Marxistisches Forum Heft 50

Die sozialistische Linke in Deutschland 1989 bis 2004

Kolloquim des marxistischen Arbeitskreises zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bei der PDS und der Marx-Engels-Stiftung der DKP

Mit Beiträgen von , Klaus Höpcke, Uwe-Jens Heuer und Harald Neubert

Marxistisches Forum

Heinz Behling†, Michael Benjamin†, Joachim Bischoff, Gerhard Branstner, Wolfgang Brauer, Erich Buchholz, Stefan Doernberg, Ernst Engelberg, Edeltraut Felfe, Susi Fleischer, Gert Friedrich, Kuno Füssel, Günter Görlich, Erich Hahn, Heidrun Hegewald, Manfred Hegner, Horst Heininger, Uwe-Jens Heuer, Klaus Höpcke, Helga Hörz, Detlef Joseph, Herbert Hörz, Ernstgert Kalbe, Heinz Kallabis, Horst Kellner, Hermann Klenner, Horst Kolodziej, Adolf Kossakowski, Dieter Kraft, Hans-Joachim Krusch†, Volker Külow, Daniel Lewin, Ekkehard Lieberam, Peter Ligner, Renato Lorenz, Moritz Mebel, Harald Neubert, Harry Nick, Eberhard Panitz, Kurt Pätzold, Wilhelm Penndorf, Siegfried Prokop, Wolfgang Richter, Fritz Rösel, Ekkehard Sauermann, Gregor Schirmer, Walter Schmidt, Horst Schneider, Arnold Schölzel, Günter Schumacher, Hans-Joachim Siegel, Gisela Steineckert, Gottfried Stiehler, Armin Stolper, Wolfgang Triebel, Wolfram Triller, Ingo Wagner, Günter Wendel, Laura von Wimmersperg, Dieter Wittich, Winfried Wolf

Redaktion: Kurt Pätzold, Hans-Joachim Siegel

Berlin, Februar 2005 Preis 2,50 Euro Zum 50. Heft der Schriftenreihe des Marxistischen Forums

In diesem Heft werden Beiträge einer Tagung des marxi- Realität in der heutigen Welt wurde eingefügt, selbst das stischen Arbeitskreises zur Geschichte der deutschen Wort Imperialismus wurde kurz vor Schluss aufgenom- Arbeiterbewegung bei der PDS und der Marx-Engels-Stif- men. Es blieben allerdings als Ausgangspunkt des Pro- tung der DKP u. a. dokumentiert. Sie setzen sich mit der gramms Ziele und Werte, mit Vorrang der Freiheit 15 jährigen Geschichte der PDS auseinander. Nun fügt es gegenüber der Gleichheit, nicht aber die Analyse der heu- sich, dass dieses Heft das fünfzigste Heft unserer Schrif- tigen Wirklichkeit, die Abwertung von SED und DDR in tenreihe ist und das Marxistische Forum gleichzeitig auf den ersten Abschnitten, die Ersetzung der Eigentumsfrage eine immerhin zehnjährige Geschichte zurückblicken durch eine Verfügungsfrage und die Ablehnung der Cha- kann. Am 18. Mai 1995 erschien im Neuen Deutschland rakterisierung des Sozialismus als Gesellschaftsordnung. unsere Erklärung „In großer Sorge“, am 29 Mai fand die Das Programm ist, trotz mancher Anleihen bei Marx, kein erste Veranstaltung mit 800 Teilnehmern statt, danach marxistisches Programm. gründete eine Reihe von Unterzeichnern das Marxistische Unsere Sorgen haben sich als vollauf berechtigt erwiesen. Forum. Der Kurs der Anpassung, des Ankommens (André Brie) Unsere Sorge galt der „Aufkündigung“ des Grundkonsen- wurde verlangsamt, nicht gestoppt, die Resignation der ses der Partei unter der absurden Losung „Reformer gegen Mitgliedschaft schreitet voran. Die Lösung von Spitzen- Stalinisten“ in drei Fragen: „Aufweichung des Oppositi- funktionären vom Willen, von den Interessen der Mitglie- onsverständnisses, Verabschiedung vom Klassenkampf der und der Wähler setzt sich fort. Sylvia-Yvonne Kauf- und Ausklammerung der Eigentumsfrage zu Gunsten mann, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, eines Gesellschaftsvertrages; Absage an SED und DDR in bejaht entgegen den Beschlüssen der Partei den Entwurfs Gestalt des Stalinismusverdikts und Einschränkung des der EU-Verfassung ( vom 21.1.2005), Pluralismus in der Partei. Die sozialistische Zielstellung der Wahlkampfleiter der nächsten Bundestagswahl Bodo verwandelt sich in eine unverbindliche Vision. ... Wir wis- Ramelow verkündet wieder die 1994 zurückgezogene sen nicht, wie groß die Chance dieser Partei ist. Der Weg Idee eines Gesellschaftsvertrages (PID Nr. 51/2 2004 ), der Anpassung führt auf jeden Fall in die Überflüssigkeit, will sich nicht nur für den Mauerbau, sondern gleich für ins Nichts.“ den ganzen Totalitarismus entschuldigen (PID Nr. 2/2005). Den „Reformern“ in der PDS ging und geht es Das Marxistische Forum ist in vielen Tagungen und Kon- nicht um eine Erneuerung des Marxismus, sondern um die ferenzen, mit Veröffentlichungen, mit Anträgen auf Par- Zerstörung dieses Weltbildes, nicht um Konstruktion, son- teitagen diesem Kurs entgegen getreten. Die Mitglieder dern um Destruktion. Aber die Verhältnisse werden früher des Marxistischen Forums waren in ihren Publikationen oder später zu einer Stärkung sozialistischer Gegenkräfte bestrebt, die Lebenskraft eines sich erneuernden Marxis- führen. Viele Aussagen von Marx und Engels vor allem mus unter Beweis zu stellen. Wichtige politische Erfolge, zur kapitalistischen Gesellschaft werden Tag für Tag von an denen auch wir Anteil hatten, waren die Entscheidung der Wirklichkeit bestätigt. Ein auf dem Boden heutiger des Münsteraner Parteitages Anfang April 2000 gegen die Wissenschaft erneuerter Marxismus, ausgehend vom Zulässigkeit einer Zustimmung der Bundestagsfraktion Marxschen Diktum, dass es darauf ankomme, „alle Ver- oder des Bundesvorstandes zu Kriegseinsätzen und die hältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrig- Kritik des Geraer Parteitages im Oktober 2002 am politi- tes, ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist“, wird schen Kurs des Parteivorstandes, der die Bundestagswahl- gebraucht in der Auseinandersetzung mit dem neolibera- niederlage verursacht hatte. Wir haben in der Programm- len Zeitgeist, für den es Ölinteressen als Kriegsgrund diskussion aktiv mitgewirkt, ich selbst als Mitglied der nicht gibt und der den Zusammenhang von nicht aus der Programmkommission, mit Minderheitsvoten teilweise Mitte, sondern aus der Spitze der Gesellschaft stammen- Breitenwirkung in der Partei erreicht. Die irreführende der medialer Aufwertung des NS-Staates mit dem wach- Leitidee des Modernekonzepts wurde aufgegeben, vom sendem „Rechtsextremismus“ leugnet. Das gilt auch und Totalitarismus war - entgegen manchen Forderungen - gerade für junge Menschen, die von Marx nichts mehr nicht die Rede, eine Reihe von Zugeständnissen an die erfahren.

Uwe-Jens Heuer

Geleitwort 1 Die sozialistische Linke in Deutschland 1989 bis 2004

Kolloquium am 20. November 2004 in

Inhalt:

1. Dr. Hans Modrow Die sozialistische Linke in Deutschland 1989 - 2004 Seite3 2. Dr. Klaus Höpcke Beherzt im Entschluss - beständig im Grübeln Seite7 3. Prof. Dr. Uwe-Jens Heuer Zwischen Opposition und Regierungsbeteiligung Seite 11 4. Prof. Dr. Harald Neubert Zur heutigen Situation der sozialistisch-kommunistischen Linkskräfte Seite 20

2 Marxistisches Forum 50/2005 Hans Modrow Die sozialistische Linke in Deutschland 1989 - 2004 Eröffnungsvortrag auf dem Kolloquium anlässlich des 15. Jahrestages der Herausbildung der PDS am 20.11.2004 in Berlin

Historische Ereignisse sind stets ein Anlass, Geschichte umfas- Bereits im Oktober 1989 war nachdrücklich die Forderung sender zu betrachten. Es scheint daher richtig, sich in den näch- nach einer Neuorientierung der SED erhoben worden, doch die sten Wochen nicht nur auf den 15. Jahrestag der PDS zu wirkliche Wende von der SED in Richtung einer Partei des beschränken und den Blick auf die deutsche Linke zu richten, demokratischen Sozialismus vollzog sich erst mit dem Außer- sondern in die Betrachtung die europäische Linke einzubezie- ordentlichen Parteitag im Dezember. Das Bekenntnis zum hen. demokratischen Sozialismus beinhaltete eine klare Absage an den Stalinismus und die Verbrechen, die im Namen des Sozia- 15 Jahre PDS sind ein kurzer Zeitabschnitt, der schon lismus begangen worden waren, aber es schloss das Festhalten Geschichte geworden ist, was die Möglichkeit bietet, Erkennt- an einer sich verändernden DDR ein. nisse zu gewinnen und Lehren zu ziehen. Unsere Veranstaltung will dazu einen Beitrag leisten. In den Machtstrukturen der DDR hatten sich zu diesem Zeit- punkt bereits bedeutsame Veränderungen vollzogen. Die SED Den Blick von der deutschen auf die europäische Linke zu wirkte im Rahmen einer Regierungskoalition als stärkste Par- erweitern, ist aktuell, weil sich die Linke in Deutschland in tei und war am „Runden Tisch“ vertreten. Mit einem neuen Stadium ihrer Entwicklung befindet und sich eine wählte sich die SED/PDS einen Vorsitzenden, der schnell Ver- Europäische Linke Partei zu formieren beginnt, und es ist not- trauen und Achtung in der Partei und darüber hinaus gewinnen wendig, weil die Erfahrungen der PDS damit auch in den konnte. europäischen Kontext gehören. Bis heute hält sich eine ultralinke Auffassung über das Ende der Wenn wir auf den Beginn des Prozesses 1989/90 blicken, dann DDR. Es wird unterstellt, die PDS habe dem Ministerpräsi- haben wir es noch mit zwei deutschen Staaten zu tun. Es gab denten der DDR jene Rückendeckung verschafft, die er noch die Sowjetunion, es existierte keine einheitliche europäi- brauchte, um die DDR gewaltlos auf Kohls Weg zurück in den sche Linke, sondern eine östliche und eine westliche mit ganz Kapitalismus zu führen. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, unterschiedlichen Vorstellungen und Bedingungen. dann hätte der Ministerpräsident sich über die Weisung des In der DDR war das Ende der SED angebrochen, ihr Führungs- Vorsitzenden des nationalen Verteidigungsrates vom 4. anspruch wird aus der Verfassung gestrichen, doch bis zum November an die Sicherheitskräfte, keine Gewalt einzusetzen, März 1990 bleibt die politische Macht mit der Nachfolgerin, hinwegsetzen und den Befehl zur militärischen Verteidigung der SED/PDS, verbunden, denn als parlamentarisch stärkste der DDR geben müssen - eine abenteuerliche Vorstellung mit Partei bildet sie die Regierung und stellt den Ministerpräsiden- unabsehbaren Konsequenzen. Die DDR erfüllte noch ihre ten. Pflichten im Warschauer Vertrag - aber jeder gewaltsame Kon- flikt in der DDR - hätte einen Konflikt zwischen den militäri- Die überfällige Wende wurde nach den Rücktritt von Erich schen Blöcken provoziert. 14 Jahre nach dem Anschluss der Honecker nicht vollzogen, die neue Führung um Egon Krenz DDR an die alte BRD darüber zu philosophieren, dass Arbeits- war mehr oder weniger die alte, was auf wachsenden Unmut in losigkeit und Armut, von der nicht wenige einstige DDR-Bür- der Basis stieß, unter dem Druck von unten und angesichts des ger betroffen sind, hätten auf diese Weise verhindert werden sich immer stärker entfaltenden gesellschaftlichen Protestes können, ist nicht nur naiv, sondern geradezu absurd. Offenbar traten das Politbüro und das ZK unter Krenz am 3. Dezember braucht auch linke Sicht auf die Geschichte Zeit, Abstand und 1989 zurück. Während die Maueröffnung mit Günter Schabo- Anstand. wski personifiziert wird, gilt der Rücktritt des Politbüros und des Zentralkomitees unter Egon Krenz als Resultat gemein- Im Spätherbst ´89 überschlugen sich die Ereignisse. Auch in schaftlichen Handelns, ein kollektiv-produktiver Geist, der Moskau verfolgte man aufmerksam die innere Entwicklung auch die Tätigkeit des Arbeitsausschusses zur Vorbereitung des der DDR, was angesichts der herausgehobenen geostrategi- Parteitages prägte. (Darauf werden die nachfolgende Redner schen Lage des Landes an der Trennlinie der beiden größten gewiss noch näher eingehen). Militärblöcke und der Tatsache, dass auf dem Territorium der DDR annähernd 400 000 Angehörige der Westgruppe der Es gibt unterschiedliche Sichten und auch Legenden um den sowjetischen Streitkräfte standen, nur allzu verständlich ist. Die Rücktritt der kompletten Parteiführung - objektiv gesehen ent- DDR war zu dieser Zeit für die UdSSR und die KPdSU offen- sprach er den Umständen und Erfordernissen der Zeit. Festzu- sichtlich noch ein politischer Faktor und Bündnispartner. Das halten bleibt, dass der Rücktritt der SED-Führung das Ergebnis ZK der KPdSU beteuerte noch am 5./6.12.1989 in Moskau einer kollektiven Entscheidung war, während das ZK der seine Treue zur DDR. Das versicherte uns auch Alexander KPdSU eigenmächtig durch Gorbatschow aufgelöst wurde Jakowlew, Mitglied des Politbüros des ZK der KPdSU, der im und nie mehr zusammentrat. Vorfeld des Außerordentlichen Parteitages nach Berlin kam.

Hans Modrow 3 Ende Februar ´90, als die Weichen bereits in Richtung deutsche Wenngleich Moskau schon längst nicht mehr das Zentrum der Vereinigung gestellt waren, wurde aus der SED die PDS, und internationalen kommunistischen Arbeiterbewegung war, traf damit hatte sich das Umfeld für die deutsche Linke verändert. der sich schon damals deutlich abzeichnende Zerfall der In der Wahrnehmung der SED verband sich in der BRD über Sowjetunion die linken Parteien in Westeuropa hart. Gorbat- Jahrzehnte der Begriff „deutsche Linke“ vor allem mit der schows Kurs der Perestroika war dort mit weitaus größerer DKP. Dadurch war der Blick auf das viel breitere Spektrum lin- Skepsis und Nüchternheit betrachtet worden als in den mit- ker Kräfte in der Alt-BRD verstellt, diese Kräfte wurden ent- telosteuropäischen Ländern, gleichwohl galt die UdSSR als das weder nicht wahr- oder nicht ernst genommen. Die Reforman- Beispiel einer gesellschaftlichen Alternative. Im Westen wurde strengungen in der DDR einerseits und das Verschwinden ihres Gorbatschow zu dem großen Politiker hochstilisiert, dem es Hauptbündnispartners SED, ideell und auch materiell, blieben gelungen sei, den Wandel im eigenen Land und in den mit- nicht ohne Auswirkungen. Die DKP geriet in eine Existenzkri- telosteuropäischen Ländern zu vollziehen. Die Wahrheit ist, se, die sie trotz größter Schwächung und heftigster Anfeindun- dass er mit seiner Politik maßgeblich zum Zerfall der UdSSR gen als Partei überstand. Bedauerlicherweise gab es zwischen und zur Erosion des realen Sozialismus in Europa beigetragen der PDS und der DKP weder in der letzten Phase der DDR hat. Die Tatsache, dass sich der Generalsekretär des ZK der noch nach deren Anschluss an die BRD eine konstruktive KPdSU schon damals als Sozialdemokrat sah, der gegen den Form des Gedankenaustausches oder gar des Zusammenwir- Sozialismus in der Sowjetunion gewesen sein will, rundet das kens. Es kam lediglich 1990 zu einer Begegnung zwischen den Bild nur ab. Führungen beider Parteien, doch dies sollte sich nicht wieder- Aus den Wahlen im März 1990 ging die PDS als drittstärkste holen. Partei hervor. Mit ihren 66 Abgeordneten in der Die Beziehungen der SED zur DKP trugen einen speziellen gewann sie ein neues linkes Profil. Auf die Autorität, die sie Charakter. Zweifellos waren sie solidarisch und vom Geist des sich erwarb, konnte sie sich auch bei den Wahlen zum Deut- proletarischen Internationalismus geprägt, dennoch unterschie- schen nach der staatlichen Vereinigung stützen. Sie den sie sich grundsätzlich von denen zur KPD. Funktionäre der gewann 17 Mandate und damit den Status einer Gruppe im KPD, die in der BRD juristisch verfolgt wurden, fanden in der Parlament. Der Wahlkampf wurde besonders auf dem Gebiet SED eine politische Heimstatt, wodurch die SED gleichsam der alten BRD mit einer Offenen Liste geführt, über die weit die Rolle eines Schutzpatrons übernahm und direkt in die Par- links stehende Aktivistinnen wie Andrea Lederer und Ulla Jel- tei eingreifen konnte. Auch gegenüber der DKP hat es nicht an pke, aber auch Vertreter von Gewerkschaften und Grünen in Bevormundung von Seiten der SED gefehlt, dennoch hat die den Bundestag einzogen. Ehemalige Mitglieder der DKP Partei ihren eigenständigen Platz in der internationalen Arbei- konnten sich um einen Platz auf der Liste bewerben, für aktive terbewegung behaupten können. Sie war, wenngleich zahlen- Mitglieder stand sie hingegen nicht offen. mäßig nie besonders stark, in vielen Betrieben und Gewerk- Mit dem Einzug in den Bundestag stellte sich für die PDS ganz schaften verankert. Sie musste aber immer und überall gegen praktisch die Gretchenfrage nach der Haltung zum Grundge- eine hohe Mauer des Antikommunismus ankämpfen, was ihr setz. Max Reimann hatte bei der Geburtsstunde des Bundesta- praktisch keine Chance auf eine parlamentarische Vertretung ges die Haltung der KPD mit den Worten deutlich gemacht, wir auf Landes- oder gar Bundesebene gab. Die PDS steht heute sind heute gegen das Grundgesetz, doch es wird die Stunde auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik ähnlichen Problemen kommen, wo wir es zu verteidigen haben. Sie kam schnell, sehr gegenüber. Während im Osten bis 25 Prozent der Wählerstim- schnell, als mit dem Verbot der FDJ und der KPD eklatant men als realistisch gelten, stellen in den westlichen Bundeslän- gegen eben dieses Grundgesetz verstoßen wurde. Mit dem Ver- dern bereits 2 Prozent ein hohes Kampfziel dar. bot schlug auch die Stunde der Verfolgung von Kommunisten Die Probleme der DKP in der Periode Ende 89 / Anfang 90 und aufrechten Demokraten, die die ersten Opfer des kalten sind gewiss auch Teil der Geschichte der sozialistischen Linken Krieges wurden. in Deutschland. Sie zu benennen und zu bewerten, wird Sache Die PDS-Gruppe bewegte sich auf dem Boden des Grundge- unserer Freunde der DKP sein. setzes, indem sie an dessen demokratische Substanz anzu- Praktisch in allen ehemals realsozialistischen Ländern hatten knüpfen suchte. Davon war auch das Bestreben diktiert, nach sich zu Beginn der 90-er Jahre grundlegende Veränderungen dem Anschluss der DDR dem vereinigten Deutschland eine vollzogen. Aus den früheren kommunistischen und Arbeiter- neue Verfassung zu geben. Den Anstoß dafür hatte der Entwurf parteien waren Nachfolgeparteien hervorgegangen, die sich einer neuen Verfassung der DDR gegeben, die am Runden zumeist in Richtung Sozialdemokratie orientierten. Im Novem- Tisch entstanden und von der Regierung und Bürgerbewegun- ber 1990 lud die KPdSU diese Nachfolgeparteien - nur Rumä- gen gemeinsam getragen worden war. Von diesen Ansätzen, zu nien fehlte - zu einem Treffen nach Moskau ein. Ein solcher denen übrigens auch der Vorschlag einer neuen Hymne gehör- Erfahrungsaustausch hätte durchaus Sinn gemacht, wenn er te, ist nichts geblieben, Verstöße gegen Geist und Buchstaben gründlich vorbereitet und die neue Situation kollektiv analy- des Grundgesetzes gehören bis heute zur politischen Praxis der siert worden wäre. Doch wie sich zeigte, erwies sich Gorbat- BRD. Somit stehen wir heute wieder vor der Herausforderung, schow als völlig überfordert, er verfügte über keine Kompetenz von der Max Reimann vor 55 Jahren sprach. oder gar Konzeption, wie auf die veränderte Lage zu reagieren Von der ersten Stunde an schlug der PDS im Bundestag eine sei. Auch die anderen Parteien waren mehr mit ihren inneren Welle hasserfüllten Antikommunismus entgegen, wobei SPD- Problemen beschäftigt und standen unter dem Druck einer sich Abgeordnete denen der Regierungsparteien oft in nichts nach- rasant vollziehenden Entwicklung in ihren Ländern. Für die standen, wie man in den Sitzungsprotokollen nachlesen kann. PDS stand die Frage im Vordergrund, mit einem respektablen Es gab auch Ausnahmen. Ich war Zeuge, wie der antikommu- Ergebnis in den Bundestag einzuziehen.

