren, (B) mit denen Rücksicht auf Familie und Ausbildung ge- Frauen und Jugend: „Niemand darf gegen sein Gewis- (D) nommen und die Heranziehungsgrenze auf 23 Jahre ge- sen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen wer- senkt wird. Auch das sind Erleichterungen für Wehr- den“. So ist im Grundgesetz Art. 4 Abs. 3 das Kriegs- pflichtige, die zugleich weitere Schritte weg von der dienstverweigerungsrecht formuliert. Der Staat muss allgemeinen Wehrpflicht sind. Wenn nun weitere Ver- dieses Recht des Einzelnen in Gesetzesform bringen. kürzungen des Wehrdienstes auf sechs, gar vier Monate Das ist zum letzten Mal 1983 geschehen, als die Regula- erwogen werden, dann stellt sich immer dringlicher die rien für Anträge und Anerkennung und den zivilen Er- Frage, wem eine solche Wehrpflicht noch nützt, ob sie satzdienst neu gefasst wurden. Damals galten Kriegs- für Bundeswehr, Wehrpflichtige, Zivildienststellen nur dienstverweigerer als „Drückeberger“, die durch noch kontraproduktive Last ist. Statt eine Fiktion von verschiedene Etappen ihre Gewissensentscheidungen Wehrpflicht aufrechtzuerhalten, ist es an der Zeit zu verteidigen mussten. Heute sind Zivildienstleistende an- überlegen, wie eine Freiwilligenarmee sinnvoll gestaltet gesehene engagierte junge Männer, deren Einsatz dank- werden kann. Alles andere bleibt ein Herumdoktern. Wir bar gewürdigt wird. Von ihrem heutigen Stellenwert im brauchen aber Mut zur Reform. sozialen Netz hätte vor zwei Jahrzehnten niemand zu träumen gewagt. Ina Lenke (FDP): Uns liegt heute der Gesetzentwurf vor, der zum Inhalt hat, dass über die Berechtigung, den Nach 20 Jahren ist es Zeit, die Regularien den Realitä- Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, jetzt das Bun- ten anzupassen, ein einheitliches Verfahren für alle An- desamt für den Zivildienst entscheiden soll. tragstellerinnen und Antragsteller einzuführen, das von einer Stelle, dem Bundesamt für den Zivildienst, durch- Der Antrag auf Kriegsdienstverweigerung ist voll- geführt wird. Das heißt für die Zukunft: keine entspre- ständig, wenn ein Lebenslauf und eine persönliche Er- chenden Kammern und Ausschüsse bei den Kreiswehr- klärung über die Beweggründe für die Gewissensent- ersatzämtern und auch keine Führungszeugnisse mehr. scheidung des Antragstellers oder der Antragstellerin beigefügt werden. Ich sehe in der Bündelung der jetzt Der Stellenwert des Grundrechts auf Kriegsdienstver- noch unterschiedlichen Anerkennungsverfahren eine weigerung in der konkreten gesellschaftlichen Umset- Verbesserung. zung wurde noch einmal sehr klar, als bei den Verhand- lungen zum Einigungsvertrag auch über das KDVG Diesem Gesetz ist grundsätzlich zuzustimmen, denn verhandelt wurde. Denn obwohl es auch in der DDR es erleichtert die Kriegsdienstverweigerung für bereits schon seit 1964 die Möglichkeit gab, als Bausoldat den Einberufene oder für von der bevorstehenden Einberu- Dienst mit der Waffe zu umgehen, wurde eine solche fung unterrichtete Wehrpflichtige. Dass jetzt eine ein- Entscheidung gegen den regulären Dienst in der Volks- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3627

(A) armee als Gesellschaftskritik gewertet und hatte für den heit, sich innerhalb eines Monats zu den Zweifeln ergän- (C) Verweigerer weitreichende negative Folgen. zend schriftlich zu äußern und die Angaben zu belegen. Führt diese schriftliche Anhörung nicht zu einer Beseiti- Sie wissen, dass die Beratungen über den Einigungs- gung der Zweifel, kann das Bundesamt zu einer münd- vertrag zu Änderungen beim Verfahren zur Anerken- lichen Anhörung laden. nung von Soldaten als Kriegsdienstverweigerer geführt haben. Seitdem wurde in der Regel auch beim Aus- Widersprüche gegen Entscheidungen werden künftig schussverfahren nach Aktenlage über den Kriegsdienst- ebenfalls im Bundesamt bearbeitet werden, bevor als verweigerungsantrag entschieden. Dies war für alle An- weiterer Schritt der Rechtsweg offen steht. tragsteller ein erheblicher Fortschritt und eine Verfahrenserleichterung. Es war aber vor allem ein be- In Zukunft soll für ungediente Wehrpflichtige keine deutender Fortschritt, als 1990 das Kriegsdienstverwei- Pflicht mehr bestehen, als Bestandteil ihres Kriegs- gerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland auch in dienstverweigerungsantrags ein Führungszeugnis vorzu- den neuen Ländern Einzug hielt. legen. Die Praxis hat gezeigt, dass dieses Zeugnis nur bei wenigen Ablehnungen im Verfahren eine Rolle gespielt Dass wir heute eine Neuordnung dieses so erfolgrei- hat. In Zweifelsfällen kann ein Führungszeugnis selbst- chen Gesetzes planen, hat dementsprechend nicht etwa verständlich jederzeit beim Bundeszentralregister ange- den Grund, dass wir Altbewährtes abschaffen wollten, fordert werden. In Zukunft muss also neben der Antrags- im Gegenteil. Aus den positiven Erfahrungen des verein- formulierung nur noch die ausführliche persönliche fachten Verweigerungsverfahrens im Bundesamt für den Zivildienst haben wir den Schluss gezogen, dass wir Darlegung der Beweggründe für die Gewissensentschei- weitere Schritte in diese Richtung gehen und so der heu- dung sowie ein Lebenslauf vorgelegt werden. tigen, veränderten Gesamtlage Rechnung tragen können. Auch Frauen, die als Berufs- oder Zeitsoldatinnen Wir sind uns mit dem Bundesminister der Verteidi- Waffendienst leisten oder Reservistinnen sind, können gung einig, dass einer Vereinheitlichung des Kriegs- einen Kriegsdienstverweigerungsantrag stellen. Wir ha- dienstverweigerungsverfahrens für alle Verweigerer ben im Zuge dieser neuen Konstellation das gesamte nichts mehr im Wege steht. Auch über die Anträge von Kriegsdienstverweigerungsgesetz geschlechtergerecht Zeit- und Berufssoldaten, Reservisten und Wehrpflich- formuliert. tigen mit Einberufungsbescheid soll in Zukunft im Bun- Ich fasse zusammen: Der vorliegende Gesetzentwurf desamt für den Zivildienst entschieden werden, wie bis- her schon bei den ungedienten Wehrpflichtigen. zur Neuregelung des Kriegsdienstverweigerungsrechts vereinheitlicht das Verfahren der Kriegsdienstverweige- Damit werden die bisher bei den Kreiswehrersatzäm- rung für Soldatinnen, Soldaten, Reservistinnen, Reser- tern bestehenden Kammern und Ausschüsse für Kriegs- (B) visten, Grundwehrdienstleistende, Wehrpflichtige mit (D) dienstverweigerung überflüssig. Die entsprechenden Einberufungsbescheid und ungediente Wehrpflichtige. Planstellen im Bereich des Bundesministeriums der Ver- Er greift dabei auf das seit 20 Jahren mit Erfolg durch teidigung werden für diese Aufgaben nicht mehr benö- das Bundesamt für den Zivildienst praktizierte Prüfungs- tigt. Dem sich daraus ergebenden Finanzvolumen von verfahren zurück, das in sich weiter vereinfacht wird. rund 2,4 Millionen Euro pro Jahr steht ein signifikant ge- Aus 23 Paragraphen werden in Zukunft 13. Das bedeu- ringerer Mehrbedarf auf Seiten des Bundesamtes für den tet, dass wir Bewährtes beibehalten, während wir gleich- Zivildienst gegenüber. Hinzu kommt, dass nunmehr der zeitig zum Abbau überflüssiger Bürokratie und zur Ent- organisatorische Aufwand der Kommunen für die regel- lastung der Haushalte von Bund und Kommunen mäßige Wahl von circa 5 000 Beisitzerinnen und Beisit- beitragen. Das neue Verfahren entspricht der Zielsetzung zern sowie deren Vertreterinnen und Vertretern für die des schlanken Staates und bürgerfreundlicher Verwal- Ausschüsse und Kammern für Kriegsdienstverweige- tung, indem es für die Anwender übersichtlicher und rung entfällt. Auch dadurch ergeben sich erhebliche Ein- leichter handhabbar wird. Die geschlechtergerechte Neu- sparungen, die hier im Einzelnen aber nicht beziffert formulierung des Gesetzes rundet das Vorhaben ab. Da- werden können. Und darüber hinaus: Wir bauen für alle Beteiligten Bürokratie in beträchtlichem Umfang ab. mit haben wir das Kriegsdienstverweigerungsrecht zu- kunftsfähig gemacht. Ich bitte deshalb um Ihre Wichtig ist Folgendes: Auch nach dem neuen Recht Unterstützung dieses Gesetzentwurfs. kann der Kriegsdienst einzig und allein aus Gewissens- gründen verweigert werden. Dabei bleibt es. Wie bisher wird eine Antragstellerin oder ein Antragsteller als Anlage 4 Kriegsdienstverweigerin bzw. Kriegsdienstverweigerer anerkannt, wenn der Antrag vollständig ist, die dargeleg- Zu Protokoll gegebene Reden ten Beweggründe das Recht auf Kriegsdienstverweige- rung zu begründen geeignet sind und keine Zweifel an zur Beratung der Unterrichtung durch die Bun- der Wahrheit der Angaben der Antragstellerin oder des desregierung: Vorschlag für eine Verordnung Antragstellers bestehen. Ist ein Antrag nicht vollständig, des Europäischen Parlaments und des Rates so bleibt es bei der bisherigen Rechtslage. Zunächst for- über Detergenzien dert das Bundesamt für den Zivildienst die Antragstelle- (Tagesordnungspunkt 7) rin oder den Antragsteller auf, innerhalb einer Frist von einem Monat den Antrag zu vervollständigen. Hat das Heinz Schmitt (Landau) (SPD): Das Europäische Bundesamt Zweifel an der Wahrheit der Angaben, gibt Parlament und der Europäische Rat haben einen Vor- es der Antragstellerin oder dem Antragsteller Gelegen- schlag für eine Verordnung zu Detergenzien vorgelegt. 3628 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) Mit diesem Verordnungsvorschlag hat sich auch der Um- aus unserer Sicht aus Gründen des Gesundheits- und (C) weltausschuss befasst. Verbraucherschutzes sowie aus umweltpolitischen Grün- den nicht wünschenswert. Wir begrüßen daher die Be- Detergenzien, das hört sich weder appetitlich, noch mühungen und den Einsatz der Bundesregierung für die besonders bedeutsam an. Aber es handelt sich dabei um Wahrung und den Erhalt des deutschen Schutzniveaus. Substanzen, mit denen die meisten von uns tagtäglich umgehen. Detergenzien – dieser Begriff wird hier Ein zweiter Kritikpunkt betrifft die Vereinbarkeit des gleichbedeutend mit Tensiden gebraucht – findet man neuen Verordnungsvorschlags mit anderen europäischen vorwiegend als Komponenten von Wasch- und Reini- Regelungen bzw. Gesetzgebungsvorhaben. So ist der gungsmitteln. Verordnungsvorschlag für Detergenzien zum Beispiel Die Größenordnung, mit der wir es zu tun haben, nicht ausreichend mit den Vorschriften der EG-Wasser- kann man an Zahlen festmachen: Im Jahr 2000 wurden rahmenrichtlinie oder der EG-Biozidverordnung abge- allein in Deutschland 5 600 neue Wasch- und Reini- stimmt. gungsmittel auf den Markt gebracht. Die Gesamtzahl Zusätzlichen Abstimmungsbedarf sehen wir auch in dieser Produkte in Deutschland beläuft sich auf 56 000. Hinblick auf umfassendere Neuregelungen im Bereich 1 Million Tonnen Wasch- und Reinigungsmittel werden der Chemiepolitik. Gegenwärtig steht das Weißbuch zur bei uns pro Jahr verbraucht. Diese Substanzen sind also Chemiepolitik auf der europäischen Tagesordnung, mit in unserem Alltag allgegenwärtig. dem die europäische Chemiepolitik insgesamt neu gere- Nach Gebrauch gelangen diese Stoffe üblicherweise gelt werden soll. Ziel der neuen europäischen Chemie- in großen Mengen in Abwässer und Gewässer. Von da- politik ist die Gewährleistung eines hohen Schutzni- her ist die Regelung des Umgangs mit diesen Substanzen veaus für menschliche Gesundheit und Umwelt durch von hoher umweltpolitischer Bedeutung. die Einführung eines neuen Kontrollsystems – das so ge- nannte REACH-System. Das Kürzel REACH steht für Die vorliegenden Vorschläge des Europäischen Parla- Registration, Evaluation, Authorisation of Chemicals. ments und des Rates zielen zusammengefasst auf zwei Ziele ab: Der freie Warenverkehr für Detergenzien im Es geht darum, zukünftig neue und alte Stoffe, die auf europäischen Binnenmarkt soll verwirklicht werden. den Markt kommen bzw. schon eingeführt sind, ab einer Außerdem soll der Schutz der Umwelt durch geänderte bestimmten Mengenschwelle zu registrieren, zu bewer- Prüfungsvorgaben und Vorschriften für die Verwendung ten und in bestimmten Fällen auch einem Zulassungsver- von Tensiden verbessert werden. fahren zu unterziehen. Hierunter fallen auch Wasch- und Reinigungsmittel, sodass aus unserer Sicht eine Harmo- Die Initiative des Europäischen Parlaments und des nisierung der Regelungen für Detergenzien mit den Vor- (B) Rates beinhaltet deutliche Fortschritte gegenüber bishe- gaben des Weißbuchs zur Chemiepolitik wünschenswert (D) rigen Regelungen auf europäischer Ebene. Dies ist wäre. grundsätzlich zu begrüßen. Dennoch sehen wir Klä- rungsbedarf hinsichtlich der Tatsache, dass der vorlie- Schließlich befasst sich der vorliegende Verordnungs- gende Verordnungsentwurf auf europäischer Ebene in ei- vorschlag mit dem Umgang mit Duftstoffen in Detergen- nigen Punkten gegenüber dem deutschen Recht zien. Hier wird eine Kennzeichnung von Duftstoffen zurückbleibt. In Deutschland dürfen solche Substanzen vorgeschlagen, was wir grundsätzlich begrüßen. Dies ist nach dem Wasch- und Reinigungsmittelgesetz nur so in ein Schritt in die richtige Richtung. Wir sehen aber auch den Verkehr gebracht werden, dass eine vermeidbare Be- in diesem Punkt noch Handlungsbedarf, da es im Um- einträchtigung der Gewässer unterbleibt. gang mit Duftstoffen bisher keine Offenlegungspflicht – auch nicht nach deutschem Recht – gibt. Auch sind die Konkretisiert wird das Wasch- und Reinigungsmittel- toxikologischen und ökotoxikologischen Eigenschaften gesetz durch spezielle Verordnungen für Tenside und von Duftstoffen nicht oder nicht ausreichend bekannt. durch die Regelung von Phosphathöchstmengen. Ten- Für diese Stoffe sind möglicherweise vorhandene Risi- side müssen durchschnittlich zu mindestens 90 Prozent ken für die Gesundheit von Verbrauchern und Arbeitneh- biologisch abbaubar sein; für Waschmittel ist eine Ober- mern nicht hinreichend geprüft und bewertet. Auch hier grenze für den Phosphatgehalt festgelegt. sehen wir noch Handlungsbedarf. Ergänzt werden diese Regelungen durch bestehende Der Verordnungsvorschlag für Detergenzien des Eu- Selbstverpflichtungen deutscher Industrieverbände zur ropäischen Parlaments und des Rates bringt in einigen Reduzierung der Gewässerbelastung. Und schließlich Bereichen Fortschritte und weist in die richtige Rich- wird beim Umweltbundesamt ein Produktregister ge- tung. In der vorliegenden Form würde dies aber für führt, in dem die Rezepturen für Wasch- und Reini- Deutschland in einigen Bereichen einen Rückschritt hin- gungsmittel hinterlegt werden müssen. Dies ist ein wich- ter geltende Regelungen bedeuten. Aus diesem Grund tiges Instrument zur Unterstützung des Gesetzesvollzugs begrüßen und unterstützen wir den Einsatz der Bundes- in den Ländern. regierung für die Wahrung des hohen deutschen Um- Wir haben also in Deutschland in Bezug auf Deter- welt- und Verbraucherschutzniveaus für Wasch- und genzien ein sehr hohes Schutzniveau für die menschliche Reinigungsmittel. Gesundheit und die Umwelt erreicht. Wir halten es für sinnvoll und regen an, seitens der Gegenüber diesen strengen deutschen Auflagen bleibt Bundesregierung darauf hinzuwirken, in der Detergenzi- der vorliegende Verordnungsvorschlag zurück. Dies ist enverordnung eine Vorgehensweise analog zur neuen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3629

