Rede zur Freiheit in Jena

Freya Klier: „Einer aus Jena hat die Freiheit nicht mehr erlebt“

23. November 2007 Herausgeber Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit Truman-Haus Karl-Marx-Straße 2 14482 Potsdam Kontakt Redaktion der Freiheit Reinhardtstraße 12 10117 Berlin Telefon: 030.28 87 78-51 Telefax: 030.28 87 78-49 [email protected] Gesamtherstellung COMDOK GmbH Büro Berlin

2008 Rede zur Freiheit in Jena

Freya Klier: „Einer aus Jena hat die Freiheit nicht mehr erlebt“

23. November 2007 4 Rede zur Freiheit – Jena Inhalt

Dr. Peter Röhlinger Begrüßung 7

Freya Klier „Einer aus Jena hat die Freiheit nicht mehr erlebt“ 12

Dr. Wolfgang Gerhardt MdB Schlusswort 23

Rede zur Freiheit – Jena 5 6 Rede zur Freiheit – Jena Dr. Peter Röhlinger

Begrüßung

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die heutige „Rede zur Freiheit“ trägt den Untertitel „Einer aus Jena hat die Freiheit nicht mehr erlebt. Gedanken zur Opposition in der DDR“. Ich freue mich sehr, liebe Frau Klier, dass wir Sie zu diesem Thema heute hier begrüßen dürfen. Wir haben mit Ihnen jemanden gewonnen, der, wenn es um das Thema Berufsverbot oder um die Erfahrung von Ausweisung und Inhaftierung geht, weiß, wovon er spricht. Es war für mich bei der Bekanntmachung dieser Veranstaltung eine große Freude festzustellen, dass die Reaktion durchweg lautete: „Freiheit, Klier, ja, da komme ich!“ Sie sind hier allseits bekannt, ich habe das Gefühl, es wird eine interessante Veranstaltung.

Ferner freue ich mich, dass auch Sie, lieber Wolfgang Gerhardt, heute bei uns sind, in einem Raum, in dem wir schon einmal zusammentrafen, im Frühjahr 1990. Ich begrüße Sie als Vorsitzenden des Vorstandes der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Besonders freue ich mich auch, dass unser Ehrenbürger Walter Scheler unter uns ist. Walter Scheler gehörte zu denen, die im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 verhaftet und nach zur sowjetischen Militäradministration transpor- tiert wurden, gemeinsam mit Alfred Diener. Diener, der am Morgen des nächsten Tages standrechtlich erschossen wurde, hat auf der Fahrt zu Ihnen, Herr Scheler, und zu Ihren Freunden gesagt: „Haltet dicht, ich nehme alles auf mich!“

Heute geht es um die Aufarbeitung unserer Geschichte. Dass man das in An- wesenheit von Betroffenen machen kann, die sich eingebracht haben in Zeiten, in denen man Leib, Leben und Gesundheit riskiert hat, wenn man zu seiner politischen Überzeugung stand, finde ich besonders wichtig.

Rede zur Freiheit – Jena 7 Begrüßen möchte ich schließlich Altrektor Machnik als Vertreter der Fried- rich-Schiller-Universität. Professor Koschmieder, den das Programm des heutigen Abends noch als Grußredner ausweist, muss ich entschuldigen. Er ist erkrankt und hat mich gebeten, selbst einige Worte zur Universität und ihrem Bezug zum Frei- heitsthema zu sagen.

Ich möchte mich aber zunächst noch bedanken bei allen, die diese Veranstal- tung mit organisiert haben, in Potsdam, in Berlin, in Halle, in Weimar und natürlich hier in Jena. Ich weiß, dass es sehr schwierig ist, für einen anspruchsvollen Vortrag ausgerechnet an einem Freitagabend ein größeres Publikum zu mobilisieren.

Meine Damen und Herren, Sie alle werden eine andere Perspektive auf die Ge- schichte haben. Ich freue mich, so viele junge Menschen hier im Raum zu sehen, die einen Teil von dem, worüber wir heute reden wollen, nur noch aus Büchern kennen. Ich freue mich natürlich auch über die Anwesenheit all derer, die aktiv oder passiv am Widerstand beteiligt waren. Aktiv am Widerstand beteiligt – einen Namen habe ich ja schon genannt. Aktive Widerständler gab es in Jena natürlich aber auch zum Zeitpunkt der friedlichen Revolution von 1989, auf die wir stolz sein können. Aber ich begrüße auch die, die in der Zeit der Diktatur dafür gesorgt haben, dass es einen Grundkonsens an Solidarität gab, der dafür gesorgt hat, dass diese Stadt ihre Menschlichkeit auch in schwierigen Zeiten nie verloren hat.

Ich freue mich aber auch über die Anwesenheit von Menschen, die enttäuscht sind vom Ausgang der friedlichen Revolution und vom Ergebnis des eigenen Enga- gements. Viele waren, während sie Widerstand leisteten, von anderen Hoffnungen getragen, von Erwartungen, die sich nicht erfüllen sollten. Wenn Sie das Buch von Frau Klier über Matthias Domaschk lesen, finden Sie im Einband die Namen einer ganzen Anzahl von Mitstreitern. Nur wenige sind nach der Wende in Führungs- funktionen in der Kommunal- oder Landespolitik gegangen. Über die Gründe für diese Resignation sollten wir, wie ich finde, ernsthaft nachdenken.

Seien Sie bitte nicht erstaunt, wenn ich jetzt auch noch diejenigen begrüße, die bis zum Mauerfall zur politischen Elite gezählt haben. Das hat seinen guten Grund. Jede Generation sollte ihre Geschichte selbst aufarbeiten. Ihren Enkeln und Urenkeln kann sie das nicht überlassen. Diese Möglichkeit müssen wir nutzen, und deswegen glaube ich, wenn auch ehemalige Funktionsträger an dieser Veranstaltung teilnehmen, die willens sind, an der Aufarbeitung ehrlich mitzuwirken, dann ist das zu begrüßen. Ich bin der festen Überzeugung, dass uns die Trennung zwischen Gut und Böse in diesem Prozess nicht weiterbringt. Seien wir ehrlich, erinnern wir uns, wie dankbar wir gewesen sind für Menschen, die scheinbar auf der anderen Seite

8 Rede zur Freiheit – Jena standen, die uns als Ansprechpartner und als Kollegen in schwierigen Situationen aber auch helfen konnten. Mit Schwarz-Weiß-Malerei kommen wir nicht weit.

Lassen Sie mich auch einige Worte zur Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit sagen, deren Gast wir heute sind. Sie bemüht sich mit ihren etwa 150 Mitarbeitern in über 60 Ländern, den Wert der Freiheit zu vermitteln. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass das Ausland, wenn es nach Deutschland fragt, vor allem auf diejenigen zugeht, die die Diktatur erlebt und überlebt haben. Was man dazu in Stuttgart oder München berichten kann, ist für die Leute weniger wichtig als dasjenige, was man in Leipzig, in Jena oder in anderen ostdeutschen Städten zu erzählen hat. Ich denke, dass wir sogar die Pflicht haben, unsere Erfahrungen einzubringen.

Über den Wert der Freiheit nachzudenken, lohnt sich natürlich auch heute noch. Sie wird unterschiedlich wahrgenommen, unterschiedlich verstanden, unterschied- lich interpretiert. An die Definitionen, wie sie in der DDR galten, erinnere ich mich nur dunkel. Genützt haben sie uns nichts, denn wir haben unter dem Defizit der Freiheit gelitten. Die Stiftung für die Freiheit hat diesen Wert genau zum richtigen Zeitpunkt in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt. Denn wir erleben täglich, dass die Freiheit auch heute bedroht ist, sie steht immer wieder zur Disposition.