4 Marxistisches Forum 50/2005 nistische Hass unseren Abgeordneten aus Abgeordnete aus 17 Parteien. Erstmals ist die Sinn Fein aus während seiner letzten Rede vor dem Hohen Haus so unge- Nordirland mit zwei Abgeordneten vertreten. heuer betroffen machte. Für ihn, den überzeugten Sozialisten Die Bemühungen aus der PDS-Gruppe waren von Anfang an und sensiblen Kampfgefährten, wurde es so unerträglich, dass darauf gerichtet, den Prozess zur Bildung einer Europäischen er selbst aus dem Leben schied. Linkspartei zu unterstützen. Eine derartige Partei konnte Hinsichtlich des Umgangs mit der Geschichte der DDR durch zwangsläufig angesichts der Breite des politischen Spektrums den Deutschen Bundestag schieden sich auch in der PDS- und der Struktur der GUE / NGL nicht mit ihr identisch sein. Gruppe die Geister. Die Auseinandersetzung mit der Historie Die Fraktion stand vor der Herausforderung, einen Beitrag für und die Wertung der geschichtlichen Fakten begleitet die PDS die Zusammenarbeit linker Kräfte zu leisten, der über den Rah- bis heute und wahrscheinlich noch längere Zeit. Die Enquete- men der EL hinausgeht. kommission unter legte damals einen Auf die Herausbildung der Linkspartei wirkten gewiss ver- Bericht vor, der auf die völlige Verdammung der DDR und schiedene Faktoren ein. Gewachsen ist die EL aus dem NELF, damit des Versuchs einer antikapitalistischen Alternative aus- dem Neuen Europäischen Linken Forum, unterstützt wurde der gerichtet war. Nach zum Teil heftigen Auseinandersetzungen Prozess aus der Fraktion, in der die interessieren Parteien hoch- innerhalb der Gruppe gelang es, ein achtbares Minderheiten- rangig, häufig mit ihren Parteivorsitzenden, vertreten sind, was votum vorzulegen, welches auch vor den kritischen Augen die Möglichkeit zu direkten Kontakten und Konsultationen Wolfgang Harichs, der die Alternative Enquetekommission lei- eröffnete. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass aus verschie- tete, Bestand haben konnte. Der Arbeitskreis der Opfer des kal- denen Richtungen auf die Gründung der Europäischen Links- ten Krieges erfuhr in dieser Zeit zum ersten Mal auch Solida- partei hingearbeitet wurde, die sich im Mai dieses Jahrs in Rom rität aus dem Deutschen Bundestag. Nicht aus dem Plenum, konstituierte und im Oktober nächsten Jahres in Barcelona wohl aber von Abgeordneten der PDS, wenngleich nicht ihren Gründungsparteitag haben wird. Die PDS gehörte neben immer mehrheitsfähig von Seiten der ganzen Gruppe. der Rifondazione, der FKP und Synaspismos zweifellos zu den Die PDS gewann parlamentarisch und außerparlamentarisch treibenden Kräften in diesem Prozess, wenngleich ihr Agieren zunehmend an Vertrauen, im Osten weit mehr als im Westen, - siehe die Ausarbeitung eines Statutenentwurfs - zuweilen auf so dass sie 1994 in Berlin vier Direktmandate eroberte und fast Kritik stieß und mit dazu beigetragen hat, dass Parteien wie die mit doppelter Stärke - aber immer noch unterhalb der Frakti- AKEL, die KPBM, die am Gründungsprozess aktiv mitge- onsmarke - in den Bundestag einzog. Erst aus den Wahlen von wirkt haben, sich mittlerweile abwartend verhalten. 1998 ging die Partei in Fraktionsstärke hervor. Die DKP strebt den Status eines Beobachters in der Linkspar- Den Erfolg auf nationaler Ebene komplettierte der auf europäi- tei an. Die PDS will diese Bestrebungen unterstützen. Die PDS scher Bühne. Nachdem die PDS 1994 an der 5-Prozent-Hürde und die DKP werden somit auf europäischer Ebene zwar mit knapp gescheitert war, errang sie bei den Wahlen zum Europäi- unterschiedlichem Status, aber grundsätzlich miteinander agie- schen Parlament im Juni 1999 sechs Mandate und war damit ren können, was zweifellos ein kleiner Fortschritt sein könnte. zusammen mit der Gruppe der FKP am stärksten innerhalb der Die Wahlniederlage der PDS bei der Bundestagswahl 2002 Fraktion der Vereinten Europäischen Linken / Nordische offenbarte die politische Krise in der Partei, die sich in einem Grüne Linke (GUE / NGL) vertreten. Damit konnte sich die fulminanten Vertrauensverlust in der Wählerschaft manifestier- PDS als eine europäische Linkspartei bestätigen und auf der te. Wir befinden uns nun einmal in einer parlamentarischen Ebene des Europäischen Parlaments politisch wirksam wer- Parteiendemokratie, und da sind der Platz und die gesellschaft- den. liche Stellung einer Partei sehr stark von ihren Ergebnissen bei Neben der Tätigkeit der Abgeordneten in den Ausschüssen - für den Wahlen abhängig. In sofern sind die Erfolge der PDS bei mich waren dies der Ausschuss für Entwicklung und Zusam- den jüngsten Wahlen zum Europäischen Parlament und zu den menarbeit und der Außenpolitische Ausschuss - hat sich die Landtagen in , Sachsen und Thüringen, desglei- Gruppe stets für die Entwicklung der Beziehungen mit den lin- chen die Zugewinne an Stimmen in den alten Bundesländern, ken Kräften in den mittelosteuropäischen Ländern im Prozess mehr als ein Achtungserfolg. Sie nähren die realistische Erwar- des Beitritts zur EU und in den neuen Nachbarländern der tung, dass die PDS 2006 wieder in Fraktionsstärke in den Deut- erweiterten Union - Russland, Ukraine, Belarus und Moldowa schen Bundestag einziehen könnte. Der 9. Parteitag wurde ein- - engagiert. berufen, um Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Mög- lichkeiten auch ausgeschöpft werden. Aus der Tschechischen Republik ist heute die KP Böhmen und Mähren mit sechs Abgeordneten - ein Viertel aller EU-Abge- Die Wahlen 2006 werden sich vor dem Hintergrund eines sich ordneten der CR - vertreten, von den sechs zypriotischen Abge- rapide verändernden gesellschaftlichen Umfeldes stattfinden. ordneten gehören zwei der AKEL an und sind Mitglied der Die als Antwort auf den Raubtierkapitalismus entstandenen Linksfraktion. Aus anderen Beitrittsstaaten sind leider keine sozialen Bewegungen bieten völlig neue Möglichkeiten der Parteien in der GUE / NGL vertreten. Speziell für linke Partei- Entwicklung des subjektiven Bewusstseins und der Bereit- en erwiesen sich die Hürden bei den Wahlen als außerordent- schaft zum aktiven politischen Handeln, wie es in dem Sozial- lich hoch, für die meisten als zu hoch, das gilt auch für linke forum von Porto Alegre in der Losung „Eine andere Welt ist Parteien in Westeuropa, beispielsweise die FKP, deren Zahl der möglich“ zum Ausdruck kommt. Mandate sich halbierte. Am Ende der Legislaturperiode 2004 Aus Teilen der sozialen Bewegung, den Gewerkschaften und gehörten bei einer Gesamtstärke des Parlaments der GUE / von einzelnen Mitgliedern der PDS ist der Drang zur Bildung NGL 49 Frauen und Männer an, derzeit zählt die Fraktion bei einer neuen Partei „Wahlinitiative Soziale Gerechtigkeit“, einem auf über 700 Abgeordnete gewachsenen Parlament 41

Hans Modrow 5 abgekürzt WASG, entstanden. Die Gründung der Partei wird Rückhalt gefunden haben. Offen bleibt bei all diesen sich gewiss in Kürze vollziehen. Bei allen Bemühungen um Bemühungen um Tagesfragen, die den Menschen auf den Dialog oder Kooperation führt kein Weg daran vorbei, dass Nägeln brennen, wie der gesellschaftliche Widerstand insge- PDS und WASG Konkurrenten bei den Wahlen 2006 sein wer- samt gestärkt und eine längerfristige gesellschaftliche Strategie den, im Westen weitaus mehr als im Osten. Die Chancen für bestimmt und gestaltet werden kann. ein Wahlbündnis müssen eher skeptisch beurteilt werden, und Vor dem Problem stehen auch andere linke europäische Partei- auch der Gedanke einer Arbeitsteilung - die WASG punktet in en. Fausto Bertinotti hat für den Parteitag der Rifondazione den alten, die PDS in den neuen Bundesländern - verbietet sich Kommunista 15 Thesen vorgelegt, die in wesentlichen Ele- von selbst, denn erstens widerspricht er dem Anspruch der PDS menten über die Situation Italiens hinaus greifen und es ver- als gesamtdeutsche Partei, und zweitens wird die PDS auch auf dienen, auf europäischer Ebene diskutiert zu werden. Die Vor- viele Stimmen in den alten Bundesländern angewiesen sein, bereitung auf den 1. Parteitag der EL 2005 könnte dafür ein wenn sie in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen will. guter Anlass sein. Die PDS - man kann es gar nicht oft genug wiederholen - hat Die PDS hat sich im Leitantrag des 9. Parteitags, der mit deut- nur dann eine Chance, Vertrauen und Zustimmung in den licher Mehrheit angenommen wurde, zu einem so genannten sozialen Bewegungen zu finden, wenn sie ihr Profil als soziali- Strategischen Dreieck, zu einer Dreieinigkeit bekannt, die aus stische Partei schärft, was für Inhalte und Aktionsfähigkeit gilt. Protest und Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse, Für die Zukunft stellt sich ganz praktisch die Frage, wie das aus Um- und Mitgestaltung ebendieser Verhältnisse und aus Verhältnis von sozialen Bewegungen und Parteien inhaltlich über den Kapitalismus hinaus weisenden Alternativen besteht. auszufüllen und wie das praktische Wirken linker Parteien in Gewiss hat jede dieser Komponenten ihre Berechtigung, Pro- und mit Bewegungen zu gestalten ist. Vielleicht könnte ein bleme, über die es weiter zu diskutieren gilt, befinden sich auf Blick nach Lateinamerika auch für die Linke in Europa nütz- zwei Ebenen: lich sein. Noch Ende 1990 entstand hier ein Bündnis von sozia- Das genannte Dreieck beschreibt mehr praktisches Handeln, listischen, kommunistischen, sozialdemokratischen, ökologi- welches noch offensiver und zwingender nötig ist. schen und indigenen Parteien. Sie zogen zunächst ihre Schlus- sfolgerungen aus dem Ende des realen Sozialismus in Europa Eine Strategie stellt aber andere Ansprüche. Sie muss Ziele und begannen die gemeinsame Suche nach einem neuen Weg angeben und Wege zeigen, wie sie anzustreben sind. Sie müs- im Kampf gegen Ausbeutung, gegen die Vorherrschaft des ste auch mindestens Ansätze ausweisen, die über den Kapita- USA-Imperialismus auf dem Kontinent, für soziale Gerechtig- lismus hinausweisen sollten. keit, demokratische Freiheiten, für die schrittweise Verände- Zusammenfassend: Der 15. Jahrestag der Herausbildung der rung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es brauchte Zeit, bis PDS ordnet sich ein in eine Reihe von Feiertagen, auf die man die Bemühungen Früchte trugen, aber die Erfolge in Venezue- aus unterschiedlichen Blickwinkeln schauen wird. Es böte sich la, Brasilien und Uruguay setzten neue Zeichen, soziale Kämp- Anlass, bestimmte Klischees zu korrigieren und falsche fe in Argentinien und Bolivien sowie die Solidarität mit Cuba Geschichtsbilder gerade zu rücken. Doch wie wenig Neigung zeugen von der wachsenden Stärke des Widerstandes. Nicht dazu besteht, zeigte gerade der medial groß gefeierte 15. Jah- zufällig hat die Bewegung des Weltsozialforums ihren Anfang restag der Maueröffnung. Bald wird es um den ebenfalls 15 in Porto Alegre genommen. Jahre zurück liegenden Prozess der Vereinigung gehen, doch Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht die europäische soziali- schon heute hat die Suche nach den Helden und den Verrätern, stische Linke und die deutsche Linke als deren Teil vor der nach den Siegern und Besiegten begonnen. Wer darin Befrie- Herausforderung, strategische Inhalte und Ziele für die Zukunft digung findet, sich die Geschichte zu Recht zu basteln, mag das zu bestimmen. Die Strategie muss zwei gesellschaftliche Pro- tun - an der sichtbar verfahrenen Lage in der BRD wird es zesse erfassen und reflektieren: nichts ändern. - Der globalisierte Kapitalismus mit seinem neoliberalen Kurs Die Geschichte der deutschen Linken wurde vor 15 Jahren in ist gesellschaftlich gescheitert - aber nicht überwunden, im der DDR und der BRD in einer konkreten historischen Situati- Gegenteil, er wird, um weiter zu überleben, ständig rück- on in neue Bahnen gelenkt. Das war ein Vorgang mit unter- sichtsloser in seinen Tendenzen des radikalen Sozialabbaus schiedlichen Aktionen, Ideen, Motiven und Konzepten. Es war und brutaler Ausbeutung, er greift immer öfter zum Krieg als jedoch auch ein Vorgang, der unausweichlich war. Das schließt Mittel seiner Politik. Die Widersprüche verschärfen sich - bis unterschiedliche Sichten und die Betrachtung möglicher Alter- zur Bedrohung der Existenz auf dieser Erde. nativen in den verschiedenen Prozessen nicht aus - im Gegen- teil - sie sollten Teil der Debatte sein, frei von Unterstellungen - Dem Widerstand entgegen zu setzen, Alternativen zu ent- und Legenden, orientiert an den konkreten Realitäten und wickeln und durchzusetzen, ist Ziel der weltweiten Sozial- Zusammenhängen der Zeit. foren und einer sich abzeichnenden neuen Belebung der Friedenskräfte. Nutzen wir die Chance einer geschichtlichen Betrachtung, um weiter Klarheit zu gewinnen, um die Gegenwart besser verste- Die PDS hat auf ihrem Parteitag der Agenda 2010 mit einer hen und solche Schlüsse ziehen zu können, die tragfähige „Agenda Sozial“ eine konzeptionelle Alternative entgegen Ansätze für die Zukunft eines demokratischen Sozialismus gestellt, in den viele kluge Überlegungen von Experten einge- geben. flossen sind, auch auf den Gebiet der Steuer- und der Gesund- heitspolitik hat die PDS praktikable Alternativen zur Debatte gestellt, die bisher noch nicht den erforderlichen öffentlichen

6 Marxistisches Forum 50/2005 Klaus Höpcke Beherzt im Entschluss - beständig im Grübeln Die PDS als Teil der sozialistischen Linken Deutschlands im Prozess von Neuformierung und programmatischer Neuorientierung 1989/90 bis 1992/93

Mein Vortrag ist in fünf Abschnitte gegliedert: Als deren Gründungskonsens ist inzwischen geläufig: Bruch mit dem Stalinismus als System. Was bedeutet: 1. Die Herausbildung der PDS. Ihr dreifacher Gründungs- konsens - Überwindung von administrativ-zentralistischen Partei- und Staatsstrukturen, von Kommandowirtschaft, Demo- 2. Über das Verhältnis eigener Programm-Ideen zu pro- kratie-Defiziten, fehlender Gewaltenteilung, Verletzung grammatischen Äußerungen anderer von Menschenrechten und in diesen Zusammenhängen 3. Das PDS-Programm vom 24./25. Februar 1990 Entschuldigung bei den Bürgerinnen und Bürgern für die verfehlte SED-Politik einschließlich begangener 4. Anfänge parlamentarischer Arbeit der Fraktionen Verbrechen; PDS/Linke Liste in der DDR-Volkskammer und dann im Bundestag, in den Landtagen von Brandenburg, - Einsatz für Freiheit und soziale Sicherheit als untrenn- Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt bare Einheit, Vermeiden jeglicher Entgegensetzung von und Thüringen sowie im Berliner Abgeordnetenhaus sozialen und politischen Rechten; 5. Zur Entstehung des Programms der PDS, das ab Janu- - Meinungsvielfalt statt Gängelei nach Dogmen - in der ar 1993 zehn Jahre gültig war. Gesellschaft und in der eigenen Partei. Vorausgeschickt seien den Ausführungen zu diesen The- Mit solchen geistigen Leitsätzen der sich herausbildenden men wenige Vorbemerkungen. Sie betreffen die veränder- PDS waren wesentliche Impulse für demokratisch-soziali- ten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen des stische politische Tätigkeit und für eine entsprechende Wirkens deutscher Linker 1989/90. Wie wir in unserem Programmarbeit gegeben. Kolloquium am 4. September 2004 in Übereinstimmung 2. Über das Verhältnis eigener Programm- mit den Aussagen profunder Kenner und Beteiligter der Ideen zu programmatischen Äußerun- Vorgänge vor 15 Jahren feststellten, gab es in der Ende der gen anderer 80er Jahre entstandenen und herbeigeführten internationa- len Kräftekonstellation für einen sozialistischen deutschen Zu den „anderen“ im Verhältnis zur PDS gehörten Staat kaum Chancen weiterer Entwicklung, ja Existenz. zunächst einmal wir selbst mit einigen unserer bisherigen Es fehlten die objektiven und subjektiven Voraussetzun- Ansichten. Überwunden werden mussten lebensfremde gen, was durch grundlegende Fehler und Versäumnisse im Aussagen und Auslassungen (auch wörtlich aufzufassen Handeln der DDR-Führung mit verursacht worden war. im Sinne von Weglassungen) im Programm der SED von Und zwar im Verlauf einiger Jahrzehnte. Gegen Politiker, 1976. Im Hinblick auf die Entwicklung des Sozialismus die in der Krise der SED und der DDR im Herbst 89 in waren in diesem Programm die Widersprüche „ausge- Spitzenpositionen gewählt wurden, den Vorwurf zu erhe- spart“ worden. Wer widerspruchsvolle Prozesse des ben, sie seien „kampflos zurückgewichen“ (Eberhard Czi- Lebens in unserem Land darstellte und dabei das Bedürf- chon und Heinz Marohn in „junge Welt“, 5. November nis empfand, einen Beleg dafür zu finden, wie die Partei 2004), halte ich für einen Ausdruck nachträglicher Blind- als Ganzes darüber denkt, wer vielleicht auch einen heit gegenüber der historischen Situation und den in ihr „Autoritätsbeweis“ suchte, der wurde im Programmtext liegenden Gefahren, für ahistorisch und für eine persön- an keiner Stelle fündig. Der Widerspruch, die Wider- lich ungerechte üble Nachrede. sprüchlichkeit, eine der Grundkategorien des dialekti- 1. Die Herausbildung der PDS. schen und historischen Materialismus kam im Programm- Ihr dreifacher Gründungskonsens abschnitt über die „Gestaltung der entwickelten sozialisti- schen Gesellschaft“ nicht einmal als Begriff, als Wort vor Unter den existenziellen Fragen, für die von den Dele- - weder unter ökonomischer Politik noch unter Sozial- gierten des Außerordentlichen Parteitags im Dezember struktur noch unter politischer Organisation der Gesell- 1989 Lösungen gefunden werden mussten, war eine poli- schaft noch unter Wissenschaft, Bildung, Kultur noch tisch-organisatorische Entscheidung für das Schicksal der unter Lebensweise noch unter Entwicklung der sozialisti- Partei und ihrer Mitglieder von besonderem Gewicht: schen Nation. Weiterwirken von Sozialistinnen und Sozialisten in einer Man komme angesichts solchen Befunds nicht umhin, erneuerten und weiter zu erneuernden gemeinsamen Par- schrieb ich in einem am 1. November 1989 in der „Jungen tei - o d e r Parteiauflösung? Mit der Entscheidung der Welt“ veröffentlichten Artikel, zu vermuten, die Delegier- Mehrheit der Delegierten für Parteierneuerung wurde Zer- ten des nächsten Parteitags - und ich dachte damals an den splitterung vorgebeugt. Es begann die Herausbildung der XII. der SED - werden da allerhand ändern. PDS.

Klaus Höpcke 7 In gleicher Klarheit wie über die notwendige Überwin- klar, dass „...eine am Gemeinwohl der Gesellschaft und dung von Lebensfremdheit in der Art des 76er Programms dem Wohl jedes einzelnen orientierte Marktwirtschaft möchte ich über die Verwandtschaft programmatischer kein Widerspruch zu sozialistischen Wertvorstellungen“ PDS-Arbeit mit dem im November 1989 erarbeiteten ist. Zur Erläuterung der darauf bezogenen Passagen des SED-Aktionsprogramm sprechen, veröffentlicht am Programms wurde auf dem Parteitag unter anderem 11./12. November im „Neuen Deutschland“. Wegen der gesagt: „Unsere Vorstellung von Marktwirtschaft schließt neuen Situation nach der Grenzöffnung ist es von der ein, dass in einer demokratisch organisierten Gesellschaft Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen worden. Aber eine strategische staatliche Programmierung und öffentli- als Dokument ernsthaften systematischen Änderungswil- che Kontrolle des Wirtschaftslebens Rahmenbedingungen lens verdient es dennoch mehr Beachtung und Achtung, setzen, die es erlauben, die Wirtschaft in den Dienst des als das gemeinhin geschieht. Zu empfehlen ist die Lektü- Gemeinwohls zu stellen und die Vorherrschaft starker re des Aufsatzes „Die Monate vor dem Sonderparteitag“ wirtschaftlicher Sonderinteressen zu verhindern. Von ent- (siehe Mitteilungen der Kommunistischen Plattform, Heft scheidendem Gewicht sind in diesem Zusammenhang 12/2004, Seiten 11-21), in welchem Egon Krenz und Sieg- starke Gewerkschaften und der Schutz sozialer Interessen fried Lorenz die Grundgedanken dieses Aktionspro- der Werktätigen durch die Schaffung wirksamer Mitbe- gramms skizzieren. stimmungsformen in der Produktion. Als eine erstrangige Frage des politischen Kräfteverhältnisses und unseres Kritische Berührung ergab sich zwischen dem, worüber politischen Kampfes betrachten wir es, das gesellschaftli- wir nachdachten, und dem, was wir in dem Berliner Pro- che Eigentum an den großen Produktionsmitteln zu erhal- gramm der SPD vom Dezember 1989 zu lesen bekamen. ten und das Recht auf Arbeit zu sichern.“ Am 20. Dezember 1989 tagte in Berlin ein Programm- Parteitag der SPD. Er beschloss das „Grundsatzprogramm Zum Charakter unserer Partei wurde deren Offenheit für der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“. Dessen alle Kräfte des Volkes, die für eine Gesellschaft sozialer zweiter Abschnitt „Die Grundlagen unserer Politik“ Gerechtigkeit und Solidarität eintreten, betont. In Aussa- beginnt mit folgender Darstellung von „Grunderfahrun- gen wie dieser steckte zugleich die Verabschiedung von gen und Grundwerten“: einigen früheren Vorstellungen. Nicht mehr gedacht und gesprochen wurde von Klassenpartei sowie Weltanschau- „Die bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit haben Frei- ungspartei. Die Annahme, Fortschritt und Sozialismussieg heit, Gleichheit und Brüderlichkeit mehr beschworen als seien gesetzmäßig determiniert, hatte sich als so nicht verwirklicht. stichhaltig erwiesen und wurde nicht nur nicht wiederholt, Deshalb hat die Arbeiterbewegung die Ideale dieser Revo- sondern zum Gegenstand streitbarer Auseinandersetzung. lutionen eingeklagt: Eine solidarische Gesellschaft mit Keinerlei Anspruch auf führende Rolle gegenüber anderen gleicher Freiheit für alle Menschen. Es ist ihre historische wurde erhoben. Die PDS orientiere sich, wurde gesagt, Grunderfahrung, dass Reparaturen am Kapitalismus nicht „besonders an den Interessen der Arbeiterinnen und genügen. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesell- Arbeiter und aller Werktätigen“. Und weiter: „Sie strebt schaft ist nötig.“ kein Monopol der Macht an. Geistige Intoleranz, Unfehl- barkeitsglauben, Missionarismus und Sektierertum sind Dies ist nicht die einzige Stelle, an der zumindest kritische ihr fremd. Ein Wahrheitsmonopol gibt es für uns nicht.“ Berührung oder sogar weitergehende verbale Nähe zwi- Bei dieser Haltung von 1990 ist die Partei in ihren späte- schen sozialdemokratischen Auffassungen und Auffassun- ren Programmen geblieben. gen demokratischer Sozialisten der PDS spürbar wurden. Auch das hat die eigenen Programm-Ideen beeinflusst. 4. Anfänge parlamentarischer Arbeit der Fraktionen PDS/Linke Liste Als sehr wichtig erwies sich nicht zuletzt das enthüllende in der DDR-Volkskammer Hinterfragen von Verkündungen aus CDU/CSU und und dann im Bundestag, in den Landta- F.D.P. Die bürgerlichen Parteien taten sich seinerzeit gen von Brandenburg, Mecklenburg- hauptsächlich mit „Nie-wieder-Sozialismus“-Plakaten Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und mit anheimelnden Beschreibungen der Marktwirt- und Thüringen sowie im Berliner Abge- schaft hervor, einer Marktwirtschaft, die nicht mehr nur ordnetenhaus „sozial“, sondern nun auch noch „ökologisch orientiert“ sein sollte. Wenn wir uns der Kandidatinnen und Kandidaten erin- nern, die für die PDS antraten, und an die Wahlkämpfer an An uns war es, dieses aufdringliche Gerede durch enthül- ihrer Seite und dann die Abgeordneten mit errungenem lendes Hinterfragen in seiner Verlogenheit bloßzustellen. Mandat denken: was zeichnete sie aus, was machte ihnen Das galt für den aktuellen politischen Tageskampf, damals zu schaffen, wie behaupteten sie sich? Sie waren verbun- bekanntlich Wahlkampf zum 18. März hin, und es galt für den mit den Bürgerinnen und Bürgern und kannten ihre weitergehende, ins Programmatische reichende prinzipiel- Alltagssorgen, die zum nicht geringen Teil ihre eigenen le Aussagen. waren. Sie kandidierten Drohbriefen zum Trotz und den 3. Das PDS-Programm vogelscheuchenartigen Holzgalgen, die mancher Kandi- vom 24./25. Februar 1990 datin, manchem Kandidaten heimlich nachts in den Gar- ten gestellt wurden. Sie hatten sich zu erwehren einer Dieses Programm betonte Eigenständigkeit als Element ganzen Welle von unbewiesenen Behauptungen, Verdäch- der Vereinigung. Für die ökonomischen Prozesse stellte es tigungen, Beschuldigungen unter dem Schlagwort

