MATERIALIEN

Christoph Kelz, Hendrik Mayer und Erhard Weinholz SOZIALISTISCHE ALTERNATIVE DDR 89 DIE INITIATIVE FÜR EINE VEREINIGTE LINKE IN TEXTEN UND DOKUMENTEN INHALT

Editorial 2

Christoph Kelz, Hendrik Mayer und Erhard Weinholz Eine Geschichte linker Alternativen 4 Vorbemerkungen zum Thema Vereinigte Linke

Erhard Weinholz Unser linkes Ding 7 Ein Rückblick auf die VL

Christoph Kelz Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989 31 Initiative «Vereinigte Linke»

Hendrik Mayer «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 47 Werkstattbericht zur Aufarbeitung von Materialien der Vereinigten Linken Rostock

Quellen und Literatur 66

Dokumentenanhang 68

Appell 94 Für eine Sammlung von Materialien der VL!

Autoren 95 2 Editorial

EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser, Leider ist vieles davon auf dem Weg in die deutsche Einheit auf der Strecke geblieben. 30 Jahre danach sind viele Geschichten über Einige Mitstreiter*innen aus der Zeit der re- die politische Wende in der DDR und insbe- volutionären Um- und demokratischen Auf- sondere über den Weg in die deutsche Einheit brüche in der DDR sind auch heute noch ak- noch immer nicht erzählt. Dabei stehen indivi- tiv, andere haben sich, oft enttäuscht von den duelle Erfahrungen weiterhin nicht selten im Möglichkeiten realer Einflussnahme, zurück- Gegensatz zum offiziellen Erinnerungsdiskurs. gezogen. Die damaligen Friedens-, Umwelt- Ich erinnere mich beispielsweise an das da- und Menschenrechtsgruppen gehörten zu malige Tempo der gesellschaftlichen Verän- den politischen Hauptakteuren in der Wen- derung und dass es manchmal schwerfiel, dezeit und viele von ihnen sind im offiziellen Schritt zu halten. Ich erinnere mich an die vie- «Einheits-Gedächtnis» als Bürgerbewegun- len neuen Parteien und Bewegungen, die in gen weiterhin präsent. dieser Zeit entstanden sind und die heute kei- Nicht so die Initiative für eine Vereinigte Linke ne oder kaum noch eine Rolle spielen. Ich er- (VL), die ab Herbst 1989 aktiv war. Sie trat für innere mich an die Runden Tische, an denen eine Reform des Sozialismus unter Beibehal- die unterschiedlichsten politischen Akteu- tung des gesellschaftlichen Eigentums an den re um den künftigen Weg stritten und neue Produktionsmitteln ein und lehnte den Beitritt Demokratieerfahrungen sammelten. Ich er- der DDR zur BRD ab. Sie kämpfte sozusagen innere mich an die Aufbruchsstimmung, die sowohl gegen Politbüro als auch gegen Kapi- Stefan Heym bereits auf der großen Demons- talherrschaft. Ihr Ziel war ein basisdemokra- tration auf dem Berliner Alexanderplatz am tisch verfasstes sozialistisches Gemeinwesen. 4. November 1989 in die Worte fasste, es war, Ich erinnere mich noch an die engagierten «als habe einer die Fenster aufgestoßen nach Beiträge von Thomas Klein, der für die VL in all den Jahren der Stagnation, der geistigen, der letzten DDR-Volkskammer saß. wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Heute, 30 Jahre später, sind die Initiative für Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch eine Vereinigte Linke, ihre Forderungen und und bürokratischer Willkür, von amtlicher Aktivitäten nur noch wenigen bekannt. Im Blindheit und Taubheit». Es gab eine kurze Unterschied zu den Bürgerbewegungen, , in der alles möglich schien – sogar ein de- zum großen Teil in den etablierten Parteien des mokratischer Sozialismus. bundesdeutschen Systems aufgingen, ist von Wie engagiert an den Runden Tischen und der VL nur wenig überliefert. Durch glückliche später in der letzten Volkskammer der DDR Umstände hat eine größere Anzahl Dokumen- um Mehrheiten gerungen wurde, habe ich te der Vereinigten Linken in Rostock die Zeit selbst miterlebt. Die Atmosphäre und das überdauert. Sie wurden jetzt gesichtet, zu- Arbeitspensum, das die Abgeordneten bis sammengestellt und bilden den Grundstock zum 3. Oktober 1990 bewältigten, sind heu- für die vorliegende Publikation, die das loka- te kaum vermittelbar. Dabei wäre es durchaus le und regionale Wirken der VL in Mecklen- lohnenswert, wissenschaftlich zu ergründen, burg-Vorpommern in den Vordergrund rückt. welche Formen politischer Meinungsbildung, Dieses Materialienheft gibt einen kleinen Ein- Demokratie und Partizipation in den Aufbrü- blick in die Aktivitäten und den Wandel der chen 1989/90 erfolgreich ausprobiert wurden. Sammlungsbewegung, in die vielen Diskus­ Editorial 3

sio­nen, Aufrufe und Hoffnungen, in die Suche te die Rosa-Luxemburg-Stiftung an die VL nach alternativen Wegen. Die hier veröffent- und ihre Geschichte erinnern, zur histo - lichten Dokumente – Plakate, Zeitungsaus- risch-kritischen Aufarbeitung des letzten Jah- schnitte, Texte und Artikel – stammen aus der res der DDR beitragen und neue Debatten be- Zeit zwischen September 1989 und Oktober fördern. 1990 vorrangig aus Rostock und Umgebung. Ich danke den drei Autoren für die Arbeit an Ihre Dagmar Enkelmann, Vorstandsvorsit- diesem Projekt. Mit dieser Publikation möch- zende der Rosa-Luxemburg-Stiftung 4 Eine Geschichte linker Alternativen

Christoph Kelz, Hendrik Mayer und Erhard Weinholz EINE GESCHICHTE LINKER ALTERNATIVEN VORBEMERKUNGEN ZUM THEMA VEREINIGTE LINKE

Sie hören heute zum ersten Mal, dass es hier- Immerhin könnte sich die Forschung anhand zulande eine «Initiative für eine Vereinigte veröffentlichter Materialien den Grundzügen Linke» (VL) gegeben hat? Oder haben nie so der VL und ihrer Geschichte widmen. Sie stün- recht verstanden, allenfalls vermuten können, de mit solchen Untersuchungen thematisch in was für Menschen sich damals, im Herbst einer guten Tradition: Vor bald 60 Jahren hat 1989, in dieser Gruppierung zusammenge- der in Marburg lehrende Wolfgang Abend­roth funden haben? Verwunderlich wäre es nicht: mehrere Dissertationen zur Geschichte linker Mehr über die Vereinigte Linke zu erfahren, Organisationen veranlasst, von Zwischen- als sich dem Wikipedia-Eintrag entnehmen gruppen wie der Sozialistischen Arbeiterpar- lässt, erweist sich als mühsames Geschäft. tei (SAP) zum Beispiel und der sich als inner- In gewissem Maße liegt das an der Eigenart parteiliche Opposition verstehenden KPD (O), dieser Organisation: Die VL war vor allem lo- die sich in den 1920er Jahren von den großen kal tätig, sodass sich ein großer Teil ihrer Ent- linken Parteien getrennt hatten und neue An- wicklung als Mosaik der Geschichte einzelner sätze verfolgten. Ihm ging es darum, über die Basisgruppen darstellt. Zwar waren es nur Aneignung linker Geschichte die Ideen des etwa drei Dutzend Gruppen, von denen die Sozialismus und der Emanzipation zu ver- meisten nicht länger als zwei, drei Jahre tä- binden und lebendig zu halten. Denn Ende tig waren, dennoch wäre es schon Mitte der der 1950er Jahre hatte die SPD dem Sozialis- 1990er Jahre schwierig gewesen, eine Ge- mus abgeschworen, KPD und SED boten aus samtgeschichte der VL zu schreiben. Heu- Abendroths Sicht trotz der auf dem XX. Partei- te gilt das erst recht: Die Beteiligten, die uns tag der KPdSU begonnenen Entstalinisierung sagen können, was einst gedacht und getan keine wirkliche Alternative zur Sozialdemokra- wurde, sind oft nicht mehr auffindbar oder tie. Parallelen zu Abendroths Bestrebungen außerstande, das Geschehen einigermaßen finden sich bei der damaligen Neuen Linken, vollständig aus der Erinnerung zu rekonstru- die ebenfalls aus dieser Konstellation heraus ieren. Und die schriftlichen Unterlagen, die entstanden ist und sich für einen freiheitli- über ihr Wirken Auskunft geben könnten, sind chen, demokratischen Sozialismus eingesetzt zumeist längst verschollen. Auch das wenige, hat. Ebendiesem Ziel folgte 30 Jahre später das zentral, beim DDR-Sprecherrat, an Mate- auch die VL. Das Wirken dieser Initiative vor rialien anfiel, wurde nie zusammenhängend dem Vergessen zu bewahren und, wenn mög- archiviert. In Rostock aber haben glückliche lich, für die Gegenwart fruchtbar zu machen Umstände eine größere Menge an VL-Doku- ist wiederum Ziel unserer Veröffentlichung. menten vor allem aus der dortigen Gruppe Das Bemühen, Geschichte im Interesse lin- die Jahre überdauern lassen, Dokumente, die ker Politik zu erkunden, war allerdings in der jetzt auch gesichtet und geordnet wurden. Ei- akademischen Forschung die meiste Zeit die niges davon, aber bei Weitem nicht alles, ist große Ausnahme, und das ist heute nicht an- in den Dokumentenanhang eingegangen; in ders. Doch auch die Historiker*innen aus der bisherigen Dokumentationen zum Thema VL PDS bzw. der Partei DIE LINKE und ihrem Um- haben regionale oder lokale Materialien näm- feld, bei denen man ein stärkeres Interesse am lich kaum eine Rolle gespielt. Schicksal der VL vermuten könnte, haben sich Eine Geschichte linker Alternativen 5

aus Gründen, die wir nicht kennen, im Lau- Beitrag «Basisdemokratischer freiheitlicher fe der letzten drei Jahrzehnte wenig oder gar Sozialismus DDR 89. Die Initiative ‹Vereinigte nicht mit dieser Gruppierung befasst. In der Linke› Rostock» und Hendrik Mayers «Unser regionalgeschichtlichen Literatur hingegen Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung sind hier und da Aspekte der VL-Geschichte wechseln kann» betitelter «Werkstattbericht angesprochen worden (siehe dazu den Bei- zur Aufarbeitung von Materialien der Vereinig- trag Hendrik Mayers). Das kann zwar organi- ten Linken in Rostock» aufzeigen, war für die sationsgeschichtliche Darstellungen nicht er- Verhältnisse in Rostock zum Beispiel eine en- setzen, doch gibt es zumindest den Hinweis, ge Zusammenarbeit der Bürgerbewegungen dass da mal etwas war, mit dem zu beschäfti- im publizistischen Bereich kennzeichnend, gen sich lohnen könnte. Das meiste von dem die trotz inhaltlicher Differenzen bis weit in das wenigen, was über die VL geschrieben wurde, Jahr 1990 hineinreichte und in der Form da- stammt von ihren (einstigen) Mitgliedern und mals einmalig war. ist, wie das Literaturverzeichnis zeigt, vorwie- Vor allem aber wird bei Christoph Kelz etwas gend an entlegener Stelle erschienen. deutlich, was für die VL insgesamt von be - VL-Aktivisten waren auch zwei der drei Au- trächtlicher Bedeutung war: wie sich bei jun- toren dieser Broschüre, sie gehen in ihren gen Linken alternative Vorstellungen von All- Arbeiten also von eigenen Erfahrungen aus: tag und Politik miteinander verbunden haben Christoph Kelz war maßgeblich am Aufbau und wie aus dieser Verbindung sowohl die der Rostocker VL beteiligt und unter ande- Gründung der VL als auch etliche ihrer Vorha- rem einer ihrer Sprecher, Erhard Weinholz ben erwachsen sind. Insbesondere durch die von Juni bis Dezember 1990 einer der bei- verbreitete Hinwendung zur Einheit Deutsch- den Mitarbeiter im Arbeitssekretariat des lands geriet die Rostocker VL jedoch, wie der DDR-Sprecherrats und zugleich in der Me- Autor zeigt, allmählich in die Defensive, so- dienarbeit der VL tätig. Seine einleiten- dass sie sich schließlich auflöste. Ihre Grün- de Studie «Unser linkes Ding» geht erheblich dungsimpulse jedoch wirken weiter. über jene erste Fassung dieses Textes hinaus, Die ursprüngliche Absicht, in diesem Text die Sebastian Gerhardt 2013 in seinem Blog auch auf die Geschichte, die Arbeitserfah- ­planwirtschaft­.de­ veröffentlicht hat. Sie ist rungen aller VL-Gruppen der drei Nordbezir- als Versuch gedacht, den Charakter der VL ke einzugehen, war aufgrund von Materiali- und einiger Etappen ihrer Entwicklung zu ver- enmangel nicht umsetzbar. Das Wirken der deutlichen, Ursachen ihres Niedergangs und Schweriner VL beispielsweise lässt sich über- Möglichkeiten ihres Weiterwirkens zu benen- haupt nicht mehr dokumentieren. Wer also in nen und sich mit Überlegungen anderer zur einem seiner Regale, Schränke usw. tief unten Geschichte der VL auseinanderzusetzen. Er- noch eine Mappe VL 89/90 mit einschlägigen schöpfend behandelt wird die Problematik in Dokumenten verwahrt, wird gebeten, diese dieser bislang umfangreichsten Darstellung uns zur Verfügung zu stellen – siehe dazu den zum Thema VL jedoch keinesfalls. Aufruf am Schluss des Bandes. Dass den zweiten thematischen Schwerpunkt Hendrik Mayer nutzt seinen Werkstattbericht in dieser Broschüre die VL Rostock bildet, hat in erster Linie dafür, anhand ausgewählter sich als günstig erwiesen. Fast jede Gruppe (und natürlich im Anhang wiedergegebener) hatte ihre subjektiv und objektiv bedingten Dokumente wichtige Stationen in der Ent- Eigenheiten, und so haben sich auch die Ber- wicklung sowohl der Rostocker VL als auch liner und die Rostocker VL in mehr als einer der politischen Kultur in Rostock zu verge- Hinsicht unterschieden. Wie Christoph Kelz’ genwärtigen und in verschiedenerlei Hinsicht 6 Eine Geschichte linker Alternativen

zu analysieren. Im Vordergrund stehen dabei nisation hingen in erheblichem Maße von den die Anti-Kohl-Demonstration vom Dezember Handlungsstrategien ab, für die sie sich ent- 1989, bei der die VL eine beträchtliche Rolle schieden hatte. gespielt hat, und die Proteste am Rande der In letzter Zeit haben sich auch andere einstige Kohl’schen Wahlkampfveranstaltung im März VL-Mitglieder neuerlich der Geschichte ihrer 1990. So sind beide Texte lokalgeschichtlich Organisation gewidmet. «Sozialistische Alter- orientiert, ohne sich auf lokale Details zu be- native DDR 89» ist unabhängig davon entstan- schränken oder sich gar in ihnen zu verlieren. den, dennoch kann es nützlich sein, alle die- Sie bringen vielmehr immer wieder in Erin- se Veröffentlichungen im Zusammenhang zu nerung, auf welche Weise das Geschehen in sehen und vielleicht auch als Vorarbeiten ei- Rostock mit Entwicklungen andernorts und ner umfassenderen Untersuchung des Ent- in anderen Bereichen der DDR-Bürgerbewe- stehens, der Eigenart sowie des Wirkens und gung vom Herbst 1989 im Zusammenhang Nachwirkens dieser linken Initiative zu verste- stand. hen. Geschrieben wurden alle drei Beiträge in ers- Unser Dank gilt Judith Dellheim (Rosa-Luxem- ter Linie nicht für Sozialwissenschaftler*in- burg-Stiftung Berlin), durch deren Mitwirkung nen, sondern für politisch interessierte Mit- Berlin und Rostock in ein Boot gekommen menschen. Das hat Einfluss auf die Form wie sind, Stefan Nadolny (Rosa-Luxemburg-Stif- den Inhalt der Texte: Sie verbinden, der eine tung -Vorpommern, Rostock), mehr, der andere weniger, Bericht und Ana- der uns bei der Arbeit an unserem Vorhaben lyse; im Mittelpunkt steht in jedem Fall, und auf vielfältige Weise unterstützt hat, und Uwe zwar auch mit Blick aufs Heute, die Frage Sonnenberg (Rosa-Luxemburg Stiftung Ber- nach den Handlungsmöglichkeiten der VL lin), mit dessen Hilfe es dann zum Abschluss und ihren vielfältigen Voraussetzungen. Denn kam. der Charakter und das Schicksal dieser Orga- (Rostock – Berlin, Juli 2020)

Impression vom Volkskammer-Wahlkampf der VL 1990 in Berlin (Fotografie: Gerd Stadermann, Berlin). Unser linkes Ding 7

Erhard Weinholz UNSER LINKES DING EIN RÜCKBLICK AUF DIE VL

«Für eine vereinigte Linke in der DDR! Ap- wohl ich mich viel mit der Geschichte des So- pell! […] wenden wir uns mit diesem Aufruf zialismus und der Arbeiterbewegung beschäf- an alle politischen Kräfte in der DDR, die für tigt hatte, nur verlegen herumstammeln, und einen demokratischen und freiheitlichen So- das vor laufender Kamera. zialismus eintreten.» Der Stern verweist natürlich auf das revolu- (Böhlen, Anfang September 1989) tionäre Russland. Doch worauf genau – den spontanen Kampf des Volkes, die Arbeit der 1. Räte, das Wirken der russischen Sozialisten, An einem schönen Morgen im Frühsom- der SDAPR (Bolschewiki)? Oder alles zusam- mer des Jahres 1990 schob ich mein viel ge- men? Den Gestalter kann ich danach nicht nutztes altes Fahrrad vom Hof auf die Straße fragen, niemand von uns weiß mehr, wer es und machte mich zum ersten Mal seit Lan- war. Dass das Volk selbstständig handelt, ent- gem wieder auf den Weg zur Arbeit, fuhr vom sprach den Vorstellungen der VL auf alle Fälle. Prenzlauer Berg ins Zentrum der Hauptstadt Ein Rätesystem zu errichten nicht unbedingt. Berlin. Am Hemd trug ich vermutlich, wie Mit den Bolschewiki, der Vorhut der Revolu- sonst auch, das handgefertigte VL-Abzeichen: tion, hatten wir organisatorisch nur gemein, vier Zentimeter Durchmesser, schwarzer Un- dass wir ein Bund politisch Aktiver sein woll- tergrund, darauf ein dickes rotes V, dessen ten; formiert hat sich die VL als Bürgerbewe- rechter Strich senkrecht steht, und, etwas hö- gung. Und das war keinesfalls, wie manche her angesetzt, ein nicht minder dickes rotes L. meinten, ein Notbehelf, weil es zur Partei nicht Einem mathematischen Zeichen ähnelt dieses gereicht hatte. V, dem für «Wurzel aus …», fürs Radizieren. Über den Alexanderplatz fuhr ich an jenem Als radikal verstand sich auch die «Initiative für Sonnabendmorgen, dann die Rathausstraße eine Vereinigte Linke», und das hieß als Erstes, entlang und zuletzt über die Schleusenbrücke Politbüro- und Kapitalherrschaft gleicherma- hin zum Werderschen Markt. Die Rasenfläche ßen abzulehnen. Zwar haben das anfangs, im gleich links hinter der Brücke war lange nicht Frühherbst 1989, mehr oder minder deutlich gemäht worden, Wildwuchs herrschte vor der alle neuen Gruppierungen in der DDR getan, großen, grauen Festung, die nicht mehr den bis hin zum Demokratischen Aufbruch und Apparat des Zentralkomitees (ZK) der SED be- zur Sozialdemokratischen Partei. Wir aber wa- herbergte und noch nicht den des Auswärti- ren fast die Einzigen, die dabeigeblieben sind. gen Amtes: Bis zum Dezember 1990 gingen Und womit hat der rote Stern zu tun, der auf hier im «Haus der Parlamentarier», wie es zu meinem Abzeichen fünfzackig neben dem L der Zeit hieß, die Volkskammerabgeordneten steht? Eben das hatte mich ein Westjournalist sowie die Mitarbeiter*innen des Parlaments, bei unserer Wahlkampf-Fete in der Kongress- seiner Fraktionen und ebendieser Abgeordne- halle am Alexanderplatz gefragt, zwei Wochen ten ein und aus. Auch ich gehörte seit Kurzem vor der Volkskammerwahl vom März 1990, die zu ihnen: Th. vom Aktionsbündnis Vereinig- über das Schicksal dieses Landes entschied. te Linke1 hatte mich zusammen mit anderen Oh Schande, ich wusste nicht zu sagen, was eingestellt; wahrscheinlich versammelten der Stern zu bedeuten hat, konnte also, ob- wir uns gleich an jenem ersten Arbeitstag in 8 Unser linkes Ding

unserem kärglich eingerichteten Büro. Einzi- Wann genau der auf Anfang September 1989 ger Zimmerschmuck, wenn man es so nen- datierte Aufruf verfasst wurde, auch das weiß nen will, war eine leicht angeschlagene Thäl- anscheinend niemand mehr. Auf alle Fälle traf mann-Büste aus patiniertem Gips, die nun man sich unweit von Bautzen; von Böhlen war vom Schrank aus über alles hinwegsah. zur Tarnung die Rede und weil es sich so rich- Th. war an diesem 2. Juni wohl nicht mit da- tig proletarisch anhört, wie B. mir einmal sag- bei, er hatte enorm viel zu tun. 42 war er zu te, Jahrgang ’50 und der zweite Hauptautor jener Zeit, voller Energie, und doch wurde mir, dieses Papiers.3 Erarbeitet hätten es, wie man wie ich bald darauf in meinem Tagebuch no- dort liest, Marxisten, Christen und SED-Mit- tierte, bänglich zumute, wenn ich sah, was er glieder. Viele Mitwirkende also? Eher nicht, es alles an Terminen wahrnahm. Seinen Arbeitsplatz hatte er drüben im «Haus der Volkskammer», dem vormaligen Bei uns und natürlich auch in der «Palast der Republik». Einmal traf ich Gesellschaft, die wir anstrebten, ihn dort schlafend vor dem PC. Es war sollten Beschlüsse authentisch ihm peinlich; Gefühle oder Schwä- den Willen, die Interessen der chen gar zu zeigen war damals nicht Basis ausdrücken. seine Art. Auch ließ er sich nie an die Wand reden; rasch und genau analysierte er waren insgesamt nur fünf.4 Zwei kamen aus die Verhältnisse ebenso wie die Ideen anderer. der SED, das rechtfertigte den Plural. Wichtig Er war einer der beiden Hauptautoren des Ap- war diese Aufzählung, weil sie verhieß, dass pells «Für eine vereinigte Linke in der DDR», die VL keiner Leitideologie verpflichtet war. der als Gründungsdokument der VL gilt und Sie einte, und das war in der sozialistischen als «Böhlener Plattform»2 bekannt geworden Linken bisher die große Ausnahme, allein das ist. Sie wurde allerdings nicht von allen in der emanzipatorische Ziel, ein freiheitlich-demo- sozialistischen Opposition umstandslos ak- kratischer Sozialismus, und, dazu passend, zeptiert. Die dort genannten Mindestanfor- die Basisdemokratie als Organisationsgrund- derungen an die Gestaltung einer freien so- satz. Denn uns reichte nicht der wahre de- zialistischen Gesellschaft hätten eher die mokratische Zentralismus, falls es den über- Merkmale eines Maximalprogramms, las ich haupt gibt, also Wahl von unten nach oben, Jahre später in einer längeren Ausarbeitung Beschlussfassung von oben nach unten, statt aus dem Herbst 1989. Namentlich gezeichnet des nominellen der SED, bei dem nur der Zen- war sie nicht; woher ich sie hatte und wo sie tralismus echt war. Bei uns und natürlich auch geblieben ist, weiß ich nicht mehr, und ich ha- in der Gesellschaft, die wir anstrebten, sollten be auch nie erfahren, ob es weitere dieser Art Beschlüsse authentisch den Willen, die Inter- gab und ob die dort vertretenen Auffassun- essen der Basis ausdrücken. gen in der zu jener Zeit noch sehr kleinen Ber- Das Basisinteresse musste, sollte nicht die liner Gruppe besprochen worden sind. Auf alle Summierung bloßer Privatinteressen sein. An- Fälle scheint die Kritik folgenlos geblieben zu ders als die Partei neuen Typus wollte die VL sein: Weder entstanden mit der Plattform kon- aber keinesfalls die sogenannten wahren In- kurrierende Aufrufe, noch hat man sie selbst teressen anderer vertreten; sie beanspruchte innerhalb der VL weiterbearbeitet. Ausgiebig daher im gesellschaftlichen Geschehen auch diskutiert wurden die Ziele der VL erst wieder nicht wie diese von vornherein die führen - Ende November bei ihrem ersten Arbeitstref- de Rolle. Lenin begründete diesen Anspruch fen. einst damit, dass der Marxismus als angeb- Unser linkes Ding 9

lich einzig wissenschaftliche Weltanschauung in Berlin, sozialistische Linke, die – wie ich – der Partei diese Interessen aufzeige und der immer parteilos geblieben waren, ein Men- demokratische Zentralismus ihr einheitliches schenschlag, der nicht eben häufig war. Handeln sichere. Die VL hingegen hat sich, ob- Die Rolle, die der Aufruf «Für eine vereinigte wohl in der «Böhlener Plattform» die «Erneue- Linke in der DDR!» in diesem Prozess gespielt rung theoretischen Denkens auf marxistischer hat, kann von Ort zu Ort recht unterschiedlich Grundlage» gefordert wurde,5 nie als marxis- gewesen sein: Anstoß gebend, fördernd, im tische Organisation verstanden. Wir waren Nachhinein bestätigend, das lässt sich heu- auch nicht, wie ich später einmal hörte, gegen te im Einzelnen nicht mehr ermitteln. Wirk- die Ordnung hier, weil sie Marx’ Ideen wider- sam werden konnte er ohnehin nur, wenn der sprach. Den einen Dogmatismus durch einen Boden bereitet war, wenn an verschiedenen anderen zu ersetzen war nicht unsere Sache. Stellen der Gesellschaft Kräfte für eine sozia- Ob diese Ordnung tatsächlich oder nur dem listische Alternative zum Bestehenden eintra- Namen nach sozialistischer Natur war, da- ten. Die herrschenden Verhältnisse abgelehnt zu gab es bei uns hingegen unterschiedliche hatten früher oder später alle von uns. Doch Meinungen, die auch damit zu tun hatten, wie nur wenige waren mit organisierter Opposi­ man Sozialismus verstand: normativ, transito- tion vertraut. Zu ihnen zählten auch Th. und risch, pragmatisch … Wir haben darüber aber B. Beide hatte ich, und zwar schon als Oppo- nicht gestritten: Wer diese Ordnung für nomi- sitionelle, 1977 an der Akademie der Wissen- nalsozialistisch hielt, setzte sich für Verhältnis- schaften kennengelernt, am Zentralinstitut für se ein, die diesen Namen wirklich verdienen; Wirtschaftswissenschaften (ZIW), das wir alle andere, die auch das System in der DDR für drei nicht unter gleichen Umständen, aber im- einen Sozialismus hielten, wollten einen bes- mer aus politischen Gründen hatten verlassen seren, und so kam man unabhängig von die- müssen. ser Einschätzung zur gleichen Zielvorstellung. Th. war es auch gewesen, der mir im Dezem- Was wir wollten und was nicht, hing ja letzt- ber 1989 das Telegramm geschickt hatte: lich mit dem widersprüchlichen Gefüge der «10.12. 14 Uhr Vollversammlung VL in der Uni Gesellschaft zusammen, aus der wir kamen. Raum 2002». Ich war nämlich aus irgendei- Die Anforderungen, die die intelligenzintensi- nem Grund trotz Anmeldung in der Umwelt- ve Produktion des materiellen Lebens an die bibliothek der Zionsgemeinde zum ersten Mitglieder der Gesellschaft stellte, waren für Arbeitstreffen der Vereinigten Linken Ende viele auf Dauer nicht mit dem zu vereinbaren, November ins Haus der Jungen Talente, das was die DDR unter Politbüroherrschaft war: heutige «Podewil», nicht eingeladen worden ein Polizeistaat (Arnold Ruge),6 der die Verein- und hatte dann, da es in der Presse hieß, die zelung, Entsolidarisierung, Entmachtung der Gründung der VL sei dort gescheitert, die Idee Bürger*innen betrieb. Wir setzten dagegen im Geiste ad acta gelegt. Die Arbeit an jenem das Motto «VL – die solidarische Alternative». Wochenende war, wie ich später hörte, durch Solche Orientierung sprach vielerlei Kräfte an, die Einmischung von Westlinken stark behin- und so stießen leninistische und nichtleninis- dert worden, die ihre jeweils einzig richtige tische Marxist*innen ebenso zu uns wie die Linie durchsetzen wollten. Zudem machten erwähnten Christen sowie Autonome und So- sich die innerhalb des in Berlin (Ost) beson- zialist*innen, die sich durch nichts weiter de- ders breiten linken Spektrums bestehenden finierten. Manche waren SED-Mitglied, ande- Differenzen bemerkbar: Es kam mit etlichen, re waren es einmal gewesen, beziffern kann die sich eher autonom orientierten, zu ei - ich das aber nicht. Das Gros stellten, jedenfalls nem blockierenden, nie wirklich beigelegten 10 Unser linkes Ding

Streit, wie dezentral die VL denn aufgebaut in der SED Widerstand gegen die Funktio- werden sollte. Um ihre ursprüngliche Vor- närsdiktatur gegeben. stellung zu retten und zu erreichen, dass die Ich will den Leistungen der VL hier nicht wei- VL mehr wird als nur ein Name für einen Ver- ter nachgehen; ihre beiden Hauptziele hat sie bund selbstständiger Gruppen, kamen knapp jedenfalls verfehlt: Zum einen ist es ihr nie ge- zwei Wochen darauf an dem Treffen Beteilig- lungen, aus einer zu der Vereinigten Linken zu te, darunter B. und Th., in Leipzig zusammen, werden, also den allergrößten Teil derer für gründeten gleichsam als Auffangorganisation sich zu gewinnen, die sich organisiert für eine den Bund unabhängiger Sozialisten (BUS) und sozialistische Alternative zu den Verhältnissen veröffentlichten unter diesem Namen für alle in der DDR einsetzen wollten. An sie alle hatte DDR-Bezirke eine Liste von Kontaktadressen. sich der Aufruf «Für eine vereinigte Linke!» im Damit hatte der BUS seine Aufgabe erfüllt. Herbst 1989 gewandt; er ist aber nicht einmal Auch später haben wir mehr als einmal über von allen in der VL im Sinne dieses sehr um- Grundsätzliches gestritten. Doch wurde dabei fassenden Anspruchs verstanden worden. meist sachlich argumentiert und auf Verdam- Entscheidend für das Schicksal der VL war mung, auf Begriffe wie Renegat und Clique, aber, dass ihr zweites Hauptziel, ihr Streben, verzichtet. Anders wäre die VL bei ihrer inne- die Selbstständigkeit der DDR zu sichern und ren Vielfalt gar nicht lebensfähig gewesen. sie im Geiste eines freiheitlichen und demo- Sektenkämpfe, wie sie für stalinistische und kratischen Sozialismus zu revolutionieren, leninistische Gruppierungen typisch waren, Sache einer nicht sonderlich großen Minder- blieben die Ausnahme. Erinnerlich ist mir nur heit geblieben ist. Ganz grundlos war unsere einer: Im Sommer/Herbst 1990 griff die Frei- Hoffnung auf eine solche Revolution damals berger VL in Zusammenarbeit mit dem trotz- nicht: Freiheit und Demokratie waren ja im kistischen Bund Sozialistischer Arbeiter, einer Herbst 1989 Ziel fast aller, und hier hatten wir in ihrer Rhetorik eher stalinistischen Kleinor- weitreichende Forderungen. In einer umge- ganisation, die Gesamt-VL wegen ihres an- stalteten DDR wenigstens den bisherigen Le- geblich falschen Kurses an. Insgesamt aber bensstandard zu halten konnten wir dagegen überwog der Wille, Übereinkunft zu finden.7 nicht versprechen. Erst recht fehlten aufgrund Das alles waren für uns auch Lehren aus der der wirtschaftlichen Schwäche der DDR, ins- Entwicklung des Sozialismus, mit der wir uns besondere des Rückstands in der Produktivi- schon in der zweiten Hälfte der 70er Jahre am tät der Fertigung und der erzeugten Produk- ZIW beschäftigt hatten, in den FDJ-Seminaren tionsmittel sowie der hohen Aufwendungen zur Wirtschaftsgeschichte der Sowjetunion für den Schuldendienst, Mittel für die drin- und mehr noch in kleinerem Kreis am Rande gend nötige rasche Verbesserung der ökolo- dieser Seminare. Bei einer Hallenser PDSlerin gischen, der Arbeits- und der Wohnbedingun- las ich irgendwo einmal, sie habe es im Herbst gen. 1989 in der SED nicht mehr ausgehalten und Als nun die definitive Entscheidung über die sei zur VL gegangen, wo sie viel gelernt habe, Frage «Wie weiter?» heranrückte, wurde vie- nicht zuletzt für den Umgang unter sozialisti- len in der DDR klarer, was sie zwar schon schen Linken. Ich denke, gerade durch dieses halb und halb gewusst, da es aber für ihr Le- Organisationsmodell, das wirklich umgesetzt ben nicht so sehr von Belang war, nur selten wurde, ist die VL für nicht wenige Linke be- zu Ende gedacht hatten: Freiheit, Demokratie, deutsam geworden. Wie groß ihr Einfluss auf Rechtsstaatlichkeit, wie die Bundesrepublik damalige Veränderungen vor allem in der PDS sie bietet, waren für sie wichtig, politische An- war, ist jedoch schwer zu sagen. Es hat ja auch gebote wie die der VL, die darüber hinausge- Unser linkes Ding 11

hen, hingegen nicht so sehr; gerecht sollte es ve stehenden Gruppe war auch ein namhaf- schon zugehen, entscheidend aber war, dass ter VLer beteiligt, nämlich B. Stoppen ließ sich die neue Ordnung Westwohlstand bringt. Und der Westtrend damit nicht. da der mit der Wirtschaft in der DDR nicht zu erreichen war, musste man entweder in den 2. Westen übersiedeln oder ihn mittels deut- Man hat es jenen, die auf uns aufmerksam scher Einheit ins Land holen. Ebendas scheint wurden, mit der «Böhlener Plattform» nicht mir der eigentliche Gehalt des oft erwähnten leicht gemacht: Zehn Normseiten ist sie lang Stimmungswandels des Volkes an der Wen- und gemeinem Volke unverständlich. «Die de zum Jahre 1990 zu sein, der sich schon im Teilnehmer des Treffens», so heißt es etwa ein- November 1989 abzuzeichnen begann. Er war gangs, «berieten angesichts der wirtschaft- jedoch, so denke ich, keine Folge des Mauer- lichen Situation und der sich entwickelnden falls, wurde von ihm allenfalls beschleunigt. politischen Krise in der DDR über die Notwen- Dass Gegner der Revolution mit dieser Aktion digkeit einer tiefgreifenden politischen, wirt- eine in der Berliner Großdemonstration vom schaftlichen und kulturellen Umgestaltung, 4. November gipfelnde hoffnungsvolle Be- die dafür notwendige Zusammenarbeit aller wegung heimtückisch ins KaDeWe umleiten auf den Positionen des Sozialismus stehenden wollten, halte ich für ein Gerücht. Th. hat jetzt weltanschaulichen und politischen Kräfte in den 9. November als Kapitulation vor dem der DDR und die Notwendigkeit der Erarbei- Westen bezeichnet8 – zum Glück nicht bereits tung einer linken, sozialistischen Alternati- ve im Geiste sozialistischer Demokratie und Freiheit.»10 Wir haben mehr als einmal über Grund- Sollten solche Sätze darauf sätzliches gestritten. Doch wurde vorbereiten, dass der Auf- dabei meist sachlich argumentiert und bau eines besseren Sozia­ auf Verdammung verzichtet. lismus uns einen langen Atem abverlangen würde? damals. Die Folgen wären für uns verheerend Mir war das ohnehin klar, Theorie war mein gewesen: «VL, sind das nicht die Bekloppten, eigentlicher Beruf; mit umfänglichen Erörte- die wollten, dass die Mauer zu bleibt, damit sie rungen versuchte ich in den frühen 90ern im noch ein bisschen Riwwoluzjohn spielen kön- einstigen SED-Zentralorgan Neues Deutsch- nen?» Es gab, nachdem der am 6. November land PDS-Mitglieder aufzuklären. Angestellt veröffentlichte Entwurf eines Reisegesetzes hatte Th. mich aber nicht, weil er als Abge - einhellig abgelehnt worden war, zur Mauer- ordneter einen Theoretiker brauchte, sondern öffnung keine Alternative. Sie war auch kein vor allem, weil ich für die VL ehrenamtlich im notwendiges Übel, sondern Teil und Bedin- Arbeitssekretariat des DDR-Sprecherrats tä- gung freiheitlicher Entwicklung und bedeu- tig war: Im April oder Mai 1990 hatte er mich tete durchaus nicht das Ende der Revolution, gebeten, gemeinsam mit Herbert, der eine be- wie man oft liest. Für die sich zu jener Zeit bald kannte Figur der Oppositionsszene war, diese allerorts abzeichnende Tendenz zur Rückkehr Aufgabe zu übernehmen.11 in bürgerliche Verhältnisse war die VL durch- Arbeitstreffen, Arbeitssekretariat – vor allem aus nicht blind.9 Eine der Antworten darauf in der Berliner VL war selten vom Vergnügen war der Aufruf «Für unser Land», der auf die die Rede, von gemeinsamem Essen, Trin- Selbstständigkeit und einen eigenen Weg der ken, Feiern, selbst wenn es wenig zu feiern DDR orientierte; an der hinter dieser Initiati- gab für uns, sondern fast immer nur von Ar- 12 Unser linkes Ding

beit, freiwillig geleisteter natürlich. Vermutlich gene Aktionen starten wollten, ohne sich or- lag es am besonderen Zuschnitt dieser Grup- ganisatorisch zu binden. In der VL hatten sie pe: Zwar kamen die meisten auch hier – wie einen Anlaufpunkt, konnten deren Räume in der VL überhaupt – aus der linksoppositio- nutzen, vielleicht sogar Telefon und Kopierer. nellen Jugend, jüngeren Angestelltenschaft So berichten es etwa zwei aus Rostock stam- und Intelligenz (nur wenige direkt aus der mende nachmalige Mitglieder der Interventi- Produktion). In Berlin war aber der Anteil der onistischen Linken (IL) auf deren Webseite.12 Akademiker*innen, speziell der promovierten, Eine solche Rolle konnte die VL aber, im Un- erheblich höher als anderswo, und so gab es terschied zur PDS, nur spielen, weil sie diesen hier eine größere Gruppe von Mitgliedern um jungen Linken als sozialistische Opposition die vierzig, die die Geschicke der VL stark be- glaubwürdig erschien.