Die Stiftung will sich des Freiheitsthemas im Rahmen verschiedener Großver- anstaltungen annehmen. Dazu zählen der einmal im Jahr stattfindende Freiheits- kongress, der alle zwei Jahre verliehene Freiheitspreis und die zweimal pro Jahr stattfindende „Rede zur Freiheit“. Eine dieser Reden hält heute Frau Klier.

Warum ausgerechnet in Jena? Der Grund liegt auf der Hand: Die Stadt hat einen engen Bezug zur Freiheitsgeschichte. Das beginnt schon sehr früh mit dem Auszug der Jenaer Studenten in die Freiheitskriege, setzt sich fort mit der Grün- dung der Urburschenschaften, mit den Klassikern der deutschen Philosophie, mit Schiller natürlich und mit Goethe. Goethe, der Geheimrat und Minister, hat uns auch aufgetragen, wie wir mit der Freiheit umzugehen haben. Am Ende von Faust II heißt es: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss“. Dieser Satz ist zeitlos, er gilt heute genauso wie übermorgen.

Die Freiheitsgeschichte der Stadt Jena ist mit der literarischen Klassik natür- lich längst noch nicht zu Ende. Ich möchte einen Sprung machen und Rainer Ep- pelmann zitieren, lange Zeit Leiter der Enquêtekommission des Deutschen Bun- destages. Im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte hat er mir einmal gesagt: „Herr Röhlinger: Sie können auf diese Stadt stolz sein. Sie gehört

Rede zur Freiheit – Jena 9 zu denen, die wie Magdeburg, wie Berlin, wie Dresden, wie Leipzig als Städte des Widerstandes in Deutschland gelten“.

Mit einem weiteren Sprung möchte ich an die Nachkriegszeit erinnern. Wir hatten gerade gestern eine Veranstaltung zur Erinnerung an Grete Unrein, Ehren- bürgerin dieser Stadt und Tochter von Ernst Abbe, einem der Väter der modernen Optik. Sie hat sich in der Zeit des Nationalsozialismus vorbildhaft für jüdische Mit- bürger eingesetzt und dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt. Ihr Beispiel zeigt, dass Menschen auch in Zeiten von Diktaturen durchaus in der Lage waren, für die Prinzipien der Humanität einzutreten.

Wenn wir in die Kriegs- und Nachkriegszeit blicken, möchte ich auch an die Vertreter in den kommunalen Parlamenten und den Landesparlamenten erinnern, die, wie die Jenaer Oberbürgermeister Meier und Herdegen, ihr Amt unter unvor- stellbaren Repressalien niederlegen und die Republik verlassen mussten. Ich sage das deswegen, weil die Erinnerung an die DDR-Widerstandsgeschichte häufig erst mit dem 17. Juni beginnt. Ganz korrekt ist das nicht. Es gab auch in Jena eine li- berale Hochschulgruppe. Mitglieder dieser Gruppe leben glücklicherweise heute noch. Als Alumni kommen ihre Vertreter jährlich einmal zum Schiller-Tag nach Jena. Diese Gruppe war Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre zahlenmä- ßig größer als die FDJ. Das passte natürlich nicht ins Weltbild einer Diktatur des Proletariats unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei. Viele von ihnen wurden inhaftiert oder verließen die Republik.

Der Höhepunkt der Unterdrückung war zweifelsohne der Volksaufstand am 17. Juni 1953. Ich war damals 14, ein Alter, in dem man solche Dinge schon sehr bewusst wahrnimmt. Für mich war es eine große Freude, an einem sonnigen Tag für einige Stunden die Freiheit auf dem Holzmarkt erleben zu dürfen und das zu singen. Dann kamen die sowjetischen Panzer und mit ihnen die Verhaftungen. Ich werde sie nie vergessen, diese Todesstille, diese Grabesstille am nächsten Tag.

Wer diese Zeit erlebt hat, erinnert sich sicher auch noch, dass im Gefolge der Revolutionen in Ungarn und Polen, mit dem 13. August 1961 und dem Einmarsch der Staaten des Warschauer Pakts auch die Opposition hier in Jena immer stärker eingeschüchtert wurde.

Vor diesem Hintergrund ist es sicher nachvollziehbar, dass wir uns zurückge- halten haben. Erst die junge Generation begann wieder, gegen das Regime zu op- ponieren, in den siebziger Jahren im Rahmen der Jungen Gemeinde. Sehr vorsichtig

10 Rede zur Freiheit – Jena zunächst und sehr sensibel. Verbunden bleibt dieses Engagement mit den Namen von Jürgen Fuchs und Matthias Domaschk, von Peter Rösch und anderen. Sie standen schnell im Fadenkreuz der . Die Junge Gemeinde hier im Stadtzentrum bildete – das merkte man auch in den Septembertagen des Jahres 1989 – eine Struktur, mit der man rechnen und auf die man sich verlassen konnte.

Gleichzeitig aber wurde, das will ich bei der Gelegenheit auch erwähnen, auch die Universität aktiv. Man denke an die Proteste gegen das Verbot des „Sputnik“ oder gegen den Ceausescu-Besuch – Professor Ullrich Zwiener hat in der Zeitschrift „Forschung und Lehre“ 1996 darüber geschrieben.

Schließlich wurde Anfang Dezember 1989 in Jena die Aktionsgemeinschaft „Demokratische Erneuerung der Hochschulen“ gegründet. Diese Hochschule hat versucht, sich aus eigener Kraft zu erneuern und gehörte zu den Universitäten, die als erste aus eigener Kraft diese Erneuerung geschafft haben. Genannt seien hier die Professoren Jorke, Zwiener, Wechsung, Herr Machnik, Herr Meinhold und Frau Klinger.

So schließt sich für mich der Kreis, so endet der Faden, den ich über die Jahr- hunderte bis in die 1990 Jahre zu spinnen versucht habe. Die Jenaer können stolz sein auf das Attribut einer Stadt des Widerstands. Unsere Aufgabe ist es, dass wir nun auch mit der gewonnenen Freiheit verantwortlich umgehen. Noch einmal Goe- the: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss“. Fangen wir heute damit an!

Frau Klier, Sie haben das Wort!

Rede zur Freiheit – Jena 11 Freya Klier

„Einer aus Jena hat die Freiheit nicht mehr erlebt“

1. „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“

1987 fuhr ich mit Stephan Krawczyk nach Thüringen: Wir steuerten Jena an, Er- furt und . Beide hatten wir seit zwei Jahren Berufsverbot – ich als Theaterre- gisseurin, mein Mann Stephan Krawczyk als Liedermacher. Das Berufsverbot war 1985 mit der Aufforderung einhergegangen, das Land zu verlassen. Wir hatten abgelehnt. Doch auch unser Berufsverbot nahmen wir nicht hin: Wir gründeten kurzerhand die erste freie Theatergruppe der DDR! Freie Theatergruppen waren selbstverständlich verboten, und eine richtige Gruppe waren wir zwei auch noch nicht – eher ein Duett. Doch wollten wir uns nicht beugen und fanden, es sei über- fällig, dieses verkrustete Land ein Stück in Richtung Demokratie aufzubrechen. So wie wir dachten wohl viele DDR-Bürger.