8 Marxistisches Forum 50/2005 und mussten auf der Hut sein, bei der Zurückweisung von Von den Gegenständen des Streits in den Landtagen in Anwürfen nicht etwa Dinge zu verharmlosen, die verur- Stichworten ebenfalls einige Beispiele: teilenswert sind. Das Elend der De-Industrialisierung, das von einigen erst Was die Arbeit der PDS-Abgeordneten in den Parlamen- allmählich in seiner die wirtschaftlichen Strukturen und ten angeht, beginne ich mit einigen Beispielen aus der Abläufe gefährdenden Verderblichkeit erkannt wurde. Im Volkskammer. Zusammenhang damit standen die durch die Fremdhand- Anstalt vollstreckten Enteignungen, in Thüringen betrie- Von Anfang an polemisierten wir gegen die aus den Rei- ben in Tateinheit mit Verrat an Landesinteressen durch hen konkurrierender Fraktionen mit einander überschla- Bevorteilung der Kali- und Salz-AG beim Abbau hiesiger genden immer neuen immer näheren Terminen kommen- Schätze. Wir wandten uns gegen kulturelle Einschränkun- de Manie einer Vereinigungssturzgeburt. Die allerchao- gen durch Theaterfusionen und Orchestersterben, tischsten Manöverpläne haben wir vielleicht zu verhin- Schließung des Schiller-Museums und Verwandlung in dern geholfen. Aber der Gesamtvorgang blieb unkorri- ein allgemeines Veranstaltungsgebäude. Ganz bewusst giert. haben wir auch Kraft in überregionale Politik-Auseinan- Im so genannten Einigungsvertrag sind ein paar Regelun- dersetzungen investiert. Während der neunziger Jahre gen durch unser Zutun und das anderer verbessert worden, drehten sich in der Zeit nach der Startphase solche Debat- so die Geltung in der DDR erworbener Abschlüsse und die ten im Thüringer Landtag um ein Denkmal für den unbe- Formulierung über den Erhalt der kulturellen Substanz. kannten Wehrmachtsdeserteur, um eine die Naziarmee Wichtig war, dass es gelang, die gesonderte Erklärung verherrlichende Ausstellung zum 20. Juli 1944, um die zum Fortbestand der Enteignungen, die während der Jahre Hamburger Ausstellung über Verbrechen der Wehrmacht 1945-1949 vorgenommen worden waren, durchzusetzen, sowie über den Anteil von Selbstbefreiung an der Befrei- die Gorbatschows späteren Leugnungsversuchen zum ung des KZ Buchenwald. Trotz von der UdSSR-Führung gefordert worden war, 5. Zur Entstehung des Programms der aber nicht nur von ihr , sondern auch in der Volkskammer, PDS, das ab Januar 1993 zehn Jahre und auch da keineswegs nur von der PDS, sondern zum gültig war Beispiel auch von CDU-Abgeordneten aus Mecklenburg- Vorpommern, die bei Besuchen im Lande mitbekommen Es gab drei Entwürfe in Thesen für ein den Erneuerungs- hatten, dass sie sich nicht wieder blicken lassen könnten, erfordernissen der PDS entsprechendes neues Programm, wenn sie etwa die Bodenreform nicht verteidigten. Im vorgelegt auf der zweiten Tagung des 2. Parteitags, 21. bis Ausschuss Deutsche Einheit mussten wir, als der Aus- 23. Juni 1991 in Berlin, nämlich: schuss mit seinem Partnerausschuss aus dem Bundestag in Thesen der Grundsatzkommission/Historischen Kommis- Berlin konferierte, noch 1990 die Oder/Neiße-Grenze ver- sion, begründet von Harald Werner, der sich für diesen teidigen, weil der CDU- Mann Dregger sie immer noch Entwurf auf die vom Vorstand vorgegebenen Fragen und nicht endgültig anerkannt wissen wollte. Auch die zuneh- deren umfangreiche Beantwortung berief und auf einen mende Arbeitslosigkeit war ein Gegenstand unserer Aus- Reader und andere diskussionsbegünstigende Instrumen- einandersetzungen im Parlament schon in der frühen tarien verwies; Phase, von der hier die Rede ist. Thesen der Kommunistischen Plattform, begründet von Eine Episode, die bezeichnend ist für die unter unseren Michael Benjamin. Das wollten Antithesen im Hegel- Bonner Partnern verbreitete Nichtbereitschaft, Tatsachen schen Sinn sein und waren es wohl auch mit Gedanken zur Kenntnis zu nehmen, spielte sich ab, als ich erzählte, wie: Die Bourgeoisie demonstriert , wie gut sie Marx und wie es einer Frau in Sömmerda erging, die in der Kauf- Lenin versteht - in ihrem politischen, ökonomischen und halle nach Joghurt aus der nahe gelegenen Stadt Weißen- ideologischen Klassenkampf zur Enteignung der Produ- see fragte. Ihr wurde bedeutet, diese Molkerei liefere nicht zenten durch Privatisierung, bei der Zerschlagung des mehr. Das glaubte sie nicht und rief dort an. Sie erfuhr: Staatsapparats usw., wir aber überlegen, ob Marx noch in Doch doch, man produziere und liefere noch. Als man ihr die Landschaft passt; in der Kaufhalle erneut das Märchen vom Vortag auftisch- te, lief sie kurz entschlossen in die zur Kaufhalle gehören- Thesen der „Gruppe um Klaus Höpcke“, was ungewöhn- de Lagerhalle und entdeckte Paletten voller Weißenseer lich war, denn eben dieser Mensch hatte ja als Vorsitzen- Joghurt-Becher. Die Lösung des Rätsels: Es war angewie- der der Grundsatzkommission agiert. In der seit dem sen worden: Kein einziger davon kommt ins Regal, ehe ersten Teil des zweiten Parteitags vergangenen Zeit hatte nicht der letzte Becher mit Joghurt westlichen Ursprungs er sich einige Male - so im April in der Grundsatzkom- verkauft ist. Mehr wütende Zwischenrufe als zu diesem mission, am 4./5. Mai in einer der Arbeitsgruppen zu pro- Tatsachenbericht hat der Ausschuss Deutsche Einheit bei grammatischen Fragen und am 11./12. Mai auf der Sit- keiner anderen Gelegenheit erlebt. Man spielte im Nicht- zung des Parteivorstands - dafür ausgesprochen, dass wahrhabenwollen absurdes Theater. unser neues Programm präzise ausdrücken sollte, wofür und wogegen wir sind, und das in verständlicher Sprache Das tragischste Erlebnis, das PDS-Abgeordnete im Bun- und einem überschaubaren Umfang. Weder bei Tagungen destag hatten, war die Hetze, mit der Gerhard Riege in den der Grundsatzkommission, an denen er teilgenommen Tod getrieben wurde. hatte, noch bei Beratungen, die er wegen seiner Verpflich- tungen im Thüringer Landtag versäumt hatte, war es

Klaus Höpcke 9 gelungen - so sein Eindruck - , eine Fassung mit den ebenfalls verfälschen. Obwohl es später auch anders klin- genannten Eigenschaften hervorzubringen. Deswegen gende Erklärungen gab, kann doch gesagt werden: In der gemeinsam mit anderen Vorlage eines eigenen Diskussi- PDS-Mitgliedschaft wurde ganz überwiegend zum onsentwurfs, im Aufbau angelehnt an das Eisenacher Pro- Gemeingut der im 93er Programm ausgedrückte Stand- gramm von 1869 und im Umfang um ein Drittel kürzer als punkt: Sich nach 1945 für den Aufbau einer besseren der Thesenentwurf der Kommission. Gesellschaftsordnung und für ein friedliebendes Deutsch- land in Überwindung des faschistischen Erbes eingesetzt Zum Umgang mit diesen Papieren wurde beschlossen: zu haben, das bedarf keiner Entschuldigung. Vertreten und gleichberechtigte Diskussion aller drei Entwürfe, mün- verteidigt werden die Berechtigung und Rechtmäßigkeit dend in möglichst einem Entwurf für den das Programm einer über den Kapitalismus hinausgehenden Entwicklung beschließenden Parteitag. Die Hauptdebatten, die dann auf deutschem Boden. geführt wurden, betrafen Wer an die drei Jahre zurückdenkt, über die ich zu referie- a)Vergesellschaftungsvorstellungen zum Eigentum, ren hatte, und sich fragt, welche Merkmale von PDS- b)Wertung des gescheiterten Sozialismusversuchs, Arbeit in dieser Zeit als charakteristisch am stärksten im Gedächtnis haften geblieben sind, wird möglicherweise c)politisches Agieren in der kapitalistischen Gesellschaft. zustimmen, wenn ich sage: Viele waren gerade auch in Was beschlossen wurde - im Programm -, ist nachlesbar in schwierigen Situationen mutig, beherzt im Entschluss. der Programmbroschüre, Seiten 5-7 Geschichte, Seite 8 Und bei fast allen von uns begleitete das Handeln ein Eigentum, Seite 25 politisches Agieren; zuvor auf den Sei- unaufhörliches, nicht enden wollendes Nachdenken über ten 1, 2 und 3 einiges Grundsätzliches zu unserem Blick die Ursachen vorangegangenen Scheiterns, die durch auf die Welt , in der wir zu wirken haben. Dabei kam 1993 künftige sozialistische Politik zu überwinden sind. So auch etwas davon zur Geltung, was mit anderen auch ich beständig im Grübeln wie beherzt im Entschluss. 1991 vorgetragen hatte. Papst Johannes Paul hatte damals Im Hinblick auf unser PDS-Selbstverständnis hielten wir gerade in einer Enzyklika gesagt, wie „unhaltbar die es für richtig, unsere Partei als Teil einer umfassenderen Behauptung ist, die Niederlage des so genannten ,realen Bewegung zu charakterisieren. Wenn wir bündnisfähig, Sozialismus' lasse den Kapitalismus als einziges Modell für Bündnisse interessant sein wollen, dann müsse wirtschaftlicher Organisation übrig“. Es bestehe die zugleich Eigenständigkeit deutlich betont werden. Sonst Gefahr, dass sich eine radikale kapitalistische Ideologie falle eine der wesentlichen Bedingungen, sich mit jeman- breit macht, die ihre Lösung in einem blinden Glauben der dem zu verbünden, bei uns weg. Gegenüber niemandem freien Entfaltung der Marktkräfte überlasse. Indem wir wollen wir eine angemaßte Führung anstreben. Das heiße diesen Erkenntnisstand zitierten, regten wir an, ihn in nicht, darauf zu verzichten, was Plechanow in seiner einem PDS-Programm nicht zu unterschreiten. Arbeit über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschich- Über die Programm-Aussagen zum Scheitern des soziali- te „Beginner“ zu sein genannt hat. Wir vertraten die Auf- stischen Versuchs kann festgestellt werden: Sie haben ein fassung, die ich nach wie vor für richtig halte: Die in unse- Jahrzehnt lang vielen Genossinnen und Genossen gehol- rer Partei zusammengeschlossenen Frauen und Männer fen, Stehvermögen und Überzeugungskraft gegenüber den wollen, wenn wir es recht sehen, sehr wohl gemeinsam verschiedensten DDR-Delegitimierungswellen zu bewei- und gemeinsam mit anderen Beginner neuer geschichtli- sen und andererseits Schönfärberei abzulehnen, mit der cher Entwicklungen sein. einige aus den eigenen Reihen unser Leben vor 1989

10 Marxistisches Forum 50/2005 Uwe-Jens Heuer Zwischen Opposition und Regierungsbeteiligung Rede auf dem Kolloquium „Die sozialistische Linke in Deutschland 1989-2004“ am 20.11.2004

Der Parteitag hatte 1993 ein neues Programm angenom- Nach dem großen Wahlerfolg am 16.10.1994 spitzten sich men, auf dessen Grundlage „die ganze Unterschiedlich- die Widersprüche zu. Diese Auseinandersetzung stand in keit der PDS weiter bestehen“ konnte (Gregor Gysi). engem Zusammenhang mit dem Druck, der auf die PDS Wenn man allerdings las, dass zur gleichen Zeit Björn nicht nur von den Medien, sondern auch von den anderen Engholm, damals Vorsitzender der SPD, für die SPD als Parteien, vor allem von der SPD, ausgeübt wurde. Es wur- entscheidend ansah, „ob die Schar der neuen Reformer, den Forderungen an die PDS gerichtet, später, verstärkt die wenig Verknüpfung zur alten Zeit haben ... ganz deut- nachdem Lafontaine SPD-Vorsitzender geworden war, lich in der PDS obsiegt“ und zwar analog zur Entwicklung verbunden mit verhaltenen Angeboten. In 28 Thesen von in Italien, wo die Partei zu einer modernen sozialistischen führenden SPD-Funktionären vom 28. 4. 1994 war von Partei „mit sehr liberalen Grundzügen“ geworden sei1 der PDS Erneuerung gefordert worden. Der SPD ginge es (inzwischen längst eine rein sozialdemokratische Partei), um solche Menschen, „die aus Überzeugung mit ihrer dann musste man sich doch die Frage stellen, ob die Vergangenheit offen gebrochen haben“. Allerdings: Kämpfe nicht notwendig weitergehen würden. „Wenn die PDS eine sozialdemokratische Partei wäre, wäre sie überflüssig, da sie es nicht ist, ist sie politischer An ein gewichtiges Signal werden sich einige von Euch Gegner und Konkurrent der SPD.“4 brachte die noch erinnern. Im Anschluss an die Kandidatur des Gra- Dinge auf den Punkt. fen Einsiedel und unter Bezugnahme auf seine Erklärun- gen erschien am 29.3.1994 im Neuen Deutschland ein „Bei der Zwangsverschmelzung von SPD und KPD zur Grundsatzartikel von 4 Mitgliedern des Parteivorstandes, SED hat Kurt Schumacher gesagt, wir sollten Blutspender Lothar Bisky, André Brie, Claudia Gohde und Andrea sein für die Kommunisten. Er hatte Recht. Jetzt sage ich: Lederer sowie dem Vorsitzenden der Bundestagsgruppe Ich möchte das gespendete Blut zurück. Ich möchte den- Gregor Gysi, mit unterzeichnet von Dieter Lattmann, ehe- jenigen, die damals - ob aus Überzeugung oder aus Zwang mals MdB der SPD. Der Artikel nutzte Einsiedels Bewer- - den Weg in die SED gegangen sind, den Weg zurück bung zu einer ideologischen Ortsbestimmung (sofern sie leicht machen. Sie und ihre Kinder sollen zurück zur nicht vorher mit ihm abgesprochen war). großen Mutterpartei“.5 Ich glaube es war 1997, als ich ihn auf einer Tagung in Tutzing fragte, ob er das heute auch Das Entscheidende des Grundsatzartikels war die Beurtei- noch so sähe, antwortete er: „Selbstverständlich. Es dau- lung der DDR und der Vereinigung. „Von Einsiedel ist in ert nur etwas länger“. der Kritik an der untergegangen DDR rigoroser, weil er im Unterschied zu anderen mit ihr nicht emotional verbunden Es wurde dann sehr deutlich, dass die Kernfrage der Aus- war“. Dann kommen die entscheidenden Sätze: „Mit dem einandersetzung auf dem Parteitag im Januar 1995 die Ende der DDR ist Sozialismus in Deutschland erst mög- Charakterisierung der DDR als stalinistisch sein werde. lich geworden. Diese Erkenntnis tut Sozialistinnen und 14 Tage vor dem Beginn des Parteitages wurde ein Antrag Sozialisten aus der DDR begreiflicher Weise weh ...Sie mit 5 Standpunkten vorgelegt, den Bisky, Gysi und auch fällt uumsoschwerer, als das westdeutsche wirtschaftliche Hans Modrow unterschrieben hatten. Zum Sozialismus und politische System alles andere als die gewünschte und wurde darin von Überwindung der Kapitalvorherrschaft notwendige Alternative darstellt. Ohne diese Erkenntnis gesprochen. Er schlösse ein Höchstmaß an Demokratie aber wird es bei der Selbstblockierung sozialistischer und Liberalität ein. Der sozialistische Charakter der Politik bleiben. Wer das als Linker noch immer nicht Gesellschaft hinge von der Realisierung umfassender sieht, ist blind. Wer sich heute gegen die Einheit stellt, Demokratie und Liberalität ab. Damit sei die unumkehr- verhält sich reaktionär.“2 Diese Sätze, die eine program- bare Absage an ein stalinistisches oder poststalinistisches matische Wende ankündigten, wurden in einer Debatte Sozialismusmodell verbunden. Die PDS stünde in prinzi- mit Konkret - Herausgeber und Autoren zurückgenom- pieller Opposition zu den herrschenden gesellschaftlichen men, kehrten aber immer wieder.3 Verhältnissen in der Bundesrepublik. „Die Frage, ob eine Parlamentsfraktion der PDS sich innerhalb des Parlamen-

1 Miteinander reden muss man so oder so, Neues Deutschland vom 1.2. 1993. 2 L. Bisky, A. Brie, C. Gohde, G. Gysi, A. Lederer, Die Borniertheit erneut als eine politische Kategorie, Neues Deutschland vom 29.3.1994. Es war schon erstaunlich, welchen Anschauungswandel A. Lederer und C. Gohde in Bezug auf die Nation jetzt vollzogen hatten. 3 Dem deutsche Volke dienen? Konkret 1994 H. 7. Die zentrale Kritik dort richtete sich gegen einen „Nationalismus“ des Papiers, aber .auch gegen Thesen, dass Sozialismus jetzt erst wieder möglich sei und die Vereinigung einen emanzipatorischen Impuls besitze. André Brie sagte auf einen ent- sprechenden Vorhalt von Ebermann: „Also an dieser Stelle muss ich natürlich sagen, ohne hier etwas jetzt entschuldigen zu wollen, dass das erste eine schlechte und falsche Formulierung ist. Dass Sozialismus erst nach dem Ende der DDR möglich geworden sei, würde ich aus wissenschaftli- cher Sicht differenzieren ... `89 `90 wollten wir die DDR verteidigen. Aber irgendwann war das gelaufen. Man kann keine Donquichotterie machen“. ( S. 41) 4 Zukunftsgestaltung und Bürgerdialog, Neues Deutschland vom 28. 4. 1994. 5 E. Bahr, Ich will unser Blut zurück, Spiegel 1994 Nr. 43.

Uwe-Jens Heuer 11 tes in einer Oppositionsrolle, in eine Situation der Tolerie- Der Verlauf des Parteitages hatte viele aufgeschreckt. Der rung einer Regierung oder in eine Koalitionsrolle begibt, Richtungswechsel war auf unerwarteten Widerstand berührt nicht das prinzipielle Oppositionsverständnis der gestoßen. Die Einsicht in die Gefährlichkeit dieser Ent- PDS“.6 wicklung führte dann zur Bildung des Marxistischen Forums im Mai/ Juni 1995.Wir hatten in unserem Aufruf Die Gegenüberstellung Reformer einerseits, Stalinisten „In großer Sorge“ auf das Bestreben kluger Sozialdemo- andererseits war mit diesem Herangehen vorprogram- kraten hingewiesen, die „ PDS durch Anpassungsforde- miert.7 Tatsächlich war diese Fragestellung geschickt, da rungen letztlich überflüssig zu machen“10. sie jeden Kritiker der Führungsposition in den Verdacht brachte, mit Stalin zu liebäugeln. Trotzdem meinte ich, Im August 1996 folgte ein neuer Vorstoß von André Brie dass es notwendig war, auf diesem Feld, das nicht wir aus seinem mecklenburgischen Urlaubsort Wooster Teer- bestimmt hatten, den Kampf aufzunehmen. Nach heftigen ofen Es begann im Stern vom 1. August 1996. Die Kern- Auseinandersetzungen auf dem Parteitag gab es einige thesen, die zum Konflikt führten und wohl führen sollten, Zugeständnisse. Aber das Stalinismusverdikt über die waren: „Wir müssen endlich in der Bundesrepublik DDR, das zwiespältige Oppositionsverständnis blieb, der ankommen. Wir müssen ein positives Verhältnis zur par- Richtungswechsel hatte begonnen, seine Fortsetzung war lamentarischen Demokratie und zum Grundgesetz fin- zu erwarten. Damit war in einem zentralen Punkt der Pro- den.“ Viele klammerten sich in der Partei noch an den grammkonsens des Jahres 1993 aufgekündigt worden. alten Glaubensartikeln fest. Es sei „zwar nicht damit zu Das hat Michael Nelken auf der Geschichtskonferenz der rechnen, dass die Alten den Modernisierungskurs beju- PDS vom November 1995 auch ganz offen bestätigt. Es beln, aber sie wissen, dass er unumgänglich ist“. Die handele sich hier um eine ideologische Parteidebatte und Kommunistische Plattform seien zwar nur 500 Leute, aber kein wissenschaftliches Seminar. Die Berufung auf einen einflussreich mit eigener Infrastruktur. Dann folgte die anti-stalinistischen Gründungskonsens sollte dazu dienen, direkte Kampfansage: „Wenn wir Reformer uns durchset- die Anhänger „des traditionalistischen, orthodox-partei- zen, ist die politisch am Ende. Parteiaus- kommunistischen, rechten Flügels“ „aus der Partei zu schlüsse halte ich für unrealistisch. Die PDS muss für drängen“. Später wurden restaurative Bestrebungen stär- Poststalinisten unerträglich gemacht werden“.11 In der ker vor allem vor dem Hintergrund des Tribunals, der Süddeutschen Zeitung legte Brie nach. Es ginge um mehr Enquete-Kommission, der Debatte über den Unrechtsstaat als Verfassungstreue. „Es geht um ein wirklich positives und der wachsenden Bewegung gegen soziale Ungerech- Verhältnis zum Grundgesetz und zur parlamentarischen tigkeit. Das alles spiegelte sich auch im Programm wieder, Demokratie“. Seit Verabschiedung des Programms sei das dann, etwa mit der Feststellung der „Legitimität“ des Schweigen im Walde und jetzt wolle er provozieren. Das sozialistischen Versuchs zur „legitimen Rückzugslinie Umfeld, „in dem die DDR verklärt wird ... erschwert uns von KPF, Marxistischem Forum und anderen werden“ zugleich die Hinwendung zur Moderne, zum Ankommen konnte. Die 1. Tagung des 3. Parteitages hätte gezeigt, in dieser Gesellschaft. „Es gibt eine Deadline. Die PDS dass die Zugeständnisse zu weit gegangen waren und wird 1998/99 in eine Situation kommen, wo sie für die „unmittelbar nach der für die PDS so erfolgreichen Bun- SPD und die Grünen in Ostdeutschland koalitionsfähig destagswahl spitzten die reformsozialistischen Kräfte den sein muss. ... Da gilt es, überzeugend unsere Koalitions- Konflikt zu“, wären aber mit ihrem Versuch beinahe fähigkeit und demokratische Verlässlichkeit zeigen zu gescheitert „wegen seiner handstreichmäßigen und erpres- können“. Als nachgefragt wird: „ Die Regierungsfähigkeit serischen Art und Weise“.8 Kaum anderswo wurde so der PDS hängt von der Trennung von dem postalinisti- deutlich die ideologische Zielsetzung der Totalabsage an schen Kern ab?“ kommt die Antwort: „Zugespitzt ja“. In die DDR beschrieben.9 der taz vom 16. August war dann zu lesen: Es müsse der Preis benannt werden, „den wir zahlen müssen, wenn wir

6 Sozialismus als Weg, Methode, Wertorientierung und Ziel, Neues Deutschland vom 9.1.1995. 7 Vgl. beispielhaft R. Schuler, Reformer kontra Stalinisten, Die Welt vom 19.1. 1995, P. Heimann, Das Gespenst des Stalinismus geht um in der PDS, Sächsische Zeitung vom selben Tag sowie J.- Nawrocki, Bisky und die Roten, Der PDS-Vorsitzende rüstet zum Kampf gegen die jungen Altstali- nisten, Die ZEIT 1995 Nr. 4. 8 Die PDS - Herkunft und Selbstverständnis Eine politisch-historische Debatte (Hrsg. L. Bisky, J. Czerny, H. Mayer, M. Schumann), Berlin 1996, S. 66-69, S. 68, S. 71-74. 9 Vgl. auch die Position von A. Brie auf derselben Konferenz, dass die PDS eindeutig „mit einem antistalinistischen Grundkonsens entstanden“ sei, dass die Kommunistische Plattform und Uwe - Jens Heuer mit ihrer „Reduzierung des Stalinismus auf die Herrschaftszeit Stalins, den Personen- kult und die Massenverbrechen“ Unrecht hätten. Die „Definition des Stalinismus als mag arg verknappt sein, sie ist als theoretische und politische Erklärung des Untergangs der DDR und der Sowjetunion sowie als Ausgangspunkt für die Erneuerung ... hundert- mal produktiver als die Versuche, die wesentliche Kontinuität zwischen sowjetischem Stalinismus und DDR-Poststalinismus zu leugnen“ (S. 54- 55). Ich vertrat in meinem Beitrag die Notwendigkeit wissenschaftlicher Analyse. Tatsächlich hätten Hans Modrow und damals die Absage an den Stalinismus mit allem Nachdruck gefordert. „ Aber es muss zugleich gesagt werden, dass gerade auch das Referat von Micha- el Schumann eine durchaus differenzierte Analyse enthält und in keinem einzigen der Beschlüsse sich das Wort vom Stalinismus findet. Dieser Begriff war das kräftigste Wort, den objektiv notwendigen Bruch zu formulieren. Ob er wissenschaftlich tragfähig war oder einer wirklich diffe- renzierten Analyse im Wege stand, das zu entscheiden war nicht die Aufgabe dieses Parteitages und konnte es auch nicht sein.“ Im Grunde hätten Brie und Nelken - wie eben zitiert U.-J.H.- das auch bestätigt. „Die Aussage André Bries, dass die DDR zu Recht gescheitert sei, kann sich wohl kaum auf einen Parteitag stützen, der einen Beschluß „Für die DDR - für demokratischen Sozialismus“ gefaßt hat“ (S. 96-97). Nach meiner Auf- fassung läßt auch das jetzt veröffentliche Gesamtprotokoll des Außerordentlichen Parteitages keine andere Analyse zu (Außerordentlicher Partei- tag der SED/PDS, herausgegeben von L. Hornbogen, D. Nakath, G.-R. Stephan, Berlin 1999). 10 Neues Deutschland vom 18.5.1995. 11 A. Brie, Die SPD hätte uns gern als As im Ärmel, Stern 1996 H. 32.

