Plenarprotokoll 12/82

Deutscher

Stenographischer Bericht

82. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Inhalt:

Nachruf auf den Abgeordneten Hubert derung von Nichtregierungsorganisatio- Doppmeier ...... 6707 A nen (Drucksache 12/1977)

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gedenkworte für den verstorbenen ehema- Reinhard Weis (Stendal), , ligen Ministerpräsidenten Israels Mena-- Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abge- chem Begin . . . . 6707 B ordneter und der Fraktion der SPD: Zivile Nutzung des Truppenübungsplatzes Col- bitz-Letzlinger-Heide nach dem Abzug Glückwünsche zu den Geburtstagen der der Westgruppe der ehemaligen so- Abgeordneten Dr. Bruno Menzel und Anni wjetischen Streitkräfte (Drucksache Brandt-Elsweier . . . . 6707 D 12/1997)

Bestimmung des Abgeordneten Dr. Lutz d) Beratung der Unterrichtung durch das Stavenhagen als ordentliches Mitglied Europäische Parlament: Entschließung der Gemeinsamen Verfassungskommission zur institutionellen Rolle des Wirtschafts- für den ausgeschiedenen Abgeordneten und Sozialausschusses (Drucksache Dr. Jürgen Rüttgers ...... 6707 D 12/1786) e) Beratung der Unterrichtung durch das Erweiterung und Abwicklung der Tagesord Europäische Parlament: Schlußerklärung nung . . . . . . . . . 6707 D und Entschließungen der Zweiten Konfe- renz Europäisches Parlament/Regionen der Gemeinschaft Absetzung des Punktes 6 Bundesbank änderungsgesetz von der Tagesordnung 6708D — zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in der Gemeinschaft — zur Aktion der Strukturfonds und der Tagesordnungspunkt 3: Darlehensinstrumente der Gemein- Überweisungen im vereinfachten Verfahren schaft Beratung des Antrags der Abgeordneten a) — zu einer Raumordnungs- und Raum- Hans Wallow, Dr. Liesel Hartenstein, Bri- nutzungspolitik der Gemeinschaft im gitte Adler, weiterer Abgeordneter und Interesse einer ausgewogenen und der Fraktion der SPD: Entscheidungs- umweltschonenden Entwicklung richtlinien für Entwicklungsprojekte und Sektorkredite der Weltbank und anderer — zur Vertretung der Regionen und zu Entwicklungsbanken in Tropenwaldge- ihrer Beteiligung an der Ausarbei- bieten (Drucksache 12/1646) tung, Durchführung und Bewertung der Strukturpolitiken und gemeinsa- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten men Politiken Dr. R. Werner Schuster, , Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abge- — zu einer Charta der Regionen der ordneter und der Fraktion der SPD: För- Gemeinschaft II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

— zur grenzüberschreitenden Zusam- f) Beratung der Beschlußempfehlung des menarbeit: ihr Beitrag zur Entwick- Petitionsausschusses: Sammelübersicht lung und zur Annäherung zwischen 51 zu Petitionen (Drucksache 12/2124) der Bevölkerung, einschließlich der- g) Beratung der Beschlußempfehlung des jenigen der osteuropäischen Länder Haushaltsausschusses zu der Unterrich- — zur interregionalen Zusammenarbeit tung durch die Bundesregierung: Über- (Drucksache 12/1815) . . . . 6708D planmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr Tagesordnungspunkt 10: 1991 bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 (von den EG nicht übernommene Marktord- Erste Beratung des von der Bundesregie- nungsausgaben) (Drucksachen 12/1613, rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- 12/2128) setzes zur Anpassung der Rechtspflege im Beitrittsgebiet (Rechtspflege-Anpas- h) Beratung der Beschlußempfehlung des sungsgesetz) (Drucksache 12/2168) 6709C Haushaltsausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Über- Tagesordnungspunkt 4: planmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr Abschließende Beratungen ohne Aussprache 1991 bei Kapitel 10 04 Titel 683 21 (Er- a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung stattungen bei der Ausfuhr von landwirt- des von der Bundesregierung einge- schaftlichen Erzeugnissen aus dem in brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Artikel 3 des Einigungsvertrages ge- Zweiten Fakultativprotokoll vom 15. De- nannten Gebiet) (Drucksachen 12/1620, zember 1989 zu dem Internationalen 12/2129) Pakt über bürgerliche und politische i) Beratung der Beschlußempfehlung des Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe Haushaltsausschusses zu der Unterrich- (Drucksachen 12/937, 12/2172) tung durch die Bundesregierung: Über- b) Zweite und dritte Beratung des von der planmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Bundesregierung eingebrachten Ent- Titel 646 09 — Aufwendungen für Lei- wurfs eines Gesetzes über die Er- stungen aufgrund zusätzlicher Altersver- streckung von gewerblichen Schutzrech- sorgung in dem in Artikel 3 des Eini- ten (Erstreckungsgesetz) (Drucksachen gungsvertrages genannten Gebiet 12/1399, 12/2171) (Drucksachen 12/1889, 12/2131) c) Beratung der Beschlußempfehlung und j) Beratung der Beschlußempfehlung des des Berichts des Ausschusses für Verkehr Haushaltsausschusses zu der Unterrich- zu der Unterrichtung durch die Bundesre- tung durch die Bundesregierung: Über- gierung planmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 02 Titel 682 01 — Erstattung von Fahrgeld- Empfehlung einer Entscheidung des Ra- tes über die Aufnahme von Verhandlun- ausfällen (Drucksachen 12/1844, 12/2130) . . . . . . . . . . . . . . 6709 D gen zwischen der Gemeinschaft und Drittländern über Regeln für die Fracht- und Passagierbeförderung im Binnen- Tagesordnungspunkt 5: schiffsverkehr zwischen den Vertrags- Beratung von Anträgen auf Einsetzung parteien (Drucksachen 12/1339 Nr. 2.16, einer Enquete-Kommission 12/1854) d) Beratung der Beschlußempfehlung und in Verbindung mit des Berichts des Finanzausschusses I. zu der Unterrichtung durch die Bun- Zusatztagesordnungspunkt 2: desregierung: Vorschlag für eine Beratung des Antrags der Fraktionen der Richtlinie des Rates zur Änderung CDU/CSU, SPD und F.D.P.: Einsetzung der Richtlinie 89/299/EWG über die einer Enquete-Kommission „Aufarbei- Eigenmittel von Kreditinstituten tung der Geschichte und der Folgen der II. zu der Unterrichtung durch die Bun- SED-Diktatur" (Drucksache 12/2230) desregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Durchfüh- in Verbindung mit rung der Richtlinie 89/299/EWG über die Eigenmittel von Kreditinstitu- ten (Drucksachen 12/1122 Nr. 3.2, Zusatztagesordnungspunkt 3: 12/1838 Nr. 3.1, 12/2008) Beratung des Antrags der Abgeordneten e) Beratung der Beschlußempfehlung , , Ange- und des Berichts des Ausschusses für lika Barbe, weiterer Abgeordneter und Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- der Fraktion der SPD: Einsetzung einer cherheit zu der Unterrichtung durch Enquete-Kommission „Politische Auf- die Bundesregierung: Vorschlag für arbeitung von Unterdrückung in der eine Richtlinie des Rates über den SBZ/DDR” (Drucksache 12/2152) Schwefelgehalt von Gasöl (Drucksa- chen 12/1174 Nr. 2.24, 12/2107) in Verbindung mit

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 III

Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. PDS/Linke Liste . . . 6753 C Beratung des Antrags der Gruppe Bünd- Dr. Günther Müller CDU/CSU 6755C, 6760 C nis 90/DIE GRÜNEN: Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der SPD ...... 6758B Geschichte und der Folgen der SED- Dirk Hansen F.D.P. ...... Diktatur" und Förderung außerparla- 6760 D mentarischer Initiativen zum gleichen Johannes Nitsch CDU/CSU 6762 D Thema (Drucksache 12/2220) (Wiesloch) SPD . . 6763 D in Verbindung mit Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) CDU/CSU 6764 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Wolfgang Lüder F.D.P...... 6765 C Beratung des Antrags der Abgeordneten Udo Haschke () CDU/CSU 6766 C Andrea Lederer, Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt), Dr. und der Dr. Harald Schreiber CDU/CSU 6767 B Gruppe der PDS/Linke Liste: Einsetzung PDS/Linke Liste (zur GO) 6768 C einer Enquete-Kommission „Politische Aufarbeitung der DDR-Geschichte" (Drucksache 12/2226) Zur G eschäftsordnung: Klaus Kirschner SPD ...... 6769 C in Verbindung mit Dr. Paul Hoffacker CDU/CSU ...... 6770 C Zusatztagesordnungspunkt 6: Dr. PDS/Linke Lisle . 6770D Beratung des Antrags der Abgeordneten , , Jürgen Dr. Bruno Menzel F.D.P. ...... 6771 A Augustinowitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): Abgeordneten Jörg van Essen, Heinz- Fragestunde Dieter Hackel, Dirk Hansen, weiterer - — Drucksache 12/2197 vom 6. März Abgeordneter und der Fraktion der 1992 — F.D.P.: Aufgaben der Enquete-Kommis- sion „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" (Drucksa- Abbau der deutschen Zivilbediensteten bei che 12/2229) den US-Streitkräften in Bitburg und Spang- dahlem CDU/CSU 6711D MdlAnfr 34, 35 SPD 6714A, 6719A Dr. Elke Leonhard-Schmid SPD Dr. , Bundeskanzler . . . . 6718A Antw PStSekr Dr. Joachim Grünewald Dr. Jürgen Schmieder F.D.P. . 6719A, 6755 B BMF 6771D, 6772B Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE 6722A ZusFr Dr. Elke Leonhard-Schmid SPD . . 6772A, 6772 C SPD ...... 6725 C

Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . . 6725D Bemühungen der Bundesregierung um Un- Dr. Jürgen Schmude SPD 6726A, 6740B, 6756 D terzeichnung des Zusatzprotokolls und der Zusatzerklärungen zur Europäischen Men- Dr. Bündnis 90/ schenrechtskonvention durch Polen GRÜNE 6731A MdlAnfr 4 Markus Meckel SPD 6731 C Herbert Werner (Ulm) CDU/CSU Heinz Eggert, Minister des Landes Sachsen 6734 D Antw StMin Helmut Schäfer AA 6773 A Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste 6737 C ZusFr Herbert Werner (Ulm) CDU/CSU 6773 B Freimut Duve SPD 6739A Gerd Poppe Bündnis 90/GRÜNE . . 6740 C Antwort der Volksrepublik China auf die von Bundeswirtschaftsminister Möllemann über Wolfgang Mischnick F.D.P. . 6742B reichte Liste über 900 Gefangene Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste 6744 A MdlAnfr 5 Rolf Schwanitz SPD 6745A Dr. SPD Dr. Gerhard Friedrich CDU/CSU . 6746D Antw StMin Helmut Schäfer AA 6774 A Dr. Jürgen Schmude SPD . . . 6748D, 6758 B ZusFr Dr. Margrit Wetzel SPD 6774 B Dr. CDU/CSU 6751 B ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos . . . 6774 B IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Ansiedlung von Rußlanddeutschen im nörd- Ausgabensteigerung bei Zahnersatz durch lichen Ostpreußen Überschreitung der Grundlohnentwicklung; der Honorarvereinbarungen Überprüfung MdlAnfr 8 für Zahnärzte Ortwin Lowack fraktionslos MdlAnfr 67, 68 Antw StMin Helmut Schäfer AA 6774 D Klaus Kirschner SPD ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos . . . 6775A Antw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann-Pohl BMG 6780C, 6781B Vertretbarkeit der Gewährung eines Kraft- fahrzeughaftpflicht-Sonderrabatts von 20 ZusFr Klaus Kirschner SPD . . 6780D, 6781C für Frauen ZusFr Dr. Bruno Menzel F.D.P. . . . . 6781 A MdlAnfr 38 flagen vor Inbe- Dr. Günther Müller CDU/CSU Erfüllung der Lärmschutzau triebnahme des Flughafens München II Antw PStSekr Klaus Beckmann BMWi . . 6775 D MdlAnfr 72 ZusFr Dr. Günther Müller CDU/CSU . . 6775 D Horst Kubatschka SPD ZusFr Lieselott Blunck SPD ...... 6776A Antw PStSekr Dr. BMV . 6782 A ZusFr Horst Kubatschka SPD 6782 A Fahrverhalten von Männern und Frauen; Unfallverhütung Energieverbrauch und Schadstoffausstoß MdlAnfr 39 beim Einsatz von Kurzzügen mit Dieselloko- Dr. Günther Müller CDU/CSU motiven Antw PStSekr Klaus Beckmann BMWi . 6776B MdlAnfr 73 Horst Kubatschka SPD ZusFr Dr. Günther Müller CDU/CSU . 6776C Antw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV . 6782 C ZusFr Lieselott Blunck SPD 6776 C ZusFr Horst Kubatschka SPD 6782 C ZusFr Elke Ferner SPD ...... 6776 D Zeitrahmen für den Weiterbau der A 8 von Genehmigung des Exports von Teilen für das Merzig/Wellingen bis zur luxemburgischen Atom- und Raketenprogramm Iraks an die Grenze angesichts der vorgesehenen Privat- deutsche Firma Rhein-Bayern Fahrzeugbau finanzierung GmbH & Co. KG und deren Tochterunter- nehmen MdlAnfr 74 SPD MdlAnfr 49, 50 Antw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV . 6782 D SPD ZusFr Ottmar Schreiner SPD 6783 A Antw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6777 A, 6777 C ZusFr Elke Ferner SPD 6783 C ZusFr Uta Zapf SPD ...... 6777A, 6777 D ZusFr Hans Georg Wagner SPD . . . . . 6783 D ZusFr Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . 6784A Gespräche des PStSekr Dr. Ottfried Hennig (BMVg) mit Vertretern der baltischen Flotte Zusatztagesordnungspunkt 7: über die Bergung von Senfgiftgasmunition Aktuelle Stunde betr. Lage der öffentli- aus der Ostsee chen Finanzen und Pläne der Bundesre- MdlAnfr 57 • gierung für ein Haushaltssicherungsge- Ulrike Mehl SPD setz nach den Äußerungen von Mitglie- dern der Bundesregierung vom Wochen- Antw PStSekr Willy Wimmer BMVg . . . 6778B ende 7./8. März 1992 ZusFr Ulrike Mehl SPD 6778 C Ingrid Matthäus-Maier SPD 6784 C ZusFr Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD . 6779 A CDU/CSU 6785 C ZusFr Manfred Opel SPD 6779 D Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste . . 6786 C Durchführung und Finanzierung der ange- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. . 6787 D kündigten konzertierten Aktion „Verbesse- , Parl. Staatssekretär rung der Trinkwasserqualität in den neuen BMF 6789A Ländern" Ottmar Schreiner SPD 6790 D MdlAnfr 66 Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . . . 6792B Susanne Kastner SPD () Bündnis 90/GRÜNE 6793 C Antw PStSekrin Dr. Sabine Bergmann-Pohl BMG ...... 6780A F D P 6794 B ZusFr Susanne Kastner SPD 6780 B Helmut Esters SPD 6795 C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 V

Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär Zusatztagesordnungspunkt 8: BMWi 6796B Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Renate Hellwig CDU/CSU 6797 B Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Humani- CDU/CSU 6798 C täre Hilfe und Unterstützung von Frie- Joachim Poß SPD 6799D densinitiativen für Somalia (Drucksache Dr. CDU/CSU . . 6801 B 12/2159)

Tagesordnungspunkt 7: in Verbindung mit Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP Zusatztagesordnungspunkt 9: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Beratung des Antrags der Abgeordneten zur Änderung des Gesetzes über die Hans-Günther Toetemeyer, Brigitte Ad- parlamentarische Kontrolle nachrich- ler, , weiterer Abgeordneter tendienstlicher Tätigkeit des Bundes und und der Fraktion der SPD: Unterstützung zur Änderung des Gesetzes zur Be- des Friedensprozesses in Angola (Druck- schränkung des Brief-, Post- und sache 12/2211) Fernmeldegeheimnisses (Drucksachen 12/1643, 12/1774, 12/2203) in Verbindung mit Rudolf Kraus CDU/CSU 6802 C Zusatztagesordnungspunkt: Dr. Wilfried Penner SPD 6803 C Beratung des Antrags der CDU/CSU, SPD Dr. Burkhard H irsch F.D.P. 6804C und F.D.P.: Unterstützung des Reform- (Drucksache PDS/Linke Liste 6805 B prozesses in Südafrika 12/2232) Vera Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE 6805 D Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 6808 B , Staatsminister BK . 6806 C Günter Verheugen SPD 6809 C Tagesordnungspunkt 8: Ingrid Walz F.D.P. ...... 6811 C a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirt- Dr. Ursula Fischer PDS/Linke Liste . . 6812B schaftliche Zusammenarbeit zu dem An- Konrad Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 6813D trag der Abgeordneten Alois Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Winfried Pinger, Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 6815A Klaus-Jürgen hedrich, weiterer Abge- Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 6816C ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Hans-Günther Toetemeyer SPD 6818A Günther Bredehorn, Jörg van Essen, wei- I lelmut Schäfer, Staatsminister AA . . 6819D terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.: Ein Beitrag zu Frieden und Ent- Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . 6822A wicklung durch Regionalpolitik im süd- Dr. R. Werner Schuster SPD ...... 6822D lichen Afrika (Drucksachen 12/851, 12/1995) Ulrich Irmer F.D.P...... 6824 B b) Beratung des Antrags der Abgeordneten CDU/CSU 6825 C Alois Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Win- fried Pinger, Klaus-Jürgen Hedrich, wei- Tagesordnungspunkt 9: terer Abgeordneter und der Fraktion der Beratung der Grollen Anfrage des Abge- CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ul- ordneten Werner Schulz (Berlin) und rich Irmer, Günther Bredehorn, Jörg van der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Essen, weiterer Abgeordneter und der NEN: Stillegung des keramischen Stand- Fraktion der F.D.P.: Entwicklungspoliti- orts Großdubrau/Sachsen (Drucksachen sche Chancen in Umbruchsituationen 12/1315, 12/1996) nutzen — entwicklungspolitische Her- ausforderungen an den Beispielen Werner Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE 6826 C Äthiopien einschließlich Eritrea, Soma- CDU/CSU ...... 6828 A lia, Sudan und Angola (Drucksache 12/1814) Christian Millier (Zittau) SPD 6829 C c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul K. Friedhoff F.D.P...... 6831 B Gerd Poppe, Konrad Weiß (Berlin) und Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . 6833 A Unterstützung des Demokratieprozesses (Drucksache in Äthiopien und Eritrea Tagesordnungspunkt 11: 12/1656) Erste Beratung des von der Bundesregie- in Verbindung mit rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 setzes zur Prüfung von Rechtsanwalts- Anlage 7 zulassungen und Notarbestellungen (Druck- Zeitpunkt des Auslaufens der Zonenrandför- sache 12/2169) derung , Parl. Staatssekretär BMJ 6834 C MdlAnfr 40 — Drs 12/2197 — Dr. Hans de With SPD 6835 B Michael von Schmude CDU/CSU Dr. Michael Luther CDU/CSU . . . . . 6836 B SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6844 *D Dr. Wolfgang Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 6837 B Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . . 6838A Anlage 8 Dr. Uwe-Jens Heuer PDS/Linke Liste . . 6838 D Strukturkrise der Region Rostock durch die beabsichtigte Herausnahme aus dem Son- Nächste Sitzung ...... 6840 C derprogramm der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschafts- Anlage 1 struktur"; Ausbau des Güterverteilzentrums und des Seehafens Rostock Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 6841 *A MdlAnfr 41, 42 — Drs 12/2197 — Dr. SPD Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6845 *A nungspunkt 5 und Zusatztagesordnungs- punkten 2 bis 6 (Beratung von Anträgen auf Einsetzung einer Enquete-Kommission) Anlage 9 Michael Stübgen CDU/CSU ...... 6841 *C Genehmigungsverfahren für die Errichtung, Erweiterung oder Modernisierung von Indu- Dr. Roswitha Wisniewski CDU/CSU . . 6842 *D strie- oder gewerblichen Anlagen MdlAnfr 43, 44 — Drs 12/2197 — Anlage 3 Klaus Harries CDU/CSU Verhaftung von Katholiken in Kuba SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6845 *C MdlAnfr 6, 7 — Drs 12/2197 — Heribert Scharrenbroich CDU/CSU SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . . 6843 *D Anlage 10 Abkommen mit Polen und der CSFR über Anlage 4 Finanzierungshilfen zur Gründung kleiner und mittlerer Privatunternehmen, zumindest Vorbereitungen der UNO zur Übertragung bei deutscher Beteiligung mehrerer bisher irakischer Ölquellen an Kuwait MdlAnfr 47 — Drs 12/2197 — MdlAnfr 9, 10 — Drs 12/2197 — Ortwin Lowack fraktionslos Hans Wallow SPD SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6846 *B SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . . 6844 *A

Anlage 11 Anlage 5 Konversionsprogramm anläßlich des Trup- Pläne der EG-Kommission zur Aufhebung penabbaus der unbegrenzten Einlagensicherung der Banken im Konkursfall MdlAnfr 48 — Drs 12/2197 — MdlAnfr 33 — Drs 12/2197 — Simon Wittmann (Tännesberg) CDU/CSU Benno Zierer CDU/CSU SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6846 *D SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald BMF 6844 *B Anlage 12 Anlage 6 Wettbewerbsverzerrungen auf dem Bau- markt durch Ausnutzung des Währungsge- Hotelkosten für Treuhandvertreter seit Okto- fälles bei Werkverträgen mit Arbeitnehmern ber 1990 aus osteuropäischen Staaten MdlAnfr 36, 37 — Drs 12/2197 — Manfred Kolbe CDU/CSU MdlAnfr 51 — Drs 12/2197 — SPD SchrAntw PStSekr Dr. Joachim Grünewald BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . 6844 *C SchrAntw PStSekr Klaus Beckmann BMWi 6847 *B Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 VII