(A) Chemiepolitik aufzunehmen und umzusetzen. Die Ziele Ich frage Sie also: Tut eine solche Verschärfung der (C) des Weißbuches für eine neue Chemiepolitik sollten Anforderungen wirklich Not? Bringt sie tatsächlich eine auch auf den Umgang mit Detergenzien übertragen wer- Verbesserung des Schutzes von Mensch und Umwelt mit den. Damit wäre ein umfangreicher Verbraucher- und sich? Arbeitnehmerschutz zu erreichen. Die Bundesregierung scheint nicht unbedingt dieser Ansicht zu sein. Warum sonst hat sie sich im europäi- Marie-Luise Dött (CDU/CSU): Detergenzien – Was schen Gesetzgebungsprozess so defensiv verhalten? ist das überhaupt? Hinter diesem Fachbegriff verbergen sich nichts anderes als Wasch- und Reinigungsmittel, Bei den steigenden Anforderungen für den Abbau letztlich also nichts anderes als die täglich verwendete von Detergenzien ist auch darauf zu achten, dass diese Seife. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wieder: Über zusätzlichen Anforderungen für die betroffenen Unter- 800 000 Tonnen Waschmittel inklusive Spezialwasch- nehmen wirtschaftlich vertretbar bleiben. mitteln und Weichspülern werden jährlich in Deutsch- land verbraucht. Jeder Einwohner verwendet fast 8 kg Manche Unternehmen, die mit schwer abbaubaren Waschmittel im Jahr. Spezialreinigern arbeiten, können diese Werte nicht er- reichen. Die für sie geschaffenen Ausnahmeregelungen Diese Zahlen machen deutlich, dass der vorgelegte helfen da nicht weiter, weil sie eine ergänzende Risiko- Verordnungsentwurf über den Endabbau von Detergen- bewertung durchlaufen müssen, die umfangreich und zien nicht nur Auswirkungen auf die Umwelt, sondern aufwendig ist. Das heißt für den Mittelstand: zusätzliche auch auf die Wirtschaft – nämlich den ganzen Wirt- Kosten und zusätzlicher bürokratischer Aufwand. Unter schaftszweig der Wasch- und Reinigungsmittelhersteller – dem Strich belastet dieses Verfahren vor allem die klei- hat. nen und mittelständischen Unternehmen, die nur geringe Waschmittel lösen Schmutz und Dreck. Das ermögli- Mengen an Reinigungsmittel verbrauchen, aber das glei- chen die ihnen zugefügten Tenside, indem sie die Ober- che Verfahren durchlaufen sollen wie Großverschmut- flächenspannung des Wassers herabsetzen. Die Durch- zer. Kosten und Nutzen sollen hier gegeneinander abge- dringung der Gewebe wird dadurch verbessert und wogen werden. Hierfür muss sich die Bundesregierung Schmutz abgelöst. einsetzen! Wenn Tenside allerdings in das Grundwasser und an- Leider habe ich wenig Hoffnung, Herr Trittin, dass dere Gewässer gelangen, wirken sie auch auf biologi- Sie sich in den kommenden EU-Verhandlungen für die sche Oberflächen, wie zum Beispiel Zellmembranen von deutschen Unternehmen einsetzen werden. Trotzdem Wasserorganismen. (B) möchte ich Sie ausdrücklich dazu auffordern! Lasten Sie (D) Damit Tenside in Gewässern keine Konzentration er- den mittelständischen Betrieben nicht noch mehr auf, sie reichen, die für die dort lebenden Tiere und Organismen gehen sonst für den deutschen Arbeitsmarkt verloren! eine ernste Gefahr darstellen können, wurden in der EU Der vorgelegte EU-Verordnungsentwurf hat durchaus fünf europäische Richtlinien zur biologischen Abbaubar- richtige Ansätze. Besonders positiv bewerte ich, dass er keit von Tensiden entwickelt. endlich Schluss machen soll mit dem unsinnigen und un- Die Umweltverträglichkeit wird dabei davon abhän- übersichtlichen Regelwerk von fünf verschiedenen gig gemacht, wie schnell und in welchem Umfang sich Richtlinien und diese in einer Verordnung zusammenfas- Tenside biologisch abbauen lassen. Das heißt: Bisher ist sen will. die so genannte Primärabbaubarkeit der Tenside aus- schlaggebend. In dieser ersten Phase des Abbaus verliert Die EU hat das Problem erkannt: Bei der Fülle von das Tensid seine oberflächenaktive Eigenschaft und ver- Richtlinien und Verordnungen kann kein Unternehmer, liert in der Regel seine Giftigkeit. Daran knüpft das gel- geschweige denn ein Bürger, noch die auf ihn zutreffen- tende deutsche Recht an und schreibt bislang eine Pri- den Regelungen überblicken. Aus dieser Überlegung märabbaubarkeit von 90 Prozent vor. sollte die Bundesregierung auch für sich die richtigen Schlüsse ziehen. Wie der Name es schon ausdrückt, ist die Primärab- baubarkeit allerdings nur der erste Schritt beim Abbau So stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, der Tenside eines Waschmittels. Der vorgelegte und wie mit dem deutschen Wasch- und Reinigungsmittelge- heute zu diskutierende EU-Verordnungsentwurf fokus- setz umzugehen ist. Der Anwendungsbereich des Geset- siert dagegen ausschließlich den Endabbau der Tenside zes überschneidet sich mit dem der EU-Verordnung, die zu Kohlendioxid und Wasser. Er schreibt eine Endabbau- wir heute diskutieren. Die Bundesregierung muss daher barkeit von 60 Prozent vor. prüfen, ob und welche Existenzberechtigung das deut- sche Wasch- und Reinigungsmittelgesetz noch hat. Die Meine Damen und Herren, trotz der geringeren abso- Möglichkeit, überflüssiges Gesetzeswerk zu streichen luten Zahl von 60 Prozent gegenüber 90 Prozent darf und damit einen Schritt zu weniger Bürokratie und bes- nicht übersehen werden, dass es sich hierbei um eine serer Übersichtlichkeit zu machen, sollte in jedem Fall Verschärfung der Anforderungen handelt! genutzt werden! Durch eine EU-einheitliche Regelung Die neue EU-Forderung eines Endabbaus von min- werden die Standards angepasst und Wettbewerbsver- destens 60 Prozent ist erheblich anspruchsvoller als die zerrungen im europäischen Raum wird damit vorge- aktuell geforderte Primärabbaubarkeit von 90 Prozent. beugt. 3630 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) Völlig offen ist aber noch der Punkt der Vereinbarkeit In dem Vorschlag für eine europäische Verordnung ist (C) der Verordnung mit dem neuen Chemikalienrecht der die Einführung einer neuen Testmethode vorgesehen. EU. Diese neue Methode ist für alle Tenside geplant, das heißt auch für diejenigen, für die derzeit die Durchfüh- Wie Sie sehen, lässt der Verordnungsvorschlag, trotz rung von Tests noch nicht geregelt ist. Diese Methode seiner positiven Ansätze noch zu viele Fragen offen und bezieht sich auf die Prüfung der biologischen End- ist an einigen Stellen verbesserungsfähig. abbaubarkeit. Dabei soll eine Mindestbioabbaurate von Ich hoffe, dass die Bundesregierung ihr bisher zur 60 Prozent des Tensids in einem Zeitraum von 28 Tagen Schau gestelltes relatives Desinteresse an dieser Gesetz- erzielt werden. Mit anderen Worten: Diese Testverfahren gebung aufgibt und in den Bereichen Deregulierung, sind wesentlich anspruchsvoller als die bisherigen. wirtschaftliche Verträglichkeit und Vereinbarkeit des Diese Verschärfung der Testverfahren kann für einige EU-Rechts mit deutschem Recht in dem vorgetragenen Unternehmen weitreichende wirtschaftliche Folgen mit Sinne tätig wird! sich bringen: Große Unternehmen dürften weniger Schwierigkeiten haben, die Bestimmungen des Entwur- Eberhard Gienger (CDU/CSU): Die EU-Kommis- fes anzuwenden, auch die Prüfung aller Inhaltstoffe sion hat den Entwurf einer EU-Verordnung über Deter- sollte kaum ein Problem für Großunternehmen darstel- genzien vorgelegt, die die bisherige Waschmittelrichtli- len. Das gilt aber nicht für kleine und mittelständische nie sowie eine Empfehlung über die Kennzeichnung von Unternehmen, die Spezialreinigungen, wie beispiels- Wasch- und Reinigungsmitteln ersetzen soll. Die Verord- weise zur Reinigung von Molkereigeräten, Flaschenrei- nung soll nach ihrem Beschluss in allen Mitgliedstaaten nigung oder Reinigung von Rohwolle vornehmen. Diese ohne weitere nationale Umsetzung direkt anwendbar Unternehmen sind in Marktnischen tätig und haben oft sein. keinen Ersatz für die eingesetzten Reinigungsmittel; Kernpunkte des Verordnungsentwurfs sind Bestim- wenn es Alternativen gibt, sind diese zumeist noch ge- mungen über die biologische Abbaubarkeit von Tensi- fährlicher für die Umwelt. Hierbei sehe ich noch erheb- den und über die Kennzeichnung von Detergenzien. Die lichen Klärungsbedarf. verwendeten Tenside müssen je nach Bestimmungsme- Daher sieht der Verordnungsentwurf für solche Be- thode eine biologische Endabbaubarkeit von mindestens triebe Ausnahmen von der Erfüllung der 60-prozentigen 60 bis 70 Prozent besitzen. Wird diese Endabbaubarkeit Endabbaubarkeit vor. Die Kriterien hierfür sind zum ei- nicht erreicht, so können unter bestimmten Vorausset- nen das Erfüllen der 90-prozentigen Primärabbaubarkeit, zungen – insbesondere Primärabbaubarkeit von mindes- zum anderen die Durchführung einer Risikobewertung. tens 80 Prozent und ergänzende Risikobewertung – Aus- (B) Genau in dieser Risikobewertung liegt ein weiteres Pro- (D) nahmeregelungen getroffen werden. blem: Der Umfang dieser Risikobewertung wird nicht Die einheitliche Verordnung auf europäischer Ebene, von der Menge der im Unternehmen eingesetzten Ten- über deren Sinn wir hier diskutieren, ist im Grunde zu side abhängig gemacht. Schon die geringste Menge bei begrüßen. Sie stellt eine Vereinfachung und Entbürokra- der Verwendung eines Tensids bringt die daten- und kos- tisierung dar und ist ein wichtiger und richtiger Schritt in tenintensive Risikobewertung mit sich. Kleine und mit- die richtige Richtung. telständische Unternehmen können sich diese Verfahren nicht leisten und würden gegenüber den großen Unter- Auch die Ziele sind klar definiert: nehmen erhebliche Wettbewerbsnachteile erleiden. Freier Warenverkehr mit Detergenzien im Binnen- Der vorgelegte Entwurf einer europäischen Verord- markt und Sicherstellung eines hohen Umweltschutz- nung über Detergenzien ist ein guter Start. Er enthält in niveaus. einigen Bereichen noch Schwächen, die aber im Sinne Wenn man bedenkt, dass im Jahre 2000 allein in der mittelständischen Unternehmen korrigiert werden Deutschland über 5 600 neue Wasch- und Reinigungs- können, sodass ökologisch und ökonomisch eine „Win- mittel auf den Markt kamen oder neue Zusammenset- Win“ Situation entstehen kann. zungen bestehender Marken in den Handel kamen, wird klar, wie wichtig die Kontrolle der Umweltverträglich- Dr. Antje Vogel-Sperl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- keit dieser Produkte ist. NEN): Der vorliegende Verordnungsvorschlag der EU- Kommission zielt darauf ab, im europäischen Binnen- Nachdem die Kollegin Dött Ihnen bereits die Begriffe markt einheitliche Regeln für den Umgang mit Wasch- Detergenzien und die Wirkung von Tensiden erläutert und Reinigungsmitteln und den darin enthaltenen Tensi- hat, möchte ich auf die Änderung der Testverfahren und den festzulegen. Dieses Vorhaben begrüßen wir in sei- die dabei möglichen Probleme eingehen: Nach derzeiti- nem Grundansatz, handelt es hier doch um einen Pro- gem Stand sind Testverfahren für die biologische Pri- duktbereich von ganz erheblicher Bedeutung – und dies märabbaubarkeit von Tensiden vorgeschrieben. Unter sowohl aus Sicht des Umweltschutzes als auch aus Sicht Primärabbau versteht man bei Tensiden den Verlust der des Verbraucherschutzes. grenzflächenaktiven Eigenschaften, also einen teilwei- sen biologischen Abbau. Die Primärabbaubarkeit muss Wasch- und Reinigungsmittel finden sich in jedem zurzeit bei 90 Prozent liegen; das Tensid verliert also Haushalt und werden auch in großen Mengen im ge- seine umweltschädliche Wirkung in der ersten Reini- werblichen und industriellen Bereich eingesetzt. Alleine gungsstufe fast vollständig. in Deutschland wurden im Jahr 2000 über 5 600 unter- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3631