12 Marxistisches Forum 50/2005 mitregieren“. Die PDS müsse ein normale Partei werden, auch u.a. je ein Vertreter der Kommunistischen Plattform die „ für die Ablösung der konservativen Regierung der und des Marxistischen Forums und der ökologischen SPD und den Grünen zur Verfügung steht“.12 Plattform angehören sollten. Die endgültige Entscheidung eines Programmparteitages war für das erste Halbjahr Ein weiteres Signal erfolgte mit dem Programmatischen 2001 vorgesehen.16 Kommentar von 1997 13 . Es deute sich an, schrieb Lothar Bisky in seinem Geleitwort, „dass um die Jahrhundert- Am selben Tag, an dem der Parteitag eröffnet wurde, trat wende ein präzisiertes, überarbeitetes und ergänztes Pro- André Brie wieder mit einem Paukenschlag auf, natürlich gramm vorgelegt werden müsste“. (S. 10) Eine der Haupt- nicht auf dem Parteitag selbst, sondern diesmal in der thesen des Buches war dabei - unter Berufung auf Marx „Frankfurter Rundschau“. Wenn man „ im Sinne von Han- und Engels -, dass die heutige Gesellschaft sowohl nah Arendt Totalitarismus als Bewegung sieht, dann muss modern als auch kapitalistisch sei. Diese Trennung wird ich sagen: Die DDR war nicht verbrecherischer als der dann weiter getrieben. Demokratie, Rechtsstaat und Wett- Nationalsozialismus, ganz und gar nicht. Aber totalitärer bewerb seien „Vergesellschaftungsformen, die die Dyna- waren Sowjetkommunismus und DDR im Anspruch, alles mik der sozialen Evolution der letzten zweihundert Jahre unterzuordnen unter einen gestalterischen Willen. Die wesentlich ermöglicht haben“ (S. 35, U.-J. H.). Diesen Nationalsozialisten hatten ja Zustimmung, die Sowjetuni- Evolutionspotentialen wird schließlich von Schumann on und in vielen Zügen auch die DDR mussten diese sogar eine die „Dominanz des Kapitalverhältnisses ten- Zustimmung erzwingen. Sie unternahmen den Versuch, denziell aufhebende(n) Rolle“ zugesprochen (S. 302, U.- die Wirtschaft völlig unterzuordnen, eine internationale J. H.).14 Damit sei - so schlussfolgerte ich in meiner Kri- Bewegung unterzuordnen, wozu der Nationalsozialismus tik - aus der Modernisierung des Sozialismus die Moder- nie in der Lage war.“ Die Berufung auf Hannah Arendt nisierung des Kapitalismus geworden. Es sei dann nur war unzulässig, sie hatte das Ende des Totalitarismus auf konsequent, dass der gescheiterte Sozialismusversuch in den Tod Stalins angesetzt.17 Vor allem aber war André der DDR nur noch als abschreckendes Beispiel dienen Brie natürlich völlig klar, dass der Begriff des Totalitaris- kann, dass für ihn das Odium des „Stalinismus“ gilt. „Die mus ein Kampfbegriff gegen die DDR war, der ihrer Überwindung dieses Staatssozialismus war < eine der Gleichsetzung mit dem NS-Staat diente. Jetzt charakteri- zivilisatorischen Leistungen dieses Jahrhunderts> (S. 252, sierte er die DDR sogar als totalitärer als das „dritte U. - J. H.), ein Sieg von Moderne und Aufklärung.“ Diese Reich“, Eppelmann in gewisser Weise noch überbietend. weitgehende Formulierung stammte von Thomas Falkner. Ich bin bei anderen Gelegenheiten, in Veranstaltungen des Meine Hauptkritik war, dass die dieser optimistischen Marxistischen Forums und dieses Kreises (am 22. und 23. Sicht entgegenstehenden Erfahrungen gerade auch der September 2001), ausführlich auf die Arbeit dieser Pro- sieben Jahre nach der „Wende“ praktisch überhaupt nicht grammkommission, der ich von Anfang an angehörte, ein- verarbeitet wurden. „Sie schreiben im Grunde ihre Vor- gegangen. Die undemokratische Verfahrensweise lag auf stellungen - Illusionen? - des Jahres 1990 fort. ...Was ist der Hand. Sie führte schließlich dazu, dass angesichts der denn nun mit den Evolutionspotentialen geschehen? Wie starken Kritik an den Mehrheitsthesen Anfang 2000 die ist ihre Abkoppelung von der Kapitalherrschaft nach der beschlossene monatelange gründliche Diskussion der großen fortgeschritten?“ „Grundlinien“ überhaupt nicht eingeleitet wurde. Stattdes- fragte ich.damals.15 sen bevollmächtigte die Programmkommission am 23. Es lag auf der Hand, dass mit der neuen Programmdebat- März 2001. die Vorsitzende, „den von uns zügig ange- te ein Richtungswechsel beabsichtigt war, der letztlich strebten Diskussionsentwurf für die Überarbeitung des eine Regierungskoalition unter Beteiligung der PDS im Parteiprogramms zeitgleich der Parteimitgliedschaft, den Bund ermöglichen sollte. Auf der ersten Sitzung des 6. Gremien der Partei (einschließlich der Programmkommis- Parteitages in Berlin vom 16. und 17. Januar 1999 wurde sion selbst) und der Öffentlichkeit des Landes vorzustel- die Bildung einer Programmkommission beschlossen, der len.18 neben den vom Parteivorstand benannten Mitgliedern

12 A. Brie, Die PDS weiß nicht, wohin sie will, taz vom 16.8. 1996. 13 A. Brie, M. Brie, J. Dellheim, T. Falkner, D. Klein, M. Schumann, D Wittich, Zur Programmatik der Partei des Demokratischen Sozialismus Ein Kommentar, Berlin 1997. 14 M. Schumann bezog sich hier auf einen Artikel von H.-.P. Krüger, Zur Differenz zwischen kapitalistischer und moderner Gesellschaft, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1990 H. 3 S. S. 202. Er kommt, sich sehr stark auf Jürgen Habermas beziehend, zu dem Ergebnis, dass es darum ginge, die zu Recht in der Wirtschaft dominierende Gewinnorientierung, die politisch mir Recht dominierende Hegemonieorientierung mit einer kulturell dominanten Argumentationsorientierung gleichsam gleichberechtigt zu vereinen (S. 216-217). Ich meine, dass das sich als Illusion erwiesen hat. Aber dennoch hat Krüger damals ein Argumentationsniveau gezeigt, dass von den „Reformsozialisten“ nicht wieder erreicht wurde. H.-U. Wehler hat in einem 1974 geschriebenen und 1994 noch einmal überarbeiteten Aufsatz sich ideologiekritisch mit dem Modernisierungsansatz auseinan- dergesetzt. Er hätte die Weltmachtrolle der USA als absolutes Vorbild reflektiert, den Imperialismus oft völlig ausgeblendet, Evolution häufig als linearen Aufstieg verstanden. Für Wehler ist dann allerdings eine auf Max Weber aufbauende, entsprechend historisch und theoretisch differen- zierte Modernisierungstheorie der leistungsfähigste Ansatz, demgegenüber auch die einzige wirkliche Alternative, ein unorthodoxer Marxismus, unterlegen ist. Eine Diskussion auf dieser Ebene ist von den Modernisierungsideologen der PDS niemals auch nur angestrebt worden (H.-U. Weh- ler, Modernisierungstheorie und Geschichte, in: Die Gegenwart als Geschichte, München 1995, S. 17, 22, 27, 49-51). 15 U.- J. Heuer, der modernisierte Marx, Neues Deutschland vom 24./25. 5. 1997. 16 Organisation einer programmatischen Debatte in der PDS, Pressedienst a.a.O. 1998 Nr. 47 S. 2. 17 Vgl. H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, deutsche Erstausgabe Frankfurt/Main 1955, München 1986, S. 491. 18 Presse- und Informationsdienst der PDS (hinfort als PID zitiert), Nr. 13 vom 30.3.2001.

Uwe-Jens Heuer 13 Damit hatte sich die Programmkommission selbst ent- Gesamtstruktur auszuschalten. Die Analyse der gesell- machtet und ihre eigentliche, vom Parteitag erteilte Auf- schaftlichen Widersprüche wird durch die Konstruktion gabe an die Parteivorsitzende und ihre Beauftragten abge- der Freiheitsgüter ersetzt, die allen Menschen gleicher- treten. maßen zustehen. Ich sah den Grundmangel dieses Vor- schlages darin, dass er mit einem theoretischen Konstrukt Bereits am 27. April legte Gabi Zimmer den Entwurf vor. anfängt, statt von der Analyse der gegenwärtigen Gesell- Als Autoren gab Gabi Zimmer Dieter Klein, Michael und schaft auszugehen (Reihenfolge von Abschnitt I und André Brie an. André Brie erklärte bei der Vorstellung, II).Eine solche Zurücknahme des materialistischen Aus- „von einem wie auch immer gearteten sozialistischen Pro- gangspunktes war auch der entscheidende Schritt im fil kann im Programm von 1993 kaum die Rede sein“. Der Godesberger Programm der SPD von 1959.21 Entwurf sei „ein Bruch in der Programmatik und Politik der PDS“. Diesen Bruch sah er besonders in der „Konse- Die Hoffnungen auf eine veränderte Sozialdemokratie quenz, mit der ... ein libertärer Sozialismus verfochten (Abschnitt „neue Mitte“) und ein eventuelles gemeinsa- wird. Das Individuum und seine politische Freiheit sind mes Regieren im Bund bleiben ohne reale Grundlage, aber der Ausgangspunkt und Nukleus unserer Politik- und unverändert Ausgangspunkt des politischen Handelns bis Gesellschaftsvorstellungen“19 . Brigitte Fehrle schrieb in zur Gegenwart. .Am Morgen der Vorstandsdebatte am der Berliner Zeitung vom 28. April drastisch aber keines- 19.11.1999 über die Thesen der Programmkommission wegs unzutreffend: „Es gibt darin zwar breite Passagen, hatte Dietmar Bartsch laut Berliner Zeitung erklärt, bis die auch dem ungeübtesten Auge die Schulung durch 2002 müsse die PDS koalitionsfähig sein. Es müsse klar lange und kurze Lehrgänge verraten, aber sie kommen sein, was sich durchsetzt. einem vor wie das Altpapier, mit dem die neuen Geschen- , Berater von Gregor Gysi im Bundestag, ke verpackt werden, damit sie beim Adressaten auch heil trieb die Grundsatzdiskussion um den Weg zur Sozialde- ankommen“. mokratie noch einen Schritt weiter: „Die PDS entstammt Wenn ich heute rückblickend den Inhalt der Debatten zwi- aus den gemeinsamen Wurzeln und dem Baum der deut- schen Mehrheit und Minderheit in der Programmkommis- schen Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts. Sie kehrte sion analysiere, so komme ich zu dem etwas deprimieren- nach langer und komplizierter Irrfahrt über den Spar- den Schluss, dass es der Mehrheit eigentlich gar nicht um takusbund, die USPD, KPD und SED zu den Wurzeln der eine neue Sicht der Welt gegenüber dem Programm von Sozialdemokratie zurück“. Die SPD sei langfristig „der 1993 ging, sondern - unter Gebrauch oder Missbrauch der natürlichste, unmittelbarste und ...beste Koalitionspart- Anstrengungen Michael Bries- nur um die Zerstörung ner“22 . Gregor Gysi seinerseits erhob die Forderung, einer bestehenden Weltsicht, nämlich der marxistischen, einen deutlichen Trennungsstrich zur dogmatischen Lin- wenn auch unter Berufung auf Marx, nicht um Konstruk- ken zu ziehen. „Wenn es einzelne dogmatische Linke in tion, sondern um Destruktion. Der Sozialismus sollte in der PDS gibt, müssen sie spüren, dass das Programm eine unverbindliche Vision verwandelt werden, die gegen sie steht“.23 Abgrenzung von der DDR total sein, der Kapitalismus für Der Weg zum Entwurf dauerte dank des Widerstandes in modern und verbesserbar gelten. Letztlich ging es um den der Basis länger als vorgesehen. Es gab immer wieder Verzicht auf eine Analyse der Kräfteverhältnisse und der Zeiten relativer Ruhe und Harmonie. In einem Punkt aller- Chancen einer durchgreifenden Gegenbewegung. Nur dings, der von großem praktischem Gewicht war, wurde einmal war von der Schwäche der Gegenkräfte die Rede. inzwischen eine radikale Korrektur kompromisslos ver- Ich zitiere: „Der Neoliberalismus ist in Deutschland gei- fochten und stieß gleichzeitig wohl auf den größten stig und kulturell dominant. Die politischen und sozialen Widerstand. Gegenkräfte sind bisher schwach und kaum miteinander verknüpft. Wir stellen jedoch fest, dass sich das intellek- Am 21. 10.1999 war im Neuen Deutschland ein über eine tuelle Klima zu wandeln beginnt. Wir willen aktiv dazu Seite langer Artikel von Gregor Gysi zu lesen, der nach beitragen, die konservativ-neoliberale Hegemonie zu umfangreichen Ausführungen zum Gewaltmonopol der überwinden und gemeinsam mit Sozialdemokratinnen und UNO und zu unserem Verhältnis zur Charta der Vereinten Sozialdemokraten und anderen politischen Kräften für ein Nationen zu dem Ergebnis gelangte, „das Kapitel 7 der neues politisches Projekt wirken“.20 Offenbar verführte Charta der Vereinten Nationen nicht abzulehnen, sondern die - schließlich nur noch schwach angedeutete - Moder- von Fall zu Fall zu entscheiden, mit welcher Begründung netheorie die Autoren nach wie vor zur Überschätzung der wir eine Anwendung ablehnen, ihr zustimmen oder sie Möglichkeiten, mit Hilfe der „zivilisatorischen Errungen- notfalls sogar selbst einfordern“. Was die einzusetzenden schaften“ vom kapitalistischen „Überbau“ her seine Basis Truppen beträfe, so zöge er eine „wirksame internationale zu zähmen, die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Polizeitruppe bzw. Armee“ vor.24 Die stellvertretende Par-

19 André Brie, Ein Bruch in der Programmatik und Politik, aber kein Bruch in der Entwicklung der PDS, PID Nr. 18 200l .Vorstellung des Entwurfs am 27.4.2001. 20 PID Nr. 17 2001. 21 Minderheitsvotum zu den „Grundlinien“, PID Nr. 13 2001. 22 D. Keller, Das Interesse des Bürgers ist entscheidend, Neues Deutschland vom 7.1.2000. 23 G. Gysi, Es darf keine Formelkompromisse mehr geben, Berliner Zeitung vom 8.2.2000. 24 Respekt vor dem Gewaltmonopol der VN heißt nicht, alles zu rechtfertigen, Neues Deutschland vom 21.10. 1999.

14 Marxistisches Forum 50/2005 teivorsitzende Sylvia-Yvonne Kaufmann hielt sofort dage- zu tun. Es war die Befürchtung, dass die Identität der Par- gen. Sie wies auf die sozialen Ursachen von Konflikten tei verloren ging. hin, auf die Entwicklung in SPD und Bündnis 90/ die Grü- Der Terroranschlag vom 11.9.2001 und die ihn nutzende nen als warnendes Beispiel. „Wir dürfen uns keine Illu- Reaktion der USA und ihrer Verbündeten haben die sionen über den Nutzen der Errichtung eines UN-Gewalt- Widersprüche der heutigen Welt uns ungeheuerlich vor monopols angesichts der jetzigen globalen Machtverhält- Augen geführt. Der Preis für die Regierungsbeteiligung nisse und der undemokratischen UN-Strukturen für die stieg, die Gefahr einer Verabschiedung von Mitgliedern, Zivilisierung der internationalen Beziehungen machen.“25 mehr noch von Wählern, deren emotionale Treue geringer Sie konnte sich auch auf den Beschluss des Magdeburger war, wuchs. Die Erklärungen und Vorbereitungen der Parteitages von 1996 berufen26. Die Bundestagsfraktion USA ließen keinen Zweifel daran, dass eine große und der Bundesvorstand aber schlossen sich der Position Abrechnung erfolgen soll. Ein Verbrechen wird zum von Gregor Gysi an. Anlass genommen, die längst eingeschlagene Strategie in Auf dem Parteitag in Münster Anfang April 2000 wieder- die Tat umzusetzen. In der Nacht zum 21. 9. stellte Bush holte Michael Schumann in der Begründung die Notwen- den afghanischen Taliban ein unannehmbares und nicht digkeit, „ein klares Bekenntnis zur Charta der Vereinten verhandelbares Ultimatum. „Unsere Antwort beinhaltet Nationen zu formulieren“. „Es geht nicht um ein Plädoy- mehr als einen sofortigen Gegenschlag und einzelne er für Kampfeinsätze. Es geht um die Verteidigung der Angriffe. Amerikaner sollten nicht eine einzige Schlacht UN-Charta“. Das war offensichtlich unaufrichtig Der erwarten, sondern einen langen Feldzug, wie wir ihn bis- Zusammenhang mit einer möglichen Regierungsbeteili- her noch nicht erlebt haben. Jede Nation, in jeder Region, gung war mit Händen zu greifen, wurde aber immer wie- muss sich nun entscheiden: Entweder sind Sie mit uns der bestritten. Sylvia-Yvonne Kaufmann verwies auf Zei- oder mit den Terroristen. Von diesem Tag an werden die tungen wie die „Welt“ vom 21.10.1999, die Frankfurter Vereinigten Staaten jede Nation, die weiterhin Terroristen Rundschau vom 23.10. 1999 und die Frankfurter Allge- beherbergt oder unterstützt, als feindliches Regime meine Zeitung vom selben Tag, die jeweils von einer betrachten“.28 Wende, grundsätzlichen Veränderungen bzw. einer teil- Die PDS-Führung war zunächst unsicher. Es wurde eine weisen Revision der bisherigen Politik der PDS sprachen. Erklärung unterschrieben, in der von „einem Angriff Nach der folgenden kurzen Debatte entschied der Partei- gegen die gesamte zivilisierte Welt“ die Rede war. Im tag sich mit 219 gegen 126 Stimmen für den Antrag von Bundestag wurde von Roland Claus erklärt, dass der Kaufmann, zu dessen über hundert Unterzeichnern ich Anschlag auf das Pentagon und das World Trade Centre übrigens auch gehörte. „das Herz nicht nur der amerikanischen, sondern auch der Gregor Gysis kündigte darauf seinen Rücktritt als Frakti- Weltgesellschaft getroffen“ habe, dass wir tiefes Mitge- onsvorsitzender an. Am Montag wurde er mit dem Satz fühl auch „mit den politisch Verantwortlichen in den USA zitiert, dass die Zukunft der PDS als „wirklichkeitsnahe empfinden“29 Gregor Gysi sprach von einer „Verbindung sozialistische Partei“ auf dem Spiel stünde (Frankfurter von mörderischem, mittelalterlichem Denken mit der Allgemeine Zeitung). Von André Brie war zu lesen:“Das Technik des 21. Jahrhunderts“. Begrenzte militärische Debakel habe die PDS auf den Stand kurz nach der Wende Aktionen, die keine unschuldigen Menschen gefährden, zurückgeworfen“ (Berliner Zeitung) und von Dietmar seien statthaft. Und auf die früher, auch in Münster, immer Keller, einem Berater Gregor Gysis: „Auf dem Parteitag wieder verneinte Frage nach der Beteiligung deutscher wurde nun endgültig der Gründungskonsens der Partei aus Streitkräfte antwortete er. „Ich finde die Frage einer Betei- dem Jahre 1990 aufgekündigt“. Jetzt brauche die alte SED ligung gar nicht so wichtig. Denn falls es zu militärischen die Reformer nicht mehr.27 Diese heftige Reaktion spricht Auseinandersetzungen kommt, sind wir mittendrin“.30 Im eindeutig dafür, dass hier ein offenbar unentbehrlicher Neuen Deutschland wird am folgenden Tag eine ausführ- Beitrag zur künftigen Regierungsbeteiligung geleistet liche Begründung für den Einsatz militärischer Mittel werden sollte. Ein Zusammenhang mit 1990 lässt sich nachgereicht. Es ginge um einen Anschlag auf die gesam- überhaupt nicht herstellen. Ich kann mich an niemanden te zivilisierte Welt. Man müsse aber auch den anderen erinnern, der damals für Militäreinsätze plädiert hat. Gesellschaften, „ die aus unserer westlichen Perspektive in vielerlei Hinsicht mit unserem eigenen Stand von viel- Das Problem ist aber nicht nur diese Unaufrichtigkeit, leicht 500 Jahren vergleichbar sind“, die Zivilisierung sondern die Entstellung der Wirklichkeit des Parteitages. ermöglichen. Begründet wird das mit Marx und Karl Pop- Eine 2/3 Mehrheit des Parteitages, die bestimmt eine per: „Laut Karl Marx gehört aber der Bourgeoisie - um bei ebenso große Mehrheit der Mitglieder widerspiegelte, das seiner Wortwahl zu bleiben- die Solidarität der Linken, hatte weder mit Nostalgie, noch mit Dogmatismus etwas

25 S.-Y. Kaufmann, Mit der Konstruktion von Sonderfällen beginnt der Regelfall, Neues Deutschland vom 22.10. 1999. 26 Veränderung von unten. Sozial und solidarisch, demokratisch und antimilitaristisch, Beschluss der 2. Tagung des 4. Parteitages der PDS, Disput 1996, Nr. 2, PID Nr. 15/16 1996. 27 S. Berg, A. Wassermann, Die Machtfrage stellen, Spiegel 2000 Nr. 16. In der Vorbemerkung des Interviews wurde Keller als einer der wenigen Erneuerer der SED bezeichnet. 28 Wir stehen vor einem langen Feldzug, Neues Deutschland vom 22. 23. 9. 2001. 29 Ein Anschlag auf die zivile Gesellschaft, auf Kultur, auf Humanität, PID Nr. 37 2001. 30 Es wird Repressionen geben müssen, Berliner Zeitung vom 17.9.200l.