Anlage 13 MdlAnfr 77 — Drs 12/2197 — Bereitstellung von Wohnplätzen für Flücht- Horst Jungmann (Wittmoldt) SPD linge durch die in Bayern SchrAntw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV 6849 *B MdlAnfr 56 — Drs 12/2197 — Ludwig Stiegler SPD Anlage 20 Zusammensetzung der Gasblase in der Ost- SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 6847 *D see MdlAnfr 78 — Drs 12/2197 — Anlage 14 Dr. Klaus Kübler SPD Beseitigung der in der Ostsee versenkten SchrAntw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV 6849 *C Giftgasmunition aus dem zweiten Weltkrieg mit Hilfe der baltischen Flotte Anlage 21 MdlAnfr 58 — Drs 12/2197 — Finanzierung der Trinkwasseraufbereitung Norbert Gansel SPD durch Industrie und Landwirtschaft als Ver- ursacher der Gewässerverunreinigung SchrAntw PStSekr Willy Wimmer BMVg . 6848 *A MdlAnfr 79 — Drs 12/2197 — Susanne Kastner SPD Anlage 15 SchrAntw PStSekr Dr. BMU ...... . . 6849 D Beschleunigung der Planung von Bauvorha- ben beim Landesstraßenbauamt in Schles- wig-Holstein Anlage 22 Übernahme der Kosten für die Sanierung der MdlAnfr 69 — Drs 12/2197 — im Altlastenkataster erfaßten Flächen durch Michael von Schmude CDU/CSU den Bund; Erhöhung des Richtwertes für die SchrAntw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV 6848 *B jährliche Belastung durch das im Uranberg entstehende Radon durch die-baugebiet Strahlenschutzkommission Anlage 16 MdlAnfr 80, 81 — Drs 12/2197 — Verwertung von Grundstücken der Deut- Siegrun Klemmer SPD schen Reichsbahn SchrAntw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek BMU ...... 6850 *B MdlAnfr 70, 71 — Drs 12/2197 — CDU/CSU Anlage 23 SchrAntw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV 6848 * C Bergung der in die Ostsee versenkten Gift- gasmunition aus dem zweiten Weltkrieg

Anlage 17 MdlAnfr 82 — Drs 12/2197 — Dr. Klaus Kübler SPD Stand der Verhandlungen mit der CSFR über den kleinen Grenzverkehr SchrAntw PStSekr Dr. Bertram Wieczorek BMU ...... 6850 *D MdlAnfr 75 — Drs 12/2197 — Norbert Gansel SPD Anlage 24 SchrAntw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV 6848 *D Verbesserung der Wettbewerbschancen pri- vater Bet reiber von Satellitenkommunika- tion, z. B. durch Mitgliedschaft bei EUTEL- Anlage 18 SAT Bergung von Senfgasmunition aus der Ost- MdlAnfr 83, 84 — Drs 12/2197 — see Dr. Jürgen Schmieder F.D.P.

MdlAnfr 76 — Drs 12/2197 — SchrAntw PStSekr Wilhelm Rawe BMPT . 6851 *B Ulrike Mehl SPD Anlage 25 SchrAntw PStSekr Dr. Dieter Schulte BMV 6849 *B Steuerliche Einstufung der Unternehmen Postdienst, Postbank und Telekom als Ge- werbebetriebe Anlage 19 Beseitigung der in der Ostsee versenkten MdlAnfr 85, 86 — Drs 12/2197 — Giftgasmunition aus dem zweiten Welt- Joachim Hörster CDU/CSU krieg SchrAntw PStSekr Wilhelm Rawe BMPT . 6851 *D

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Bonn, den 12. März 1992

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Menachem Begin war von 1977 bis 1983 Minister- Herren, die Sitzung ist eröffnet. präsident Israels; 1980 und 1981 war er zugleich Verteidigungsminister. Vor Eintritt in die Tagesordnung haben wir zweier Verstorbener zu gedenken. Das persönliche und auch das politische Leben waren durch die Schrecken des Holocaust geprägt. (Die Abgeordneten erheben sich) Nach dem Ende der nationalsozialistischen Schrek- kensherrschaft in Europa hat Begin an vorderster Wir trauern heute um unseren Kollegen Hubert Stelle für das Entstehen des jüdischen Staates als Doppmeier, der am 8. März 1992 im frühen Alter von Heimat und Zuflucht gekämpft. 48 Jahren an den Folgen einer schweren Krankheit gestorben ist. Zu den Höhepunkten des politischen Wirkens gehört der Friedensschluß von Camp David zwischen Hubert Doppmeier wurde am 19. Februar 1944 in und Ägypten. Die weltweite Anerkennung Langenberg, Kreis Gütersloh, geboren. Er ergriff dieser großen friedenspolitischen Leistung hat in der zunächst den Beruf eines Sperrholzfacharbeiters und Verleihung des Friedensnobelpreises, der Menachem erarbeitete sich dann über den zweiten Bildungsweg Begin 1978 — gemeinsam mit dem ägyptischen Präsi- den Zugang zum Studium der Rechtswissenschaft an denten Sadat — zuerkannt worden ist, Ausdruck der Universität Münster. Danach ließ sich Hubert gefunden. Doppmeier als Rechtsanwalt nieder. Das israelische Volk verliert mit Menachem Begin Schon während des Studiums war Hubert Dopp- einen großen Staatsmann. Die Bundesrepublik meier politisch aktiv. Er gehörte dem Verwaltungsrat Deutschland hat seinem politischen Wirken viel zu des Studentenwerks der Universität Münster an und verdanken. zog im Jahre 1975 in den Kreistag von Gütersloh ein. Von 1980 bis 1990 gehörte er dem Landtag von Sie haben sich zu Ehren der Toten erhoben. Ich Nordrhein-Westfalen an, zum Schluß als stellvertre- danke Ihnen. tender Vorsitzender der Fraktion der CDU. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich nun Geburtstagsglückwünsche aussprechen: Der Kol- Bei der Bundestagswahl 1990 konnte Hubert Dopp- lege Dr. Bruno Menzel feierte am 25. Februar 1992 meier den Wahlkreis Gütersloh direkt gewinnen. Im seinen 60. Geburtstag. Ebenfalls ihren 60. Geburtstag Deutschen Bundestag gehörte er dem Verkehrsaus- feierte die Kollegin Anni Brandt - Elsweier am 2. März schuß als ordentliches Mitglied an. 1992. Ich gratuliere beiden im Namen des Hauses Fest in Ostwestfalen verwurzelt, verstand sich nachträglich sehr herzlich. Hubert Doppmeier als Anwalt der Bürger und Bürge- Der Kollege Dr. Jürgen Rüttgers scheidet als rinnen seiner Region. Darüber hinaus galt sein politi- ordentliches Mitglied der Gemeinsamen Verfas- sches Engagement dem Zusammenwachsen Deutsch- sungskommission aus. Die Fraktion der CDU/CSU lands. schlägt als seinen Nachfolger den Kollegen Dr. Lutz vor. Sind Sie damit einverstanden? — Unsere Anteilnahme gilt ganz besonders seinen Stavenhagen Angehörigen, vor allem seiner Frau und seinen vier — Ich sehe keinen Widerspruch. Damit ist der Kollege zum Teil noch kleinen — Kindern. Dr. als ordentliches Mitglied der Gemeinsamen Verfassungskommission bestimmt. Der Deutsche Bundestag wird Hubert Doppmeier Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- ein dankbares und ehrendes Gedenken bewahren. dene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in In der Nacht zum Montag, dem 9. März 1992, ist der der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: ehemalige israelische Premierminister Menachem 1. Aktuelle Stunde Begin im Alter von 78 Jahren nach längerer Krankheit Die Freigabe des Drogenkonsums als Antwort auf über verstorben. 2 000 Drogentote im Jahre 1991 6708 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 2. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD 11. Erste Beratung des von den Abgeordneten Achim Groß- und F.D.P. mann, Iris Gleicke, Dr. Eckhart Pick, weiteren Abgeordne- Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der ten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" Gesetzes zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Bür- gerlichen Gesetzbuch — Artikel 232 — Drucksache 12/2230 — (Eigenbedarfskündigungsänderungsgesetz ) 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Schwanitz, — Drucksache 12/2194 — Markus Meckel, Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter Überweisungsvorschlag: und der Fraktion der SPD Rechtsausschuß (federführend) Einsetzung einer Enquete-Kommission „Politische Aufar- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau beitung von Unterdrückung in der SBZ/DDR" 12. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar — Drucksache 12/2152 — Kansy, , Werner Dörflinger, weiterer Überweisungsvorschlag: Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Enquete-Kommission Abgeordneten Dr. Walter Hitschler, Lisa Peters, Uwe Lühr, Aufarbeitung SED-Diktatur weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission zur 4. Beratung des Antrags der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜ- Überprüfung der Instrumente der Wohnungspolitik NEN — Drucksache 12/2231 — Einsetzung einer Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Dikatur" und Förde- 13. Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der rung außerparlamentarischer Initiativen zum gleichen CDU/CSU, SPD und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Thema Gesetzes über Entschädigungsrenten für Opfer des Natio- — Drucksache 12/2220 — nalsozialismus im Beitrittsgebiet (Entschädigungsrentenge- Überweisungsvorschlag: setz) Enquete-Kommission — Drucksache 12/1790 — Aufarbeitung SED-Diktatur a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Lederer, Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Aus- Dr. Fritz Schumann (Kroppenstedt), Dr. Gregor Gysi und der schuß) Gruppe der PDS/Linke Liste — Drucksache 12/2224 — Einsetzung einer Enquete-Kommission „Politische Aufar- Berichterstattung: beitung der DDR-Geschichte" Abgeordnete Julius Louven — Drucksache 12/2226 — Ulrike Mascher Dr. Überweisungsvorschlag: Enquete-Kommission b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) gemäß Aufarbeitung SED-Diktatur § 96 der Geschäftsordnung 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Adam, — Drucksache 12/2225 — Anneliese Augustin, Jürgen Augustinowitz, weiterer Abge- Berichterstattung: ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Abgeordnete ordneten Jörg van Essen, Heinz-Dieter Hackel, Dirk Han- Hans-Gerd Strube sen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Ina Albowitz Aufgaben der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der (Erste Beratung 67. Sitzung) Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" — Drucksache 12/2229 — Des weiteren ist vereinbart worden, den Tagesord- Überweisungsvorschlag: nungspunkt 6 — 4. Bundesbankänderungsgesetz — Enquete-Kommission Aufarbeitung SED-Diktatur abzusetzen sowie den Tagesordnungspunkt 10 — Rechtspflege-Anpassungsgesetz — ohne Ausspra- 7. Aktuelle Stunde che im vereinfachten Verfahren an die entsprechen- Lage der öffentlichen Finanzen und Pläne der Bundesre- den Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einver- gierung für ein Haushaltssicherungsgesetz nach den Äuße- standen? — Das ist der Fall. Dann ist es so beschlos- rungen von Mitgliedern der Bundesregierung vom Wochenende 7./8. März 1992 sen. Die Fraktion der SPD hat fristgemäß eine Erweite- 8. Beratung des Antrags des Abgeordneten Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN rung der Tagesordnung betreffend die Beitragssätze Humanitäre Hilfe und Unterstützung von Friedensinitiati- zur gesetzlichen Krankenversicherung beantragt. ven für Somalia Dieser Antrag wird nach Tagesordnungspunkt 5 auf- — Drucksache 12/2159 — gerufen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß (federführend) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 3a bis e und 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Günther 10: Toetemeyer, Brigitte Adler, Rudolf Bindig, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD 3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren Unterstützung des Friedensprozesses in Angola a) Beratung des Antrags der Abgeordneten — Drucksache 12/2211 — Hans Wallow, Dr. Liesel Hartenstein, B ri Überweisungsvorschlag: -gitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federfüh- Fraktion der SPD rend) Auswärtiger Ausschuß Entscheidungsrichtlinien für Entwick- lungsprojekte und Sektorkredite der Welt- 10. Aktuelle Stunde bank und anderer Entwicklungsbanken in Konzeption der Bundesregierung zur Sicherung der Tropenwaldgebieten Arbeitsplätze in der Werftindustrie und ihren Zulieferin- dustrien im Land Mecklenburg/Vorpommern — Drucksache 12/1646 — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6709