Vor allem in der Berliner VL war selten vom Vergnügen die Rede, von gemeinsamem Essen, Trinken, Feiern, sondern fast immer nur von Arbeit, freiwillig geleisteter natürlich. einflussten und, auch wenn sie vielleicht 68er Die Gruppen der VL handelten weitgehend Ost waren, eher preußische Vorstellungen von selbstständig, der Sprecherrat, in dem jede Pflicht und Arbeit hegten. von ihnen Sitz und Stimme hatte, war kein Anderswo war die Mitgliedschaft erheblich Zentralkomitee und das Arbeitssekretariat jünger, in manchen Universitätsstädten zum kein ZK-Sekretariat mit Weisungsberechti- Teil auch studentisch. In Erinnerung geblie- gung. Statt Sekretärs- wurde hier sogenannte ben ist mir in dem Zusammenhang ein Telefo- Sekretärinnenarbeit verrichtet: im Sprecher- nat mit dem Sprecher der Arnstädter VL, von rat Protokoll führen, das Protokoll abtippen, deren Existenz ich erst spät erfahren hatte; sie vervielfältigen, schließlich an die Gruppen war auch schwer zu erreichen, hatte kein ei- versenden und überhaupt mit ihnen Kontakt genes Büro. Vom Neuen Forum heftiger be- halten. Etwa drei Dutzend waren es im Som- fehdet als von der CDU, hatten sich da, so mer 1990, mit insgesamt etwa 1.500 bis 2.000 hörte ich von ihm, junge Mitglieder zur Anti- Mitgliedern. Doch ob hinter den Adressen, die fa-Arbeit zusammengefunden. In manchen ich anschrieb, immer eine Gruppe stand, war dieser Gruppen, in Halle, in Rostock, spielten zweifelhaft. Andererseits ist es gut möglich, auch das Alltägliche und die persönlichen Be- dass ich von der Existenz mancher Gruppen ziehungen eine stärkere Rolle, sie waren nicht nie erfahren habe. Und was hieß schon Mit- nur Arbeitszusammenhang (wie in Berlin). glied? Laut Statut war man es, wenn man sich Die Suche nach politischer Gemeinschaft- an einer der Stadtteil- oder Arbeitsgruppen lichkeit verband sich mit der nach neuen Le- beteiligte und Beitrag zahlte. Mitgliedsaus- bensformen, es bildete sich so etwas wie ein weise spielten kaum eine Rolle: Wer zur Voll- VL-Milieu heraus. Die VL bot damit einen gu- versammlung kam, stimmte mit ab. ten Einstieg in linke Politik, einen sehr viel bes- Manchmal hatte ich nach abendlichen Spre- seren, als ihn im Westen einst K-Parteien und cherrats-Sitzungen Telegramme zu versen- DKP ermöglicht hatten. Sie bot ihn nicht nur den, stand gegen Mitternacht Schlange im zukünftigen Mitgliedern, sondern als Einzige Postamt am Hauptbahnhof, dem einzigen im auch zum Teil sehr jungen sozialistisch orien- Ostteil der Stadt, das rund um die Uhr geöff- tierten Linken, die miteinander reden und ei- net hatte. Wenn die Zeit still dahingeht, so Unser linkes Ding 13

dachte ich, darf man den lieben Gott einen auch in einer Arbeitsgruppe tätig, der Me- guten Mann sein lassen, man darf sogar am diengruppe der VL Berlin. 1. Mai Erich Honecker zuwinken – die Herr- Am liebsten waren mir die Nachmittage in der schenden meinen dann, alles sei in Ordnung Podium-Redaktion der , in die in ihrer Republik. Ist aber die Stunde da, so mich – war es im Februar, war es im März? – muss man bereit sein und darf selbst niedere diese Gruppe entsandt hatte. Die Podium-Sei- Arbeiten nicht scheuen. Es war in dem Falle ja te war ein Organ der Bürgerbewegungen und sogar eine Ehre. neuen Initiativen; seit Dezember 89 durften Mein Arbeitssekretariats-Kollege Herbert, wir sie einmal pro Woche nach eigenen Vor- der sich mit mir auch die Stelle als Th.s Mit- stellungen gestalten, letztmals im April 1991. arbeiter an der Volkskammer teilte, hatte im Je zwei von uns sieben übernahmen reihum September 1989 ebenfalls an der «Böhlener die Arbeit. Dass die VL für die meisten ande- Plattform» mitgeschrieben; Jahre zuvor war ren Bewegungen das Schmuddelkind war, er als Wehrdienst-Totalverweigerer knapp mit dem man ungern spielte, war hier nicht dem Zuchthaus entgangen. Und da die Per- zu merken: Ob es um Stadtökologie ging oder sonaldecke der VL äußerst dünn war, 13 hat- den ersten Golfkrieg, um die Stellung der Frau te es zuletzt mit enormer Hartnäckigkeit in der Gesellschaft oder den Umgang mit den noch N. geschafft, von Th. an der Volkskam- -Akten, fast immer überwog das Gemein- mer angestellt zu werden, ein junger Mann same, das erheblich mehr umfasste als nur die von lässiger Eleganz und mit einer gewis - viel beschworenen Bürgerrechte. Die Frage sen Rednergabe, der sich nun um die Bestel- der deutschen Einheit, die Systemfrage also, lung von Büromaterialien kümmerte, wobei über die innerhalb der DDR-Bürgerbewegung er als parlamentarischer Geschäftsführer der viel gestritten worden war, wurde auf dieser AVL-Fraktion auftrat. Doch es gab keine sol- Seite allerdings nur indirekt angesprochen: che Fraktion. Das «Aktionsbündnis Vereinig- Mehrmals wurde zum Beispiel vor den sozi- te Linke», die VL im Verein mit der kleineren alen Folgen der Wirtschafts- und Währungs- marxistischen Partei Die Nelken, war bei der union gewarnt. Wir Linken sorgten zudem Wahl vom 18. März 1990 durch glücklichen dafür, dass der Bereich der Arbeit nicht völlig Zufall mit 0,18 Prozent der Wählerstimmen aus dem Blick geriet. Es war eine Linke neuer gerade so ins Parlament gerutscht.14 Th. war Art, dennoch pflegte man anderswo weiterhin unser einziger Abgeordneter, hatte daher im die alten Feindbilder. Ich erinnere mich noch, Wirtschaftsausschuss, dem er angehörte, wie eines Abends ein Westpraktikant herum- kein Stimmrecht und musste die Flut der An- geführt wurde: «Hier die Podium-Redaktion, träge, Entwürfe und Beschlüsse allein bewäl- Frau S. vom NEUEN FORUM und Herr W. von tigen. Zum Ausgleich hatte er als Einziger aus den Vereinigten Linken …» Worauf mich der der VL in der Öffentlichkeit einen Namen, er junge Mann so entgeistert, geradezu erschro- war sozusagen unser Gesicht. Manche hiel- cken anschaute, als hätte er es mit einem ten ihn gar für unseren Vorsitzenden. Sein Monster zu tun. Einfluss auf die Geschicke der VL war aber, Schon seit Januar saß ich immer dienstags nachdem er in die Volkskammer gelangt war, als Ansprechpartner für alle und jeden in un- eher gering, wie mir scheint, jedenfalls bei serem verkramten Büro im «Haus der Demo- Weitem nicht so groß, wie Außenstehende kratie» (HdD) an der Friedrichstraße; auch das damals mitunter meinten. Ich arbeitete je- hatte die Mediengruppe organisiert. Nach doch nicht nur für Th. und den Sprecherrat, dem 18. März hatte der Andrang verständli- sondern war, wie es das Statut verlangte, cherweise stark nachgelassen. Anfangs wa- 14 Unser linkes Ding

ren gelegentlich noch Mitteilungen an ADN Land verstreuten Basisorganisationen zu ver- durchzugeben, so die Erklärung für unseren netzen. Ich wusste nicht einmal, wer wo was Austritt aus der zweiten Regierung Modrow, machte. der wir kurz zuvor, Ende Januar, erst beigetre- ten waren: Modrows Plan «Deutschland einig 3. Vaterland» lehnten wir ab, unser Land sollte Verwundern sollte diese Unkenntnis nicht: selbstständig bleiben.15 Eigentlich hätten wir In unserem Volkskammerbüro war ich schon ihm ja dankbar sein müssen für diesen Anlass, bald meist allein. N., dem wir verboten hatten, eine Regierung zu verlassen, in der wir nichts als parlamentarischer Geschäftsführer aufzu- zu suchen hatten und in die wir jemanden oh- treten und für den es hier ohnehin nichts mehr ne Absprache mit der Basis entsandt hatten. zu tun gab, wechselte noch im Juni 1990, Als ich den Text ins Telefon verlas, bekam ich wenn ich mich richtig erinnere, zu einem Aus- Scham-Anfälle: Er war typisch VL, verbissen landsprojekt, Herbert, mein Kollege im Ar- im Tonfall und weitschweifig obendrein. Kurz beitssekretariat, war dauernd auf Achse und und knapp hingegen hatte jemand im Ok- kam fast nur ins Haus, um seine Benzinkos- tober 89 in der Wochenzeitung Die Kirche ten abzurechnen. Oft unterwegs gewesen war Hauptforderungen aus der «Böhlener Platt- er zuvor bereits, und zwar zunächst, seit Jah- form» benannt:16 sozialistisches Eigentum, resbeginn schon, für den Volkskongress. «Wir direkte Demokratie, Kontrolle der Arbeit und brauchen einen Volkskongreß!», hatte die VL ihrer Ergebnisse durch die Arbeitenden – so- am 9. Dezember 1989 erklärt; er ermögliche fort fühlte ich mich angesprochen. Ein Punkt es, «rasch in demokratischer Weise zu not- war die Wiederherstellung der Länderstruktur, wendigen Entscheidungen der gesellschaft- etwas völlig Neues damals; als Heimatfreund lichen Entwicklung beizutragen und den Par- gefiel mir auch das. teien für den Wahlkampf Orientierungen des Volkswillens zu geben».17 Sozialistische Entwicklung fing für uns ja da- Modrows Plan «Deutsch- mit an, dass das Volk seinen Willen selbst äu- land einig Vaterland» ßert, über seine Angelegenheiten selbst be- ­lehnten wir ab, unser Land stimmt und zunächst in den Gemeinden und sollte selbstständig bleiben. Betrieben unabhängige Machtorgane schafft, Organe einer wirklichen Volksmacht also, die Der Tag im HdD war für mich der anstren - den bislang Herrschenden ebenso wenig die- gendste, anfangs zugleich der ertragreichste nen wie den ihnen folgenden Wendehälsen der ganzen Woche. Meist aber eilte ich nun und dem Westkapital. «Wir müssen unsere im Haus der Parlamentarier gleich früh zur Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen» Poststelle und fuhr dann hinauf ins vierte Ge- war daher der Titel eines Aufrufs der VL vom schoss. War die Post durchgesehen, auch 5. Oktober 1989;18 in die gleiche Richtung sonst das wenige für Th. getan, das ich zu tun ging wenig später die «Erklärung von Teilneh- hatte, begann die Arbeit für die Organisation: mern am Böhlener Treffen».19 Als «neue Orga- telefonieren, telefonieren, nochmals telefo- ne des Volkswillens», so hat es B. dann in «Wir nieren. Fast immer fuhr ich mit einer langen brauchen einen Volkskongreß!» formuliert, Liste zum Werderschen Markt, aber die wich- könnten «parteioffene demokratische Volks- tigste Aufgabe des Arbeitssekretariats blieb ausschüsse […] sämtliche Angelegenheiten unerledigt: die zu gleichen oder verwand - ihres Gebietes in ihre Hände nehmen».20 Die ten Themen arbeitenden Gruppen der übers SED wertete solch eigenständiges Handeln Unser linkes Ding 15

als Angriff auf ihre angeblich führende Rolle, zuschauen offenbart Ablehnung oder man- die VL hingegen hat es ausdrücklich bejaht. gelndes Interesse. Das konnte aber nicht bedeuten, dass wir Obendrein blieb unklar, wie man den Kon- zu allem, was von den Massen kam, Ja und gress organisieren wollte: Man könne dorthin, Amen sagten. so hieß es, aus allen Betrieben und Einrichtun- Auch auf gesellschaftlicher Ebene sollte das gen die kompetentesten und vertrauenswür- Volk von sich aus tätig werden: «Noch vor den digsten Kolleginnen und Kollegen entsenden. Wahlen müssten», wie es am 8. Dezember Sollten etwa mehrere Tausend Abgeordnete 1989 im Bericht der VL über die Ergebnisse beraten? Und wenn ja, wo? Zudem konnte die der ersten Gespräche am Zentralen Runden VL eine solche Großaktion nur im Bunde mit Tisch hieß, «Beauftragte der Volkskontroll- stärkeren Gruppierungen auf den Weg brin- ausschüsse, Bürgerkomitees, unabhängigen gen; sie blieb damit jedoch allein. Entschei- Arbeiterkommissionen und Betriebsräteiniti- dend aber wäre gewesen, dass sich in den ativen zu einem landesweiten Volkskongreß Wohngebieten und Betrieben allerorts Un- zusammentreten, beraten und ihre Forderun- terstützungsgruppen gebildet hätten. Doch gen stellen».21 Keine politische Kraft im Lan- davon konnte keine Rede sein. Warum auch de werde an diesen Forderungen vorbeikom- immer sich die breite Masse von diesem Vor- men. Ein ähnliches Ziel verband sich mit dem haben nichts versprach, das «Wir brauchen» Aufruf vom 9. Dezember, der aber viel brei- im Titel erwies sich als bloße Suggestivbe- tere Kreise ansprechen und für einen Volks- hauptung. Im Oktober, als «Wir sind das Volk» kongress gewinnen sollte. Die beiden Initia- das Wort der Stunde war, hätte die Idee noch tiven waren unser einziger Versuch, durch Debatten befördern können, vielleicht gar ei- Druck von unten der Gesamtentwicklung genständiges Handeln. Im Dezember dage- doch noch die von uns erstrebte Richtung zu gen war die DDR eine einzige große Kongress- geben. Dass der Volkswille, auf den wir uns halle, die Parteien mussten sich also nicht von dabei berufen haben, eine Fiktion war, habe einem Kongress die Richtung weisen lassen. ich schon 1991 in unserem Infoblatt ange - Der wiederum wäre dazu gar nicht imstande merkt.22 Überhaupt war es ein Versuch mit gewesen. Lese ich das Wort «Volkswille», so in mehrerlei Hinsicht unzulänglichen Mitteln: sehe ich alte Plakate vor mir, auf denen ein la- Zunächst einmal ist der Aufruf viel zu lang, chender Arbeiter zwergenhaften Figuren, kno- fast fünf Normseiten, auch kommt der Autor chigen Generälen und dicken Kapitalisten mit erst gegen Ende, sozusagen als Lohn für vor- Zigarre, einen Tritt versetzt, dass sie allesamt bildliches Durchhalten, auf das eigentliche durcheinanderpurzeln. Brauchte man bei sol- Thema zu sprechen. B. war jemand, mit dem cher Willenseinheit überhaupt mehrere Partei- man reden konnte, dennoch zeigte sich hier en? Der Volkswille war aber in der entschei- der gleiche Hang zum Selbstgespräch, die denden Frage, der der deutschen Einheit, gleiche Unfähigkeit, auf die Gesellschaft ein- damals bereits unübersehbar gespalten und zugehen, wie bei den meisten anderen dama- als klare Orientierung nicht mehr verwendbar. ligen Äußerungen der VL-Gründer*innen. Lag Überhaupt muss erstaunen, dass eine Grup- es daran, dass es dieser Opposition an Übung pierung wie die VL, die stets ihren eigenen fehlte, mit dem Volk öffentlich ins Gespräch Zielen folgte und nicht etwa dem Mehrheits- zu kommen? Doch ob öffentlich, ob privat, ob willen des Volkes, anderen mit dem geplan- mündlich oder schriftlich: Es gehört zu den ten Kongress eine solche Fiktion als Grundla- Grundregeln der Kommunikation, dass man ge ihrer Willensbildung anbieten wollte. Unser sein Gegenüber im Blick hat. An ihm vorbei- Aufruf war gerade zehn Tage in der Welt, da 16 Unser linkes Ding

wurde in Dresden bejubelt wie bei ihm, «aber die unzureichende Analyse der wohl nie zuvor in seinem Leben. Doch ist die […] Wurzeln des Wunsches der DDR-Arbei- Stimmung nicht erst Wochen später in Rich- terklasse nach Vereinigung führte […] zum tung Einheit umgeschlagen? Tatsächlich war Unverständnis dieser Forderung und zur Iso- die Mehrheit derer, die die Einheit ablehnten lierung von den Arbeitern».24 Dahinter steht, und auf die mehr oder minder gründliche Um- wie mir scheint, verklausuliert und auf die gestaltung der DDR hofften oder sie sogar an- Arbeitenden eingeengt jene Ausrichtung auf strebten, einer Umfrage zufolge Mitte Dezem- den Volkswillen, wie wir sie auch in «Wir brau- ber noch beträchtlich.23 Doch sagten damals chen einen Volkskongreß!» finden. Vier große bereits entmutigt fast alle von meinen Freun- Basisgruppen hatten Herberts Aufruf angeb- den, die nicht der VL angehörten: Die Einheit lich unterschrieben, tatsächlich waren es nur wird kommen, und Rudolf Bahro sagte es am zwei. Bemängelt wurde im Sprecherrat zu- 10. Dezember in der Versammlung der VL Ber- dem, dass er seine Anstellung für fraktionelle lin. Widerstand zu leisten, nun auch gegen das Arbeit nutze. Anfang September 1990 verließ Westkapital, blieb dennoch sinnvoll. «Thäten er die VL und damit zugleich das Arbeitssekre- wir nicht, was wir thun mußten», so Georg tariat; wir seien, so erklärte er, zu sehr aufs Par- Forster vor mehr als 200 Jahren, «so würde lament fixiert. Einige Male bin ich ihm später alles noch bunter gehen.» Einen Kongress zu noch begegnet. Meist sprach er von großen veranstalten, der vielleicht mit dem Ruf nach Plänen. 2016 ist er, Mitte fünfzig erst, völlig deutscher Einheit endet, wäre dagegen bei al- vereinsamt gestorben. ler Liebe zum Volke nicht Sache der VL gewe- sen. 4. Trotzdem hatte mein nachmaliger Kolle- Ähnlich wie im Jahr zuvor ging auch 1990 al- ge Herbert zu Jahresbeginn sein Volkskon- les viel schneller als anfangs gedacht, nur in gress-Büro eingerichtet, hatte an manchen anderer Richtung diesmal: Schon im Juli hat- Orten im Lande Zeit und Kraft an das Vorhaben te man in Ost und West beschlossen, den gewendet, bis es irgendwann klammheimlich nächsten Bundestag Anfang Dezember ge- beerdigt wurde. Viel herumgefahren ist er wei- samtdeutsch zu wählen. Ende August hieß es terhin, immer in hoch wichtigen Angelegen- dann: deutsche Einheit zum 3. Oktober, kurz heiten, die nun aber streng geheim waren. vor dem 41. Jahrestag der DDR. Der Einheits­ Auch über die «Gruppe demokratischer Sozia- termin war für uns kein Thema, die Wahl im listInnen», als deren Sprecher er im Herbst 89 Dezember war es umso mehr. Jedenfalls in aufgetreten war, hat er meines Wissens nie et- der VL Berlin, der größten Gruppe im Lande. was verlauten lassen. Gegen Ende des Som- Dabei hatten wir noch nicht einmal die Wahl- mers wurde einer der Gründe seiner Reiselust pleite vom 18. März untersucht, und wir ha- deutlich: Er hatte als Organisator einer soge- ben es auch später nie getan – ein erstaunli- nannten revolutionären Fraktion der VL Unter- cher Mangel an Aufklärungswillen angesichts stützer*innen eines Aufrufs gesucht, der unter der versammelten Menge an Geist. anderem auf den Aufbau einer revolutionären Wie es dazu kam, dass die VL zur letzten Arbeiterpartei abzielte: «Für Einheit und Klar- Volkskammerwahl zusammen mit der Partei heit», in der Berliner VL spöttisch «Für Einheit Die Nelken als Aktionsbündnis Vereinigte Lin- und Reinheit» genannt. Dabei hatte er doch ke (AVL) antrat, ist eine lange Geschichte, die zumindest in einem Punkt die VL beerbt: Die ich hier nur in groben Zügen wiedergeben will: Einheit «stärkt zwar einerseits das imperialis- Neues Forum, Demokratie Jetzt sowie die Ini­ tische Potential Deutschlands», so liest man tiative für Frieden und Menschenrechte hat- Unser linkes Ding 17

ten das Bündnis 90 gebildet, auch die Sozial- ist mir das Problematische dieser Aufteilung demokratische Partei (SDP), so hieß es, werde der Kräfte aber erst viel später. sich ihm anschließen, und wir hatten diese Immerhin ist unser Wahlprogramm im Unter- Möglichkeit ebenfalls. Da die SDP jedoch die schied zu anderen VL-Texten aus jener Zeit in deutsche Einheit anstrebte, hat unter ande- seiner Abfolge von Fragen und Antworten gut rem die Berliner VL im Januar 1990 den Beitritt lesbar, vor allem aber ist es, so denke ich, auch zu diesem Bündnis abgelehnt. Der Saal im lesenswert. Besonders betrifft das die um- Weißenseer Kreiskulturhaus Peter Edel war an fänglichen Vorschläge für eine Wirtschaftsre- jenem Abend gut gefüllt: fast 200 Anwesen- form, an denen B. viel Anteil hatte; gerade sie de, die höchste Zahl, die wir bei einer Berliner waren ausschlaggebend für die Tragfähigkeit VL-Versammlung je verzeichnen konnten. Die des Gesellschaftskonzepts der VL. Technokra- Sozialdemokraten hatten aber, wie sich bald tisch-ökonomistische Reformer hatten lange über das Verhältnis von Plan und Markt gestrit- Die Wahlpleite vom 18. März haben wir ten; der VL ging es um nie untersucht – ein erstaunlicher Mangel etwas anderes: Staats- an Aufklärungswillen angesichts der in Volkseigentum um- versammelten Menge an Geist. zuformen. «Kern einer neuen Wirtschaftspo- zeigte, gar kein Interesse am Bündnis 90 und litik», so heißt es im Programm, «muß die wollten sogar ebenso wie einige DDR-Grüne durchgängige Demokratisierung der Arbeits- durchsetzen, dass nur Parteien zur Wahl zuge- welt und die Ausrichtung der Produktion an lassen werden. Unser Versuch, darauf mit die- den Bedürfnissen der Konsumenten sein. Dies sen und dem Unabhängigen Frauenverband kann weder das Resultat von bürokratischen eine Liste zu bilden, scheiterte, und zwar we- Verwaltungsentscheidungen noch von Markt- niger an Differenzen mit den Ost- als vielmehr automatismen mit dem Regulativ der zah- am Widerstand der West-Grünen, bei denen lungskräftigen Nachfrage sein, sondern nur der Gedanke, die Ost-Grünen könnten sich mit Folge eines ständigen Anpassungsprozesses, der VL verbinden, regelrechte Panikanfälle be- der von Partnern mit unterschiedlichen Inte- wirkte.25 Ein Dreierbund war zunächst auch ressenlagen […] vollzogen werden muß.» 26 das Aktionsbündnis Vereinigte Linke, die KPD Eine wichtige Rolle war dabei territorialen haben wir aber fast auf den letzten Drücker Räten zugedacht, über die die Konsument*in- ausgebootet – ich glaube, sie war uns nicht nen ihre Interessen direkt und nicht nur über seriös genug. ihr Marktverhalten in die betrieblichen Pläne Die Berliner VL hat im Januar 1990 fast aus- einbringen sollten. Da Mangelerscheinungen nahmslos dafür gestimmt, zu dieser letzten und Angebotsmonopole oft genug dazu ge- Volkskammerwahl anzutreten. Ich bin dage- zwungen hatten zu kaufen, was in den Läden gen gewesen; Th. nahm es mit erstaunt hoch- zu finden war, konnte der Markt ohnehin nicht gezogenen Augenbrauen zur Kenntnis. Wir funktionieren. saßen, so hatte ich gedacht, mit unseren ge- Sicherlich wäre dieses Modell, geht man von ringen Kräften an sämtlichen Runden Tischen, herkömmlichen Vorstellungen aus, hinter die in der Stadt zu haben waren, in fast allen der Effektivität bürgerlichen Wirtschaftens Arbeitsgruppen dieser Tische obendrein, und zurückgeblieben. Es wäre aber, so hoffe ich, jetzt dazu noch Wahlkampf – hatten wir nichts frei gewesen von jener Unterdrückung, der Besseres zu tun? Richtig bewusst geworden sonst viele bei der Arbeit ausgesetzt sind, und 18 Unser linkes Ding

es hätte die Möglichkeit vielfältiger Selbstbe- linksoppositionellen Jugend, der Intelligenz stimmung geboten, die ja auch ein Wert ist. und der Angestelltenschaft. Ich hätte gern ge- Ob wir so mit einer Ordnung hätten konkur- wusst, was es für Menschen waren, die uns rieren können, die in der Produktivität der Ar- als Nichtmitglieder der VL gewählt haben, beit kaum zu übertreffen ist, lässt sich schwer doch sie sind schwer zu finden. Vor einiger sagen. Zeit kam ich beim Schlange stehen mit einer Frau ins Gespräch über die PDS, die Herbst- revolution und was sonst noch die Lieblings- Im Grunde war eine neue themen im Osten sind. Ich sagte ihr, dass ich Lebensweise unser Ziel. mich im Dezember 89 den Vereinigten Lin- ken angeschlossen hatte, worauf ich von ihr Deutlich wird auch, dass die VL bei solcher erfuhr, ihr Mann habe in einem idealistischen Selbstbestimmung der direkten Demokratie Überschwang am 18. März VL gewählt. Ich viel Raum geben wollte und dass es ihr beim gab ihr meine Karte, habe aber nie wieder von Eintreten für einen anderen Sozialismus über- ihr gehört. haupt um erheblich mehr ging als allein um Gegen die Partei des Demokratischen Sozi- Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit: alismus, die auch die Favoritin der Freunde Wir strebten Geschlechtergleichheit an, öko- des alten Systems gewesen war, blieben wir logisches Wirtschaften, eine Neuordnung der ein Nichts: Sie erhielt rund 1,9 Millionen Stim- internationalen Beziehungen und noch man- men, das waren 16,4 Prozent. Doch hat die cherlei anderes – im Grunde war eine neue Bürgerbewegung des demokratischen Sozia- Lebensweise unser Ziel. Welche Verbreitung lismus, die VL, mit 20.000 Stimmen das Po- dieses Programm gefunden hat, ist schwer tenzial an Gleichgesinnten sicherlich bei Wei- zu sagen. Insgesamt jedenfalls war der Wahl- tem nicht ausgeschöpft. kampf weitgehend für die Katz: Zwar hatten Sind wir, wie Th. einmal meinte, vor allem die Gruppen witzige Plakate geklebt, unver- daran gescheitert, dass wir nicht imstan - wechselbar in Schwarz und Rot, und waren de waren, eine überzeugende Alternative zu mit ihren Materialien auf die Straße gegangen, den Wendehälsen in der SED-PDS und den doch hatte das, wie die Zahlen auf Kreisebene neuen Gruppierungen zu formulieren?27 Das zeigen, kaum Einfluss auf das Ergebnis. klingt nach subjektivem Unvermögen; tat- Wir hatten ohnehin damit gerechnet, dass sächlich aber ließ sich eine solche Alternati- höchstens 20 Prozent der Wählerschaft für ve damals meines Erachtens gar nicht benen- sozialistische Ziele stimmen und sich die al- nen. Überhaupt ist für Wahlentscheidungen lermeisten davon für die PDS entscheiden meist gar nicht allein das Programmatische würden, die ja viel bereut hatte und nun ei- bestimmend. Dass VL-Versammlungen oft nen recht geläuterten Eindruck machte. Doch mit anderthalb Stunden Verspätung began- selbst Pessimisten wie ich hatten auf ein nen und sich hinschleppten bis zur völligen Mehrfaches der von uns erreichten 0,18 Pro- Erschöpfung der letzten Anwesenden, wuss- zent gehofft. Am besten hat die VL bei den ten ja zum Glück nur wenige. Sprach das Bild DDR-Bürger*innen im Ausland abgeschnit- gegen uns, das wir am Zentralen Runden ten, das einen eigenen Wahlkreis bildete, in Tisch abgegeben haben? Seine Sitzungen Prenzlauer Berg und in Halle-Neustadt – 0,58 wurden vom Fernsehen übertragen; diese bzw. 0,52 und 0,40 Prozent. Die Wähler*innen Sendungen waren unser Hauptzugang zur kamen vermutlich aus den gleichen Gesell- Öffentlichkeit. Gesehen habe ich sie mangels schaftsbereichen wie die Mitglieder: aus der Empfänger nie. Sind Mensch und Stil eins, Unser linkes Ding 19

wie Buffon meint, wird auch dort eine kämp- kommen. Und wenn die SED sich 1989 aufge- ferische Verbissenheit unser Kennzeichen löst hätte, wie mancher damals verlangt hat? gewesen sein. Gegen den hochberedsa - Ich befürchte, die VL wäre dann zur Massen- men, professionell und authentisch zugleich unterkunft für politisch Obdachlose geworden wirkenden Gregor Gysi kamen wir nicht an. und hätte ihre ursprüngliche Kultur verloren; Immerhin hörte ich einmal, als ich, unseren 10.000, 15.000 einstige SED-Mitglieder hät- Sticker am Hemd, mit der S-Bahn Richtung ten dafür schon gereicht. Zoo fuhr, wie ein junges Mädchen mir gegen- Es sprach also im Frühjahr 1990 für links den- über ihrer Nachbarin zuflüsterte: «Der is in- kende oder wenigstens empfindende Men- na VL!» Für sie waren wir etwas Besonderes, schen einiges dafür, mehr aber, wie es scheint, Exotisches gar, das Salz im Einheitsbrei der dagegen, die VL in die Volkskammer und die Politik; eine Aura des Widerständigen, mehr Kommunalparlamente zu wählen. Im Mai, bei noch, des Abenteuerlichen umgab uns. Prin- den letzten Wahlen zum Ost-Berliner Stadt- zipientreue, aber kulturell mehr konservative parlament, hatten wir im Bunde mit anderen DDR-Linke hingegen wird unser Ruf eher ab- Kleinorganisationen als Alternative Linke Lis- geschreckt haben. te 0,8 Prozent erreicht. Zur Bundestagswahl Und war mit diesem verlorenen Häuflein wirk- im Dezember 90 brauchte man aber 5 Prozent lich die DDR zu retten? Wohl kaum. Wer zu je- der Stimmen im Wahlgebiet Ost (ehemals ner Zeit einen besseren Sozialismus im Lan- DDR), um ins Parlament einzuziehen. Drei de anstrebte, konnte es allein schon deshalb Möglichkeiten gab es für uns: Linke Liste der aussichtsreicher finden, die SED-PDS um- PDS, Bündnis mit den Bürgerbewegungen – zukrempeln oder im Neuen Forum mitzuwir- oder keinerlei Kandidatur. Unsere Aufgaben ken, das sich als einzige Bürgerbewegung lagen doch anderswo; über die Parlamente rasch entwickelt hatte. Es gab aber auch po- hätten wir die Politik zudem selbst dann nicht sitive Gründe, sich gerade jeweils dort zu be- merklich beeinflussen können, wenn sich die mühen: Blieb man in der PDS, arbeitete man VL einhellig für eines der beiden Bündnisse in vertrauten Milieus im Bunde mit anderen entschieden hätte. Bei Verhandlungen kom- gleicher Herkunft und mit dem Reformer Gysi me er sich vor wie ein bezahlter Hochstapler, an der Spitze, war also auf diese disziplinlose äußerte einer unserer Landesgeschäftsführer VL nicht angewiesen. Auch im Neuen Forum einmal im DDR-Sprecherrat. Eigentlich sei die hatten sozialistische Linke zumindest in Berlin VL nur ein Mythos, sagte ich einmal zu B. Aber anfangs einige Wirkungsmöglichkeiten, und diesen Mythos brauchen wir, meinte er darauf. zwar ohne sich – wie in der PDS – mit alten Wir waren ja jene DDR-Kritiker, die dem So­zia­ Betonköpfen herumstreiten zu müssen. Die lismus trotz allem treu geblieben waren: Th.s VL blieb vom Umfang her weit dahinter zurück Arbeit am ZIW folgten anderthalb Jahre Haft und hat auch nur einen winzigen Teil der etwa aufgrund angeblich illegaler Westkontakte, B. zwei Millionen Mitglieder der SED bzw. PDS hatte wegen geheimer Zirkeltätigkeit den Ar- (Stand Oktober 1989) für sich gewinnen kön- beitsplatz verloren, ich unter anderem wegen nen. Wichtig war: Sie mussten von sich aus meines linienfernen Geschichtsbildes.