Uwe-Jens Heuer 15 wenn es um die Überwindung feudaler Abhängigkeits- Präambel zur Koalitionsvereinbarung in Berlin32 zu und Unterdrückungsstrukturen, wenn es um die Durchset- erklären. zung bürgerlicher Rechte und Freiheiten geht. Rechts- Dem war im Vorjahr vorangegangen die Entschuldigung staatlichkeit, Freiheit, Demokratie, die von Karl Popper Gabi Zimmers und Petra Paus für die Vereinigung von beschriebene offene Gesellschaft“ müssten universell KPD und SPD 1946: Die SED habe sich 1989 beim Volk praktiziert werden.31 der DDR für die von der Partei herbeigeführte Krise der Am 19. September stimmte die PDS-Fraktion bei zwei DDR entschuldigt. Wir meinen heute „Dies sollte die Ver- Stimmenthaltungen gegen die militärische Hilfe für die einigung von KPD und SPD einschließen“ begleitet von USA. Mir versicherten mehre Bundestagsabgeordnete, der Formulierung „Es geht nicht um Fusion, sondern um unter ihnen Wolfgang Gehrcke, dass nur ihr aktiver Ein- Kooperation mit der SPD“. Ihr folgte dann eine Erklärung satz während der Sitzung gegen die von Gysi eingeschla- des Parteivorstandes der PDS zum 13. August 1961 , dass gene Linie der Stimmenthaltung dieses Ergebnis herbei- der „Staatssozialismus in der DDR am Ende war, als die geführt habe. Schließlich standen am 21. Oktober Wahlen Mauer gebaut wurde und es kein Konzept zu ihrer Über- in Berlin bevor. Am 20. September erklärte Bartsch: Von windung gab ...Kein Ideal und kein höherer Zweck kann „unserer Haltung zur Terrorwelle wird es abhängen, ob das mit der Mauer verbundene Unrecht, die systematische die PDS im kommenden Jahr den Wiedereinzug in den Einschränkung der Freizügigkeit und die Gefahr für Frei- Bundestag schafft“. Die Berliner Zeitung vom 21. Sep- heit sowie an Leib und Leben ... politisch rechtfertigen“. tember kommentiert: „Um die Partei auch im Bund koali- „Die Logik des Kalten Krieges ist nicht die Logik demo- tionsfähig zu machen, planen die Reformer in der PDS kratischer Sozialistinnen und Sozialisten“33 . Jetzt folgte - einen langfristigen Kurswechsel in der Außen- und diesmal auf die Gegenwart bezogen - die Entschuldigung Sicherheitspolitik“. Auf dem PDS-Parteitag in Dresden, bei Bush für ein Transparent mehrerer Bundestagsabge- der unmittelbar vor dem Angriff endete, wurden noch ein- ordneter im Mai 200234 . Sind wir in der Regierung, so mal die unterschiedlichen Positionen deutlich. In einem gehört es sich eben nicht mehr, Transparente gegen Bush Gespräch erklärte mir Dietmar Bartsch, dass er nicht mit zu entfalten, als Senatoren gegen ihn zu protestieren. einem Angriff der USA rechne. Am 7. Oktober begann der Selbst eine Demonstration gegen Fondsgewinnler im Gru- Krieg gegen Afghanistan, juristisch als Akt der Selbstver- newald war dem Berliner Landesvorsitzenden suspekt. teidigung deklariert, da der Angriff längst vorbei war, Bereits Anfang August hatte André Brie der Mitteldeut- unzweifelhaft völkerrechtswidrig. schen Zeitung erklärt, „Ich träume von einer neuen Linken In immer stärkerem Maß war in den Augen von immer mit völlig neuen Formen“. Gysi und Lafontaine sollten mehr Wählern die Strategie der Partei auf die Regierungs- sich „gemeinsam an die Spitze „einer neuen linken Kraft“ beteiligung gerichtet und zwar nicht als Mittel zum setzen und die alten Feindbilder gemeinsam abbauen, vor Zweck, sondern als Selbstzweck. Die PDS hatte in zwei allem wenn beide auf den Oppositionsbänken sitzen.35 Im Ländern die Regierungsbeteiligung erreicht. Sie war aber Wahlaufruf vom 19. August erklärten die 4 Spitzenkandi- nicht in der Lage, diesen Regierungen für die Wähler daten, wenn es zur Entscheidung zwischen Schröder und sichtbar ihren Stempel aufzuprägen. Der Eindruck wuchs, Stoiber käme und wenn eine deutsche Beteiligung im dass für die PDS-Führung die Regierungsbeteiligung ein- Irak-Krieg gestoppt werden könnte, „dann wären wir auch fach als solche schon etwas Gutes sei, dass vor allem die bereit, Schröder zum Kanzler zu wählen“36. Am 4. Sep- Berliner Koalition das Sprungbrett für die Gemeinsamkeit tember, gut zwei Wochen vor der Wahl schrieben André in der Bundespolitik sein sollte. Unablässig wurde betont, Brie und Gysi an Lafontaine, man solle darüber reden, ob die PDS werde nicht fehlen, wenn es gelte, Schröder wie- SPD und PDS gemeinsame Verantwortungen und Mög- der zum Bundeskanzler zu machen. .Die SPD erschien als lichkeiten haben. Die PDS habe mit dem Staatsozialismus der große Bruder, der uns in die Bundespolitik aufnehmen gebrochen und wüsste um die „ beispielhafte demokrati- würde, wenn wir nur artig genug seien. Nur so ist die sche Tradition der SPD“. Es ginge um Zusammenarbeit in

31 Der Kampf gegen den Terrorismus lässt sich gewinnen, ein Krieg gegen ihn nicht, Neues Deutschland vom 18.9.2001. 32 Der Parteitag der Berliner PDS hatte am 13. 1. 02 mit großer Mehrheit der Koalitionsvereinbarung von SPD und PDS zugestimmt. In der Präam- bel wurde gegen die historische Wahrheit und gegen verbindliche Beschlüsse von Parteitagen der PDS verstoßen. Im Rückblick wurde nach einer Verurteilung der Menschheitsverbrechen der „nationalsozialistischen Diktatur“ im dreifachen Umfang eine Untat von DDR und SED an die ande- re gereiht. Die Mauer sei ein „Symbol für Totalitarismus und Menschenverachtung“ gewesen, „Ausdruck eines Regimes, das zur eigenen Macht- sicherung sogar das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit mißachtete“, es wird von „Zwangsvereinigung“ gesprochen, von „Hinrich- tung Andersdenkender“, von der „gewaltsamen Niederschlagung des Volksaufstandes“, vom „Fehlen grundlegender demokratischer und Frei- heitsrechte“. In diesen Aussagen war Wahres, Diskussionsbedürftiges und Falsches. Entscheidend aber war, daß die Geschichte von DDR und SED auf derartige Aussagen reduziert wird. Nichts, aber auch gar nichts wird zu Gunsten von DDR und SED gesagt. Es war nur „eine unheilvolle Geschichte“. In der Präambel kommen die Worte Krieg und Frieden nicht vor. Stattdessen ist im Abschnitt zur Verpflichtung zu „bundes- freundlichem Verhalten“ von der Einbindung Deutschlands in „die westliche Wertegemeinschaft“ und der Zugehörigkeit zum „nordatlantischen Bündnis“ die Rede. In Berlin sei „das Bewusstsein über die Bedeutung dieser Bindungen besonders hoch“. Das Parteiprogramm von 1993 lehnte die NATO, die Parteitage von Magdeburg 1996, Münster 2000 und Dresden 2001 lehnten deutsche Kriegseinsätze ab. Statt einer Markierung der gegensätzlichen Positionen in dieser Frage wird jetzt künftige Unterstützung signalisiert (vgl. die Präambel zur Koalitionsvereinbarung im Neuen Deutschland vom 14. 1. 02 sowie U.-J. Heuer, K. Pätzold, H. Neubert, G. Friedrich, H. Nick vom Marxistischen Forum der PDS ebenda am 22.1.02) 33 Geschichte lässt sich nicht aufrechnen, Neues Deutschland vom 19.4.2001, „Die PDS hat sich vom Stalinismus der SED unwiderruflich befreit“, ebenda 3.7.2001. 34 C. Dümde Was hatten Sie Bush zu sagen, Herr Claus? Neues Deutschland vom 24.5.2002. 35 Brie träumt von einer neuen Linkspartei, Neues Deutschland vom 6. 8.2002. 36 Die andere Politik wählen: PDS, PID Nr. 34 2002.

16 Marxistisches Forum 50/2005 Schlüsselfragen aktueller Politik und gesellschaftlicher Der Parteitag, der als Parteitag der Sieger gedacht war, Reformen, darunter auch um einen gemeinsamen Beitrag musste zum Tag der Analyse und Schlussfolgerungen wer- zur Außenpolitik. „Wir fordern dabei ausdrücklich unsere den. Das war objektiv binnen 3 Wochen kaum möglich. eigene Partei auf, sich prinzipiell zu einer gemeinsamen Eine Gruppe erklärte, wir haben viel zu lange gezögert, Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu bekennen“.37 die innerparteiliche Abrechnung mit der Opposition zu Zur gleichen Zeit befürchtete Gysi, dass sich beim einem führen. Am entschiedensten war das bei Gregor Gysi zu Scheitern der PDS „die linken Dogmatiker“ in der PDS lesen. Er schrieb im Stern (Nr. 40/2002): ein neues Partei- austoben.38. Noch unmittelbar vor der Wahl erklärte programm ließ immer noch auf sich warten. „Der Roland Claus: „Bei aller Konkurrenz darf die notwendige Parteiführung fehlte der Mut, es zur Abstimmung zu stel- politische Kooperation von Sozialdemokraten und Sozia- len“. „Während früher Kraftproben mit Rückwärtsge- listen für längerfristige Projekte nicht ignoriert werden“ 39 wandten in der Partei gewagt wurden, wurden solche in letzter Zeit eher gescheut“. Auch für André Brie war die Wenig vorher hatten der Landesvorsitzende in Branden- erste Voraussetzung eines Comeback „ die Wiederaufnah- burg Ralf Christoffers und der Leiter der Grundsatzabtei- me eines Selbstveränderungsprozesses hin zu einer lung im Parteivorstand der PDS Thomas Falkner dem modernen sozialistischen Partei (nicht weitere Verschie- Spiegel ein Papier zu dieser Zusammenarbeit zugeleitet, bung aller wichtigen Auseinandersetzungen und Entschei- in dem es abschließend hieß: „Am Ende würden zwei ver- dungen, sondern Lust auf sie, Mut zu ihnen)“, ND vom änderte linke Parteien stehen. Oder langfristig womöglich 27.9.2002. Später wurde er noch deutlicher. Auf dem Par- - wenn es denn in der Sache tragen und kulturell möglich teitag drohe ein Desaster wie in Münster. „Es arbeiten sein sollte - eine neue Linkspartei in Deutschland.“40 rückwärtsgewandte, sektiererische Leute sehr aktiv daran, Vornehmlich von Dietmar Barsch ging im Vorfeld der den berechtigten Frust der Basis für sich zu kanalisieren“. Wahlen immer wieder die Losung aus, dass man in einer (FR vom 12.10.2002). Bisky erklärte ebenso: „Wir brau- entsprechenden Situation Schröder wählen werde. „Jeder chen die Rückkehr zur Erneuerung der PDS, darum geht im Lande weiß, Rot-Grün allein wird die Mehrheit nicht es“. Zur Erklärung der heutigen Welt reiche das Pro- mehr erringen können“. Deshalb sei die PDS „verpflich- gramm von 1993 nicht aus. „Auf ein neues Programm zu tet“, Schröder zu wählen. Diese Stimmen seien allerdings verzichten, habe ich für einen Gefährdung der Wahl gehal- „nicht zum Null-Tarif“ zu haben41 . Das alles vor den ten“ (Freitag vom 4.10.2002). Wahlen, als Hunderttausende vor der Alternative PDS Ganz entschieden formulierte Edda Seifert vom Parteivor- oder SPD standen. Und dann hat der „große Bruder“ in stand: „Die PDS hat die Bundestagswahl nicht in den ver- einem gekonnten Coup gleichzeitig sich in das Bundes- gangenen Tagen und Wochen, sondern am 9. April 2000“, kanzleramt und uns als Fraktion aus dem Parlament also in Münster, durch das richtige, aber überstürzte Vor- geschafft. gehen verloren. Es ging um „die Kernfrage, inwieweit sie Die PDS erhielt im Berlin 11,4 % der Stimmen, in der sich auf diese Gesellschaft einlassen und sie annehmen BRD insgesamt 4%. Die Wählerwanderung betrug zur will“. „Regieren oder Nicht- Regieren, Grundgesetztreue SPD 129.500, zu den Nichtwählern 442.810. Im Osten hier, DDR-Treue da“ (ND vom 5./6.10.2002). Als Wolf- 411.930. In Mecklenburg-Vorpommern sank der Anteil gang Ullmann im ND-Leitartikel vom 5./6. 10. vorschlug, von 23,6 auf 16,3, in Sachsen-Anhalt von 20,7 auf den Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus aufzu- 14,4.Prozentpunkte.42 geben, um „seine Transformation aus einem angeblichen Wirtschaftskonzept in ein Rechtskonzept, im Dienst einer Die meisten Massenmedien kommentierten das Wahler- politischen Synthese von Freiheit und Gleichheit“, fragte gebnis für die PDS mit unverhohlener Genugtuung. Ich ihn Kurt Pätzold, „Erledigen nicht auch das die Sozialde- will nur die ZEIT zitieren, die unter der Überschrift „Der mokraten schon“? (jw vom 10. 10.2002). Zustimmung Sozialismus fällt aus Der Wähler hat die PDS aus der erhielt Ullmann von André Brie (übrigens auch von Petra Bundespolitik verabschiedet“ verkündete: „Allerorten Pau, PID 41 2002). „Die PDS wird Glaubenskriege um läuten der Partei bereits die Totenglöckchen“.43 Es ist also die reine Lehre und rückwärtsgewandte Dogmen endgül- nicht wahr, dass erst in ihren Augen das Ende war. tig hinter sich lassen müssen“. Die Machtkämpfe zwi- Gregor Gysi allerdings schrieb unmittelbar nach dem schen ihren realistisch denkenden Politikern solle sie Geraer Parteitag: „Die Niederlagen der PDS bei der Bun- beenden (Freitag vom 11.10.2002). Diese Richtung kann- destagswahl und der Landtagswahl in Mecklenburg-Vor- te nur eine Selbstkritik, die bisherige, seit 1994 einge- pommern wären reparabel und verkraftbar gewesen, ihr schlagene Linie nicht entschieden genug durchgeführt zu Geraer Parteitag wohl kaum!“ (PID Nr. 44/2002). haben.

37 A. Brie, G. Gysi, „Wir möchten uns für einen linken Aufbruch engagieren“, Neues Deutschland vom 4. 9. 02. 38 Absage an Angebot von Gysi und Brie, Neues Deutschland vom 5. 9. 02 39 R. Claus, „Wir haben als sozialistische Opposition gehandelt“, Neues Deutschland vom 21./22.9. 02. 40 Sonderbare Abhängigkeit 2002 H. 34. 41 Bartsch: SPD hat nur mit PDS eine Chance, Neues Deutschland vom 14.8.2002. Bartsch wiederholte immer wieder den Satz: „Man soll Nie Nie sagen“. 42 Berliner Zeitung vom 24.9.2002. 43 L. von Billerblick, Der Sozialismus fällt aus, DIE ZEIT vom 26. 9. 2002.

Uwe-Jens Heuer 17 Die offizielle Analyse des bisherigen Vorstandes sprach wenn sie stark genug ist, wieder raus zugehen. Sonst ist recht unentschieden von einer nichtadäquaten Reaktion sie erpressbar“ („Es muss einen Richtungsentscheid auf den personell polarisierten Wahlkampf, von zu später geben“, ND vom 8.10.2002). Positionierung für eine Mitte-Linksoption , vom Zerfall Ein ernsthafter Richtungswechsel setzte voraus, dass die der bisherigen Führungsgruppe und fehlender einheitli- bisherige Linie seit 1994 in Frage gestellt wurde. Frie- cher Identität der neuen Personen. Die notwendigen histo- drich Wolff schrieb: „Es geht nicht um Personen, es geht rischen Bewertungen (Entschuldigungen) seien eine um Inhalte. Wenn die Erneuerer sich erneuern können, „bewusste Entscheidung“ gewesen, hätten „aber auch zu wenn sie wissen, dass Sozialismus die Gesellschaft ohne Entfremdung, Demotivation und Austritten geführt“. Bei Kapitalisten ist, wenn sie solidarisch mit denen sind, die den Regierungsbeteiligungen „konnte der Eindruck nicht vor ihnen über Sozialismus nicht nur geredet, sondern ver- ausgeräumt werden, dass wir uns unter der Formel der sucht haben, ihn Wirklichkeit werden zu lassen, auch Regierungsbeteiligung „als Wert an sich“ viel zu bereit- wenn sie dabei Fehler machten, sind sie willkommen - willig in die Hände des Koalitionspartners SPD begeben“. aber nur dann.“(jw vom 8.10.200). Die Anbiederung an Die Partei hätte sich offensiv zur rot-rot-grünen Option Rot-grün habe in die Sackgasse geführt, das Koalieren bekennen müssen. Zur Formel „Stoiber verhindern“ gab müsse auf den Prüfstand, die PDS müsse als pluralisti- es keine einheitliche Meinung. Als Einzelfaktoren wurden sche, sozialistische Partei erhalten werden. „Gerade unse- u.a. Zweckoptimismus, „uneinheitliches Agieren der Bun- re Wahlniederlage unterstreicht, dass eine zweite sozialde- destagsfraktion beim Bush-Besuch im Bundestag, - nicht mokratische Partei überflüssig ist und dass die Sozialde- zu durchschauender Winkelzug mit Gysi/Brie -Brief an mokratisierung die PDS zerstören muss“, schrieben M. Lafontaine kurz vor der Wahl“ benannt (PID 41/2002). Mäde, D. Menzner, U. Jelpke, W. Wolf und E. Lieberam Die Linie war also richtig, aber sie hatte schädliche Aus- am 27.9.2002 in der jw. Erich Hahn kritisiert vor allem wirkungen. „die Tendenzen eines beschönigenden Kapitalismusbildes Kritischer war eine Studie von A. Brie, M. Brie und Mich- und einer illusionären Darstellung linker Möglichkeit ael Chrappa zur Krise der PDS. Seit 1994 habe es eine unter den gegebenen Bedingungen“. Es ginge also um Führungsschwäche in der PDS gegeben. In diesem Jahr „Kenntnisnahme der realen gesellschaftlich-historischen gab es erhebliche strategisch-taktische Differenzen inner- Voraussetzungen linker Politik überhaupt“ (jw vom halb der führenden „Reformer“ „Auf der einen Seite 4.10.20002). Tatsächlich ist das die Grundfrage. Kurt Pät- wurde die Annäherung an die SPD forciert und wurden zold erklärte in der Diskussion, dass es um die „Bestim- Schröder immer neue Angebote auf Unterstützung signa- mung des Platzes“ ginge, „den eine sozialistische Partei in lisiert“. Besonderen Schaden habe die Entschuldigung dieser Gesellschaft in der gegenwärtigen Phase nationaler, beim US-Präsidenten von Roland Claus angerichtet. Von europäischer und Weltentwicklung überhaupt einnehmen anderen wurde der Oppositionscharakter der PDS betont. kann. Es geht um den Abschied von den besonders lieb- „Die mit dem Programmentwurf verbundene strategische gewordenen Träumen, die sich in den wahrlich schwach- Neuorientierung wurde nicht zum Gegenstand von kon- sinnigen Debatten darüber äußerten, wann die PDS in der zeptionellen Erörterungen in der Führung der PDS selbst mitregieren wolle, solle und werde. gemacht“, die praktisch-politischen Konsequenzen igno- Es gilt die Schimäre vom Weg zu irgendeiner Einheitspar- riert. Es müsse selbstkritisch gefragt werden, „warum der tei aufzugeben und sich Klarheit über den Charakter der Versuch einer Fundierung des Sozialismus Sozialdemokratischen Partei zu verschaffen“. Die PDS als Hinwendung zu einer Politik des Einrichtens im kapi- befinde sich auf einem sehr langen Weg. „So verlockend talistischen Status quo begriffen werden konnte.“ Es wird Vorschläge sind, ihn zu verkürzen, einen Machtzipfel zu die „Welle von Entschuldigungen“ kritisiert, „die in den gewinnen, sie münden nur im Sumpf der Aussöhnung mit Augen einer großen Mehrheit der Mitglieder die ihre gesellschaftlichen Zuständen“, die die Menschheit in eine Basis und verprellt auch die und Sachgasse führen“(jw vom 24.9.2002). ihr Umfeld.“ Kritisiert wird auch das Verhältnis der Wie geht man also, fragte Heinz Niemann, „mit dem Führung zu sozialen Bewegungen und die „fast völlig ungeheuer komplizierten, grundlegenden Widerspruch zum Erliegen gekommene intellektuelle Ausstrahlung der um, als sozialistische Partei Politik für hier und heute, für PDS-Führung“. (Neues Deutschland vom 10.10.2002). die jetzt lebenden Menschen zu machen und machen zu War diese Studie noch inkonsequent, schließlich waren müssen und zugleich die Zukunft der sozialistischen zwei Autoren Vorkämpfer des neuen Programms, stamm- Bewegung nicht aufs Spiel zu setzen?!“, also in nichtre- ten gerade von André Brie Vorstöße für ein Zusammenge- volutionären Zeiten revolutionär zu bleiben (ND vom hen mit der SPD, so wurde Michael Chrappa in seinen 27.9.20002). Wir, Michael Benjamin und nach seinem persönlichen Schlussfolgerungen deutlicher. Keine Partei Tode Ellen Brombacher Winfried, Wolf und ich, sind in hielte es durch, „wenn sich mitten im Wahlkampf die Spit- unseren Minderheitsvoten in der Programmkommission zenkandidaten gegenseitig demontieren.“. Es müsse einen nicht müde geworden, die Mehrheit und auch interessier- Richtungsentscheid geben, ob die PDS sich weiterhin als te Parteimitglieder mit diesem Widerspruch zu konfron- ein eigenständiges politisches Projekt oder als Teil des tieren, der sich mit der neoliberalen und imperialistischen politischen Projektes von SPD und Grünen versteht“. Das Offensive immer mehr verschärft. Wir haben niemals eine sei „auch eine Auseinandersetzung darüber, ob es heute in theoretische, sondern immer nur eine administrative Ant- der PDS demokratisch zugeht“. Wenn die PDS „in Regie- wort erhalten. Für die Führungsspitze der PDS und ihre rungen mitgestaltet und -verwaltet, sollte sie es nur tun, Getreuen existierte dieser Widerspruch überhaupt nicht.

18 Marxistisches Forum 50/2005 Sie überlegten wohl nur noch, mit welchen Losungen sie mäßigen Fortführung der Partei in der gegebenen Existen- ihren Marsch in die Institutionen vollziehen können, so zweise interessiert und dachte konservativ im Rahmen dass einerseits die Mitglieder und Wähler bei der Stange dieser Aufgabe, ohne über ihre eigene Situation in der bleiben und andererseits künftigen Partnern ihre Unge- Gegenwart hinaus denken zu wollen und zu können“. fährlichkeit, ja Loyalität klar ist. Nach zehnjährigem Weg André Brie hat in der PDS dieser Integrationsideologie konnte man sich dem von Brie-Brie-Chrappa wiedergege- den Namen des „Ankommens“ gegeben.45 Manchem benen Eindruck nicht verschließen, „dass die Führung der schien es, wir seien jetzt angekommen, koalitionsfähig, PDS in beträchtlichen Teilen nur noch machtopportuni- wären in die Gemeinschaft der billig und gerecht Denken- stisch agiert“, was auch mit persönlicher Macht und Exi- den endlich aufgenommen. Aber die Gegensätze hatten stenzsicherung übersetzt werden kann. Die PDS-Führung sich so stark zugespitzt, dass der abverlangte Preis nicht brauchte und braucht heute erst recht kein Programm mehr bezahlbar ist, ohne uns selbst aufzugeben und die mehr, um der SPD zu beweisen, dass sie für einen Hoffnungen all derer, die in uns die einzig wirkliche „Machtzipfel“ zu allem bereit ist. Parlamentssitze und Opposition sehen und nicht verzweifeln wollen. Die Ministerposten sind zu einem Wert an sich geworden. Das Bahnhöfe auf denen wir ankommen wollen, werden gilt für Führungsmitglieder, aber auch für viele von ihnen gleichsam immer weiter nach rechts verlegt, bis unser Zug ökonomisch Abhängige auch unter den Parteitagsdelegier- endlich abstürzt. Es gab und gibt in der Geschichte Situa- ten. Ein großer Teil der Delegierten waren teils bei den tionen, in denen kurz- und mittelfristig keine Lösung Fraktionen, teils bei den Vorständen angestellt.44 Wolf- gegeben werden kann. Dann gibt es nur die Möglichkeit gang Abendroth hatte schon für die Situation vor dem des Widerstandes, des Wachhaltens der Überzeugung von 1. Weltkrieg darauf hingewiesen, dass der reale Träger der der Notwendigkeit einer sozialistischen Alternative. Dar- Integrationsideologie in der SPD eine neue Sozialschicht über muss gründlicher nachgedacht, offener gesprochen gewesen sei, „die aus der Bürokratie der Partei (einsch- werden. Das schließt selbst Misstrauen gegen führende ließlich ihrer parlamentarischen Repräsentanten) und der Genossen ein, entsprechend der Einsicht Helmut Gollwit- Arbeiterverbände ... bestand. Sie war an der verwaltungs- zers, dass „Demokratie Misstrauen gegen die Regierenden ist, misstrauische Kontrolle von unten nach oben“46 .

44 Aus dem Bericht der Mandatsprüfungskommission für den 6. Parteitag ergab sich, dass von den gewählten 487 Delegierten 473 Mandatsprü- fungsbogen abgegeben hatten. Danach waren 150 in Kommunalvertretungen, 41 in Landtagen und 14 im Deutschen Bundestag vertreten. 34 Dele- gierte waren bei den PDS-Fraktionen, 26 bei PDS-Geschäftsstellen hauptamtlich beschäftigt. Damit war mindestens ein knappes Viertel der Dele- gierten von der Partei ökonomisch abhängig (Berliner Parteitag, Disput 1999 Nr. 1, PID 1999 Nr.3 / 4). 45 W. Abendroth, Aufstieg und Krise der deutschen Sozialdemokratie, vierte erweiterte Auflage, Köln 1978, S. 39-40. 46 Zitiert in G. Orth, Helmut Gollwitzer: zur Solidarität befreit, Mainz 1995, S. 106.