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Überweisungsvorschlag: — zur grenzüberschreitenden Zusammen- Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federfüh- arbeit: ihr Beitrag zur Entwicklung und rend) zur Annäherung zwischen der Bevölke- Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß rung, einschließlich derjenigen der Ausschuß für Wirtschaft osteuropäischen Länder Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten — zur interregionalen Zusammenarbeit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit — Drucksache 12/1815 — Überweisungsvorschlag: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten EG-Ausschuß (federführend) Dr. R. Werner Schuster, Brigitte Adler, Hans Auswärtiger Ausschuß Gottfried Bernrath, weiterer Abgeordneter Rechtsausschuß und der Fraktion der SPD Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Förderung von Nichtregierungsorganisa- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten tionen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung — Drucksache 12/1977 — Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Fremdenverkehr Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federfüh- Haushaltsausschuß rend) 10. Erste Beratung des von der Bundesregierung Haushaltsausschuß eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anpassung der Rechtspflege im Beitrittsgebiet Reinhard Weis (Stendal), Walter Kolbow, (Rechtspflege-Anpassungsgesetz — RpflAnpG) Hans Gottfried Bernrath, weiterer Abgeord- — Drucksache 12/2168 — neter und der Fraktion der SPD Zivile Nutzung des Truppenübungsplatzes Überweisungsvorschlag: Colbitz-Letzlinger-Heide nach dem Abzug Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß der Westgruppe der ehemaligen sowjeti- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung schen Streitkräfte — Drucksache 12/1997 — Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen Überweisungsvorschlag: an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Verteidigungsausschuß (federführend) zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Das Ausschuß für Wirtschaft ist der Fall. Die Überweisungen sind so beschlos- Ausschuß für Gesundheit sen. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit Beratung der Unterrichtung durch das Euro- d) Ich rufe auf Tagesordnungspunkt 4a bis j: päische Parlament Entschließung zur institutionellen Rolle Abschließende Beratungen ohne Aussprache des Wirtschafts- und Sozialausschusses a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung — Drucksache 12/1786 — des von der Bundesregierung eingebrach- Überweisungsvorschlag: ten Entwurfs eines Gesetzes zum Zweiten Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Fakultativprotokoll vom 15. Dezember EG-Ausschuß 1. mb Rechtsausschuß 1989 zu dem Internationalen Pakt über Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung bürgerliche und politische Rechte zur Abschaffung der Todesstrafe e) Beratung der Unterrichtung durch das Euro- päische Parlament — Drucksache 12/937 — Schlußerklärung und Entschließungen der Beschlußempfehlung und Bericht des Zweiten Konferenz Europäisches Parla- Rechtsausschusses (6. Ausschuß) ment/Regionen der Gemeinschaft — Drucksache 12/2172 — — zum wirtschaftlichen und sozialen Zu- sammenhalt in der Gemeinschaft Berichterstattung: — zur Aktion der Strukturfonds und der Abgeordnete Dr. Jürgen Schmude Darlehensinstrumente der Gemein- Heinrich Seesing schaft (Erste Beratung 47. Sitzung) — zu einer Raumordnungs- und Raumnut- Zweite und dritte Beratung des von der zungspolitik der Gemeinschaft im Inter- b) Bundesregierung eingebrachten Entwurfs esse einer ausgewogenen und umwelt- eines Gesetzes über die Erstreckung von schonenden Entwicklung gewerblichen Schutzrechten — zur Vertretung der Regionen und zu ihrer Beteiligung an der Ausarbeitung, (Erstreckungsgesetz — ErstrG) Durchführung und Bewertung der — Drucksache 12/1399 — Strukturpolitiken und gemeinsamen Politiken Beschlußempfehlung und Bericht des — zu einer Charta der Regionen der Rechtsausschusses (6. Ausschuß) Gemeinschaft — Drucksache 12/2171 — 6710 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Berichterstattung: den EG nicht übernommene Marktord- Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnar- nungsausgaben) renberger — Drucksachen 12/1613, 12/2128 — Ludwig Stiegler Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb (Erste Beratung 54. Sitzung) Dr. Sigrid Hoth Karl Diller c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr h) Beratung der Beschlußempfehlung des (16. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der die Bundesregierung Unterrichtung durch die Bundesregierung Empfehlung einer Entscheidung des Rates Überplanmäßige Ausgabe im Haushalts- über die Aufnahme von Verhandlungen jahr 1991 bei Kapitel 10 04 Titel 683 21 zwischen der Gemeinschaft und Drittlän- (Erstattungen bei der Ausfuhr von land- dern über Regeln für die Fracht- und Pas- wirtschaftlichen Erzeugnissen aus dem in sagierbeförderung im Binnenschiffsver- Artikel 3 des Einigungsvertrages genann- kehr zwischen den Vertragsparteien ten Gebiet) — Drucksachen 12/1339 Nr. 2.16, 12/1854 — — Drucksachen 12/1620, 12/2129 — Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb Abgeordneter Dr. Rolf Niese Dr. Sigrid Hoth d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Karl Diller Berichts des Finanzausschusses (7. Aus- i) Beratung der Beschlußempfehlung des schuß) Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der I. zu der Unterrichtung durch die Bundesre- Unterrichtung durch die Bundesregierung gierung Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur 11 13 Titel 646 09 — Aufwendungen für Änderung der Richtlinie 89/299/EWG über Leistungen auf Grund zusätzlicher Alters- die Eigenmittel von Kreditinstituten versorgung in dem in Artikel 3 des Eini- II. zu der Unterrichtung durch die Bundesre- gungsvertrages genannten Gebiet — gierung — Drucksachen 12/1889, 12/2131 — Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Durchführung der Richtlinie 89/299/EWG Berichterstattung: über die Eigenmittel von Kreditinstituten Abgeordnete Karl Diller — Drucksachen 12/1122 Nr. 3.2, 12/1838 Hans-Gerd Strube Nr. 3.1, 12/2008 — Ina Albowitz Berichterstattung: j) Beratung der Beschlußempfehlung des Abgeordneter Dr. Karl H. Fell Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 02 Berichts des Ausschusses für Umwelt, Titel 682 01 Naturschutz und Reaktorsicherheit — Erstattung von Fahrgeldausfällen — (17. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch — Drucksachen 12/1844, 12/2130 — die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Berichterstattung: den Schwefelgehalt von Gasöl Abgeordnete Karl Diller — Drucksachen 12/1174 Nr. 2.24, 12/2107 — Hans-Gerd Strube Ina Albowitz Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 4 a: Zweite Beratung und Abgeordnete Schlußabstimmung über den von der Bundesregie- Klaus Lennartz rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem internatio- Birgit Homburger nalen Pakt zur Abschaffung der Todesstrafe, Drucksa- f) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- che 12/937. Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Druck- tionsausschusses (2. Ausschuß) sache 12/2172, den Gesetzentwurf unverändert anzu- Sammelübersicht 51 zu Petionen nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. — Wer stimmt — Drucksache 12/2124 — dagegen? — Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist g) Beratung der Beschlußempfehlung des einstimmig angenommen. Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Tagesordnungspunkt 4 b: Wir kommen jetzt zur Unterrichtung durch die Bundesregierung Einzelberatung und Abstimmung über den Regie- Überplanmäßige Ausgabe im Haushalts- rungsentwurf eines Gesetzes über die Erstreckung jahr 1991 bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 (von von gewerblichen Schutzrechten, Drucksachen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6711