Es sprach im Frühjahr 1990 für links denkende oder wenigstens empfindende Menschen einiges dafür, mehr aber dagegen, die VL in die Volkskammer und die Kommunal­parlamente zu wählen. 20 Unser linkes Ding

Mit Verdiensten dieser Art konnten wir aber, sich kritisch dazu geäußert.29 Diese VL-Kan- wie ich schon damals fand, beiden möglichen didaturen waren, was ich damals nicht wuss- Partnern im Vorfeld der Bundestagswahl al- te, Teil eines größeren Vorhabens; Ziel war es, lenfalls als Lockvogel dienen. Der PDS, ins- auf parlamentarischer Ebene alternative Lin- besondere ihrer Führung, wären wir in dieser ke aus der PDS und den Grünen zu verbinden. Rolle höchst willkommen gewesen, zumal wir, Die Sache scheiterte schon im Vorfeld, da die wie von dort zu hören war, den Idealen des West-Grünen 1990 nicht in den Bundestag ka- Herbstes treu geblieben waren und sie nun men. Der politische Schaden dieser VL-Spal- gern deren Hüterin gespielt hätte: im Herbst tung war meines Erachtens beträchtlich, auch 90 für einen Frühling der Ideale vom Herbst zwischen B. und Th. war das Verhältnis, wie 89! Vielen vom Bündnis 90 dagegen war die mir schien, nicht mehr wie zuvor, die fünf einzige Bürgerbewegung mit sozialistischem Mandate hingegen, die für uns in Bund und Programm nicht geheuer; gestört hat sie und Ländern anfielen, eines in Bonn, drei in Berlin, einige parteilose Linke zudem, dass die VL eines in Thüringen, haben uns wenig gebracht SED- bzw. PDS-Mitglieder aufnahm. Wolf- und obendrein mit einem Rechtsschwenk und gang Ullmann, vormals Demokratie Jetzt, war einer unzureichend aufgearbeiteten IM-Ver- missbilligendes Erstaunen anzusehen, als er gangenheit konfrontiert. Nur finanziell, durch im Haus der Demokratie einmal bei einem Mit- die Wahlkampfkosten-Rückerstattung, hatte VLer und mir den schwarz-roten Anstecker die VL diesmal von ihrer Beteiligung profitiert am Hemd bemerkte: «Was, die gibt’s immer (nach der Volkskammerwahl war sie leer aus- noch?» Sicherlich hätte Bündnis 90 mit uns gegangen). gern der PDS Stimmen abgewonnen, doch war gar nicht sicher, dass Kandidaturen der 5. VL ihrer Liste unterm Strich ein Plus bringen Mitte September wurde in der Volkskammer würden. Durch B.s Verhandlungsgeschick ka- der Einigungsvertrag debattiert. Auch Th. men wir aber auch hier unter. Ich hatte in der kam zu Wort. Er sprach vom Opportunismus Hoffnung, so die Zusammenarbeit alternati- der einstigen Blockparteien (geißelte ihn, wie ver Linker zu fördern, für Gespräche mit bei- man früher gesagt hätte), von den Hoffnun- den Seiten gestimmt. Tatsächlich aber ist die gen der Massen, die sich die Demokratie er- Zeit vor den Wahlen für solche Brückenschlä- kämpft hatten, von den Einheitsgewinnen des ge denkbar ungünstig. Immerhin konnten wir Westens und vom Osten, der das alles bald an den Wahlprogrammen der zwei Bündnisse nicht mehr hinnehmen würde. «Wenn Arro- mitschreiben. ganz und Selbstherrlichkeit jedes Maß verlie- Bei der VL-Wahlbeschlusskonferenz vom ren, wird sich jede Regierung dem außerpar- 1. September 1990 entfiel auf beide etwa die lamentarischen Protest der Straße ausgesetzt gleiche Stimmenzahl;28 eine Minderheit, gut sehen», so ein Kernsatz seiner Rede. 30 Das 20 Prozent, lehnte Kandidaturen ab: die Leip- Ost-Volk aber hoffte geduldig weiter, blieb der ziger VL aus Prinzip, die Hallenser, weil ihnen Straße fern und widersetzte sich auch nicht in die außerparlamentarische Arbeit erheblich der Wahlkabine: Zwar kam die CDU am 2. De- wichtiger war. Da wir uns nicht einigen konn- zember nicht mehr auf die Stimmenzahl vom ten, trat die VL als Ganzes nicht an; wer wollte, März, doch SPD und PDS ging es ebenso; die konnte auf der Liste seiner/ihrer Wahl kandi- PDS (bzw. Linke Liste/PDS) brach sogar regel- dieren. Für die Linke Liste ließ sich Th. aufstel- recht ein und verlor im Osten fast 40 Prozent len. Mancher hat das als schwarzen Tag für der Stimmen. Zuvor, am 20. September, war die VL empfunden; später hat auch er selbst der Einigungsvertrag von der Volkskammer Unser linkes Ding 21

mit großer Mehrheit angenommen worden; in Haus der Parlamentarier? – noch nutzen; ich einem Westmedium hieß es, sogar Th. habe saß hin und wieder in unserem bald leer ge- dafür gestimmt. Er gab mir darauf die Stimm- räumten Büro, um ungestört zu telefonieren. karten, die er hier nicht gebraucht hatte, die Der Abtransport der Akten aus Th.s Räumen blaue für Enthaltung und die weiße Ja-Karte. verzögerte sich dagegen, und so landeten sie Zusammen mit einigen anderen Erinnerungs- im Müll. Verantwortlich dafür war der Verwal- stücken, dem Telefonverzeichnis zum Beispiel tungsdirektor; im Vorstand der DDR-CDU war mit dem Vermerk «Nur zur persönlichen Ver- er Mitglied des Präsidiums und Sekretär für wendung!» und den übrig gebliebenen Es- Agitation gewesen. sensmarken für die Parlamentskantine, liegen Der 3. Oktober bedeutete keinen so tiefen sie nun in meinem Archiv. Einschnitt, wie es zunächst scheinen könn- Am 2. Oktober, dem letzten Tag der DDR, te: An den Verhältnissen änderte sich nicht hatte ich bis zum Abend im Büro zu tun. Die mehr viel. Mit der Wirtschaft im Osten ging es Volkskammer tagte zu dieser Zeit schon im allerdings steil bergab, und so kam es in den vormaligen ZK-Gebäude, die einstige Stasi-Tä- Jahren 1991 bis 1993 im Kampf gegen die tigkeit von Abgeordneten war ihr Thema. In Betriebsschließungen endlich zu massenhaf- den Protokollen finde ich diese Sitzung nicht tem Protest. Er wurde aber der herrschenden verzeichnet, sie war auch nicht öffentlich. Ir- Ordnung zu keiner Zeit gefährlich, er richte- gendwie kam ich aber doch an eine Besucher- te sich nicht einmal gegen sie. Wir hatten al- karte. Es war gegen neun, im halbdunklen so mit unseren Warnungen vor den Einheits- Plenarsaal herrschte Chaos: Antrag, Gegenan- folgen recht behalten, konnten aber diese trag, Ergänzungsantrag, Antrag zurückgezo- Entwicklung nicht nutzen und in die sozialen gen … Eine Viertelstunde reichte mir. Auseinandersetzungen im vereinten Deutsch- land kaum mehr eingreifen. Nicht zuletzt, weil die VL im Der 3. Oktober bedeutete keinen so Spätsommer 1990 schon tiefen Einschnitt, wie es zunächst begonnen hatte, sich aufzu- scheinen könnte: An den Verhältnissen lösen. Ihre Gründung, ihre änderte sich nicht mehr viel. Anziehungskraft, ihren Elan verdankte sie mehr als allem Am nächsten Morgen, drei Tage vor meinem anderen der Hoffnung auf die Nähe eines Sozi- 41. Geburtstag, erwachte ich als Bürger der alismus, der unseren Bedürfnissen entsprach. Bundesrepublik Deutschland. In der Presse Diese Hoffnung war, wie sich in der «Böhlener hatte man uns, wenn ich mich nicht irre, zuvor Plattform» zeigt, von Gewissheit weit entfernt, noch beruhigt: Die Verwandlung sei völlig un- sie war kaum zu begründen, aber sie war doch gefährlich, würde nicht einmal unseren Schlaf da: Wir wollten einfach nicht glauben, dass stören, und wir würden sogar unsere alten in diesem Land wieder das Kapital herrschen DDR-Gesichter behalten. So war es auch. Nur könnte. Bald nachdem klar war, dass unsere ein leichter, ab und an mäßiger, jedoch lang Hoffnung sich nicht erfüllen würde, begann anhaltender Seelenschmerz ist mir von der der Abstieg. Von denen, die anfangs mitgear- Prozedur geblieben: Ich war ja nicht nur oh- beitet hatten, waren bereits manche wegge- ne mein Zutun, sondern gegen meinen erklär- blieben, Neue kamen kaum hinzu, und durch ten Willen zum Bundesbürger geworden. Drei den Rückzug der Autonomen war auch das Monate konnten wir die Räume im Haus der Spektrum innerhalb der VL schmaler gewor- Parlamentarier – oder hieß es nun ehemaliges den.31 Nun aber verloren die Gruppen erheb- 22 Unser linkes Ding

lich an Mitgliedern, trafen sich seltener oder tion und Diskussion hätte verbinden können; verschwanden völlig, oft genug spurlos: Ein 1992/93 war es dafür wohl auch zu spät. Das zentrales VL-Archiv, das ihre Nachlässe hätte Mailbox-System, das wir damals eingerich- übernehmen können, fehlte. tet haben, war für Vernetzungen ungeeignet Als ich Ende 1990 aus dem Arbeitssekretariat und wurde kaum genutzt, denn man konnte ausschied, gab es die Gesamt-VL noch durch sich nicht vom eigenen PC aus in das System die Zusammenkünfte des Sprecherrats und einloggen, sondern musste dafür ins VL-Büro. die Gemeinsamkeiten der Grundgesinnung, Privaten Internetzugang hatte bis weit in die doch der Volkskammer-Wahlkampf war ihr 90er Jahre hinein fast niemand. einziges Gesamtvorhaben geblieben. 1991 Ein Forum für breitere Kreise der alternati- wurde in Halle ein neues Statut verabschie- ven Linken hätte die Zeitschrift werden kön- det, die VL wirkte nun als Verein, ihre Struktu- nen, die B. in den frühen 90ern hatte gründen ren wurden aber bald kaum mehr gebraucht: wollen. Er brachte für solch ein Unternehmen 1992 oder 1993 kam der Län- wichtige Voraussetzungen dersprecherInnenrat, wie er mit, war ein Kommunikator nun hieß, letztmals zusam- Der Strategie des und kannte die linke Szene men. Die Stelle im Arbeits- Aufbaus einer ebenso wie die Geschichte sekretariat war wohl schon Gegenmacht von der Arbeiterbewegung und vorher nicht mehr besetzt unten war der des Sozialismus. Was fehl- worden. Die wenigen restli- Boden entzogen. te, war zunächst das Startka- chen Gruppen wirkten jede pital. Als wir bei M. aus der für sich vor sich hin: Wir in Berlin wurden zum Mediengruppe der VL Berlin in der Prenzlau- Bildungszirkel und befassten uns mit der Ge- er Allee verabredet waren, um noch einmal schichte der Arbeiterbewegung, die Hallenser über Titel, Grundanliegen und dergleichen zu engagierten sich beim örtlichen Freien Radio, sprechen, warteten wir vergebens auf B. Nach die Leipziger Gruppe war eng mit der Haus- einer dreiviertel Stunde ging ich und traf ihn besetzerszene verbunden – oder mit der dor- frierend auf dem großen, dunklen Hof. Er hat- tigen Friedensbewegung? Allmählich wurde te vergessen, welcher Aufgang der richtige auch der Zusammenhang zwischen diesen war, und gehofft, jemand würde kommen und Gruppen lockerer. ihn mitnehmen. Wir waren zuvor schon nicht An sich, um mit Hegel zu sprechen, bestand so recht vorangekommen mit dem Vorhaben, die VL also längere Zeit noch, aber nicht nun gaben wir es auf. Es war auch fraglich, ob mehr für sich. Denn wo ein zentraler Appa- das Blatt Absatz gefunden hätte. rat ebenso fehlt wie eine gemeinsame Praxis Mitte der 90er Jahre war von der Berliner VL der Basis, muss diese wenigstens durch ho- kaum noch etwas zu hören. Es gab damals rizontale Verbindungsaufnahme den Binnen- sogar einen Beschluss ihres Politischen Bei- zusammenhang herstellen. Doch das wurde rats, sich nicht mehr als VL an die Öffentlich- von uns kaum als Aufgabe begriffen¸ es war keit zu wenden. Vielleicht hat der Beirat – wer auch niemand dafür eigens zuständig. Nicht auch immer das gewesen sein mag – nicht zuletzt deshalb wurde die VL als Gesamtor- einmal diesen Beschluss öffentlich gemacht, ganisation bald zur Fiktion. Zwischen den In- denn ich habe jetzt erst durch B. davon er - foblättern Vau Ell (Berlin), klinke () und fahren. 1996 erschien nach größerer Pause vl Halle, später Subbotnik in L. A. (Halle) fehl- mit der Nr. 30 das letzte Heft unseres Info­ te der Austausch; vor allem gab es kein zen- blättchens Vau Ell, das schon seit Längerem trales Blatt, das die Gruppen durch Informa- fast nur Nachdrucke gebracht hatte. Im Jahr Unser linkes Ding 23

darauf stellte die Gruppe, die zu einem Zirkel rung von vielen bis hin zur Sozialdemokratie von kaum mehr als einem halben Dutzend abgelehnt. Wichtigstes Ergebnis ihrer Bemü- Leuten geschrumpft war, die Arbeit vollends hungen an der Basis war die Betriebsrätekon- ein. In der Greifswalder Straße, ab 1999 neuer ferenz vom 3. Februar 1990 im Werk für Fern- Standort des Hauses der Demokratie, haben sehelektronik in Schöneweide. Abgesandte wir unser Büro zwar bezogen, es aber faktisch von etwa 70 Belegschaften berieten dort, wie nie genutzt. Dennoch war es für uns wichtig: man in den Betrieben die Stellung der Rä- Nur als Mieter hatten wir Sitz und Stimme in te und der Gewerkschaften stärken könnte. Kuratorium und Vorstand der Stiftung «Haus Die Konferenz blieb jedoch ohne Nachfolge; der Demokratie und Menschenrechte», wie schon bald bestimmte die Betriebsverfassung es nun hieß, dem einzigen Bereich, in dem der BRD die Debatten. Auch die VL Halle, die VL-Mitglieder als solche weiterhin tätig waren. zumindest anfangs stark räteorientiert war, Sie hatten auf das Geschehen dort beträchtli- hat in dem Bereich nach außen wirken kön- chen Einfluss, waren aber an eine politisch tä- nen. Er war unser einziges Tätigkeitsfeld, das tige VL-Gruppe nicht mehr angebunden. Mit- später dokumentiert worden ist.32 einander in Kontakt geblieben und weiterhin Eine Kernfrage unserer Geschichte ist nun, aktiv sind sie und die wenigen übrigen Mit- wie sich die VL im Dezember 1989, als sie glieder der VL Berlin jedoch fast alle. M. bin dank wachsender Mitgliederzahl und durch ich, nachdem wir uns lange nicht gesehen den Aufbau von Strukturen allmählich arbeits- hatten, in einer der Flüchtlingsunterkünfte in fähig wurde, verhalten hat und warum. In die- Prenzlauer Berg wiederbegegnet, wo wir am sem Dezember zeichnete sich ja schon deut- 2. Weihnachtsfeiertag früh bei der Essenaus- lich ab, dass sich die nach deutscher Einheit gabe geholfen haben. strebenden Kräfte in der DDR, trotz nicht un- beträchtlicher Gegenwehr von links, durch- 6. setzen würden. Damit war der Strategie des Die ganze erste Zeit, bis hin zum Volkskon- Aufbaus einer Gegenmacht von unten, wie gress-Aufruf vom 9. Dezember 1989, hatte sie die VL noch im Volkskongress-Aufruf vom die VL, wie erwähnt, den Aufbau einer Gegen- 9. Dezember verfolgt hatte, der Boden entzo- macht von unten zur Grundvoraussetzung so- gen. Denn im Kampf um diese Gegenmacht zialistischer Entwicklung erklärt, doch haben sollte sich möglichst das ganze Volk vereinen, wir mit dazu passenden Vorhaben nur ganz und das war keine Marotte: Eine Gesellschaft, selten Teile der Gesellschaft angesprochen die eine Alternative nicht nur zur bisherigen und auch ansprechen können. Zwar wurde Ordnung im Osten, sondern auch zu der im das Volk im Herbst 1989 und bis in den Win- Westen bieten sollte, war nur mit Unterstüt- ter 1990 hinein in hohem Maße spontan aktiv, zung einer stark überwiegenden Mehrheit le- nicht nur bei Demonstrationen, sondern auch bensfähig. bei Meetings in Betrieben und Einrichtungen, Es wäre nun, im Dezember 1989, vor allem die bei Einwohnerversammlungen, bei Blocka- Aufgabe derer gewesen, die diese Strategie den und Besetzungen von Dienststellen des entwickelt hatten, uns, die wir neu hinzuge- MfS. Doch zu jener territorialen Selbstorgani- kommen waren, zu signalisieren, dass hier et- sation, zu der unter anderem im Aufruf vom was zu Ende ging. Doch das tat man allenfalls 9. Dezember ermutigt wurde, kam es nicht. indirekt: Der Aufruf vom 9. Dezember blieb Die VL war auch viel zu klein, um die Entwick- der letzte seiner Art, schon bald kam in der VL lung flächendeckend beeinflussen zu können, Berlin die Idee der Gegenmacht von unten nur und wurde zudem als sozialistische Gruppie- noch in Herberts gelegentlichen Klagen zur 24 Unser linkes Ding

Sprache, bei der Volkskongress-Vorbereitung ter den gegebenen Bedingungen konnte die allein dazustehen. Wer erst seit Kurzem dabei VL nur mit einem Programm für eine andere war, verstand auch kaum, was es mit dieser DDR, einen besseren Sozialismus antreten, Gegenmacht von unten auf sich hatte. Denn obwohl das nicht im mindesten mehrheitsfä- niemand kümmerte sich um Neulinge, infor- hig war; auch hier musste man die Kohl-Be- mierte sie – eine Begrüßungskultur fehlte bei jubler ignorieren. Die Teilnahme an der Wahl uns ebenso wie eine Kultur des Dankes. war die letztmögliche Fortführung einer Orien- Wenn sich vom Dezember 1989 an die bis- tierung, aus der sich eigentlich gar keine Ta- herige Gegenmacht-Strategie der VL, die gesaufgaben mehr ableiten ließen. Gerecht- sie ohnehin kaum hatte praktizieren können, fertigt war sie vielleicht dennoch, auch wenn mehr und mehr als überholt erwies, so hät- sie viel Kraft band: Die sozialistische Idee war te eigentlich eine Debatte über die Möglich- hierzulande nur durch die Ausrichtung auf ei- keiten weiterer politischer Arbeit die Antwort nen freiheitlichen und demokratischen Sozi- sein müssen. Doch dem gingen wir, von vie- alismus noch zu retten. Die PDS als Ganzes lerlei Anforderungen ohnehin überlastet, aus konnte diese Idee aber nicht glaubwürdig ver- dem Wege. Denn diese Strategie aufgeben zu treten, ein Teil der Mitglieder wollte es sicher- müssen hätte zugleich einen die Existenz der lich auch gar nicht, imstande war dazu allein VL bedrohenden Perspektivverlust bedeutet: die VL. Konkret und umfassend konnte sie das Da sie ihren Elan vor allem dem Einsatz für ei- aber nur im Programm zu dieser Volkskam- ne bessere DDR verdankte, konnte man sich merwahl, es bot dafür die letzte Möglichkeit. nicht Ende 1989 schon eingestehen, dass es Sie war, nachdem sie sich zur Teilnahme an damit nichts werden würde; nur mit einer ge- der Wahl entschlossen hatte, auch gezwun- wissen Realitätsverleugnung war die VL im- gen, dieses Programm zu schreiben, und sie stande, aus den Startlöchern zu kommen. Wer konnte es in der Form auch nur tun, wenn sie sich vielleicht seit zwei Jahrzehnten schon für de facto allein antrat. Denn ein gesondertes eine andere DDR eingesetzt hatte, konnte im VL-Programm fehlte, es wäre, da es auf ei- Moment des Sieges über die alten Gegner so- nen anderen Zeithorizont hätte berechnet sein wieso kaum auf die ursprünglichen Ziele ver- müssen, auch gar nicht mehr zu formulieren zichten: Einmal wenigstens musste man es gewesen. versucht haben. Bei den Runden Tischen lagen die Probleme Für eine – unliebsame – Strategiedebatte hat- anders: In den frühen Papieren der VL war von te man allerdings auch gar keine Zeit, man ihnen nirgendwo die Rede. Eigentlich wollte hatte vollauf zu tun, die Volkskammerwahlen sie nämlich – so hat es B. jedenfalls später dar- vorzubereiten und an den Runden Tischen gestellt33 – SED-Generalsekretär Krenz durch mitzuwirken – und konnte so zugleich insbe- Druck von unten stürzen, um dann zusam- sondere neu hinzukommenden Kräften sinn- men mit der übrigen Opposition und vielleicht volle Einsatzmöglichkeiten bieten. Dabei wa- auch mit Reformkräften aus dem Apparat die ren aber beide, Wahl wie Runde Tische, auf Macht zu übernehmen. Sich an den (Zentra- ihre Art ebenfalls höchst problematisch. Un- len) Runden Tisch zu setzen, so B., hätte be-

An den Runden Tischen konnte man meinen, Einfluss zu haben auf den Gang der Dinge, was uns ein wenig entschädigte für die Wirkungslosigkeit unserer Ideen zur Selbstorganisation des Volkes. Unser linkes Ding 25

deutet, eben darauf zu verzichten. Auf meine reiche selbst aussuchen konnten, haben wir Frage an ihn und Th., die uns beide an jenem unser Tun in einer entscheidenden Frage oh- Tisch vertreten hatten, weshalb denn auch sie ne lange Debatten den Gegebenheiten sowie dort gesessen hätten, antworteten sie mir et- dem eigenen sozialen Charakter und den eige- wa gleichlautend, man wäre ansonsten in die nen Fähigkeiten angepasst, sodass der Wahl- Isolation geraten. Als am 7. Dezember der kampf und die Runden Tische Hauptfelder un- Runde Tisch erstmals tagte, war Krenz aller- seres Handelns wurden. dings schon abgetreten. Wem es immer noch Zwar wurde auch an diesen Tischen mitunter um Machtübernahme ging, der hätte Modrow heftig gestritten, und im Wahlkampf ande- stürzen müssen, was aber schwierig gewesen ren Zettel in die Hand zu drücken setzte, wie wäre, denn das Volk strebte gar keine Opposi- ich bei einem Einsatz am 1. Mai 1990 bald tionsregierung an. «Neues Forum zulassen!» gemerkt habe, eine Keckheit voraus, die mir hieß es auf der Berliner Demonstration vom fremd war. Man war aber hier wie da meist un- 4. November häufig, nicht dagegen «Neu- ter seinesgleichen und hatte statt mit wider- es Forum an die Regierung!». Oder hätte das strebenden Massen mit vertrauten Dingen zu Volk schon mitgezogen, wenn die Bürgerbe- tun. An den Runden Tischen konnte man auch wegungen es gefordert hätten? B. hat sich mir meinen, Einfluss zu haben auf den Gang der gegenüber einmal so geäußert; vielleicht hat- Dinge, was uns ein wenig entschädigte für die te er sogar recht. Doch hat das Scheitern der Wirkungslosigkeit unserer Ideen zur Selbstor- Volkskongress-Idee gerade damals gezeigt, ganisation des Volkes. Da nun der VL für die dass sich die Volksmassen nicht beliebig in ei- Politik im engeren Sinne die Kräfte fehlten, sie ne Richtung schieben lassen. Und warum soll- dabei auch an die Grenzen ihrer Grundsätze ten sie jemandem die Verantwortung übertra- kam,34 und zur Basisarbeit insgesamt gesehen gen, den sie kaum kannten, vielleicht gar für die Fähigkeiten, die viele erst hätten erwerben weltfremd und inkompetent hielten? müssen, da zudem die Runden Tische Episo- Die Orientierung auf Runde Tische und Wah- de blieben, konnte sie, strategielos, wie sie len konnte der VL aber noch in anderer Hin- war, allenfalls durch ihr Organisationsmodell sicht einige Zeit weiterhelfen: Auch wenn wir und ihr Sozialismus-Programm Bedeutung er- unsere Aufgaben beim Aufbau einer Gegen- langen – und so war es auch tatsächlich. Aber macht von unten nie genau bestimmt haben damit allein, ohne eine wie auch immer gear- und diese Macht sich zudem unterschiedlich tete Praxis, konnte eine politische Gruppie- definieren ließ, als territoriales Organ im Sin- rung im Sommer 1990 nicht mehr überleben. ne des Volkskongress-Aufrufes oder erheblich bescheidener: als Basisbewegung, daran mit- 7. zuwirken verlangte stets einiges an Volksver- Im Dezember 1989 wäre eine Strategiedebat- bundenheit und Sendungsbewusstsein oder te also vielleicht nötig gewesen, sie war aber, wenigstens Selbstvertrauen, an Fähigkeit, an- wie es scheint, noch nicht möglich. Spätes- dere anzusprechen, gemeinsam Vorhaben zu tens gegen Ende des Sommers 1990, als die planen, sie zu verwirklichen und Konflikte aus- Wahlen vorbei waren und man an den Runden zutragen. Doch damit konnten in der VL Ber- Tischen die Stühle hochgestellt hatte, als die lin – und ebenso vermutlich andernorts – nur deutsche Einheit nahte und die Zeichen des wenige aufwarten. Vielen von uns fehlte dafür Zerfalls der VL sich mehrten, wäre diese De- die Lebenserfahrung, andere waren zu intro- batte, wäre ein Neuansatz in unserer Arbeit vertiert … randständig … intellektuell. Oder al- unbedingt erforderlich gewesen. Und mög- les zusammen. Und da wir uns die Arbeitsbe- lich vielleicht auch. Vor uns stand jetzt aber 26 Unser linkes Ding

nicht mehr der Kampf gegen ein System in durch Ausrichtung auf Schwerpunktthemen der finalen Krise, bei dem wir zuletzt die Re- den neuen Vorhaben anpassen müssen. Für geln zum Teil selbst bestimmen konnten, son- den Zusammenhalt der Gruppen wären ge- dern der gegen eine fest gefügte bürgerliche meinsame Aktionen und ein zentrales Forum Ordnung. Unsere aus der DDR-Erfahrung ge- wichtig gewesen. Hier hätten wir Fragen dis- wonnenen Leitbilder hätten wir nicht aufge- kutieren können, denen wir uns zuvor kaum ben, aber in neue Aufgaben umsetzen müs- gewidmet hatten: wie nämlich die Arbeit auf sen. In meiner Stadtbezirksgruppe Prenzlauer konkreten Feldern des gesellschaftlichen Le- Berg, die im Herbst 1990 erst auf die Beine bens mit dem Kampf für eine sozialistische gekommen war, saßen wir jedoch nur herum Entwicklung zu verbinden sei. Indem wir ver- und rätselten, wie wir uns nützlich machen sucht hätten, nicht nur als Dienstleister zu könnten. Bloß zum Quatschen treffen wollten wirken, sondern beizutragen zur Selbstorga- wir uns nicht, so war schon im Frühsommer nisation anderer, hätten wir an Ziele unserer 1991 Schluss. Dabei hatten wir in den ma­ Frühzeit angeknüpft. roden Vierteln dort soziale Themen direkt vor Nur auf praktischem Wege wäre es, wie mir der Nase: Stadtentwicklung, Wohnungsmo- scheint, auch möglich gewesen, jene alterna- dernisierung, Mieten. Mag sein, zu große für tiven Linken zusammenzuführen, die nun teils unsere Kleingruppe. Wir hätten berlinweit zu- in der PDS, teils in den Bürgerbewegungen, sammenarbeiten, neue Arbeitsgruppen grün- teils nirgendwo zu Hause waren. Zudem hätte den, in sie Teile anderer, in Auflösung begrif- sich manches Vorhaben sicherlich nur als Ge- fener Stadtteilgruppen einbeziehen und den meinschaftswerk dieser Linken verwirklichen Kontakt zu Initiativen wie «Wir bleiben alle!» lassen. Gerade wir waren ja dank unserer po- pflegen müssen, die unter anderem für den litischen Herkunft und Programmatik beson- Verbleib der Altmieterschaft bei Wohnungsre- ders befähigt, solche Zusammenarbeit zu för- konstruktion kämpfte. Wahrscheinlich fühlten dern; sie blieb unser Ziel, als wir die Hoffnung, wir uns von alledem überfordert: Der Dampf die große Vereinigte Linke zu werden, längst war raus. aufgegeben hatten. Treffen, Tagungen usw., Doch wenn überhaupt, wäre die VL wohl nur der Bereich, wo wir tatsächlich tätig wurden, als rotes Gegenstück zur Grünen Liga, als waren dafür weniger wichtig. Ob VL-Kandida- auch für Mitglieder anderer Gruppen offener turen auf konkurrierenden Listen Zusammen- oder mit ihnen kooperierender Projektverbund arbeit förderten, ist sogar zweifelhaft. noch dazu gekommen, mehr ins politische Zu bereden gewesen wäre all das beim zwei- oder überhaupt ins gesellschaftliche Leben ten DDR-weiten Arbeitstreffen am 15. bis 17. einzugreifen. Voraussetzung dessen wäre es Juni 1990 in Dresden. Es wurde von vielen als gewesen, dass es uns nach dem Verlust unse- Ermutigung verstanden, Anregungen zur Um- rer ursprünglichen Hoffnungen gelungen wä- gestaltung unserer Arbeit bot es jedoch kaum. re, uns für neue Aufgaben zu motivieren und Ob ein Neuansatz wirklich möglich gewesen die für die politische Arbeit nötigen Fähigkei- wäre, ob wir beim Bemühen um Handlungs- ten auszubilden. Man durfte damit nicht erst fähigkeit, bei der Suche nach Strategien über- vor Ort anfangen, musste sie gemeinsam ler- haupt etwas erreicht hätten, steht auf einem nen und üben. Denn wieder wäre Basisarbeit anderen Blatt. Dass wir es nicht einmal in Er- angesagt gewesen, anderer Art zwar, aber an- wägung gezogen und uns stattdessen der spruchsvoll nach wie vor. Die Struktur der Ar- Vorbereitung der Wahlen vom Oktober und beitsgruppen, sofern sie noch existierten, hät- Dezember gewidmet haben, war wohl unser ten wir ebenso wie den Aufbau der Gesamt-VL größter politischer Fehler: Sie hat uns viel Zeit Unser linkes Ding 27

und Kraft gekostet und uns zugleich von den Man könnte die VL, um sie geschichtlich ein- meines Erachtens eigentlich anstehenden zuordnen und ihre Eigenart besser zu verste- Aufgaben abgelenkt. Hier setzte sich etwas hen, noch unter dem Gesichtspunkt der Ent- fort, was sich schon im Dezember 1989 und wicklung linker Opposition und vor allem der Januar 1990 hatte beobachten lassen: Der Neuen Linken in Deutschland oder der He- Wahlkampf musste jenes politische Handeln rausbildung alternativer DDR-Milieus be- ersetzen, für das die Kräfte fehlten. trachten; man könnte ihr Wirken auch in den Andere Linke, die den Realsozialismus abge- Zusammenhang jener Gesamtkrise der euro- lehnt hatten, standen nicht besser da als wir. päischen Linken stellen, die eng mit dem Nie- Unsere Untermieter im HdD, der Bund Revo- dergang des 1917 an die Macht gekommenen lutionärer Sozialisten, wie sich die DDR-Trotz- Sozialismus verknüpft ist und ebenso seine kisten der Mandel-Richtung nannten, und die sozialistischen Gegner ereilt hat. Verzichtet Alternative Linke, die aus der Westberliner habe ich zudem auf eine Analyse der «Böhle- Alternativen Liste kam, sind schon lange vor ner Plattform» und des Programms zur Wahl uns untergegangen; sie hinterließen uns viel vom März 1990 wie überhaupt des Denkens Papier. Die Vereinigte Sozialistische Partei, un- in der VL. Es hätte diese Arbeit überfrachtet. ser wichtigster West-Partner, schrumpfte zu- sehends und musste 1993 den Status als Par- 8. tei aufgeben, ihre Sozialistische Zeitung (SoZ) Hin und wieder komme ich auf der Alexander- wurde vom Wochen- zum Monatsblatt. Eini- straße, gleich gegenüber vom Alex, am Bistro ge Zeit verhandelte B. mit der Ökologischen Cantino am einstigen «Haus der Elektroindus- Linken um Jutta Ditfurth – ohne Erfolg. Was trie» vorbei. Jedes Mal denke ich dann daran, hätte die Ökoli uns auch bringen können? wie wir Anfang Oktober 2013 an einem küh- »Nothing to nothing gets nothing«; es nützt len, wolkenreichen Vormittag zu fünft oder nichts, wenn sich Verlierer*innen zusammen- sechst hier draußen gesessen haben: die tun. Überlebt hat von den Neuen nur, wer drü- Gruppe Berliner VLer*innen, die es übernom-

Nur auf praktischem Wege wäre es möglich gewesen, jene alternativen Linken zusammenzuführen, die nun teils in der PDS, teils in den Bürgerbewegungen, teils nirgendwo zu Hause waren. ben stärkere Unterstützung fand: SDP, Grüne men hatte, die Auflösung der «Initiative für ei- Partei und Bündnis 90. Uns ging es ähnlich ne Vereinigte Linke» vorzubereiten. Es war ihr wie dem Unabhängigen Frauenverband, dem drittes und letztes Treffen; einen Verein zu be- wir auch politisch nahestanden: Da er in der erdigen ist fast so schwierig, wie ihn aus der Bundesrepublik weder Wirkungsräume noch Taufe zu heben. Empfohlen hatte diese Auflö- gleichgesinnte Gruppierungen hatte finden sung schon vier Jahre zuvor, bei seiner letzten können, hat er sich 1998 nach langem Abstieg Zusammenkunft, das einzige noch arbeitsfä- aufgelöst. Als sozialistische Bürgerbewegung hige Gremium der VL, der geschäftsführen- war unsere Gruppierung ohnehin ein Unikat, de Ausschuss, kurz GFA genannt. Selbst be- sie hatte auch jenseits von Oder und Erzgebir- schließen konnte der GFA so etwas nicht, er ge nur wenige Verbündete – allenfalls ein paar war nicht einmal berechtigt, die dafür erfor- politische Verwandte. derliche Mitgliederversammlung einzuberu- 28 Unser linkes Ding

fen. Das Gremium, das dazu befugt war, gab les aus jener Zeit ist veröffentlicht. Nicht mehr es aber längst nicht mehr. Zwar war 1998 bei auffindbar waren die Protokolle der ersten drei einer Mitgliederversammlung in Neurhodan DDR-Delegiertenversammlungen, die das ein vereinfachtes Statut beschlossen worden, Statut, das Wahlprogramm und die Kandida- das sicherlich auch die Auflösung erleichtert turen für den 18. März beschlossen hatten. hätte, aber die Anmeldung beim Amtsgericht Es ist ja, dies zuletzt noch, gut möglich, dass Charlottenburg wurde verschlampt. die Schwierigkeiten, mit denen die VL zu Egal, es ließ sich alles klären, und am Mor - kämpfen hatte, damit zu tun hatten, dass die gen des 19. Oktober 2013 steckte ich mir zum Verhältnisse hier für einen neuen Sozialis- letzten Male mein VL-Abzeichen an. Ich hat- mus noch nicht reif waren. Aber wenn sie es te längere Zeit nach ihm suchen müssen, und damals nicht waren, wann sind sie es denn es sah etwas anders aus, als ich es in Erinne- überhaupt? Soll man auf Katastrophen hof- rung hatte. Gegen zehn Uhr trafen sich dann fen? Eindeutig auf Sozialistisches verweisen im Berliner Haus der Demokratie und Men- bürgerliche Verhältnisse wahrscheinlich nie. schenrechte (HdDM) an der Greifswalder Wichtig wäre es auch zu wissen, ob Gruppen Straße etwa zwei Dutzend Mitglieder, um die in der Art der VL bei sozialen Kämpfen noch Auflösung der VL zu beschließen. Der damals immer von Nutzen sein können. Vielleicht zei- anspruchsvollste Versuch, sozialistische Lin- gen es die Arbeitsergebnisse der Interventi- ke hierzulande neu zu organisieren, ging nun onistischen Linken, der uns wohl nächstver- auch formell zu Ende. Noch einmal habe ich wandten heute aktiven Organisation. Auf alle an jenem Tage das Gefühl der Zusammen- Fälle scheint mir jene sozialistische Orientie- gehörigkeit, der Vertrautheit miteinander ge- rung, für die sich die VL bei ihrer Gründung spürt; gestritten wurde nur bei einem Punkt eingesetzt hat, auch unter den jetzigen Be- der Tagesordnung, über den wir uns schon dingungen sinnvoll zu sein, mehr noch: unbe- in der Vorbereitungsgruppe nicht hatten eini- dingt erforderlich. Denn eine Ordnung, deren gen können: dem Umgang mit den Archivali- hauptsächliche Triebfeder die Konkurrenz ist, en aus unserem Büro im HdDM. Ich hätte sie und zwar eine profitgetriebene Konkurrenz, gern dem Archiv der Havemann-Gesellschaft kann keine wirklich menschliche Ordnung überlassen, das solche Nachlässe sammelt sein. Ich frage mich aber, wie man als Teil ei- und genauer erfasst. Allerdings waren wir mit ner Gesellschaft, die ihre Mitglieder so zurich- ihrem Vorgehen bei bestimmten Gelegenhei- tet wie diese hier, überhaupt zu einer solchen ten nicht einverstanden, also wurde mit viel Sicht kommen könnte. Aufwand eine eigene Archivgruppe gegrün- det, doch bis heute lagern unsere Papiere un- Für vielfältige Unterstützung beim Schreiben aufgearbeitet in Regalen im Untergeschoss dieser Arbeit danke ich Bernd Gehrke, Sebas- des HdDM. Aber vielleicht ist das nicht so tian Gerhardt und Thomas Klein (alle drei ehe- schlimm. Auch in unserem Fall lag der größte mals VL Berlin), für die Wahlkampffotos 1990 Glanz auf dem gemeinsamen Beginnen; vie- Gerd Stadermann (Berlin). Unser linkes Ding 29

1 Vorbild für Th. war Thomas Klein; zu seiner Person vgl. Müller-En - tiative Vereinigte Linke, hrsg. vom AStA der TU Berlin (West), Berlin bergs, Helmut u. a.: Wer war wer in der DDR? Ein biographisches Le- o. J. [ca. Februar 1990], S. 6. 22 Weinholz, Erhard: Das Unmögliche xikon, 5., akt. und erw. Aufl., Berlin 2009, Bd. 1, S. 666. 2 Böhlener wagen – VL! Einige Überlegungen zu unserer Geschichte, in: Vau Ell Plattform, in: Die Aktion 60–63/1990, S. 936–942. 3 Vorbild für B. war Infoblatt 16/1991, S. 27–31. 23 Zimmerling, Zeno/Zimmerling, Sabi- Bernd Gehrke; zu seiner Person vgl. Müller-Enbergs u. a.: Wer war wer ne: Neue Chronik DDR, 3. Folge: 24. November–22. Dezember 1989, in der DDR? [wie Anm. 1], Bd. 1, S. 378. 4 Vgl. Gehrke, Bernd: Der Berlin 1990, S. 99. Für eine souveräne DDR votierten 73 Prozent, nur Herbst ’89 in der DDR. Gespräch, in: Internet-SoZ 1/2020. 5 Böhlener 27 Prozent für die deutsche Einheit. 24 «Für Einheit und Klarheit»: Plattform [wie Anm. 2], S. 939. 6 Ruge, Arnold: Anekdota zur neues- in: VAU ELL Infoblatt 6/1990, S. 12–14, Zitat: S. 13. Herberts Name ten deutschen Philosophie und Publicistik, Erster Band, Zürich/Winter­ erscheint in dem Zusammenhang nicht, seine Urheberschaft war thur 1843, S. 103. 7 Bund Sozialistischer Arbeiter: Das Ende der DDR. aber bekannt. 25 Vgl. Wetzel, Dietrich/Schnappertz, Jürgen: Bericht Eine politische Autopsie, o. O. 1992. 8 Klein, Thomas: Erinnerungen an die Bundestagsfraktion DIE GRÜNEN über Anforderungen an das an eine Revolution oder Geschichte einer Entfremdung, in: telegraph in West-Berlin neu eingerichtete Unterstützungsbüro für DDR-Grup- 135–136 2019/20, S. 59. 9 Dies bezieht sich auf eine anderslauten- pen, Bonn 12.2.1990. Wetzel war damals Grünen-MdB, Schnappertz de Äußerung Thomas Kleins in: ebd., S. 61. 10 Böhlener Plattform Fraktionsmitarbeiter. 26 Vorläufiges Programm der Vereinigten Lin- [wie Anm. 2], S. 936. 11 Zu seiner Person vgl. Tod eines Berufsrevo- ken zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990, in: ebd., S. 5; ein lutionärs, in: vom 19.1.2017. 12 Vgl. ­http://blog. endgültiges Programm scheint es nicht gegeben zu haben. 27 Klein, interventionistische-linke.org/linke-geschichte/die-erfahrung (Juli Thomas: Rasch isoliert. Die linke Bürgerbewegung 1989, in: neues 2019). 13 Fast alle VL-Mitglieder waren in Betrieben oder Einrichtun- deutschland vom 3./4.11.2014. 28 H.S.: Bericht Landesdelegierten- gen fest angestellt und gaben diese Arbeit natürlich nicht für eine kurz- konferenz zur Wahlentscheidung, Berlin, 1.9.1990, in: Vau Ell Infoblatt zeitige Arbeit für die VL auf. 14 Für ein Mandat waren 0,25 Prozent der 5/1990, unpag. 29 Klein, Thomas: Linke Opposition in der DDR und Wählerstimmen erforderlich. Nachdem auf dieser Basis die Mandate ihr Agieren in der Wende – kurze Bilanz einiger Irrtümer und kleiner entsprechend der Stimmenzahl verteilt worden waren, blieb ein Sitz Ausblick auf mögliche Lehren; in: Gegen die Verdrängung im eigenen übrig, der an die nächstkleinere Gruppierung ging, und das war die Kopf. Ein heiteres Schlachten alter Tabus anlässlich des 5. Jahrestages VL. Zudem war eine christlich-fundamentalistische Gruppierung, die der Großen Nichtsozialistischen Oktoberrevolution (Wende). Reader Christliche Liga, nur in drei der fünfzehn Bezirken angetreten – und zur Oppositionskonferenz vom 5.11.94 im Haus der Demokratie, Berlin, hatte schon dort etwa 10.700 Stimmen bekommen. 15 Am 28. Januar hrsg. vom Matthias-Domaschk-Archiv in der Robert-Havemann-Ge- 1990 war die zweite Regierung Modrow gebildet worden, in der neben sellschaft e. V., Berlin 1994, S. 25. 30 Vgl. VAU ELL Infoblatt 6/1990, anderen neuen Organisationen auch die VL mit einem Minister ohne S. 2–4; die Rede hat er am 13. September 1990 gehalten. 31 Es gab Geschäftsbereich vertreten war. Am 1. Februar veröffentlichte Modrow in der VL Berlin die 11. und die 13. autonome Gruppe. Wer sich hinter seinen Plan «Deutschland einig Vaterland». Daraufhin verließ die VL am diesen Namen verbarg, weiß ich nicht; verabschiedet haben werden 2. Februar die neue Regierung, noch ehe sie die Arbeit aufgenommen sie sich wahrscheinlich im Frühjahr 1990, denn Erklärungen von ih - hatte. Beschlossen hatte beides der Politische Beirat der VL Berlin, nen sind nur bis Februar überliefert. Vermutlich war es ein stillschwei- der dazu aber nicht berechtigt war. 16 Die Kirche 22/1989. 17 Wir gendes Verschwinden, denn bemerkt habe ich es nicht. 32 Gehrke, brauchen einen Volkskongreß!, in: Die Aktion 60–63/1990, S. 986– Bernd/Hürtgen, Renate (Hrsg.): Der betriebliche Aufbruch im Herbst 989. 18 Wir müssen unsere Angelegenheiten selbst in die Hand neh- 1989. Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Diskussion – Ana- men, in: ebd., S. 945–947; der Aufruf stammt aber vermutlich nicht lysen – Dokumente. 2., korr. Aufl., Berlin 2001, insbes. S. 106 ff. u. vom 5. Oktober, sondern vom 5. November 1989. 19 Erklärung von S. 513 ff. 33 Gehrke, Bernd: 1989 und keine Alternative?, in: ders./ Teilnehmern am Böhlener Treffen, in: ebd., S. 947–954. 20 Wir brau- Rüddenklau, Wolfgang (Hrsg.): … das war doch nicht unsere Alterna- chen einen Volkskongreß! [wie Anm. 17], S. 987. 21 Gesammelte tive. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999, Flugschriften DDR ’90. Originaldokumente der DDR-Opposition, Ini­ S. 427 u. S. 440, Anm. 15. 34 Siehe oben, Anm. 15. 30 Unser linkes Ding