Uwe-Jens Heuer 19 Harald Neubert Zur heutigen Situation der sozialistisch-kommunistischen Linkskräfte (vornehmlich der PDS, in Anbetracht veränderter Bedingungen und Herausforderungen)

Inhalt betreffen auch gewisse Aspekte, Orientierungen und Ent- wicklungstendenzen der PDS. I. Bemerkungen zum Thema II. Zur gegenwärtigen Ausgangssituation sozialistischer Wenn das anders wäre, würden wir deren dringende all- Politik seitige Verständigung und Annäherung der verschiedenen III. Elementare Bedingungen einer erfolgreichen linken Linkskräfte feststellen können, was keineswegs der Fall Politik ist. IV. Zum heutigen Zustand der traditionellen Arbeiterbe- Manch einer wird mir, wenn ich verallgemeinernd, undif- wegung ferenziert von sozialistisch-kommunistischen Linkskräf- V. Klassenkonflikt unter veränderten Bedingungen ten spreche, vorwerfen, zu Unrecht Sozialisten und Kom- VI. Die PDS im Lichte der gegenwärtigen Herausforde- munisten in einen Topf zu werfen. Bei allen Unterschie- rungen den halte ich das für akzeptabel, sofern die einen wie die VII. Das Erfordernis eines neuen Internationalismus anderen ihre Grundposition im Sinne des Kommunisti- schen Manifests als antikapitalistisch und ihr programma- I. Bemerkungen zum Thema tisches Ziel als postkapitalistisch, eben als sozialistisch definieren. Was sie unterscheidet, sind Fragen nach dem Das mir ursprünglich vorgegebene Thema des Vortrags ideologischen und theoretischen Selbstverständnis sowie „Die sozialistische Linke auf der Suche nach einem Aus- nach der Strategie im Kampf gegen Kapitalismus und für weg zwischen 2002 und 2004“ enthält drei Kernaussagen: Sozialismus - Fragen, die im Vortrag weitestgehend aus- Zum einen soll die sozialistische Linke behandelt werden, geklammert werden sollen. nicht allein die PDS. In diesem Sinne habe ich mich ent- schieden, vor allem die Situation, die Probleme und die Eine weitere Vorbemerkung: Um die Frage nach den Herausforde-rungen, mit denen generell die sozialistisch- gegenwärtigen Kampfbedingungen, dem Zustand, der kommunistischen Linkskräfte, so selbstverständlich auch Rolle und der Perspektive der sozialistisch-kommunisti- die PDS, konfron-tiert werden, in deren historischer und schen Linkskräfte zu beantworten, reicht es nicht, die aktueller Dimension zu erörtern. Um die Frage nach deren betreffenden Prob-leme nur in ihrer nationalen Erschei- gegenwärtigen Kampfbedingungen, deren Zustand, deren nungsform, erstrecht nicht allein durch das Prisma der Rolle und Perspektive zu beantworten, reicht es nicht, die PDS, zu betrachten und auf eine gegenwärtige Moment- betreffenden Prob-leme nur in ihrer nationalen Erschei- aufnahme zu begrenzen. Denn in allen europäischen Län- nungsform, erstrecht nicht allein durch das Prisma der dern und seit Jahren befinden sich diese Kräfte mehr oder PDS, zu betrachten und auf eine gegenwärtige Moment- weniger in einer Identitätskrise, deren Ursachen zum aufnahme zu begrenzen. großen Teil genereller Natur sind und kaum am Beispiel eines Landes oder einer Partei analysiert werden können. Zum anderen ist von der Suche nach einem Ausweg die Alle Linkskräfte stehen de facto in den entwickelten kapi- Rede. Das verstehe ich so, dass sich die Linkskräfte, so talistischen Ländern vor ähnlichen Problemen. Und des- auch die PDS, in einer historischen Krise oder zumindest halb stehen sie, so auch die PDS, zugleich, und zwar in einer Defensivposition befinden, aus denen ein Ausweg schon seit einigen Jahren, vor der Aufgabe, sich unter notwendig ist. Diese Aussage wird auch durch die jüng- wesentlich veränderten Bedingungen in einem kompli- sten Wahlerfolge der PDS nicht relativiert. Wie man auch zier-ten, widerspruchsvollen Prozess neu zu formieren immer die Rede Gregor Gysis auf dem Potsdamer Partei- und neu zu orientieren, was bekanntlich mit vielen Irrita- tag im Oktober 2004 einschätzt, seine Feststellung, die tionen und inneren Auseinandersetzungen, in manchen dauerhafte Existenz der PDS sei noch nicht gesichert, Parteien mit Spaltungen verbunden ist. kann man wohl nicht so interpretieren, als halte er die Krise der Partei für überwunden, wobei er offenkundig an Um es allgemein zu formulieren, drehen sich Schwierig- einen anderen Ausweg denkt, als ich ihn für erforderlich keiten um ein zeitgemäßes sozialistisches und kommuni- halte. Zur krisenhaften Situation gehört übrigens auch, stisches Selbstverständnis, um die Bewertung der Vergan- dass sich die sozialistischen Linkskräfte nirgends in der genheit und die Lehren aus der Geschichte, um die schöp- Lage befinden, die Richtung der offiziellen Staatspolitik ferische Ak-tualisierung einer sozialistischen Theorie auf im Sinne ihrer Programmatik zu verändern. marxistischer Grundlage, um sozialistische Programmatik und eine ent-sprechende Politik und Strategie, um die Was nun zum dritten die Suche nach einem Ausweg anbe- organisatorische Verfasstheit der Parteien, Bewegungen langt, so können wir offenbar keineswegs für alle Links- und um deren Bünd-nisfähigkeit, um die Neudefinition kräfte sagen, dass sie sich tatsächlich auf dem richtigen, und Praktizierung von Internationalismus. Man kann Erfolg versprechenden Wege befänden. Meine Zweifel

20 Marxistisches Forum 50/2005 gegenwärtig keine europäische Linkspartei nennen, die Alle, die heute weiterhin Sozialismus als anzustrebende hierbei beispielhafte Erfolge aufweisen könnte. Alternative zum Kapitalismus als notwendig erachten, kommen nicht umhin, sich mit der Frage danach zu Wenn die PDS ihrerseits diese Probleme nicht bewältigen, beschäftigen, weshalb diese historische Chance verspielt diese Aufgaben nicht lösen wird, wird sie aus der gegen- wurde und was zu tun ist, ein antikapitalistisches, soziali- wär-tig fragilen, in mancher Hinsicht umstrittenen und stischen Kräftepotential neu zu formieren und mehr oder innerlich zerrissenen Situation nicht herauskommen kön- weniger einheitlich akti-onsfähig zu machen. Und das nen. muss eben unter beträchtlich veränderten Bedingungen II. Zur gegenwärtigen Ausgangssituation geschehen, zu denen vor allem die neuen Erscheinungs- sozialistischer Politik formen des Kapitalismus gehören. Aus welcher konkreten objektiven und subjektiven Situa- Zweitens: Platz, Rolle, Aufgaben und Perspektiven des tion heraus müssen denn die sozialistisch-kommunisti- Kampfes der Linkskräfte hängen entscheidend davon ab, schen Parteien einen Ausweg suchen und finden? Eine wie sich die kapitalistische Gesellschaft heute darstellt, Antwort ist nur möglich, wenn wir mit einem konsequen- wie sie funktioniert. Die Linkskräfte haben es inzwischen ten kritischen Realismus außer der internationalen Dimen- mit einer neuen Qualität von Kapitalismus und Imperia- sion tatsächlich auch deren historische Dimension der lismus zu tun - mit Erscheinungen, die nicht alle erst nach Situation, der Bedin-gungen, der Herausforderungen in den Umbrü-chen seit 1989 wirksam wurden und die zur Betracht ziehen, mit denen die sozialistischen und kom- Krisenhaftigkeit der Linkskräfte beitrugen. Die charakte- munistischen Parteien und darüber hinaus alle linken ristischen Züge und die Funktionsweise der gegenwärti- Kräfte, ganz gleich welcher ideologischen Ausrichtung, gen kapitalistischen Gesellschaft sind aber noch ungenü- konfrontiert sind. gend analysiert. Die Verän-derungen betreffen sowohl den Kampfboden wie auch die Subjektivität der Linkskräfte. Es handelt sich um mancherlei Probleme, die bekanntlich bis zu den Ursprüngen des Marxismus und der sozialisti- Es handelt sich um Veränderungen in der kapitalistischen schen Arbeiterbewegung zurückreichen und heute teils Produktionsweise, in den Macht-, Eigentums-, Sozial- förderlich, teils hemmend fortwirken. Unterschiedliche struktu-ren der Gesellschaft, um neue Erscheinungen in Interpretatio-nen, Versäumnisse, Defizite im Umgang mit der Sozialpsychologie und im Massenbewusstsein, um die diesen Problemen liefern unter anderem den Schlüssel länderüber-greifenden Integrationsprozesse, die sich im dafür, die perma-nenten inneren Turbulenzen, Auseinan- Zeichen des Neoliberalismus und der Globalisierung voll- dersetzungen, Spaltungserscheinungen der meisten kom- zogen und noch immer vollziehen, um die erneute ökono- munistisch-sozialistischen Parteien, die PDS eingeschlos- mische, militärische und ideologisch-kulturelle Offensive sen, einigermaßen zu verstehen. des Imperialismus mangels einer ernstzunehmenden inter- nationalen antiimperialistischen Gegenkraft. In der BRD Betrachten wir in historischer Optik die heutige Situation, wurde die traditionelle antikommunistische Staatsdoktrin die maßgeblich Platz, Aufgaben und Perspektive der keineswegs überwunden; sie wurde modifiziert und dient Links-kräfte bestimmt, aber kaum ausreichend in deren der Delegitimierung der DDR und den Bemühungen, die Strategie und Programmatik Berücksichtigung findet: PDS als potentielle Gegenkraft anzuschwärzen und aus Erstens: Alle Linkskräfte, vor allem aber die sozialisti- dem politischen System zu verdrängen. schen und kommunistischen, sind vom Scheitern und Bereits seit den 60er Jahren vollzieht sich die wissen- Untergang der realsozialistischen Ordnungen in Europa schaftlich-technische Revolution, die die kapitalistische noch immer in bedrückender Weise betroffen. Ihr Schei- Produkti-onsweise und das Sozialgefüge der Gesellschaft tern und Untergang als Fortschritt zu bezeichnen, wie das modifiziert hat. Mit der elektronischen Datenverarbei- geschehen ist, ist eine Form von opportunistischer Selbst- tung, der Sensor-technik, mit Computern und Industriero- verleugnung mit negati-ven Konsequenzen. Es handelte botern wurde in großen Bereichen der Wirtschaft der Pro- sich mitsamt dem Zerfall der Sowjetunion um einen welt- duktionsprozess auto-matisiert. Hinzu kommen Internet politischen Umbruch, der - ganz gleich, wie man sich zum und die entsprechende Kommunikationstechnik, die in realen Sozialismus verhielt und wie man die Ursachen des zunehmendem Maße die nati-onalen Grenzen der Wirt- Scheiterns beurteilt, - für alle Linkskräfte eine historische schaft niederrissen und einer nationalen Steuerung der Niederlage darstellt, deren bedrückende Wirkungen noch ökonomischen Strukturen und Prozesse den Boden entzo- immer virulent sind, selbst wenn man das so nicht sieht. gen. Das hat auch zur Folge, dass der Sozialstaatskom- Denn alle Linkskräfte, auch die sich distanziert zu diesen promiss, die Sozialpartnerschaft zwischen Kapi-tal und Ordnungen verhielten, wurden in die Defensive gedrängt. Arbeit, das Wirtschaftsmodell von Keynes, die eine natio- Zugleich ist es jedoch sehr bedenklich, dass viele Links- nale Wirtschaftspolitik voraussetzten, aufgekündigt kräfte Sozialismus generell nicht mehr für realisierbar hal- wurde. Der weitgehend uneingeschränkte länderübergrei- ten, was die Einflussmöglichkeiten der sozialistisch-kom- fende wirtschaftliche Aktionsradius des internationalisier- munistischen Parteien sehr beeinträchtigt. Dem-gegenü- ten Kapitals im Verdrängungswettbewerb und im Streben ber entfalten die Repräsentanten des großen Kapitals eine nach höheren Profiten hat somit die national organisierte beispiellose ökonomische, aber auch ideologische Offen- Arbei-terschaft erpressbar gemacht. sive, um sich rücksichtslos Macht und maximale Profite zu sichern und dies zu rechtfertigen. Verändert haben sich auch die Eigentumsstrukturen des Kapitals, die Produktionsverhältnisse, die Akkumulations-

Harald Neubert 21 und Reproduktionsbedingungen, die Form der Herr- hältnisse und Arbeitsbedingungen in eben dieser kapitali- schaftsverhältnisse, die politischen Kräfteverhältnisse, in stischen Gesellschaft gekämpft werden muss. denen zum Beispiel die Mittelschichten eine viel größere Wohl ohne Zweifel lässt sich feststellen: Eine jegliche Rolle als früher angenommen spielen. Alternative zur neoliberalen Politik und Entwicklungs- Für die im Arbeitsverhältnis Beschäftigten bedeutet das richtung in den integrierten europäischen Ländern im eine radikale Veränderung des Arbeitsprofils und der Qua- Sinne eines wirklichen sozialen Fortschritts, sei es im lifika-tionsmerkmale sowie die maßen- und dauerhafte Rahmen des Kapita-lismus oder zu dessen Überwindung, Freisetzung von Arbeitskräften infolge von Rationalisie- ist nur denkbar, wenn erstens die zersplitterten linken, rung der Pro-duktion und in Folge von Produktionsverla- systemkritischen und anti-kapitalistischen Kräfte sich als gerung in so genannte Billiglohnländer. fähig erweisen, sich als Gegenkraft zu etablieren, indem sie Mehrheiten gewinnen, Kräf-teverhältnisse verändern Die Veränderungen in der Produktionsweise im Kapitalis- und zielgerichtet agieren; mus stellten zum einen auch eine Herausforderung an den Sozialismus dar, der sich dieser nicht gewachsen zeigte, und wenn zweitens diese Gegenkraft international organi- sowie in der kapitalistischen Welt die Voraussetzung siert und handlungsfähig ist und ausreicht, die herrschen- dafür, dass die neoliberale Globalisierung eine neue Stufe den Kräfte zu substantiellen politischen Zugeständnissen erreichte. Sie war bereits vor dem Zerfall des europäi- zu zwingen; schen Realso-zialismus wirksam geworden, erfuhr jedoch und wenn es drittens gelingt, diese Gegenkraft in eine nach 1990 in wenigstens vierfacher Hinsicht einen Gegenmacht zu verwandeln, was bedeutet, sie als Opposi- beträchtlichen Auftrieb. tion der Zivilgesellschaft zu einem Machtfaktor in der Zum einen gibt es mit dem Ende der UdSSR keine ernst- politischen Gesellschaft zu machen. Auf diese Weise muss zunehmende Macht mehr in der Welt, die der imperialen die linke Opposition in bezog auf die Gesamtgesellschaft Politik Grenzen zu setzen vermag. Die von ihnen betrie- Hegemonie- und zugleich Regierungsfähigkeit erlangen. bene neoliberale Globalisierung soll die ganze Welt ihren Das wiederum setzt ein entsprechendes eigenes Macht- ökonomi-schen, politischen und strategischen Interessen konzept voraus. Man darf deshalb nicht, wie das gele- und Zielen unterwerfen. gentlich in der PDS ge-schieht, Macht an sich als etwas Negatives, etwas Abzulehnendes beurteilen. Zum anderen vollzieht sich in den Ländern, die den Aus- bruch aus dem Kapitalismus versucht hatten, eine kapita- Hinsichtlich der Konstituierung von Gegenkraft und listi-sche Restauration mit verheerenden sozialen Folgen. Gegenmacht existiert noch immer ein offenes theoreti- Zum dritten werden in den kapitalistischen Hauptländern sches und strategisches Problem. Zwar haben sich die Europas nun ohne Rücksicht auf soziale Herausforderun- meisten kommunistischen und sozialistischen Parteien gen aus dem Osten Sozialabbau, Kommerzialisierung fast davon verabschiedet, aufgrund einer angeblich objektiv aller Lebens-bereiche und eine schamlose Bereicherung gegebenen Gesetzmäßigkeit eine missionarische Avant- der Eliten durchgesetzt. Zum vierten wurde Krieg wieder garde-Rolle zu beanspruchen und Bündniskräfte unter zum bevorzugten Mittel der kapitalistischen Großmächte, ihrer Hegemonie zu vereinen. Doch wird bisher die einzi- um eine Weltordnung zu ihrem Vorteil durchzusetzen und ge Möglichkeit, eine breite aktionsfä-hige antikapitalisti- jedes Land, das sich widersetzt, militärisch zu unterwer- sche Koalition im Sinne von Einheit in der Pluralität zu fen. bilden, weder konzeptionell noch politisch allgemein III. Elementare Bedingungen anerkannt und praktiziert. Viele Parteien, darunter auch einer erfolgreichen linken Politik die PDS, wenn man an die jüngsten Parteitage in Münster, Magdeburg, Gera, , Berlin denkt, werden nicht Um unter diesen Bedingungen die Befindlichkeit der einmal mit der Pluralität in ihren Reihen fertig, ge-schwei- sozialistisch-kommunistischen Linkskräfte einschätzen zu ge denn in ihrer nationalen und internationalen Bündnis- können, drängt sich als zentrales Kriterium auf: Welche politik. Programmatik, Strategie und praktische Politik befolgen Selbst wenn das alles gelänge, wären die linken Kräfte sie im Wider-spruchs- und Spannungsverhältnis zwischen noch sehr weit von einem neuen Sozialismus entfernt. der an sich dringenden Notwendigkeit von Sozialismus Man muss kein Pessimist sein, wenn man feststellt, dass aufgrund des Zu-stands und der bedrohlichen Perspektive die europäischen Linkskräfte sogar weit davon entfernt des Kapitalismus zum einen und der gegenwärtig nicht sind, selbst diese unmittelbaren Erfordernisse zu realisie- gegebenen Möglich-keit, diese Notwendigkeit zu realisie- ren, von einem gemeinsamen erfolgreichen Kampf für ren, zum anderen. Und daraus leitet sich ein zweites Kri- Sozialismus ganz zu schweigen. terium ab: Wie verbinden sie in Anbetracht der Tatsache, dass sie ihren Kampf offenbar für eine nicht absehbare Wer die Welt sozialistisch verändern will benötigt dafür Zeit auf dem Boden und im Rahmen des Kapitalismus auch eine sozialistische Theorie, die ohne Marxismus führen müssen, ihre notwendige aktuelle Reformpolitik nicht denkbar ist. Marxistisches Denken aber muss einer mit einer antikapitalistischen, sozia-listischen Zielset- konstruktiven Revision und Erneuerung unterzogen wer- zung? Eine Zerreißprobe besteht darin, dass es notwendig den. Dies hat einen doppelten Aspekt: zum einen die ist, für die Überwindung des Kapitalismus zu kämpfen, Befreiung des Marxismus von seinen Stalinschen Defor- während gleichzeitig für die Verbesserung der Lebensver- mationen, und zum anderen die marxistische Verarbeitung und theoretische Verallgemeinerung der gewandelten

22 Marxistisches Forum 50/2005 Realitäten. Die reale Bandbreite der ideologischen Posi- revolutionäre Überwindung des Kapitalismus erforderlich tionen reicht heute vom orthodoxen Festhalten an alten Mehrheit der Arbeiterklasse mitsamt Bündniskräften zu Dogmen über die notwendige konstruktive Erneuerung gewinnen. marxistischen Denkens bis hin zum puren politischen Wie verlief denn die Entwicklung? In den Industrielän- Pragmatismus ohne jeglichen Theorie-bezug. Was hierbei dern ist der zahlenmäßige Anteil der Arbeiterklasse an der die PDS anbelangt, so ist sie ein Beispiel für eine Ge-samtbevölkerung stark rückläufig, somit auch der erschreckende Theorieabstinenz. Hinzu kommt zuweilen Grad ihrer politischen Organisiertheit. Bereits in den 70er ein einseitig negatives Verhältnis zur eigenen Geschichte. Jahren besaßen zum Beispiel die IKP und die FKP als mit- Die PDS „muss aber auch dazu stehen, sich als Teil einer gliederstärksten Parteien im entwickelten Kapitalismus, historischen Bewegung zu sehen.“, was zwar verbal als sie ihren größten Einfluss erreicht hatten, unter ihrer bekundet wird, aber völlig unzureichend das Bewusstsein Mitgliedschaft nicht mehr als 30 bzw. 40 Prozent Arbeiter. bestimmt.1 Und die heutige PDS ist keineswegs eine Arbeiterpartei. Wenn also in der Themenstellung von der Suche nach Das heißt, die Mehrheit ihrer Mitglieder gehörte und einem Ausweg die Rede ist, so wäre der Erfolg der Suche gehört anderen Klassen und Schichten an. Negativ ist das daran zu messen, in welchem Maße diese Erfordernisse nicht zu bewerten, im Gegenteil. Es beweist nur, dass sich erkannt und durchgesetzt werden. die Kräfte, die für Sozia-lismus zu kämpfen gewillt waren IV. Zum heutigen Zustand und auch heute sind, sich weniger aufgrund ihrer sozialen der traditionellen Arbeiterbewegung Zugehörigkeit als vielmehr aufgrund sozialistischer Pro- grammatik gewinnen lassen. Bevor hierzu einige zusätzliche Bemerkungen in bezog Besorgniserregend ist nicht die Tatsache, dass die Mit- auf die PDS gemacht werden sollen, ist es wohl unum- gliedschaft der kommunistischen und sozialistischen Par- gänglich, die Frage nach den Kräften zu stellen, die eine teien, die ja als Arbeiterparteien galten, nicht mehrheitlich Gegenmacht bilden und die Kräfteverhältnisse in antika- aus Arbeitern besteht, sondern die Tatsache, dass in den pitalistischer Richtung verändern könnten, mit anderen letzten Jahren zahlreiche Arbeiter diesen Parteien den Worten, die Frage nach der Beschaffenheit des potentiel- Rücken gekehrt haben, diese Parteien nicht als ihre politi- len Subjekts oder besser, der potentiellen Subjekte des sche Vertretungskör-perschaft ansehen. Sie erweisen sich Kampfes für sozialen Fortschritt und Sozialismus. nicht mehr als „Nomenklatur der Arbeiterklasse“, als die Wo auch immer die Ursachen liegen mögen, es ist äußerst sie Gramsci bezeichnet hatte. Dagegen erlangen die bür- bedrückend, dass in Anbetracht der schlimmen Auswir- gerlichen Parteien ihre Mehrheits- und Hegemoniefähig- kun-gen von Sozialabbau, Profitmaximierung und Globa- keit in der Gesellschaft auch dank eines beträchtlichen lisierung die sozialistisch-kommunistischen Parteien kei- Gewinns an Mitgliedern und Wählern aus der Arbeiter- nen mas-senhaften Zulauf der Betroffenen verzeichnen schaft. In bezog auf die CDU schreibt Franz Walter, Poli- können, was zu erwarten wäre. Das Dilemma betrifft auch tologieprofessor an der Universität Göttingen: „Die bür- die PDS. Im Gegenteil nahm die Anhängerschaft vieler gerliche Union hat sich seit etwa zwei Jahren verproleta- linker Parteien sogar ab. Gewisse Wahlerfolge der PDS risiert, hat dem durchaus weiterhin existierenden bürgerli- sind zwar positiv zu bewerten, haben aber möglicherwei- chen Kern ihrer Anhängerschaft das klassische Muster se nur zeitweilige, also vorübergehende Beweggründe, sozialdemokratischer Sozialstruktur hinzugefügt. So ist von denen Mehrere externer Natur sind. Es vollzieht sich mittlerweile das ‚altbürgerliche Lager' in seiner Wäh-ler- - und zwar international - eine Erosion der traditionellen schaft ‚proletarischer' als das der SPD...“2 Und der sozialen Basis der sozialistisch-kommunistischen Partei- „Anteil der Arbeitslosen an den FDP-Wählern stieg von en. 3,5 % auf 6,5 %“.3 Dies wirft vor allem die Frage nach der Arbeiterklasse auf. Hinzu kommt ein weiteres Dilemma. Die meisten kom- Seit Marx und Engels ließen sich die Arbeiterparteien be- munistischen und sozialistischen Parteien sind überaltert. kanntlich von der Überzeugung leiten, dass der stets Es gelingt nicht im erforderlichen Maße, Jugendliche zu wachsenden Arbeiterklasse historisch die Mission zukom- gewinnen, die in beträchtlichen Teilen durchaus links ein- me, den Kapitalismus revolutionär zu überwinden. Doch gestellt sind, doch die Normen parteipolitischer Organi- die traditionelle Arbeiterbewegung, der diese Rolle zuge- siertheit nicht akzeptieren. dacht wurde, gehört der Vergangenheit an. Die Sozialde- Wenn wir Merkmale der krisenhaften Situation der sozia- mokratie, die in vielen Ländern die Mehrheit der Arbei- listischen Linkskräfte in der Gegenwart benennen wollen, terklasse um sich scharte und teilweise noch immer um so gehören diese Tatbestände unbedingt an vorderster sich schart, ist mit ihrem neoliberalen Kurs nicht einmal Stelle hinzu. mehr die Kraft, um den Kapitalismus auf progressive Weise zu reformieren. Den kommunistischen Parteien ist Besorgniserregend ist besonders auch die Situation der es seit der Oktoberrevolution nicht gelungen, die für eine Arbeiterbewegung, wenn man die Gewerkschaften in

1 So Christoph Spehr in: Unterhaltungen über den Sozialismus nach seinem Verschwinden. Hrsg. Wolfgang Fritz Haug und Frigga Haug unter Mit- wirkung von Erhard Crome, Frank Deppe, Jutta Held, Wolfgang Küttler, Susanne Lettow, Peter von Oertzen, Lothar Peter, Jan Rehmann, Thomas Sablowski, Christoph Spehr, Jochen Steinhilber, Christoph Türcke und Frieder Otto Wolf. Berliner Institut für Kritische Theorie 2002, S. 163 2 Franz Walter: Zurück zum alten Bürgertum: CDU/CSU und FDP. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 27. September 2004, S. 34 f. 3 Wolfgang Fritz Haug: High-Tech-Kapitalismus. Analysen zu Produktionsweise, Arbeit, Sexualität, Krieg und Hege-monie. Hamburg 2003, S, 37