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 12/1399 und 12/2171. Ich bitte diejenigen, die dem Einsetzung einer Enquete-Kommission „Poli- Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen tische Aufarbeitung von Unterdrückung in der wollen, um das Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? SBZ/DDR" — Enthaltungen? — Dann ist auch dieser Gesetzent- — Drucksache 12/2152 — wurf einstimmig angenommen und die zweite Bera- Überweisungsvorschlag: tung abgeschlossen. Enquete-Kommission Wir treten in die Aufarbeitung SED-Diktatur dritte Beratung ZP4 Beratung des Antrags der Gruppe BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Einsetzung einer Enquete-Kommission „Auf- len, sich zu erheben. — Wer stimmt dagegen? — arbeitung der Geschichte und der Folgen der Enthaltungen? — Der Gesetzentwurf ist einstimmig SED-Diktatur" und Förderung außerparla- angenommen. mentarischer Initiativen zum gleichen Thema Tagesordnungspunkte 4 c bis 4 e: Beschlußempfeh- lung des Ausschusses für Verkehr zu einer Empfeh- — Drucksache 12/2220 — lung der EG über Regeln für die Fracht und Passagier- Überweisungsvorschlag: beförderung, Beschlußempfehlung des Finanzaus- Enquete-Kommission schusses zu Vorschlägen der EG über die Eigenmittel Aufarbeitung SED-Diktatur von Kreditinstituten, Beschlußempfehlung des Aus- ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Andrea Lederer, Dr. F ritz Schumann (Kroppen- heit zu einem Vorschlag der EG über den Schwefel- stedt), Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der gehalt von Gasöl, Drucksachen 12/1854, 12/2008 und PDS/Linke Liste 12/2107. Ich gehe davon aus, daß wir über diese drei Einsetzung einer Enquete-Kommission „Poli- Beschlußempfehlungen gemeinsam abstimmen kön- tische Aufarbeitung der DDR-Geschichte" nen. — Das ist der Fall. — Drucksache 12/2226 — Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? — Überweisungsvorschlag: Gegenprobe! — Enthaltungen? — Die Beschlußemp- Enquete-Kommission fehlungen sind bei zwei Enthaltungen der PDS ange- Aufarbeitung SED-Diktatur nommen. ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Tagesordnungpunkt 4 f: Beschlußempfehlung des Adam, Anneliese Augustin, Jürgen Augustino- Petitionsausschusses auf Drucksache 12/2124. Das ist witz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion die Sammelübersicht 51. Wer stimmt für diese der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jörg Beschlußempfehlung? — Gegenprobe! — Enthaltun- van Essen, Heinz-Dieter Hackel, Dirk Hansen, gen? — Die Beschlußempfehlung ist einstimmig ange- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der nommen. F.D.P. Tagesordnungspunkte 4 g bis 4 j: Es handelt sich um Aufgaben der Enquete-Kommission „Aufar- vier Beschlußempfehlungen des Haushaltsausschus- beitung der Geschichte und der Folgen der ses zu überplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr SED-Diktatur" 1991, Drucksachen 12/2128 bis 12/2131. Ich gehe — Drucksache 12/2229 — davon aus, daß wir darüber gemeinsam abstimmen Überweisungsvorschlag: können. Ich bitte diejenigen, die den Beschlußemp- Enquete-Kommission fehlungen zuzustimmen wünschen, um das Handzei- Aufarbeitung SED-Diktatur chen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit sind Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Beschlußempfehlungen bei zwei Enthaltungen die gemeinsame Aussprache fünf Stunden vorgese- der PDS/Linke Liste angenommen worden. hen. — Ich sehe keine Widerspruch. Es ist so beschlos- sen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 und die Zusatz- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- tagesordnungspunkte 2 bis 6 auf: ordnete Rainer Eppelmann. 5. Beratung von Anträgen auf Einsetzung einer Enquete-Kommission Rainer Eppelmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! ZP2 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Meine sehr verehrten Damen und Herren! Unsere CSU, SPD und F.D.P. Vergangenheit holt uns immer wieder ein. Sie ist stark und lebendig, und wir sind Zeugen dafür — wir Einsetzung einer Enquete-Kommission „Auf- alle —, daß sie uns tagtäglich wieder einholt. Sie ist arbeitung der Geschichte und der Folgen der uns — zumindest noch — nahe. Und das ist gut so; SED-Diktatur" denn unsere Vergangenheit ist ein Schatz, weil sie — Drucksache 12/2230 — auch unsere Erfahrungen einschließt — die, die uns freuten und uns fröhlich machten, und die, die uns ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf weh taten oder uns traurig und wütend stimmten. Schwanitz, Markus Meckel, Angelika Barbe, Unsere Vergangenheit umfaßt zugleich unsere Ein- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der sichten, das, was wir gelernt haben, und das, was uns SPD gelehrt wurde. Darum tun wir gut daran, uns unserer 6712 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Rainer Eppelmann Vergangenheit zu stellen — gemeinsam als Ostdeut- schieden hat in fleißige und erfolgreiche, mutige und sche und Westdeutsche, als ein Volk. intelligente auf der einen Seite und faule, dumme, ungeschickte und feige auf der anderen Seite. Die Wir würden bei dieser Aufarbeitung versagen, Elbe hat aber auch nicht, wie in den letzten Tagen wenn wir uns bei der Beschäftigung mit 45 Jahren immer wieder zu hören war, in Plattmacher, Egoisten deutscher Geschichte — schwergewichtig der DDR- und Rücksichtslose auf der einen Seite und ganz liebe, Geschichte — nur auf den Bereich der Staatssicher- ganz nette und solche Menschen, die höchstens nur heit beschränken würden. einmal am Sonntag an sich und sonst immer nur ans (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr rich Gemeinwohl denken, auf der anderen Seite tig!) getrennt. Die Erfahrungen, die wir in und mit 45 Jahren DDR (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gemacht haben, hat unser ganzes Leben und alle F.D.P. und der SPD) Menschen umfaßt und nicht nur die vielleicht 500 000 Was wir gegenwärtig erleben — auch mit uns und offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssi- zwischen uns —, ist das oft mühselige und schmerz- cherheit und ihre unmittelbaren Opfer. Darum hafte Bemühen, die deutsche Teilung zu überwinden, wünschte ich mir, daß sich möglichst viele der 80 Mil- ist das Bemühen, erlebte Geschichte zu begreifen und lionen Deutschen mit den Fragen und Problemen Neues aufzubauen mit großer Kraftanstrengung und unserer Vergangenheit intensiv befaßten. Es kann mit der Bereitschaft zur Geduld und zum Teilen. Das dabei gar nicht zu viele geben, sondern immer nur zu hat auch eine ganz allgemein menschliche Dimen- wenige. sion; denn wir erkennen dabei: Faule sowie Fleißige Jeder Mensch, jede Gruppe, jede Partei, jede Inter- gibt es beiderseits der Elbe, ebenso Mutige und Feige, essenvertretung könnte und sollte sich danach fragen: aber auch Egoisten mit besonders ausgebildeten Was haben wir in den letzten 45 Jahren erfahren? Was Ellenbogen und solche, die bereit sind abzugeben, zu haben wir falsch gemacht, was richtig? Was haben wir helfen und zu teilen. Laßt uns darum bitte mit dem zugelassen, was unterstützt, was nicht gesehen? Was leichtsinnigen und unverantwortlichen spalterischen lehrt uns das? Wo müssen wir Gesetze verändern, Gerede vom Ost-West-Gegensatz aufhören. Verordnungen neu erlassen, wo möglicherweise Ver- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der haltensweisen korrigieren, um nicht wieder in die SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei dumme Situation eines Kindes zu kommen,- das zum Abgeordneten der PDS/Linke Liste) drittenmal die heiße Ofentür anfaßt und sich erneut die Finger schmerzhaft verbrennt? Liebe Kolleginnen und Kollegen, mir käme es bei der Aufarbeitung unserer Geschichte durch den Deut- Es geht also darum, bewußt, differenziert, sensibel, schen Bundestag in einer Enquete-Kommission dar- gerecht und verständnisvoll den Blick zurückzuwen- auf an, daß wir uns den Betroffenen zuwenden. Wir den, damit wir Zukunft gewinnen können. Das heißt müssen bei unserem Blick in die Vergangenheit für mich z. B.: Ich stelle fest, daß viele Grundsatzent- meiner Meinung nach zwei Erkenntnisse aufarbeiten. scheidungen und Detailentscheidungen von den Ver- Erstens. Wir alle, d. h. alle 80 Millionen Deutschen, antwortlichen und Regierenden der DDR falsch sind Betroffene dieser deutschen Geschichte. Zwei- getroffen worden sind; nicht nur mangels Wissens und tens. Es kann sich keiner aus seiner, aus dieser Einsicht, sondern auch gegen Sitte und Moral, zum Geschichte herausstehlen. Teil gegen geltendes Recht. Aber wir sind sicher unterschiedlich be troffen: zum Das alles muß festgestellt, auf- und abgearbeitet einen als Opfer oder als Täter, als Mitregierende, werden; denn wir wollen nicht nur faire Prozesse, Mitmachende oder Mitleidende. Zum zweiten ist der sondern auch ehrliche und objektive Geschichtsbü- in Düsseldorf Geborene von den letzten 45 Jahren cher, geschrieben aus der Optik der Betroffenen, der deutscher Teilungsgeschichte sicher anders be troffen Opfer. gewesen als z. B. der West-Berliner in Wedding, der Gerade die Fehlentscheidungen und die Arroganz zwar auch zum freien Teil Deutschlands gehörte, aber der Regierenden der DDR haben dazu geführt, daß wir auf einer Insel in der DDR lebte. Er wurde eben auch im Grunde in den letzten Jahren von der Substanz zweimal oft hart kontrolliert, bevor er sein Stammland gelebt haben und daß darum der Zusammenbruch, erreichte. den wir jetzt haben, so total und so schlimm ist — mit Noch ganz anders ist es zum dritten sicherlich für Millionen von Arbeitslosen, mit Tausenden von Kurz- einen Menschen gewesen, der in der DDR lebte. Auch arbeitern, mit vergiftetem Wasser, verseuchter Erde, hier sehe ich viele Unterschiede. Es kommt z. B. mißbrauchten Menschen. Wir Deutschen täten ein darauf an, ob er Mitglied oder Funktionär der SED erstes wichtiges Werk der Aufarbeitung unserer Ver- gewesen ist, ob er gar Spitzenfunktionär war oder ob gangenheit, wenn wir die Schwierigkeiten von heute er anders parteipolitisch organisiert gewesen ist, ob er als das sehen, was sie sind: Folgen der Untaten von einer war, der nach dem typischen DDR-Motto „Nur gestern, Folgen von sozialistischer Enge und partei- nicht auffallen und zurechtkommen" große und politischer und ideologischer Arroganz der SED kleine Kompromisse einging, oder ob er jemand war, Kommunisten und ihrer Helfer. der das Unglück hatte, unangenehm aufzufallen, sich Zu dem ersten Schritt der Aufarbeitung gehört aber unbeliebt zu machen, mit Karriereknick bestraft auch die Erkenntnis, daß die Elbe als deutscher S trom wurde oder dafür sogar ins Gefängnis kam. zwar für eine gewisse Zeit zwei deutsche Staaten Bei ihrer Arbeit darf die Enquete-Kommission vor voneinander trennte, aber nicht die Deutschen unter allem aber die Opfer der DDR-Diktatur niemals aus Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6713