Druckvorlage der Rostocker Vereinigten Linken zur Herstellung sogenannter Spuckis auf «selbstklebendem» Papier. Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989 31

Christoph Kelz BASISDEMOKRATISCHER FREIHEITLICHER SOZIALISMUS DDR 1989 INITIATIVE «VEREINIGTE LINKE» ROSTOCK

Im Spätherbst 1989 begegneten sich in Rücktritt von Politbüro und Regierung sowie Rostock fünf Menschen: eine Studentin, drei nach Bildung einer Reformregierung. Mit der Studenten und ein nichtarbeitender Arbeiter. Schreibmaschine vervielfältigten sie die bei- Alle noch recht jung, zwischen zwanzig und den Texte und gaben sie weiter. Im Oktober 89 dreißig. Kennengelernt hatten sie sich über waren informelle politische Treffen, das Ver- die Schwarzwohnerinitiative, jene basisde- vielfältigen und die Weitergabe illegaler politi- mokratische Initiative, in der sich Menschen scher Schriften durchaus noch gefährlich und zusammenfanden, die noch zu Vorwende- gesetzlich verboten. zeiten aktiv geworden waren, um sich jenen Anfang Dezember 1989 veröffentlichten sie in Wohnraum zu verschaffen, den sie legal nicht der Ostsee-Zeitung, dem Rostocker Bezirks- bekommen konnten. Illegal bzw. halblegal be- blatt, den «Aufruf der Rostocker Initiative Ver- wohnten sie jetzt Räume in Häusern, die die einigte Linke» mit den einführenden Worten: Kommunale Wohnungsverwaltung (KWV) «Welche politische Kraft vertritt heute in unse- entweder wegen Verfall längst aufgegeben rem Land das Programm einer sozialistischen hatte oder wo ihre Bürokratie keinen Über- Revolution, d.h. einer wirklichen Macht der blick mehr besaß. Sie trafen sich bald öfter, Werktätigen, der Hand- und Kopfarbeiter?» In weil sie merkten, dass da noch weitere ge - Anlehnung an die «Böhlener Plattform» mach- meinsame Interessen und Neigungen waren, ten sie folgende gemeinsame Grundsätze pu- Interessen vor allem politischer und gesell- blik: schaftlicher Natur. Einer von den Fünfen hatte 1. Übergang von der staatsbürokratischen Kontakte nach Leipzig, und aus dieser Metro- Verfügungsgewalt über die Hauptproduk­ pole der beginnenden Massenbewegung ge- tionsmittel zum gemeinschaftlich verwal- gen das regierende politische Establishment teten Eigentum der Werktätigen, brachte er ein nicht wirklich legales bedruck- 2. Bildung von Arbeiterräten und Räten aller tes Papier mit: den Appell «Für eine vereinig- Werktätigen als prinzipiell neue Machtor- te Linke in der DDR», bekannt geworden als gane, «Böhlener Plattform».1 3. soziale Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Die oben erwähnten fünf Menschen, die sich Gesellschaftsmitglieder, zu jener Zeit noch in Rostocker Privatwohnun- 4. politische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, gen trafen, fanden das Dokument nach inten- konsequente Verwirklichung der ungeteil- siver Lektüre und Debatte bzw. Rückkopp- ten Menschenrechte und freie Entfaltung lung mit Leipziger*innen und Berliner*innen der Individualität jedes Gesellschaftsmit- ansprechend und am ehesten zu ihren politi- gliedes, schen Intentionen passend. Bei informellen 5. Umgestaltung der Ökonomie nach Ge- politischen Treffen diskutierten sie auch die sichtspunkten der Ökologie und der Huma- von Teilnehmer*innen am Böhlener Treffen nisierung der Arbeit, verfasste Erklärung vom 12./13. Oktober 1989 6. konsequenter Internationalismus und Soli- mit den darin enthaltenen Forderungen nach darität, 32 Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989

7. aktiver Antifaschismus und Antichauvinis- Formierung einer politischen Opposition to- mus, lerieren und sie keine gewaltsame «Lösung» 8. konsequente Abgrenzung von allen Wie- mehr suchen würden, wie etwa die chinesi- dervereinigungsbestrebungen unter kapi- schen Behörden im Juni 1989 auf dem Pekin- talistischen Vorzeichen.2 ger Tiananmen-Platz, als Militär mit Panzern Nur wenige Monate zuvor, von August 1989 gegen Demonstranten vorgegangen war.5 an, waren Tausende ausreisewilliger Bür- Für die opponierenden Teile der Bevölkerung ger*innen der DDR in die bundesdeutschen war damals nicht klar, wie die Kräfte in Partei Botschaften in Prag und Warschau geströmt, und Staat zwischen «Reformern» und «Ortho- im September hatte Ungarn die Grenzen zu doxen» verteilt waren. Am 18. Oktober trat ­Österreich geöffnet. Am 4. September ver- Honecker zurück und wurde als Generalse- suchten erstmals sowohl Ausreisewillige als kretär des ZK der SED und Vorsitzender des auch Oppositionelle, nach den Friedensgebe- Staatsrats durch Egon Krenz ersetzt, der noch ten in der Leipziger Nikolaikirche zu demon­ Ende September in China politische Gesprä- strieren. Die Staatsoberen waren politisch che geführt hatte. Vertrauen auf politische auf der Hut: Man wollte am 7. Oktober den Veränderung ließ dieser Wechsel an der Spit- 40. Jahrestag der DDR feiern und dabei nicht ze von Partei und Staat nicht aufkommen. In gestört werden. dieser gesellschaftlichen Situation organisier- Am 21. September wurde die Zulassung des te sich die «Initiative für eine Vereinigte Linke». Neuen Forums mit der Begründung abge- lehnt, es sei eine «staatsfeindliche Plattform», Entstanden in besetzten deren Ziele der Verfassung der DDR wider- Woh­nungen: sprächen.3 Diese Formulierungen verstanden die Rostocker VL alle Bürger*innen in der DDR: Sie bedeuteten Rostock war mit damals rund 250.000 Ein - Repression. Bis Mitte November 1989 blieb wohner*innen noch übersichtlich und hat- die Bildung politischer Organisationen außer- te als größte Stadt im Norden der DDR ei - halb der in der DDR erlaubten Formen im Rah- ne wachsende subkulturelle Szene. Aus ihr men der Nationalen Front illegal bzw. halble- und der mit ihr teilweise vernetzten Studen- gal. In Leipzig gelang es, nach unterbundenen tenschaft heraus entwickelte sich auch in Demoversuchen an den Montagen zuvor, am Rostock – wie in anderen Städten – ab Mitte 26. September zwischen 5.000 und 8.000 der 1980er Jahre eine kleine, von außen kaum Menschen, erstmals den halben Leipziger In- bemerkbare Bewegung von jungen Men- nenstadtring entlang zu demonstrieren. Ein schen, die ein existenzielles Problem hatten: seit Anfang der 1980er Jahre von den Opposi- Ihnen fehlte Wohnraum. Ehemalige DDR-Bür- tionsgruppen in Leipzig verfolgtes Ziel war da- ger*innen kennen die unendliche Geschichte mit erreicht. Wie groß die politische Dynamik der damaligen zentralen Wohnungsvergabe, damals war, wird allein schon daraus ersicht- die ihnen je nach politischer Sichtweise als lich, dass eine Woche später 20.000 demon­ Notwendigkeit oder beklagenswerte Miss- strierten und trotz des repressiven Vorge- wirtschaft gilt (dialektisch war wohl beides zu- hens der Sicherheitskräfte in jenen Tagen4 am treffend): Wer in der DDR unverheiratet war 9. Oktober 70.000 Menschen mit dem Slogan oder/und kinderlos, bekam keine eigene Woh- «Wir sind das Volk» auf die Straße gingen. Die- nung. Voraussetzung für eine solche waren se Zahl verdoppelte sich nochmals eine Wo- soziale Bedürftigkeit und der gesellschaftliche che darauf. Doch erst Ende Oktober konnte Status (beides einzuschätzen oblag der Woh- man sicherer sein, dass die Staatsorgane die nungskommission). Außerdem musste man Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989 33

polizeilich gemeldet sein oder eine Zuzugsge- bekommen! In Rostock gab es 1989 ungefähr nehmigung haben. Trotz eines umfangreichen 300 sogenannte Schwarzwohner*innen. Die Neubauprogramms reichten die Wohnungen KWV wusste von ihnen, vermied aber eine nicht aus, die Ressourcen der DDR waren zu Räumung, weil damit ein politisches Problem knapp, um Neues zu bauen und zugleich die entstanden wäre: Da die meisten Wohnungen Altbauten umfassend zu sanieren. So wa- damals letztlich Staatseigentum waren, hät- ren die Altbauviertel aufgrund des Zustands te es heißen können, dass die Schwarz- bzw. der Wohnungen lange Zeit nicht sehr beliebt Erhaltungswohner*innen wertvolle ungenutz- (kein Warmwasser, Toilette im Keller oder auf te Altbausubstanz real vergesellschaftet, die der halben Treppe nicht selten als Plumpsklo, Bausubstanz erhalten und die KWV vor nicht Kohleheizung, eingeschränkte Stromversor- zu verwirklichenden Wohnungswünschen be- gung, defekte Fenster und Dächer etc.). Oft wahrt haben. Dann wäre offenbar geworden, wurden diese Wohnungen für Haftentlassene dass die KWV trotz aller offiziellen Erfolgsmel- oder andere «sozial auffällige» Personen ge- dungen ihrem sozialpolitischen Auftrag nur nutzt, sodass junge Familien dort lieber nicht ungenügend nachkam. hinziehen wollten. In Rostock galten zum Bei- Junge Leute, die nicht mehr bei ihren Eltern spiel die Kröpeliner-Tor-Vorstadt (KTV) und wohnen wollten, fanden sich in diesen Häu- große Teile der Altstadt als sogenannte Nacht- sern zusammen, Student*innen, die keinen jackenviertel, das heißt als wenig attraktive Bock auf ein Studentenwohnheim hatten, Gegenden, in denen sich das Nachtleben ab- Menschen, denen die Zuzugserlaubnis fehlte. spielte. In den Altstädten gab es immer mehr Zwischen ihnen bestand ein relativ enger Kon- Wohnungsleerstand wegen Verfall; spätes- takt, schon um neue Wohnungen für andere tens in den 80ern schaffte es die KWV in eini- zu finden, etwas Geeigneteres für sich selbst gen Großstädten auch nicht mehr, ihren Ge- oder Alternativen für den Fall, dass die KWV samtbestand im Blick zu behalten. einen doch mal rausschmeißen würde. Von hier ergaben sich Kontakte zu anderen Mi­lieus der Stadt, entsprechend kursierten in den Schwarz- bzw. Erhaltungs­ Häusern auch Informationen und Schriften. wohner*innen haben Menschen kannten in anderen Städten Men- ungenutzte Altbausubstanz schen, die ähnlich lebten. Man schrieb da- real vergesellschaftet, die mals noch Briefe und besuchte oder traf sich Bausubstanz erhalten. bei großen Konzerten von Lieblingsbands, bei Bluesmessen und Liedermachern oder beim In diese leer stehenden Wohnungen zogen Tanz im Studentenkeller. unauffällig Wohngemeinschaften junger Leu- Alles Weitere vollzog sich im Zusammen- te. Sie sanierten die Wohnungen beschei- hang der politischen Entwicklung, der politi- den, aber mit einigem Aufwand, versuchten, schen Aktionen im Herbst 1989. Am 16. Ok- legal oder illegal einen Elektroanschluss zu tober fand in Waren/Müritz die erste Demo in bekommen und für den Winter Kohlen zu or- Mecklenburg-Vorpommern statt, am 19. Ok- ganisieren. In diesen Häusern wurde auf das tober die erste in Rostock im Anschluss an sonst übliche Hausbuch6 und auf Hausver- eine Fürbitte-Andacht. Zu anderen oppositio- sammlungen oder Ähnliches verzichtet. An- nellen Aktionen im öffentlichen Raum war es ders als bei westlichen Hausbesetzer*innen in Rostock zuvor, von besonderen Gebetsgot- hingen aber keine Transparente aus den Fens- tesdiensten und Andachten für politisch Inhaf- tern – es sollte ja gerade niemand etwas mit- tierte in diversen Kirchen einmal abgesehen, 34 Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989

nicht gekommen. Die Partei- und Staatsmacht Antrag des sogenannten Neuen Forums, dass versuchte, durch sogenannte Dialogveran- die von diesen Kräften verfolgten Ziele und staltungen die Meinungshoheit zu behalten, Anliegen der Verfassung der DDR widerspre- politisierte damit aber das Geschehen in der chen und eine staatsfeindliche Plattform dar- Stadt eher noch. Die gesellschaftlichen De- stellen, wurde allen antisozialistischen Kräften batten hatten nun zumindest zeitweise drei eine deutliche Antwort gegeben.»7 politische Orte: die Kirchen, die Dialogveran- Wie also organisierte sich unter diesen Um- staltungen und die Straßendemonstrationen. ständen eine politische Gruppierung halble- Von da aus griffen sie auf die Betriebe und gal, deren spätere Mitglieder sich eher nicht Wohngebiete über. in kirchlichen Zusammenhängen aufhielten? Die Dialogveranstaltung der SED vom 25. Ok- Menschen kannten einander, trafen sich bei tober, in der es unter anderem um die Versor- kulturellen Ereignissen oder an der Universi- gung mit Wohnraum ging, führte aufgrund ih- tät, aber auch am Arbeitsplatz. Und dann lag rer Substanzlosigkeit und des Versuchs von zum Beispiel bei einigen, deren Positionen Stadtrat Seibel (SED), für den Wohnungs- oder Funktionen sie zu Multiplikatoren hätten mangel die «Schwarzwohner» verantwortlich machen können, die besagte «Böhlener Platt- zu machen, zur Entstehung und Entwicklung form» im Briefkasten. Kirchliche Mitarbeiter der «Schwarzwohnerinitiative», die später und waren natürlich darunter, Mitglieder von Jun- zutreffender als «Erhaltungswohnerinitiative» gen Gemeinden oder Studentengemeinden, firmierte. Im Rahmen dieses Prozesses haben aber auch Menschen, die sich mal was zu sa- sich, wie eingangs erwähnt, fünf Menschen gen getraut haben in «der Partei» (SED) oder in getroffen, die in Rostock die VL begründeten. den anderen Parteien und Massenorganisatio- Einfach war das nicht: Private Telefone gab nen, im Kulturbund etwa, insbesondere ihrer es wenige, und sie wurden abgehört, Brie- Gesellschaft für Natur und Umwelt. Auch an fe konnten kontrolliert werden, Schreibma- den Theatern fanden sich Menschen, die kri- schinen, gar elektrische, fanden sich kaum tisch dachten. in privater Hand und waren zum Teil staat - Noch im Dezember 1989 kam es in Sachen lich registriert; es gab keinen Zugang zu den VL Rostock zu einem ersten Treffen – Informa- Massenmedien und so gut wie keine eigenen tions- und Gründungsversammlung zugleich. Druckmöglichkeiten. Computer fehlten, an VL-Gruppen bildeten sich damals in den drei digitale soziale Netzwerke und Smartphones Nordbezirken Rostock, Schwerin und Neu- war noch nicht zu denken. Auch private Au- brandenburg, dem späteren Land Mecklen- tos waren in der studentischen und subkul- burg-Vorpommern, außerdem in Güstrow, turellen Szene kaum vorhanden, nur wenige , Neubrandenburg, Schwerin, hatten eine Fahrerlaubnis. Weit verbreitet war Neustrelitz und Ludwigslust. Weitere exis- die Furcht vor der Staatssicherheit, deren Mi- tierten in Berlin, Leipzig, Dresden, Karl-Marx- nister Mielke noch am 29. September 1989 Stadt, Freiberg, Halle, Cottbus, Potsdam und im Neuen Deutschland erklärte: Die Absicht Erfurt. Einige davon sind im Gefolge des ers- des Gegners ziele darauf ab, «im Zusammen- ten zentralen Arbeitstreffens der Initiative für wirken mit bestimmten Kräften im Innern ei- eine Vereinigte Linke entstanden, das am 25. ne antisozialistische Opposition zu etablieren, und 26. November 1989 mit etwa 500 bis 600 die politischen und ökonomischen Grundla- Teilnehmer*innen in Berlin stattgefunden hat- gen unserer sozialistischen Staats- und Ge- te. Dort war auch zu erfahren gewesen, wo es sellschaftsordnung zu untergraben. Mit der in der weiteren Umgebung Gruppen und An- Entscheidung des Ministers des Innern zum sprechpartner*innen gab. Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989 35

Für ein linkes Ding Einige der Mitglieder kamen auch aus der SED mit Hand und Fuß bzw. PDS. Auf einen «Gesinnungs-TÜV» wur- Die VL hatte zu ihren besten Zeiten, zwischen de verzichtet, wer da war, konnte sich einbrin- Dezember 1989 und April 1990, in Rostock gen und mitdiskutieren bzw. sich an Aktionen rund 70 Mitglieder, in Schwerin um die 30 und beteiligen. Es galt, zunächst wenigstens mi- in Städten wie Güstrow, Stralsund, Neubran- nimale Organisationsstrukturen aufzubauen denburg, Neustrelitz und Ludwigslust 10 bis und einen inhaltlichen politischen Rahmen 15. Hinzu kamen Einzelmitglieder vom plat- zu erarbeiten – obwohl das Tempo der politi- ten Land; insgesamt waren das nicht mehr als schen Entwicklung dazu wenig Zeit ließ. 200 Personen, ein Viertel davon Frauen. Etwa Auch die anderen neuen Parteien und soge- ebenso viele Sympathisant*innen unterstütz- nannten Bürgerbewegungen begannen sich ten die VL bei Vollversammlungen, Demos ungefähr zeitgleich in Rostock zu formieren: und in den Wahlkämpfen, verstanden sich die Sozialdemokratische Partei (SDP), der De- aber nicht als VL-Mitglieder. mokratische Aufbruch, Demokratie Jetzt und Politisch war die VL in Rostock bzw. in Meck- die Initiative Frieden und Menschenrechte lenburg-Vorpommern nicht ganz so ausdiffe- (IFM). Die meisten Bürger*innen organisierten renziert wie zum Beispiel die VL in Berlin. In sich aber anfänglich wendepolitisch im – über- der VL Rostock waren alle neu in der oppo- durchschnittlich aktiven – Neuen Forum. Der sitionellen Politik und hatten keine bzw. sehr spätere Oberbürgermeister bzw. Präsident der wenige persönlich-politische «Altlasten» aus Bürgerschaft Rostock, Christoph Kleemann, der illegalen Opposition der Vorwendezeit. erklärte zu den Zielen des Neuen Forums am Die meisten Mitglieder waren zwischen 16 21. November 1989: «Das NF will eine sozia- und 30 Jahre alt und stammten aus eher sub- listische Gesellschaft in Freiheit, Demokratie kulturellen und studentischen Milieus, kirch- und Rechtsstaatlichkeit, ohne Machtmonopol lich sozialisiert waren in der Rostocker VL nur einer Partei.» Im überarbeiteten Diskussions- wenige. Auch einige Arbeiter (DDR-deutsch: papier für die Basisgruppen sind Merkmale ei- Werktätige) organisierten sich in der VL. Die nes Sozialismus benannt, der von der Mehr- Jugendlichkeit vieler Mitglieder hatte etwas heit des Volkes getragen wird: «öffentliche Angenehmes, Erfrischendes an sich und Wirtschaftsdaten, wirklich vergesellschaftete hat sicherlich dazu beigetragen, dass die VL Produktionsmittel, Förderung von Eigeninitia- Rostock politisch unorthodox und aktions­ tive, gerechtes Leistungsprinzip, unabhängi- orientiert war. ge Arbeitervertretung, Verantwortung des ein- Als neue politische Gruppierungen entstan- zelnen und aller». Und im Programmentwurf den, waren Mitglieder und Sympathisant*in- des NF Rostock vom 23. November forderte nen der VL anfangs in der Vereinigten Bürge- man des Weiteren «die Kontrolle von Staats- rinitiative für einen erneuerten Sozialismus, im führung und Sicherheitskräften, die Entmilita- Neuen Forum (NF), im Unabhängigen Frau- risierung der DDR, die Aufarbeitung der Ver- enverband (UFV) und bei den Grünen organi- gangenheit, den Schutz der Umwelt sowie siert. Sie arbeiteten dort auch dann weiter mit, Reformen im Kultur-, Bildungs-, Gesundheits- wenn sie im Verlauf der damaligen politischen und Sozialbereich».8 Geschehnisse ihre politische Wirkungsstätte Das Neue Forum verhandelte mit dem Rat der hauptsächlich in der VL gefunden hatten, ver- Stadt, dem Oberbürgermeister, mit Vertre- traten dort die zentralen Ideen der «Böhlener tern des Rates des Kreises, des Bezirks und Plattform» und der daraus entstandenen Or- der Volkspolizei hinsichtlich der Sicherheit ganisation. bei Demonstrationen, es verhandelte auch 36 Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989

Der VL gelang es anfangs, sich Die VL wirkte, wenn auch nicht mit fast alle zwei Wochen zur Voll- allen neuen politischen Vereinigungen, versammlung zu treffen und so doch mit den anderen Bürger­ themenspezifische Arbeits- bewegungen zusammen. gruppen zu gründen. Weniger Erfolg hatten wir bei unseren mit der Kreis- und der Bezirksleitung der SED. Bemühungen, mit den anderen VL-Gruppen Die SED, die Blockparteien und die Massenor- der Region in Verbindung zu bleiben und in ganisationen versuchten damals, den neuen weiteren Orten den Aufbau solcher Gruppen politischen Bewegungen den Zugang zur po- gezielt zu initiieren. Aufwendig war es zudem, litischen Teilhabe, zu Geld, Räumen, Medien den Kontakt mit dem Arbeitssekretariat des etc. zu verwehren. Die Neuen hatten nur die DDR-Sprecherrats in Berlin zu halten. Straße, bis auf die im kirchlichen Kontext ent- standenen Gruppen, die auf Räumlichkeiten, VL im Spannungsfeld Telefone und – wenn auch in geringem Ma- von Bürgerbewegung und ße – Vervielfältigungsmöglichkeiten der Kirch- SED/PDS gemeinden zurückgreifen konnten. Die VL auch in Rostock war besonders da- Die VL hatte zunächst nichts von alledem. ran interessiert, die Räte-Idee nachhaltig in Linksalternative Jugendliche, von denen eini- die Wendediskussion einzubringen bzw. sich ge sich der VL zugehörig fühlten, hatten aber mit anderen Gruppen zu vernetzen, die die- im November/Dezember ein Ladenlokal in sem Ansatz ähnlich aufgeschlossen gegen- der Doberaner Straße 8 im Stadtzentrum von überstanden. In Rostock war dies vor allem Rostock besetzt, das dann bis Ende Januar die Vereinigte Bürgerinitiativen für einen neu- 1990 auch die VL mit nutzen konnte. Um die en Sozialismus, die am 26. November ihren Besetzung und Nutzung zu legitimieren, hatte Gründungsaufruf veröffentlicht hatte.9 Anfang eine VL-Gruppe die Idee, dort ein Kommuni- Dezember 89 bildete diese sogar einen kom- kations- und Informationszentrum einzurich- munalen Bürgerrat, vom 7. Dezember an gab ten; sie stellte dem Stadtteilbürgermeister der sie die Zeitung Bürgerrat heraus. Andererseits KTV, Herrn Zülow, brieflich das Projekt vor. Er wirkte die VL wenn auch nicht mit allen neu- reagierte nie darauf. Im Januar 1990 zog die en politischen Vereinigungen, so doch mit den VL zusammen mit anderen neuen politischen anderen Bürgerbewegungen zusammen. Ge- Bewegungen in das Haus der Demokratie in meinsam brachten sie ab dem 22. Dezember der Ernst-Barlach-Straße, wo sie über ein gro- die Zeitung plattFORM heraus, die anfangs ßes Büro verfügte, fast täglich einen kleineren von fast allen neuen Bewegungen getragen Versammlungsraum nutzen konnte und ei- wurde. nen größeren bei Bedarf. Endlich ein Telefon Gerade an den beiden Zeitungsprojekten zeig- und eine elektrische Schreibmaschine. Später te sich, wie die VL in dieser Zeit arbeiten muss- kam ein Pkw hinzu. Der Staat musste zu dieser te und gearbeitet hat: Bei beiden Zeitungen Zeit allen neuen politischen Bewegungen eine waren wir über Personen vertreten, als Orga- beträchtliche Anschubfinanzierung zur Ver- nisation war es im Dezember 1989 für die VL fügung stellen, insbesondere um Chancen- Rostock schon schwieriger, an solchen Pro- gleichheit im Wahlkampf herzustellen für die jekten teilzunehmen. Das hatte im Wesentli- auf den Mai angesetzte Volkskammerwahl, chen damit zu tun, dass wir an einem basisde- die im Januar auf den 18. März 1990 vorver- mokratischen Sozialismuskonzept festhielten legt wurde. und einen differenzierteren Umgang als die Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989 37

anderen Bürgerbewegungen mit den Mitglie- dass die DDR zur militärischen Unterstützung dern der SED-PDS einforderten und politisch des Befreiungskampfs Waffen nach Afrika ge- auch lebten. liefert hatte. Allerdings war auch der VL der Da die VL am Runden Tisch sowohl der Stadt gesamte KoKo-Komplex, der nun ans Tages- als auch des Bezirks Rostock beteiligt war, ha- licht kam, aufgrund seines doppelbödigen ben die anderen politischen Gruppen und Par- politkommerziellen und geheimdienstlichen teien schon unsere eher linkssozialistischen Charakters politisch mehr als suspekt. Der Positionen wahrgenommen. Die wurden auch wurde noch betont durch die bizarre «Flucht» durch die am 19. Dezember 1989 veranstal- des stellvertretenden Ministers für Außenhan- tete Demonstration gegen die Vereinigung del sowie Staatssekretärs, SED-ZK-Mitglieds und für eine Vertragsgemeinschaft der beiden und Leiters der KoKo, Oberst des MfS als Of- deutschen Staaten deutlich ebenso wie durch fizier im besonderen Einsatz (OibE) Alexander unseren Protest beim Besuch von Kanzler Schalck-Golodkowski, am 4. Dezember nach Kohl in Rostock am 9. März 1990. Westberlin (!). Gleichzeitig waren wir uns mit den Bürgerbe- Mit der Grenzöffnung am 9. November 1989 wegungen einig in der grundsätzlichen Kritik stand die eigentliche «Wende» meines Erach- des «Sozialismus» der SED in der DDR, der tens kurz vor dem Ende, der Weg in die «Ein- allumfassenden Tätigkeit des MfS und des staatlichkeit» von DDR und BRD schien vorge- Versuchs der Modrow-Regierung, diesen zeichnet. Es war nur noch eine Frage der Zeit, Geheimdienst im November 1989 in ein Amt der Form und der Kanzlerschaft im dann verei- für Nationale Sicherheit (AfNS) umzuwan- nigten Deutschland. Spätestens Ende Novem- deln und dafür die tatsächlich zunehmenden ber 1989 war zu erkennen, dass sich auch die rechtsextremen Aktivitäten als Vorwand zu neuen Parteien und die Bürgerbewegungen, nutzen. Das MfS unter diesem Vorwand durch insbesondere das Neue Forum, allmählich der ein AfNS weiterzuführen war obendrein kon- Perspektive einer deutschen Einheit zuwende- traproduktiv: Es wurde von breiten Kreisen ten und die Ideen eines freiheitlichen, basisde- der Bevölkerung als Täuschungsmanöver zum mokratischen Sozialismus in der DDR rapide Machterhalt der SED interpretiert und ver- an Boden verloren. Insgesamt begannen sich hinderte die Wahrnehmung des zunehmend die Positionen in der Gesellschaft und damit offen auftretenden Rechtsradikalismus und auch in allen politischen Bewegungen und Rechtsextremismus. Parteien der DDR deutlicher auszudifferenzie- Andererseits waren die meisten VL-Mitglieder ren. Den Anfang machte die SDP, die sich stär- nicht ganz so entsetzt über das am 2. Dezem- ker an der SPD orientierte, Ähnliches vollzog ber 1989 gefundene geheime Waffenlager der sich bei den Grünen und noch massiver beim IMES Import Export GmbH des MfS-Bereichs Demokratischen Aufbruch (DA). «Kommerzielle Koordinierung» (KoKo) in Ka- Zwischen Ende Oktober und Dezember 1989, velstorf (Kreis Rostock Land), über das Waffen nach Honeckers Rücktritt und der Umbildung in sogenannte Krisengebiete wie Angola, Äthi- des Politbüros, hatte die Macht noch auf der opien, Afghanistan, Mosambik und Nicaragua Straße gelegen: Am 24. Oktober demonstrier- geliefert worden sein sollen. Gerade im Hin- ten in Leipzig 300.000 und am 4. November in blick auf Nicaragua und den Iran-Contra-Ga- Berlin mindestens 500.000 Menschen für Ver- te-Skandal Mitte der 1980er Jahre, den Bür- änderungen in der DDR. gerkrieg in Angola Anfang des Jahrzehnts und Wenige Tage später traten der FDGB-Vorsit- den Befreiungskampf der SWAPO in Namibia zende und die Vorsitzenden der Blockpartei- fanden es nicht alle VL-Mitglieder anstößig, en CDU und NDPD zurück, die LDPD empfahl 38 Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989

dem gesamten Ministerrat zurückzutreten, sich die neuen Parteien und die Bürgerbewe- was der auch alsbald tat ebenso wie tags da- gungen, darunter auch die VL, mit den alten rauf das Politbüro. Am 13. November bildete Parteien an den Runden Tisch (zentral erst- sich die Regierung Modrow. Doch die politi- mals am 7., in der Stadt Rostock am 9., im Be- schen Akteure der «Wende» haben die Macht zirk Rostock am 21. und im Kreis Rostock am nicht übernommen. 22. Dezember 1989). Im Bezirk Rostock nahm Schon frühzeitig hatten die Autor*innen der die VL am Runden Tisch des Bezirks teil und «Böhlener Plattform», die Initiator*innen der in Rostock, Güstrow, Stralsund, Neubranden- VL, erkannt, was zum damaligen Zeitpunkt burg und Schwerin an den kommunalen Run- notwendig schien. In ihrer Erklärung vom den Tischen. 12./13. Oktober 1989 konstatierten sie, dass Am 19. Dezember demonstrierten infolge ei- das Politbüro der SED und die Regierung völ- nes Aufrufs der VL Rostock 7.000 bis 8.000 lig das Vertrauen des Volkes verloren hätten, Menschen für den Erhalt der DDR, gegen de- und forderten daher: ren Vereinnahmung durch die BRD und für «Sofortmaßnahmen zur Vorbereitung des konföderative Beziehungen zwischen beiden Landes für einen Weg der sozialistischen De- Staaten statt einer deutschen Einheit. Es war mokratie und Freiheit: auch das erste Mal, dass VL-Gruppen gemein- 1. Rücktritt des Politbüros der SED und der sam an demselben Tag in unterschiedlichen Regierung wegen der Hauptverantwortung Städten der DDR agierten. für den katastrophalen Massenexodus der Spätestens im Dezember wandelten sich Jugend und wegen des völligen Verlustes die Bündnisbestrebungen der politischen von Vertrauen im Volk. Gruppierungen. Die neuen Führungen der 2. Bildung einer neuen politischen Führung DDR-Blockparteien begrüßten die Angebote und einer zeitlich befristeten Übergangsre- der westdeutschen «Bruder- und Schwester- gierung aus reformwilligen Kräften zur Ver- parteien». Es fanden sich CDU Ost und West, wirklichung folgender Maßnahmen […]. CSU und DSU sowie der Bund Freier Demo- 3. Bildung einer breiten Koalition der Ver- kraten (LDPD, Deutsche Forumpartei, FDP nunft und des Realismus zur Verwirklichung Ost) und die FDP West. Im Vorfeld der vorge- einer radikalen Verfassungs- und Gesell- zogenen Volkskammerwahlen vom 18. März schaftsreform im Geiste sozialistischer De- 1990 entstanden sogar Bündnisse zwischen mokratie und Freiheit.»10 gewendeten Blockparteien und einstigen Op- Es blieb bei Forderungen, eine Reformregie- positionsgruppen, zum Beispiel die Allianz für rung zu schaffen. Sie zu etablieren oder eine Deutschland: Ost-CDU, Demokratischer Auf- Doppelherrschaft zu errichten gelang nicht. bruch (DA) und DSU (massiv unterstützt von Auch die SED-geführte «Regierung Modrow», der CDU/CSU West). Die beiden sozialdemo- die am 13. November antrat, nahm die Forde- kratischen Parteien in Ost und West arbeite- rung nach einer «Reformregierung» bei ihrer ten im Wahlkampf ebenso eng zusammen wie Konstituierung nicht auf. Daran änderten auch die Ost- und die West-Grünen. Die verschie- die Minister*innen ohne Geschäftsbereich denen Strömungen der West-Grünen verfolg- aus den neuen politischen Bewegungen und ten eine Zeitlang unterschiedliche Bündnisop- Parteien nichts, die ab dem 5. Februar 1990 (!) tionen, die zum Teil auch ein Bündnis mit den in der «Regierung der nationalen Verantwor- DDR-Bürgerbewegungen einschlossen. tung» ihre Arbeit aufnahmen. Die VL hingegen wurde von Westlinken oder Statt den Versuch zu unternehmen, eine Re- linken Grünen vergleichsweise wenig bis gar formregierung politisch zu erzwingen, setzten nicht unterstützt. Wir hatten damals den Ein- Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989 39

druck, dass weite Teile der Linken West 1989 sehr mit sich selbst beschäftigt waren bzw. die Konsequenzen der Entwicklungen in der DDR überhaupt nicht überblickten. Zudem konnten sie mit der Bandbreite der linken Positionen in- nerhalb der VL nicht wirklich «umgehen», wo doch in der BRD die Linke so deutsch-deutlich separiert war. Auch gingen wir in der VL an- ders menschlich miteinander um und mit poli- tischen Gegnern (Nazis ausgenommen!) deut- lich freundlicher. In der Vereinigten Linken war das Interesse am Austausch mit anderen lin- ken Positionen größer als der abgrenzende Ausschluss. Umgekehrt hatten wir so man- Wählen mit Kopf – revolutionieren mit Verstand; Wahl- ches «kulturelle» Problem mit «Westlinken» plakat des Aktionsbündnisses Vereinigle Linke (AVL), 1990. aufgrund ihrer unversöhnlichen, oftmals rein theoretisch begründeten «Feindseligkeiten» VL-Positionen untereinander und ihres «Sektierertums». Ja, Mitbestimmen vor Abstimmen die Genoss*innen der GIM oder von Spartakist Mitte bis Ende März 1990 beteiligte sich die bzw. von der x-ten Gruppe der x-ten Internati- VL in Rostock an der Besetzung des Rathau- onale nervten uns11 mit ihren Ideen eines lu- ses und der Absetzung des damaligen Ober- penreinen Sozialismus und ihrem Wissen da- bürgermeisters Henning Schleiff. Ihm wur- rüber, wie «fortschrittlich» die DDR bzw. der de vorgeworfen, dem Stadtschulrat Bendlin «Ostblock» sei. Wir waren trotzdem freundlich mittels einer verdeckten Kooperation des und aufgeschlossen (anfangs!) oder grenzten Rats der Stadt dabei geholfen zu haben, hin- uns genauso freundlich und aufgeschlossen ter dem Rücken des lokalen Runden Tisches ab. Aber im Zweifelsfall wären wir solidarisch ehemalige MfS-Mitarbeiter sowie SED- und gewesen. FDJ-Funktionäre an Schulen unterzubringen. Außerdem wurden Schleiff die Fälschung der Kommunalwahl-Ergebnisse vom Mai 1989 In der Vereinigten Linken und der Abschluss von Verträgen mit west- war das Interesse am lichen Firmen ohne Einbeziehung des Run- Austausch mit anderen den Tisches vorgeworfen. Nach verschiede- linken Positionen größer nen Demonstrationen und Mahnwachen mit als der abgrenzende einigen Tausend Beteiligten traten Schleiff Ausschluss. und Bendlin am 26. März zurück. Neuer Ober- bürgermeister wurde Christoph Kleemann Vorbehaltlos unterstützt, auch materiell, ha- vom Neuen Forum, obwohl die Ergebnis - ben uns in Rostock die Genoss*innen vom se bei der ersten «freien» Volkskammerwahl Nautilus-Verlag, das Linke Forum Lübeck, Tei- am 18. März 1990 für die Bürgerbewegun- le der GAL bzw. Bremen und DDR- gen erheblich schlechter als erwartet ausge- weit die Vereinigte Sozialistische Partei (VSP); fallen waren: Bündnis 90 erhielt 2,91, Grüne/ vom Bundesvorstand der Grünen erhielten UFV bekamen 1,6 Prozent. Das Aktionsbünd- wir zu Anfang einen Druckkostenzuschuss für nis Vereinigte Linke/Nelken (AVL) kam mit den Reader zum 1. Arbeitstreffen 1989. 20.342 Stimmen auf 0,18 Prozent und damit 40 Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989