Also begannen wir, Szenen- und Liedcollagen zu Themen zu entwickeln, die in der DDR tabuisiert waren – und das war fast alles, was die Menschen bewegte.

Doch wo auftreten? Sämtliche offiziellen Auftrittsorte befanden sich in den Händen der herrschenden Partei SED, jeder Auftritt wurde von ihr kontrolliert: Die Freiheit, seine Meinung zu äußern, künstlerisch auf die Missstände im Land auf- merksam zu machen – diese Freiheit gab es in der DDR schon seit 40 Jahren nicht mehr.

Ich selbst komme aus der Evangelischen Kirche, hatte 1980 die kirchliche Frie- densbewegung mitgegründet und kannte eine ganze Reihe tapferer Mitstreiter im Land. Die ersten begannen, uns einzuladen – Gemeindehäuser und Kirchen für unsere kritischen Themen zu öffnen. Die Räume füllten sich schnell: Die Auftritte sprachen sich herum und zogen weitere Einladungen nach sich. Wir nahmen uns die Freiheit, die Wahrheit über die Zustände in unserem Land künstlerisch darzu- stellen. Wir, das umfasste auch Pfarrer und Jugendmitarbeiter sowie alle Menschen, die zu unseren Auftritten kamen, darunter viele junge. Die Atmosphäre in solchen

12 Rede zur Freiheit – Jena Veranstaltungen lud sich mit Hoffnung und Kraft auf. Eine Emphase und Leiden- schaft entstand, wie sie zwei Jahrhunderte zuvor Friedrich Schillers Marquis Posa erfasst haben mag, der wie seine Mitbürger unter der Willkür des Fürsten litt und diesen deshalb beschwor: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“

Eine Ebene war plötzlich geschaffen ohne Zensur und staatliche Gängelei. Für die meisten war es eine Erfahrung mit Freudentränen und Gänsehaut – auch für uns, die wir spielten. Mag sein, dass man politische Leidenschaft und die damit verbun- denen Glücks- und auch Ohnmachtsgefühle nur in Zeiten der Unterdrückung so tief erlebt. Immer aber gilt: Die Freiheit schmeckt am besten, die man selbst erkämpft hat; wer weiß das besser als jene, die im Herbst 1989 auf die Straße gingen.

Die Staatsorgane ließen sich unsere selbst geschaffenen Freiräume nicht bie- ten und setzten die Kirche von Monat zu Monat schärfer unter Druck. In meinem Tagebuch Abreißkalender notierte ich im Jahr 1987.

„7.-9. Mai. Auftritte in den Kirchen von Jena, und Gera. Gysi, oberster SED-Chef für Kirchenfragen, hat, so erfahren wir, die Bischöfe Thüringens persönlich zur Absage unserer Auftritte aufgefordert. Wie fast immer in den letzten Wochen führen wir mit dem jeweiligen Pfarrer, dem Superintendenten oder Propst und den Vorbereitungsgruppen lange Gespräche. Die Auftritte dürfen schließlich stattfinden. Es ist wie ein Durchbruch. Immer stärker und parallel zur Beschwörung beginnt der Staat jedoch, die Kirche für ihren Ungehorsam zu strafen: Ein Pfarrer ist für einen unserer Auftritte bereits mit einer Ordnungsstrafe von 500 M belegt worden. Er weigert sich zu bezahlen. Wir selbst fahren nur noch mit Geleitschutz von Staatssicherheit durchs Land.“

2. Der stete Freiheitsfunken in der Stadt

In gut getarnten Auto-Verstecken führten wir 1987 oft verbotene Bücher mit uns. Jürgen Fuchs und Roland Jahn – zwei ausgebürgerte Dissidenten aus Jena – schmug- gelten die Literatur von West-Berlin aus mit Hilfe von Journalisten und Diplomaten in den Osten; einen Teil davon zweigten wir regelmäßig für die Oppositionsgruppen im Land draußen ab. Auch für die Thüringer.

Jena, daran erinnere ich mich gut, hatte 1987 einen tapferen Superintendenten und eine sehr engagierte Junge Gemeinde. Während über vielen Orten der DDR die Resignation bereits wie der alles beherrschende Braunkohlengeruch hing, trotzte in der Saalestadt eine Oppositionsszene.

Rede zur Freiheit – Jena 13 Wir wissen heute: Es gab vor und nach dem Mauerbau in allen Teilen der DDR Widerstand – immer wieder fanden Frauen und Männer den Mut, aufzubegehren gegen staatliche Lüge und Unterdrückung. Doch nirgendwo war der Protest von einer solchen Dauer, wurde er von einer so großen Zahl junger Menschen getragen wie in der thüringischen Universitätsstadt Jena. Seine Hochphase zu DDR-Zeiten verorte ich zwischen 1973 und 1983.

Was hat diese Universitätsstadt am Mittellauf der Saale, dass sich hier ein frei- heitlicher Geist durch die Jahrhunderte zog? Beim Stichwort Jena fliegen einem ja nicht nur Schiller und Goethe um die Ohren, Fichte und Hegel, Feuerbach, Schel- ling, Hölderlin, Novalis und viele andere glanzvolle Namen. In ihrer Universität er- kannte ja auch Napoleon eines dieser „Nester voller glühender Kohlen“, wie er die deutschen Universitäten nicht ohne Bewunderung umschrieb. Und als hätten sie seinen Wink verstanden, zogen denn auch 143 Jenaer Studenten (immerhin mehr als die Hälfte der damals Immatrikulierten) im Juni 1815 durch die Gassen der In- nenstadt Jenas – in langen Reihen und mit inbrünstigen Mienen.

Sie überquerten den Fluss auf der alten Saalebrücke, um sich dann im Gasthaus Zur Tanne zu vereinen und nichts Geringeres als die Burschenschaft zu gründen ... was damals ja nichts anderes meinte als Studentenschaft. Bereits zwei Jahre zuvor waren studentische Gruppierungen für die Befreiung von napoleonischer Fremd- herrschaft ausgezogen, wie das unheroische und vielleicht deshalb so eindringliche Gemälde Ferdinand Hodlers zeigt. Mit der Gründung der Urburschenschaft wehte erstmals der Geist von Einigkeit und Recht und Freiheit durch ein besetztes und zerrissenes Land. Jenaer „Frauen und Jungfrauen“ nähten dazu die längst berühmt gewordene Fahne.

Was ist das Geheimnis des steten Freiheitsfunkens in der Saalestadt?

Viel wird da herumgeraten. Ich rate mit und befrage immer mal wieder Einhei- mische dazu. Manch einer meint, Jena habe schon immer über ein libertäres Klima verfügt aufgrund seiner guten Netzwerke. Für andere ist das alte Renaissance-Ge- wölbe der Schlüssel, das als Rosenkeller zu den dienstältesten Studentenklubs deut- scher Universitäten zählt: Hier trafen Studenten immer wieder aufeinander, um sich in mannigfaltigen, einander ergänzenden Personenkonstellationen freiheitlichem Gedankengut hinzugeben, stets gut geölt mit Bier und Wein. Diese Variante wird schnell auf alle gemütlichen und fußläufigen Kneipen Jenas ausgeweitet. Gourmets mögen noch die köstliche, den Geist stabilisierende Thüringer Küche hinzufügen, Naturverbundene haben das Geheimnis im gemeinsamen Wandern durch die Mu- schelkalkberge erspürt – vermutlich aber kommt alles zusammen.