(A) schiedliche Produkte in Verkehr gebracht. Zu diesem Ich will an dieser Stelle nicht weiter auf Details ein- (C) Zeitpunkt waren insgesamt mehr als 54 000 Wasch- und gehen. In unserer Koalitionsentschließung haben wir im Reinigungsmittel auf dem deutschen Markt. Umweltausschuss diese Probleme angesprochen. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihren Bemühungen, Die chemischen Grundsubstanzen und Inhaltsstoffe sich bei den weiteren Verhandlungen für die Gewährleis- dieser Produkte landen in unseren Gewässern. Viele ih- tung hoher Umwelt- und Verbraucherschutzstandards rer Abbauprodukte sind langlebig und reichern sich in einzusetzen. Stoffkreisläufen und Organismen an. Sie bilden somit eine potenzielle Gefahr für Mensch und Umwelt. Bei Ärgerlich ist die in dem Verordnungsentwurf ver- vielen dieser Stoffe ist zudem eine krebserregende, erb- tane Chance, der kommenden EU-Chemikalienverord- gutverändernde oder fortpflanzungsschädliche Wirkung nung vorzugreifen und die Harmonisierung des Deter- nachgewiesen. Vor diesem Hintergrund ist der Ansatz genzienrechts in das zukünftige System der des Verordnungsvorschlags sehr zu begrüßen, künftig Registrierung, Bewertung und Zulassung von chemi- nicht nur den Primärabbau, sondern den Endabbau der schen Stoffen einzupassen. Hier stehen uns in den Tenside zu prüfen und sicherzustellen. nächsten Wochen und Monaten sicher noch einige heiße Diskussionen in Haus. Das lassen zumindest die in die- In Wasch- und Reinigungsmitteln findet sich auch sen Tagen veröffentlichten ersten Entwürfe der EU- eine Vielzahl von Duft- und Zusatzstoffen, die bei vielen Kommission vermuten. Menschen – zu Hause oder am Arbeitsplatz – Allergien und chronische Reizungen auslösen. Oft ist die genaue Zudem haben die werten Kolleginnen und Kollegen Zusammensetzung und Konzentration dieser Zusatz- von der FDP ja schon mit ihrer aktuellen Kleinen An- stoffe allein dem Hersteller bekannt. Die Verbraucherin- frage bewiesen, dass sie seit ihrem Antrag zum Weiß- nen und Verbraucher bleiben ahnungslos und haben buch Chemie in der vergangenen Legislaturperiode keine Chance, sich beim Kauf für Produkte zu entschei- nichts, aber auch gar nichts dazugelernt haben. Die Eins- den, die frei von den jeweils kritischen Substanzen sind. zu-eins-Übernahme der Horrorszenarien der Industrie, nach denen sich durch die neue Chemikalienpolitik Mil- In Deutschland sind wir diesen Gefahren bereits lionen von Arbeitsplätzen in Luft auflösen sollen, zeugt durch umfangreiche Regelungen begegnet. Das Wasch- nicht nur von einem blinden Klientelismus, sondern ist und Reinigungsmittelgesetz schreibt hohe Anforderun- auch schlicht und einfach sachlich völlig unbegründet. gen an die biologische Abbaubarkeit von waschaktiven Im Übrigen: Der entsprechende CDU/CSU-Antrag war Substanzen vor. Entsprechende Produkte dürfen nur so in dieser Hinsicht leider auch nicht weitsichtiger. in Verkehr gebracht werden, dass eine Gefährdung aqua- Die im Auftrag des BDI aufgestellten Prognosen zu tischer Biosysteme unterbleibt. Die ergänzende Phos- (B) Kostenbelastungen der Industrie und Arbeitsplatzverlus- (D) phathöchstmengenverordnung hat dazu geführt, dass der ten wurden erst zuletzt im Februar dieses Jahres von ei- Eintrag von Waschmittelphosphaten, die maßgeblich zur ner Reihe namhafter Wirtschaftsexperten als Luftnum- Eutrophierung von Gewässern beitragen, deutlich redu- mern bloßgestellt. Ihnen, werte Kolleginnen und ziert werden konnte. Einige hormonell wirksame Stoffe Kollegen von der Opposition, entgeht leider vollkom- wie zum Beispiel das Nonylphenol dürfen in Deutsch- men, welche auch ökonomischen Chancen die lange land ebenfalls nicht mehr eingesetzt werden. Das Um- überfällige Wende in der europäischen Chemikalienpoli- weltbundesamt führt zudem ein Produktregister, in dem tik bringen wird. Die Umkehr der Beweislast beim In- die von Herstellern benannten Rahmenrezepturen der verkehrbringen von Chemikalien und die Implementie- Wasch- und Reinigungsmittel zur Verfügung gehalten rung des Vorsorgeprinzips bringen nicht nur Vorteile für werden. Auf dieses Register haben die vollziehenden Umwelt und Gesundheit. Behörden der Länder Zugriff; sie können somit die Ein- haltung der Produktvorschriften überwachen. Die ökonomischen Vorteile der neuen Chemikalien- politik Der Harmonisierungsvorschlag der Kommission hat vor diesem Hintergrund einige entscheidende Schwä- – ich erlaube mir den Präsidenten des Umweltbundes- chen. Sollte er in dieser Fassung verwirklicht werden, amtes zu zitieren – zudem in Form einer unmittelbar geltenden EU-Verord- nung, so wäre das hohe Schutzniveau in Deutschland sind nicht von der Hand zu weisen. Eine bessere nicht gesichert, Genau dies wollen wir aber keinesfalls Transparenz über Stoffgefahren in der Produktkette preisgeben. Hier muss die Kommission also nachbes- führt zum Gebrauch sichererer Chemikalien, min- sern. dert die wirtschaftlichen Risiken der Stoffanwender und verringert die hohen Kosten durch chemikali- Vor allem der Verzicht auf ein Verbot von Phosphaten enbedingte Berufskrankheiten. ist nicht nachzuvollziehen, haben sich doch inzwischen Dem ist wenig hinzuzufügen. schon weitere EU-Mitgliedsländer dem deutschen Ver- bot angeschlossen. Aber auch im grundsätzlichen An- Wir werden uns dafür einsetzen, dass die ursprüngli- wendungsbereich der Regelung oder auch bei den Kenn- che Zielsetzung des Weißbuchs, nämlich: Risikominmie- zeichnungsvorschriften sind Änderungen notwendig, rung und Vorsorge vor schädlichen Wirkungen von Che- damit der Umwelt- und Gesundheitsschutz nicht einer zu mikalien, Substitution von schädlichen Chemikalien kurz gedachten Harmonisierungsmaßnahme zum Opfer durch ungefährliche Ersatzstoffe und Produktverantwor- fällt. tung der Hersteller durch Beweislastumkehr sich in der 3632 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) kommenden Chemikaliengesetzgebung auch wiederfin- Anlage 5 (C) den. Eine halbherzige Umsetzung, die sich zu sehr den Zu Protokoll gegebene Rede kurzsichtigen Argumenten der Bedenkenträger aus In- dustrie und Wirtschaft verpflichtet, wird diese Ziele klar zur Beratung des Antrags: Versorgungsaus- verfehlen. Das werden wir nicht mitmachen und das gleich umgehend regeln – Keine Schlechterstel- werden auch die Bürgerinnen und Bürger – hier und an- lung von Frauen bei der Alterssicherung (Ta- derswo in Europa – nicht akzeptieren. gesordnungspunkt 11)

Birgit Homburger (FDP): Der Entschließung von Christine Lambrecht (SPD): Wenn man die Über- Rot-Grün zum Vorschlag für eine Verordnung des Euro- schrift des CDU-Antrages liest, kann man den Eindruck päischen Parlaments und des Rates über Detergenzien bekommen, als ob Frauen bei der Alterssicherung können wir nicht zustimmen. Bereits in der letzten Le- schlechter gestellt werden sollen. Das will natürlich we- gislaturperiode haben wir mit unserem Antrag „Für eine der die Bundesregierung noch die Regierungskoalition wirksame und vernunftgeleitete Chemikaliengesetz- und es freut mich, dass wir Sie an unserer Seite haben. gebung“ (Drucksache 14/5761) deutlich gemacht, dass In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht einmal wir im Bereich der Chemikalienpolitik eine andere Auf- feststellen: Wir – die rot-grüne Regierung und die Koali- fassung als die Regierungsfraktionen vertreten. Die Ziel- tion – waren es, die zur Verbesserung der Situation von richtung des Verordnungsentwurfs über Detergenzien Frauen hinsichtlich ihrer Alterssicherung zahlreiche Än- wird von der FDP zwar ausdrücklich begrüßt. Das hohe derungen eingeführt hat: bessere Anrechnung von Kin- deutsche Schutzniveau für Umwelt und Gesundheit im dererziehungszeiten, aber auch die Veränderung des Er- Wasch- und Reinigungsmittelbereich muss weiterhin ga- ziehungsurlaubs hin zur Elternzeit. rantiert werden. Umso wichtiger ist es, den Umwelt- schutz im Bereich der Wasch- und Reinigungsmittel eu- Jetzt können sich Väter und Mütter gemeinsam um ihr ropaweit anzugleichen und damit zu verbessern. Mit der Kind kümmern. Beide haben flankierend den Rechtsan- Detergenzienverordnung wird nun ein europäischer spruch auf Teilzeitarbeit, den Sie immer bekämpft haben. Mindeststandard vorgeschrieben, wodurch sich der euro- Die zulässige wöchentliche Arbeitszeit während der El- päische dem deutschen Standard annähern wird. ternzeit wurde für Väter und Mütter auf jeweils 30 Stun- den ausgedehnt. Jetzt ist es auch Frauen möglich, wäh- Grundfalsch wäre es aber, vonseiten Europas vorgese- rend der ersten Jahre mit einem Kind den Fuß in der Tür hene bürokratische Neuregelungen im Chemikalienbe- des Erwerbslebens zu haben. So können sie für eine ei- reich ohne ökologischen und gesundheitspolitischen Ge- gene Alterssicherung sorgen. (B) winn auch noch auf den Bereich der Detergenzien (D) auszuweiten. Genau das will aber Rot-Grün. Gestern hat In dieser Legislaturperiode werden wir die Kinderbe- die EU-Kommission den auf ihrem Weißbuch „Strategie treuungssituation verbessern. Es wäre zu wünschen, Sie für eine zukünftige Chemikalienpolitik“ basierenden würden hierbei endlich ihre ideologischen Scheuklappen Verordnungsentwurf vorgelegt, der gegenüber dem ablegen und die Notwendigkeit erkennen. Dann würden Weißbuch immerhin Verbesserungen aufweist. Das sie sich wirklich für die Alterssicherung von Frauen Grundproblem der Beweislastumkehr im Hinblick auf stark machen und nicht nur Krokodilstränen vergießen. die Gefährlichkeit eines Stoffes aber bleibt bestehen. Im Durch veränderte Rahmenbedingungen werden Frauen Vergleich zum strengen deutschen Zulassungsrecht für in die Lage versetzt – wenn sie es denn wollen –, eigene Chemikalien werden hiermit keine ökologischen und ge- Rentenanwartschaften zu erlangen. sundheitspolitischen Verbesserungen einhergehen. Es Wenn es Ihnen wirklich darum geht – wie in der werden lediglich neue bürokratische Verfahren einge- Überschrift ihres Antrages benannt –, sich für die Alters- führt. sicherung von Frauen stark zu machen, dann wundert es mich aber schon, dass Sie all diesen Veränderungen Die Entschließung von Rot-Grün strebt nach wie vor nicht zugestimmt haben. Ihnen waren die Belange der Regelungen analog zum Weißbuch im Detergenzien- Frauen offensichtlich nicht ganz so wichtig. Vielleicht bereich an. Rot-Grün will also die europäischen Fehlent- haben Sie dazugelernt. wicklungen im Chemikalienbereich ohne ökologischen und gesundheitspolitischen Nutzen auf den Bereich der Aber worum geht es in Ihrem Antrag ganz konkret? Detergenzien ausdehnen, und zwar in einer Schärfe, die Es geht im Versorgungsausgleich darum, Rentenanwart- selbst die EU-Kommission nicht mehr vorsieht. schaften, welche die Ehegatten während der Ehe erwor- ben haben, im Falle einer Scheidung zu teilen. Dieser Die FDP tritt für eine unter Umwelt- und Gesund- Versorgungsausgleich soll denjenigen im Alter und bei heitsschutzgesichtspunkten wirksame und vernunftgelei- Invalidität sichern, der während der Zeit der Ehe – egal tete Chemikaliengesetzgebung ein. Umweltpolitisch und aus welchen Gründen – keine eigenen oder nur geringere gesundheitspolitisch wirkungslose Verbürokratisierun- Anwartschaften erworben hat. In der Regel sind das gen lehnt die FDP ab. Frauen. Die FDP fordert die Regierungsfraktionen auf, von Die Barwert-Verordnung, eine Rechtsverordnung, die ihrer rigiden Haltung im Bereich der Chemikalienpolitik von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundes- abzurücken und diese nicht auch noch auf den Bereich rates erlassen wird, dient der Umwertung bestimmter der Detergenzien auszudehnen. Versorgungsanrechte wie zum Beispiel der betrieblichen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3633

(A) Altersversorgung oder der berufständischen Altersvor- Interesse dieser Fälle begründet, eine schnellstmögliche (C) sorge. Diese Vergleichbarmachung mit den Anrechten Aktualisierung gefordert und der Bundesregierung sogar aus der gesetzlichen Rentenversicherung dient der Er- Untätigkeit vorgeworfen. stellung der „Versorgungsbilanz“ der Eheleute. Wie das im Einzelnen geschieht, erspare ich mir darzustellen. Es Darüber hinaus müssen wir aber auch das Novellieren ist sehr kompliziert und für Mandanten kaum nachzu- des Versorgungsausgleichs zügig angehen, um eine Ak- vollziehen. tualisierung zu erreichen. Durch die neue Barwert-Ver- ordnung haben wir jetzt zwei bis drei Jahre Zeit, um uns Dieser Versorgungsausgleich geschieht in der Regel dieser Aufgabe zu widmen und ich freue mich auf eine zu einem Zeitpunkt, an dem die geschiedenen Eheleute konstruktive Zusammenarbeit. von der Rente noch weit entfernt sind, sodass verlässli- che Aussagen über die in Jahren, manchmal Jahrzehnten zu gewährenden Versorgungen kaum möglich sind. Anlage 6 Diese Umwertung zur Vergleichbarmachung hat dazu geführt, dass es zu einer erheblichen Abwertung der be- Zu Protokoll gegebene Reden troffenen Anrechte gekommen ist. zur Beratung des Antrags: Ausschreibung des Nun hat der BGH am 5. September 2001 die bisherige BOS-Digitalfunks im Jahr 2003 einleiten (Zu- Regelung für verfassungswidrig und nur noch bis zum satztagesordnungspunkt 12) 31. Dezember 2002 für anwendbar erklärt. Seit Januar 2003 kann diese Berechnungsgrundlage nicht mehr auf Hans-Peter Kemper (SPD): Mir ist die Zielrichtung den Ausgleich von Rentenansprüchen außerhalb der ge- und die Intention des CDU/CSU-Antrages einigermaßen setzlichen Rente sowie der Beamtenversicherung ange- schleierhaft; denn an der Notwendigkeit einer Umstel- wandt werden. Es betrifft zwar nur eine geringe Zahl, lung von Analog- auf Digitalfunk gibt es – vom hessi- aber es war Abhilfe zu schaffen. schen Innenminister Bouvier einmal abgesehen – zwi- schen Regierung und Opposition, zwischen Bund und In der Plenardebatte vom 13. Februar 2003 hat die Ländern überhaupt keinen Zweifel. Bundesjustizministerin erklärt, zügig eine anwendbare Berechnungsgrundlage vorzulegen, damit schnellstmög- Die Einführung des Digitalfunks ist erforderlich und lich in allen Fällen eine Anrechenbarkeit möglich ist. die Vorbereitungen laufen seit langem, sind allerdings Wie zu erwarten, hat die Justizministerin Wort gehalten erst unter der rot-grünen Bundesregierung in eine kon- und am 