Der Untertan, Ausgabe Ost Er War So Gierig Auf Die Macht, Dass Er Seine Vergangenheit Und Die 33 Stasi-Ordner Glatt Vergaß

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Der Untertan, Ausgabe Ost Er War So Gierig Auf Die Macht, Dass Er Seine Vergangenheit Und Die 33 Stasi-Ordner Glatt Vergaß Deutschland STASI Der Untertan, Ausgabe Ost Er war so gierig auf die Macht, dass er seine Vergangenheit und die 33 Stasi-Ordner glatt vergaß. Darum fiel nach der Wende keiner tiefer als Wolfgang Schnur. Demnächst soll der ehemalige Rechtsanwalt wegen versuchten Betrugs vor Gericht. as kann aus einem werden, des- sen Leben so beginnt? Es ist 1944, Wder Vater ist von den Nazis er- mordet worden, und der Mutter, einer Jü- din, wird der Säugling im Krankenhaus in Stettin weggenommen. Wolfgang hat Kehl- kopfdiphtherie und kommt in ein Kran- kenhaus auf Rügen. Die Baracke brennt ab, eine Bauernfamilie nimmt ihn auf. Kei- ner weiß, wo dieser stille Junge herkommt. Als er 16 Jahre alt ist, hört er, dass seine Mutter noch lebt. Er stöbert sie in Köp- pern im Taunus auf, es ist der 7. August 1961, sechs Tage vor dem Mauerbau. Er will wissen, wer sein Vater war und wer sei- ne jüdischen Vorfahren. Aber die Mutter findet keine Worte. Enttäuscht kehrt Wolf- gang Schnur in die DDR zurück. Was kann aus so einem werden? Letzter Minister- präsident der Deutschen Demokratischen Republik wäre nicht schlecht gewesen. Es ist Winter 1989, und alles funktio- niert. Wolfgang Schnur hat zusammen mit seinem Freund Rainer Eppelmann den De- mokratischen Aufbruch gegründet, und Bundeskanzler Helmut Kohl sagt: „Ihm können Sie vertrauen.“ Und Schnur, ein M. WEISS / OSTKREUZ kleiner Mann, ein bisschen verhuscht und Investitionsberater Schnur: „Dieses Unterschätzen ökonomischer Vorgänge“ Rostock habe das Bürgerkomitee Stasi-Ak- ten gefunden. Der SPIEGEL berichtet. „Da will mir jemand an den Kragen“, sagt Schnur damals. Dann bricht er mit einem Kreislaufkollaps zusammen. Als Eppel- mann ihn im Hospital besucht, streitet Schnur immer noch ab. Eppelmann geht vor die Kameras und spricht von „Ver- trauen“ und „gefälschten Akten“. „Es ist wie das Fremdgehen der Partne- rin“, sagt Eppelmann, nachdem sein Freund zurückgetreten ist. Einige Stasi-Spitzel sind tief gefallen nach der Wende. Ibrahim Böhme, Vorsit- zender der Ost-SPD, lebte jahrelang in seinem Berliner Kämmerchen wie in Iso- SPIEGEL TV lationshaft und starb verarmt. Der Bürger- Schnur-Grundstück bei Berlin: „Bei Interesse bitte schnell Kontakt aufnehmen“ rechtler Knud Wollenberger, der seine Ehefrau Vera verraten hatte, wurde zum ein wenig verklemmt, packt das Mikrofon. ben mich.“ Es war diese fatale Gier nach nationalen Sinnbild der Niedertracht. Aber „40 Jahre ist unser Land ruiniert worden. Macht. „Geilheit, Verblendung“, sagt keiner fiel so tief wie Wolfgang Schnur. Wir wollen nicht mehr Ruinen, wir wollen Schnur, 55 Jahre alt, „ich war so dicht vor Denn Schnur war einer von nur 20 so ge- ein neues Aufbauwerk“, schreit er. dem Ziel und nicht zu stoppen.