14 Rede zur Freiheit – Jena 3. Ein Staat, der nicht mit sich spaßen lässt

In diese Melange – durchsetzt nun mit einer Fülle von Verboten im Namen des Sozialismus – wächst die Jenaer Szene hinein; wir schreiben das späte 20. Jahr- hundert. Studenten und junge Arbeiter sind es, die plötzlich ein selbstbestimmtes Leben einfordern, Schüler und Lehrlinge. Sie haben so harmlose Spitznamen wie Gag, Matz oder Blase, Hopser und Früchtchen, Holzi, Goofy, Bohne. Die Harmlosigkeit täuscht: Ihr mutiger Widerstand wird schon wenige Jahre später über die Grenzen Thüringens hallen und durch die Mauern der abgeschotteten DDR dringen.

In den frühen 70er Jahren ist davon allerdings noch wenig zu spüren. Was wis- sen sie überhaupt von der Geschichte ihres Landes? Während der brutalen Über- griffe der 50er Jahre, der Massenverhaftungen und nicht endenden Fluchtwellen aus der DDR waren die meisten von ihnen noch kleine Kinder. In den 60er Jahren, als die „Beat-Generation“ zur Strafarbeit im Braunkohlentagebau anrücken musste, drückten sie als Grundschüler die Schulbank. Jetzt aber scheint ihre Zeit gekom- men. Jetzt sind sie es, die ihre ersten Gehversuche in einem Staat unternehmen, der nicht mit sich spaßen lässt.

Natürlich werden auch sie bereits gegängelt und drangsaliert, doch wirkt das auf die meisten der jungen Thüringer noch wie ein Spiel. Und reizt es nicht, den schmalen Raum auszuloten, der einem zugeteilt ist und zu versuchen, ihn zu er- weitern? Nur nicht brav mitlatschen, nur nicht angepasst sein – leben, sich fühlen, jung sein! Ja ... auch und gerade in der DDR!

Um sich freizumachen von Drill und Gängelei, sprühen sie vor Ideen: Subversive Bücher kreisen und manche Flasche Rotwein.

Wanderungen in die Berge rund um Jena werden unternommen, private Partys organisiert, die ersten Kneipen zu Szenetreffs erhoben. Westliche Musiksendungen im Radio werden auf Tonband mitgeschnitten und frech getauscht. Ob Rolling Stones, Aretha Franklin oder Leonhard Cohen: Wer es geschafft hat, sich ein Ton- bandgerät zusammenzusparen – immerhin kostet das zwei bis drei Monatsgehälter – der versorgt seine Freunde mit verbotener Westmusik.

Zu den Auftritten der landeseigenen Rock&Blues-Bands wird getrampt. Per An- halter durch die Gegend zu fahren ist eine bei unangepassten DDR-Jugendlichen äußerst beliebte Daseinsform, weil hier Weg und Ziel auf wunderbare Weise zu- sammenfallen und in ein seltenes Gefühl von Freisein münden.

Rede zur Freiheit – Jena 15 Polizei und Staatssicherheit stufen solche Jugendlichen, die sich auf die Piste machen, in die Feind-Kategorie „Tramper, Kunden, Fans“ ein – Jugendliche wie Re- nate Groß, Peter Rösch, Doris Liebermann oder Roland Jahn. Auch sie machen sich irgendwann auf die Piste, reisen mit Umhängetaschen los, auf denen Peace-Aufnä- her prangen. Und sie trampen dorthin, wo mal wieder eine Rock-Truppe auftreten darf, werden magisch angezogen von Namen wie Bayon, Kehrt oder Renft...

Die Tramper-Szene hält sich durch Flüster-Propaganda zusammen: Welche Gruppe spielt wo? Wer kennt wen? Und in welcher Stadt? Die Vernetzung funkti- oniert quer durch die Republik. Und das Ausleben einer hierarchiefreien Gemein- schaft wirkt auf Jugendliche in der Erziehungsdiktatur DDR geradezu therapeutisch, man ahnt Freiheit.

In dieser Szene ist 1974 der 17-jährige Schüler Matthias Domaschk zuhau- se. Auch er macht sich zu Veranstaltungen in andere Städte auf, allein oder mit Freunden. Unterwegs begegnet er Jugendlichen, die von Schikanen durch Lehrer oder Polizisten berichten; die als bildungsunwert gelten aufgrund langer Haare oder eines mutig getragenen Jimi-Hendrix-T-Shirts. Er trifft hier ehemalige Gym- nasiasten und Studenten, die lebenslänglich für höhere Bildung gesperrt wurden, weil ihnen der „sozialistische Klassenstandpunkt“ fehlt.

Die Tramper-Szene ist ein Lernort mit prägenden Erlebnissen, das Herumreisen ein guter Weg zum Austausch subversiver Ideen. Und davon profitiert am Ende auch die Junge Gemeinde der Stadt Jena, der Matthias Domaschk angehört.

4. Die Zeit der Exmatrikulationen

Als Friedrich Schiller 1789 seine Antrittsrede als Extraordinarius der Philosophie an der Universität Jena hält – die Französische Revolution steht zu dieser Zeit kurz vor ihrem Ausbruch –, handelt er die Verkettung von Ursache und Wirkung ab, bietet er eine theoretische Begründung historischer Arbeitsweise und spricht vom großen Naturplan, in dem von Anfang an die Entwicklung des Menschen angelegt sei. Er lobt die moderne, aufgeklärte Zeit und endet mit einem emphatischen Bekennt- nis zu seiner gegenwärtigen Epoche: „Unser menschliches Jahrhundert herbeizu- führen“ schließt Schiller seine Antrittsrede, „haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorherigen Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimge- bracht haben“.

16 Rede zur Freiheit – Jena Das klingt gut. Und vielleicht lauschen auch die angehenden Studenten des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden später diesem Zitat. Doch herrscht zwei Jahrhunderte nach Schiller an der Jenaer Universität eine Zensur, wie sie der Dichter und seine Verbündeten wohl nicht einmal in ihren Albträumen erahnten. Der Weg in eine humanistische Gesellschaft ist in totalitärem Ausmaß verbaut. Über den freien Geist hat sich ein Ungeist gestülpt, denn Funktionäre be- stimmen nun, was die jungen Leute denken dürfen und was nicht, eine geistige Beschränkung, die Studenten auch noch wissenschaftlich begründen müssen. Das Denkverbot lastet bis zum Mauerfall auf allen Universitäten der DDR.

Mitte der 70er Jahre nimmt die Zahl der politischen Exmatrikulationen an der Friedrich-Schiller-Universität zu. Sie treffen, wie in den Jahrzehnten zuvor, die Mu- tigen, die besonders Glaubwürdigen. Unter den Geschassten befindet sich einer, der Friedrich Schiller an moralischer Rigorosität sehr ähnlich ist: der 23-jährige Psy- chologie-Student Jürgen Fuchs, zugleich ein junger Dichter. In Form eines Tribunals wird über den Studenten kurz vor seinem Diplomabschluss entschieden, dass er so lange von jeglichem Studium ausgeschlossen bleibt, wie er sein DDR-kritisches Verhalten nicht ändert und sich von seinen bisherigen politischen Überzeugungen distanziert. Dieses Verbot gilt für alle Hochschulen und Universitäten der DDR.