einen Abgeordneten: Thomas Klein aus der Bunte Republik vor Einheitsstaat VL Berlin. In den drei Nordbezirken kam das Bemerkenswert ist, was die VL trotz des Wahl- Aktionsbündnis Vereinigte Linke in Schwerin ergebnisses vom 18. März geleistet hat. Ein auf 0,15 Prozent (627 Stimmen), in Rostock gelungenes Beispiel für linke politische Mo- auf 0,17 Prozent (1079 Stimmen) und in Neu- dernität und Vorausschau in der damaligen brandenburg auf 0,16 Prozent (693 Stim- DDR ist das Programm der VL zur Rostocker men). Insgesamt hatten dem Bündnis AVL in Kommunalwahl am 6. Mai 1990.13 den späteren Landesgrenzen von Mecklen- Den Einzug in die Bürgerschaft der Hanse- burg-Vorpommern also 2.399 Menschen ihre stadt Rostock schaffte die VL dennoch nicht, Stimme gegeben. im Unterschied zum Neuen Forum und zur Lis- Mit Blick auf diese schwachen Resultate für te Grüne/UFV. Zur Landtagswahl am 14. Ok- die Bürgerbewegungen und auf die für den tober 1990 bemühte sich die VL Rostock in- 6. Mai angesetzten Kommunalwahlen fanden tensiv, ein Scheitern der Bürgerbewegungen Teile der VL-Mitgliedschaft die Besetzung des wie bei der Volkskammerwahl zu verhindern, OB-Postens inhaltlich und politisch nicht über- was ihr allerdings nicht gelang. Nachdem das zeugend; sie sahen darin vornehmlich einen Neue Forum sich entschieden hatte, allein an- Beitrag des Neuen Forums zum kommuna- zutreten, und auch die Grünen nicht zu einem len Wahlkampf. Die Ernennung eines VL-Ver- Bündnis bereit waren, kam ein Bündnis 90 von treters zum Senator ohne Geschäftsbereich VL, Demokratie Jetzt, UFV und IFM zustan- brachte bis auf ein leichtes Plus an Informa- de. Alle drei Wahlgruppierungen scheiterten tionen nichts, schadete aber auch politisch an der Fünfprozenthürde. Ein Zusammenge- nicht. Kleemann nutzte geschickt die politi- hen hätte rein rechnerisch betrachtet dazu ge- sche Zugkraft der Staatssicherheitsproblema- führt, dass ein basisorientiertes Bündnis mit tik und versuchte, die anderen Gruppen mit über 10 Prozent in den ersten Landtag von formalen Zusagen und seinen Vorstellungen Mecklenburg-Vorpommern eingezogen wäre. über die Verankerung von Bürgerbewegun- Damit hätte die CDU keine Mehrheit gehabt gen und Mitbestimmung in einer künftigen und eine Landesregierung aus SPD und Bür- Kommunalverfassung einzubinden. So erklär- gerbewegungen wäre in Mecklenburg-Vor- te er Ende März 1990: «Es soll nie wieder da- pommern möglich gewesen. Bei der Bun- hin kommen, dass Bürger nichts zu sagen ha- destagswahl im Dezember 1990 kandidierten ben oder zentralistisch regiert werden.»12 Ein einzelne Vertreter der VL auf der Linken Liste praktisches Beispiel dafür war das Treffen mit der PDS und bei Bündnis 90/Grünen, die Or- Bürgerinitiativen, Bürgerräten und engagier- ganisation VL selbst trat nicht an. ten Bürger*innen am 4. April 1990, bei dem es Die Mitgliedschaft von VL-Mitgliedern in lin- um die Bürgermitbestimmung in Rostock und ken Parteien, die parlamentarisch arbeiten die Erarbeitung einer neuen Kommunalver- wollten, war im Statut geregelt und gewähr- fassung ging. Der Runde Tisch beschloss, bis leistet. Doch war bei der Teilnahme an Wahlen zum Amtsantritt einer neu gewählten Stadtre- die Tendenz einzelner Mitglieder zu bemerken, gierung weiterzuarbeiten. die VL als «Interessenvertreterin» eines gesell- Am 12. Mai 1990 gründeten in Rostock Ver- schaftlichen Subjekts «Arbeiterklasse» zu se- treter*innen von Basisgruppen der VL aus den hen, dem man es übelnahm, wenn es nicht drei Nordbezirken den Landesverband Meck- links gewählt hatte. Dazu schrieb anlässlich lenburg der VL und bildeten einen gemeinsa- des 2. zentralen Arbeitstreffens der VL in Dres- men Koordinierungsausschuss der Basisgrup- den im Juni 1990 ein Rostocker VL-Mitglied pen. zutreffend kritisch: «Wenn eine Wahrheit nicht Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989 41

vermittelbar ist, sollte man diese überprüfen demokratie auf die gesellschaftliche Dynamik und nicht die Zuhörer der Taubheit beschuldi- zeitnah und gestaltend einzuwirken. Das hing gen.» nicht zuletzt damit zusammen, dass die Mehr- Im Dezember 1990 und Januar 1991 versuch- heit der DDR-Bevölkerung große Hoffnungen ten Rostocker Mitglieder der VL, der Grünen in das scheinbar so neue demokratische par- und des UFV noch einmal, auf Stadtebene ein lamentarische System der BRD und die da- Bündnis zu bilden, die Grün-Alternative Bür- mit verbundenen wirtschaftlichen Erfolge des gerInnen-Liste (GABL), allerdings kam das westdeutschen Kapitalismus setzte. Viele hat- Bündnis nicht zustande. Die einzelnen Partei- ten nach den Enttäuschungen mit dem «real en und Bewegungen orientierten sich zu stark existierenden DDR-Sozialismus» einfach kei- an den Möglichkeiten des parlamentarischen ne existenzielle Lust mehr auf einen neuerli- Betriebs, gleichzeitig brach ihnen die perso- chen Versuch von Sozialismus und verbanden nelle Basis weg. Dies hatte vor allem mit der dies mit der Hoffnung, auf der vermeintlichen zunehmenden Normalisierung der politischen Sonnenseite einer «sozialen Marktwirtschaft» Situation zu tun, die einherging mit einer zu landen. So verfing die CDU-Losung «Keine wachsenden Unsicherheit bei der Neuorien- neuen Experimente» letztendlich gut. tierung in der inzwischen, seit dem 3. Okto- Die linke Pluralität in der VL war sinnvoll im ber 1990, durch Anschluss der DDR über den Hinblick auf den politischen Anspruch und Grundgesetz-Artikel 23 vergrößerten BRD. Willen, eine vereinigte Linke in der DDR zu schaffen und sich damit auch in der alltägli- Noch ein paar Schritte mit Blick nach chen politischen Praxis klar von der stalinis- vorn – Soziales vor Nationales tisch-politbürokratischen SED abzuheben. Schon im Dezember 1989 bzw. Januar 1990 Aber diese Pluralität nötigte zwangsläufig zu war die VL fast die einzige politische Orga- zeitaufwendiger politischer Meinungsbildung, nisation, die die DDR als eigenständigen die dem Tempo der «Wende» nicht gewach- Staat erhalten und zu einem basisdemokra- sen war. tisch verfassten sozialistischen Gemeinwe- Parallel zu den gesamtgesellschaftlichen sen umformen wollte; sein Zentrum sollte ei- Wandlungen vollzog sich in der VL zweierlei: ne umfassende betriebliche und kommunale zum einen der Organisationsaufbau – zentral, Rätebewegung sein. Zu diesen Überlegun- auf der nie wirklich handlungsfähig gewor- gen gehörte auch die Organisierung eines denen Landesebene Mecklenburg-Vorpom- DDR-weiten Volkskongresses. Wir waren si- mern, und lokal, in der Stadt Rostock. Zum cherlich – ohne Avantgardeanspruch – auch anderen fand eine politische Sozialisation zeitweise Impulsgeber, denn die VL, so um- anhand linker Ideen statt, die in der ehemali- stritten sie damals war und heute noch ist, gen DDR nur wenigen bekannt waren und die hatte als einzige der neuen politischen Be- nun auch in unsere politischen Diskussionen, wegungen mit der «Böhlener Plattform» und Auseinandersetzungen, Einschätzungen und der Erklärung vom 12./13. Oktober 1989 ein Wertungen einzogen. Dabei war es immer Programm für die Umgestaltung der DDR. Ihr wieder äußerst kompliziert zu unterscheiden fehlten aber auch in Rostock eine zahlenmä- zwischen aktuellen politischen Handlungen ßig ausreichende personelle Verankerung in und Stellungnahmen (z. B. Positionierungen den Betrieben, eine gut funktionierende Mas- am Runden Tisch) anhand des politischen senorganisation, die Erfahrung im Umgang Grundkonsenses der VL – der ebenfalls im Zu- mit Apparaten und Verwaltungen hatte, so- ge der Entwicklungen wiederholt diskutiert wie die Fähigkeit, trotz konsequenter Basis- wurde (z. B. Teilnahme an Wahlen) – und den 42 Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989

erst mal nur theoretischen, perspektivischen Debat- Als vergleichsweise kleine Gruppe ten. Es waren vielfältige, wurde die VL gleichwohl als politischer vielfach unbekannte, aber Akteur wahrgenommen und verhielt durchaus interessante Ide- sich mit ihrem Selbstverständnis und en und Sichtweisen, die in ihren Stellungnahmen auch so. den Versammlungen ein- gebracht wurden: autonomes Denken, trotz- der VL insgesamt – erste Auflösungserschei- kistische Ideen, ökosozialistische Vorstellun- nungen. Unsere politischen Aktivitäten richte- gen, libertäre und anarchistische Gedanken, ten sich nun verstärkt darauf, ein auf Langfris- Selbstverwaltungsvorstellungen jugoslawi- tigkeit angelegtes basisdemokratisches linkes scher und spanischer Herkunft oder linke An- Netzwerk von Menschen und eine entspre- sätze aus Lateinamerika. Neben aktualisier- chende Infrastruktur zu schaffen. So wurden tem und alternativem marxistischen Denken nach den anfänglichen Aktivitäten in der Er- von Ernest Mandel, Jakob Moneta, Rosa Lu­ haltungswohnerinitiative personell wie mate- xem­burg, Herbert Marcuse, Johannes Agnoli, riell vermehrt alternative Projekte unterstützt. Rudolf Bahro, Thomas Klein oder Bernd Gehr- Mitglieder und Sympathisant*innen der VL ke fanden auch psychoanalytische, konstruk- schoben durch grundsätzliche Anregungen tivistische und antipädagogische Ideen ihren und diverse Unterstützungsleistungen ei- Weg in die Köpfe von VL-Mitgliedern. Diese ne ganze Reihe von Vorhaben mit an. Dazu Aneignungsprozesse sind an und für sich nor- zählten im Bereich der alternativen Jugend- mal in politischen Gruppierungen – nur spielte und Wohnkultur das Jugendalternativzen­ sich fast alles in einem überschaubaren Zeit- trum JAZ, die Alternative Wohnen in Rostock raum von nur 12 bis 14 Monaten ab. (­AWIRO) und die etwas andere Wohnalterna- Auseinandersetzungen wurden nicht nur the- tive Am Bagehl, aber auch der Infoladen Me- oretisch geführt, sondern hatten selbstver- dian, Radio Lohro, das soziokulturelle Kunst- ständlich auch Einfluss auf die politischen und Medienzentrum Frida 23 sowie zwei Ansätze und die Praxis der VL. Als vergleichs- Druckereien und zwei alternative Kneipen (in weise kleine Gruppe wurde die VL gleichwohl einigen Projekten ist das inzwischen dem Ver- als politischer Akteur wahrgenommen und gessen anheimgefallen). verhielt sich mit ihrem Selbstverständnis und Frühzeitig hatte sich die VL schon in den bei- ihren Stellungnahmen auch so. Insofern gab den «Wendezeitungen» Bürgerrat und platt- es einen permanenten Diskussionsbedarf im FORM personell und inhaltlich engagiert. Bei- Spannungsfeld der damals sich manchmal de Blätter sind, trotz Zusammenlegung Mitte stündlich verändernden tagespolitischen An- Juli 1990, aufgrund fehlender politischer Pers- forderungen, der Theoriedebatten und der pektiven und damit sinkender Nachfrage noch Diskussionen zur Organisation und Struktur im Oktober desselben Jahres eingestellt wor- der VL. Die VL beteiligte sich aktiv an den Run- den – auch eine Folge des allgemeinen poli- den Tischen, an Demonstrationen sowie an tischen Niedergangs der Bürgerbewegungen Aktionen und darüber hinaus im März, im Mai im Zuge eines sich anpassenden Politikver- und im Oktober 1990 an Wahlen, was auch ständnisses seitens der Akteur*innen und ei- Bündnisauseinandersetzungen und -verhand- nes Politikbetriebs, der in der Übernahme von lungen einschloss. bürgerlich-politischen Strukturen der BRD kei- Bereits nach der Volkskammerwahl im März ne parlamentarisch verankerten Bürgerbewe- 1990 zeigten sich in der VL Rostock – wie in gungen vorsah. Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989 43

Den letzten politischen Höhepunkt erlebte die und gleichzeitig den Intentionen der VL treu VL Rostock als Hauptakteur bei den massiven zu bleiben. Einige engagierten sich in anderen Protesten und einer wochenlangen Mahnwa- politischen Zusammenhängen. So heterogen che gegen den ersten Golfkrieg Anfang 1991. wie die Mitgliedschaft der VL war, so breit ver- Obwohl personell geschrumpft, kamen noch teilten sich ihre Mitglieder auf CDU, FDP, SPD, einmal viele Menschen aus der «Wendezeit» Bündnis 90/Grüne, PDS, SAV (Sozialistische und den Hochzeiten der VL, aber auch viele Alternative Voran), DKP, Linksruck, Antifa-, neue Gesichter in Rostock zusammen und Dritte-Welt- und Frauengruppen, Grüne Liga, engagierten sich. Über unser Büro in der Bar- Gewerkschaften usw. Wie vieles andere aus lachstraße boten wir im Verbund mit anderen dem Osten wurde auch die VL abgewickelt, al- Akteuren eine Infrastruktur für die Proteste an lerdings haben wir das selbst erledigt. (Druck- bzw. Kopiertechnik, Megafon etc.). In Im Oktober 2013 hat der Verein VL in Berlin die Ostermarschbewegung 1992 ließen sich die Auflösung beschlossen. Das war notwen- der Protest und der Personenzusammenhang dig und politisch sinnvoll. Es brauchte keine der VL leider nicht mehr hinüberretten. Und weitere linke Politsekte mit umfassendem An- zum Zeitpunkt des rassistischen Pogroms in spruch. Insofern ist sich die VL in der Sache Rostock-Lichtenhagen im August 1992 war als Basisbewegung treu geblieben. Im Kontext die VL nicht mehr als politisch organisierter der politischen Entwicklung in der DDR hat sie Zusammenhang handlungsfähig, wenn auch als neue Form politischer Bewegung mit ih- einzelne Akteure der VL sich persönlich mit rem basisdemokratischen linkssozialistischen großem Einsatz in den Kampf gegen Rassis- Programm zu spät erst antreten können und mus eingebracht haben. ist ebenso wie die anderen Bürgerbewegun- gen vom bürgerlich-parlamentarischen Poli- Fazit 2019: tikbetrieb überrollt worden. Sie konnte nicht «Weil man Zukunft nicht genug Menschen dauerhaft binden und auch wählen kann, sondern ihre politische Heterogenität nicht nutzen, gestalten muss – für Bürger- weil sie sich anfänglich zu sehr auf die Teilnah- demokratie – Soziale Pers- me an Wahlen konzentrierte, statt ihren urei- pektive – Selbstverwaltung» genen Ansätzen zu folgen, den basisdemokra- 1992/93 hat sich die Rostocker VL-Gruppe wie tischen Räteideen von direkter Demokratie. die meisten anderen lokalen Gruppierungen Eine Vereinigte Linke hätte Fragen der Gegen- in der ehemaligen DDR praktisch aufgelöst. wart und Zukunft theoretisch und grundsätz- Persönliche Erschöpfung und politische Er- lich analysieren und debattieren müssen und müdung spielten dabei eine Rolle, die Umo- dabei die Vergangenheit nicht links liegen las- rientierung hin zu anderen Basisbewegungen sen dürfen, um in einer Zeit, in der die Mehr- wie dem Ökohaus, zu Amnesty International heit der Bevölkerung andere Hoffnungen hat- usw., zu sozialen «Ein-Punkt-Bewegungen», te als den Sozialismus, kampagnenfähig zu Aktivitäten im Bereich von Kultur und Medi- werden. Beim Austritt der meisten Linken aus en oder sozialen Vereinen. Außerdem galt es, den Grünen, Anfang der 1990er Jahre, hätte private Dinge auf die Reihe zu bekommen: eine Organisation «Vereinigte Linke» vielleicht Ausbildung, Beruf, Studium, Beziehungen ein linkspolitisch «neutrales» organisatori- und Kinder. Einige versuchten, mithilfe des in sches Auffangbecken für Linke außerhalb der den Jahren zuvor geschaffenen Netzwerks ein PDS sein können mit dem Ziel, eine radikale Höchstmaß von Selbstständigkeit und Unab- außerparlamentarische und interventionsfä- hängigkeit mit einem Broterwerb zu verbinden hige linke Organisation aufzubauen. Zu dem 44 Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989

Zeitpunkt aber war die VL schon nicht mehr so sisbewegung für einen freiheitlichen und handlungsfähig, um von diesen grünen Lin- demokratischen Sozialismus in der DDR, al- ken als alternativer politischer Partner wahrge- so einer politischen «Wende» innerhalb der nommen zu werden. DDR, ein bürgerliches Projekt der deutschen Was bleibt? Eine Zusammenarbeit unter- Einheit in Form eines Anschlusses nach Ar- schiedlicher Linker auf breiter Front zu errei- tikel 23 Grundgesetz der BRD? An welcher chen war den Versuch wert, schon weil es (his- Stelle hätte die Initiative für eine Vereinigte torisch betrachtet) bisher selten geschehen Linke politisch anders agieren müssen und ist. Es ist niemand aus der VL ausgeschlossen, war sie dazu damals in der Lage? niemand als Renegat oder Revisionist ange- In guter VL-Tradition sollten diese Fragen ge- klagt, gebrandmarkt oder gar erschossen wor- stellt und Antworten diskutiert werden! Eine den. Das finde ich beachtlich, wenn ich mir die vereinigte Linke gibt es in Deutschland wei- Geschichte der linken und kommunistischen terhin nicht. Wieso nicht? Was hindert die au- Bewegung vergegenwärtige. Viele, gerade ßerparlamentarische «Restlinke» daran, einen jüngere VL-Mitglieder sind mit und in der VL basisdemokratischen pluralen Ansatz wie das politisch nachhaltig sozialisiert worden. Sie Projekt der VL zu erarbeiten? Eine vereinigte haben undogmatische heterogene linke An- Linke müsste sich selbst basisdemokratisch sätze kennengelernt und zumindest teilweise so organisieren, dass sie die politischen und konnte deren Tauglichkeit in der realen politi- soziokulturellen Interessen ihrer Einzelsub- schen Praxis ausprobiert werden. Es war eine jekte und Organisationen in ihrer gesamten Bewegung der Basis, die sich, bisweilen auch Pluralität vertritt. Sie müsste sich im Rahmen chaotisch, selbst organisiert hat. Dabei konn- dieser politischen Ansätze und Interessen und ten Erfahrungen gesammelt werden, die man den daraus resultierenden Kampf- und Ak- sonst nicht gemacht hätte. Neben dem auch tionsformen gegenüber einer Mehrheit der dadurch entstandenen Selbstbewusstsein hat Menschen weltweit solidarisch, kritisch und dieser partizipatorische und emanzipatorische selbstkritisch verhalten. Prozess viel Spaß gemacht. Auch das ist keine Zur linken oder kommunistischen (im ur - Selbstverständlichkeit. sprünglichen Sinn) Bewegung wird sie, wenn ihre Mitglieder erkennen, dass die derzeitige Epilog: kapitalistische Gesellschaft eine Klassenge- Vereinigte Linke – Solidarität sellschaft ist, die auf dem antagonistischen vor Ellenbogengesellschaft Widerspruch von Kapital und Arbeit fußt, der Dreißig Jahre später bleiben Fragen offen: im Kapitalismus nicht aufzuheben ist. Weil die Wieso ist es den Bürgerbewegungen im Mehrheit der Menschen weltweit lediglich ih- Herbst 1989 in der DDR nicht gelungen, spä- re Arbeitskraft als Ware anzubieten hat (und testens nach der Grenzöffnung am 9. No- manchmal nicht einmal das), während eine vember offen die Machtfrage mittels De - Minderheit über die Hauptproduktionsmit- monstrationen und Generalstreik zu stellen? tel verfügt. Inbegriffen in diesen eben nicht Wieso habe alle neuen Bewegungen und nur ökonomischen Grundwiderspruch sind Parteien – auch die VL im November 89 – die selbstverständlich auch die Widersprüche in Regierung Modrow akzeptiert? Wieso haben der Gleichstellung aller Geschlechter, der Öko- sie sich auf «Dialogveranstaltungen» und ei- logie- und Klimagerechtigkeit, der Gerech- nen Runden Tisch eingelassen und zu vor- tigkeit gegenüber allen Lebensformen und gezogenen Wahlen «überrumpeln» lassen? Ethnien und der digitalen Teilhabe aller Gesell- Wodurch wurde aus der reformerischen Ba- schaftsmitglieder. Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989 45

Wenn sich die menschlichen Subjekte in berichts und für seine jugendliche Verwegen- Lohn- und Transferabhängigkeit bzw. die völ- heit, den Archivalien aus unstrukturierten Zei- lig Mittellosen unübersehbar und aktiv ent- ten eine nachvollziehbare Ordnung abzuringen scheiden, diese Zustände grundsätzlich öko- (ich verspreche, bei der nächsten «Wende» nomisch und politisch infrage zu stellen und wird alles mit Datum und Namen versehen zu verändern, um eine klassenlose Gesell - und gespeichert!); schaft und dadurch ihr persönliches Glück bei Stefan Nadolny aus Rostock von der Ro- im Kontext des persönlichen Glücks aller an- sa-Luxemburg-Stiftung Mecklenburg-Vor- deren Gesellschaftssubjekte in diesem Leben pommern für sein Engagement, das dieses und auf dieser Erde zu erreichen, dann schlägt Projekt erst möglich gemacht hat – für seine hoffentlich die Stunde einer in ihren Ansätzen, Geduld mit uns als Autoren, die in andauern- Theorien und Ideen vielfältig reflektierten un- der kreativer Unzufriedenheit mit unseren Tex- dogmatischen, freiheitlichen und basisdemo- ten waren (sind?) und nie fertig wurden. kratischen vereinigten Linken. Vielen Dank an alle vier für die solidarische Ge- Es bleibt die Frage, wie sich bis dahin in einer duld mit dem von mir entworfenen Text, für ih- arbeitsteiligen Industrie- und Klassengesell- re interessanten Fragen und konstruktiven Hin- schaft ein soziokultureller politischer Zusam- weise. Für Eure Lebenszeit, die Ihr damit nicht menhang einer vereinigten Linken bzw. der nur mir, sondern vor allem dem authentischen Linken überhaupt sowohl nachhaltig als auch historischen Subjekt «Vereinigte Linke» Rostock interventionsfähig organisieren und gegebe- und der ehemaligen DDR und damit allen Akti- nenfalls revolutionär einbringen kann. vist*innen von damals gewidmet habt.

Bedanken möchte ich mich im Kontext der Er- 1 Böhlener Plattform, in: Die Aktion 60–63/1990, S. 936–942 2 Auf- ruf der Rostocker Initiative Vereinigte Linke, in: Ostsee-Zeitung vom arbeitung dieses Textes und den daraus ent- 1.12.1989, abgedruckt in: Die Aktion 60–63/1990, S. 947–955. 3 Vgl. Neues Deutschland vom 21.9.1989. 4 So beispielsweise am 4.Okto- standenen Fragestellungen mit Respekt und ber in Dresden anlässlich der Durchfahrt von Zügen mit geflüchteten Hochachtung: DDR-Bürger*innen aus der bundesdeutschen Prager Botschaft und am 7. Oktober in Ost-Berlin und anderen DDR-Städten bei den Protes- bei Erhard Weinholz (ehemals VL Berlin) für ten gegen die Staatsfeierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung seine fragende Geduld und kenntnisreiche der DDR. 5 Siehe www.chronikderwende.de/lexikon/glossar/glos- sar_jsp/key=cglchinesische+l%25f6sung.html. 6 In dem 1951 in der einfühlende Textsensibilität, um aus meinem DDR eingeführten Hausbuch wurden die Namen, Geburtsdaten und «Sprachschreibtext» einen hoffentlich lesbaren Berufe der jeweiligen Mieter und Untermieter eines Hauses sowie die Lage der jeweiligen Wohnung verzeichnet; Besucher aus der DDR, die und interessanten Text zu machen, und für den länger als drei Tage blieben, mussten sich beim Hausbuchbeauftrag- ten zwecks Eintrags melden. Bei Besuchern aus dem Ausland – das politischen Diskurs über die historische Funk- galt auch für Westdeutsche («Bürger der BRD») und West-Berliner – tion der VL; lag die Meldepflicht bei 24 Stunden nach Ankunft (Quelle: Wikipe- dia). 7 Neues Deutschland vom 29.9.1989, S. 4. 8 Alle Zitate in: bei Peter Köppen (Pit) von der Vereinigten Bür- Schmidtbauer, Bernhard: Tage, die Bürger bewegten. Eine Chronik gerinitiative für eine solidarische Gesellschaft des Umbruchs in Rostock vom August 1989 bis zum Oktober 1990 (Dokumente des Rostocker Umbruchs) 2 Bde., Münster 1991, Bd. 1, für seine zeitgeschichtlichen und politischen S. 66 f. 9 Aufruf zu vereinigten Bürgerinitiativen für einen neuen So- Einordnungen, Ergänzungen und kritischen zialismus!», in: ebd., Bd. 2, S. 45–48. 10 Vereinigte Linke: Erklärung vom 12./13. Oktober 1989, in: Die Aktion 60–63/1990, S. 952 f. 11 Sie- Hinweise und hilfreichen dialektischen Fragen; he Berichte vom 1. Arbeitstreffen der VL in Berlin am 25./26.11.1989, bei Hendrik Mayer für die Puzzlearbeit mit den in: Vereinigte Linke Berlin (Hrsg.): Konferenzreader, o. O. [Berlin] 1989, S. 57–62. 12 Interview von Christoph Klemann, in: Demokrat vom VL-Materialien zur Produktion des Werkstatt- 29.3.1990. 13 Siehe unten, Dokumentenanhang, S. 82–89 46 Basisdemokratischer freiheitlicher Sozialismus DDR 1989

Plakat der Vereinigten Linken aus dem Volkskammer-Wahlkampf 1990. «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 47

Hendrik Mayer «UNSER KOPF IST RUND, DAMIT DAS DENKEN DIE RICHTUNG ÄNDERN KANN»1 WERKSTATTBERICHT ZUR AUFARBEITUNG VON MATERIALIEN DER VEREINIGTEN LINKEN ROSTOCK

Der nachfolgende Beitrag skizziert (Zwischen-) stark basisdemokratischem Einschlag einen Ergebnisse der archivalischen Aufbereitung anderen Personenkreis zu mobilisieren ver- von Materialien der Vereinigten Linken (VL) in mochte als jene Organisationen, die, im Zei- Rostock aus den Jahren 1989 bis 1991. Er gibt chen der «Wiedervereinigung» tätig, heute zu- einen ersten Einblick in diese Überlieferung ei- meist stärkere Beachtung finden. ner überwiegend sozialistisch orientierten Op- positionsgruppe, die in ihrem Bestreben, eine Vom Ordnen einer Zeit offene, öffentlich sichtbare Sammlungsbewe- der Unordnung gung zu werden, anfänglich immer wieder mit Der Anspruch, Ordnung in Dokumente und Repressionen des Regimes zu rechnen hatte. damit Ansätze sowie Organisierungsversu- Wie bereits diese Entstehungsgeschichte ver- che der Monate zwischen September 1989 muten lässt, liegt hier ein ausschnitthaftes, und Oktober 1990 zu bringen, einer Zeit, de- vielfältiges, in Teilen sogar disparates Kor- ren wesentliches Signum gerade der Verlust pus vor, das gleichwohl die Spannbreite des vermeintlicher ideologischer Gewissheiten Agierens dieser heterogenen Oppositionsbe- darstellte, ist, wie noch zu zeigen sein wird, wegung aufzeigt. Einzelne Dokumente ver- auf mehreren Ebenen mit zuweilen erhebli- mitteln – trotz des überschaubaren Umfangs chen Herausforderungen konfrontiert.2 Ins- der Sammlung – weitere Kenntnisse unter besondere gilt dies für die Überlieferungen anderem zu Diskussionsprozessen einer Be- einer Organisation, die an den Prozessen ge- wegung im Zusammenhang sich rasch wan- sellschaftlicher Pluralisierung teilnahm und delnder Verhältnisse. Das Korpus lässt deut- zugleich die (rückblickend) oft behaupteten lich hervortreten, auf welche Weise und mit eindeutigen Grenzen zwischen reformwilliger welchen Konzepten ein bestimmter Teil der Bürgerbewegung und verhärmten SED-Mit- sozialistischen Opposition im Herbst 1989 die gliedern in gewisser Weise überbrückte, in- Grenzen des Lokalen und Konspirativen über- dem sie sich beispielsweise frühzeitig offen zeigte für eine Integration von SED-Mitgliedern, die mit Der Ablösung der SED-Politbürokratie dem Regime gebrochen hat- war zwar unbestreitbar gelungen, die ten. Die besondere Position Errichtung eines basisdemokratischen der Vereinigten Linken (VL)3 Sozialismus in der DDR jedoch nicht konnte kaum deutlicher zum verwirklicht worden. Ausdruck kommen als in der Präambel des Statuts, mit schritt. So gewinnt das Wirken einer Gruppie- dem sich das Bündnis (nach dem Vollzug der rung Kontur, die gerade wegen ihrer Kritik der Vereinigung 1990) als Verein auf Dauer zu stel- Politbürokratie aus der Perspektive eines frei- len gedachte. In der überlieferten Entwurfs- heitlichen, demokratischen Sozialismus mit fassung formulierten die Autor*innen: 48 «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann»

«Die ‹Initiative Vereinigte Linke› ist eine ba- wechsel doch zumindest vor dem 9. Novem- sisdemokratische Bewegung, entstanden ber allenfalls größten Optimist*innen als reale als ein Aktionsbündnis linker Organisatio- Möglichkeit vor Augen.7 Die Verfasser*innen nen, Gruppen und Einzelpersonen unter- des Statuts beschrieben die VL hier als ein schiedlicher Anschauungen und Strömun- Bündnisprojekt in Gründung, dessen Offen- gen aus der ehemaligen DDR. In ihr haben heit und basisdemokratische Orientierung zu- sich Sozialisten zusammengefunden, die als mindest in den entscheidenden Monaten des Linke in entschiedener Opposition zum sta- Jahres 1989 eine nicht unerhebliche Fluktu- linistischen System in der DDR standen und ation nach sich gezogen haben dürften – die im Herbst 1989 gemeinsam mit anderen Lin- Selbstbezeichnung als «Aktionsbündnis» hebt ken als Teil der Bürgerbewegung wirkten, diesen temporären, behelfsmäßigen Charak- um den Sturz des alten Regimes herbeizu- ter zumindest rückblickend zusätzlich hervor. führen. Sie ist offen für alle, die heute mit uns Daher ist eine konkrete Autorenschaft nicht der Kapitulation vor neuer Ausbeutung und immer überliefert, blieb die Herkunft eines Do- Sozialabbau begegnen wollen.»4 kuments in einigen Fällen uneindeutig; auch Gerade die stolze und ernüchterte Charakteri- ließ das Fehlen von Datumsangaben die an- sierung ihrer eigenen Zielstellung – «Sturz des visierte chronologische Strukturierung letzt- alten Regimes», verstanden im Sinne einer ra- lich nicht ohne Einschränkungen zu. Wäh- dikalen Entstalinisierung – stellte die Ansprü- rend die Repressionsdrohung im Spätherbst che der VL und zugleich die Wahrnehmung 1989 sukzessive an Bedeutung verlor, festig- eines zumindest temporären Scheiterns he- ten sich parallel dazu die Strukturen der loka- raus: Der Ablösung der SED-Politbürokratie len VL. Die Bündnisgeflechte im Vorfeld der war zwar unbestreitbar gelungen, die Errich- 1990 anstehenden Wahlen zur Volkskammer tung eines basisdemokratischen Sozialismus der DDR, zu den Kommunalvertretungen, in der DDR jedoch nicht verwirklicht und statt- zum Landtag und zum Bundestag mündeten dessen ein zügiger Übergang in die Bundes- jedoch in erneuten Unschärfen innerhalb der republik vollzogen worden.5 Insbeson- dere das Stichwort Die VL gehörte zu jenen Organisationen, zur Gründung der VL die einer Vereinigung bis zuletzt ablehnend verwies zudem auf die gegenüberstanden und nach alternativen Herausforderungen, Entwicklungspfaden suchten. denen sich auch eine Systematisierung erhalten gebliebener Un- Überlieferungen. Zwar unterzeichneten die terlagen ausgesetzt sieht. Denn wenngleich Urheber*innen nun auch vermehrt interne die entstehenden Strukturen in jenen Mona- Rundschreiben; bei Manuskripten, die offen- ten des Herbstes 1989 zunehmend öffentli- bar zunächst für eine Diskussion in Arbeits- che Sphären für sich erschlossen, erinnerte gruppen und Versammlungen bestimmt wa- spätestens die zumindest implizite Drohung ren, fehlten hingegen weiterhin eindeutige des Regimes mit einer «chinesischen Lösung» Datierungen und Hinweise auf Autor*innen.8 (in Anlehnung an die militärische Interven­ Zudem gelangten durch die Beteiligung der tion der chinesischen KP gegen Demonstra- VL an der organisationsübergreifenden Liste tionen auf dem Tiananmen-Platz in Peking) Bündnis 90 externe Dokumente in die Über- engagierte Aktivist*innen an Maßgaben der lieferung,9 was neuerlich nach einer stringen- Konspiration;6 stand ein baldiger Regime- ten Gliederung der Sammlung(en) fragen ließ. «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 49

Denn archivalische Aufbereitung bedeutet (II) und zuletzt einige Materialien assoziierter nicht bloße Ablage der Unterlagen, sondern und anderer Organisationen (III).12 Von diesem ebenso das Strukturieren und Zugänglichma- Korpus abgekoppelt wurden Presseerzeug- chen des Materials. Diese Unklarheiten mit nisse aus dem direkten Umfeld der VL (IV.2 Blick auf den Entstehungsmoment und bei bis IV.4)13 und eine ebenfalls überlieferte Aus- der Autorenschaft sind für die Zusammenfas- schnittsammlung regionaler und überregiona- sung der Dokumente zu Archivgut von nicht ler Zeitungsartikel (IV.1). unerheblicher Bedeutung, da jeder Eingriff in Die erhalten gebliebenen Unterlagen erlauben die innere Ordnung von Überlieferungen die es, wie in den folgenden Abschnitten anhand Gefahr birgt, mögliche Verbindungslinien und dreier Stichproben zu ersehen ist, viel von je- Diskussionsstränge zu kappen. Das begrenz- nen historischen Dynamiken zwischen dem te Korpus forderte gleichsam dazu auf, eine Herbst 1989 und der Vereinigung im darauf- Zerfaserung desselben zu vermeiden und ei- folgenden Jahr zu erfassen, die sich der po- ne stringente Ordnung einzuziehen.10 Zu klä- pulären Erzählung einer «Wiedervereinigung» ren war dabei beispielsweise: Inwiefern soll- als Bestandteil der Erfolgsgeschichte der Bun- ten Protokolle und Manuskripte, die eindeutig desrepublik auf regionaler Ebene nicht fügen. den lokalen Strukturen zugeordnet werden Hier werden ebenso Diskussionsprozesse in- können, von Produkten der Öffentlichkeits- nerhalb der Oppositionsbewegung sichtbar, arbeit oder Materialien aus dem Bündnis 90 die in jüngeren Betrachtungen zumeist eher oder aber von Leipziger, Berliner oder auch verschüttet sind.14 Die VL gehörte zu jenen Hallenser Aktivgruppen der VL getrennt wer- Organisationen, die einer Vereinigung bis zu- den? War hier das sachliche Interesse, Diskus- letzt ablehnend gegenüberstanden und nach sionsprozesse möglichst gebündelt verfolgen alternativen Entwicklungspfaden suchten, zu können, stärker zu gewichten als die Orien- auf denen sich die internationale Dynamik des tierung auf die vorrangig lokale Organisation Jahres 1990 – Auflösung des sogenannten der Bewegung, deren Gruppen sich allerdings Ostblocks, Einführung der Marktwirtschaft, durchaus wechselseitig wahrnahmen und staatliche Vereinigung von DDR und Bundes- miteinander kommunizierten? Letztlich er- republik – überholen ließ, die jedoch ebenso laubten Inhalt und Umfang der Überlieferung in zivilgesellschaftlichen Mobilisierungen der eine Gruppierung entlang einer Mischung aus folgenden Jahre weitgehend in Vergessenheit Urheberschaftsprinzip und Medienform (sie- gerieten.15 he Dok. 1). Im Folgenden werden – neben Hinweisen zur Ein Blick auf «die allgemein Ordnung – einige Auszüge aus diesem Kor- wenig bekannten Wurzeln pus näher betrachtet, die zugleich Schlaglich- und Erfahrungen»16 ter auf die vielfältige Überlieferung zu wer- Bereits im Dezember 1989 hatte eine Gruppe fen vermögen: Zunächst umfassen drei der von Aktivist*innen innerhalb der Berliner VL vier gebildeten Aktengruppen, strikt anhand die historisch wie auch aktuell-politisch pre- ihres Entstehungszusammenhangs zusam- käre Position einer linken progressiven Oppo- mengeführt, lokale bzw. regionale Überliefe- sition in der DDR wahrgenommen. Die Vor- rungen aus Rostock und anderen Basisgrup- machtstellung der autoritären SED hatte ihre pen in den drei Nordbezirken11 (I), Dokumente Traditionen verschüttet; ihre praktische Rele- von Regionalgruppen außerhalb des späte- vanz wurde ständig durch die dynamischen ren Bundeslands Mecklenburg-Vorpommern Ausdifferenzierungen der Bürgerbewegung sowie des DDR-weiten Zusammenschlusses während des politischen Frühlings im Herbst 50 «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann»