26. März 2003 hat die Bundesregierung die krete Planungsphase gelangt. zweite Verordnung zur Änderung der Barwert-Verord- Der bisher genutzte analoge Funk stößt an seine (B) nung beschlossen. Sie ist gültig bis zum Jahre 2006. Für (D) Grenzen. Das hat sich in den letzten Jahren deutlich ge- dieses unverzügliche Handeln möchte ich der Bundes- zeigt. Großlagen, Flutkatastrophen, Großdemonstratio- justizministerin ausdrücklich danken und kann nur sa- nen haben oft zu einem Funkchaos mit durchaus gefähr- gen: Eine Frau, ein Wort! lichen Folgen für die eingesetzten Kräfte geführt. Die neue Barwert-Verordnung führt zu höheren Be- Die Anfälligkeit des analogen Funksystems ist un- wertungsansätzen im öffentlich-rechtlichen Versor- gleich größer als beim Digitalfunk. Funkschatten und gungsausgleich. Sie sorgt damit in typischen Fällen für Funklöcher haben immer wieder zu Totalausfällen und eine im Vergleich zum bisherigen Recht verbesserte so- zu schlechten Verständigungen geführt. ziale Absicherung von Frauen. Sie ist ein Zwischen- schritt auf dem Weg zur grundlegenden Strukturreform Nun gibt es zwei Möglichkeiten: entweder die sehr des Versorgungsausgleichs. Hiermit wird dem unmittel- teure Nachrüstung eines alten und veralterten Systems, baren Handlungsbedarf Rechnung getragen. nämlich des Analogfunks, mit einem Weiterbestehen der Mängel oder ein neues sicherlich kostenintensives Digi- Jetzt ist der Bundesrat am Zuge. Am 23. Mai 2003 talfunksystem, was aber dafür sehr zuverlässig und leis- steht eine Entscheidung an. Wie wir nunmehr erfahren tungsstark und für Polizei, Katastrophenschutz und Bun- mussten, droht das Land Baden-Württemberg mit dem desgrenzschutz gleichermaßen geeignet ist. Dazu ist es Antrag, diese Barwert-Verordnung bis zum Jahre 2007 natürlich organisationsübergreifend nutzbar. Die Mög- zu befristen. Das hört sich im ersten Moment unschäd- lichkeiten einer beschleunigten Datenübermittlung weiß lich an, hätte aber eine enorme zeitliche Verzögerung zur ich als jemand, der mehr als 30 Jahre mit dem analogen Folge. Das ganze Prozedere ginge wieder von vorne los. Funksystem gekämpft und unter ihm gelitten hat, in be- Das heißt: wieder zurück zur Bundesregierung, neuer sonderer Weise zu schätzen. Kabinettsbeschluss, dann wieder in den Bundesrat. Wenn die Vorteile des Digitalfunks so offensichtlich So müssten all die Fälle, die beim Versorgungsaus- auf der Hand liegen, dann fragt man sich natürlich, wa- gleich auf die Barwert-Verordnung angewiesen sind, rum er nicht längst eingeführt ist. Welche Schwierigkei- noch einige Zeit länger warten, bis eine anwendbare Be- ten gibt es? rechnungsmethode auf dem Tisch liegt. Dieses wollten Sie ja unbedingt vermeiden. Von daher verwundert die- Ich will hier mit den Hauptschwierigkeiten beginnen. ses offensichtlich unabgestimmte Verfahren Ihrer Partei- Angeboten werden in der Hauptsache zwei Betriebssys- kollegen aus Baden-Württemberg schon. Immerhin ha- teme, nämlich Tetra und Tetrapol. Ich vermag nicht zu ben Sie Ihren Antrag fast schon mit Krokodilstränen im beurteilen, welches der beiden angebotenen Systeme 3634 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) leistungsstärker, kostengünstiger und insgesamt für die analoge Funksystem muss so lange auch durch Nachrüs- (C) Nutzer die bessere Wahl ist. Fest steht aber, dass die Ef- tung funktionsfähig gehalten werden, bis in allen Berei- fizienz auch dadurch hätte gesteigert werden können, chen und flächendeckend das Digitalfunksystem auch wenn alle Staaten, die sich in Europa zur Zusammenar- funktioniert. Das ist kosten- und arbeitsintensiv. Aber beit entschlossen haben, das gleiche Digitalfunksystem ich bin sicher, wir werden es schaffen. eingeführt hätten. Ich bin davon überzeugt, dass wir das digitale Funk- Diese Chance ist vertan. Einige europäische Staaten system brauchen und auch erhalten, mit welchem Betrei- sind vorgeprescht und haben sich ihrerseits bereits für bermodell auch immer. Ich möchte aber auch hinzufü- ein Betriebssystem entschieden. Inwieweit die Betriebs- gen, dass mir eine einheitliche, bundesweite und systeme untereinander kompatibel sind, wird sich erst im gleichzeitige Einführung sehr am Herzen liegt. konkreten Fall erweisen. Für den Fall, dass das nicht zustande kommt, sind Diese unterschiedliche Ausstattung ist ärgerlich. Aber Teillösungen, die einzelne Bundesländer im Verbund gerade wir in der Bundesrepublik müssen uns darüber durchführen wollen und in die sich dann der Bund ein- nicht mokieren. Wir haben genug damit zu tun, unsere klinkt, auch denkbar. Ich halte sie aber für die schlech- eigenen Bundesländer unter einen Hut zu bekommen. Es tere Lösung. Insgesamt können Sie, liebe Kolleginnen ist längst nicht ausgemacht, dass alle Bundesländer ein und Kollegen der CDU/CSU, sicher sein, dass wir – wie einheitliches Betriebssystem anschaffen werden. in anderen Fällen auch – das erfolgreich zu Ende führen, Ein übertriebener Föderalismus feiert hier fröhliche was Sie lange Zeit haben schmoren lassen. Urstände und ich möchte meine Kolleginnen und Kolle- Ihr Antrag enthält viele richtige Feststellungen, ist gen von der CDU/CSU-Fraktion nachdrücklich bitten, aber überflüssig und auch nicht hilfreich. Hilfreich und sich bei ihren Ländern dafür einzusetzen, dass hier Ver- ehrlicher wäre es gewesen, wenn sie statt des Antrags für nunft einkehrt und bundesweit einheitliche Betriebssys- eine Zustimmung bei den CDU/CSU-geführten Bundes- teme angeschafft werden. ländern gesorgt hätten. Ein weiteres Problem, das ebenfalls im Föderalismus begründet ist, ist die Finanzierung. Die Einführung des So wird es Sie sicher nicht verwundern, dass Sie un- neuen Digitalfunksystems ist sehr teuer und hier haben sere Zustimmung hier nicht erreichen werden. naturgemäß Bund und Länder Probleme bei der Kosten- Ralf Göbel (CDU/CSU): Die Polizeien des Bundes verteilung. und der Länder, Feuerwehren, Rettungsdienste sowie Nach dem jetzigen Stand besitzt der Bund etwa das Technische Hilfswerk müssen mit einem neuen (B) 8,5 Prozent aller Endgeräte. Gleichwohl erwarten die Funksystem ausgerüstet werden. Das bisher verwendete (D) Länder, dass der Bund mehr als 50 Prozent der Gesamt- analoge Funksystem muss durch einen einheitlichen Di- kosten übernimmt. Auch hier wäre eine Einflussnahme gitalfunk ersetzt werden. Das analoge Funksystem ist der CDU/CSU-Kolleginnen und -kollegen bei ihren je- nur noch begrenzt einsatzfähig, wird den heutigen An- weiligen Länderregierungen sehr hilfreich. Länder und forderungen nicht mehr gerecht und ist auch nicht mehr Kommunen sind die Hauptnutzer. Daher ist es nur schwer zukunftsfähig zu entwickeln. Das System weist Mängel einzusehen, dass der Bund der Hauptzahler sein soll. auf, die für ernst zu nehmende Sicherheitsrisiken sorgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, dass es Zur Veranschaulichung will ich nur einige wenige eine gemeinsame Arbeitsgruppe der Finanz- und Innen- Beispiele aufzeigen: minister gibt. Diese Arbeitsgruppe hat im Januar 2003 ihre Arbeit aufgenommen und ist in wesentlichen Punk- Bei Großeinsätzen und Großschadensereignissen sind ten vorangekommen. Das Problem der Einführung des die analogen Funknetze schnell überlastet und brechen Digitalfunks steht auf der Tagesordnung der IMK-Sit- zeitweise zusammen. Bei den Flutkatastrophen haben die zung, die in den nächsten Tagen stattfindet. Von daher Einsatzkräfte dies erleben müssen; Herr von Kirchbach mutet Ihr kurzfristig vorgelegter Antrag und das Beste- hat in seinem Bericht auf dieses Manko hingewiesen. hen auf Aufsetzung am heutigen Abend ein wenig eigen- Die Kommunikation und die Einsatzkoordination artig an, wissen Sie doch genau, dass diese Entscheidun- zwischen Polizei und Feuerwehren ist durch die Verwen- gen nicht allein in der Bundeskompetenz liegen und in dung unterschiedlicher Netze erschwert. Im Einsatzfall den nächsten Tagen ein wichtiger Schritt nach vorne ge- geht dadurch wichtige Zeit verloren. tan werden soll. Die unterschiedlichen analogen Funknetze der an Ka- Man kann sich ein weiteres Mal des Eindrucks nicht tastropheneinsätzen beteiligten Sicherheitsbehörden, erwehren, dass Sie sich hier nicht von sachlichen Erwä- Rettungsdienste sowie der Bundeswehr erschweren den gungen leiten lassen, sondern Betriebsamkeit vortäu- Einsatz im Katastrophenfall in erheblicher Weise. Auch schen, wo sie nicht angebracht ist. darauf hat Herr von Kirchbach hingewiesen. Wir alle hoffen, dass die IMK-Sitzung Erfolge ver- Letztlich wird auch unter datenschutzrechtlichen Ge- zeichnen wird. Helfen Sie mit, dass es vorangeht. Die sichtspunkten die Verwendung des analogen Funkes im- Schwierigkeiten werden ohnehin noch groß sein. mer problematischer. Das analoge Funknetz bietet kaum Es wird und darf bei der Einführung des digitalen einen Schutz vor unberechtigtem Mithören. Jeder, vom Funksystems kein Sicherheitsleck geben; das heißt, das Abschleppunternehmer bis zum Schwerverbrecher, kann Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3635

(A) den Funk abhören und die für sich günstigen Schlussfol- Unfällen mit Chemikalien können die Feuerwehren (C) gerungen daraus ziehen. Messwerte besser den beteiligten Einsatzkräften mittei- len. Die wenigen Beispiele zeigen, dass – was unter Fach- leuten und auch den Innenpolitikern unbestritten ist – die Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass der Einführung eines modernen und leistungsfähigen neuen Digitalfunk die Arbeit der Sicherheitsbehörden und da- Funksystems dringend erforderlich ist. mit die Innere Sicherheit in Deutschland qualitativ er- heblich verbessern wird. Hinzu kommt, dass die Hersteller analoger Funktech- nik in den kommenden Jahren ihre Produktion reduzie- Es ist erfreulich, dass sowohl zwischen den Parteien ren oder einstellen, weil die Nachfrage nach analoger als auch zwischen Bund und Ländern grundsätzliche Ei- Funktechnik, die die technischen Anforderungen der Si- nigkeit darüber besteht, den Digitalfunk einzuführen. cherheitsbehörden erfüllt, bei Privatkunden nicht be- Nur – den Reden müssen Taten folgen! steht. Für den analogen Funk der Sicherheitsbehörden Die Innenministerkonferenz von Bund und Ländern bedeutet dies steigende Kosten und Engpässe bei Ersatz- hat bereits im November 2000 die Einführung des Digi- teil- und Ersatzbeschaffung. talfunks beschlossen. Das Bundesinnenministerium hat Die Bundesregierung führt in ihrer Antwort auf die im Juni 2001 die Zentralstelle für die Vorbereitung der Kleine Anfrage der FDP, Bundestags-Drucksache 15/449, Einführung des Digitalfunks eingerichtet. Seit Juli 2001 vom Februar diesen Jahres aus, dass die in Deutschland läuft im Raum Aachen ein Pilotprojekt. Das Vergabever- genutzte analoge Funktechnik veraltet ist, qualitativ fahren sollte im Dezember 2002 starten. Der Aufbau des nicht mehr weiterentwickelt werden kann und die wich- digitalen Funknetzes sollte nach Planungen der Innen- tigsten operativ-taktischen Anforderungen an eine mo- ministerkonferenz bis Ende 2005 abgeschlossen sein, derne Kommunikation bei weitem nicht mehr erfüllt. um die Nutzung des Netzes durch die Polizei ab Anfang 2006 zu ermöglichen, ein Ziel, das Bundesinnenminister Alles in allem ist zu konstatieren, dass die analogen vorgab, um die Fußball-WM reibungslos Funksysteme eine erfolgreiche und reibungslose Arbeit durchführen zu können. unserer Sicherheitsbehörden erschweren und gefährden. Besonders mit Blick auf die schnelle Bewältigung von Aber bereits seit September 2002 stockt die Verwirk- Naturkatastrophen, die effektive Einsatzgestaltung bei lichung des Projekts, weil sich Bund und Länder nicht möglichen Terroranschlägen, aber auch mit Blick auf die über die Finanzierung einigen können. Es wurde eine ge- Fußball-WM 2006 sind die vorhandenen und zu erwar- meinsame Arbeitsgruppe der Staatssekretäre der IMK tenden Kommunikationsprobleme besorgniserregend. und FMK gebildet, die die Etatreife des Vorhabens in den Haushalten des Bundes und der Länder schaffen (B) Wir müssen alle Behörden und Organisationen mit Si- (D) sollte. Ein Ergebnis liegt bis heute trotz mehrerer Be- cherheitsaufgaben in die Lage versetzen, mit modernen sprechungsrunden immer noch nicht auf dem Tisch. und zeitgemäßen Kommunikationsstrukturen ihre Auf- gaben zu erledigen. Die Finanzierung des Digitalfunks ist eine Milliar- den-investition und damit eine große Herausforderung Auch hierzu wenige Beispiele: für die öffentlichen Haushalte. Nach Schätzungen der Das digitale Funksystem kann neben oder gleichzeitig Experten muss mit einer Investitionssumme von 3,5 bis mit der Sprache auch Daten übertragen. Einsatzrelevante 4,5 Milliarden Euro gerechnet werden – allerdings ver- Daten können vergleichbar einer SMS ausgetauscht wer- teilt auf einen Zeitraum von 10 Jahren. Wir halten aller- den, so entfällt mühseliges Aufschreiben und Buchsta- dings diese Investition angesichts der augenscheinlich bieren – wertvolle Zeit wird gewonnen. Über ihre End- bestehenden Vorteile des Digitalfunks und der beschrie- geräte haben die Einsatzkräfte schnellen Zugriff auf benen Probleme des analogen Funksystems nicht nur für Datenbanken im Internet und Intranet. Gleichzeitig kön- gerechtfertigt, sondern für dringend notwendig. Dies ist nen sich die Einsatzkräfte mit ihren Endgeräten in beste- eine der wichtigsten Investitionen für die Innere Sicher- hende Mobilfunk- und Festnetze einwählen. Das heute heit in Deutschland überhaupt. verwandte Handy wird überflüssig. Für den Polizeibe- Bundeskanzler Gerhard Schröder selbst versprach an- amten vor Ort wäre dies ein Quantensprung gegenüber lässlich der CeBIT, sich für die zügige