Jürgen Fuchs kam zur Armee als gläubiger Jungsozialist. Doch auf der Sturm- bahn und unter dem faschistischen Kommando-Gebell der Offiziere holte ihn auf traumatische Weise die Realität ein. Seit Fuchs von der Armee zurück ist, treibt ihn die Suche nach Wahrheit um. Er tritt in öffentlichen und privaten Lesungen auf, ist eng verbandelt mit dem Arbeitskreis Literatur & Lyrik, dessen Verbot gerade mit seiner Exmatrikulation zusammenfällt.

Es wird jetzt aufgeräumt in Jena. Und es kommt schlimmer:

Im November 1976 wird dem bekanntesten deutschen Liedermacher Wolf Bier- mann nach einem Konzert in Köln die Rückkehr in die DDR verwehrt.

Die Ausbürgerung Biermanns löst weltweit eine Welle der Empörung aus. Mit einem solchen Echo hatten die DDR-Funktionäre nicht gerechnet. Schriftsteller verfassen eine Protesterklärung, die mehr als hundert Künstler und Literaten der DDR unterzeichnen. Und landesweit beginnen nun vor allem junge Leute, Unter- schriften gegen die Biermann-Ausbürgerung zu sammeln – auch in Jena. Am Don- nerstag, dem 18. November 1976, kommen in den Räumen der Jungen Gemeinde Jena-Stadtmitte in der Johannisstraße die entsetzten JG-Mitglieder zusammen.

Rede zur Freiheit – Jena 17 Das einzige Thema des Abends: Wie reagieren wir auf die Ungeheuerlichkeit der Ausbürgerung?

Am Abend zuvor hatte der Berliner Schriftsteller Jurek Becker in Jena gelesen und zum Schluss seiner Lesung offen zur Solidarität mit Biermann aufgerufen. Was für ein Mut! Nun sind sie dran, etwas zu tun! 58 Personen unterschreiben an diesem 18. November 1976 in der JG die Protestresolution. Sie wissen, dass spontane Un- terschriftensammlungen in der DDR verboten sind – doch das hält sie nicht ab!

Als sie in dieser Nacht zu Bett gehen, ahnen sie nichts von dem, was sich über ihren schlafenden Häuptern zusammenbraut: Unter ihnen befindet sich ein Stasi- Spitzel – eingeschleust in ihren Freundeskreis. Dieser trifft nach Mitternacht bei der Staatssicherheit ein, Kreisdienststelle Jena, um den Geheimdienst über die Un- terschriftenaktion zu informieren – und über alle daran beteiligten Personen.

Beim Ministerium für Staatssicherheit herrscht daraufhin Großalarm. Um sechs Uhr morgens beginnen die Verhaftungen.

Mit einem Rundumschlag versucht die Staatsmacht jetzt, die aufmüpfige Je- naer „Szene“ zu zersetzen: Mindestens fünfundvierzig Personen werden im Zusam- menhang mit der Biermann-Ausbürgerung verhaftet; weitere elf müssen Verhöre ertragen, die bis zu 72 Stunden dauern. Insgesamt fünfzehn Wohnungen werden mit Großaufgebot durchwühlt.

In der „Szene“ geht die Angst um – Belastendes verschwindet überstürzt im Ofen, bevor es der Staatssicherheit in die Hände fällt. Die sammelt dennoch ge- nügend Material ein.

Der Biermann-Protest erschüttert die Festen der DDR: Landesweit registriert die Staatssicherheit „Hetzflugblätter“ und „staatsfeindliche Schmierereien“. Hunderte Biermann-Sympathisanten verschwinden in den Gefängnissen der DDR.

Zwischen Berlin und Grünheide verhaftet die Staatssicherheit auch Jürgen Fuchs und transportiert ihn in die Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen. Das gleiche Schicksal trifft die mit Biermann befreundeten Musiker Gerulf Pannach und Christian Kunert von der Klaus-Renft-Combo – auch sie finden sich plötzlich hinter den Gittern von Hohenschönhausen wieder.

18 Rede zur Freiheit – Jena Lähmung und Angst ziehen sich über die Jahreswende. Von den in Jena In- haftierten befinden sich zu Beginn des Jahres 1977 noch acht im Gewahrsam der Staatssicherheit.

Doch es gibt auch große, ermutigende Momente. Derer erinnert sich Doris Lie- bermann, die damals Theologie studierte:

„Sie war überwältigend, diese unerwartete Solidarität. Nie wieder habe ich in meinem Leben eine so große Solidarität erlebt wie in diesem Jahr, in dem ich noch in Jena war: Manchmal brachten mir bis dahin unbekannte Kommilitonen von irgendwoher Geld mit; sie hatten es in ihren entlegenen Gemeinden – im Erzgebirge oder sonstwo – für die Verhafteten gesammelt...“

Nach der Verhaftungswelle wird nun die halbe Jenaer „Szene“ in den Westen ab- gedrängt. Systematischer werden die Zurückbleibenden beobachtet und bekämpft. Zum Einsatz kommen Abhörtechnik und konspirative Wohnungsdurchsuchungen. Das Ministerium für Staatssicherheit streut vergiftende Gerüchte und schleust verstärkt Inoffizielle Mitarbeiter (IM) in die Opposition ein, die sich ins Vertrauen der ahnungslosen und offenen jungen Leute schleichen. Hand in Hand organisie- ren Partei und Staatssicherheit den beruflichen und gesellschaftlichen Misserfolg: Matthias Domaschk wird vier Wochen vor den mündlichen Prüfungen aus der Abiturklasse relegiert – wegen „gesellschaftlicher Unreife“. Er wollte Geodäsie stu- dieren! Doch wird ihm nun sein Engagement bei der Unterschriftensammlung zum Verhängnis: Domaschk darf seine Lehre als Feinmechaniker beenden, doch an einen Studienplatz ist nicht mehr zu denken.

Roland Jahn, Student der Wirtschaftswissenschaften, hat in einem Seminar zum Wissenschaftlichen Kommunismus die Ausbürgerung Biermanns kritisiert, ein eifriger Student aber hat seine Worte mitgeschrieben. Jahn wird zur Univer- sitätsleitung zitiert, wo man ihm mitteilt, er sei als zukünftiger Akademiker nicht mehr tragbar.

Bekommt er Hilfe von seinen Mitstudenten?

Im Gegenteil: Im Namen des Studentenkollektivs fordert der FDJ-Sekretär den Rauswurf Jahns. Im Februar 1977 fliegt er von der Universität; wie üblich, gilt sein Studienverbot für alle Universitäten der DDR. Jahn muss zur „Bewährung in die Produktion“, er wird Transportarbeiter bei Zeiss Jena.

Rede zur Freiheit – Jena 19 Peter Rösch gehört bereits zur Arbeiterklasse, er ist Feinmechaniker in einem Forschungsinstitut der Jenaer Universität. Dreißig Jahre später erinnert er sich:

„Mein Chef in diesem Institut, der war schon HJ-Führer bei den Nazis gewesen, und nun war er in der SED und als IM bei der Stasi, wie sich nach der Wende herausgestellt hat. Also, nach der Biermann- Ausbürgerung und meinem Protest dagegen hat der zu mir gesagt: ´ Weißte, Peter, das Beste für unser Kollektiv ist: Du holst Dir ´ne Wäscheleine vom Schrank und hängst Dich auf!‘“

5. Einer hat die Freiheit nicht mehr erlebt

Dass Friedrich Schiller 14-jährig zum Zögling in des Herzogs Militärakademie be- stimmt wurde, hat sein Denken und seine Literatur ein Leben lang geprägt. Die traumatische Erfahrung, in eine Armee gezwungen zu werden, die ein Unterdrü- ckungsregime verteidigt, lastet 200 Jahre später auf den jungen Männern der DDR – auch auf denen der Jenaer Opposition, deren männliche Protagonisten 1977 ab- kommandiert werden, als zusätzliche Strafaktion:

Matthias Domaschk hat sich in einer für besondere Brutalität bekannten Pan- zerschützen-Einheit in Torgelow zu melden. Sein Freund Peter Rösch verweigert den Dienst an der Waffe und findet sich dafür in einem Stacheldrahtverhau wieder, in einem Wald irgendwo in Brandenburg.