1989 infrage gestellt.17 In dieser Situation ent- gen auf Grundlage der «Böhlener Plattform» wickelten die VL-Basisgruppen vielfältige poli- heraus.24 tische Ansätze und Konzepte, die zunächst vor Obgleich das Gründungsdatum der Rostocker allem darauf zielten, kommunalpolitische und Basisgruppe anhand der vorliegenden Über- basisdemokratische Kompetenzen zu erwer- lieferung nicht exakt zu bestimmen ist, schei- ben und so die Teilhabe an Entscheidungspro- nen erste Schritte spätestens auf den Oktober zessen zu ermöglichen. Sie waren dabei – viel- bzw. Anfang November 1989 datiert werden leicht auf den ersten Blick überraschend – wie zu können.25 Am 1. Dezember jedenfalls hat auch die Bürgerbewegungen insgesamt zu- die Ostsee-Zeitung zunächst einen förmlichen nächst stark von ökologischen Diskussionen «Aufruf»26 zur Partizipation abgedruckt (siehe bestimmt; nicht wenige Mitglieder auch der Dok. 2) und wenig später mehrmals auf die VL engagierten sich allerdings seit Längerem Demonstration anlässlich des Besuchs von in diesem Politikfeld. So bezogen Entwürfe zur Helmut Kohl in Dresden im Dezember 1989 ökonomischen Entwicklung in erheblichem aufmerksam gemacht, und damit auf den Maß Umweltfragen ein – die (angestrebte) wohl größten Mobilisierungserfolg der Rosto- ökonomische Umwälzung sollte zugleich ein cker Vereinigten Linken, auf den weiter unten ökologisch geprägter Prozess sein.18 Zugleich noch genauer einzugehen sein wird.27 widersetzte sich die VL im Gegensatz zu an- Bereits der erste gedruckte «Aufruf», der deren Teilen der Bürgerbewegung in der DDR sich zunächst auf wesentliche Elemente der konsequent dem lauter werdenden Ruf nach «Böhlener Plattform» und der im November Vereinigung, ging es ihr doch nach wie vor entstandenen Flugschrift «Was will die Ver- darum, dieses Land im Sinne eines freiheit- einigte Linke?» bezog,28 wies auf eine we- lich-demokratischen Sozialismus zu revoluti- sentliche Entwicklung der Bürgerbewegung onieren.19 gegen Ende des Jahres 1989 hin, als der Ei- Bevor das Regime gerade in jenem Moment serne Vorhang zwar schon gefallen war, das ohne gewaltsamen Widerstand zusammen- Ministerium für Staatssicherheit (MfS) je- brach, als auch seine Kader das Bröckeln sei- doch, nun unter anderem Namen agierend, ner Hegemonie nicht mehr leugnen konn- seine gefürchtete Tätigkeit noch keineswegs ten,20 hatte die SED ihren Führungsanspruch21 mit Sicherheit eingestellt hatte:29 In der drit- nicht zuletzt durch eine rigide Diskriminierung ten Spalte der Druckfassung befanden sich von Abweichler*innen aus den Reihen der gleich vier offenbar private Adressen, über linken Opposition stabilisiert. Insbesondere die Kontakt aufgenommen und der Wille zur an den Universitäten in Ost-Berlin und Leip- Teilnahme signalisiert werden konnte. Deutet zig kristallisierten sich wiederholt informelle dieser Schritt auf das auch in der Rostocker Gruppierungen heraus, die eine Reform des Bürgerbewegung inzwischen trotz Obrigkeits- real existierenden Sozialismus anstrebten, oh- staat und «staatsautoritäre[r] Zwangsverge- ne dabei die Pfade marxistischer Positionen zu sellschaftung»30 entstandene Selbstbewusst- verlassen – ein Engagement, das in mehreren sein hin, so ermöglicht die Einbeziehung eines Fällen Parteiausschlüsse und Entlassungen ebenfalls in die Gründungsphase fallenden nach sich zog.22 Die sich im Frühherbst 1989 Dokuments einen Einblick in die inhaltliche in der Hansestadt Rostock konstituierende Schwerpunktsetzung der Rostocker Struk- Gruppierung der VL hatte ihren Schwerpunkt turen. Denn noch im Dezember 1989 mach- hingegen gerade nicht an der dortigen Wil- te sich die Organisation daran, eine eigene helm-Pieck-Universität,23 sondern bildete sich Fassung des Papiers «Was will die Vereinig- in anderen eher informellen Zusammenhän- te Linke?» zu erstellen (siehe Dok. 3), das in «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 51

mehreren Diskussionsfassungen im Korpus und sich inhaltliche Schwerpunkte der Flug- enthalten ist: Die vermutlich erste überliefer- schrift veränderten. Besonders die wohl ältes- te Diskussionsgrundlage – als Durchschlag te überlieferte Version (siehe Dok. 3) wies da- oder Abklatsch vervielfältigt erhalten geblie- bei zuweilen stark schematisch erscheinende ben – kann auf etwa Mitte bis Ende Dezem- Argumentationslinien auf, die die eingeforder- ber datiert werden, da sie als Kontakt das linke ten Reformprozesse in wesentlich größerem Kommunikationszentrum «Tante Trude» in der Maße als in den folgenden Fassungen trans- Doberaner Straße angibt, welches nach verzö- parent aus einem spezifischen Verständnis gerten Verhandlungen mit der Stadt schließ- des Sozialismus ableiteten. Nicht zuletzt in lich Mitte Dezember 1989 besetzt wurde. 31 Anlehnung an Rosa Luxemburgs Kritik der So- Eine in grundlegenden Punkten abweichen- wjetherrschaft wurde darin eine «Herrschaft de Nadeldrucker-Fassung, die bereits einen der Volksmassen»34 anvisiert, die sich deutlich Verweis auf die Basisgruppen in Güstrow und von der Idee einer «aufgeklärten Bürokratie»35, Erfurt enthielt,32 dürfte nur wenig später ent- von der SED also und dem«autoritäre[n] Wohl- standen sein, bevor schließlich eine offenbar fahrtsstaat»36 der DDR abhob. veröffentlichungswürdige Version am Jah- Dabei präsentierte die Politbürokratie der Par- resbeginn 1990 vorlag (siehe Dok. 4), auf der tei den genauen Gegensatz dieser Vision, in- handschriftlich die Adresse des neu eingerich- dem sie deren zentrales Versprechen nicht nur teten Büros der VL in der Ernst-Barlach-Stra- nicht einlöste, sondern sich – durch die Ent- ße 2 als Kontaktanschrift vermerkt worden wicklung «einer über das Volk gestellten be- ist.33 sonderen Kaste»37 – geradezu im Widerspruch Wie sich die Kontaktadressen änderten, so zur Realisierung des Sozialismus befand. gab es offenbar auch Änderungen in den in- Noch bevor der Text genauere Vorstellungen haltlichen Positionen. Auf zwei Ebenen gestat- von sozialistischer Demokratie entfaltete, ten es diese Dokumente, konkrete Diskussio- zeigte sich in diesen ersten Zeilen bereits eine nen und regionale Spezifika der VL in Rostock Interpretation der erfolgreichen Protestbewe- sichtbar zu machen und so Verschiebungen gungen in der DDR, die auch reformwilligen ihrer politischen Schwerpunkte nachzuvollzie- Mitgliedern der SED Anknüpfungspunkte bot und zugleich aus der Kritik Berechtigung und Verantwortung der Bürgerbewegung ableite- Nicht zuletzt in Anlehnung te.38 Denn er forderte nicht allein direkt- und an Rosa Luxemburgs Kritik basisdemokratische Strukturen ein, sondern der Sowjet­herrschaft wurde verband sie mit dem Agieren der DDR-Bür- eine «Herrschaft der ger*innen selbst: Der angestrebte Regime- Volksmassen» anvisiert. wechsel bedeute, «die eigenen Angelegen- heiten nicht [mehr; H.M.] aus der Hand zu hen: Einerseits finden sich am Rand der Tex- geben».39 In weit stärkerem Maße als andere te oder auf ihrer Rückseite verschiedentliche Teile dieser Bewegungen orientierte die VL da- Notizen, welche – so scheint es – Kritik und bei auf den Betrieb als zentralen Ort letztlich Hinweise in Stichworten zusammenfassten, rätedemokratischer Aushandlungsstrukturen. die vermutlich in weiteren Bearbeitungen be- Und zwar offenbar auch deshalb, weil sie auf rücksichtigt werden sollten. Ein Vergleich un- diese Weise hoffen konnte, trotz parlamenta- terschiedlicher Fassungen zeigt andererseits, rischer Einhegung Bewegungselemente auf wie einzelne Textbausteine den Platz wechsel- Dauer zu stellen.40 Im Vergleich zum breite- ten, sich das Vokabular beständig wandelte ren Ansatz der «Böhlener Plattform» fällt hier 52 «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann»

die Konzentration auf strukturelle Fragen ge- Der Auftritt Helmut Kohls sellschaftlicher Verfasstheit auf,41 eine Veren- in Rostock – Kristallisations- gung, die jedoch, wie auf der Rückseite des punkt einer Krisenwahrneh- Dokuments festgehaltene inhaltliche Ergän- mung zungspunkte zeigen, umgehend von ande- Jenseits des breiten thematischen Spektrums, ren Diskutant*innen kritisiert wurde: «Inter- das die VL in Konzeptpapieren, Flugblättern, nationalismus», «Kontakte m. Ausländern in den Zeitungen Bürgerrat und plattFORM (Weltoffenheit)», «Behinderte», «(soziale [sic!] sowie im Kontext von Bündnis 90 entfaltete,46 Schwache)», «Rätekommunikation (Basis- erscheint gerade der 9. März 1990 als ein Da- demokratisch)» und «Souveränität der DDR» tum, das gleichermaßen einen inhaltlichen seien einzubeziehen.42 Diese Aspekte fanden Kristallisationspunkt darstellte,47 die Eigenart dann auch tatsächlich sukzessive Eingang in Rostocks herausstellte und die Vielgestaltig- spätere Textversionen und Veröffentlichungen keit der aufbereiteten Dokumente greifbar zu der VL. machen vermag. Bereits der Auftakt zu die- Eine explizite Begründung des Aufbegehrens sem Happening zeigte jene Verdichtung in der selbst wurde bereits gegen Ende des Jahres Abfolge der Ereignisse zwischen November 1989 gestrichen, der Schwerpunkt in ersten 1989 und den unmittelbar bevorstehenden Überarbeitungen vielmehr auf eine Verbrei- Volkskammerwahlen 1990, mit der offenbar terung des basisdemokratischen Elements auch die Druckerzeugnisse kaum Schritt hiel- verschoben, das nunmehr nicht nur in den ten: Für den frühen Abend des 9. März hatte Betrieben, sondern auch durch «Bürgerräte, das Wahlbündnis Allianz für Deutschland – Schulräte, wie sie in Rostock in den Schulen bestehend aus CDU/CSU, Demokratischem entstehen, Soldaten- und Gefangenenräte, Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Verbraucherinitiativen u. a.» zur Geltung kom- Union (DSU) – eine Veranstaltung mit Bundes- men sollte.43 Der «Aufruf», den die VL in der kanzler Helmut Kohl an der Fischerbas­tion an- Ostsee-Zeitung platzieren konnte, enthielt da- gekündigt.48 Die Plakate nannten neben Kohl rüber hinaus einen deutlichen Verweis auf die und den Spitzenkandidaten des Bündnisses Politikfelder Antifaschismus und Ökologie – Hans-Wilhelm Ebeling (DSU) und Lothar de Themen, die in den Wahlkampfmaterialien des Maizière (CDU) als weiteren Redner vor dem folgenden Jahres weiter ausdifferenziert wur- Hotel Warnow in der Rostocker Innenstadt den, aber im gleichnamigen Text des Berliner auch Rechtsanwalt Wolfgang Schnur (DA),49 Sprecherrats noch keine Rolle spielten.44 Zeit- den zeitweiligen Parteivorsitzenden des De- gleich rückte die Frage nach einer Vereinigung mokratischen Aufbruchs, über dessen Ak- von Bundesrepublik und DDR – vor allem auf- tivitäten für das MfS spätestens zu Beginn grund der rasanten Entwicklungen – zuneh- des Jahres 1990 vielfältige Gerüchte im Um- mend ins Zentrum der Auseinandersetzun- lauf waren. Bestätigt wurden sie Anfang März gen und damit auch der Stellungnahmen der durch einen Aktenfund des Unabhängigen Rostocker VL. Dieser Sachverhalt war, wie Untersuchungsausschusses in Rostock.50 nachfolgend zu zeigen sein wird, gerade für Nachdem der Rostocker DA-Vorstand sowie das explizit linke Spektrum der Bürgerbewe- vom Bundesvorstand am gung in steigendem Maße unübersehbarer Vormittag in einer kurzfristig einberufenen Ausdruck einer Krise jener Proteste und Be- Pressekonferenz zu den Enthüllungen Stel- strebungen, die in nicht wenigen Texten ande- lung bezogen hatten – zu diesem Zeitpunkt rer Rostocker Gruppen bereits zur Revolution verlegte sich der DA noch darauf, alle Vor - erklärt wurden.45 würfe zurückzuweisen51 –, bekam auch die «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 53

Wahlveranstaltung eine Eigendynamik, die anstaltung zu verschieben – «[s]chätzen Sie sie deutlich von vorangegangenen Auftritten mal»55 (siehe Dok. 5). der Allianz unterschied. Waren zuvor in Er- Auch den Protagonisten der Kundgebung, furt etwa 100.000 Personen und am 15. März Kohl, de Maizière, Ebeling und Eppelmann, in Leipzig gar bis zu 300.000 Interessierte zu dürfte nicht entgangen sein, was Bernhard den Veranstaltungen des Parteienbündnisses Schmidtbauer in seiner Chronik rückbli - erschienen, blieb der Zuspruch in Rostock ver- ckend notierte: Es «regt sich ein massiver haltener.52 Das lag nicht allein an der deutlich Protest von mehreren Tausend Einwohnern geringeren Bevölkerungszahl, sondern wahr- mit DDR-Fahnen, Sprechchören, Pfeifen, scheinlich ebenso am sprichwörtlich Charak- Schiffssirenen, Plakaten, Kohlköpfen u. a. ter des «roten Nordens»53 sowie insbesondere Wurfgeschossen».56 Gerade für die Vereinig- an den Enthüllungen der erwähnten Aktivitä- te Linke war das ab Dezember 1989 stärker ten Wolfgang Schnurs. werdende, bald auch mit praktischen Folge- Noch heute verweist die Beschriftung ei- rungen verbundene Drängen Kohls und der ner Fotografie dieses Wahlkampfauftritts in Allianz auf zügige Vereinigung und Übertra- der Bilddatenbank des Bundesarchivs auf gung marktwirtschaftlicher Strukturen auf eine scheinbar unverändert positive Wir - das Gebiet der DDR stetiger Anstoß zur Mo- kung Kohls auf die Anwesenden, die sich bilisierung – wie auch das wohl DDR-weit ge- an der Fischerbastion angeblich um den klebte Wahlkampfplakat «Lieber rote Rüben Kanzler hatten scharen wollen: «Auf einer als Kohl von drüben!»57 nur zu deutlich un- Wahlkampfkundgebung der ‹Allianz für terstrich (siehe Dok. 6). Zwar belegt bislang Deutschland› wurde der Bundeskanzler der keine der überlieferten Unterlagen, dass die BRD, Helmut Kohl, von seinen Anhängern Rostocker VL sich nach Bekanntwerden der stürmisch begrüßt.»54 Ebendas versucht auch Kohl-Kundgebung aktiv in die Protestvorbe- die beinahe ikonische Motivik der Aufnah- reitungen eingeschaltet hätte, doch zeigt me zu suggerieren. Betrachtet man sie ge- ein inzwischen leicht vergilbtes Flugblatt der nauer, zeigt sie jedoch ebenso Protest. Denn Hallenser Basisgruppe, dass solche Protes- während sich dem Bundeskanzler im Vorder- te innerhalb linksoppositioneller Strukturen grund mehrere Hände entgegenstreckten, ist der Bürgerbewegung schon eine gewisse im Hintergrund ein Transparent zu erkennen, Tradition besaßen, vor allem aber, dass sich die VL-Basisgruppen bestän- dig mit Gruppen in anderen Gerade für die Vereinigte Linke war Städten austauschten und zu- das Drängen Kohls und der «Allianz» gleich weitgehend selbststän- auf zügige Vereinigung stetiger dig agierten. Bereits für Mitte Anstoß zur Mobilisierung. Dezember 1989 hatte Kohl ei- nem der zentralen Orte jener auf dem Kohl lesen musste: «Einheit mit Kohl- Mobilisierung von «unten» einen Besuch an- Kopf». Rostocks engagierte Bürger*innen grif- gekündigt – zunehmend von der These der fen die offenkundig weit von ihren Zählungen inneren Destabilisierung des SED-Regimes entfernte Angabe von mehr als 100.000 Teil- überzeugt, die er lebhaft unterstützte. Eben- nehmer*innen bereits wenig später ironisch so deutlich hatte ihn dafür der von ihm so auf, indem die plattFORM ihre Leser*innen bezeichnete «Pöbel vor dem Schöneberger aufforderte, den Blick vom stereotypen Mas- Rathaus» im November kritisiert.58 Während senbad des Kanzlers an den Rand der Ver - Kohl vor der Dresdner Frauenkirche erneut 54 «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann»

von einer «substanziellen Einheit» der «Deut- worden sein.63 Gerade in der abschließenden schen» sprach und offen ihre Vereinigung Formulierung schimmert jedoch eine spezifi- forderte,59 mobilisierte in mehreren Städten sche Deutung der Bestrebungen «nationaler insbesondere die linke Opposition gegen ei- Vereinigung» durch, die damals zwar in Teilen ne «KOHLonisierung» der DDR.60 linksradikaler Strukturen Westdeutschlands In beinahe literarischer Form kamen im Flug- eine Konjunktur erlebte,64 innerhalb der ent- blatt aus Halle an der Saale bereits im ersten stehenden «ostdeutschen» Zivilgesellschaft Satz jene Befürchtungen zusammen, die – allerdings kaum verbreitet war. Im «Schweri- nicht allein, aber eben auch – die basisdemo- ner Appell vom 18. Dezember 1989» – einem kratische linke Opposition mit der Offensive Aufruf teils parteiloser, teils der SDP oder dem des Bundeskanzlers seit Anfang November Neuen Forum angehörender Aktivist*innen, verbanden: welche bereits eine «Vereinigung» als poli- «Da kommt er also, ein Gönner der Sozial- tischen Horizont erkannten – war vor einem hilfeempfänger ostdeutscher Nation, umge- «Großdeutschland in Vorkriegsgrenzen» 65 ben von einer Aura von Coca-Cola-Büchsen gewarnt worden. Wesentlich stärker kam (3.) und guter Laune, im Vorgefühl der zu erwar- die Furcht vor einem revanchistischen Natio- tenden Huldigungen und als zukünftiger nalismus allerdings in der Bezeichnung Hel- Reichskanzler gewillt, auch den mitteldeut- mut Kohls als «zukünftiger Reichskanzler»66 schen Provinzen ein Gefühl nationaler Identi- zum Ausdruck, dessen Protagonist*innen ein tät einzuhauchen.»61 «Viertes Reich» zu schaffen trachteten. Spä- In diesen Zeilen sind drei zentrale Motive zu testens der Verlauf der Wahlkampfveranstal- erkennen, die sich in manchem mit Auffas- tung am 9. März sollte zeigen, dass sich diese sungen einiger Strömungen der westdeut- Interpretation kaum als bloße Rhetorik beisei- schen Linken wie auch verschiedener Teile teschieben ließ. der Bürgerbewegung decken, insgesamt aber Nicht allein die Hallenser VL hatte im Vorfeld wohl VL-spezifisch sind:62 (1.) ein deutlich an- des Kohl-Besuchs im Dezember mobilisiert. tikapitalistischer Impuls, der sich in der Be- Auch die Ostsee-Zeitung, damals noch amtli- nennung erwarteter Folgen einer schnellen ches Blatt der SED, druckte am 15. Dezember Angleichung an die wirtschaftliche Struktur 1989 einen Aufruf der lokalen Basisgruppe, der Bundesrepublik («Sozialhilfeempfänger») der allerdings weit weniger poetische Züge artikuliert und an das bekannte Emblem eines trug und vor allem eines Großteils der inhalt- US-amerikanischen Lebensmittelkonzerns lichen Standpunkte des Flugblatts aus der («Aura von Coca-Cola-Büchsen») heftete, und Saalestadt entbehrte.67 Statt der Warnung vor (2.) eine ebenso deutliche Kritik des um sich revanchistischen Bestrebungen und sozialer greifenden nationalen Taumels («ostdeut- Deklassierung hatte das Motiv einer «KOHLo- scher Nation», «Gefühl nationaler Identität»). nisierung» Vorrang; Identitätskonflikte und die Ebendiese Bedenken dürften von nicht weni- antizipierten Folgen einer Umgestaltung nach gen anderen Organisationen der Bürgerbewe- marktwirtschaftlichen Maßstäben traten hier gung – zuweilen als drohende Entwertung ei- deutlich hinter dem Souveränitätsanspruch gener Identität verstanden – durchaus geteilt zurück:

«Wir sind für eine souveräne und eigenständige DDR als Alternative zu einer christlich-demokratischen Bevormundung à la Kohl.» (Vereinigte Linke Rostock, 15.12.1989) «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 55

«Auch wir in Rostock wollen uns daran [den dem Alexanderplatz und dem Platz der Aka- DDR-weiten Demonstrationen der VL; H.M.] demie demonstrierten, beteiligten sich in beteiligen und rufen alle friedliebenden, de- Rostock – nach Angaben jenes Blattes, das mokratischen Kräfte auf, sich an dieser De- bereits den Aufruf unterstützt hatte – etwa mo zu beteiligen. Wir sind gegen eine Ver- 8.000 Bürger*innen am Demonstrations- einnahmung durch die BRD, da zur Zeit viel zug,77 der «den umgekehrten, ‹linken› Weg zu zu große wirtschaftliche und soziale Unter- unseren üblichen Demos»78 um die heutige schiede zwischen beiden deutschen Staaten Einkaufszone nahm. Zwar seien die Teilneh- bestehen. Wir sind für eine souveräne und menden am Ort ihrer Abschlusskundgebung eigenständige DDR als Alternative zu einer schließlich auf «einige wenige Rostocker, die christlich-demokratischen Bevormundung à bei der Marienkirche ihrem Wunsch nach la Kohl.»68 der Einheit beider deutschen Staaten Aus- Dass sich der Aufruf in Stil und Inhalt erheb- druck verliehen»,79 getroffen, die dominante lich vom Flugblatt zur «Anti-KOHL-Demon­ Positio­ nierung­ in Rostock schien der Zeitung stration»69 unterschied, dürfte vor allem dem allerdings zugleich eine ebenso deutliche Medium geschuldet sein.70 Zudem artikulier- Möglichkeit zur Aneignung zu bieten: Hatte te sich an dieser Stelle ein Verlauf der Protes- die Ostsee-Zeitung zuvor der Vereinigten Lin- tentwicklung, wie ihn bereits Kai Langer be- ken ein Podium zur Mobilisierung geboten, schrieben hat: Zwar blieb der «rote Norden» vereinnahmte sie nun den Protest, interpre- keineswegs unbewegt, doch traten Slogans, tierte ihn als Machtdemonstration des wa- die sich offen auf eine «(Wieder-)Vereinigung» ckelnden Regimes. Deutlich ließ die bereits bezogen, zumindest in den größeren Städten abgedruckte Fotografie lediglich den Schrift- (zumal in Rostock) erst gegen Ende des Jahres zug «SED-PDS» – gleichsam über der Menge 1989 verstärkt in Erscheinung – zu einem Zeit- schwebend – auf einem Transparent erken- punkt, als in den südlichen Bezirken der DDR nen, wohingegen andere Aufschriften über- jener Ruf nach «Einheit» in den Demonstra­ deckt oder vom Blitzlicht geschluckt wurden. tionszügen bereits fest etabliert war.71 Gleich- Und auch der Artikel selbst wies zwar auf we- zeitig nahm die VL innerhalb des sich ausdif- sentliche Anliegen der Veranstalter*innen hin, ferenzierenden und letztlich polarisierenden betonte allerdings, dass «sich auch zahlreiche Spektrums der Zivilgesellschaft in der DDR, Mitglieder der SED-PDS hinter das Anliegen wie eingangs ausgeführt, eine spezifische der Vereinigten Linken gestellt hatten».80 In- Zwischenposition ein: Sie wandte sich gegen haltlich resümierte die Ostsee-Zeitung, man die SED-Politbürokratie, war aber durchaus stimme «dem Sprecher der Vereinigten Lin- bereit, umsturzwillige Mitglieder der SED in ken Rostock Christoph Kelz zu, der [auf der ihre Organisation einzubeziehen, sie entspre- Demonstration] für eine erneuerte DDR, für ei- chend anzusprechen.72 ne Vertragsgemeinschaft mit der BRD eintrat, Am 18. Dezember hatte die Ostsee-Zeitung sich aber gegen Wiedervereinigung, gegen noch einmal zur Teilnahme aufgerufen,73 am die Wiederbelebung kapitalistischer Ausbeu- Folgetag entwickelte sich die Demonstra­ tungsverhältnisse aussprach. Einmütig solida- tion zum wohl größten Mobilisierungserfolg risierten sich die Kundgebungsteilnehmer mit der VL in Rostock: Während in Berlin «meh- dem Volk Rumäniens, dem sie Gewaltfreiheit rere tausend Bürger»74 bzw. «mehr als 10.000 und Erfolg wünschten.»81 Menschen»75 oder gar «rund 50.000 vor - Dass der Veranstaltungsinhalt sich mit der wiegend junge Menschen»76, wie das Neue Parteilinie der SED deckte, ließ sich wohl nur Deutschland schließlich schrieb, zwischen bei konsequenter Ausblendung des anvisier- 56 «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann»

ten Weges hin zu einer «erneuerte[n] DDR»82 Auch durch die Bürgerbewegung zogen sich behaupten. Der VL-Sprecher aber begriff die- inzwischen tiefe politische Gräben. Dennoch ses grundlegende Umkrempeln politischer war es nur drei Tage vor der für den 9. März Entscheidungsfindung gerade nicht als Poli- geplanten Wahlkampfveranstaltung der Al­ tikwechsel einer Avantgardepartei, sondern lianz für Deutschland am Rande einer Redak- als umfassenden gesellschaftlichen Diskussi- tionssitzung der Zeitung plattFORM offenbar onsprozess, wie das überlieferte Redemanu- zu einer Szene gekommen, die den bisherigen skript hervorhebt: Anspruch des politischen Umgangs geradezu «Darunter verstehen wir: Kein absolutes versinnbildlichte und den die Zeitungsverant- Verbot des Gedankens einer Vereinigung wortlichen auch umgehend ihren Leser*innen beider deutschen Staaten, sondern [wir] er- zur Orientierung als Bild anboten: «Können Sie kennen die Offenheit und Gestaltbarkeit von sich vorstellen, daß […] der Kollege vom De- Geschichte an. Das bedeutet, daß wir aner- mokratischen Aufbruch der Kollegin von den kennen, daß nicht jeder, der die Vereinigung Vereinigten Linken in den Mantel geholfen anstrebt, Rechtsradikaler oder Neonazi ist, hat?»84 andererseits bedeutet die Offenheit der Zu- Die Veranstaltung an der Fischerbastion mit kunft, daß unser weiterer Weg immer ein Bundeskanzler Kohl war hingegen in vielerlei Experiment sein wird. Darüber müssen wir Hinsicht gerade von nichtverbalen Auseinan- jetzt und in Zukunft alle gemeinsam reden. dersetzungen geprägt, die im Folgenden et- Fahnen schwenken und Sprechchöre auf was ausführlicher dargestellt werden, sym- beiden Seiten helfen uns nicht weiter, son- bolisieren sie doch deutlich den Wandel der dern sind von links und rechts zur Eskalation Hegemonie in den Positionen derer, die auf von Gewalt mißbrauchbar. […] Dabei muß den Straßen stritten, und der Form ihrer Kon- für jeden nachvollziehbar sein, daß dieses frontationen. Bernhard Schmidtbauer hat in Land uns gehört und nicht bürokratischen seiner Chronik jener Zeit auf vielfältige Formen Verwaltungsbeamten […] Der Begriff der Ei- des Protests hingewiesen, die über das Visu- genständigkeit der DDR kann nur mit Leben elle und Verbale hinausgingen. So hob er in erfüllt werden, wenn jetzt Interessenvertre- seinem Eintrag für den 9. März die Auseinan- tungen, die jenseits von Wahlkampf und Par- dersetzungen zwischen Protestierenden und teiengerangel basisdemokratisch die Ziele Skinheads «[a]m Rande und nach Beendigung und Wünsche der Menschen vertreten und der Veranstaltung»85 hervor. realisiert werden. Räte, Kommissionen und Insbesondere der linke Flügel der Engagier- Bürgerinitiativen auf kommunaler und be- ten in Rostock war spätestens ab Ende De- trieblicher Ebene erscheinen uns als die bes- zember 1989, seit der Einrichtung der «Tante te Alternative und Form von direkter Demo- Trude» in der Doberaner Straße, in regelmäßi- kratie. Nehmen wir unser Schicksal endlich gen Abständen mit Mobilisierungen und zu- in die eigenen Hände!»83 nehmend auch mit gewalttätigen Übergriffen Die Auseinandersetzungen zwischen Befür- einer sich formierenden politischen Rechten worter*innen und Gegner*innen einer Vereini- konfrontiert.86 Während der Wahlkampfver- gung mit der Bundesrepublik spielten sich im anstaltung war die Gewaltaffinität nicht al- Dezember 1989 auf einer rein verbalen Ebe- lein rechter Skinheads, sondern vieler anderer ne ab, in einer im Rückblick kaum noch nach- Kundgebungsteilnehmer*innen kaum mehr empfindbaren Diskussionsorientierung. Etwa verhohlen. Am Rande der Kundgebung hat- sechs Wochen später hatte sich das Klima po- ten sich zunächst auch einige Mitglieder der litischer Konfrontationen erheblich verändert. VL positioniert und unter anderem mit ihrem «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 57

Transparent, «auf de[m] sich gerade Herr Kohl sich niemand auf diese plumpe und urzeit- mit Messer und Gabel auf eine DDR-Torte zum liche Provokation ein. Da die Import-Reps Supersparpreis stürzen will, nach dem Motto: [gemeint sind die Republikaner, H.M.], aber Ich hab euch zum Fressen gern».87 Bezeich- auch die hoffnungsvollen jungen DDR-Nazis nete Kohl die Protestierenden einmal mehr die ‹Trude› stürmen wollten, rief man die Po- als Pöbel, entstand wenig später ein Geran- lizei zu Hilfe, die ausnahmsweise auch mal – gel um das Transparent, das einige Jugendli- und in überzeugender Ausrüstung und mit che schließlich herunterrissen. Wichtiger er- Hunden – erschien, worauf die Rechtsradika- schienen der Autorin eines Rückblicks in der len abzogen.»88 plattFORM allerdings das sich anschließende SED und MfS hatten die Proteste des Herbs- Wortgefecht und die folgenden Übergriffe, tes 1989 wiederholt als Ausdruck reaktionä- markierten sie doch einen Umschwung in der rer, zuweilen neonazistischer Bestrebungen Protestbewegung und Protestkultur, die ins- bezeichnet. Erkannten nicht wenige bewegte besondere linken Aktivist*innen deutlich in die Bürger*innen hierin zunächst eine gezielte Dif- Krise geraten zu sein schienen: famierung ihrer Anliegen durch das Re­gime, «[…] vor allem bei dem, was den […] abzie- war vielen Engagierten ebenso wenig verbor- henden Linken Rostocks nicht weniger hys- gen geblieben, dass rechte Gewalt insbeson- terisch aus dem Munde ‹Erwachsener› an dere seit Dezember 1989 auch in Rostock zu- den Kopf geschmettert wurde, lief es mir eis- nehmend um sich griff. In der Darstellung des kalt den Rücken runter. – Ihr roten Schwei- VL-Mitglieds aus Rostock äußerte sich jedoch ne, grabt schon mal euer Massengrab – Euch eine deutliche Erschütterung, die weit erns- müßte man abschlachten – Deutschland ter zu nehmen war als die häufig bloß rheto- den Deutschen – Ausländer und Rote rischen Bezichtigungen durch Vertreter des raus – Scheiß Judenschweine […] Die da so wankenden Herrschaftsapparats und sich schrien, ließen sie sich nicht in ihrer eignen nicht zuletzt mit Zweifeln an den unmittelba- Feigheit vom alten Regime erniedrigen und ren Folgen des Aufbegehrens vom vorange- erdrücken? Nun haben sie ihre Sprache wie- gangenen Herbst verbanden: Schließlich ge- dergefunden. […] Und auch das: Immer wie- hörte so manche(r) «aus dem Antikohl- und der Skins und andere Rechtsextremisten, die Allianzblock […] zu jenen, die ihre Haut hinge- die Leute mit Schlägen terrorisieren, versu- halten haben, als es noch den Kopf hätte kos- chen DDR-Fahnen zu entreißen und zu zer- ten können – aber nicht für den Austausch des stören. Vier ‹echte deutsche› Jungs verprü- stalinistischen Betonkopfes gegen einen rech- geln ein Mädchen, das sich aus dem Block ten Hohlkopf».89 Nicht wenige, die sich früh- herausgelöst hatte. Einer zückte sein Mes- zeitig für eine Öffnung, ja für radikale Refor- ser; ein SMH-Wagen [Schnelle Medizinische men eingesetzt hatten, fürchteten nunmehr, Hilfe; H.M.] verließ mit Blaulicht den Wahl- dass den basisdemokratischen Strömungen kampfort. Als etwa 60 junge Leute an dem die Auswirkungen des vielfältigen Engage- linken Kommunikationszentrum ‹Trude› an- ments, der erarbeiteten Konzepte, der Diskus- gekommen waren, sahen sie sich einer et- sionen zunehmend entgleiten würden. wa 70 Mann starken und zornigen Naziban- Zwar hatte Michael Mäde (VL Berlin) gegen- de gegenüber. Bei der folgenden einseitigen über dem telegraph unterstrichen,90 dass die Steinschlacht gingen u. a. auch die Scheiben Teilnahme des Aktionsbündnisses Vereinigte der MVZ [die Mecklenburgische Volks-Zei- Linke (AVL), so der Name des VL-Bündnisses tung war gerade erst nebenan eingezogen; mit den Nelken,91 an den Wahlen zur Volks- H.M.] zu Bruch. Auf der linken Seite ließ kammer vorrangig dazu diene, ihr basisdemo- 58 «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann»

kratisches Programm breiter bekannt zu ma- deren ab Juli gemeinsame Ausgabe Bürger- chen, dennoch bedeutete das Ergebnis des rat/plattFORM beschränkte und jenseits der Urnengangs neun Tage nach Kohls Auftritt in Printpublikationen von Wahlkampfvorberei- Rostock nicht allein für die VL eine zweifache tungen geprägt blieb. Statt einer weiteren Fo- Niederlage: Die SED – die sich zuvor bereits in kussierung der Bildung rätedemokratischer (SED)PDS umbenannt hatte – war zwar abge- Strukturen zwang die Dynamik der Ereignis- wählt worden, einzugestehen war allerdings, se offenbar auch die VL letztlich in einen mehr dass eine Auflösung der DDR kaum noch zu oder weniger permanenten Wahlkampf. Gele- verhindern war und die Bürgerbewegungen gentlich finden sich in der Überlieferung noch selbst in diesem Prozess allenfalls die Rolle Einladungen zu Versammlungen oder Vorbe- von Statist*innen spielen würden. Denn von reitungstreffen, doch kaum Konzeptdiskussio- den 400 Mandaten der künftigen Volkskam- nen, die zu Beginn dominant waren.97 War der mer fielen lediglich 21 an ihre Kandidat*innen, Bürgerrat als Mitteilungsblatt der Vereinigten die vier Abgeordneten des Aufbruchs hatten Bürgerinitiativen für einen neuen Sozialismus sich bereits mit der Allianz dem Weg zur «Ein- entstanden,98 so wurde die plattFORM von ei- heit» verschrieben.92 Deutlich hatte das Vo- nem deutlich breiteren Bündnis getragen, 99 tum jenen Umschwung von einer Kritik des das von der VL bis hin zum Demokratischen Regimes hin zur offenen Forderung nach Ver- Aufbruch annähernd dem gesamten Spek­ einigung innerhalb der wenigen Wochen zwi- trum der Bürgerbewegung in der Hansestadt schen Maueröffnung und Wahlsonntag doku- ein Forum bot.100 In den beiden Zeitungen mentiert.93 selbst zeichnete sich die genannte Dynamik allerdings zunächst nur bedingt ab. «Tschüss!» So dokumentierte die plattFORM im März Die Bürgerbewegung trat kaum zwei Mona- 1990 unter anderem den Skandal um den te später zu den Kommunal- und bald darauf Stadtschulrat Bendlin ausführlich, der ver- noch einmal zu Landtags- und Bundestags- sucht hatte, zahlreiche Mitarbeiter*innen des wahlen an, zuweilen in neuen Bündnissen; MfS am Runden Tisch vorbei in den Schul - Rostocks neuer (Interims-)Oberbürgermeis- dienst zu überführen,101 und kritisierte eben- ter Kleemann zeigte sich unmittelbar im An- so den noch amtierenden Oberbürgermeister schluss an die Kommunalwahlen zuver - Schleiff, der wenig geeignet schien, den ange- sichtlich, «daß vor allem das Element der stoßenen Demokratisierungsprozess weiter- Bürgerbewegung auch in zehn Jahren noch zuführen oder überhaupt anzunehmen – stand im Rathaus Rostocks spürbar sein sollte»; 94 im Zentrum der Bürgerbewegung doch nicht und noch einmal knapp eine Woche darauf zuletzt die Forderung: «die Trennung in Herr- verbanden sich die einzelnen VL-Basisgrup- schende und Beherrschte»102 abzubauen. Am pen in den drei Nordbezirken zu einem Lan- 2. April war in der plattFORM noch eine Karika- desverband, um die gemeinsame Arbeit auch tur zum Ansturm der Zivilgesellschaft auf das formal zu konsolidieren95 – und trotzdem: Rathaus zu sehen, nicht einmal zwei Monate Praktisch hatte das Engagement den Zenit später kommentierte Axel Peters vom Neuen seines direkten gesellschaftlichen Einflus- Forum die Auflösung des Runden Tisches mit ses bereits überschritten.96 Das machte sich dem Versprechen weiterer Einmischung, soll- nicht zuletzt in den Überlieferungen der Ver- te die nun frei gewählte Stadtvertretung sich einigten Linken bemerkbar, die sich für den als unfähig erweisen, jene Demokratisierung Sommer vor dem 3. Oktober weitgehend auf weiter voranzutreiben.103 Im Selbstverständ- die Zeitungen Bürgerrat, plattFORM bzw. auf nis, ein wesentliches Medium dieser Pro - «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 59