Rainer Eppelmann den Augen und aus dem Herzen verlieren. Wer ist Systems herausarbeiten. Lassen Sie uns danach fra- denn alles Opfer des Unrechts und der Unmenschlich- gen, warum so viele mitmachten, daran glaubten oder keit der DDR-Diktatur gewesen? Nach meiner Mei- — auch aus dem Westen — nur zu- oder gar weg- nung sehr viel mehr DDR-Bürger, als man im ersten schauten. Lassen Sie uns die ideologischen Baumei- Moment denkt. Sehr viele von uns sind Überwiegend ster und die großen und kleinen Handlanger der Opfer und nicht Überwiegend-Täter gewesen. DDR-Diktatur entlarven. Lassen Sie uns aber auch die vielen Opfer, die vielen Ehrlichen und Fleißigen in Ich denke da z. B. an die Kinder, die zur Doppelzün- Schutz nehmen. gigkeit erzogen worden sind, oder an die christlichen Eltern, die sich nicht trauten, ihr Kind zur Konfirma- Lassen Sie uns die wichtigste Lehre unseres Jahr- tion zu schicken, und sich darum oft genug schämten. hunderts für uns Deutsche formulieren: Nie wieder Wie lebt es sich denn mit einem schlechten Gewis- Diktatur! Egal, welche Bezeichnung sie auch immer sen? tragen mag: national, religiös, nationalsozialistisch, Ich denke an die Jugendlichen und Erwachsenen, sozialistisch oder kommunistisch — nie wieder Dikta- die außer dem ersten deutschen Arbeiter- und Bau- tur! ernstaat und ein bißchen sozialistischem Ausland (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der weiter nichts kennenlernten, erblicken und begreifen SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke konnten von unserer so interessanten, vielfältigen und Liste) bunten Welt. Wie sollten sie sich in einer solchen räumlichen und inhaltlichen Enge entfalten und ent- Lassen Sie uns Bedingungen schaffen, damit in wickeln? Deutschland nie wieder ein System entstehen kann, Ich denke aber ganz besonders an die Vergessenen, das Menschen in so unwürdige Situationen brachte, an die Opfer, die es in der DDR nicht geben durfte, daß erwachsene Menschen die Polizei fragen mußten, weil die Regierenden dieses Staates Wert darauf ob sie ihren Vater oder ihre Mutter, ihren Bruder oder legten, ein Staat zu sein, in dem angeblich der Mensch ihre Schwester zum Geburtstag besuchen durften. Nie im Mittelpunkt steht, in dem aber das Menschliche wieder soll es ein System geben, das Menschen nötigt, tatsächlich auf der Strecke blieb. So denke ich z. B. an um Erlaubnis zu bitten, den verstorbenen Vater oder die Menschen, die das Unglück hatten, an der Freund auf seinem letzten Weg begleiten zu dürfen, deutsch-deutschen Grenze in Ostdeutschland zu woh- und das dies oft noch untersagte. - nen, und die von Haus und Hof vertrieben und Lassen Sie uns Gerechtigkeit wiederherstellen: hel- enteignet wurden. fen und unterstützen, heilen und erklären, begreifen, Ich denke an die Tausenden, die wegen einer verstehen, versöhnen. Lassen Sie uns, soweit wir das mißliebig geäußerten Meinung für Jahre in DDR überhaupt vermögen, dazu die gesetzlichen Rahmen- Gefängnissen oder anfangs sogar in Sibirien ver- bedingungen schaffen. schwanden und in Sibirien oder in den Gefängnissen Ich verschweige es an dieser Stelle nicht: Kein und Lagern der marxistisch-leninistischen Kampfpar- Verständnis habe ich für diejenigen, die dieses — zum tei oft umkamen. Glück vergangene — diktatorische System noch Ich denke auch an die Bauern, die bei der Bildung immer für akzeptabel und — wenngleich modifi- der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaf- ziert — für erstrebenswert halten. ten ihr Bodenreformland oder ihren kleinen Familien- sitz verloren, an die enteigneten Eigentümer von (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der kleinen und mittelständischen Betrieben. Das war SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) staatlich be triebener und sanktionierter Raub und Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Fragen war- Diebstahl. ten auf eine Antwort, Fragen nach den Grundlagen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. und den Strukturen, nach den Ängsten und Versu- sowie bei Abgeordneten der SPD) chungen der 16 Millionen Ostdeutschen und den Einwirkungen und dem Desinteresse der 64 Millionen Wie lebt man mit solchem erlittenen Unrecht und Westdeutschen. Es sind zugleich Fragen nach dem der Trauer und der Wut, sich nicht richtig dagegen ganz alltäglichen Verhalten der Deutschen, speziell — wehren zu können? So mancher Bedrängter wußte aber nicht nur — in der DDR in den letzten 45 Jah- keinen Ausweg mehr und floh in den Westen oder ren. nahm sich verzweifelt das Leben. Ich denke an die vielen, die ihre Sehnsucht nach Wir werden die Gründe für ihre und unsere Lebens- Freiheit mit Gefängnis oder mit dem Tod an der versuche zwischen Verführtwerden, Gleichgültigkeit Mauer bezahlen mußten. und Unterdrückung erforschen müssen. Wir werden dabei vermutlich feststellen, daß es nur ganz, ganz Ich denke an die Träger des Aufnähers „Schwerter wenige Helden und leider mehr schuldige Täter und zu Pflugscharen", die zwischen 1980 und 1982 von der deren Handlanger gegeben hat. Wir werden aber Schule flogen oder die Ausbildung beenden mußten, auch erkennen, daß die meisten weder Helden noch weil sie durch das Tragen dieses Aufnähers öffentlich Verbrecher waren, sondern einfach darum bemüht zum Ausdruck brachten, daß sie mit der Politik Erich gewesen sind, möglichst aufrecht und möglichst ehr- Honeckers nicht einverstanden waren. lich, vielleicht auch möglichst bequem mit ihren Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns kleinen und großen Kompromissen durchs Leben zu auch das Intellektuell-Verführerische und das Un- kommen, oft genug eingeengt, gepeinigt, gebro- menschliche und das Brutale dieses sozialistischen chen. 6714 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Rainer Eppelmann Wir werden uns alle gemeinsam und gesamtdeutsch genannt wird, das muß sich in dem Umfang zeigen, in fragen müssen, was wir mit unserer Geschichte dem diese Kommission versucht, möglichst viel machen. — Mit einer hoffentlich ganz allgemeinen Wesentliches zu umfassen, wobei Wesentliches natür- und ganz unterschiedlichen Auseinandersetzung in lich auch im Detail enthalten sein kann, jedenfalls im vielen Bereichen unserer Gesellschaft sorgen wir Leben der vielen einfachen Menschen, nicht nur dafür, daß die leidvollen Erfahrungen dieser letzten solcher, die für prominent gehalten werden oder sich 45 Jahre für uns sogar noch zu etwas Helfendem und selbst dafür halten. Heilendem werden könnten. Inwieweit diese Kommission, meine Kolleginnen Die große und wichtige Aufgabe dieser Enquete- und Kollegen, einen wichtigen Beitrag zur Vorberei- Kommission kann nur gelingen, wenn wir sie partner- tung über umfangreiche und bedeutsame Sachkom- schaftlich und nicht zänkisch, verständnisvoll und plexe leisten kann, wie in unserer Geschäftsordnung ehrlich angehen. Viele Menschen werden erwar- der Auftrag solcher Kommissionen umschrieben ist, tungsvoll, gespannt und hoffentlich voller Vertrauen das wird aus meiner Sicht stark davon abhängen, wie auf uns schauen. Erweisen wir uns dieses Vertrauens deutlich sie sich vom gängigen Begriff des Untersu- würdig. chungsausschusses lösen kann. Es sollte gerade dieser Danke schön. Kommission gelingen, sich mehr im Wortsinn der (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der französischen „Enquete" als einer ernsthaften, gründ- SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) lichen Rundfrage zu entfalten, also möglichst viele gute Quellen zu erschließen, um zu hilfreichen Schlüs- sen zu gelangen. Als nächster spricht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Dies wird im hohen Maße davon abhängen, wie es der Abgeordnete Willy Brandt. den Mitgliedern der Kommission gelingt, so ehrlich wie irgend möglich mit der Vergangenheit umzuge- Willy Brandt (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen hen. Meine Freunde sind dazu bereit. Mein Freund und Herren! Der Weg zur Verwirklichung der deut- Markus Meckel wird unseren Antrag speziell begrün- schen Einheit ist steiniger und wird, wie wir alle den. Ich möchte Sie um Aufmerksamkeit für einige wissen, auch teurer, als die meisten angenommen generelle Erwägungen bitten. hatten. Ich bin darüber hinaus gewiß nicht der einzige, Möglichst viel Aufdeckung und Aufklärung muß der den Eindruck hat: Die immateriellen Folgen der - her, zumal wo es um die Machtzentren von Partei, Spaltung und die Nachwirkungen des SED - Regimes Staat und sogenannter Staatssicherheit geht, und wo könnten die Kräfte stärker und länger binden, als dies es sich um das Ausmaß der unterschiedlich festzuma- zu verantworten wäre. chenden Verantwortung handelt. Gerade hierzu wird Ich füge mit Bedacht hinzu: Das Denken vieler ein Beitrag von der Kommission erwartet, die einzu- — dies kann gar nicht anders sein, zumal in dem, wie setzen der Bundestag heute eingeladen ist. wir früher sagten, anderen Teil Deutschlands — kon- zentriert sich auf die Zukunft. Sie sehen nicht ein, Das Aufarbeiten des SED - Erbes sollte — hier folge warum ihnen rückwärtsgewandt ein schlechtes ich meinem Vorredner — als gesamtdeutsche Auf- Gewissen verordnet werden sollte. Das muß man gabe verstanden werden, auch als Beitrag zu jener sehen, und man muß es respektieren. Aussöhnung, die Wahrhaftigkeit voraussetzt. Nicht zuletzt sollte sie als Hilfe für die junge Generation Das Zusammenwachsen jedenfalls ist ein wider- verstanden und, wenn wir einigermaßen gut beraten spruchsvoller Prozeß. Damit er gut verläuft, darf man sind, weithin parteiübergreifend wahrgenommen einerseits nicht zulassen, daß der Mantel des Ver- werden. Da finde ich mich, wenn ich es richtig schweigens über gravierendes Unrecht ausgebreitet verstanden habe, weitgehend in Übereinstimmung wird, auf der anderen Seite aber auch nicht hinneh- mit dem, was der Kollege Eppelmann vor mir vorge- men, wenn dem vergangenen System durch grassie- tragen hat. rende Verdächtigung und langwirkende Vergiftung nachträgliche Triumphe beschert werden. Wir haben wahrlich genug, worüber zu streiten sich (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und lohnt. Wir brauchen einander nicht auch noch im Weg dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abge zu stehen, wo es um das Unglück geht, das dem ordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) anderen Teil Deutschlands widerfuhr, als wir mitein- ander die Nazi - Herrschaft hinter uns hatten. „Vergangenes" — ich zitiere — „ist immer ein Stück des Gegenwärtigen. Erinnerung darf nicht selektie- (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ ren, sie muß alles umfassen." Manchmal haben es GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ auch kleine Bücher in sich. Das, in dem dies steht, ist CSU und der F.D.P.) von einem Teilnehmer am Rußlandkrieg. Wer wollte Ich halte gerade nach den Jahren 1933 bis 1945 dem widersprechen? Und dennoch: Wer könnte von wenig oder nichts von der Therapie des Gras-wach- sich behaupten, daß er immer alles bedacht, „alles sen-Lassens. Es kann aber auch nicht darum gehen, umfaßt" habe? Schuld dort abzuladen, wo sie nicht hingehört. Wir können wohl immer nur Annäherungswerte (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) erzielen. Das gilt auch für Kommissionen. Ob es der

Enquete - Kommission, die wir heute gemeinsam ein- Es kann jetzt schon gar nicht angehen, daß die setzen wollen, gelingen wird, einen wesentlichen Landsleute in den mißverständlich so genannten Beitrag zu dem zu leisten, was hier „Aufarbeitung der neuen Ländern alleingelassen werden, wo es darum Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" geht, das ihnen unter sowjetischer Herrschaft und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6715

Willy Brandt kommunistischer Diktatur auferlegte bedrückende Es ist bedauerlich, wenn auch sehr verständlich, daß Kapitel deutscher Geschichte aufzuarbeiten und so sich in der Ex-DDR ein erhebliches Maß an Frustra- ordentlich wie möglich hinter sich zu bringen. tionen, seelischen Verkrampfungen und Neigungen zur Flucht aufgestaut hat. Die überwinden zu helfen Dabei füge ich noch einmal hinzu: Viele halten den ist alle Anstrengung wert. Da wird man versuchen Blick nach vorn für noch wichtiger. Ich würde die nicht müssen, den Blick zu weiten, nicht nur in Richtung auf tadeln, die so denken und das sagen. Ich würde ihnen das neu zusammenwachsende Deutschland und das aber gerne nahebringen wollen, daß es sich leichter sich qualitativ weiterentwickelnde Europa, zu dem und besser arbeitet, wenn das eigene, wenn das wir gehören, sondern auch hin zu jenen Entwicklun- innere Gleichgewicht in Ordnung ist. gen, die der Umbruch in den verschiedenen Teilen des früheren sowjetischen Imperiums ausgelöst hat. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Nicht um Nabelschau kann es also gehen, sondern um GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ die Ausweitung des Gesichtskreises. Es geht auch Linke Liste) darum, Neigungen zur Selbstgerechtigkeit zu wider- Was dürfen wir von der Enquete-Kommission raten und erst recht Tendenzen der Selbstzerflei- erwarten? Nicht, daß sie anderen, die unabhängig schung nachdrücklich zu widersprechen. forschen und dann — sicher nicht immer übereinstim- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wichti- mend — urteilen, die Aufgaben der Geschichtsschrei- ger als manches andere ist jetzt, daß unsere Lands- bung abnimmt. Dazu ist das Parlament nicht da; damit leute in den alten deutschen Ländern, die man die wäre es überfordert. Aber einen wichtigen Beitrag neuen nennt, sich nicht zu Gefangenen der Vergan- zum Verständnis dessen, was wirklich war und was genheit machen lassen, sondern den Blick freibehal- nicht in Vergessenheit geraten darf, das mag eine ten oder freibekommen für die großen Aufgaben, die Enquete-Kommission leisten können. Das wäre wich- vor ihnen, vor uns miteinander liegen. Wichtig ist tig genug, und dafür möchte ich den mit dieser auch, daß jenen bei uns hier im Westen widersprochen Aufgabe be trauten Kollegen gemeinsam mit den zu wird, die sich zu Moralrichtern aufwerfen möchten benennenden Sachverständigen jeden möglichen über Landsleute, die sich unter der SED-Herrschaft Erfolg wünschen. haben zurechtfinden müssen. Die Kommission kann auch nicht das leisten, was (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ nach unserer Rechtsordnung der unabhängigen- Justiz GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ obliegt. CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste) (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr Takt ist insoweit ebenso anzumahnen wie ein wenig wahr!) Nachdenken darüber, wie man sich wohl selbst zurechtgefunden haben würde. Auch insoweit kön- Ich komme darauf zurück. Sie darf sich nicht die nen Findungen der Enquete-Kommission eine Hilfe mancherorts zu verzeichnende Einengung auf die sein. - Thematik zu eigen machen. Mein besonderer Respekt — und ich denke, ich darf (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Sehr sagen, unser besonderer Respekt — galt und gilt richtig!) jenen Personen und Gruppen, die den Mut zur fried- lichen, gleichwohl gefahrvollen Opposition auf brach- Es ist aus meiner Sicht ein besonders bedrückender ten. Dies kann freilich nicht das Verständnis für die Teil dessen, womit wir es zu tun haben, verbunden mit vielen mindern, die aus ihren Nischen das Bestmögli- der mancherorts zu verzeichnenden Verzerrung, die che für sich und ihre Familien zu machen versuchten. die Hauptverantwortlichen fast aus dem Blickfeld Wir sollten uns miteinander hüten, den Stab über verschwinden läßt. Landsleute zu brechen, die in die Maschen des Unrechtsregimes verstrickt wurden und es nun nicht (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der immer ganz leicht haben, Vergangenes auf anstän- F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie dige Weise hinter sich zu bringen. bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der SPD) Nun sind die Auseinandersetzungen um oder über