Jürgen Fuchs, der die Militär-Schikane schon ein paar Jahre früher aushalten musste und nun vom Gefängnis aus in den Westen abgeschoben wird, eröffnet seinen Gedichtband „Pappkameraden“ mit einem Zitat Wolfgang Borcherts: „Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin.“ Matthias Domaschk aber muss an- treten auf einen Pfiff hin, Morgen für Morgen, anderthalb Jahre lang.

Als die Armeeheimkehrer 1979 in Jena eintreffen, ist die Opposition stark ge- schwächt, hat man den halben Freundeskreis nach West-Berlin abgeschoben. Doch regt sich bereits neuer Lebens- und Widerstandswille: Nach dem Vorbild der flie- genden Universitäten in Polen wurde soeben ein neuer Lesekreis gegründet. Man wandert wieder in die Jenaer Berge, und hier kann man miteinander sprechen, ohne abgehört zu werden.

Als zehn Jahre später das SED-Regime gestürzt wird und die abgeschotteten DDR-Bürger endlich in die Welt hinausgehen können, ist einer nicht mehr dabei – Matthias Domaschk: Der kluge und sanfte junge Mann aus Jena kommt 1981 in

20 Rede zur Freiheit – Jena der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Gera ums Leben, unter bis heute ungeklärten Umständen. Die Staatssicherheit ordnet für die Eltern Kontakt- sperre zu den Freunden ihres Sohnes an, eine zügige Trauerfeier im engsten Fami- lienkreis mit anschließender Einäscherung.

Das Begräbnis aber wird zu einer leidenschaftlichen Anklage jener mehr als hundert Freunde, die den Friedhof trotz Absperrungen erreichen. Roland Jahn be- schreibt den Schock, den die Freunde damals erleiden:

„Mit Matz´ Tod brach plötzlich eine andere Dimension herein. Diese Nachricht hatte eine existentielle Wucht – wir wussten nun, dass auch der Tod am Ende unserer Auseinandersetzungen stehen konnte. Sein Tod war ganz nahe an jedem von uns dran. Sie hatten ihn zur Strecke gebracht – einen sanften jungen Mann, der einfach nur anders leben und nicht hatte mitlügen wollen. Das hätte mit jedem von uns passieren können – jetzt ging es nicht mehr um Kleinigkeiten.“

Ist Matthias Domaschk der einzige aus der demokratischen Opposition Jenas, bei dessen Tod die DDR-Geheimpolizei die Finger im Spiel hat? Zwischen 1977 und 1983 wird eine signifikante Zahl von Selbstmorden im Umfeld der Jenaer Jungen Gemeinde registriert. Man sollte heute jeden dieser Selbstmorde genauer unter die Lupe nehmen.

Im Herbst 1989 vereinen sich die Bürgerrechtsbewegungen, die kirchlichen und nichtkirchlichen Gruppen sowie unzählige mutige Einzelkämpfer zu einem hi- storischen Demonstrationszug, der bald ganz Osteuropa umfasst. Auch die Jenaer Opposition reiht sich in den großen Malstrom Richtung Demokratie ein. Und kurz darauf fällt in Deutschland die Mauer.

Der Umbruch ist ein gewaltiger. Die Zentralen der Staatssicherheit werden gestürmt, und als eine der ersten Anklagen an ihren Mauern kann man lesen: IHR HABT MATTHIAS DOMASCHK ERMORDET!

Doch das Sterben setzt sich fort: 1999 stirbt Jürgen Fuchs, der noch in West- berlin den Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit ausgesetzt war, im Alter von 48 Jahren an Blutkrebs. Und auch sein Freund, der Musiker Gerulf Pannach, stirbt an Blutkrebs.

All dieses gilt es zu erinnern.

Rede zur Freiheit – Jena 21 Und noch einmal zuwenden sollten wir uns der breiten Jenaer Oppositionssze- ne, ohne die die Geschichte des späten 20. Jahrhunderts in der Saalestadt nicht zu denken ist, ohne die eindrucksvollen Momente von Mut und Anstand, Freiheitswil- len, menschlicher Bescheidenheit und einem erstaunlichen Einfallsreichtum.

Wie wird der Mensch freiheitsfähig? Diese Frage trieb Friedrich Schiller sein Leben lang um. Ein ums andere Mal wandte er sich gegen rückwärtsschauende Sehnsucht, wollte fortschreiten zu Freiheit und Humanität, votierte leidenschaftlich für die Zivilisation. Dass er in seiner Jugendzeit militärisch gedrillt wurde und den Zwängen der Obrigkeit ausgeliefert war, hat seinen Freiheitsdrang enorm beflügelt. Wir kennen dieses Gefühl aus DDR-Tagen. Der Dichter sah auch, dass viele seiner Zeitgenossen nicht freiheitsfähig waren – er setzte auf Kunst.

Kommt uns nicht auch das bekannt vor?

Nehmen wir also Gedanken aus Schillers „Die Worte des Glaubens“ mit auf den Weg:

„Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, Und würd er in Ketten geboren. Laßt Euch nicht irren des Pöbels Geschrei, Nicht den Mißbrauch rasender Thoren! Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, Vor dem freien Menschen erzittert nicht!“

22 Rede zur Freiheit – Jena Dr. Wolfgang Gerhardt MdB

Schlusswort

Lieber Peter Röhlinger, liebe Frau Klier, das ist heute die zweite „Rede zur Freiheit“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Die erste hat der Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio im April am Brandenburger Tor in Berlin gehalten. Die zweite stammt von Ihnen, verehrte Freya Klier. Eine überaus beeindruckende Rede.

Nach Ihren Ausführungen fühle ich mich bestärkt. „FÜR DIE FREIHEIT“ – unter dem Vorzeichen dieser drei groß geschriebenen Worte handelt die Stiftung. Weil es in unserer Gesellschaft Menschen geben muss, die es sich nicht bequem ma- chen, die jede Gefährdung oder Bedrohung von Freiheit spüren, und die ein klares Bekenntnis dafür ablegen, dass wir in Freiheit leben wollen.

Auch die geschriebene Verfassung der DDR oder die geschriebene Verfassung der lei­der gescheiterten Weimarer Republik sprachen ausdrücklich von allen denk- baren Menschen- und Freiheitsrechten. Doch die entscheidende Voraussetzung für die erfolgreiche und verlässliche Verwirklichung dieser Grundrechte­ ist eine Gesell- schaft, die sie trägt, schützt und verteidigt. Das geschriebene Wort reicht nicht aus, hat noch nie ausgereicht. Und deshalb werden wir als Stif­tung „FÜR DIE FREIHEIT“ auch zukünftig an unserem Weg festhalten, öffentlich sprechen, handeln und uns konsequent für die Freiheit einsetzen.