Es war das resignierende Eingeständnis, dass die Dynamik der Ereignisse jene verbliebenen Mitstreiter*innen der Zei­ tung überholt und vom Zentrum an den Rand gedrängt hatte. zesse zu sein, versammelte die Zeitung auch vom Zentrum an den Rand gedrängt hatte. weiterhin ein breites Spektrum von Organi- Ebenso bissig wie die Karikatur der DDR-Ge- sationsmeldungen, kulturpolitischen Berich- sellschaft als Narr, der sowohl den SED-Staat ten, Artikeln zu sexueller Selbstbestimmung, als auch die basisdemokratischen Strukturen insbesondere von ökologischen und kommu- der Bürgerbewegung fallen lässt, fiel die Kritik nalpolitischen Vorschlägen sowie diverse Dis- des begleitenden Textes aus: Beim Regime- kussionsbeiträge.104 Mitglieder der Rostocker wechsel seien binnen eines guten Jahres all je- VL-Basisgruppe steuerten – neben den vielen ne Hoffnungen auf demokratische Erneuerung Karikaturen Walter Medlers und einigen Mel- von «unten», die die Engagierten zunächst be- dungen von Christoph Kelz zu den Zeitungen flügelt hatten, auf absehbare Zeit enttäuscht selbst – vor allem Artikel zur Kommunal- und worden. Ein wenig ratlos fragte sich ein Autor Landespolitik,105 zu Entwicklungen in der Be- auf Seite 8 schließlich: wegungs- und Parteienlandschaft,106 zu Ju- «Der Sieg des Kapitalismus über den Sozia- gendclubs107 und möglichen Positionen ge- lismus, der keiner war, ist zu glatt und per- genüber den Dynamiken der «Wende» 108 fekt. Das neue System der scheinbaren Frei- sowie dem weiteren Wahlkampfgeschehen heit ist tausendmal besser als das der gerade bei.109 Das konkrete Verhältnis der fragmen- überwundenen menschenverachtenden De- tierten Bürgerbewegung des Jahres 1990 ge- magogen, aber ist es die Lösung für die Zu- genüber der näher rückenden Vereinigung kunft? Ist es nur mein persönliches Problem, von Bundesrepublik und Deutscher Demo- unzufrieden zu sein, zu gerne würde ich wis- kratischer Republik blieb zwischen den Polen sen, was in gut 9 Jahren zur Jahrtausend- des Demokratischen Aufbruchs und des Neu- wende über den 3. Oktober 1990 in den Ge- en Forums einerseits und insbesondere der schichtsbüchern steht.»111 VL andererseits bis zuletzt von Ambivalenzen durchzogen: Während in der letzten Ausgabe Fazit der Zeitung Bürgerrat/plattFORM vom 5. Ok- Im Gegensatz zu den noch im Oktober 1990 tober 1990 eine Gesprächsrunde zu «Chan- formulierten Hoffnungen resümierte das ein- cen für ein bürgerbewegtes Mecklenburg/ zige deutlich später entstandene Dokument in Vorpommern» noch eine «Periode außerpar- den Überlieferungen der Vereinigten Linken lamentarischer Arbeit» prognostizierte,110 hob Rostock – ein Bericht der Jungen Welt über eine «Anzeige» auf dem Titelblatt der Zeitung die formale Auflösung der VL im Jahr 2013 –, auf den umstandslosen Übertritt in kapitalisti- die Dynamiken gesellschaftlicher Desintegra- sche Verhältnisse ab – erinnert wurde dort an tion seien dafür verantwortlich gewesen, dass das Leid auf einem Großteil des Planeten, von die meisten VL-Basisgruppen bereits gegen dem sich die DDR-Gesellschaft nunmehr le- Ende des Jahres 1990 im Verschwinden be- diglich durch den Anschluss an die Seite der griffen waren.112 Ausbeutenden freigekauft habe (siehe Dok. 7). Obschon dieses Urteil stark vereinfachend Es war das resignierende Eingeständnis, dass und in seinem Blick zu einseitig erscheint, so die Dynamik der Ereignisse jene verbliebenen traf es doch möglicherweise ungewollt ei- Mitstreiter*innen der Zeitung überholt und nen zentralen Aspekt: Die VL war offenkun- 60 «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann»

dig – wie viele andere Organisationen – nicht Mecklenburg-Vorpommern bislang deutlich in der Lage, sich in dem komplexen Geflecht unterrepräsentierten, auch historiographisch zunehmend konkurrierender Strömungen der weitgehend marginalisierten Aspekt dieses Bürgerbewegung und der neu entstehenden Moments eines gesellschaftlichen Aufbruchs Parteienlandschaft dauerhaft zu erhalten. Al- frei: den kurzen Frühling im Herbst 1989, der lerdings hatte nicht zuletzt Thomas Klein wie- in den ersten Monaten ein Experimentierfeld derholt darauf aufmerksam gemacht, dass die unterschiedlichster Ansätze möglichst herr- Marginalisierung der Vereinigten Linken nicht schaftsarmer gesellschaftlicher Strukturen erst nach dem 3. Oktober 1990 eingesetzt war, zu denen das basisdemokratische Modell habe, sondern bereits mit der Jahreswende der VL zählte. Gerade die hier nur am Rande be- 1989/90, mit dem Umschwung in den Forde- rücksichtigten Konzeptdiskussionen, in denen rungen der Massendemonstrationen und ei- um Fragen nach einer Übersetzung komplizier- nes Teils der bewegten Bürger*innen.113 Das ter gesellschaftlicher Diagnosen und Perspek- gilt, wenn auch zeitlich etwas verzögert, eben- tiven in eine kommunizierbare Form gerungen so für den vermeintlich «roten Norden» und wurde, bieten dabei Einblicke in das durchaus spiegelt sich in dem hier untersuchten Korpus heterogene Spektrum einer Kritik von links am überlieferter Dokumente. real existierenden Sozialismus ostdeutscher Diese Überlieferungen der Vereinigten Lin- Provenienz, die bis in die Gegenwart tatsäch- ken in Rostock legen den Blick auf einen in lich, wie die Junge Welt rückblickend formu- den Betrachtungen zu 1989/90 nicht allein in lierte, «weitgehend ungehört» blieb.

1 Das Bonmot wird dem umstrittenen französischen Künstler Francis In diesem Sinne bestehe eine grundsätzliche Lehre aus dem konter- Picabia zugeschrieben; vgl. Picabia, Francis: Unser Kopf ist rund, da- revolutionären Aufruhr in Peking sowie der gegenwärtigen Hetzkam- mit das Denken die Richtung wechseln kann. Aphorismen, Hamburg pagne gegen die DDR und andere sozialistische Staaten darin, unbe- 1985, S. 17. 2 Einen Versuch mit Blick auf die entstehenden Struktu- irrt an den Grundwerten des Sozialismus festzuhalten und gleichzeitig ren in Rostock unternahm, auch mit Bezug auf die Vereinigte Linke: die sozialistische Gesellschaft ständig weiter zu vervollkommnen. Das Schmidtbauer, Bernhard: Tage, die Bürger bewegten. Eine Chronik könne aber nur mit der Durchsetzung der führenden Rolle der Arbei- des Umbruchs in Rostock vom August 1989 bis zum Oktober 1990 terklasse und ihrer Partei geschehen» (China steht fest an der Seite (Dokumente des Rostocker Umbruchs, Bd. 1), Rostock 1991. Wenig der SED und der DDR, in: Ostsee-Zeitung vom 10.10.1989, S. 1). 7 In später in systematisierter Form auch als dessen Dissertation erschie- durchaus autobiografischen Reflexionen beschrieben dies u. a. Pou- nen: Schmidtbauer, Bernhard: «Im Prinzip Hoffnung» – Die ostdeut- trus, Patrice G.: Noch eine Vergangenheit, die nicht vergeht. Mein sche Bürgerbewegung und ihr Beitrag zum Umbruch 1989/90. Das schwieriger Weg vom Zeitzeugen zum Zeithistoriker, in: Heitzer, Enri- Beispiel Rostock, Diss., Universität Rostock 1996. Als Standardwerk co (Hrsg.): Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe der DDR. Plädoyer für für die Entwicklungen in den drei Nordbezirken gilt Langer, Kai: «Ihr einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung, sollt wissen, daß der Norden nicht schläft …». Zur Geschichte der a.M. 2018, S. 276–291, hier S. 277 f.; Mau, Steffen: Lütten «Wende» in den drei Nordbezirken der DDR (Quellen und Studien aus Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Frank- den Landesarchiven Mecklenburg-Vorpommerns), Bremen furt a.M. 2019, S. 1, 113–116. 8 Ein Beispiel für die zuweilen aufwen- 1999. 3 Zunächst als «Initiative für eine Vereinigte Linke» gegründet, dige Prozedur zur chronologischen Ordnung bietet die erste Stichpro- findet sich im Zuge struktureller Konsolidierung vielfach lediglich die be, zur Entstehung der Rostocker VL. 9 Wenngleich kein explizites Bezeichnung «Vereinigte Linke». Beide Bezeichnungen werden im Gründungsdokument des Wahlbündnisses in den bearbeiteten Un- Folgenden synonym behandelt. 4 Statut der Vereinigten Linken, in: terlagen enthalten ist, findet sich dort doch eine Einladung des VL-Lan- Archiv der Vereinigten Linken Rostock [im Folgenden: ArchVL desgeschäftsführers und Mitglieds im Sprecherrat, Harry Körber, zu Rostock], DDR-weite Koordination II/1,1. 5 Die VL hatte zwar eine einem Treffen am 25. August 1990, in der er die Entscheidung für das umfangreiche Neuverteilung gesellschaftlicher Herrschaft anvisiert, Zusammengehen folgendermaßen charakterisierte: «Da wir es so ge- sich jedoch gegen ein Zusammengehen mit der Bundesrepublik stets wollt haben und es wohl auch für uns eine Chance ist, aus unserem verwahrt. Rückblickend reflektierte diese Entwicklung u. a. Klein, Tho- Alltagstrott herauszukommen, werden wir nun mit den Grünen und mas: Linke in Deutschland. Versuch einer Bilanz nach 20 Jahren, in: dem Bündnis 90 (Demokratie Jetzt, UFV, IFM) als Mitglied letzteren telegraph 120–121/2009, unter: http://telegraph.cc/archiv/tele- Bündnisses zur Wahl antreten. Mit vollem Namen, was zum einen ein graph-120-121/linke-in-deutschland-versuch-einer-bilanz-nach-20- Gewinn ist gegen alle ‹Linksgegner› in den genannten Gruppierungen, jahren/. Mit Abstrichen auch: Bedszent, Gerd: Weitgehend ungehört, was aber auch eine Gefahr ist, zu stark in eine Befürwortung des neu in: Junge Welt vom 22.10.2013. 6 Eine Durchsicht von Reaktionen etablierten Systems hineinzugeraten bzw. sich in der Kritik auf einge- in den Nordbezirken der DDR bietet Langer: Ihr sollt wissen [wie Anm. fahrene ökologische Gleise zu bewegen» (Körber, Harry: Rundschrei- 2], S. 145–150. Noch am 10. Oktober hieß es in einem Artikel auf der ben, in: ArchVL Rostock, VL-Basisgruppe Rostock I). 10 Die im Ver- Titelseite der Ostsee-Zeitung anlässlich des Besuchs einer chinesi- lauf der Ordnungsarbeiten aufgetretenen Hinweise auf weitere schen Delegation in Berlin: «Die Gesprächspartner stimmten darin Doku­men­ten­sammlungen in Güstrow und Schwerin werden dieses überein, daß in der Gegenwart ein besonders aggressives antisozia- Korpus mittelfristig zwar unter Umständen erheblich erweitern, lassen listisches Auftreten des imperialistischen Klassengegners mit dem sich jedoch vermutlich ebenfalls in den Bestand integrieren, ohne Ziel, die sozialistische Entwicklung umzukehren, zu beobachten sei. dabei eine fundamentale Veränderung an dessen Grundstrukturierung «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 61

vornehmen zu müssen. 11 Die Bezeichnung Mecklenburg-Vorpom- Hoffnung» [wie Anm. 2], S. 165–176. 19 Zur Verwendung des Revo- mern ist hier historisch etwas unscharf, da eine territoriale Gliederung lutionsbegriffs durch die VL siehe unten, Anm. 48. 20 Baudrillard in Bundesländer erst im Zuge der Vereinigung vorgenommen wurde. glaubte in den Demokratiebestrebungen in Mittel- und Osteuropa gar Zuvor existierte nicht ein Bundesland, sondern es gab die drei Nord- eine gewisse Parallele zum Jahr 1968 in der westlichen Welt zu erken- bezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg. Da die Überliefe- nen; vgl. Baudrillard, Jean: The Illusion of the End, Stanford, CA 1994, rungen sich teilweise dieser (zeitlichen) Einteilung entzogen, wird hier S. 38. 21 Fixiert war dieser «Führungsanspruch» seit 1968 in Artikel auf die spätere Bezeichnung zurückgegriffen; vgl. Mrotzek, Fred: Be- 1 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. 22 So wegende Anfänge. Die Neugründung des Bundeslandes Mecklen- war auch das spätere VL-Mitglied Bernd Gehrke bereits Ende der burg-Vorpommern – ein Sonderfall, in: Creuzberger, Stefan u. a. 1970er Jahre im Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften in die- (Hrsg.): Land im Umbruch. Mecklenburg-Vorpommern nach dem sem Kontext aufgefallen und mit Repressionen überzogen worden; Ende der DDR (Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert), Berlin vgl. Wielgohs, Jan: Die Vereinigte Linke. Zwischen Tradition und Ex- 2018, S. 11–22. Dass auch dieser Prozess keineswegs konfliktfrei ver- periment, in: Müller-Enbergs, Helmut u. a. (Hrsg.): Von der Illegalität lief, betonte u. a. Langer: Ihr sollt wissen [wie Anm. 2], S. 246– ins Parlament. Werdegang und Konzepte der neuen Bürgerbewegung. 248. 12 Da die letzte Dokumentengruppe über verhältnismäßig we- 2. Aufl., Berlin 1992, S. 283–306, hier S. 284. Thomas Klein, später nige Unterlagen verfügte, ist hier zunächst von einer weiteren zeitweiliges Mitglied der Volkskammer der DDR, wurde im Juni 1989 Ausdifferenzierung abgesehen worden. 13 Vgl. zur Entstehung der durch das MfS gar zum Kreis der wesentlichen «Initiatoren/Organisa- Zeitungen die abschließende Stichprobe sowie den Beitrag von Chris- toren» der Opposition im Land gezählt; zit. nach: Mitter, Armin/Wolle, toph Kelz in diesem Band. 14 Zusammenfassend zu dieser Erzählung Stefan (Hrsg.): »Ich liebe euch doch alle!« Befehle und Lageberichte jüngst neben den instruktiven Darstellungen Jarauschs: Sabrow, Mar- des MfS. Januar–November 1989, Berlin 1990, S. 48. 23 Zwar tin: «1989» als Erzählung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 35– stammten einige ihrer Mitglieder aus den Bereichen der Lateinameri- 37/2019, S. 25–33; Jarausch, Konrad H.: Beyond the national narrati- kawissenschaften, der Germanistik und Mathematik, doch betont ve, in: Historical Social Research 24/2012, S. 327–346; Jarausch, Schmidtbauer: «Im Gegensatz zu allen anderen Bürgerbewegungen Konrad H.: Die Krise der nationalen Meistererzählungen, in: Historical ist bei der VL das Verhältnis zwischen Intelligenz u. a. Berufen ausge- Social Research 24/2012, S. 273–291. 15 Zwar existieren Beiträge wogener, obwohl sich in Rostock die meisten Mitglieder noch in der zur Vereinigten Linken in mehreren Werken zur Oppositionsbewegung Ausbildung befanden. Trotzdem ist der relativ hohe Anteil von Fach- in der DDR; gerade in einigen regionalen Arbeiten ist ihre Aussparung arbeitern auffällig» (Schmidtbauer: «Im Prinzip Hoffnung» [wie Anm. hingegen auffällig. Während Schmidtbauer und Langer deren Engage- 2], S. 168). An der Rostocker Universität hatten sich ganz unterschied- ment zum Teil umfassend dokumentierten, ist in einem rückblicken- liche Gruppierungen herausgebildet, die auf zum Teil umfangreiche den Sammelband des universitätseigenen Verlages kein Beitrag zur Veränderungen drangen. Es gab vielfältige Kontakte untereinander VL zu finden und eine Fotoausstellung der Dokumentationsstelle in und auch zur VL, doch bildeten sie zu keinem Zeitpunkt einen Kern der der ehemaligen Rostocker Untersuchungshaftanstalt des MfS kennt hier betrachteten Organisation; vgl. u. a. die Aufrufe in der Rostocker diese Organisation offenbar nicht. Archivar Bodo Keipke dagegen er- Universitätszeitung vom 31.1.1990. 24 Auf die anhand der Überlie- wähnt die VL im Kontext der entstehenden Bürgerbewegung; vgl. ferungen schwer rekonstruierbare Gründungsgeschichte der VL- Universität Rostock (Hrsg.): Herbst 89 – Die Wende in Rostock. Zeit- Rostock geht Christoph Kelz in diesem Band ein. 25 Auch die Flug- zeugen erinnern sich, Rostock 1999; Müller, Werner u. a. (Hrsg.): Bil- schrift «Böhlener Plattform», die als eine wesentliche Referenz früher der des Umbruchs. Katalog zur Fotoausstellung, Schwerin 2000; Texte der Rostocker Basisgruppe gedient haben dürfte, war im Sep- Keipke, Bodo: Die Wende und das Ende der DDR in Rostock. Oktober tember des Jahres erschienen; in offiziellen Verlautbarungen der 1989 bis Juni 1990, in: Schröder, Karsten (Hrsg.): Rostocks Stadtge- DDR-weiten Organisation ist die Gruppe aus Rostock bereits Anfang schichte. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Rostock 2013, Dezember erwähnt worden. Das Korpus selbst enthält zudem Doku- S. 351–362, hier S. 355. 16 Bormann, Beate: Für ein «linkes Doku- mente zur Gründung von Basisgruppen in Güstrow und Erfurt; sie mentationszentrum», in: ArchVL Rostock, DDR-weite Koordination wurden in einem ersten Zeitungsartikel ebenso wie in frühen Veröf- II/1,2, fol. 2, S. 1. 17 Ebd.; Bormann, Beate: Liebe Freunde!, in: fentlichungen der DDR-weiten Struktur nicht erwähnt, aber zumindest ­ArchVL Rostock, DDR-weite Koordination II/1,2. Das Schreiben der der Güstrower Gruppierung war wohl auch die Existenz einer Gruppe Berliner*innen dürfte einem breiteren Publikum in Rostock vor allem in Rostock zunächst unbekannt bzw. wurde geflissentlich übergan- infolge der Veröffentlichung in der Zeitung plattFORM bekannt gewor- gen, gab diese doch als Kontakt ein Postfach an, das souverän «Meck- den sein; Bormann, Beate: Für ein «linkes Dokumentationszentrum». lenburger ‹Vereinigte Linke›» heißen sollte; vgl. Böhlener Plattform. in: plattFORM vom 20.3.1990, S. 8; auch abgedruckt in einer Sonder- Mitteilung über ein Treffen von Vertretern verschiedener Tendenzen, ausgabe der Zeitschrift Die Aktion im Jahr 1990; vgl. Geschichtsgrup- in: Die Aktion 60–63/1990, S. 936–942; Vereinigte Linke: Was will die pe der «Initiative für eine Vereinigte Linke»: Zur Gründung eines Ar- Vereinigte Linke?, in: ebd., S. 934–936; Vereinigte Linke Mecklenburg/ chivs vom 18. November 1989, in: Die Aktion 60–63/1990, S. 961 f. Güstrow: Aufruf der «Vereinigten Linke» Mecklenburg/Güstrow, in: Einen breiteren Blick auf die Geschichte(n) linker Oppositionen gegen ArchVL, VL-Basisgruppen in «Mecklenburg-Vorpommern» I/2,3; Ini- die stalinistische DDR findet sich u. a. in den Veröffentlichungen Tho- tiativgruppe Erfurt «Für eine Vereinigte Linke»: Aufruf zur Bildung der mas Kleins und jüngst auch Bernd Gehrkes; vgl. Klein, Thomas: «Für Vereinigten Linken Erfurt, in: ArchVL Rostock, Basisgruppen außer- die Einheit und Reinheit der Partei». Die innerparteilichen Kontroll­ halb «Mecklenburg-Vorpommerns» II/2,2. Schmidtbauer datierte den organe der SED in der Ära Ulbricht, Köln 2002, unter: https://zeitge- Aufruf (siehe Dok. 4) gar auf Oktober, gab allerdings an, dass dieser in schichte-digital.de/doks/frontdoor/deliver/index/docId/1022/file/ der Zeitung Der Demokrat erschienen sei; in der Ostsee-Zeitung ist der klein_einheit_reinheit_partei_2002_de.pdf). Vgl. auch Gehrke, Bernd Text am 1. Dezember 1989 veröffentlicht worden. Gleichzeitig bleibt u. a. (Hrsg.): «… Feindlich-negative Elemente …». Repression gegen festzuhalten, dass auch die VL sich in Rostock wohl in der Phase einer linke und emanzipatorische Bewegungen in der DDR, hrsg. von der «Konstituierung» der Bürgerbewegung herausbildete; vgl. Schmidt- Rosa-Luxemburg-Stiftung, Materialien 29, Berlin 2019, unter: www. bauer: «Im Prinzip Hoffnung» [wie Anm.2], S. 71, 171; Schmidtbauer, rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Materialien/Materialien29_ Bernhard: Dokumente des Rostocker Umbruchs. Ausgewählte Doku- feindl-negative_Elemente.pdf. 18 Hierbei ist allerdings gleichsam mente zur Chronik des Umbruchs in Rostock vom August 1989 bis nicht von einer bloß strategischen Übernahme populärer Inhalte aus- zum Oktober 1990. Rostock 1991 (Tage, die Bürger bewegten, Bd. 2), zugehen, vielmehr hatten die Mitglieder der VL selbst nicht selten S. 15. Der Umstand, dass mehrere Aktivist*innen der VL den «Aufruf einen politischen Hintergrund in Diskussionszusammenhängen ver- zu Vereinigten Bürgerinitiativen für einen neuen Sozialismus» Ende schiedenster ökologischer Strukturen. Neben dem Beitrag von Chris- November nicht mit einer Organisationsbezeichnung unterzeichne- toph Kelz in diesem Band widmete sich insbesondere Bernhard ten, dürfte zu vernachlässigen sein; vgl. ebd., S. 45–48; ebenfalls ab- Schmidtbauer in seiner Dissertation einer ersten Sichtung der politi- gedruckt in der ersten Ausgabe der Rostocker Zeitung Bürgerrat vom schen Ausrichtung auch der VL in Rostock; Schmidtbauer: «Im Prinzip 7.12.1989, S. 7. 26 Aufruf der Rostocker Initiative Vereinigte Linke, 62 «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann»

in: Ostsee-Zeitung vom 1.12.1989, S. 8. Wortgleich hatte diesen Text der Gruppe ergeben haben. Denn gerade der geringe Altersdurch- auch die Güstrower VL-Basisgruppe als Aufruf veröffentlicht: Verei- schnitt der Mitglieder lässt eine effektive Mobilisierung in den Betrie- nigte Linke Mecklenburg/Güstrow [wie Anm. 25]. 27 Den Überliefe- ben als wenig aussichtsreiches Unterfangen erscheinen. In seiner rungen hierzu widmet sich insbesondere der nachfolgende Ab - Aufstellung zur sozialen Zusammensetzung der 53 von ihm erfassten schnitt. 28 Siehe oben, Anm. 25. 29 Zwar hatte die Volkskammer Mitglieder betont Schmidtbauer, «dominierten eindeutig die Alters- am 18. November 1989 einer Umbenennung in Amt für Nationale gruppen unter 18 Jahren» (Schmidtbauer: «Im Prinzip Hoffnung» [wie Sicherheit (AfNS) zugestimmt, womit zugleich eine Beschränkung Anm. 2], S. 168). Den Hinweis zum Hintergrund dieser Erweiterung des Apparats verbunden war, und beendeten die Besetzungen der ihrer Praxis verdanke ich Christoph Kelz. 44 Insbesondere ein mit MfS-Zentralen in Erfurt, Rostock, Leipzig und Suhl dessen nicht zuletzt Zeichnungen Walter Medlers versehenes Programm für die Kommu- mit der Vernichtung von Unterlagen ausgefüllte Aktivitäten, allerdings nalwahlen orientierte auf ein stark erweitertes politisches Feld; vgl. war damit, wie auch die Bürgerbewegung betonte, die Maschinerie Vereinigte Linke Rostock: Kommunalpolitische Alternativen. Weil man des MfS noch keineswegs endgültig zerschlagen – Versuche der Mo- Zukunft nicht wählen kann, sondern gestalten muß, in: ArchVL drow-Regierung, auch das neue Amt durch einen weiteren Namens- Rostock, VL-Basisgruppe Rostock I/2,2; Vereinigte Linke: Was will die wechsel zu sichern, waren deshalb von erneuten Protesten begleitet. Vereinigte Linke? (1) [wie Anm. 25]. 45 Die VL selbst hütete sich al- Im Januar wurde schließlich die Fortführung der Arbeiten in der Ber- lerdings, diesen Terminus zu benutzen. Einerseits bestand ihre politi- liner Normannenstraße qua Besetzung beendet. Die VL kritisierte eine sche Programmatik – jenseits fundamentaler demokratischer Umge- Veröffentlichung der Volkspolizei in der Ostsee-Zeitung, in der sie noch staltungen – eher in tief greifenden Reformen als revolutionärer Verve, am 17. Januar 1990 zur Denunziation politischer «Extremismen» auf- andererseits vermochten ihre Akteur*innen im Engagement bewegter rief; Kontakttelefon 03862470, in: Ostsee-Zeitung, vom 17. Januar Bürger*innen kaum Revolutionäres zu entdecken. Für diesen Hinweis 1990, S. 2. Die Reaktion der VL erfolgte umgehend: Kelz, Christoph: bin ich Christoph Kelz und Erhard Weinholz zu Dank verpflichtet. An- Links und Rechts zur Jagd freigegeben?, in: Ostsee-Zeitung vom dere Organisationen führten diese Begrifflichkeit frühzeitig im Munde. 21.1.1990, S. 2. Zum Ende der Tätigkeiten des MfS in den drei Nord- Während westdeutsche Intellektuelle etwa eine «nachholende Revo- bezirken vgl. Höffer, Volker: «Der Gegner hat Kraft». MfS und SED im lution» am politischen Horizont zu entdecken hofften, diskutierten Bezirk Rostock (Die Entmachtung der Staatssicherheit in den Regio- auch verschiedene Bewegte in Rostock in den Blättern Bürgerrat und nen), Berlin 1997, S. 47–58, unter: www.nbn-resolving.org/urn:nbn:- plattFORM wiederholt über eine adäquate Deutung der Herbstereig- de:0292-97839421306229; Frank, Rahel u. a.: Die Auflösung. Das nisse. Stichwortgebend, wenn auch später publiziert: Habermas, Jür- Ende der Staatssicherheit in den drei Nordbezirken, Schwerin gen: Die nachholende Revolution. Frankfurt a.M. 1990. 46 Siehe 2010. 30 Klein, Thomas: Thesen zur politischen Systemanalyse real- hierzu den nachfolgenden Abschnitt. 47 In einer eher informellen sozialistischer Gesellschaften am Beispiel der ehemaligen DDR, in: Diskussionsrunde im Spätherbst 2019 nahmen mehrere Mitglieder ArchVL Rostock, DDR-weite Koordination II/1,2, fol. 3, S. 1. 31 Das der Rostocker VL den nationalistischen Umschwung als Bruch wahr, zunehmend bekannte Kommunikationszentrum wurde, wie es in einer doch erscheint der 9. März ihnen lediglich als ein – wenn auch heraus- Art Nachruf hieß, am 16. Dezember 1989 besetzt; siehe unten, Anm. stechendes – Datum, an dem sich diese Erfahrung festmach- 89. Vgl. Vereinigte Linke Rostock: Was will die Vereinigte Linke? (1), te. 48 Hans-Peter Schwarz beschrieb dieses Bündnis in seiner um- in: ArchVL Rostock, VL-Basisgruppe Rostock I/2,1. 32 Vgl. Vereinig- fangreichen Kohl-Biografie als Erfindung und Machwerk der (West-) te Linke Rostock: Was will die Vereinigte Linke? (2), in: ebd. 33 Vgl. CDU unter ihrem Kanzler in der Hoffnung, auf diese Weise und in aller Vereinigte Linke Rostock: Was will die Vereinigte Linke? (3), in: ebd. Eile «mit den noch rudimentären, aber moralisch glaubwürdigen neu- Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass bereits Mitte Dezember en Parteien [sic!] aus der Bürgerbewegung […] so etwas wie den mo- Vorformen dieser Version in Umlauf kamen. Schmidtbauer beispiels- ralischen Schwung der friedlichen Revolution vom Herbst 1989 auf­ weise datiert diese Version auf «Dezember 1989»; Schmidtbauer: [zufangen]» und mit dem politischen Gewicht seiner Person zu Tage, die Bürger bewegten (2) [wie Anm. 25], S. 91. In diese bald verbinden (Schwarz, Hans-Peter: Helmut Kohl. Eine politische Biogra- «Haus der Demokratie» genannte Adresse zogen ab dem 13. Januar phie. 2. Aufl., München 2012, S. 544). Wenngleich die Allianz das 1990 mehrere Gruppen aus dem breiten Spektrum der Bürgerbewe- offensiver betrieb, auch andere Parteien schickten Westprominente gungen. 34 Vereinigte Linke Rostock: Was will die Vereinigte Linke? (z. B. Willy Brandt) in den Volkskammer-Wahlkampf; vgl. Wunnicke, (1) [wie Anm. 31], S. 1. 35 Klein: Thesen [wie Anm. 30], Christoph: Harald Ringstorff – von der Werft in die Staatskanzlei. Mi- S. 2. 36 Ebd. 37 Vereinigte Linke Rostock: Was will die Vereinigte nisterpräsident in Mecklenburg-Vorpommern, Bonn 2018, S. 38; Sold- Linke? (1) [wie Anm. 31], S. 1. 38 Verhaltener ist dies in der Einleitung wisch, Ines: Parteien im Umbruch. Zur Geschichte der Liberalen und des «Aufrufs» in der Ostsee-Zeitung formuliert. Die SED habe eine Christdemokraten 1989/90, in: Creuzberger u. a. (Hrsg.): Land im Um- «Apparatherrschaft praktiziert, die möglicherweise in einer bestimm- bruch [wie Anm. 11], S. 70–87, hier S. 79 f. 49 Abgedruckt findet sich ten historischen Phase eine Berechtigung hatte, die aber nicht das Ziel dieses Plakat in: Langer: Ihr sollt wissen [wie Anm. 2], S. 260. 50 Der einer sozialistischen Revolution sein kann» (Aufruf der Rostocker Ini- Autor einer jüngeren Betrachtung inzwischen erschlossener Akten zu tiative Vereinigte Linke [wie Anm. 25]). 39 Vereinigte Linke Rostock, dieser Tätigkeit Schnurs sieht in den seit Januar 1990 intensiver wer- Was will die Vereinigte Linke? (1) [wie Anm. 31]. 40 Ansätze einer denden Gerüchten und dem Fund eine gezielte Aktivität des MfS ge- Mobilisierung in diesem Bereich bot ein knapper Bericht über die Bil- gen ihren ehemaligen «Spitzenspitzel»; vgl. Kobylinski, Alexander: Der dung von Selbstvertretungen der Arbeitnehmer*innen im VEB Boots- verratene Verräter. Wolfgang Schnur: Bürgerrechtsanwalt und Spit- bau Eikboom, an denen auch ein Mitglied der VL-Rostock beteiligt zenspitzel, Halle an der Saale 2015, S. 353–361. Arvid Schnauer betont war; vgl. Falk, Wolf: Für eine eigenständige Interessenvertretung der in seinem Rückblick zwar, dass der Untersuchungsausschuss notwen- Werktätigen, in: ArchVL Rostock, VL-Basisgruppe Rostock I/2,2. – dig auf unterschiedlichen Ebenen mit Mitarbeiter*innen des MfS Kon- Auch in den Wahlkämpfen des folgenden Jahrs entstanden mehrere takt hatte, auf ein gezieltes Durchstechen von Informationen im Fall lokale Flugblätter, die explizit auf derartige Entwicklungen orientierten, Schnurs findet sich dort allerdings kein Hinweis; vgl. Schnauer, Arvid: wohingegen sich die gemeinsame Wahlkampfzeitung anlässlich der DDR-Unrecht wiedergutmachen – neues Unrecht aufdecken, Berlin Volkskammerwahlen vorrangig mit der Frage der Souveränität der 2019, S. 118–125. 51 Vgl. Schmidtbauer: Tage, die Bürger bewegten DDR und den möglichen Folgen einer Vereinigung beschäftigte. Ver- (1) [wie Anm. 2], S. 124; Kobylinski, Der verratene Verräter [wie Anm. einigte Linke Rostock: Belegschaftsrechte vor Unternehmerprivile­ 50], S. 358 f. Schnur selbst hielt sich zu diesem Zeitpunkt bereits infol- gien, in: ebd.; Vereinigte Linke/Die Nelken: Wahl aktuell, in: ArchVL ge eines Kreislaufzusammenbruchs im Krankenhaus auf. Hatte Volker Rostock, DDR-weite Koordination II/1,2. 41 Vgl. Böhlener Plattform Rühe im Januar, als erste Briefe an den Berliner Runden Tisch ver - [wie Anm. 25], S. 939. 42 Vereinigte Linke Rostock: Was will die Ver- schickt wurden, die Schnur belasteten, noch vom Stile einer «schäbi- einigte Linke? (1) [wie Anm. 31], S. 2. 43 Vereinigte Linke Rostock: ge[n] alte[n] Stasi-Methode des Ehrabschneidens» gesprochen, taten Was will die Vereinigte Linke? (2) [wie Anm. 32]. Gleichzeitig dürfte sich seine Parteikolleg*innen angesichts des Dilemmas zwischen sich diese Anpassung zumindest teilweise aus der politischen Praxis Wahlkampf – Schnur galt bis dahin als aussichtsreicher Kandidat auf «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 63