Einführung des dem heutigen Zustand. Digitalfunkes persönlich einzusetzen. Allerdings – das Da im digitalen Funksystem der Informationsaus- muss man leider konstatieren – war von diesem persönli- tausch verschlüsselt wird, ist dieses System auch abhör- chen Einsatz bei der Aufstellung des Bundeshaushaltes sicher und erfüllt damit auch die datenschutzrechtlichen 2003 nichts zu spüren. Unser Antrag, als ersten Schritt Anforderungen bei der Übermittlung personenbezogener zur Realisierung dieses Projektes zumindest die Kosten Daten. für die Ausschreibung in den Bundeshaushalt aufzuneh- men, wurde von der Regierungsmehrheit abgelehnt. Die Einführung des Digitalfunks wird die Kommuni- kation innerhalb und zwischen den Behörden und Orga- Ich habe auch nicht den Eindruck, dass die Bundesre- nisationen mit Sicherheitsaufgaben verbessern. Die Poli- gierung mit dem nötigen Nachdruck und Engagement zei kann schneller auf Fahndungsdaten zugreifen und die Sache behandelt. Nach einem Bericht der „Welt am Fotos flüchtiger Täter versenden. Rettungsdienste kön- Sonntag“ hat sich der Bund bei den Verhandlungen in nen vom Rettungswagen aus medizinische Daten von der Bund-Länder-Arbeitsgruppe nur dazu bereit erklärt, Unfallopfern vorab ans Krankenhaus übermitteln. Bei rund 10 Prozent der Investitionskosten zu übernehmen, 3636 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) der Kostenanteil des Bundes nach dem sonst üblichen Legen Sie außerdem einen realistischen Zeitplan vor! (C) „modifizierten Königsteiner Schlüssels" liegt aber bei Das Ziel, bis 2006 den Digitalfunk einzuführen – übri- 17,84 Prozent. Damit war auch das Scheitern dieser Ver- gens auf mehreren Homepages der Bundesregierung handlungsrunde quasi vorprogrammiert. noch so formuliert – ist angesichts der Verzögerungen wohl kaum noch zu halten. Ich kann in diesem Zusammenhang dem Parlamenta- rischen Staatssekretär Körper nur Recht geben, wenn er Die Sicherheitsbehörden nehmen eine Kernaufgabe sagt, dass es schlimm wäre, wenn auf Grund der im des Staates wahr – nämlich die Sicherheit der Bürger zu Streit befindlichen Finanzierungsfrage die Entwicklung gewährleisten. Wir alle dürfen es deshalb nicht zulassen, in Europa an uns vorbeilaufen würde – was übrigens dass die Sicherheitsbehörden von den Kommunikations- schon fast passiert ist. Wenn alle das erkannt haben, möglichkeiten des Informationszeitalters abgekoppelt dann muss es doch auch möglich sein, eine gemeinsame werden. Finanzierungsformel zu finden – auch bei angespannten Ich bitte sie, dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu- Haushaltslagen in Bund und Ländern. Wenn man dann zustimmen. noch berücksichtigt, dass nach Auskunft der Bundesre- gierung die Kosten für die analogen Systeme in den nächsten Jahren die Kosten für die Beschaffung und den Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Betrieb digitaler Funksysteme überschreiten werden, Einführung moderner digitaler Funktechnik für Behör- dann kann man überhaupt nicht mehr verstehen, warum den und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben – kurz der von uns beantragte Haushaltsansatz nicht beschlos- BOS – ist unerlässlich. Das zukünftige einheitliche digi- sen wurde. tale Sprech- und Datenfunksystem wird die Behörden erstmalig in die Lage versetzen, gemeinsame Infor- Es geht doch bei dieser Entscheidung nicht nur um Fi- mations- und Kommunikationsstrukturen aufzubauen nanzfragen, so wichtig sie auch sein mögen, es geht um und – dies ist entscheidend – diese ohne Medienbrüche die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger sowie zu nutzen. auch unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Behörden selbst. Die deutschen BOS – insbesondere auch die Polizei – können damit ein abhörsicheres Kommunikationsnetz Gerade die Bundesbehörden wie Bundesgrenzschutz mit allen Möglichkeiten der Datenanwendungen nutzen und Zoll, THW und Bundesverfassungsschutz brauchen und dies bei der Verbrechensbekämpfung und Notfall- das digitale Funknetz in der Fläche. In der letzten BGS- vorsorge – bei Feuerwehr, Rettungsdienst und Katastro- Zeitschrift wird dies anschaulich dokumentiert. Deshalb phenschutz – einsetzen. Beispielhaft erwähnen möchte muss sich die Bundesregierung besonders dafür engagie- ich hier die mobile Nutzung neuer Medien wie Intranet (B) ren, dass ein bundesweit nutzbares Funknetz installiert und Internet, den mobilen Zugriff auf Fahndungs- und (D) wird. Gefahrgutdaten sowie die Übertragung medizinischer Zudem hat der Bund internationale Verpflichtungen Daten vom Unfallort während des Transportes in der zu erfüllen. Im Rahmen des Schengen-Abkommens hat Notfallmedizin. Der damit verbundene Mehrwert für die sich die Bundesrepublik verpflichtet, den Digitalfunk in Bürgerinnen und den Bürger dürfte von allen hier Anwe- Deutschland einzuführen. Unsere Nachbarn in Europa senden geteilt werden. Und – im Gegensatz zu dem, was sind bei der Einführung des Digitalfunks wesentlich wei- der vorliegende Antrag der CDU/CSU-Fraktion sugge- ter als wir. Fast alle anderen europäischen Länder, sogar riert – ist die Bundesregierung auf diese Umstellung vor- die Beitrtittskandidaten, haben den digitalen Funk be- bereitet. reits eingeführt bzw. sind gerade dabei, dies zu tun. Wir Die Ständige Konferenz der Innenminister hat sich stehen also leider auch bei der Einführung einer moder- bereits 1996 auf die Entwicklung von Konzepten zur nen Sicherheitstechnik nicht an der Spitze, sondern am Einführung eines gemeinsamen digitalen Funksystems Ende in Europa. für die BOS verständigt. Das Telekommunikationsgesetz Der Bundeskanzler muss jetzt sein Versprechen einlö- legt ebenfalls bereits seit 1996 diese veränderten Be- sen. Nachdem auch die Bundesregierung daran beteiligt triebsbedingungen auf der Basis einer bestimmten Zutei- war, die Verhandlungen in der Bund-Länder-Arbeits- lung von Frequenzen fest. gruppe in die Sackgasse zu führen, muss er jetzt einlö- Der in dieser analogen Technik erreichte Grad an sen, was er in der Welt am Sonntag versprochen hat: mit Kompatibilität zwischen unterschiedlichen Dienststel- den Ministerpräsidenten der Länder noch vor der Som- len und Organisationen wurde in keinem anderen Land merpause eine Lösung aushandeln. in dieser Form erreicht. Dennoch – dies ist festzuhalten, Mit dem vorgelegten Antrag fordern wir deshalb die blieben einige für den zukünftigen Funkbetrieb unab- Bundesregierung auf: dingbare Forderungen bisher unerfüllt. Hierzu zählen insbesondere der Schutz der zu übertragenden Informa- Stellen Sie unverzüglich die Mittel für die Ausschrei- tion vor unberechtigtem Mithören und Manipulation und bung bereit – entweder durch Umschichtung oder im die Ermöglichung von Sprach- und Datenübertragung in Rahmen des zu erwartenden Nachtragshaushalts! der gleichen Netzinfrastruktur. Leiten sie endlich zusammen mit den Ländern das Auf der Basis eines Auftrages der Ständigen Konfe- Vergabeverfahren und die notwendige Ausschreibung renz der Innenminister der Länder wurde eine „Projekt- ein! gruppe BOS-Digitalfunk“ mit dem Auftrag eingerichtet, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3637

(A) festzustellen, inwieweit die betrieblichen Anforderungen unter Umständen ein zusätzliches Paging-System einge- (C) der BOS in der Praxis erfüllt werden können. Die Inte- führt werden, um auch in nicht funkversorgten Gebieten, ressen der Kommunen und insbesondere ihre finanziel- wie zum Beispiel in Tunneln, eine Kommunikation zu len Möglichkeiten müssen ausreichend berücksichtigt gewährleisten. werden. Genauso müssen die europäischen Erfahrungen in eine Bewertung aufgenommen werden. Zurzeit geht es bei der Kommunikation lediglich um Sprachkontakte. Die Entwicklung auf dem Digitalfunk- Ziel muss es aber bleiben, bis zum Jahre 2006 den di- markt ist jedoch rasant: Für den Endverbraucher sind gitalen Netzaufbau abzuschließen und eine vollständige Foto-Handys im Trend, die Einführung des UMTS-Net- Integration der Teilnehmer zu erreichen. Wir begrüßen zes mit all seinen technischen Möglichkeiten ist für Ende in diesem Zusammenhang ausdrücklich die durchgeführ- des Jahres geplant. Die jetzt einzuführende Technologie ten Pilotprojekte und Maßnahmen der Bundesregierung. sollte dieser Entwicklung Rechnung tragen und zumin- dest ausbaufähig bleiben, um künftige technische Fort- schritte, neue Bedürfnisse im Notfall und weitere Appli- Ernst Burgbacher (FDP): Kommunikation ist kationen aufnehmen zu können. wichtiger denn je – Handy, Email, Fax und Telefon sind für fast jeden Bundesbürger selbstverständlich. Gerade Bund und Länder sind zum Handeln aufgefordert: Die in Katastropheneinsätzen ist eine gute Kommunikation Einführung des Systems muss nun schnellstens angegan- unerlässlich: Wo ist der Brandherd? Gibt es Verletzte? gen werden. Dazu ist ein Zeitplan zu erstellen und die Wird noch Material benötigt? – Wenn es ernst wird, nötigen Haushaltsmittel müssen eingestellt werden. Die müssen die Kommunikationsmittel funktionsfähig und FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag wird daher dem einsatzbereit sein. Die Flutkatastrophe im vergangenen Antrag der Fraktion der CDU/CSU zustimmen. Jahr hat die Notwendigkeit eines guten Funksystems be- wiesen. Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretärs beim Bisher haben sich die Nothelfer von Polizei, Feuer- Bundesminister des Innern: Wir sind uns einig in der Ein- wehr und Rettungsdienst über analoge Funktechnik un- schätzung, dass die digitale Funktechnik mit ihren weit- tereinander verständigt. Diese Funktechnik droht aber reichenden Möglichkeiten auch für die Sicherheitsinsti- hoffnungslos zu veralten und auf Dauer teurer zu wer- tutionen unseres Landes nutzbar gemacht werden muss. den; die Einführung von Digitalfunk bei Behörden und Es steht außer Frage, dass der gegenwärtig genutzte Ana- Organisationen mit Sicherheitsaufgaben ist mehr als logfunk, auch wenn er zuverlässig funktioniert, den stän- überfällig. dig wachsenden Anforderungen unserer Sicherheitsinsti- tutionen auf Dauer nicht gerecht werden kann, zum (B) Spätestens zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 müs- Beispiel in puncto Abhörsicherheit, Datenübertragung (D) sen die Sicherheitsbehörden auf neuestem technischen oder Teilnehmerflexibilität. Das gilt für die Polizeien in Stand sein, um die Sicherheit der Teams und Besucher Bund und Ländern, das gilt aber selbstverständlich auch gewährleisten zu können. Angesichts der Vorlaufzeit für für die Feuerwehren, Katastrophenschutzstellen, Ret- Erprobung und technischer Justierung ist also eine zeit- tungsdienste und anderes mehr. Umstellung auf Digital- nahe Entscheidung geboten. Schlimmstenfalls droht die funk bedeutet, die Arbeit dieser Institutionen effektiver Notwendigkeit einer Nachrüstung des alten analogen zu machen – im Interesse der Bevölkerung, aber auch um Systems, was einen hohen finanziellen Zusatzaufwand den Menschen, die in diesen Institutionen arbeiten, mo- bedeuten würde. Das kann niemand wollen, der verant- derne Arbeitsmittel an die Hand zu geben. wortlich mit Steuergeldern umgehen will. Die Bundesregierung hat bereits mit Kabinettsbe- Auf dem Markt sind derzeit drei Systeme: Tetra 25 schluss vom 27. März 2002 die Bedeutung der Einfüh- und Tetrapol, neue digitale Kommunikationssysteme, rung digitaler Sprech- und Datenfunksysteme für die Be- sowie Vodafone auf Basis des bestehenden D2-GSM- hörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben Systems. Tetrapol ist bereits in Frankreich, der Schweiz hervorgehoben. Sie hat darüber hinaus bekräftigt, dass und in Tschechien eingeführt, wird aber nur von einem die Einrichtung digitaler Funksysteme für die Behörden Unternehmen angeboten. Tetra 25 wird in vielen anderen und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben in Deutsch- europäischen Staaten verwendet, beispielsweise in Spa- land eine Aufgabe aller Beteiligten in Bund und Ländern nien oder Österreich. Allerdings – und das ist bei dem ist – und zwar eine gemeinsame Aufgabe. Es geht nicht überfälligen Ausschreibungsverfahren von entscheiden- darum, jeder Sicherheitsinstitution für sich genommen der Bedeutung – sind die verschiedenen Systeme nicht die Möglichkeiten des Digitalfunks zu eröffnen, sondern kompatibel zueinander; zwischen den verschiedenen es geht darum, ein einheitliches, ein gemeinsames Netz Systemen kann also nicht direkt miteinander kommuni- in Deutschland zu errichten. ziert werden. Ein solches gemeinsames Netz ermöglicht rasche und Gerade in Notfällen ist jedoch eine direkte Kommuni- unkomplizierte Verständigung auch zwischen den ver- kation zwischen den Einsatzkräften – auch grenzüber- schiedenen Polizeien von Bund und Ländern, aber natür- schreitend – unerlässlich. Insofern ist ein möglichst ein- lich auch zwischen Polizei und Rettungsdienst, Ret- heitliches System auf allen Ebenen anzustreben. Darüber tungsdienst und Feuerwehr usw. Wie wichtig eine solche hinaus sind alle Anstrengungen darauf zu konzentrieren, länder- und behördenübergreifende Kommunikations- die verschiedenen Systeme bestmöglich zu vernetzen. möglichkeit in einer Zeit ist, in der Gefahrenabwehr und Dazu muss – je nach Netzqualität und Netzverbreitung – Sicherheit immer stärker zur gemeinsamen Aufgabe 3638 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) ganz unterschiedlicher Stellen wird, muss ich an dieser Anlage 7 (C) Stelle nicht weiter aufführen. Wir haben das spätestens seit der Flutkatastrophe letztes Jahr alle ganz plastisch Zu Protokoll gegebene Reden vor unseren Augen. zur Beratung der Anträge: Wenn unser Ziel ein gemeinsames, bundesweites – Zukunftsorientierte Energieforschung – Fu- Digitalfunknetz ist, dann setzt dies selbstverständlich sionsforschung in Deutschland und Europa voraus, dass sich Bund und Länder über die technischen, vorantreiben organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen einig werden. Ich denke, man kann sagen, dass wir hier- – Unterstützung für eine Bewerbung des bei an vielen Stellen bereits gut vorangekommen sind – Standortes Greifswald/Lubmin für den und zwar nicht zuletzt auch deshalb, weil sich der Bun- ITER (Internationaler Thermonuklearer desinnenminister diese Aufgabe zum persönlichen An- Experimenteller Reaktor) (Tagesordnungs- liegen gemacht hat. Man sollte die bereits erzielten Ar- punkt 12 und Zusatztagesordnungspunkt beitserfolge nicht kleinreden, gerade in Anbetracht der 13) enormen technischen und organisatorischen Kompli- ziertheit der Materie, mit der wir es hierzu tun haben. Ulrich Kasparick (SPD): Gestatten Sie mir zu- Andererseits stehen wir vor der Situation, dass zwi- nächst, dass ich als Abgeordneter aus Drucksachen des schen Bund und Ländern noch bestimmte Meinungsver- Deutschen Bundestages und seiner Ausschüsse zitiere. schiedenheiten über die Verteilung der Finanzlasten Ich zitiere aus der Dokumentation der öffentlichen An- bestehen. Die Behebung dieser Meinungsverschieden- hörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und heiten ist Voraussetzung für die Etatreife des Projekts. Technikfolgenabschätzung zur „Kernfusion“ vom Ich denke, man sollte aber auch in diesem Punkt die 28. März 2001 ein paar Sachverhalte, die für unseren Dinge nicht schwarz malen. Finanzielle Interessensge- Zusammenhang nicht unwesentlich sind. gensätze sind bei föderalen Projekten dieses Zuschnitts Erstens: Für ITER – und entsprechend ein Kraft- sozusagen gottgegeben – und, was noch wichtiger ist, werk – muss eine industrielle Infrastruktur in der wir befinden uns an dieser Stelle mitten in einem laufen- Region vorhanden sein, wie dies für die Errichtung den Diskussionsprozess zwischen Bund und Ländern einer jeden großen und komplexen Industrieanlage wie zwischen den Ländern untereinander. notwendig erscheinen würde. Dieser Diskussionsprozess verläuft übrigens, was vom CDU/CSU-Antrag vornehm verschwiegen wird, Das sagte der Direktor des Garchinger Max-Planck-In- (B) völlig quer zu den parteipolitischen Grenzen. Es ist, stituts für Plasmaphysik, Professor Alexander Bradshaw, (D) ohne dass ich hier Namen nennen möchte, auch nicht so, der zu Recht als weltweit führender Fusionsforscher be- dass die unionsregierten Ländern sich geradezu darin zeichnet wird. Damit wird klar, dass es keine kleinen Fu- überbieten würden, konstruktiv mit eigenen Beiträgen an sionskraftwerke geben wird, sondern nur sehr große Ein- einer Lösung der Finanzierungsfragen mitzuwirken. heiten. Großkraftwerke, zumal in einer nuklearen Technologie, erfüllen nach dem 11. September 2001 die Was die Position der Bundesregierung betrifft, so Sicherheitsanforderungen an ein modernes Kraftwerk kann ich mir schwer vorstellen, dass sie politischen nicht mehr: Diese Großanlagen sind potenzielle Ziele für Streit zwischen den verschiedenen Seiten dieses Hauses Terroristen. hervorrufen könnte. Wir wollen, dass sich die Finanzie- rungsanteile aller Beteiligten ungefähr an dem orientie- Zweitens – ich zitiere weiter –: ren, was von ihnen gegenwärtig jeweils für den Betrieb Studien zu zukünftigen Fusionsreaktoren gehen da- und die Wartung des Analogfunks aufgewendet wird. von aus, dass über die gesamte Lebensdauer eines Mit anderen Worten: Die Einführung des Digitalfunks Fusionsreaktors radioaktive Abfälle in einer Menge darf nicht zur Folge haben, dass der Bund überproportio- von 50 000 bis 100 000 Tonnen anfallen. nal zahlt und damit letztlich einen Teil der sicherheitsbe- hördlichen Aufgabenerfüllung in den Ländern mitfinan- So sagte es Dr. Vetter vom Forschungszentrum Karls- ziert. Alles andere liefe auf einen Finanzausgleich im ruhe zur Anhörung. Bei einem Fusionskraftwerk – sollte Kleinen hinaus, einen aufgabenbezogenen Finanzaus- es jemals gebaut werden – fällt also in erheblichem Um- gleich, zu dem wir unsere Hand nicht reichen können fang radioaktiver Abfall an. Wir halten fest: Fusionsre- und wollen. aktoren leisten demnach keinen Beitrag zur Lösung des Endlagerproblems, vielmehr verschärfen sie es. Ich bin aber zuversichtlich, dass es uns im Laufe der nächsten Zeit gelingt, die bestehenden Hindernisse aus Drittens. Dr. Vetter berichtete weiterhin, dass in Fusi- dem Weg zu räumen. Der Bundesinnenminister wird onsreaktoren waffenfähiges Plutonium erbrütet werden sich weiterhin persönlich dafür einsetzen. Es wäre, kann. Zu einer ähnlichen Auffassung kommt das Büro meine ich, ein Beleg wohlverstandener bundespoliti- für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundes- scher Verantwortungsbereitschaft der Unionsfraktion, tag in seinem Sachstandsbericht zur Kernfusion. „Tri- wenn sie ihn hierbei unterstützen würde – auch wenn tium stellt daher ein wesentliches Proliferationsrisiko dies in parteipolitischer Hinsicht einige Unbequemlich- beim Betrieb von Fusionsreaktoren dar“, heißt es dort. keiten im Verhältnis zu bestimmten Bundesländern mit Wenn Fusionsreaktoren vor allem die zu erwartenden sich brächte. Energieprobleme in den Entwicklungs- und Schwellen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3639

(A) ländern lösen sollen, dürfen wir dieses Risiko zur Ver- Frankreich, eine solche parlamentarische Arbeit ist unse- (C) breitung von Kernwaffen nicht außer Acht lassen. riös. Wir reden hier über Investitionen im mehrstelligen Milliardenbereich! Viertens. Die Fusionstechnologie ist eine äußerst kapi- talintensive Technologie. Wie Professor Bruhns von der Einmal abgesehen von diesem nicht unwichtigen De- EU-Kommission in der Anhörung sagte, seien bislang tail, befindet sich Deutschland mitten in einem wichti- etwa 10 Milliarden Euro in die Fusionsförderung geflos- gen Prozess der Erarbeitung eines neuen nationalen En- sen. Bis zum ersten vielleicht möglichen Kraftwerk in ergieforschungsprogramms. Der Koalitionsvertrag sieht 50 Jahren kommen seiner Meinung nach noch einmal ein solches neues Programm vor, weil die Gewichtungen mindestens 50 Milliarden Euro europäisches Geld dazu. in der bisherigen Energieforschung nicht mehr den An- Zusätzlich hat die Bundesrepublik Deutschland allein in sprüchen der modernen Gesellschaft entsprochen haben: den vergangenen acht Jahren mehr als 1 Milliarde Euro Wir hatten ein viel zu großes Gewicht bei den „alten“ für die nationale Fusionsforschung ausgeben. Diese teu- Energien und viel zu wenig bei den „erneuerbaren“ ren Großkraftwerke sind wegen ihrer immensen Kapital- Energien. Dies wollen wir im Energieforschungspro- intensität keine Lösung für die Dritte Welt, für die sie je- gramm zugunsten der erneuerbaren Energien und der doch eigentlich gedacht sind. Fusionskraftwerke seien Energieeffizienz ändern. In der aktuellen Tagespolitik die „Lastpferde für die Megacities der Dritten Welt“ hatte stellen wir die Nationalökonomie Schritt für Schritt um Professor Bradshaw in der Anhörung vorgetragen. We- auf einen neuen Energiepfad: weg von der erdölabhängi- gen ihrer Kapitalintensität werden sie jedoch genau diese gen, zentralen alten Energieversorgung hin zu einer mo- Bedingung nicht erfüllen können: Diese Technologie er- dernen, dezentralen, auf erneuerbaren Energien gestütz- höht vielmehr die Abhängigkeit der Dritten Welt von den ten Energieversorgung. Industriestaaten. Wir sind mitten in einem Meinungsbildungsprozess Soweit zunächst die Zusammenstellung einiger nicht zur Neuausrichtung der Energieforschung in Deutsch- unwesentlicher Fakten, zitiert aus dem Ausschussproto- land und da kommt die FDP daher und zieht einen alten koll 14/43 vom 28. März 2001 und den Ausschussdruck- Antrag von 2000 aus dem PC. So kann es wirklich nicht sachen 14/383 a und 14/383 d zu eben derselben Anhö- gehen. rung. Alle diese Aussagen stammen im Übrigen von den Das TAB hat in seinem Sachstandsbericht zur Kernfu- leitenden Professoren in Deutschland, die in der Fusi- sion drei Handlungsoptionen aufgezeigt. Eine von die- onsforschung arbeiten, sind also irgendwelcher Funda- sen ist die Option „Neuausrichtung“. Sie zeigt einen mentalismen unverdächtig. Ausstiegspfad aus der Kernfusion, der meiner Meinung Für mich interessant war übrigens in diesem Zusam- nach folgende Bedingungen erfüllen müsste: (B) menhang das ausführliche Aktenstudium zum Thema Erstens. Er müsste im internationalen Vertragsgefüge (D) Fusion, weil sich viele der vorgetragenen Argumente „vertragsverträglich“ sein: Pacta sunt servanda. mittlerweile seit über 40 Jahren durch die Papiere zie- hen: Die einen sehen schnelle Erfolge der Fusion „schon Zweitens. Er müsste den betroffenen Instituten ausrei- in den nächsten zehn Jahren“ – so sah man es etwa in chend Zeit zu einer Umstrukturierung geben, ohne dass den 60ern – immer wieder findet man, dass „das nächste Personal entlassen werden muss. Diesen Prozess der Experiment“ ganz sicher den Durchbruch bei der Strom- Umstrukturierung haben wir übrigens in Deutschland erzeugung bringen werde, in allen Papieren – allerdings bereits mehrfach sehr erfolgreich vollzogen. immer ohne die angekündigten Ergebnisse. Der Ausstiegspfad müsste ähnlich wie beim Atom- Heute beschäftigt uns ein Antrag der FDP, der die ausstieg geeignete Zeiträume berücksichtigen. For- Deutsche Teilnahme am ITER sichern, die Bewerbung schung ist immer mittel- und langfristig angelegt, da für den französischen Bewerberstandort Cadarache un- geht kaum etwas über Nacht. terstützen, Wendelstein, Asdex und die Projekte in Kars- Die Notwendigkeit, sehr rasch zu einer Neugewich- ruhe und Jülich weiterhin fördern und im Haushalt 2003 tung der Prioritäten in der Energieforschung in Deutsch- einen entsprechenden Ansatz für Fusionsforschung ein- land zu kommen, die hat die Energie-Enquete ausdrück- stellen und Verpflichtungsermächtigungen für die Folge- lich betont. Wir werden anders die Herausforderungen jahre vorsehen soll, Drucksache 15/685. Zunächst sieht an Klimaschutz und technologischen Wandel insbeson- man an diesem Antrag die forschungspolitische Kompetenz dere bei der notwendigen Effizienzsteigerung nicht be- der FDP, denn noch vor Kurzem – Drucksache 14/3813 vom stehen können, vor denen unsere Volkswirtschaft steht. 5. Juli 2000 – hat sie beantragt, Deutschland solle sich um Die Energie-Enquete hat darauf hingewiesen, dass wir den ITER bewerben. Jetzt verlangt sie, Deutschland einen deutlichen Prioritätenwechsel brauchen. Der For- solle die französische Bewerbung unterstützen. Ja, was schungsverbund Sonnenenergie, dem ja, wie sicher alle denn nun? wissen, große Forschungseinrichtungen des Bundes an- gehören, hat kürzlich „Anforderungen an ein neues Es ist im Übrigen wirklich putzig mit diesem Antrag: Energieforschungsprogramm“ vorgelegt, die sehr hilfrei- Wenn sie beide Drucksachen nebeneinander legen, dann che Argumente bei der Erarbeitung dieses Forschungs- sehen sie, dass die FDP ihren eigenen Antrag vom 5. Juli programms bereitstellen. Ich empfehle dieses Papier 2000 einfach als Textbaustein noch einmal hervorgezo- sehr der freundlichen Lektüre unter den Fachkollegen. gen und lediglich die Jahreszahl geändert hat. Beide An- träge sind sonst beinahe zu 100 Prozent wortgleich. Ein- Ich habe eine Option der vom TAB empfohlenen mal also den ITER nach Deutschland, jetzt nun nach Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt. Wir sind mitten 3640 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) drin in einem sehr wichtigen Meinungsbildungsprozess. Von den Gegnern der Kernfusion wird ins Feld ge- (C) Ich bin mir sicher, dass wir diesen Meinungsbildungs- führt, die Kernfusion sei eine Großtechnologie, die des- prozess im Vorfeld der Erarbeitung des neuen Ener- halb keine Zukunft habe, weil es künftig nur dezentrale gieforschungsprogramms parlamentarisch gut voran- Energieversorgung gebe. Diese Kritiker übersehen, dass bringen werden, allerdings unter einer Voraussetzung: es in Zukunft eher mehr und größere Ballungsräume ge- Man muss sich etwas Mühe geben. Es genügt nicht, alte ben wird als weniger und kleine. Auch Industrien mit Anträge aus dem Schubfach zu ziehen, wie es die FDP hohem Energiebedarf verlangen eher nach großen Ener- tut. Wir lehnen diesen Antrag deshalb ab. giequellen wie beispielsweise einem Fusionskraftwerk. Schließlich verlangt die Wasserstofftechnologie, die für Die CDU möchte mit ihrem Antrag erreichen, dass den KFZ-Verkehr genutzt werden soll, nach leistungsfä- der Deutsche Bundestag die Bewerbung des Standortes higen Energiequellen. Auch hier kann die Kernfusion ei- Lubmin für den ITER unterstützt. Das ist wirklich eine nen Beitrag leisten. Von Gegnern der Fusionsforschung Nummer zu klein. Um den ITER bewirbt sich ein inter- wird außerdem behauptet, das Wagnis für diese Entwick- nationales Konsortium und Standorte werden im interna- lung sei zu groß. In der Tat müssen weltweit Milliarden- tionalen Konzert der Nationalstaaten ausgehandelt. beträge aufgewendet werden, um in einigen Jahrzehnten Deutschland wird sich nicht um den ITER bewerben. diese Energie nutzen zu können. Dem ist aber entgegen- Das ist auf internationaler Ebene mehrfach laut und zuhalten, dass kein Forschungs- und Entwicklungsvor- deutlich gesagt worden. haben ohne Wagnis ist. Ohne Wagnisbereitschaft hätte Kolumbus nie Amerika entdeckt. Außerdem sprechen Also, am besten wir reden nicht weiter über diesen die mittlerweile vorliegenden Versuchsergebnisse dafür, Antrag, man schmunzelt ohnehin