Zum Beispiel mit Veranstaltungen, wie wir sie heute und hier gemeinsam er- leben. Solche Diskussionsrunden können und wollen wir jedoch nicht irgendwo stattfinden lassen. Der Ort selbst sollte ein Stück Freiheitsgeschichte erzählen und Teil von ihr sein. Das Hambacher Schloss ist ein solcher Ort, ebenso wie die Pauls- kirche in Frankfurt. Aber auch Göttingen, wo die Göttinger Sieben mit ihrem Ver­ fassungsengagement gegen die Herrschaft aufbegehrten; Freiburg, Offenburg, und

Rede zur Freiheit – Jena 23 der ganze badische Raum bieten aufgrund ihrer Historie geeignete Kulissen, um auf die vielgestaltige deutsche Freiheitsgeschichte hinzuweisen.

Ich halte es für ungemein wichtig, genau dieses immer wieder zu tun. Gerade der nachwachsenden, jungen Generation müssen wir wieder mehr von unserem eigenen­ kulturellen Wissen vermitteln, müssen sie aufmerksam machen auf poten­ zielle Gefährdungen von Freiheit und darin bestärken, genau hinzuschauen.

Auch nach Ihrem heutigen Vortrag, liebe Frau Klier, verharren wir für Momente fassungslos. Schüler, die der festen Überzeugung sind, dass die Alliierten im Jahr 1945 die Berliner Mauer erbaut haben, dass die Stasi ein Nachrichtendienst wie je­der andere gewesen sei oder dass die DDR keine Diktatur und Helmut Kohl ihr prominentester Politiker war, scheinen durchaus kein Einzelfall zu sein. Derart er­ schreckende Missverständnisse sind nicht nur unbegreiflich, sondern im höchsten Maße beschämend. Wer kann und darf zulassen, dass sich solch ein gefährliches Unwissen in den Köpfen junger Menschen breit macht und in einem alarmierenden Ausmaß zunimmt?

Erst heute berichtete die Tageszeitung DIE WELT von einer aktuellen Schüler- befragung. Diesmal in NRW, aber ich fürchte, die Ergebnisse sind ortsunabhängig. Da berichten 89,9 Prozent aller Schülerinnen und Schüler, dass sie über die DDR wenig oder gar nichts wissen. 89,9 Prozent! Wer den Bau der Berliner Mauer ver­ anlasst hat, können gerade einmal 30 Prozent der Befragten korrekt wiedergeben. Grundsätzlich sei, so das Ergebnis der beauftragten Studiengruppe der Freien Uni­ versität Berlin, ein eklatanter Mangel an Wertebewusstsein festzustellen.

Offenbar mangelt es nicht nur an Wissen. Es scheint, als fehle den jungen Leuten jedes Gespür für ein stabiles Wertegefüge. Es mangelt an bewusst verinnerlichten Bewertungskategorien und mit ihnen schwinden die Chancen, eine eigene Haltung gegenüber der Freiheit oder der Unfreiheit eines Systems zu entwickeln. Wer nicht weiß, was eine Diktatur ist, wird sich nicht gegen sie stellen können.

Meine Empfehlung für alle Anhänger der ehemaligen DDR, von denen es im übri­gen auch in den alten Bundesländern einige gibt, ist die Lektüre des Doku- mentationsbandes, in dem die Sitzungsprotokolle des Zentralkomitees der SED festgehalten­ sind. Wer immer für einen „zweiten Versuch“ plädiert, sollte hier einmal die akribisch niedergelegten Wortprotokolle nachlesen. Wenn ich selbst in der Position­ eines Schulleiters wäre, würde ich sogar verlangen, dass sich die Ge­ schichtslehrerinnen und -lehrer mindestens einmal im Jahr gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern mit diesem Stoff beschäftigen.

24 Rede zur Freiheit – Jena Wenn wir den jungen Menschen nicht helfen, nachhaltig zu begreifen, was sich seinerzeit in den politischen Sitzungssälen und Gremien vollzogen hat, wenn wir tatenlos hinnehmen, dass sich hier eine bildungspolitische Leerstelle auftut, dürfen wir uns nicht wundern, wenn jegliches Bewusstsein für die Wertigkeit von Freiheit­ fehlt. Dann dürfen wir auch nicht erstaunt sein, dass nur noch wenige Menschen bereit sind, sich für die Freiheit einzusetzen oder gar für sie zu kämpfen.

Ich sage dies deshalb so nachdrücklich, weil ich der festen Überzeugung bin, dass eine vitale Kultur des Lernens notwendig ist, um geschriebene Verfassungen mit Leben zu erfüllen und die grundgesetzlich verankerte Freiheit jeden Tag aufs Neue zu verwirklichen. Wenn wir den Gedanken von Freiheit nicht in uns tragen, wenn wir nicht wissen, dass wir auch für Minderheitenrechte eintreten müssen, wird uns die Umsetzung des Wortes in die Tat nicht gelingen. Es ist nicht immer bequem, eine klare Position zu beziehen. Auch Kritik- und Streitfähigkeit müssen gelernt und ausgehalten werden, wenn sich der notwendige offene Diskurs als Basis und permanente Bereicherung einer Demokratie bewähren soll.

Dabei müssen wir uns auch international orientieren können. Wir müssen begrei­ fen, dass wir nur dann freiheitlich leben können, wenn wir das Recht auf Freiheit auch für alle anderen Menschen auf der Welt absichern. Deshalb müssen wir unse­ re Stimme erheben, wenn Menschen unterdrückt, Frauen geschlagen, Kin­der nicht zur Schule geschickt oder ganze Völker von Einzelnen beherrscht und ausgebeutet werden. Wir müssen mutig sein, wenn sich die chinesische Volksrepublik über den Empfang des Dalai Lama beschwert. Wir müssen selbstbewusst sein, wenn es da- rum geht, unsere freiheitlichen Grundsätze konsequent zu verfolgen.

Klar zu wissen, wo unsere Werte liegen, ist auch eine Herausforderung in der kul­turellen Auseinandersetzung. Ich will das an einem Beispiel deutlich machen. Das Miteinander von Christentum und Islam ist eine der wichtigsten kulturellen Fra­gen unserer Zeit. Nach meiner Überzeugung reicht es nicht aus, vielstimmige De­batten über das Tragen eines Kopftuches oder die bebauungsplanerischen Höhen­ begrenzungen eines Minaretts oder einer Moschee zu führen. Das sind Äußerlich- keiten. Mich interessiert vielmehr, was unter dem Kopftuch ge­dacht, was in den muslimischen Gotteshäusern gepredigt und an welchem Punkt unsere christliche Sicht der Dinge zu einem Streitpunkt innerhalb des interkulturellen Dialogs wird.

Ich sehe im Publikum meine frühere Kollegin aus dem deutschen , Gisela Babel, die heute in Marburg lebt. Dabei erinnere ich mich an meine eige­nen Marburger Studienjahre, vor allem aber an den evangelischen Theologen Rudolf­ Bultmann und sein Programm der Entmythologisierung der neutestamentarischen

Rede zur Freiheit – Jena 25 Verkündigung. Die Bibel in einem historischen Kontext und losgelöst von reinen Glaubensfragen zu betrachten, war unbequem für die Christenheit und weder­ für die Vertreter der evangelischen noch der katholischen Konfession leicht zu akzep- tieren.