Harald Neubert 23 Betracht zieht. Ihnen laufen die Mitglieder weg. In Frank- der in der Sendung mit Sabine Christiansen am 2. Mai reich sind nicht mehr als 10 Prozent der Arbeiter gewerk- 2004 sinngemäß bekundete, dass es zu den Aufgaben der schaftlich organisiert; in Deutschland sind es weit weniger gewerkschaftlichen „Arbeitnehmervertreter“ in den Auf- als 40 Prozent. Denn die Wirkung ihres Einflusses auf die sichtsräten der Konzerne gehöre, dafür zu sorgen, „dass es Arbeitssitua-tion ist stark rückläufig, und die Arbeiter sind dem Betrieb gut geht“. Falls die revolutionär orientierten durch das Kapital erpressbar geworden. Zwei Beispiele Kräfte nicht der verhängnisvollen Meinung sind, je aus der BRD belegen das. Im Jahre 2003 scheiterte im schlechter die Lage der Arbeiter ist, desto besser ist es für Osten Deutschlands der von der IG-Metall durchgeführte die revolutionäre Perspektive, können selbst sie dieser Streik, weil sich dagegen eine Fronde aus sozialdemokra- Logik nicht widersprechen. Das bedeutet aber, dass die tisch geführter Regierung, Landesregierungen, Unterneh- enge Sicht auf das konkrete Arbeitsverhältnis nicht aus- merverbänden, Medien und sogar aus Vertretern west- reicht, um die gesamtgesellschaftlichen Realitäten zu deutscher Gewerkschaften gebildet hatte und die Erfolg- erfassen und pro-sozialistisches Bewusstsein zu erzeugen. schancen zerstörte. Das zweite zu nennende Beispiel war Man wird an die Feststellung Lenins erinnert, der in jene als Dammbruch bezeichnete Erpressung der Arbeiter Anlehnung an Engels und Kautsky darauf hinwies, dass bei Siemens, die Produktion ins kos-tengünstigere Aus- politisches Klassenbewusstsein der Arbeiter „nur aus land zu verlagern, falls die Arbeiter nicht in die 40-Stun- einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, denwoche ohne Lohnausgleich einzuwilligen bereit sind. außerhalb der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbei- Die Arbeiter hatten zu wählen zwischen Arbeitslosigkeit tern und Unternehmern“ kommen kann. „Das Gebiet, aus und der Verschlechterung ihrer Arbeits- und Ein-kom- dem allein dieses Wissen geschöpft worden kann, sind die mensbedingungen. Inzwischen haben sich weitere Beziehungen aller Klassen und Schichten zum Staat und Großunternehmen dieser Methode bedient. Rudolf Hickel zur Regierung, sind die Wechselbeziehungen zwischen schreibt hierzu: „Die hohe Arbeitslosigkeit sowie der sämtlichen Klassen.“5 Druck durch die Arbeitgeber raubt den Gewerkschaften Drittens wirken gegenwärtig in der Arbeiterklasse Grup- die Ges-taltungskraft am unteren Ende der Lohnskala.“4 peninteressen stärker als Gesamtinteressen der Klasse und Und W.-F. Haug gibt folgende Erklärung: „Diese komple- Inte-ressen des gesellschaftlichen Gemeinwohls. Dies xe Technologie hat die marxsche Antizipation der ‚physi- hängt mit der jeweils notwendigen und vordergründigen kali-schen' Schließung des unmittelbaren Produktionspro- Existenzsi-cherung zusammen. So wenden sich zum Bei- zesses wahr gemacht. Die politische und gewerkschaftli- spiel die Arbeiter in der Rüstungsindustrie gegen deren che Kultur der Arbeiterbewegung hat sich durch diese Reduzierung, weil diese einen ersatzlosen Arbeitsplatz- Entwicklung mehr oder weniger überrumpeln lassen, verlust und den Verlust sozialer Sicherheit bedeutet. Tau- zumal wenn sie sich auf die Verteidigung des Status quo sende arbeitender Men-schen sind besorgt über die konzentrierte. Die Folge war nichts weniger als eine pas- Schließung von Bundeswehrstützpunkten und über den sive Revolution in der Welt der Arbeit. Wie die große Truppenabzug der Amerikaner aus der BRD aus eben den Industrie in ihren Anfängen die Macht der handwerklich gleichen Gründen. qualifizierten Arbeiter gebrochen hat, so die Automation Die Wahrnehmung der Gesamtinteressen der Klasse und die Macht der organisierten Massenarbeiter.“ des gesellschaftlichen Gemeinwohls würde den einheitli- Damit ist eine wesentliche Ursache für den Niedergang chen Kampf um Strukturveränderungen in der Wirtschaft der traditionellen Arbeiterbewegung beschrieben. zwecks Absorbierung freiwerdender Arbeitskräfte sowie die Neu-verteilung des reduzierten notwendigen gesell- Wie dem auch sei, die Arbeiterklasse, alle Lohnarbeiter schaftlichen Arbeitsfonds durch Arbeitszeitverkürzung sind von den negativen Auswirkungen des neoliberalen erfordern. Dies wäre nur möglich, wenn bei allen Teilen globali-sierten Kapitalismus am meisten betroffen. Leider der Arbeiterklasse die Einsicht in den Zustand, die lassen sich bei vielen Arbeitern und unteren Angestellten Bedingtheiten und die Ent-wicklungstendenz der Gesamt- drei Er-scheinungen beobachten, die ihrer politischen gesellschaft und zugleich die Bereitschaft vorhanden Mobilisierung entgegenwirken. wäre, die Verwertungsgesetze des Kapitals und somit die Es handelt sich erstens um Hilflosigkeit, Resignation oder kapitalistische Produktionsweise generell in Frage zu stel- gar Hinnahme dieser negativen Auswirkungen und des er- len und nach einer Alternative zu stre-ben. Dies ist nicht presserischen Drucks als angeblich unvermeidliche Fol- gegeben. gen objektiver Sachzwänge. Wie dem auch sei: Die zu bildende antikapitalistische und Zweitens ist es eine Tatsache, dass die Arbeiterklasse als pro-sozialistische Gegenkraft ist ohne die Gewinnung und das zweifellos kämpferischste Element in der kapitalisti- Einbeziehung der Mehrheit der Arbeiterklasse nicht her- schen Gesellschaft mehrheitlich für die Verbesserung der zustellen. Dies ist eine der größten und schwersten Aufga- Arbeitsbedingungen und der Lebenssituation in dieser ben der sozialistisch-kommunistischen Parteien. Gesellschaft, nicht für deren Überwindung kämpft. Dies festzustellen ist kein negatives moralisches Werturteil. Zitiert sei der Vorsit-zende des DGB, Michael Sommer,

4 Rudolf Hickel: Mindestlohn per Gesetz? In: Neues Deutschland, 10. September 2004, S. 6 5 W. I. Lenin, Was tun? In: Werke, Bd. 59 S. 436

24 Marxistisches Forum 50/2005 V. Klassenkonflikt unter veränderten essen, die eben diesem Zweck im Wege stehen, keinerlei Bedingungen Fortschritt realisierbar. Auf alle Fälle darf man nicht zu dem Schluss kommen, als Dem neuen Parteiprogramm der PDS mangelt es an einer würden Klassenkonfrontation und Klassenkampf der Ver- Analyse und Darstellung der heutigen Klassenstruktur gangenheit angehören, wie das manche auch in der PDS und der entsprechenden Klassenfronten in der BRD- meinten. Bekanntlich fehlt auch im neuen Parteipro- Gesellschaft sowie der sich daraus ergebenden politischen gramm der PDS eine Klassenanalyse der BRD-Gesell- und strategi-schen Konsequenzen. Dabei kann es nicht schaft. Die kapitalistische Gesellschaft war, ist und bleibt darum gehen, die Auseinandersetzungen in der Gesell- eine Klassengesell-schaft, allerdings mit einer sehr modi- schaft wiederum auf einen Kampf Klasse gegen Klasse zu fizierten Klassenstruktur und veränderten Frontstellun- reduzieren. Zwischen den entgegengesetzten Klassenkräf- gen. ten existieren sozial und politisch relevante Mittelschich- ten, die ihre eigenen Interessen besitzen, die nicht denen Leider muss man heute aber konstatieren, dass häufig bei der Arbeiterklasse untergeord-net werden können, jedoch der Austragung vorhandener Klassenkonflikte die provo- im Kampf für Sozialismus nicht negiert werden dürfen. Es zie-rende, organisatorische, auf „Lösungen“ drängende sei daran erinnert, dass bei aller Engherzigkeit die SED in und „Lösungen“ oktroyierende Initiative von denen aus- der DDR bestrebt war, den Mittelschichten in der soziali- geht, die über die ökonomische und politische Macht in stischen Gesellschaft einen Platz und eine Perspektive dieser Gesellschaft verfügen. Der unter dem Vorwand des einzuräumen. „Umbaus des Sozialstaates“ vor sich gehende Sozialabbau ist ein untrüglicher Beweis eines Klassenkampfes von Das Ringen um einen künftigen Sozialismus verlangt in oben. Wenn BDI-Präsident Rogowski Anfang Oktober der Gegenwart die Formierung einer neuen Subjektivität, zusätzlich zu den Hartz-IV-Regelungen weitere Kürzun- die in sozialer Hinsicht nur noch plural, klassenübergrei- gen des Arbeitslosengel-des II verlangte, dann verbirgt fend und international denkbar ist und ohne Zweifel die sich dahinter eben das Bestreben, kapitalistische Klasse- Organisatio-nen der Arbeiterbewegung einschließen ninteressen gegenüber der Arbei-terschaft durchzusetzen. muss. Bemerkenswert dabei ist, dass die Ackermanns, die Es geht deshalb um ein breites soziales, politisches und Hundts, Rogowskis usw. ihre übermäßigen Bereicherun- weltanschauliches Spektrum von Kräften, die in einem gen und ausbeuterischen Praktiken nunmehr in schamlo- antikapi-talistischen Netzwerk zu vereinen wären. Aller- ser Offenheit demonstrieren. Und Bundeskanzler Schrö- dings muss als Voraussetzung eines solchen Bündnisses der gibt ihnen faktisch moralischen Beistand, wenn er im Toleranz gegen-über unterschiedlichen Standpunkten Blick auf das gemeine Volk „Mitnahmementalität“ kriti- sowie Dialog- und Konsensbereitschaft gegeben sein. siert, diejenigen jedoch, die im großen Stil Staats- und Unter dieser Bedingung dürfte es keine Ausgrenzungen Volksvermögen plündern und Steuern hinterziehen, geben. Wer jedoch diese Voraussetzung von der Position, schont. selbstgerecht alleiniger Ver-treter der Wahrheit, der richti- Die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften werden gen Theorie und Politik zu sein, nur die eigene Überzeu- nicht selten mit dem Hinweis auf weltwirtschaftliche gung gelten lässt, wie das zum Beispiel bei der MLPD der Sachzwänge in eine Situation der Erpressbarkeit gedrängt, Fall ist, mit dem ist eine Verständigung nicht möglich; er wie das schon erwähnt wurde. grenzt sich de facto selbst aus. Wenn heute vom Klassencharakter des Kampfes um Was die PDS angeht, so bietet sich zwecks Aktionseinheit Sozialismus gesprochen werden muss, dann nicht in dem eine Verständigung mit Anhängern der Antikapitalisti- Sinne, dass die Arbeiterklasse als entscheidendes, einheit- schen Europäischen Linken, mit den fortbestehenden liches politisches Subjekt in Erscheinung treten müsse. Es kommunistischen Parteien und den anderen so genannten geht viel-mehr darum, dass sich dieser Kampf klassen- demokratisch-sozialistischen Parteien an. Als unerträglich mäßig unterschiedlicher sozialer und politischer Kräfte beurteilen viele das ungeklärte Verhältnis zwischen der zwecks Einschrän-kung und schließlicher Überwindung PDS und der DKP, das mit allerlei gegenseitigen Vorbe- unweigerlich gegen die Funktionsmechanismen einer halten und Blockaden belastet ist und dadurch dem Gesellschaft richtet, die der Logik der Kapitalverwertung, gemeinsamen Anliegen be-trächtlich schadet. der Konkurrenz und maximalen Profiterwirtschaftung, der Damit ist das in Frage kommende Spektrum eines antika- Ausbeutung von Mensch und Natur untergeordnet sind, pitalistischen Netzwerkes in der BRD nicht erschöpft. sowie gegen jene sozialen und politischen Kräfte, die Inzwi-schen formiert sich im Freiraum zwischen SPD und diese Kapitalinteressen durchsetzen und verteidigen. PDS eine Linke Wahlalternative/Soziale Gerechtigkeit. Der klassenmäßige Aspekt des Kampfes besteht also nicht Außerhalb und teils als Gegengewicht zur Arbeiterbewe- darin, dass die Interessen nur einer Klasse durchgesetzt gung entstanden seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts oder gar zum Maßstab gesellschaftlichen Fortschritts in den kapitalis-tischen Ländern neue breite Bürgerbewe- gemacht werden, sondern dass heute in erster Linie gungen mit zum Teil antikapitalistischen Orientierungen. gesamtgesellschaft-liche und Menschheitsinteressen Dies betrifft heute die Ökologierbewegungen, feministi- wahrgenommen und durchgesetzt werden müssen. In die- sche Bewegungen, Globalisierungskritiker und -gegner sem Sinne jedoch ist ohne die Beeinträchtigung, Zurück- (Attac), Friedensbewegungen, Protesthaltungen der Kir- drängung und Überwindung kapitalistischer Klasseninter- chen, das Netzwerk „Europa von unten“, die Bundeskoor- dination „Internationalismus“ usw. Mit allen diesen Kräf-

Harald Neubert 25 ten muss eine Verständigung erreicht werden, um einen Kreisen, den Ländern, in Gewerkschaften und anderen pro-sozialistischen historischen Block zu formieren. Organisatio-nen, in sozialen Einrichtungen usw. eine akti- Diese Bewegungen lassen sich aber nicht in eine histori- ve und anerkannte Arbeit geleistet haben und leisten. sche Mission der Arbeiterklasse einordnen und auch nicht Dennoch sind ihre politischen Aktionsmöglichkeiten von den politischen Parteien hegemonisieren. äußerst begrenzt. Zwar vermag die PDS mit ihrer Regie- Ohne Zweifel bleibt in der kapitalistischen Klassengesell- rungsbetei-ligung in Berlin und Mecklenburg-Vorpom- schaft der Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit mern gewisse soziale Härten der der zentrale Widerspruch der kapitalistischen Gesell- Dennoch sind die politischen Aktionsmöglichkeiten der schaft. Er findet Ausdruck in den ökonomischen, politi- PDS äußerst begrenzt. Zwar vermag sie PDS mit ihrer schen und ideo-logischen Machtverhältnissen, in den Regie-rungsbeteiligung in Berlin und Mecklenburg-Vor- kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnis- pommern gewisse soziale Härten der neoliberalen Politik sen, in der Ausbeutung, im Zwang zur profitablen Kapi- abzumin-dern, sie hat aber nicht die Kraft und das politi- talverwertung, im Konkurrenzkampf usw. Dennoch ist die sche Gewicht, um auch nur eines ihrer alternativen Refor- historische Notwendigkeit, den Kapitalismus zu überwin- mprogramme durchzusetzen. Die häufig gebrauchte For- den, nicht mehr allein auf die Überwindung des Arbeit- mel vom gleichzeitigen „Opponieren und Gestalten“ gibt Kapital-Widerspruchs reduzierbar. unter diesen Bedin-gungen keinen rechten Sinn. Sie müs- Zu lösen sind zivilisatorische Menschheitsprobleme, die ste in bezog auf den dominierenden neoliberalen Regie- die Existenzgrundlagen der Menschheit gefährden. Viele rungskurs eher heißen: „Opponieren und Bremsen“. Von von ihnen, besonders ökologische Probleme, sind die der Chance eines Kurswechsels in der Politik kann schon Folge kapitalistischer Profitwirtschaft, indem Raubbau an gar nicht die Rede sein, da diesen ohnehin, wie schon dar- den natürli-chen, nicht regenerierbaren Ressourcen (Ener- gelegt, nur eine große mehrheitsfähige Linkskoalition giequellen, Rohstoffe, Urwälder) betrieben wird, die sich bewirken könnte, die aber nicht existiert. Deshalb ist es mit einem gerin-gen Aufwand ausbeuten lassen, und bedenklich, wenn Lothar Bisky erklärt: „Die PDS will indem die Umwelt durch Industrieabfall, Kohlendioxyd- Regierungsbeteiligungen künftig als immanenten Ausstoß, usw. belastet wird. Wenngleich vom Kapitalis- Bestandteil ihrer Politik begreifen“, wenngleich er das an mus erzeugt bzw. reproduziert, sind sie zugleich ein bestimmte, aber nicht definierte Voraussetzun-gen Ergebnis der Lebensweise und Konsumgewohnheiten knüpft.6 Es muss schon angezweifelt werden, ob die Par- mehr oder weniger aller Menschen, aller sozialen Grup- tei das überhaupt will. Ist die Mitgliedschaft denn danach pen und Klassen in den entwickelten kapitalistischen befragt worden? Industriestaaten, auch der im Ausbeutungsverhältnis ste- Im beschlossenen Leitantrag des 9. Parteitages Ende henden. Immense, größtenteils rücksichtslose Umweltbe- Oktober 2004 in Potsdam wird nun von einem strategi- lastungen werden durch das Militär, die Rüstungsindustrie schen Drei-eck gesprochen, mit dem diese Orientierung und vor allem durch Kriege verursacht. festgeschrieben wird. Dort heißt es: „Für sozialistische Es ist uns allzu gut bekannt, dass auch in den sozialisti- Politik nach unse-rem Verständnis bilden Widerstand und schen Staaten Umweltsünden in großem Stil begangen Protest, der Anspruch auf Mit- und Umgestaltung sowie wurden, dass aufgrund ungenügender Rücksicht auf die über den Kapitalismus hinausweisende Alternativen ein Umweltprobleme und auf nachhaltiges Wirtschaften unauflösbares strategisches Dreieck.“ Die „Überzeugung, beträchtlicher Schaden verursacht wurde. dass die Gesellschaft ver-ändert werden muss und verän- VI. Die PDS im Lichte der gegenwärtigen dert werden kann“, lässt sich meiner Meinung nach kaum Herausforderungen vermittels einer Mitgestaltung realisieren. Mitgestalten mit wem? In Frage als Koalitionspartner kommen heute Wie bzw. in welchem Maße bewältigt die PDS gegenwär- nur Kräfte, die den neoliberalen Kapi-talismus befürwor- tig die mit der neuen Situation verbundenen Probleme? Im ten. Vernünftiger wäre es wohl, das Mittelglied dieses konkreten Zusammenhang wurde bereits auf einige Ent- strategischen Dreiecks als „Eingreifen zwecks progressi- wicklungsprobleme der PDS hingewiesen. ver Reformen“ oder als „Ringen um sozialen Fortschritt“ zu formulieren. Unter allen oppositionellen linken Formationen in der BDR ist ohne Zweifel die PDS die stärkste und einflus- Für ihre weitere Entwicklung und eine größere Poli- sreichste. Sie ist im Unterschied zu den anderen linken tikfähigkeit ist es notwendig, dass die PDS eigenständig Formationen die einzige linke Partei in der BRD, die durch Ge-winn an Mitgliedern, Wählern, Einfluss und außerparlamentari-schen Kampf mit parlamentarischem innerer Stabilität ein größeres Gewicht im Lande erringt. verbinden kann. Die jüngste Ent-wicklung ist durchaus erfreulich. Die Stimmengewinne der PDS bei den jüngsten Europa-Wahl- Die bisherigen Aktivitäten der PDS sind - das muss man en sowie Landtagswah-len in Thüringen mit über 26 Pro- hervorheben - nicht wirkungs-, nicht erfolglos gewesen. zent, in Sachsen mit 23,4 Prozent und in Brandenburg mit Es verdient eine hohe Anerkennung, dass zahlreiche 28,1 Prozent sind untrügli-che Zeichen gewisser Erfolge Genossen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen und eines Einflussgewinns der Partei. Doch wäre es gesell-schaftlichen Bereichen, so in den Kommunen, den

6 Zitiert nach einem Bericht im Neuen Deutschland vom 20. Juli 2004. In einem Interview mit dem Neuen Deutschland vom 12. September 2004 wird die Befürwortung von Regierungsbeteiligungen der PDS weitaus vorsichtiger formuliert.

26 Marxistisches Forum 50/2005 euphorisch, würde man meinen, die inneren Probleme Und was das Verhältnis zur SPD anbelangt, scheint es in seien zufrieden stellend und dauerhaft gelöst und würde der PDS nach wie vor recht unterschiedliche Auffassun- man ignorieren, dass wesentliche Impulse zum Einfluss- gen zu geben. Und wenn heute Lothar Bisky die SPD als gewinn der PDS von außen, durch die Schwächen, Fehler Partner der PDS bezeichnet,8 verdrängt er offenkundig die und den neoliberalen Sozialabbau verursacht wurden und Tatsache, dass die SPD die PDS nicht nur als einen politi- werden und deshalb jeweils nur kurzzeitig wirken. Erin- schen Gegner betrachtet, sondern sie gänzlich als linke nert sei an den Berliner Bankenskandal, an die Kriege auf Kraft auszuschal-ten bestrebt ist. Auf alle Fälle sind beide dem Balkan, in Afghanistan, im Irak, an Hartz IV usw. Die Parteien für einander politische Konkurrenten. jüngsten Erfolge und die Stabilisierung der PDS sind noch Ungeachtet dessen, wie man die Rolle und Fähigkeit von zu wenig selbst tragend. Gabriele Zimmer als ehemalige Parteivorsitzende ein- Der inneren Konsolidierung der PDS wirken noch immer schätzt, kann man eine ihrer Feststellungen auf dem Par- einige Faktoren entgegen. Nicht ganz sind Polarisierungs- teitag in Gera im Oktober 2002 nach wie vor als zutref- und damit Ausgrenzungsbestrebungen überwunden, was fend unterstrei-chen. Diese Feststellung wirft auch ein zugleich bedeutet, dass es am notwendigen Verständnis Licht auf den Konflikt, der sich zwischen der Regierungs- und den erforderlichen Mechanismen fehlt, die unum- beteiligung der PDS in Berlin und Mecklenburg-Vorpom- gängliche Pluralität in der Mitgliedschaft produktiv zu mern und dem Engagement vieler PDS-Mitglieder an den bewältigen. Montagsdemonstrationen auftut sowie auf die Vorbehalte von Attac und Wahlalternative gegenüber der PDS: „Ein Ein weiteres Problem besteht darin, dass es keinen einhel- Vorwurf,“ so Zimmer, „lautet, dass wir vielen schon zu ligen Konsens hinsichtlich der Ursachen des Wahlde- angepasst sind und zu wenig Alternativen aufgezeigt bakels von 2002 gibt.7 Die notwendige kritische Ausein- haben. Sie beziehen uns in ihre Ableh-nung der herr- andersetzung mit den Positionen, die für das Debakel bei schenden Politik ein; für sie sind wir Bestandteil des Par- den Bundes-tagswahlen 2002 verantwortlich waren, teienstaates. Leute sagen, wir hatten auf Euch gehofft, sowie mit den damaligen Führungskräften, die diese Posi- dass Ihr den Staat in seiner jetzigen Art und Weise viel tionen vertraten, ge-meint sind vor allem Bestrebungen mehr kritisiert, ihn verändert. Sie haben aber jetzt den Ein- nach einer innerparteilichen Polarisierung und die ange- druck, dass wir inzwischen in diesem Parteienstaat gut strebte Anbiederung an die SPD, ist praktisch im Sande angekommen sind und auch wissen, wie man sich seiner verlaufen. Bekanntlich war es der erklärte Wille der Mehr- bedient.“9 Diese Mahnung wurde damals offenbar nicht heit der Delegierten auf dem Geraer Parteitag im Oktober sehr ernst genommen und scheint inzwischen in Verges- 2002 und somit deren Auftrag an den damals gewählten senheit geraten zu sein. Parteivorstand, die Ursachen des Wahldebakels zu unter- suchen, aufzudecken und, sofern es sich um subjektive Mit dem neuen Parteiprogramm wurden nicht alle Ein- Ursachen handelte, zu überwinden. Das in Gera von der wände ausgeräumt, die im Prozess seiner Ausarbeitung Mehrheit der Delegierten gebilligte Leitmotiv lautete: geltend gemacht wurden. Es mangelt an einer klaren Ana- Kein weiter so: Zukunft durch Erneuerung. So-wohl die lyse und Einschätzung der Wandlungen im Kapitalismus. tiefere Aufdeckung der Ursachen der Parteikrise wie die Der antika-pitalistische Charakter und das sozialistische anvisierte Erneuerung wurden damals durch jene verhin- Ziel der PDS werden ungenügend prononciert zum Aus- dert, die vor allem die Verantwortung für das Wahldebakel druck gebracht. trugen, sich sodann als Verlierer von Gera erklärten und in Selbstverständlich meint wohl niemand in der PDS, die Gegenoffensive gingen, so dass schließlich dem Par- Sozialismus zu erkämpfen sei Tagesaufgabe. Es geht um teivorstand die Handlungsfähigkeit entzogen, er in eine etwas anderes. Es reicht meiner Meinung nach nicht, zu Führungskrise gestürzt wurde. Das Ergebnis war, dass in sagen, die PDS wolle die Grenzen des Kapitalismus über- Berlin auf dem Sonderparteitag im Juni 2003 ein neuer schreiten. Man müsste schon klar sagen, dass Sozialismus Vor-stand gewählt wurde, der auf seine Weise die Partei in die Überwindung des Kapitalismus voraussetzt und ein ruhiges Fahrwasser mit einem gewissen Aufschwung warum Sozialismus überhaupt historisch notwendig ist. lenkte. Dem diente auch die Integrationskraft des neuen, Man kann neue Kräfte für den Kampf um Sozialismus auf dem Chemnitzer Parteitag im Oktober 2003 angenom- nicht gewinnen, wenn man nicht deutlich macht, dass der menen Par-teiprogramms. Gerade vor diesem Hintergrund Kapitalismus die Lebensfragen der Menschen nicht zu mutet es eigenartig an, dass Gregor Gysi auf dem Potsda- lösen vermag und dass deshalb wesentliche Forderungen mer Parteitag für die Rückkehr von Claus und Bartsch auf und Ziele der PDS im Kapitalismus nicht oder nur partiell Führungspositionen in der PDS plädierte, während von verwirklicht werden können. Ohne ein Modell eines künf- diesen allen wäh-rend von diesen allen nicht bekannt ist, tigen Sozialismus zu konstruieren, muss ein sozialisti- dass sie sich selbstkritisch zu ihrer damaligen Verantwor- sches Programm dennoch deutlich machen, wodurch sich tung geäußert hätten. eine sozialistische Gesellschaft in bezog auf Demokratie,

7 Mit den Ursachen der inneren Krisenerscheinungen im Zusammenhang mit der Wahlniederlage bei den Bundestags-wahlen 2002 und deren Nach- wirkungen habe ich mich in drei Beitragen in der Zeitschrift Sozialismus beschäftigt: "Po-litikunfähige Sekte? Zur Krise der PDS nach Wahlnie- derlage und Geraer Parteitag", Heft 1/2003, S. 16-20; "Die PDS zwischen Krise und aktuellen Erfordernissen", Heft 3/2003, S. 17-20; "Die PDS und die bevorstehenden Europa-Wahlen, Heft 4/2004, S. 22 ff. 8 So laut Neuem Deutschland vom 6. September 2004 9 Das Zitat stammt aus dem Redemanuskript auf dem Parteitag. In der veröffentlichten Rede im Disput/Pressedienst 10/02 - 42/43, S. 9 wird diese Passage leicht verändert wiedergegeben.