schon genug. dass die Kernfusion mit aller Wahrscheinlichkeit tech- Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) (CDU/CSU): Der nisch zur Stromerzeugung nutzbar ist. Sie ist eine Option Antrag der FDP, der eine verstärkte Förderung der Fusi- für die Zukunft. Nach meiner Meinung ist es auch eine onsforschung in Deutschland und Europa fordert, ist gut. faszinierende Aufgabe, für die sich gerade junge Men- Er könnte von der Union sein. Wir unterstützen den An- schen begeistern könnten. trag deshalb. Der Antrag der CDU/CSU ist noch besser. In der Kernfusionsforschung ist jetzt eine Entschei- Er fordert die Unterstützung für eine Bewerbung des dung über ITER notwendig. Dieses internationale Pro- Standortes Greifswald/Lubmin für den ITER. Über die jekt soll die Möglichkeit der Kernfusion im großtechni- besondere Eignung des Standortes Greifswald wird der schen Maßstab beweisen. ITER soll in internationaler Kollege Michael Kretschmer sprechen. Er wird auch Zusammenarbeit von EU, USA, Japan, Russland, Ka- deutlich machen, welch außergewöhnlicher Impuls für nada und China gebaut werden. Es wäre zum Schaden (B) Wissenschaft und Wirtschaft von einer Standortentschei- Deutschlands, wenn wir an diesem Projekt nicht beteiligt (D) dung zugunsten Greifswald ausgehen wird. Ich möchte wären. Technisches Wissen und Können würde von uns daher im Folgenden mehr über die Bedeutung der Kern- abwandern. Die Chancen, später weltweit am Bau von fusion im Allgemeinen sprechen. Kraftwerken beteiligt zu werden, würden sinken. Aus Zunächst noch einmal: Was ist die Kernfusion? Die diesen Gründen haben wir auch großes Interesse daran, Kernfusionsforschung möchte den Prozess, der in der dass ITER in Europa gebaut wird. Sonne natürlich abläuft, technisch auf der Erde zur Es ist aber nicht nur notwendig, bei ITER angemessen Stromgewinnung nutzbar machen. Das ist ein sehr ehr- beteiligt zu sein. Wir müssen auch in der nationalen For- geiziges Vorhaben. Warum brauchen wir die Kernfu- schung und Entwicklung die Spitzenstellung, die sich sion? Es ist unstrittig, dass der Weltenergiebedarf in den die Institute in Garching, Greifswald, Karlsruhe und Jü- nächsten Jahrzehnten steigen wird. Man denke nur da- lich erarbeitet haben, erhalten und ausbauen. In Deutsch- ran, was es heißt, wenn Länder wie China und Indien an- land sind wesentliche Elemente für ITER entdeckt und nähernd den Lebensstandard wie Westeuropa erreichen entwickelt worden. Wir sollten auch dabei sein, wenn wollen. Auf der anderen Seite sollen fossile Energieträ- die wirtschaftliche Nutzung beginnt. Deshalb müssen ger wegen der CO2-Problematik weniger verbraucht wir uns gleichzeitig um eine angemessene Beteiligung werden. Die Kernfusion bietet die Möglichkeit der Ener- an ITER bemühen und unsere nationalen Fähigkeiten in gieversorgung unter günstigen Bedingungen. Der Roh- der Kernfusionsforschung halten oder – noch besser – stoff für die Kernfusion ist unbegrenzt und in allen Län- ausbauen. dern verfügbar. Es entsteht kein CO2. Im Vergleich zur Kernspaltung gibt es deutlich weniger langlebige und Von den Gegnern der Kemfusionsforschung wird im- leichter handhabbare radioaktive Abfälle. Außerdem mer wieder ins Feld geführt, dass die Ergebnisse zu sind Fusionskraftwerke nach den bisherigen Erkenntnis- lange auf sich warten lassen. Diese Gegner verkennen, sen inhärent sicher. dass sich die Entwicklung auch beschleunigen lässt, wenn alle Beteiligten dies wollten. Es ist jedenfalls un- Wenn wir also die Energieversorgung künftiger Gene- redlich, der Fusionsforschung Verzögerungen vorzuwer- rationen sichern wollen, müssen wir die technische Nut- fen, die man selbst im politischen Feld verursacht hat. zung der Kernfusion vorantreiben. Gleichzeitig müssen natürlich auch die erneuerbaren Energien mit allem Nach wie vor ist unverständlich, warum grüne Ideolo- Nachdruck gefördert werden. Die Kernfusion ist keine gen die Kernfusion, die eine umweltfreundliche, sichere Alternative, sondern eine Ergänzung zu den regenerati- und preiswerte Energieversorgung verspricht, bekämp- ven Energien. fen. Wenn man allerdings den Weg mancher Grünen – von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3641

(A) der Forderung zur Abschaffung der Bundeswehr bis zum schuss, feststellte: Bei den Strompreisen ist die Ober- (C) Einsatz in Afghanistan – betrachtet, können wir, so denke kante Oberlippe erreicht! Es geht so nicht weiter, wir ich, auch in der Kernfusionsforschung noch hoffen. Ich machen unsere Unternehmen kaputt. appelliere aber ganz besonders an diejenigen in der Koa- lition, die Realitätssinn mit der Fähigkeit zu Visionen Hinzu kommt: Weder bei der Geothermie noch bei verbinden: Lassen Sie uns gemeinsam im Interesse unse- der Windkraft sind große Innovationsschübe zu erwar- rer Kinder und Enkel die Kernfusionsforschung voran- ten. treiben als Option für eine sichere, umweltfreundliche Es tut mir Leid, aber hier wird der Unterschied zwi- und kostengünstige Energiequelle der Zukunft! Mit der schen Ihrer Welt und unser Politik überdeutlich: Uns be- Bewerbung Greifswalds für den ITER sollten wir ein geistert nicht nur, wenn der Wind weht, wir wollen durch Zeichen setzen. technischen Fortschritt das Lebensniveau der Menschen heben. Mit der Kernfusion ist das möglich, darum unter- Michael Kretschmer (CDU/CSU): Die Fläche auf stützen wir sie. dem ehemaligen Kernkraftwerksgelände in Greifswald eignet sich hervorragend für die Kernfusionsversuchsan- Ein Standort in Deutschland für ITER würde die deut- lage ITER. Die Menschen in der Region sind aufge- sche Spitzenstellung in diesem Bereich untermauern. Mit schlossen für neue Technologien und wissen, Kernfusion der Ansiedlung der Anlage in Mecklenburg-Vorpommern hat nichts mit der bekannten Kernspaltung gemein. Das könnte die Regierung ein gegebenes Versprechen begin- positive Echo in der Öffentlichkeit auf die Arbeit des nen einzulösen. Sie haben in ihrem Koalitionsvertrag ITER-Förderverbandes ist wichtig für diese Bewertung. festgehalten, zur Förderung der wirtschaftlichen Ent- wicklung bevorzugt Großforschungseinrichtungen in den Kernfusion ist eine Zukunftstechnologie. Dass sich neuen Bundesländern anzusiedeln. die Welt an den Bau einer solchen Großforschungsan- lage macht, ist eine grandiose wissenschaftliche und in- Das Gegenteil tun sie derzeit. Von den vier Einrich- genieurtechnische Leistung. Wir von der CDU/CSU- tungen in einem Gesamtvolumen von 1,6 Milliarden Fraktion sind begeistert und stolz auf den übergroßen Euro, die von der Ministerin Bulmahn im Februar insge- Beitrag, den deutsche Wissenschaftlicher an diesem Er- samt zugesagt wurden, befindet sich nur eine, die folg haben. Es ist ein Zeichen, welche Potenziale in un- kleinste Einrichtung im Osten. Von den 1,6 Milliarden serem Land vorhanden sind und welche Zukunftsper- fließen nur 24,5 Millionen in die neuen Bundesländer. spektiven wir haben, wenn sie nicht aus ideologischen Dabei wissen Sie, wie die Arbeitslosigkeit steigt, die Gründen kaputt gemacht werden. Wir brauchen einen wirtschaftliche Entwicklung zwischen Ost und West aus- Ausbau der Kernfusionsforschung in Deutschland. Eine einander geht und die richtigen Impulse zur Wachstums- (B) Reduzierung, wie sie offenbar in den Koalitionsfraktio- förderung der kleinen Unternehmen nicht ausreichen. (D) nen diskutiert wird, kommt der Amputation gesunder Der Osten braucht weitere, neue Impulse. Bereits heute und starker Gliedmaßen gleich. Es wäre zudem ein hefti- arbeiten in Greifswald 300 Menschen in der Kernfu- ger Schlag gegen die Wissenschaft in den neuen Bundes- sionforschung, in einer Region, die mit 23,3 Prozent Ar- ländern, denn von den rund 1 000 Menschen, die derzeit beitslosigkeit leider an der Spitze der Statistik liegt. Mit in Deutschland in der Kernfusionsforschung beschäftigt ITER kann das Zwei- bis Dreifache an Arbeitsplätzen sind, arbeitet rund ein Drittel in den NBL. Greifswald ist entstehen. Und dabei ist noch nicht beachtet, welche dabei der Leuchtturm. Wirkung die Aufwertung des Wissenschaftsstandortes Mecklenburg für die Wirtschaft bringen könnte. Schon Mit der Kernfusion können viele tausend Arbeits- allein aus diesem Grund lohnt sich der Einsatz für ITER. plätze entstehen, wenn in nicht allzu ferner Zukunft Wir jedenfalls sind dazu bereit. diese Technologie marktreif ist. ITER ist die letzte Stufe vor dem Bau des ersten Kernfusionskraftwerks. Die vie- Frau Bundesministerin, machen Sie sich die Bewer- len beteiligten Staaten haben erkannt: Hier entsteht eine bung des ITER-Förderverbands zu Eigen und beginnen ökologisch verträgliche und ökonomisch vielverspre- Sie umgehend mit der Suche nach Verbündeten. Sorgen chende Energiequelle der Zukunft. Sie für einen Ausbau der Kernfusionsforschung in Deutschland und gebieten Sie den Ideologen in der Koa- Auf den ökonomischen Effekt will ich aus gegebenem litionsfraktion Einhalt. Die Menschen in Deutschland Anlass besonders hinweisen. Erst gestern wurde uns ein werden es Ihnen danken. Bericht über die Möglichkeit geothermischer Strom- erzeugung in Deutschland vorgestellt. Von 122 Seiten widmen sich immerhin sechs der Frage, ob das Bohren Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 4 000 Meter tiefer Löcher und die Verwertung der Der Kernfusions-Antrag der FDP ist eine Bankrotterklä- dort vorhandenen Gesteinswärme von durchschnitt- rung für eine Partei, der früher einmal Wirtschaftskom- lich 150 Grad Celsius wirtschaftlich ist. Am Ende steht petenz zugesprochen wurde. Die FDP setzt sich für eine bei allergünstigster Annahme unter dem Strich eine 13,4. Technologie ein, die unvergleichlich erfolglos ist: Seit 13,4 Eurocent kostet die Kilowattstunde Energie. fast 50 Jahren wird uns versprochen, dass sie in spätes- 8,4 Eurocent sind es bei Windenergie und nur 2,8 bzw. tens 50 Jahren funktioniere, und auch heute spricht man 3,2 bei Erdgas oder Steinkohle. noch von 50 Jahren. Der indische Physiker Baba hat übrigens bereits 1955 auf der Weltenergiekonferenz ge- Der Bundeswirtschaftsminister hat völlig Recht, sagt, in 20 Jahren werde der erste Reaktor am Netz wenn er gestern ebenfalls, allerdings im Europaaus- sein. Und auch die jüngste Geschichte zeigt, wie wenig 3642 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) von zeitlichen Prognosen zu halten ist: Schon nach we- Die FDP spricht sich vollkommen zu Recht für den (C) nigen Jahren Bauzeit ist das Fusionsexperiment Wen- Erhalt einer lebenswerten Umwelt auch für künftige Ge- delstein 7 X in Greifswald um Jahre in Verzug. Das ein- nerationen aus. Abgesehen davon, dass sie erneuerbare zige, was bei der Kernfusion herauskam, ist ein Anstieg Energien an jeder Ecke bekämpft, will sie jetzt die Um- der Kosten und die Verlängerung der Erwartungszeit- welt erneut mit einer Nukleartechnologie erhalten. Sie räume. ignoriert dabei, dass diese Nukleartechnologie weiterhin in hohem Maße Radioaktivitätsprobleme mit sich führt. Hinzu kommt, dass die von den Anhängern der Fu- Die Radioaktivität klingt zwar schneller ab als bei der sionsenergie erwarteten Stromerzeugungskosten so hoch Kernspaltung, geht aber mit höherer Strahlung einher. sein werden, dass diese Technologie niemals wettbe- werbsfähig wäre. Erneuerbare Energien sind bereits Auch die Abfälle der Kernfusion werden die Men- heute günstiger oder werden es in 50 Jahren sicher sein. schen noch über Hunderte Jahre sicher verwahren müs- sen. Wie das sicher funktionieren soll, wissen wir be- Ich frage mich im Übrigen auch, wie die FDP diesen kanntlich bis heute nicht. Des Weiteren gibt es keine Antrag dem Mittelstand erklären will. Der Mittelstand Vorstellung, wie die Tritiumrückhaltung gelingen soll. braucht dringend Geld für technologische Innovationen Dabei sollte jedem bewusst sein, dass Tritium ein sehr und die FDP will das Forschungsgeld auf eine Technolo- gefährliches, stark diffundierendes Gas ist. gie konzentrieren, von der der Mittelstand nichts hat. Al- Auch will die FDP ein angemessen niedriges Energie- lenfalls würden einige Bauunternehmen und große Kon- Preis-Niveau erhalten. Wie will sie das aber mit einer zerne am Bau von Forschungsreaktoren beteiligt Technologie erreichen, die nach Aussagen der Kernfusi- werden. Mehr ist aber auch nicht zu erwarten. Somit onsforscher Strom zu Kosten von circa 7 bis 8 Cent er- wäre der Effekt des FDP-Vorschlages vor allem eine Be- zeugen soll? Und das erst ab dem zehnten Reaktor! Wer schäftigungsmaßnahme. finanziert die ersten neun Reaktoren in der Größenord- nung von vermutlich jeweils einigen Tausend Megawatt Die FDP spricht in der Überschrift des Antrages von und Dutzenden Milliarden Investitionskosten? Und einer „zukunftsorientierten Energieforschung“. Doch sie wieso sagt die FDP nichts dazu, dass die Entwicklung meint nicht die Windenergie, bei der wir Weltmeister der Kernfusion global 70 bis 80 Milliarden Euro kosten sind, sie meint auch nicht die Solarstromerzeugung, bei soll? Wie kann die FDP hier von einem angemessenen, der wir Vizeweltmeister sind, und sie meint auch nicht niedrigen Energie-Preis-Niveau sprechen? die geothermische Stromerzeugung oder die Bioenergie mit ihren riesigen Potenzialen in Deutschland. Sie sieht Die FDP will mit der Kernfusion die weltweiten ener- nicht die vorhandenen und zukünftigen Märkte dieser giebedingten Spannungspotenziale verringern. Sie igno- riert dabei, dass es schon heute Konflikte um Energieres- (B) Technologien und sie missachtet die Wettbewerbssitua- (D) tion, in der sich die Unternehmen der Erneuerbaren-En- sourcen gibt und diese mit der absehbaren Verknappung ergie-Technologien befinden. All diese Technologien von Erdöl und Erdgas weiter zunehmen werden. Wir brauchen Strategien, die Konfliktpotenziale bereits heute finden sich im Forderungsteil des Antrages mit keinem und morgen minimieren und nicht erst in der zweiten Wort wieder. Hälfte des Jahrhunderts und auch dann nur vielleicht. Leider hat die FDP ihren wirtschaftspolitischen Sach- Es ist mehr als schade um jeden Euro, der für die Kern- verstand in der Zwischenzeit einer nuklearen Utopie ge- fusionforschung verschwendet wird. Das Geld wäre bei opfert. Ich fordere die Wirtschaftspolitiker der FDP – ins- den erneuerbaren Energien viel besser aufgehoben. Diese besondere die Mittelständler – auf, sich näher anzusehen, decken trotz marginaler Forschungsmittel global schon welche Anträge von den eigenen Forschungspolitikern über 12 Prozent des Weltenergiebedarfs. Bis zur Mitte vorgelegt werden. des Jahrhunderts wäre eine vollständige Deckung mög- lich. Doch wurden OECD-weit in den letzten 50 Jahren Doch die FDP gibt nicht nur eine wirtschaftspoliti- die falschen Schwerpunkte gesetzt. 