den Posten des Ministerpräsidenten – und dem Aktenfund schwer, Rostock: Demonstrieren gegen eine Vereinnahmung, in: Ostsee-Zei- die Konsequenzen unmittelbar zu formulieren, hätten Schnur aller- tung vom 15.12.1989. 68 Ebd., Hervorh. im Original. 69 Initiative für dings umgehend angeraten, seine Kandidatur niederzulegen; vgl. eine Vereinigte Linke Halle: Anti-KOHL-Demonstration [wie Anm. «Das war ’ne Top-Quelle», in: 11/1990, S. 18–22. Zum 64]. 70 So hatte beispielsweise die Berliner VL im Februar 1990 noch Rückzug Schnurs erwähnt Schwarz vor allem die Initiative Rühes, der einmal via Flugblatt unterstrichen, worin für sie die zentralen Gefahren den diskreditierten Anwalt Schnur «mit Brachialgewalt zum Rücktritt» der kritisierten «Kohlonisierung» bestanden. Jenseits der auch durch genötigt habe (Schwarz: Helmut Kohl [wie Anm. 48], S. 554). 52 Der den Druck von außen vorverlegten Volkskammerwahlen orientierte durchaus wohlwollende Kohl-Biograf Schwarz nannte diese Zahlen das Flugblatt vor allem auf die Form der angestrebten «Wiederverei- aus Erfurt und Leipzig, der Auftritt in Rostock fand keine Erwähnung; nigung»: «Und er [Kohl] hat es fertiggebracht, einen Deutschlandplan vgl. Schwarz: Helmut Kohl [wie Anm. 48], S. 554. 53 Keipke spricht vorzulegen, in dem für die wunderbare Deutsche Einigkeit soziale vorsichtiger vom «kühlen Norden» (Keipke: Die Wende und das Ende Sicherheit und Mitbestimmung der Werktätigen unter den Tisch rut- der DDR in Rostock [wie Anm. 15], S. 354). Bei Langer heißt es: «Le- schen sollen. Perspektive für uns kurz zusammengefaßt: Vom Regen gende vom ‹roten Norden›» (Langer: Ihr sollt wissen [wie Anm. 2], in die Jauche» (Vereinigte Linke Berlin: Helmut Kohls große Angst, S. 268. 54 Sindermann, Jürgen: Wahlkampf, Fotografie vom 9. März Berlin, Februar 1990, in: SAPMO-BArch, SGY 20/38, Zusammen - 1990, in: Bundesarchiv, Bilddatenbank, Bild 183-1990-0309- schluß linker Organisationen und Personen in der Vereinigten Linken, 024. 55 Schätzen Sie mal, in: plattFORM vom 20.3.1990, Bl. 133). 71 Vgl. Langer: Ihr sollt wissen [wie Anm. 2], S. 220 f. Ob- S. 2. 56 Schmidtbauer: Tage, die Bürger bewegten (1) [wie Anm. 2], wohl die Staatssicherheit bestrebt war, die Proteste als revanchistisch S. 124. 57 Der Farb- sowie monochrome Druck deutet auf eine rela- zu diffamieren, meldete sie bis Ende November keine Losungen aus tiv weite Verbreitung des Plakats hin, allerdings bin ich Christoph Kelz Rostock nach Berlin, die sich explizit auf eine Vereinigung bezogen. für den Hinweis dankbar, dass es wohl vor allem in den Städten pla- Allerdings sind von einer Demonstration in Rostock am 30. November katiert wurde, da es im ländlichen Raum unter Umständen missver- sowohl rassistische Parolen als auch erste Einheitsforderungen doku- ständlich erscheinen musste: Während Kohl als durchaus schmack- mentiert; vgl. Ammer, Thomas/Memmler, Hans-Joachim: Staatssi- haftes Gemüse gilt, verband sich mit Rüben eher die Assoziation zu cherheit in Rostock. Zielgruppen, Methoden, Auflösung, Köln 1991, Tierfutter. 58 Bei einem kurzfristig anberaumten öffentlichen Auftritt S. 40 f.; Schmidtbauer: Tage, die Bürger bewegten (1) [wie Anm. 2], vor dem Schöneberger Rathaus einen Tag nach der Grenzöffnung war S. 71 f. 72 Ein prominentes Beispiel war der zeitweilige Kandidat für Kohl heftiger Protest entgegengeschlagen; vgl. Bericht der Bundes- die Volkskammerwahlen Michael Mäde, der kurz vor der Wahl im In- regierung zur Lage der Nation im geteilten Deutschland, abgegeben terview mit der Berliner Zeitschrift telegraph allerdings auch von Span- von Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag, nungen innerhalb der VL mit Blick auf die Funktion von (ehemaligen) 8.11.1989, in: Europa Archiv 24/1989, S. D705–D715. Ausführlich Mitgliedern der SED-PDS sprach: So habe sein Beitritt zur Vereinigten auch: Schwarz: Helmut Kohl [wie Anm. 48], S. 530. 59 Der Text der Linken trotz paralleler Mitgliedschaft in den Reihen Modrows zunächst Rede ist abgedruckt in: Rede des Bundeskanzlers der Bundesrepublik keine Irritationen hervorgerufen, von der Kandidatur habe Mäde aller- Deutschland, Helmut Kohl, in Dresden am 19.12.1989, in: Europa dings Abstand genommen, da innerhalb der VL Gerüchte darüber Archiv 4/1990, S. D88–D90. 60 So das Motto der Demonstration: kursiert hätten, dass sein späterer Austritt aus der SED-PDS lediglich «Wir lassen uns nicht KOHLonisieren!»; vgl. Morgen zur Demonstra- zugunsten der Kandidatur vollzogen worden sei – Mäde selbst begrün- tion, in: Ostsee-Zeitung vom 18.12.1989, S. 8. 61 Initiative für eine dete ihn hingegen mit dem Agieren der Partei, insbesondere dem des Vereinigte Linke Halle: Anti-KOHL-Demonstration am 19. Dezember Ministerpräsidenten Modrow; vgl. Im Interview: Die Vereinigte Linke. 1989, in: ArchVL Rostock, Basisgruppen außerhalb «Mecklen- Gespräch mit Michael Mäde am 2.3.1990, in: telegraph 5/1990, unter: burg-Vorpommerns» II/2,2. Auch an dieser Stelle ist der Name des http: //telegraph.cc/archiv/telegraph-5-1990-15/im-interview-verei- Autors aus datenschutzrechtlichen Erwägungen gekürzt wor - nigte-linke/. 73 Morgen zur Demonstration [wie Anm. 60]. Offenbar den. 62 Wenngleich sich Gerber vorrangig der westdeutschen Linken versuchte auch die FDJ zur Demonstration zu mobilisieren, allerdings widmete; vgl. Gerber, Jan: Nie wieder Deutschland? Die Linke im Zu- aus anderen Gründen. So heißt es auf einem erhalten gebliebenen sammenbruch des «realen Sozialismus», Freiburg i.Br. 2010, S. 89– Anschlag: «Wir unterstützen den Aufruf der Vereinigten Linken zur 108. Zur Verortung der VL in der Bürgerbewegung in der DDR vgl. Demo am 19.12.1989 um 20.00 Uhr vorm Haus der Armee gegen Wielgohs: Die Vereinigte Linke [wie Anm. 22]. Dass sich zumindest ‹Kohl›-lonialisierung! Wir wollen keine arbeitslosen, drogensüchtigen, Teile der westdeutschen Linken für das Projekt VL interessierten, legt auf den Strich gehenden Jugendlichen! Keine Neonazis auf unseren neben dem Zeitungsbericht über eine Versammlung in Berlin insbe- Straßen! Darum kommt mit zur DEMO!» (FDJ-Kreisleitung Rostock- sondere eine Diskussionsveranstaltung in Hamburg am 6. April 1990 Stadt: Gegen Wiedervereinigung unter kapitalistischen Vorzeichen, nahe, im Rahmen derer Vertreter*innen der VL aus Rostock und in: ArchVL Linken Rostock, Assoziierte und andere Organisationen Schwerin angekündigt waren; vgl. DDR – Adé? Wie weiter mit der III). 74 Berliner demonstrieren für souveräne DDR, in: Ostsee-Zeitung Linken in DDR und BRD, in: ArchVL Rostock, Assoziierte und andere vom 20.12.1989, S. 1. 75 Berliner Großdemonstration zum Kohl-Be- Organisationen III; Rediske, Michael: Links ja, aber noch nicht verei- such, in: telegraph 10/1989, unter: http://telegraph.cc/archiv/tele- nigt, in: die tageszeitung vom 28.11.1989, S. 6; Wiedervereiniger von graph-10-1989-10/berliner-gegendemonstration-zum-kohl-be- Links, in: die tageszeitung vom 27.11.1989, S. 17. 63 Die weit über- such/. 76 Zehntausende Berliner für Souveränität der DDR, in: Neues wiegende Mehrheit ihrer Mitglieder forderte ebenfalls deutliche und Deutschland vom 20.12.1989, S. 1. 77 Diese Zahlenangabe findet zuweilen tief greifende ökonomische Reformen und die forcierte Idee sich sowohl in der Presseberichterstattung als auch in Schmidtbauers einer «Vereinigung» unter weitgehender Übernahme sozioökonomi- Zusammenstellung: Rostocks Linke gegen Wiedervereinigung, in: scher Strukturen der Bundesrepublik traf offenkundig selbst in den Ostsee-Zeitung vom 20.12.1989, S. 1; Schmidtbauer: Tage, die Bürger Reihen des Demokratischen Aufbruchs zunächst auf Unverständnis. bewegten (1) [wie Anm. 2], S. 91 f.; Langer nennt eine Zahl von 30.000 So erklärte Lothar de Maizière nach einem Treffen mit Volker Rühe Personen; vgl. Langer: Ihr sollt wissen [wie Anm. 2], S. 295. 78 Ver- (CDU) gegenüber Journalist*innen, ein solcher Prozess sei schwerlich einigte Linke Rostock: Demonstrieren gegen eine Vereinnahmung mit den eigenen Reformvisionen vereinbar; vgl. Schwarz: Helmut Kohl [wie Anm.69]. 79 Rostocks Linke gegen Wiedervereinigung [wie [wie Anm. 48], S. 540 f. Zu inhaltlichen Überschneidungen der Pro- Anm. 77]. 80 Ebd. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Kelz, Christoph: Rede grammatik von VL mit dem Neuen Forum und Demokratie Jetzt vgl. 19.12.1989 (vor der Demo), in: ArchVL Rostock, VL-Basisgruppe Wielgohs: Die Vereinigte Linke [wie Anm. 22], S. 290–292. Zusam- Rostock I/1,2 Materialien der Öffentlichkeitsarbeit, fol. 2.Auch abge- menfassend mit Blick auf Rostock auch Schmidtbauer: «Im Prinzip druckt in: Schmidtbauer: Tage, die Bürger bewegten (2) [wie Anm. 25], Hoffnung» [wie Anm. 2]. 64 Vgl. Gerber: Nie wieder Deutschland? S. 87 f. 84 Demokratie pur!, in: plattFORM vom 13.3.1990, [wie Anm. 62], S. 89–108. 65 Zitiert nach: Langer: Ihr sollt wissen [wie S. 8. 85 Schmidtbauer: Tage, die Bürger bewegten (1) [wie Anm. 2], Anm. 2], S. 218. 66 Initiative für eine Vereinigte Linke Halle: An- S. 124. 86 Bereits für den 9. Dezember 1989 hatte die Antifa Rostock ti-KOHL-Demonstration [wie Anm. 61]. 67 Vgl. Vereinigte Linke zu einer Demonstration gegen eine zunehmende Präsenz rechter Po- 64 «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann»

sitionen auf den Veranstaltungen der Bürgerbewegung aufgerufen, nierten diese im Juli 1990 – ein Schritt, den der Chefredakteur der nachdem zuvor unter anderem ein Transparent mit der Losung «Polen plattFORM, Christoph Kelz, folgendermaßen kommentierte: «Es ist ja – aber in Polen» zunächst auf der Demonstration am 30. November von vielen Menschen in unserer Stadt nie ganz verstanden worden», geduldet worden war. Dem Aufruf folgten laut Schmidtbauer mehre- schrieb er in der letzten Ausgabe der Zeitung, «warum es zwei Zeitun- re Tausend Bürger*innen der Hansestadt; vgl. ebd., S. 72, 86; Antifa gen dieser Art gibt. Nicht, daß damit die Existenz an sich angezweifelt Rostock: Antifa-Demo, in: Bürgerrat vom 7.12.1989, S. 6; Protest ge- war, sondern vielmehr unsere quasi Doppelexistenz. Zwei Zeitungen gen Neofaschismus, in: Ostsee-Zeitung vom 11.12.1989, S. 1. Noch mit fast identischer Intention, wäre da nicht eine gemeinsame besser im Januar betonte die VL, dass die Entfernung eines Plakats, das für gewesen? Aber so ist das nun mal in bewegten Zeiten, es geschieht eine «Wiedervereinigung» votierte, im Rahmen der Demonstration im dies und das und ab und an wird halt das sogenannte ‹Fahrrad› zwei- Vormonat als eine nicht tolerierte Einzeltat verurteilt worden wäre. Mit mal erfunden.» Allerdings sollte das Zusammengehen nicht in einer «Tante Trude» gab es Ende Dezember einen der ersten zentralen Treff- einfachen Übernahme vollzogen werden, sondern es sollte vielmehr punkte der radikalen Linken in Rostock; das besetzte Haus in der eine «erste gemeinsame Redaktionssitzung» geben, «um alle Detail- Doberaner Straße wurde allerdings wiederholt zum Ziel von Angriffen modalitäten partnerschaftlich auszuhandeln und um die erste gemein- der politischen Rechten. Nachdem die Ostsee-Zeitung beispielsweise same Nummer für SIE zu machen» (Kelz, Christoph: Plattform und am 28. Dezember 1989 über das Projekt berichtet hatte, wurden des Bürgerrat fusionieren, in: plattFORM vom 3.7.1990, S. 8). Zu erwäh- Nachts dort die Scheiben eingeschlagen und auch in der Silvester - nen ist, dass die plattFORM bereits im Mai um technische und finan- nacht kam es zu Angriffen; vgl. Anett: Tante Trude: Rot und radikal, in: zielle Hilfe gebeten hatte; vgl. Steinke, Constanze: PLATTFORM sucht Ostsee-Zeitung vom 28.12.1989; Unbekannte schlugen Scheiben ein, Hilfe, in: die tageszeitung vom 10.5.1990, S. 22. Von einer statisti- in: Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 3.1.1990; Dürr, Peter schen Darstellung der spezifischen Inhalte ist aufgrund von Überlie- Paul: Grüße aus der Mecklenburger Fascho-Szene, in: die tageszei- ferungslücken hier abgesehen worden. 101 Vgl. Ständige Kommis- tung vom 20.1.1990, S. 3. Über weitere Angriffe berichteten auch die sion des Runden Tisches (Rostock-Stadt): Erklärung der Ständigen Zeitungen der Bürgerbewegung: W., G.: … und die Polizei sah wieder Kommission des Runden Tisches, in: plattFORM vom 20.3.1990, S. 5; zu, in: plattFORM vom 2.5.1990, S. 7; Steinke, Constanze: Herr Roloff Keßler, Ulla: Stasi-Lehrer für unsere Kinder – das geht uns alle an!, in: und die Tante Trude, in: plattFORM vom 12.5.1990, S. 7; dies.: Polizei plattFORM vom 27.3.1990, S. 1; Keipke, Die Wende und das Ende der steht im Dunkeln, in: plattFORM vom 12.5.1990, S. 7. Schließlich DDR in Rostock [wie Anm. 15], S. 360 f. 102 Peters, Axel: Bilanz, in: mussten die Besetzer*innen im August 1990 aufgeben; vgl. Rostocker plattFORM vom 29. Mai 1990, S. 3. 103 Vgl. Ebd. 104 Zwar nahmen Autonome und die Ex-Besäzzer: Todesanzeige Tante Trude, in: Bür- in den Diskussionen und Wahlkampfmaterialien ökologische Fragen gerrat/plattFORM vom 30.8.1990, S. 3. 87 Steinke, Constanze: Spä- und Konzepte kommunalpolitischer Willensbildung größeren Raum ter, aber notwendiger Nachtrag zum Kohlbesuch, in: plattFORM vom ein, doch fanden sich in den überlieferten Zeitungen keine Beiträge 20.3.1990, S. 3. 88 Ebd. 89 Ebd. 90 Vgl. Gespräch mit Michael von lokalen VL-Mitgliedern zu umweltpolitischen Themen; vgl. hierzu Mäde am 2.3.1990 [wie Anm. 72]. 91 Die Nelken waren eine stark u. a.: Vereinigte Linke Rostock: Kommunalpolitische Alternativen [wie marxistisch geprägte Gruppierung, mit der die VL für die bevorstehen- Anm. 44]. 105 Während beispielsweise ein Beitrag von Ingo Körber den Volkskammerwahlen eine gemeinsame Liste aufstellte. In die Frage nach basisdemokratischen Elementen einer zukünftigen Rostock waren die Nelken allerdings kaum verankert. So widmete Rostocker Kommunalverfassung stellte, kommentierte ein weiterer ihnen beispielsweise Bernhard Schmidtbauer in seiner Übersicht zur Beitrag den Streit zwischen Rostock und Schwerin, welche Kommune Rostocker Bürgerbewegung keine Aufmerksamkeit. Zu ihrer Program- als zukünftige Landeshauptstadt gewählt werden sollte. 106 Neben matik siehe Die Nelken: Die Nelken – Gründungsgruppe für eine mar- Kommentaren zu den größeren Parteien und dem Bindungsvermögen xistische Partei, in: Die Aktion 60–63/1990, S. 990–993. Eine kleine des PDS-Spitzenkandidaten Gregor Gysi thematisierten weitere Arti- Sammlung von Wahlkampfmaterialien des Bündnisses im Bundesar- kel unter anderem die neu gegründete Deutsche Biertrinkerunion chiv zeigt dabei deutlich, dass hier die Programmpunkte der Vereinig- (DBU), besprachen die Entstehung der Grünen in Rostock und berich- ten Linken zumeist dominierten; siehe: SAPMO-BArch, SGY 20/39, teten von Auftritten engagierter Bürger*innen aus anderen Regionen Aktionsbündnis Vereinigte Linke (Vereinigte Linke und Die Nelken), der DDR an der Küste. 107 In diesem Bereich stand offenkundig ge- unter: https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/3619b368- rade die Frage nach einer Kommerzialisierung kultureller Angebote af2e-­41c0-a40b-bb6bac52065a/. 92 Amtliches Endergebnis der für Jugendliche zur Disposition, welche die Autor*innen vehement Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990, in: Neues Deutschland ablehnten. 108 Jenseits von Stellungnahmen der VL formulierten vom 20.3.1990, S. 5; Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokra- zumindest zeitweilige Mitglieder der Organisation Texte zum Agieren tischen Republik, Berlin 1990, S. 449. 93 Jener Missmut artikulierte des DSU-Innenministers, aber auch zur Aktualität des Jahres 1968 sich auch in einigen Texten der regionalen VL bereits deutlich vor der sowie zu möglichen Zukunftsvisionen. 109 Insbesondere VL-Mitglie- Wahl: Vereinigte Linke Rostock: Nachsätze zur deutschen Einheit, in: der und Sympathisant*innen diskutierten in den bürgerbewegten ArchVL Rostock, VL-Basisgruppe Rostock I/1,1; Vereinigte Linke Blättern Rostocks Entwicklungen der PDS. Daneben fanden sich ver- Güstrow: An das deutsche Volk, in: ArchVL Rostock, VL-Basisgruppen einzelte Stellungnahmen zum Wahlkampf selbst und zur Rolle von in »Mecklenburg-Vorpommern« I/2,2. 94 Zit. nach: Schmidtbauer: engagierten Bürger*innen aus der Feder der VL und ihres direkten Tage, die Bürger bewegten (1) [wie Anm. 2], S. 139. 95 Vgl. Vereinig- Umfeldes. 110 Kelz: Wahlkrampf [wie Anm. 109]; Auf den zentralen te Linke gründete Landesverband Mecklenburg/Vorpommern, in: Seiten vier und fünf der Ausgabe von 5. Oktober stellten Vertreter*in- plattFORM vom 22.5.1990, S. 8; Schmidtbauer: Tage, die Bürger be- nen der lokalen Organisationen zwar mit Bedauern fest, dass der be- wegten (1) [wie Anm. 2], S. 141. 96 Bezeichnenderweise endete auch reits kritisierte Alleingang des Neuen Forums hätte vermieden werden Kai Langers umfangreiche Betrachtung der «Wende» mit den Wahlen sollen, allerdings eine dominante Position in den Parlamenten (nun- zur Volkskammer am 18. März 1989; vgl. Langer: Ihr sollt wissen [wie mehr) schwerlich zu erwarten sei – vielmehr die Frage nach Foren der Anm. 2], S. 261–265. 97 Die überlieferten Programmentwürfe, Ein- Aushandlung innerhalb der Bürgerbewegung zu stellen sei; vgl. Häntz­ ladungen zu Versammlungen, Aktionen und Festen können aus Platz- schel, Thomas/Mahlburg, Stefan: Chancen für ein bürgerbewegtes gründen hier nicht umfassend dargestellt werden. Mit Blick auf die Mecklenburg/Vorpommern? Gesprächsrunde in der Redaktion «Bür- Zersplitterung der linken Opposition vgl. Klein, Thomas: Geteilte Linke gerrat – plattFORM», in: Bürgerrat/plattFORM vom 5.10.1990, im vereinigten Deutschland?, in: ders. u. a. (Hrsg.): Keine Opposition. S. 4 f. 111 K., R.: Ich beklage einen Verlust, in: Bürgerrat/plattFORM Nirgends? Linke in Deutschland nach dem Sturz des Realsozialismus, vom 5.10.1990, S. 8. 112 Vgl. Bedszent: Weitgehend ungehört [wie Berlin 1991, S. 76–95. 98 Vereinigte Bürgerinitiativen für einen neuen Anm. 5]. 113 Vgl. Klein: Linke in Deutschland [wie Anm. 5]; ders.: Sozialismus: Aufruf [wie Anm. 25]. 99 Die Breite dieses Spektrums Außer Reden nicht gewesen? Der Runde Tisch zwischen Volkskam- vermerkte regelmäßig auch das Impressum des Blatts. 100 Zwar hat- mer und Modrow-Regierung, in: Gehrke,Bernd/Rüddenklau, Wolf- ten sich in Rostock zunächst beide Zeitungen im heterogenen Feld gang (Hrsg.): «… das war doch nicht unsere Alternative». DDR-Oppo- der entstehenden Zivilgesellschaft herausgebildet, allerdings fusio- sitionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999, S. 222–243. «Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann» 65

Titelblatt der letzten Ausgabe der Zeitung Bürgerrat/plattFORM vom 5. Oktober 1990. 66 Quellen und Literatur

QUELLEN UND LITERATUR

I Quellen vom 5.11.94 im Haus der Demokratie, Berlin, – Konferenzreader 1. DDR-weites Arbeitstref- hrsg. vom Matthias-Domaschk-Archiv in der fen der Initiative Vereinigte Linke 25./26. No- Robert-Havemann-Gesellschaft e. V., Berlin vember 1989, Berlin, Dezember 1989. 1994, S. 21–25. – Die Aktion, Heft 60–63: Die DDR als sozialis- Gehrke, Bernd: Dogmen der Undogmati- tische Alternative – Dokumente der Ini­tia­tive schen, in: telegraph 11–12/1995, S. 53–60. «Vereinigte Linke», Hamburg, Januar 1990. Gehrke, Bernd: 1989 und keine Alternati- – Gesammelte Flugschriften DDR ’90. Origi- ve?, in: ders.,/Rüddenklau, Wolfgang (Hrsg.): naldokumente der DDR-Opposition Initiati- … das war doch nicht unsere Alternative. ve Vereinigte Linke, hrsg. vom AStA der TU DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Berlin (West), Berlin o. J. [ca. Februar 1990]. Wende, Münster 1999, S. 417–440. – Vorläufiges Programm der Vereinigten Gehrke, Bernd/Hürtgen, Renate (Hrsg.): Der Linken zu den Volkskammerwahlen am betriebliche Aufbruch im Herbst 1989. Die un- 18. März 1990, Berlin o. J. [1990]. bekannte Seite der DDR-Revolution. Diskus- – Reader in Vorbereitung des 2. Arbeitstref- sion – Analysen – Dokumente, 2., korr. Aufl., fens der VL in Dresden vom 15. bis 17. Juni Berlin 2001, S. 106–115. 1990, o. O. und o. J. [Berlin, ca. Juni 1990]. Gerhardt, Sebastian: Die DDR und ihre re- – Konferenz-Reader, Arbeitstreffen der Ver- bellischen Kinder. Linke Opposition in der Ära einigten Linken 2./3. März 1991 in Leipzig, Honecker, in: Bois, Marcel/Hüttner, Bernd o. O. und o. J. (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte einer plura- – Webseite: www.ddr89.de len Linken. Theorien und Bewegungen nach 1968 – Heft 2, hrsg. von der Rosa-Luxem- II Literatur zur VL burg-Stiftung, Papers 04/2010, Berlin 2010, Wielgohs, Jan: Die Vereinigte Linke; in: Mül- S. 33–36. ler-Enbergs, Helmut/Schulz, Marianne/Wiel- Gerhardt, Sebastian: Vom Kampf gegen die gohs, Jan (Hrsg.): Von der Illegalität ins Par- Politbürokratie zur Verteidigung der DDR. Un- lament. Werdegang und Konzepte der neuen abhängige Linke im Kurzen Herbst der Uto- Bürgerbewegungen, Berlin 1991, S. 283–306. pie 1989/90, in: Bois, Marcel/Hüttner, Bernd Musch, Reinfried: Vereinigte Linke – zwi- (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte einer plura- schen Experiment und Organisation, in: Vau len Linken. Theorien und Bewegungen nach Ell Infoblatt 11/1991, S. 7–17. 1968 – Heft 2, hrsg. von der Rosa-Luxem- Weinholz, Erhard: Das Unmögliche wagen – burg-Stiftung, Papers 04/2010, Berlin 2010, VL! Einige Überlegungen zu unserer Geschich- S. 37–40. te, in: Vau Ell Infoblatt 16/1991, S. 27–31. Klein, Thomas: Rasch isoliert. Die linke Bür- Klein, Thomas: Linke Opposition in der DDR gerbewegung 1989, in: Neues Deutschland und ihr Agieren in der Wende – kurze Bilanz vom 3./4.11.2014. einiger Irrtümer und kleiner Ausblick auf mög- Weinholz, Erhard: Mutprobe. Die VL und der liche Lehren, in: Gegen die Verdrängung im 18. März 1990, in: Das Blättchen 5/2015 (Inter- eigenen Kopf. Ein heiteres Schlachten alter netausgabe). Tabus anlässlich des 5. Jahrestages der Gro- Klein, Thomas: Erinnerungen an eine Revo- ßen Nichtsozialistischen Oktoberrevolution lution oder Geschichte einer Entfremdung, in: (Wende), Reader zur Oppositionskonferenz telegraph 135–136 2019/20. Quellen und Literatur 67

Klein, Thomas: Wie der Dritte Weg so kurz Linke (VL), in: SoZ 7/2020, unter: www.sozon- geriet, in: Der Freitag vom 7.11.2019. line.de/2020/07/in-der-hoffnung-auf-ein-bes- Gehrke, Bernd: Der Herbst ’89 in der DDR. seres-land/. Gespräch, in: SoZ 1/2020 (Internetausgabe). Klein, Thomas: «Freiheit und Sozialismus». III Literatur zu den Bürger­ Die «Initiative für eine Vereinigte Linke» in der bewegungen im Norden demokratischen Herbstrevolution 1989 in der der DDR (einschließlich VL) DDR, in: Forum Wissenschaft 2/2020, S. 29– Schmidtbauer, Bernhard: «Im Prinzip Hoff- 31. nung». Die ostdeutschen Bürgerbewegungen Weinholz, Erhard: Späte Kämpfe. Zu einem und ihr Beitrag zum Umbruch 1989/90. Das Rückblick auf die VL und die 89er DDR-Revo- Beispiel Rostock, Berlin 1996. lution, in: SoZ 3/2020 (Internetausgabe). Langer, Kai: «Ihr sollt wissen, daß der Norden Weinholz, Erhard/Gerhardt, Sebastian: nicht schläft …»: Zur Geschichte der «Wende» In der Hoffnung auf ein besseres Land. Ge- in den drei Nordbezirken der DDR. Bremen spräch über die Initiative für eine vereinigte 1999. 68 Dokumentenanhang

DOKUMENTENANHANG

Wie manch andere im Herbst des Jahres 1989 erfährt man zumeist wenig mehr als den Na- entstandene Organisation spielt die Initiative men. für eine Vereinigte Linke in der Mehrzahl der So begrenzt diese erstmalige Wiedergabe von Betrachtungen zum Umbruch in der DDR und Unterlagen der Vereinigten Linken im Nor- zur tief greifenden Transformation in den Fol- den auch bleibt, sie ermöglicht nicht allein gejahren kaum eine Rolle. Ihre Materialien ein erstes Kennenlernen dieser weitgehend sind dementsprechend meist nur auf Umwe- vergessenen basisdemokratischen Struk- gen und auf weniger bekannten Plattformen tur zwischen Bewegung und Partei, sie regt, einzusehen. so unsere Hoffnung, womöglich auch zu ei- Zu den umfangreicheren Sammlungen zählt ner weiteren Beschäftigung mit dem Wirken hierbei fraglos die Webseite ddr89.de, die sowohl der lokalen Gruppen als auch der Ge- neben Gründungsdokumenten auch zahl- samtorganisation an. reiche Veröffentlichungen vor allem der Ber- Der Dokumentenanhang versammelt aus vier liner VL-Gruppe(n) digital zur Verfügung thematisch gegliederten Bereichen einige Bei- stellt. Auch in den Beständen der Robert-Ha- spiele, die Einsichten in das lokale Agieren der vemann-Gesellschaft stößt man in Sammlun- Vereinigten Linken in Rostock bieten. gen und Nachlässen verschiedentlich auf Un- 1. Gründung und Konzeptdiskussionen: Die terlagen der Vereinigten Linken – teilweise erste Dokumentengruppe beinhaltet Überlie- sind sie online einsehbar. Schließlich verfügt ferungen zur Gründung der lokalen VL sowie die zum Bundesarchiv Berlin gehörige Stiftung zur Diskussion und Entwicklung zentraler Po- Archiv der Parteien und Massenorganisatio- sitionen im Norden. Hierzu zählen neben der nen der DDR (SAPMO) über einige verspreng- «Böhlener Plattform» (Dok. 1) vor allem der te Überlieferungen, die die VL betreffen. «Aufruf der Rostocker Initiative Vereinigte Zudem sind in manchen Publikationen Doku- Linke» aus dem Dezember 1989 (Dok. 2) und mente abgedruckt worden, die einen ersten zwei erhalten gebliebene Varianten des Textes Einblick in die Geschichte der VL bieten. Aller- «Was will die Vereinigte Linke?» (Dok. 3 und dings betreffen sie vor allem die Berliner Ba- 4), in denen die frühen Diskussionen um in- sisgruppe(n) und insbesondere die DDR-weite haltliche und kommunikative Schwerpunkte Koordination. Zu weiteren Basisgruppen – zu- zum Ausdruck kommen. mal zu jenen im Norden der Republik und spe- 2. Einzelne Schwerpunkte: Es gab inhaltli- ziell zur Rostocker VL – ist jedoch wenig zu fin- che Schwerpunkte der politischen Arbeit, die den. setzte die VL selbst, andere wurden ihr durch Die nachfolgend abgedruckte kleine Samm- die Ereignisse des Winters 1989 vorgegeben. lung beansprucht keineswegs, diese Lücke Zu Letzteren zählte insbesondere das Thema zu füllen. Zwar finden sich hier zentrale Ver- (Wieder-)Vereinigung von DDR und Bundesre- öffentlichungen und Diskussionspapiere der publik. Die Vereinigte Linke hat in dieser Frage Rostocker VL-Basisgruppe, doch lassen sich eindeutig Position bezogen: Sie trat für radika- auf zwei Dutzend Seiten die vielfältigen Dis- le sozialistische Veränderungen des stalinisti- kussionen, die in wir unserer Publikation schen Regimes ein und damit für den Erhalt thematisiert haben, allenfalls antippen. Von der staatlichen Eigenständigkeit. Das Vorge- Gruppen in anderen Städten des späteren hen des Bundeskanzlers Helmut Kohl kritisier- Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern te sie als die befürchtete freundliche Übernah- Dokumentenanhang 69

me durch den Kapitalismus (Dok. 5 bis 7). Zu (Dok. 12). Zugleich schuf sie zu ihren thema- den eigenständigen Schwerpunksetzungen tischen Schwerpunkten eine Reihe zum Teil der Rostocker Initiative für eine Vereinigte humorvoller, provozierender, aber auch fein- Linke zählten kommunale Wohnungspolitik, sinniger Plakate (Dok. 13) – die meist nicht Wirtschaftsdemokratie, Umweltschutz und aufwendig gedruckt, sondern kopiert unter internationale Solidarität (Dok. 8 bis 11). Das das Volk gebracht wurden. sind nur einige wenige Beispiele für die vielfäl- 4. Jenseits von Rostock: Drei Beispiele zum tigen politischen Aktivitäten der VL Rostock. Schluss zeigen, dass sich die Aktivitäten der 3. Wahlkämpfe 1990: In den Wahlkämpfen Vereinigten Linken auch im Küstenbezirk des Jahres 1990 war die VL bestrebt, mit an- Rostock nicht allein auf die Bezirkshauptstadt deren Teilen der Bürgerbewegung gemeinsa- konzentrierten: Ein Rundschreiben des neu me Standpunkte zu finden und sie anschlie- gegründeten Landesverbandes (Dok. 14) do- ßend zusammenhängend und vor allem kumentiert den Versuch, über das Kommu- allgemein verständlich zu präsentieren. Für nale hinauszutreten; der Text der Güstrower die Volkskammerwahlen im März 1990 do- Basisgruppe (Dok. 15) sowie der Aufruf aus minierten noch Materialien der Gesamt-VL, Stralsund (Dok. 16) machen deutlich, dass für die Kommunalwahlen zwei Monate spä- sich auch in anderen Teilen des Bezirks eine ter veröffentlichte die Rostocker Basisgrup- explizit linke Struktur innerhalb der Bürgerbe- pe dann bereits ein umfangreiches Programm wegung konstituierte.

Ordnungsschema des Archivs der Vereinigten Linken Rostock 70 Dokumentenanhang

Dok. 1: Auszug aus der «Böhlener Plattform» vom 13. Oktober 1989. Dokumentenanhang 71

Dok. 2: Aufruf in der Ostsee-Zeitung (Nr. 283) vom 1. Dezember 1989, S. 8. 72 Dokumentenanhang

Dok. 3: Vermutlich erste Fassung des Rostocker Grundlagenpapiers «Was will die Vereinigte Linke?» vom Dezember 1989. Dokumentenanhang 73

Dok. 4: Dritte überlieferte Fassung des Rostocker Grundlagenpapiers «Was will die Vereinigte Linke?», die im Januar 1990 veröffentlicht wurde. 74 Dokumentenanhang

Dok. 5: DDR-weites Plakat «Lieber rote Rüben, als Kohl von drüben» aus dem Volkskammer-Wahlkampf 1990.

Dok. 6: Ironischer Kommentar zu den zuweilen übertriebenen Teilnehmerzahlen von Wahlveranstaltungen der Allianz für Deutschland; plattFORM Nr. 11 vom 20. März 1990, S. 2. Dokumentenanhang 75

Dok. 7: «Positionspapier der Vereinigten Linken Rostock» zu aktuellen Entwicklungen, Januar 1990. 76 Dokumentenanhang Dokumentenanhang 77

Dok. 8: Flugblatt der Vereinigten Linken Rostock zu den erwarteten Konsequenzen der «Einheit», vermutlich Sommer 1990. 78 Dokumentenanhang

Dok. 9: Manuskript eines Artikels der VL zu Fragen der Wohnraumpolitik in Rostock und möglichen Perspektiven von «Schwarz-» bzw. «Erhaltungswohner*innen». Dokumentenanhang 79

Dok. 10: Flugblatt der Rostocker VL aus dem Volkskammer-Wahlkampf 1990. 80 Dokumentenanhang

Dok. 11: Flugblatt der Rostocker VL aus dem Volkskammer-Wahlkampf 1990. Dokumentenanhang 81

Dok. 12: Flugblatt der Rostocker VL aus dem Volkskammer-Wahlkampf 1990. 82 Dokumentenanhang

Dok. 13: Programm der Vereinigten Linken Rostock zu den Kommunalwahlen im Mai 1990. Dokumentenanhang 83 84 Dokumentenanhang Dokumentenanhang 85 86 Dokumentenanhang Dokumentenanhang 87 88 Dokumentenanhang Dokumentenanhang 89 90 Dokumentenanhang

Dok. 14: Zweifarbig gestaltetes Wahlplakat der Vereinigten Linken aus dem Jahr 1990. Dokumentenanhang 91

Dok. 15: Rundschreiben des gerade gegründeten Landesverbandes der Vereinigten Linken in «Mecklenburg». 92 Dokumentenanhang

Dok. 16: Veröffentlichung der Vereinigten Linken Güstrow zur Organisationsgründung und Aufruf zum Engagement, Januar 1990. Dokumentenanhang 93

Dok. 17: Leitsätze der Vereinigten Linken Stralsund, Januar 1990. 94 Appell

APPELL FÜR EINE SAMMLUNG VON MATERIALIEN DER VL!

Die Geschichte der Initiative für eine Vereinigte Arbeit der VL belegen, diesem Vorhaben in di- Linke droht in Vergessenheit zu geraten. Die- gitalisierter Form zur Verfügung zu stellen. Sie se Geschichte für die Gegenwart nutzbar zu sollten dafür mit einer Auflösung von mindes- machen ist auf die Dauer nur auf der Basis von tens 300 dpi eingescannt werden. Dokumenten möglich. Sie zu sammeln soll die Aufgabe eines im Aufbau begriffenen On- Weitere Informationen finden Sie unter: line-Archivs sein, dessen Träger die Rosa-Lu­ herbst89onlinearchiv.org xemburg-Stiftung­ Mecklenburg-Vorpommern ist. Wir bitten alle Leser*innen unserer Publika- Unterstützung erhalten Sie unter: tion, den schon vorhandenen Schatz an Zeug- [email protected] nissen und Erinnerungen zu erweitern und Flugblätter, Plakate, Manuskripte usw., die die Die Autoren Autoren 95

AUTOREN

Christoph Kelz, 1964 in Leipzig geboren, 1980 Rosa-Luxemburg-Stiftung Mecklenburg-Vor- Austritt aus der FDJ, Facharbeiter Schafzucht pommern betreute er zuletzt das digitale Er- (Schäfer), 1982 Mitbegründer der «Leipziger innerungsprojekt «#Herbst89inMV», das ein Friedensgebete», 1986/87 Bausoldat, 1988/89 multimediales Vermittlungsangebot zur ge- Studium der Gemeindepädagogik in Potsdam, sellschaftlichen Transformation an der Jahres- Diplomsozialpädagoge, Mitbegründer der wende 1989/90 bietet. «Vereinigten Linken» Rostock 1989 und einer der drei Sprecher*innen des Landesverbandes Erhard Weinholz, geb. 1949 in Branden- Mecklenburg-Vorpommern der VL bis zu deren burg a. d. H., Hochschul-Ökonom, Dr. phil., formaler Auflösung 2013, seit 1993 als Sozial- 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des arbeiter sowie Systemischer Familien- und So- VL-Volkskammerabgeordneten Thomas zialtherapeut in der sozialen Arbeit tätig. Klein, Mitarbeiter im Arbeitssekretariat des DDR-Sprecherrats der VL, VL-Vertreter in der Hendrik Mayer, Jahrgang 1987, engagier- Podium-Redaktion der Berliner Zeitung, 2001 te sich nach dem sprachwissenschaftlichen bis 2007 Mitglied der Redaktion von Horch und historischen Studium in und und Guck, arbeitet publizistisch und litera- Rostock innerhalb des Dokumentationszen­ risch, letzte Buchpublikation: «Lokaltermin. trums «Lichtenhagen im Gedächtnis», für die Berliner Ansichten» (2018). Lebt in Berlin. Die hier bereitgestellten Informationen und Dokumente wurden mit großer Sorgfalt zusammengestellt. Sollten dennoch Rechtsansprüche Dritter berührt sein, bitten wir um entsprechende Mitteilung.

Impressum

MATERIALIEN Nr. 34 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung V. i. S. d. P.: Alrun Kaune-Nüßlein Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2199-7713 · Redaktionsschluss: Juli 2020 Redaktion: Uwe Sonnenberg Titelbild: unter Verwendung von Wahlkampfmaterial der Vereinigten Linken 1990 Bild S. 39: BArch, SAPMO, SGY 20/38, folio 184 Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling Aus einer großen und schönen Hoffnung heraus ist die Initia­ tive für eine Vereinigte Linke (VL) im Herbst 1989 entstan- den: dass gerade jetzt, in jener Krise, in die die SED-Politbüro- kratie das Land geführt hatte, der Aufbruch hin zu einem frei- heitlichen und demokratischen Sozialismus möglich sei. Was die VL erreicht hat, woran sie gescheitert ist, was von ­ihren Grundsätzen weiterhin aktuell sein könnte – diesen und anderen Fragen widmen sich die hier versammelten Texte aus Rostock und Berlin.

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