die DDR - Vergangenheit im Gange, kaum daß wir von Das gilt ausdrücklich auch für viele der seinerzeitigen Vergangenheit sprechen mögen. Das wird einige Zeit SED - Mitglieder, die unter Druck, ihrer Kinder wegen in Anspruch nehmen, mindestens so lange, wie ein- oder auf Grund von Illusionen — natürlich hat es auch schlägige Medien meinen, Echo zu finden und mit das gegeben — eine engere Bindung zum Regime Hilfe einstiger Übeltäter ihr Geschäft zu machen. eingegangen waren, als es ihnen im nachhinein selbst verständlich erscheinen mag. Ich meine, wir dürfen uns nicht damit abfinden, daß die schwer genug errungene Demokratie zum Spiel- Wer sich daran erinnert, daß es nicht die erste ball unverantwortlicher Elemente wird und daß Stasi Diktatur war, der sich unser Volk in diesem Jahrhun- Leute, zu Wahrheitszeugen hochstilisiert, sogar zu dert unterworfen hatte, wird wenig Neigung verspü- Profiteuren ihrer Verdächtigungen werden können. ren, mit Steinen zu werfen. Ich bin sicher nicht der einzige, der gestern in der „Süddeutschen Zeitung" (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der gelesen hat, was Hans Heigert zum Thema zu sagen F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE sowie hat. Ich habe mir den Satz angestrichen, der da bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) lautet: 6716 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Willy Brandt Aber es war nun einmal ihr Staat, und kaum einer davon, wie einen Verdächtigungen quälen können, von den 17 Millionen Deutschen hat 20, 30 Jahre die aus einem vom Schema abweichenden Lebenslauf lang zu hoffen gewagt, daß sich an diesen Ver- abgeleitet werden. Doch würde es mich sehr wun- hältnissen irgend etwas ändern werde. Also hat dern, wenn sich so rasch übergehen ließe, daß jemand man sich eingerichtet. Es war nun einmal das wie der, der hier spricht, nicht erst 1989, sondern vorgegebene System. Kein Mensch kann leben 40 Jahre zuvor, 1948 und 1949, von Berlin aus die ohne eine solche Vorgabe. internationale Presse mit nicht sonderlichem Erfolg Soweit der nicht parteigebundene Hans Heigert. darüber aufzuklären versuchte, was an Verfolgungen in der Sowjetischen Besatzungszone schon sehr früh Meine Damen und Herren, für ganz und gar unmög- und sehr brutal im Gange war. lich halte ich es mit meinen Freunden, jetzt über Personen, zumal aus dem kirchlichen Bereich, herzu- Muß ich uns daran erinnern, daß wir nicht nur diplomatisiert haben, sondern daß wir uns, wo es fallen, die viel Mühe darauf verwandten, mitmensch- darauf ankam, auch nach Kräften unserer Haut liche Hilfe zu leisten, und die einen wesentlichen Beitrag dazu beisteuerten, daß die voneinander gewehrt haben? Den Umbruch haben wir gewollt, getrennten Teile unseres Volkes nicht noch weiter nicht erst 1989. Dies sage ich ganz besonders im Rückblick auf die frühen auseinanderdrifteten. Die Kirchen in der ehemaligen Berliner Nachkriegsjahre mit dem Kampf gegen Zwangsvereinigung, der dort DDR haben wahrlich dazu beigetragen, daß der Kon- takt zwischen den Teilen Deutschlands nie ganz möglich war, und gegen die Blockade, dann gegen abzureißen drohte. Viele mühten sich in unsäglicher Panzer, Ultimaten und Einmauerung. Jene Deutsch- die ich mitzuverantworten habe, hatte Kleinarbeit, für in Bedrängnis Geratene Anlaufstellen landpolitik, zu sein oder abgestimmtes Verhalten zu vereinbaren ihre diplomatische Seite — einschließlich des in Mos- — bis hin zu den Tagen, wie wir uns erinnern, in kau 1970 deponierten Briefes zur deutschen Einheit. Zugleich war sie auf Selbstbehauptung gerichtet: denen sich die schon nicht mehr vereinzelte Opposi- menschlich, national und europäisch. Wer die tion unter schützenden Kirchendächern zusammen- fand. Nur Weltfremdheit kann vermuten lassen, daß Geschichte erst 1989 oder kurz davor anfangen läßt, kann gedanklich nicht anders als zu kurz springen. mancherlei Hilfe ohne Kontakte mit Repräsentanten des Unrechtsregimes möglich gewesen wäre. Für (Beifall bei der SPD, der F.D.P., der PDS/ mich ist es deshalb schwer, manche Vorwürfe zu Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE) verstehen, die heute erhoben werden. - 1987 war man halt noch nicht so schlau wie 1989. Erinnern wir uns im übrigen: Im Osten wie im (Dr. Hartmut Soell [SPD]: Doch! Der Bundes Westen hatten wir — jedenfalls muß ich das für mich kanzler!) sagen, aber ich weiß, es gilt für die allermeisten — mit einer langen Perspektive der Zweitstaatlichkeit Sonst wären vermutlich die Aufmerksamkeiten für gerechnet und zu rechnen. Zumindest einige mensch- den Staatsratsvorsitzenden der DDR bescheidener liche Erleichterungen — wenn auch noch so begrenzt ausgefallen. wie im Falle der Reisemöglichkeiten — sollten bewir- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ken, daß der Graben zwischen Deutschland und Bündnisses 90/GRÜNE) Deutschland nicht noch tiefer würde. Das steckte hinter dem Berliner Passierscheinabkommen vom Damit wir uns nicht mißverstehen: Ich war nicht Jahre 1963, das steckte hinter dem Grundlagenver- gegen, ich war für jenen Besuch. trag des Jahres 1972 und anderen Elementen einer (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Dann soll Deutschlandpolitik aller Bundesregierungen; einer ten Sie das so nicht sagen! — Dr. Wolfgang Politik, die, da wir jetzt dabei sind, aufzuarbeiten, Schäuble [CDU/CSU]: Wer hat denn um gewiß auch kritisch hinterfragt werden darf. armt? Wer hat denn geküßt? Wer kann denn Dennoch ist es wert, sich der internationalen geduzt?) Zusammenhänge von damals zu erinnern. Unsere Er hat dem Besucher mehr Probleme bereitet als vom Bemühungen, so unzulänglich sie gewesen sein Hals geschafft. mögen, waren in die westliche Entspannungspolitik eingebettet, die auf die Sicherung des Friedens und, (Zustimmung bei der SPD — wo es irgend ging, auf die Wahrung der Menschen- [Quickborn] [CDU/CSU]: Das ist Geschichts rechte abzielte und die einen gesamteuropäischen klitterung, was Sie da machen!) Bezugspunkt schaffen sollte. Das war der Sinn der Wenn die Geschichte der SED-Herrschaft aufgear- Schlußakte von Helsinki vom Sommer 1975. Es darf beitet wird, interessiert gewiß auch die Frage, ob die inzwischen davon ausgegangen werden, daß Wirkun- westliche Politik, wie manche meinen, oder jedenfalls gen dieser Politik in nicht unwesentlichem Maße zur sagen, dazu beigetragen haben könnte, die Lebens- Überwindung der kommunistischen Regime — nicht dauer der kommunistischen Regime unnötig zu ver- nur bei uns — beigetragen haben. längern. Ich glaube das nicht. Aber warum nicht offen (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) darüber sprechen? Hätten wir im deutschen Fall beispielsweise die Wirtschaftsverbindungen kappen Hierfür gibt es jedenfalls starke Zeugnisse aus dem sollen? Ich meine das nicht, obwohl ich unter dem nichtdeutschen Osten. Schock des Mauerbaus von 1961 auch diese Frage Ich denke, ich weiß selbst etwas — und andere mit aufgeworfen habe und mich aus Bonn eines besseren mir — von der Gratwanderung verantwortungsbe- belehren lassen mußte. Übrig blieben damals wie bei wußter Menschen in Diktaturen, übrigens auch einer späteren Gelegenheit, nämlich nach der Inva- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6717