“ nannten Einzelanwälten der DDR, ein Held „Ich bin ja selbst über mich überrascht Nur durch die eigene Biografie. Schnur der Dissidenten, und zugleich war er 25 gewesen“, sagt er heute, „dass man plötz- ist im Wahlkampf in Mecklenburg-Vor- Jahre lang Inoffizieller Mitarbeiter der lich 100000 Menschen anzieht, ich habe pommern unterwegs, genau zehn Jahre ist Staatssicherheit. Darum verlor er 1993 sei- gespürt, die Menschen wollen mich, sie lie- das jetzt her, als der Anruf kommt. In ne Anwaltszulassung. Und weil „Wolfgang 90 der spiegel 13/2000 Deutschland Schnur immer persönlich bereit war, Din- Schnur trägt Vollbart, ausgelatschte denburg, eine Art Bausparkasse, gab dem ge anzugehen“, wie Wolfgang Schnur sagt, schwarze Schuhe und ein weites Jackett. Kirchenanwalt Schnur ein zinsloses Dar- steckte er Geld in seltsame Unternehmen. Das Arbeitszimmer ist ein Schlachtfeld: lehen. Der zahlte an Dietrich, der zahlte „Dieses Unterschätzen ökonomischer Stapel von Zeitungen, die irgendwann ir- an die Kirche zurück. Im Westen erhielt Vorgänge unter neuen marktwirtschaft- gendwer wegtragen müsste. Im Regal steht Dietrich als Gegenleistung für das Null- lichen Situationen“, sagt Schnur heute. das „Praxishandbuch: Erfolgreich arbeiten summengeschäft Ost 160000 West-Mark – Danach hatte er 1,5 Millionen Mark von zu Hause aus“, daneben der „Autofah- das Diakonische Werk, um gute Verbin- Schulden. Er wurde verurteilt wegen rerkurs Englisch für Anfänger“. dungen zu Stolpes Ost-Kirche bemüht, half Konkursverschleppung (3000 Mark), Man- Und draußen, am Rande des Hubertus- mit der ersten Rate aus; die andere Hälfte dantenverrats (ein Jahr auf Bewährung) sees, verrottet das Boot, „das man mal aus bezahlte Schnur nach der Wende. und Beleidigung eines Richters (1320 dem Wasser holen sollte“. Die Mauern ver- Obwohl das Grundstück über zwei Mil- Mark). Und im April letzten Jahres mar- fallen, die Sträucher wuchern – rund 2500 lionen D-Mark wert ist, hat Schnur nicht schierte er in die Räume der Privatbank Quadratmeter sind nicht einfach zu be- viel Freude am Geschäft seines Lebens: Er Gries & Heissel in Berlin-Grunewald. Zu- wirtschaften. Schnur wohnt in jenem hat das Haus offiziell einem Cousin ver- sammen mit einem Israeli und einem Afri- Prachtbau, den er gekauft hat, nachdem kauft und für 20 Jahre gemietet, doch auch kaner legte Schnur Wertpapiere, angeblich er dem Besitzer „die Ausreise ermöglicht dieser Trick schützt es nicht vor der Zwangs- für 11,8 Millionen Mark, auf den Tisch; der hatte“, wie er den Vorgang nennt. versteigerung. Diese verdammten Schulden Afrikaner und der Israeli verschwanden, In der DDR ging das so: Horst Dietrich, steigen ja weiter, wenn einer nicht tilgen Schnur blieb sitzen, die Wertpapiere waren Eigentümer der Immobilie, wollte in den kann; zwei Millionen sind es mittlerweile. gefälscht. Westen, und Schnur wollte und sollte von Aber eigentlich wollte er etwas ganz an- deres erzählen. Die Familie, ach ja. Sie hat- te keine Ahnung von Vatis Doppelleben. „Sie war absolut geschockt“, sagt Schnur, „gerade denen, die man am liebsten hat, tut man am meisten weh. Ich hoffe, dass mir Vergebung zuteil wird.