70 bis 80 Prozent der sche Bankrotterklärung ab. Mehr noch: Sie zeigt, dass Energieforschungsmittel flossen in die Kernfusion und sie in keiner Weise den energie- und umweltpolitischen Kernspaltung. Die Ergebnisse lauten: 5 Prozent Anteil Herausforderungen gewachsen ist, die sie selbst be- der Atomspaltung und 0 Prozent für die Kernfusion. nennt: Wir haben wiederum das getan, was die FDP zu Die FDP zeigt zu Recht das Problem der Versorgungs- Recht in der Forschungspolitik einfordert: Wir haben sicherheit auf: Sie schlägt vor, das Problem mit einer Forschung evaluiert und wollen aus dem Ergebnis die Technologie zu lösen, die, wenn alles gut läuft, in 50 Jah- Konsequenzen ziehen. Wir wollen daher im Sinne ande- ren zur Verfügung stehen könnte. Sie ignoriert damit, dass rer Forschungsfelder bei der Kernfusion Mittel einspa- die Vorräte an Erdöl, Erdgas und billigem Uran bis dahin ren. Die einseitige Festlegung in Ihrem Antrag auf die drastisch zurückgehen. Und sie ignoriert auch, dass sich Fusion zeigt auf, dass Sie es mit Ihren Zielen nicht ernst die verbleibenden Vorräte auf immer weniger Länder meinen. Würden Sie Ihren eigenen genannten Zielen fol- konzentrieren werden und vor allem die europäische Erd- gen, müssten Sie für den Ausstieg aus der Fusionsfor- ölproduktion ihren Höhepunkt bereits überschritten hat. schung eintreten. Die Konzentration der FDP auf eine Zukunftsutopie trägt Widersprüchliche Anträge lehnen wir ab. Stattdessen zur Lösung der Versorgungsprobleme nichts bei. Bis in werden wir, wie im Koalitionsvertrag festgelegt, die großer Zahl Fusionskraftwerke gebaut werden könnten, Schwerpunkte auf erneuerbare Energien und Energie- müssen diese Probleme längst gelöst sein. sparen legen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003 3643

(A) Ulrike Flach (FDP): Die rot-grüne Bundesregierung gung und der Behandlung und des Verbleibs der Rück- (C) hat den Ausstieg aus der Kernenergie gesetzlich gere- stands- und Abfallprodukte des Energiegewinnungs- gelt, die bisher 30 Prozent des Strombedarfs in Deutsch- prozesses suchen. Hierzu zählen auf der einen Seite alle land deckt. Was uns diese Bundesregierung bis heute Arten der Nutzung regenerativer Energieträger, aber schuldig blieb, ist ein in sich geschlossenes Konzept ei- auch innovative Kernreaktoren, die entscheidende Maß- ner künftigen Energieversorgung in Deutschland. Das nahmen zum Schutz der schädlichen Wirkung ionisie- Einzige, was Rot-Grün zu diesem Thema einfällt, ist, render Strahlen außerhalb des abgeschlossenen Gebäu- durch die Förderung der erneuerbaren Energien, Kraft- des der Anlagen nicht erforderlich machen. Wärme-Kopplung und Bioenergie gesetzlich an den Dauertropf von Subventionen zu hängen. Bereits im ver- Die nachhaltige Zurückführung der energiebedingten gangenen Jahr wurden so den Deutschen über 2,2 Milli- Emissionen in die Erdatmosphäre kann nur dann erreicht arden Euro Kaufkraft entzogen. werden, wenn global durch emissionsarme oder -freie Energieträger Potenziale zur Energieeffizienzsteigerung Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie und zur Energieeinsparung verfügbar und wettbewerbs- brauchen sich nicht zu wundern, wenn so der wirtschaft- fähig gemacht werden. liche Aufschwung ausbleibt! Die deutsche Forschung muss neben nationalen Akti- Eine auf die Zukunft ausgerichtete Energiefor- vitäten immer stärker in die europäische und internatio- schungspolitik muss sich an völlig neuen Energiekon- nale Energieforschung integriert werden. zepten orientieren, will sie den Herausforderungen des Weltenergieverbrauchs und der Entwicklung in der Für den Zeitraum 2002 bis 2006 zeigt das 6. Rahmen- Dritten Welt gewachsen sein. Im Mittelpunkt stehen programm der Europäischen Union im Bereich der For- auf der einen Seite die Erhaltung der Energieversor- schung, der technologischen Entwicklung und Demons- gungssicherheit, einer lebenswerten Umwelt auch für tration mit dem Förderungsrahmenprogramm der künftige Generationen, die Erhaltung eines angemesse- Europäischen Atomgemeinschaft, EURATOM, den Weg nen Energie-Preis-Niveaus und die Verringerung der auf. Förderungsempfänger sind das Max-Planck-Institut weltweiten energiebedingten Spannungspotenziale an- für Plasmaphysik und die Forschungszentren Jülich so- gesichts der absehbaren Verknappung der Energie- wie Karlsruhe als Mitglieder der Hermann v. Helmholtz- ressourcen. Es ist daher für Staat und Wirtschaft eine Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren. Gefördert Aufgabe ersten Ranges, den Ausbau der Nutzung er- wird ausschließlich die Grundlagenforschung in Höhe neuerbarer Energien und damit auch die Fusionsfor- von 100 Prozent der entstehenden Kosten. Im Rahmen schung voranzubringen. dieses spezifischen Programms für Maßnahmen im Be- (B) Die Fusionsforschung hat inzwischen ein Stadium er- reich der Forschung und Ausbildung ist die Leitaktion (D) reicht, in dem es wissenschaftlich und technisch möglich „Kontrollierte Kernfusion“ eingebunden. In dieser Leit- ist, mit dem Bau eines Experimentalreaktors als einer aktion geht man davon aus, dass künftig alle Energie- Vorstufe zu einem Fusionskraftwerk zu beginnen. Daher quellen genutzt werden müssen, um bis zum Jahre 2025 muss an der politischen Option „Kernfusion für eine zu- die weltweite gestiegene Energienachfrage decken zu künftige Energieversorgung“ festgehalten und die dies- können. Mit der Förderung der Fusionsforschung im bezüglichen Forschungs- und Entwicklungsprojekte in internationalen Maßstab wird das Ziel verfolgt, einen Deutschland und Europa zielgerichtet durchgeführt wer- Reaktorprototyp zu bauen. den. Angesichts des großen internationalen Interesses an der Fusionsforschung ist es sehr wichtig, die deutsche Die Fusionsforschung ist zugleich ein fester Bestand- Wissenschaftskompetenz und Technologieführerschaft teil der Energieforschung in Deutschland, die in ihrer in ein derartiges Großprojekt einzubeziehen und unter Gesamtheit auf die Lösung globaler Energieprobleme Beweis zu stellen. ausgerichtet ist und somit auch die Interessen der Länder der Dritten Welt berücksichtigt. Sie orientiert sich aus- Sie alle wissen, dass auch die USA sich zum Thema schließlich an der friedlichen Nutzung dieser Ener- Fusionsforschung und ITER wieder zurückgemeldet ha- gieform. Die darauf ausgerichteten Forschungen am ben. Die USA werden sich an diesem wichtigen interna- Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching bei tionalen Projekt mit 10 Prozent der Bau- und Betriebs- München sowie am Außenstandort Greifswald müssen kosten wieder angemessen beteiligen. Dieses klare uneingeschränkt weiter betrieben werden. Bekenntnis zur Fusionsforschung und zu ITER ist für mich zugleich auch ein Beleg dafür, dass zukunftsorien- Mit dem nationalen Fusionsforschungsprojekt „Wen- tierte Forschungspolitiker, wozu ich auch die der FDP delstein 7-X“, dem weltweit größten Fusionsexperiment zähle, den richtigen Weg beschreiten. nach dem Stellarator-Prinzip, muss Deutschland mit fi- Eine zukunftsweisende Energieforschungspolitik nanzieller Unterstützung der EU das Ziel verfolgen, ei- muss einen Beitrag zur Sicherung des Industrie- und nen auf künftigen Dauerbetrieb ausgelegten Fusionsre- Wirtschaftsstandortes Deutschland leisten. Vor diesem aktor zu bauen und seine Funktionstüchtigkeit unter Hintergrund soll sich die zukünftige staatliche geförderte Beweis zu stellen. Energieforschung stärker an den neuen Herausforderun- gen ausrichten. Außer Frage steht für mich, dass auf der Grundlage der umfangreichen wissenschaftlichen und technischen deut- Die Grundlagenforschung muss in internationaler Ko- schen Kenntnisse in der Fusionsforschung Deutschland operation nach neuen Möglichkeiten der Energieerzeu- sich an der Entwicklung und dem Bau des modifizierten 3644 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 8. Mai 2003

(A) Internationalen Thermonuklearen Experimentierreak- Weltweit wird zur Zeit über den Bau des nächsten (C) tors, ITER, beteiligt. großen Fusionsexperiments, ITER, diskutiert. Nachdem inzwischen auch die USA den Verhandlungen zum Bau Deutschland muss dabei die Bewerbung Frankreichs von ITER wieder beigetreten sind, sind alle großen In- um den Standort für den Internationalen Thermonuklea- dustrienationen – Europäische Union, Japan, USA, Ka- ren Experimentierreaktor, ITER, unterstützen und sich nada und Russland sowie China – an diesen Verhandlun- an der Planung, dem Bau und dem Forschungsbetrieb gen beteiligt. beteiligen. Das entspricht der Rolle und Bedeutung bei- der Länder als führende Industrienation in der Welt. Wir sind inzwischen bei diesen Verhandlungen ein gutes Stück weitergekommen. Standortbewerbungen für ITER liegen aus Japan, Kanada und Europa vor. Europa Christoph Matschie, Parl. Staatssekretär bei der bietet derzeit noch zwei Standorte an: Cadarache in Bundesminsterin für Bildung und Forschung: Wir sind Frankreich und Vandellos in Spanien. Deutschland be- heute wahrscheinlich immer noch Jahrzehnte von einer wirbt sich wegen anderer Prioritätensetzung nicht um ei- kommerziellen Nutzung der Fusionsenergie entfernt. nen Standort. Wir bleiben damit in der Kontinuität der Mehr noch, wir wissen nicht, ob diese Energie tatsäch- Vorgängerregierung, die bereits 1996 eine Bewerbung lich einmal genutzt werden kann. Wir sind uns auch der um einen ITER-Standort ausgeschlossen hat. Diese Dis- teilweise kontroversen Diskussion zur Nutzung der Fu- kussion heute mit umgekehrtem Vorzeichen wieder auf- sion bewusst. Dennoch ist die Fusion aus heutiger Sicht zugreifen, zeigt entweder Unkenntnis und Konzeptions- eine nicht auszuschließende Option. Daher setzt die losigkeit oder unehrlichen Populismus. Bundesregierung in ihrer Forschungspolitik auf einen Eine Reihe von Mitgliedstaaten drängt inzwischen bei Energiemix, um Optionen für die Zukunft offen zu hal- der EU-Kommission darauf, dass diese einen Prozess in ten. die Wege leitet, um zu einem europäischen Standort zu Klar ist aber auch: Die drängenden Klimaprobleme kommen. Deutschland sieht dies ähnlich. verlangen ein sofortiges Umsteuern in der Energiepoli- Für die EU werden die Verhandlungen zu ITER durch tik. Darauf hat die Bundesregierung reagiert; denn wir die Europäische Kommission geführt, die dazu ein Ver- können nicht warten, bis die Fusionsenergie möglicher- handlungsmandat des Forschungsministerrats hat. weise in 40 bis 50 Jahren zur Verfügung stünde. Mitte Mai wird es eine Diskussion der EU-For- Die Bundesregierung hat sich in der Koalitionsverein- schungsminister über den Stand der Vertragsverhandlun- barung für eine Priorität der erneuerbaren Energien, der gen geben. Deutschland wird dabei weiter darauf drän- gen, dass es zu einer ausgewogenen Verteilung der (B) rationellen Energieverwendung und von Energieeinspa- (D) rungsmaßnahmen ausgesprochen. Kosten für den Bau von ITER kommt und dass eine trag- fähige Struktur der zu gründenden internationalen Orga- Folgerichtig heißt es daher auch in den forschungspo- nisation gefunden wird. litischen Vorgaben für den Forschungsbereich Energie Im Haushalt des BMBF sind 2003 wie im Vorjahr der Helmholtz-Gemeinschaft, dass der vorgesehene fi- 112 Millionen Euro für die Finanzierung der Fusionsfor- nanzielle Aufwuchs auf die Gebiete erneuerbare Energien schung vorgesehen. Darin ist auch die weitere Finanzie- und rationelle Energieumwandlung zu konzentrieren ist. rung von Wendelstein 7-X enthalten. Die Verteilung der Fusionsforschung ist ohne steigenden finanziellen Ansatz Mittel zwischen den drei deutschen Fusionsforschungs- durchzuführen. Dies führt zu einer Diskussion über eine standorten hängt entscheidend vom Ergebnis der gerade Konzentration der Fusionsaktivitäten in Deutschland. Al- stattgefundenen HGF-Begutachtung ab. Die Ergebnisse lerdings muss die internationale Vernetzung dieser For- der Begutachtung werden Ende 2003 im Senat der HGF schung dabei im Blick bleiben. beraten. Die deutschen Fusionsforschungsinstitute sind eng Sie sehen: Der vorliegende Antrag der FDP fordert, eingebunden in das europäische Forschungsprogramm. was die Bundesregierung längst tut, wiederholt einen Die laufenden Forschungsarbeiten werden zu einem er- FDP-Antrag aus der 14. Legislaturperiode und ist gerade heblichen Teil über Euratom gefördert. Dies trifft insbe- in seiner Einseitigkeit unausgewogen, der Antrag der sondere auch auf das Stellaratorexperiment Wendelstein CDU/CSU kommt wohl zehn Jahre zu spät. Ich bitte Sie 7-X zu, das derzeit in Greifswald aufgebaut wird. daher, beide Anträge abzulehnen.

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