Für die Muslime ist der Koran die Offenbarung Allahs, und zwar ohne jeden Ab­ strich. Der Versuch oder auch nur der Wunsch nach einer Entmythologisierung des geschriebenen Wortes findet nach meinem Wissen derzeit nicht statt. Doch damit wird für viele Muslime ein gläubiger Zu- und Umgang mit der Realität ver­baut und ich bin sicher, auch die islamische Welt wird sich nicht immer vor diesem,­ wenn auch schmerzhaften Weg, versperren können. Zweifellos wird es hefti­ge Gegen- reaktionen geben, wie sie seinerzeit auch in der evangelischen und katholischen Kirche stattgefunden haben. Machen wir uns nichts vor, in der katholischen­ Kir- che haben sich die Menschenrechte erst mit dem II. Vatikanischen Kon­zil wirklich durchsetzen können. Und die Vorhölle für nicht getaufte Kinder ist noch nicht allzu lange aus unserem Gedankengut verbannt.

Trotz der Aufklärung der französischen Revolution, der humanistischen Bildungs­ bewegung und neuzeitlichen Verfassungsbestrebungen, haben sich auch in unserer Kultur derartige Neuerungsprozesse nur sehr allmählich umgesetzt. Dabei konnten wir jedoch auf das Paradigma eines säkularen Staates bauen, der als neutrale Ein­ heit religiöse Bekenntnisse duldet, ohne sich eines zueigen zu machen. Das war und ist von großer Bedeutung, denn damit wird erreicht, dass der Staat weder sich selbst noch eine einzelne Religion überhöht.

Religion und religiöse Bekenntnisse sind mir auch als Liberalem nichts Frem- des. Aber sie sollten immer neben anderem stehen können, ohne eine besondere Vor­machtstellung zu beanspruchen. Deshalb hat der säkulare Staat für mich auch nichts Religionsfeindliches. Er sichert die Rechte aller Bürger, und zwar nach Maß- stäben, die gemeinsam vereinbart wurden. Religionen, gleich welcher Art, müssen menschenrechtsverträglich sein. Von diesem Grundsatz dürfen wir nicht abwei- chen. Der Hinweis auf religiöse Authentizität darf nicht gleichbedeutend sein mit der Akzeptanz eines religiösen Bekenntnisses, das die Menschenrechte missachtet. Dafür gibt es keinen überzeugenden Grund.

Darüber hinaus halte ich eine vom früheren Limburger Bischof Kamphaus formu­lierte These für überaus bedeutsam. Er sagt: Die Kernfrage der Religion ist die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der Gewalt? Dabei ginge es nicht um Hei- lige Kriege oder große religiöse Auseinandersetzungen, sondern vielmehr um die schlichte Frage, wie man mit Menschen umgehen wolle, die entweder eines ande­ren

26 Rede zur Freiheit – Jena Glaubens sind, sich von ihrem Glauben entfernen oder einfach gar nicht glau­ben wollen. Das Bild steht vor unser aller Augen – Menschen die nicht glauben wollen. Für Bischof Kamphaus ist die Lösung dieses vermeintlichen Konflikts eindeutig: Ein freiheitlicher Staat muss all jenen, die sich an eine Religion gebunden­ fühlen – so sagt er – deutlich zu verstehen geben, dass sie glauben können, was immer ihnen richtig erscheint. Aber keiner darf sich selbst als Gott oder Allah aufspielen und andere bewerten oder gar verurteilen. Ich halte dies für einen be­merkenswerten Satz, der für unser Freiheitsverständnis von großer Bedeutung ist.

Weil ich in zahlreichen Diskussionen, die ich zu diesem Thema führe, bei Vielen eine innerliche Unsicherheit spüre, möchte ich den Begriff des Freiheitsverständ- nisses noch einmal etwas genauer betrachten. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns in unserem Streben nach Freiheit auch für ein Bewertungssystem von Freiheit entscheiden müssen, das wir uns nicht von konfrontativen Typen streitig machen lassen dürfen. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir in unserem­ Lande durch das Zutun vieler Menschen und das Engagement von Persönlichkeiten wie Freya Klier und ihren Freunden heute eine Situation haben, die es uns erlaubt, freiheitlich zu leben und freiheitlich zu denken. Doch die Herausforderung bleibt. Freiheit wird uns nicht geschenkt. Wir müssen sie uns täglich von Neuem erkämpfen!

Dafür brauchen wir ein Kategoriensystem im Kopf. Wir müssen wissen und er­ kennen, was frei ist, was unfrei ist, was die Freiheit gefährdet und was sie befördert.­ Diesem Anspruch muss jeder für sich gerecht werden, und ich finde, es gibt noch immer viel zu wenige Menschen, die sich dafür mit ganzem Herzen einsetzen.

Und sagen Sie nicht, das sei alles die Aufgabe der Schule. Es ist unser aller Job! Die Schulen erreichen manche unserer Kinder erst viel zu spät. Wir alle müssen die Grundlagen für ein freiheitliches Leben schaffen, über eine Kultur des Ler­nens, über die Freude an Anstrengungen und Erfolgen, über gemeinsam entwick­elte Ideen für ein freiheitliches und friedliches Zusammenleben. Im Grundgesetz steht: Eltern haben das Recht auf Erziehung ihrer Kinder. Der große Journalist Konrad Adam schreibt den schönen Satz: Dann haben sie auch die Pflicht dazu. Die Mitgift des Elternhauses ist für die Entwicklung einer freiheitlichen und zivi­lisierten Gesell- schaft unverzichtbar. Freiheit bringt Chancen mit sich, aber – verdammt­ noch mal – auch Pflichten. Das dürfen wir nie vergessen.

Große Pädagogen wussten im Übrigen schon immer, dass Bildung etwas mit Er­ziehung zu tun hat. Erziehung darf in Deutschland nicht als kontaminiertes Wort empfunden werden. Wenn Erziehung klar an Werten ausgerichtet wird, an freiheit- lichen Werten, an menschlichen Maßstäben, an der Idee der individuellen Souve-

Rede zur Freiheit – Jena 27 ränität und am Anspruch eines fairen Umgangs mit Anderen, wird sie zu einem bedeutsamen Teil all jener Werthaltungen, die wir uns – zum Teil sehr mühselig – in der europäischen Geschichte erarbeitet haben. Dietrich Schwanitz schreibt in seinem schönen Buch über Bildung: Wir müssen es schaffen, wieder mit unserem eigenen kulturellen Wissen in Berührung zu kommen. Er drückt dies sehr vorsichtig­ und zart aus. Ich halte das für einen starken Satz: Wir müssen es schaffen, wieder mit unserem eigenen kulturellen Wissen in Berührung zu kommen!

Meine Damen und Herren, ich bedanke mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und für Ihre Teilnahme an der heutigen Veranstaltung.

Verehrte Freya Klier, Ihnen persönlich einen ganz besonders herzlichen Dank. Es ist wichtig, dass wir immer wieder mit Zeugen der Zeit, die sich wie Sie tatkräftig engagiert haben, ins Gespräch kommen.

Bei Ihnen, lieber Peter Röhlinger, der Sie Stadt Jena über 16 Jahre als Oberbürger­ meister vertreten haben, bedanke ich mich ausdrücklich für die Gastfreund- schaft.

Für unsere Gäste wünsche und hoffe ich, dass Sie neue Gedanken und Ansätze von dieser Veranstaltung mitnehmen. Danke, dass Sie alle hier waren!

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