“ Es ist die zwei- te Familie, denn die erste Ehefrau hatte es nicht ausgehalten. „Freunde sind auch nicht mehr an mei- ne Seite getreten“, sagt Schnur. Es war ja auch schwer für andere, das ge- steht er ihnen zu. Er war lange krank, hat sich abgekapselt, und „wenn dann Ge- sprächsanbahnungen kamen, war es so, dass ich zuerst ein Schuldbekenntnis ab- geben sollte, und da war ich blockiert“. Schuld ist eine vertrackte Sache. Einer- seits, natürlich, „habe ich Menschen ver- raten, das ist meine tiefe Schuld“. Ande- rerseits aber eben auch wieder nicht, denn Schnurs Liste ist lang: Er hat als Anwalt „hunderten, tausenden geholfen“, die sei- netwegen nicht in den Knast kamen. Was WEREK hätte er tun sollen unter den Umständen? Politiker Eppelmann, Kohl, Schnur*: „Ihm können Sie vertrauen“ „Er ist ein armes Würstchen“, sagt Freya Klier, die von ihrem Anwalt verratene Bür- „Ich hatte damit nichts zu tun“, sagt Rostock nach Berlin umsiedeln – dort war gerrechtlerin, „ich denke, dass er Realität Schnur, „wir wollten die Papiere auf ihre er nützlicher. Von Manfred Stolpe, dem auf psychopathische Weise verdrängt.“ Echtheit überprüfen lassen.“ Doch die Ber- Konsistorialpräsidenten der Evangelischen Es begann, als Schnur nach seiner Rück- liner Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Kirche, „wurde ihm angeboten, ein Einfa- kehr in die DDR als Gleisbauarbeiter „in die versuchten Betrugs; demnächst, so ein Ein- milienhaus – Dietrich, Hubertusstraße 6, Produktion“ (Schnur) musste, um zu zeigen, geweihter, soll Anklage erhoben werden. Hessenwinkel – zu erwerben“, wie Schnurs dass er ein braver Sozialist war. Er war 20 Was soll einer noch anfangen mit so ei- Führungsoffizier am 17. Oktober 1988 no- Jahre alt, geriet in eine Prügelei, erstattete nem Leben? Wolfgang Schnur steht in der tierte; „er soll das Angebot annehmen und Anzeige, aber nichts passierte. Da schaute Küche seiner grauen Villa in Hessenwinkel sich von der Kirche bezahlen lassen“. Stol- dieser freundliche Herr von der Stasi vorbei. am Rande Ost-Berlins und kocht Blumen- pe selbst schrieb an den „Lieben Bruder „Du machst eine gute Figur, du bist klug kohl, Kartoffeln und Fleischbällchen für Schnur“: „Wir könnten helfen. Bei Inter- und hast Überzeugungen“, sagte der Frem- seinen zweijährigen Sohn Leon. Die Fa- esse bitte schnell Kontakt aufnehmen.“ de. „Es ist ihnen gelungen, in die Lücke zu milie hat Grippe, drei Betten stehen im Dann, so der Stasi-Oberst, habe Stolpe stoßen“, sagt Schnur – die Lücke dessen, Wohnzimmer, und zuerst muss er Frau und die „Generallinie festgelegt: An den Kir- der keine Heimat hatte. Kinder pflegen, ehe er neu beginnen kann. chenanwalt wird zur Absicherung seiner „Sie haben mich gefoltert und er- „Investitions- und Projektberater“ nennt Person ein persönliches Darlehen in Höhe presst“, sagte Schnur einst zu seiner Ver- Schnur sich jetzt. Sein einziger Kunde ist von 240000 Mark auf sein Konto überwie- teidigung. In Wahrheit gab es Kaffee und eine Familie, die in Niedergörsdorf Euro- sen. Diese 240000 Mark der DDR sollen Kuchen, und er unterschrieb sofort. pas größtes Landtechnik-Museum baut. dann auf das Konto des Verkäufers über- Denn Schnur, sagt Schnur, war schon Geld bringt das nicht, bisher. wiesen werden. Dieser überweist den immer einer, der sich Verantwortung auf- Geldbetrag an die kirchliche Einrichtung“. lud. Er war Mitglied der FDJ-Kreisleitung, * Mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters am 24. Novem- Und so geschah es. Der Kollektenfonds und nachdem die nette Kaderleiterin ihm ber 1989 in Bonn. der Evangelischen Kirche in Berlin-Bran- die Ausbildung zum Handelskaufmann er- 92 der spiegel 13/2000 Deutschland möglicht hatte, nahm er „sogar Aufgaben von der Stasi hieß Joachim
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