Harald Neubert 27 soziale Gerechtigkeit und Freiheit, in bezog auf die Ein weiteres defizitäres Problem sei erwähnt. Im aktuellen Macht- und Eigentumsstrukturen, auf die Arbeitswelt, die politischen Kampf gegen Neoliberalismus, Sozialabbau, Kultur und Bildung, die Kinder-, Jugend- und Familien- Vergrößerung der Kluft zwischen arm und reich, Bil- politik, die Verantwortung der Gesellschaft für das dungs- und Kulturmisere usw. vergibt sich die PDS ein Gemeinwohl usw. von einer kapitalistischen unterschei- wichtiges Instrumentarium, indem sie nicht das Vorbildli- det. Es wird auch nicht klar gesagt, dass von den Zielen che und Wertbeständige gesellschaftspolitischer Problem- und Forderungen immer mehr nur noch international, lösungen in der DDR in die Debatte einbringt. Erinnert sei wenn überhaupt, durchgesetzt werden können. an die Sozial-, die Bildungs-, die Gesundheits-, die Kul- tur-, die Familien-, Kinder- und Jugendpolitik, an das Es kann nicht überraschen, dass die Regierungsbeteiligun- öffentliche Verkehrswesen, die Förderung von Solidarität gen der PDS auf Landesebene umstritten sind. Die damit und Gemeinschaftssinn in der Gesellschaft usw. ver-bundenen Fragen und Besorgnisse haben eine reale Basis; sie lassen sich nicht einfach so oder so beantwor- Im Hinblick auf die Bundestagswahlen 2006 erwächst der ten. Um in Regierungskoalitionen mit eigenen PDS ein neues, sehr ernstes Problem, dessen Relevanz Ansprüchen und der Möglichkeit, sie mit einem gewissen offen-bar noch gar nicht recht wahrgenommen wird und Erfolg durchsetzen zu können, einzutreten, muss sich die für das eine strategische Entscheidung noch aussteht. Partei von vornherein vor allem zu zwei Prämissen ver- Gemeint ist die Wahlalternative/Soziale Gerechtigkeit, ständigen und darauf festle-gen. Sie benötigt erstens pro- falls sich diese Bewegung zu einer Partei formiert und grammatische Konzepte, die einerseits dem Wahlpro- zum Konkurrenten um Mitglieder und Wählergunst wird. gramm und dem Wählermandat ent-sprechen und unter Zunächst spricht es gegen die Integrationsfähigkeit der den gegebenen Bedingungen realisierbar wären. In dieser PDS, jene zahlreichen Unzu-friedenen im Freiraum zwi- Hinsicht hat die PDS bereits gute Alterna-tivvorstellungen schen SPD und PDS nicht an sich binden zu können. Die zur neoliberalen Regierungspraxis entwickelt. Erinnert sei Argumente aus der Wahlalternati-ve, aber auch von Attac an solche zur Reform der Europäischen Union, zur und von der Antikapitalistischen Linken gegen eine Arbeitsmarktpolitik, zur Entwicklung des Ostens, zur Unterstützung der PDS aufgrund der Re-gierungsbeteili- Reform des Steuersystems, zur solidarischen Bürger-ver- gungen, aufgrund der zwangsläufigen Ausführung neoli- sicherung zwecks Finanzierung des Gesundheitswesens, beraler Maßnahmen und aufgrund der Versöhn-lichkeit an die Agenda Sozial. Nötig wären derartige Konzepte gegenüber der derzeitigen SPD sind schwerlich zu wider- auch zum Versicherungs-, Renten- und Verkehrswesen, legen. Wenn 2006 beide, d. h. PDS und Wahlalternati-ve, zur Kultur-, Schul- und Bildungspolitik usw. Zu nennen tatsächlich als Konkurrenten auftreten, könnte es sein, sind auch die im Parteiprogramm und im Leitantrag des dass keine von beiden die Fünf-Prozent-Hürde nimmt. Potsdamer Parteitages formulierten Aufgaben. Eine tolerante Verständigung und Zusammenarbeit ist deshalb zwingend geboten. Wie diese aussehen könnte, Zweitens müsste die PDS, wenn sie aufgrund ihrer Wahl- muss erst noch ergründet werden. Die Formel, die PDS ergebnisse tatsächlich die Möglichkeit erhält, in Regie- solle mit Gysi im Osten und die Wahlalternative mit rungsko-alitionen einzutreten, zuvor entscheiden, bis zu Lafontaine im Westen antreten, vermag das Problem nicht welchem Grade nicht zu vermeidende Kompromisse mit zu lösen. Ohne einen Stimmenzuwachs im Westen wird dem Wahlpro-gramm und dem Wählermandat vereinbar die PDS die Fünf-Prozent-Marke nicht erreichen. sind und wo die Grenze der Koalitionsbereitschaft liegt. Zumindest in Berlin ist das nicht geschehen. In Branden- Welche Vorbehalte und Kritiken es auch immer an die burg hat man daraus neuerdings offenbar die Lehren gezo- Adresse der PDS geben mag, es müsste objektiv im Inter- gen. Die Regierungsver-handlungen mit der SPD nach esse aller Linkskräfte im Lande liegen, dass die PDS 2006 den Wahlen im September 2004 ergaben keine Einigung, in Fraktionsstärke in den Bundestag einzieht. Im linken weil die Kompromissbereit-schaft der PDS-Delegation Kräfte-spektrum ist sie die stärkste Komponente, und als offenbar tatsächlich klare Konturen besaß. Um so mehr solche ist sie gegenwärtig die einzige, die reale Chancen überrascht es, dass just zur gleichen Zeit die Vorstände der hat, dies zu erreichen. Somit wäre sie auch die einzige PDS-Landesverbände von Berlin und Mecklenburg-Vor- linke Oppositionspartei im Bundestag, die es auf sich neh- pommern ein positives Signal zur Fort-setzung der Regie- men könnte, auch andere Linkskräfte parlamentarisch zu rungszusammenarbeit mit der SPD verkündeten, ohne vertreten und parlamentarischen mit außerparlamentari- dabei die Grenzpunkte zu markieren, die bei Kompromis- schem Kampf zu verbin-den. sen im Koalitionsvertrag und in der praktischen Politik VII.Das Erfordernis eines neuen Internatio- nicht überschritten werden dürften. nalismus Es fragt sich in diesem Zusammenhang auch, ob PDS- In Theorie und Praxis ist aufs Neue zu beantworten, was Minister es vertreten können, eine Politik, wie das bei wir heute unter Internationalismus verstehen und wie die- Hartz IV der Fall ist, durchzusetzen, die nicht im ser wirksam gemacht werden kann und muss. Soll Inter- Nebensächlichen, sondern grundsätzlich der Position der nationalismus integrativ wirken und die für eine Gegen- PDS und damit auch der betreffenden Minister wider- macht erfor-derlichen Kräfte zusammenfügen, kann er spricht. Es darf auch nicht die historische Lehre vergessen nicht mehr als proletarischer Internationalismus im Sinne werden, dass linke Parteien nur immer dann ins Regie- ideologischer Ein-heit und Geschlossenheit kommunisti- rungsboot geholt wurden, wenn die Herrschaft der Bour- scher Parteien begriffen werden. geoisie instabil oder gar krisenhaft war.

28 Marxistisches Forum 50/2005 Die Kräfte, die notwendigerweise für einen Kampf um Und seit Mai 2004 existiert die Partei der Europäischen Sozialismus international zu vereinigen oder wenigstens Linken. Als Gründungsmitglieder gehören ihr 14 Parteien zu koordinieren und somit zu mobilisieren sind, sind sozi- an.10 Vier Parteien haben einen Beobachterstatus.11 al, politisch, weltanschaulich sehr unterschiedlich, was Vertreter der PDS waren, das sei hervorgehoben, initiati- sich kaum ändern wird. Konsensfindung und Zusammen- vreich und aktiv am Zustandekommen dieser Partei betei- wirken können deshalb nur von einer pluralen Grundlage ligt. ausgehen. Bei allen Problemen und Einwänden verdient die Grün- Internationalismus mit diesem Anspruch kann nicht nur dung der Partei der Europäischen Linken eine positive auf Solidarität und gegenseitige Verständigung reduziert Bewer-tung. wer-den. Politik, Strategie und Programmatik der soziali- stischen Linkskräfte haben nur dauerhafte Erfolgchancen, Welche Einwände werden vorgebracht? wenn diese ihren Kampf international führen, da die Den stärksten Einwand erheben diejenigen, die die Bedingungen dieses Kampfes international verflochten europäische Union grundsätzlich ablehnen und deshalb sind und der Gegner ebenfalls, und zwar sehr erfolgreich, gegen die Gründung der Europäischen Linkspartei sind, international agiert. weil diese die statuarischen Vorgaben und die finanzielle Was Europa und namentlich die Europäische Union anbe- Unterstützung für alle Europaparteien seitens der EU langt, so kann man schon heute sagen, dass es entweder in akzeptiert. Andere Einwände betreffen die Pluralität im der europäischen Dimension antikapitalistischen Fort- Selbstverständnis der Mitgliedsparteien, indem ein schritt und Sozialismus geben wird oder überhaupt nicht. Zusammenschluss auf der Grundlage einer einheitlichen Die sozialis-tische Überwindung des Kapitalismus, auf Ideologie im Sinne eines kom-munistischen Internationa- welchem Wege auch immer, in nur einem Lande erscheint lismus gefordert wird. Von dieser sektiererischen Position undenkbar und unrealisierbar. wird die Parteigründung als Akt der Spaltung der soziali- stisch-kommunistischen Kräfte deklariert. Es gibt bei eini- Angemerkt sei, dass diese Problematik im neuen Partei- gen Parteien Befürchtungen, die Mit-gliedschaft in der programm der PDS überhaupt nicht als Ausgangspunkt Europäischen Linkspartei könnte ihre Autonomie beein- der Stra-tegie genommen wird, wie es notwendig wäre. trächtigen, indem sie sich Mehrheitsbeschlüs-sen der zen- Als positiv zu nennen sind mehrere Formen und Ebenen tralen Gremien unterordnen müssten. Fragen entstanden internationaler Kooperation linker Kräfte, die die Grund- im Zusammenhang mit der Mitgliedschaft von politischen lage intensiverer und erweiterter Zusammenarbeit bilden Bewegungen, von Einzelpersönlichkeiten, die keiner der können. Als Massenbewegungen sind das Europäische nationalen Parteien angehören, auch im Zusam-menhang Sozialforum und Attac zu nennen. Zwar besitzen diese mit der Mitgliedschaft mehrerer Parteien aus einem Bewegungen mehr oder weniger einen antikapitalisti- Lande. Es wurde die Meinung geäußert, die Parteigrün- schen Charakter, doch ist die perspektivische Ausrichtung dung sei verfrüht, weil einige Probleme des Charakters, bei vielen ihrer Anhänger nicht sozialistisch im marxisti- der Programmatik und der Verfasstheit nicht ausreichend schen Sinne. Das darf aber die sozialistisch-kommunisti- ge-klärt seien. schen Parteien nicht hindern, nach einer engen Zusam- Die Einwände missachten mehrere objektiv gegebene Tat- menarbeit zu streben bzw. in den Mas-senbewegungen bestände: so die unwiderrufliche Existenz der Europäi- mitzuarbeiten. schen Union und deren fortschreitenden Integrationspro- Linke Parteien haben sich im Forum der Neuen Europäi- zess als unverzichtbares Feld des Kampfes um Alternati- schen Linken (NELF), in der - im Wesentlichen trotzki- ven; die Tat-sache, dass mangels Aussicht auf eine abseh- stisch orientierten - Antikapitalistischen Linken sowie in bare Überwindung des Kapitalismus für Reformalternati- der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen ven im Kapitalis-mus gekämpft werden muss; das Erfor- Linken und der Nordischen Grünen Linken (GUE/NGL) dernis von Mehrheiten als Grundbedingung, wenn pro- im Europa-Parlament zusammengeschlossen. Die Frakti- gressive Veränderung durchgesetzt werden sollen, da mit on besteht nach den Europawahlen 2004 aus 41 Abgeord- ideologischer Geschlossenheit nicht die erforderliche neten von 17 Parteien aus 14 Ländern, darunter zum Bei- Mehrheits- und Aktionsfähig-keit für Alternativen erzielt spiel 7 von der PDS (zuvor 6), 2 von der FKP (zuvor 6), 2 werden kann. Missachtet wird deshalb die breite soziale, von der spanischen Izquierda Unida (zuvor 4), 2 von der politische, weltanschauliche Fä-cherung linker Kräfte, die KP Portugals, 6 von der neu hinzugekommenen KP Böh- de facto antikapitalistisch, aber nicht alle sozialistisch mens und Mährens, 2 von der neu hinzugekommenen sind, ohne die jedoch die erforderliche Mehrheitsbildung AKEL Zyperns. nicht zustande kommt. Die Bedingungen des Zusammenwirkens der Linkskräfte sind in vieler Hinsicht präzedenzlos. Das bedeutet: Ent-

10 KP Österreichs, PDS (SDS Tschechien), Sozialdemokratische Arbeiterpartei Estlands (Esdtp), Französische KP (FKP), PDS (Deutschland), Syna- spismos (Griechenland), Arbeiterpartei Ungarns, Kommunistische Wiedergründung Italien (Rifondazione Comunista), Sozialistische Allianzpartei Rumäniens, Kommunistische Wiedergründung San Ma-rino, KP Slowakei, Vereinigte Linke (IU, Spanien), Vereinigte Linke Kataloniens, KP Spa- niens, Partei der Arbeit der Schweiz 11 Dei Lenk (Die Linke, Luxemburg), Partei der Kommunisten (Italien), Fortschrittspartei des werktätigen Volkes (AKEL, Zypern), KP Böhmens und Mährens, deren Vertreter zunächst die Gründung befürwortet hatte, erklärte sich nur für einen Beobachterstatus.

Harald Neubert 29 spre-chend den Prinzipien eines neuen Internationalismus Unser Betrachtungshorizont war europäisch, weil das muss die Partei der Europäischen Linken pluralistisch ver- gestellte Thema die Formierung und Aktionsfähigkeit der fasst sein. Das bedeutet, dass die Mitgliedsparteien mit europä-ischen Linkskräfte betrifft. Dies ist insofern ihrem unterschiedlichen Parteiverständnis, ihrer unter- akzeptabel, als dies nicht eurozentrisch geschieht. Man schiedlichen Programmatik und ihrer unterschiedlichen darf nicht außer acht lassen, dass die europäischen Links- praktischen Politik ihre Autonomie uneingeschränkt bei- kräfte ohne die Berücksichtigung der Weltprobleme, vor behalten und dass es nur Beschlüsse der zentralen Gremi- allen ohne die Berück-sichtigung der Probleme der so en der Europäischen Linkspartei geben kann, die die genannten Dritten Welt, nicht Erfolg versprechend ihre Zustimmung aller Mitglieds-parteien erhalten. Die not- Programmatik konzipieren und ihren Kampf um progres- wendige gemeinsame Aktions- und Programmplattform, sive Alternativen führen können. Aus der Sicht der Länder auf deren Grundlage sich der Zu-sammenschluss vollzieht der Dritten Welt hat Samir Amin hervorgehoben: : „Der bzw. vollziehen muss, um die Handlungsfähigkeit der Kapitalismus hat die Zivilisation bereits globalisiert, Europäischen Linkspartei zu gewähr-leisten, kann dem- wenn auch auf ungleiche und unannehmba-re Weise. Der nach nur Positionen enthalten, die die einzelnen Parteien Sozialismus, der ihn abzulösen hat, wird nur dann eine billigen können und deren Parteiverständnis, deren Pro- höhere Zivilisation sein, wenn er ebenfalls global ist und grammatik und Politik nicht beeinträchtigen. in dieser Dimension die Ungleichheiten korrigiert, die der kapitalistischen Form eigen sind. Der Aufbau des Sozia- Dies ist tatsächlich eine wesentlichen Bedingung für die lismus im Weltmaßstab wird daher mit Notwendigkeit der Bereitschaft der in Frage kommenden Parteien, sich der Vorstellung von einer langfristigen Transition fol-gen.“12 PEL anzuschließen.

12 Samir Amin: Die Zukunft des Weltsystems. Herausforderung der Globalisierung. Hamburg 1997, S. 148

30 Marxistisches Forum 50/2005 Weitere Hefte aus den Publikationen des Marxistischen Forums

Heft 23 Ingo Wagner Heft 39 Die Welt nach dem 11. September und dem 7. Für einen neuen Sozialismus als historischgesell- Oktober 2001 schaftliche Alternative zum Kapitalismus GNN Schkeuditz 2002, GNN Schkeuditz 1999, ISBN 3-89819-118-4, Preis: 2,00 Euro, 16 S. ISBN 3-89819-018-8, Preis: 2,00 Euro, 32 S. Heft 40/41 Krieg, neue Weltordnung und sozialistische Heft 24 Gerd Friedrich Programmatik - 100 Jahre John A. Hobson: Der Auf dem Weg zum "globalen Kapitalismus" Imperialismus GNN Schkeuditz 2000, GNN Schkeuditz 2002, ISBN 3-89819-025-5, Preis: 2,00 Euro, 28 S. ISBN 3-89819-133-8, Preis: 3,50 Euro, 48 S. Heft 25 Gerdhard Branstner Heft 42 Ingo Wagner Marxismus der Beletage In welcher Epoche leben wir eigentlich? - Versuch GNN Schkeuditz 2000, einer Annäherung ISBN 3-89819-029-3, Preis: 2,00 Euro, 28 S. GNN Schkeuditz 2002, ISBN 3-89819-134-6, Preis: 2,00 Euro, 28 S. Heft 26/27 Beiträge zur Diskussion über Programmdebatten in der deutschen Linken in Vergangenheit und Heft 43 Die Linke nach der Bundestagswahl Gegenwart auf einer Tagung des Marxistischen Konferenz des Marxistischen Forums Sachsen, der Forums der PDS am 27. November 1999 in Berlin KPF Sachsen und der Plattform International am 5. GNN Schkeuditz 2000, Oktober 2002 in ISBN 3-89819-033-1, Preis: 3,50 Euro, 56 S. GNN Schkeuditz 2002 ISBN 3-89819-138-9, Preis: 2,00 Euro, 27 S. Heft 28/29 Beiträge zur Konferenz des Marxistischen Forums Sachsen am 4. März 2000 in Leipzig Heft 44/45 Finale? Zur Programmdebatte der PDS GNN Schkeuditz 2000, GNN Schkeuditz 2003 ISBN 3-89819-035-8, Preis: 3,50 Euro, 56 S. ISBN 3-89819-151-6, Preis: 2,00 Euro, 30 S. Heft 30/31 Ingo Wagner Heft 46 Was erwarten wir vom 21. Jahrhundert? Auf der Suche nach sozialer Gerechtigkeit Wissenschaft - Hoffnung - Traum Plädoyer für eine soziale Gerechtigkeitskonzeption Colloqium aus Anlass 75. Geburtstag U.-J. Heuer der Partei des Demokratischen Sozialismus aus GNN Schkeuditz 2003 marxistischer Sicht. ISBN 3-89819-175-3, Preis 2,00 Euro, 35 S. GNN Schkeuditz 2000, Heft 47 Europäische Union in guter Verfassung? ISBN 3-89819-048-X, Preis: 3,50 Euro, 40 S. Beratung des Marxistischen Forums am Heft 32/33 Zur Programmdebatte der PDS Positionen - 12. Januar 2004 Probleme - Polemik GNN Schkeuditz 2004 Konferenz des Marxistischen Forums am ISBN 3-89819-176-1, Preis 2,00 Euro, 20 S. 16. September 2000 in Berlin. GNN Schkeuditz 2000, Heft 48 Möglichkeiten politischer Gegenmacht heute ISBN 3-89819-060-9, Preis: 3,50 Euro, 80 S. Beratung des Marxistischen Forums am 30. April 2004 Heft 34/35 Ehrenfried Pößneck, Ingo Wagner GNN Schkeuditz 2004 Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg und der ISBN 3-89819-185-0, Preis 2,00 Euro, 20 S. Sozialismus der Moderne GNN Schkeuditz 2001, Heft 49 Zu Ursachen des Scheiterns des europäischen ISBN 3-89819-066-8, Preis: 3,50 Euro, 36 S. Sozialismus Debatten des Marxistsichen Forums Heft 36/37 Reformalternative als Gesellschaftsalternative Sachsen/Leipzig und des RotFuchs-Vereins Leipzig Beiträge zur Theoretischen Konferenz des GNN Schkeuditz 2005 Marxistischen Forums Sachsen am 9. Juni 2001 in ISBN ; Preis 2,50 Euro, 29 S. Leipzig Auch die Hefte 1 - 22 sind noch lieferbar, ein Verzeichnis kann GNN Schkeuditz 2001, beim Verlag kostenfrei angefordert werden. Über den GNN- ISBN 3-89819-095-1, Preis: 3,50 Euro, 52 S. Buchversand ist ein Dauerbezug der Hefte möglich, der jeder- Heft 38 Gerdhard Branstner zeit kündbar ist. Dauerbesteller erhalten das jeweils neueste Die neue Weltofferte Was Marx nicht wußte - Eine Heft sofort nach dem Druck zum Heftpreis zuzüglich Porto. Blütenlese Alle bereits erschienen Hefte sind über den GNN Buchversand GNN Schkeuditz 2002, aber auch über den Buchhandel zu beziehen. ISBN 3-89819-114-1, Preis: 2,00 Euro, 28 S. GNN Buchversand, Badeweg 1, 04435 Schkeuditz, Telefon 03 42 04 / 6 57 11, Fax 03 42 04 / 6 58 93 www.gnn-verlag.de, [email protected]

Impressum ISBN: Herausgeber: Marxistisches Forum der PDS Verlag: GNN Verlag Sachsen/Berlin m.b.H., Schkeuditz Redaktionsschluß: 15. Januar 2005

Ziel des Marxistischen Forums ist es, einen Beitrag zur theoretischen Profilierung der Politik der PDS zu leisten. Dazu soll die Schriftenreihe einen Beitrag leisten. Die veröffentlichten Beiträge stellen die Auffassung der Autoren dar.