Willy Brandt sion in Afghanistan, Sanktionen zu Lasten des deut- vom Recht abgehobene Legitimität zu beanspruchen schen Sports. Als ob das politisch irgend etwas hätte hat. bewegen können! Ich beneide nicht die Justiz und hielte es für fatal, Das Aufarbeiten der Erfahrungen, die mit der inner- wenn sie sich — unbenommen ihrer eigenen unab- deutschen Politik gemacht wurden, darf nicht vom hängigen Prüfung des Einzelfalls —, was die Wertung eigentlichen Problem ablenken. Die Sache der Ein- der nationalpolitischen Zusammenhänge angeht, heit, die über uns kam und die wir zu einem Gutteil allein gelassen fühlte. immer noch vor uns haben, heißt: zusammenfügen, neu zusammenwachsen lassen, was willkürlich und Allein kann die Justiz der großen Aufgabe gewiß gewaltsam voneinander getrennt worden war. Ich nicht gerecht werden. Ihre am Einzelfall normierten trete keinem der furchtlosen Demons tranten vom Verfahren könnten sich, wie schon unterschiedliche Deutschen Herbst 1989 zu nahe, auch keinem Leid- Urteile zum gleichen Sachverhalt zeigen, für eine tragenden der hinter uns liegenden Jahrzehnte, wenn Gesamtbewältigung als untauglich erweisen. Eine ich daran erinnere: Die Sache wurde spruchreif, als bewährte Rechtsordnung darf nicht Schaden nehmen, sich die Welt veränderte und Deutschland mit ihr. Den indem der Eindruck entsteht, es würden die Unterge- Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssy- benen hinter Gitter geschickt und die Vorgesetzten stems hat uns mit zuverlässiger Terminierung nie- ungeschoren davonkommen. mand voraussagen können, auch nicht, daß uns der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zerfall der östlichen militärischen Machtstrukturen so der CDU/CSU und der F.D.P.) glimpflich davonkommen lassen würde. Wir sind allerdings auch insoweit noch nicht am Ende des Aber ich hielte es für ungerecht, überforderte Weges. Was ins Rutschen gekommen ist, kann weiter Staatsanwälte und Richter zur Zielscheibe von Groll abgleiten und neue Unsicherheiten bewirken. über den Stand der Dinge zu machen, einen Stand der Dinge, von dem wir wissen, daß er von vielen im Inzwischen war fast schon vergessen — bis es am Osten, aber auch im Westen, mit Enttäuschung und Wochenende im schönen Bayern wieder wachgerufen Irritation begleitet wird. Eher wäre danach zu fragen, wurde —, mit wieviel Freude man in den letzten ob genug darüber nachgedacht worden war, wie sie Jahren Beifall spendete, wenn der Name Gorba- mit dem fertig werden sollen, was ihnen aufgeladen tschow fiel. Er hatte es sogar verdient. Denn er ließ uns wurde, und ob nicht ganz andere Vorkehrungen nicht nur rascher, als irgendwer noch in jenem- Herbst hätten ge troffen werden müssen, vielleicht noch 1989 vermutete, zur Einheit kommen. Er sorgte auch getroffen werden können, um im Länder-Bund-Ver- dafür, daß die Dinge auf einem friedlichen Weg hältnis neue und wirksame Formen kooperativer geregelt wurden und keiner mehr ernsthaft daran Rechtshilfe zu entwickeln. dachte, militärische Mittel einzusetzen. Er scheiterte — aber was heißt hier schon „scheitern"? —, weil die Für unseren deutschen Neubeginn wäre es unnötig Verhältnisse den eigenen Reformprojekten nicht hold belastend, würde ein Aufarbeiten der Vergangenheit waren und diese, zumal auf wirtschaftlichem Gebiet, in dem Sinne betrieben, daß der rechtlich, politisch viel zu kurz griffen. oder moralisch zur Verantwortung Gezogene sich wie zwischen zwei Spiegeln befindlich fühlte, um ein Bild Daß man ihm applaudierte, wird den Beteiligten eines tschechoslowakischen Schriftstellers, der jetzt hoffentlich nicht irgendwann vorgehalten. Er war auch Diplomat ist, zu gebrauchen: Er, der mit der bekanntlich Kommunist. Verantwortung Konfrontierte, meint, wenn er in den (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Spiegel vor sich schaut, er blicke in die neue Richtung, und doch ist es in Wirklichkeit die alte. Wenn wir ehrlich mit der Vergangenheit umgehen wollen, sollten wir die internationalen Zusammen- Mit opportunistischem Verdecken oder voreiligem hänge jedenfalls nicht aus dem Auge verlieren. Vergessen haben solche Erwägungen nichts zu tun. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Daß allein mit den Mitteln des Rechtsstaats die Ver- der PDS/Linke Liste) gangenheit nicht aufgearbeitet werden kann, wissen wir alle. Sorgfältig vorbereitete Foren, ein vieltau- Es bleibt aus meiner Sicht wichtig, daß wir uns nicht sendfaches offenes Gespräch der Bürger und gerade zu Opfern von zuviel Pharisäertum und verlängertem auch die Kommission des Deutschen Bundestages Spitzelwesen machen lassen. können dabei helfen. Was wir dabei vor allem brau- (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und chen, ist die Kraft zur Differenzierung. dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeord (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. neten der CDU/CSU und der F.D.P.) Margret Funke-Schmitt-Rink [F.D.P.]) Ein vergeblicher Versuch, mag man fragen? Ich will Aus dieser Kraft zur Differenzierung kann Konsens das nicht glauben, sondern ich setze weiter darauf, erwachsen. Und der Blick nach vorn darf dann nicht daß wir über den bitteren Erfahrungen aus beiden durch Gespenster der Vergangenheit verstellt wer- Diktaturen den Sinn von Demokratie nicht verges- den. In diesem Sinne darf ich der Kommission eine sen. überzeugende Arbeit wünschen. Damit wir uns richtig verstehen: Wer zurechenbares Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Unrecht begangen hat, muß dafür geradestehen. Er wird geltend machen können, auf welche Weise er in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten welche Verstrickung geriet. Er muß sich jetzt in einem der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke Rechtsstaat verantworten, der keine wie auch immer Liste) 6718 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Müssen wir diese Bundeskanzler Helmut Kohl. Debatte jetzt hier so führen? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war nicht meine Absicht, in dieser Debatte das Wort zu ergreifen, weil ich glaube, es ist wichtig, daß vor allem Kolleginnen Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Meine Damen und und Kollegen aus den neuen Bundesländern — das ist Herren! Im Vorfeld des Besuches des damaligen jetzt der Ausdruck, Herr Brandt — hier sprechen und Staatsratsvorsitzenden waren viele wir aufmerksam zuhören. Gespräche darüber geführt worden, was für die Men- schen in der damaligen DDR wie auch in der damali- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen Bundesrepublik psychologisch erträglich sein der F.D.P.) würde. Ich stehe nicht an zu erklären, daß unter den Aber nachdem ich auf Grund einer Bemerkung des vielen Entscheidungen in den beinahe zehn Jahren Kollegen Brandt hier das Wort ergriffen habe, will ich meiner Amtszeit für mich, Herr Kollege Brandt — Sie zunächst einmal für die Bundesregierung sagen, daß wissen dies —, die Entscheidung über den Ablauf wir im Rahmen unserer Möglichkeiten alles tun wer- dieses Besuches eine der schwierigsten war. Der den, um die Arbeit der Enquete-Kommission zu Besuch mußte so ablaufen, denn sonst wäre er nicht unterstützen. Ich halte diese Arbeit — hier stimme ich zustandegekommen. dem Kollegen Brandt zu — für einen der wichtigsten Herr Kollege Brandt, was war nun das Ziel des historischen Aufträge an unsere Generation. Denn ich Besuches? Ziel des Besuches war für uns doch, alles zu bin weiterhin davon überzeugt, daß es uns gelingen tun, um die Mauer etwas durchlässiger zu machen. wird, die materiellen Verhältnisse in den neuen Bun- desländern in Ordnung zu bringen, daß wir jedoch (Freimut Duve [SPD]: Genau diese Zwecke sehr viel länger — hier stimme ich wiederum dem hat Willy Brandt doch eben geschildert!) Kollegen Brandt zu — daran zu tragen haben werden, Ziel dieses Besuches war aus meiner Sicht, das, was die seelischen Verwundungen dort zu heilen. wir nach meiner Amtsübernahme als Bundeskanzler Herr Kollege Brandt, weil Sie den Vergleich gezo- eingeleitet hatten — ich sage das gerne einmal bei gen haben: Ich erinnere mich noch sehr gut an die dieser Gelegenheit: auch tatkräftig unterstützt von Diskussion — ich war damals noch Schüler —, als die Franz Josef Strauß —, fortzusetzen und mittels der Entnazifizierung begann. Damals haben manche im Gewährung einer Kreditgarantie die Mauer durchläs- westlichen Teil unseres Vaterlandes, in der späteren siger zu machen. Daß es zu den Ereignissen des Jahres Bundesrepublik, geglaubt, das sei in ein paar Jahren 1989, zum 9. November 1989, zum Fall der Mauer, abgeschlossen. Wenn Sie heute die internationale kommen konnte, hat viele Gründe, die ihren Ursprung Diskussion betrachten, stellen Sie jedoch fest, daß nicht in Deutschland hatten — aber auch Gründe, die gerade jetzt, gegenüber dem wiedervereinten ihren Ursprung in Deutschland hatten. Zu den wich- Deutschland, dies alles wiederkommt — und das wird tigen Gründen, die ihren Ursprung in unserem Land so bleiben, solange Menschen leben, die die NS-Zeit hatten, gehörte, daß bis zum Fall der Mauer viele ganz persönlich erlebt haben. Diese Erfahrung ist, Millionen Landsleute aus der damaligen DDR zu glaube ich, wichtig auch im Blick auf das, was wir jetzt Besuch in die Bundesrepublik kommen gemeinsam tun wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Ich will meinen besonderen Respekt dem Kollegen sowie bei Abgeordneten der SPD) Eppelmann bezeugen, der hier in einer sehr einfühl- und bei dieser Gelegenheit erleben konnten, daß die samen Weise eine Richtung für diese Arbeit gewiesen ganze SED-Propaganda über die Verhältnisse in der hat. Ich möchte hoffen, daß wir das so begreifen. Bundesrepublik verlogen und falsch war, und daß sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. neue Hoffnung geschöpft haben, auch neue Hoffnung sowie bei Abgeordneten der SPD) auf die Einheit unseres Vaterlandes. Gemeldet habe ich mich, Herr Kollege Brandt, weil Wenn ich auf etwas von dem stolz bin, was in den Sie eine Bemerkung machten, von der ich hoffe, daß vergangenen Jahren geleistet wurde, dann darauf, sie nur mißverständlich formuliert war. Denn das, was daß am Abend des 7. September 1987 — Sie zum Besuch des damaligen Staatsratsvorsitzenden (Zuruf des Abg. Freimut Duve [SPD]) der DDR 1987 sagten, läßt sich natürlich so nicht halten, es sei denn, es soll eine Legendenbildung — Das werden Sie nie verstehen, das weiß ich. Schon begründen. die Tatsache, daß Sie in diesem Augenblick diesen Zwischenruf machen, zeigt, daß Sie nicht in der Lage (Zustimmung bei der CDU/CSU — Gerhard sind, überhaupt einmal etwas Bedenkenswertes von O. Pfeffermann [CDU/CSU]: Genauso ist es! einem anderen zu akzeptieren. — Dr. Hartmut Soell [SPD]: Sie müssen das Protokoll nachlesen, Herr Bundeskanzler! — (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Weitere Zurufe von der SPD) Abg. Freimut Duve [SPD] meldet sich zu Deswegen will ich das hier auch sehr präzise anspre- einer Zwischenfrage) chen. — Ich denke nicht daran, die Frage jetzt zu beantwor- (Peter W. Reuschenbach [SPD]: Sie sind so ten. kleinkariert und das an diesem Morgen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6719

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl Für mich war es an diesem Abend wichtig — darauf der Bürger Ost/West im jetzt vereinten Deutschland bin ich in der Tat stolz —, daß ich vor dem Forum der wesentlich unterstützen. deutschen Öffentlichkeit in Ost und West — und nicht Dabei wird natürlich deutlich, daß die Menschen hinter verschlossenen Türen — und in Anwesenheit von Herrn Honecker sagen konnte, daß die Mauer angesprochen sind. Die Geschichte kann eine ein- fällt, daß die Einheit unseres Vaterlandes kommt. zelne Kommission nicht aufarbeiten. Und es sind die Menschen in Ost und West angesprochen. Es geht Daran habe ich, Herr Kollege Brandt, immer geglaubt. zwar vorrangig um die Offenkundigmachung der Geschichte der sowjetischen Besatzungszone und der (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — DDR, aber es geht selbstverständlich auch um deren Beifall bei der F.D.P.) Einordnung in die gesamtdeutsche Geschichte und die Darstellung der Wechselbeziehungen zwischen Willy Brandt (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen den beiden deutschen Staaten. und Herren! Ich möchte den Bundeskanzler bitten, sich das Protokoll genau anzuschauen. Dann wird er Denn auch hier gilt der Grundsatz „actio gleich feststellen, daß ich ausdrücklich gesagt habe: Ich war reactio": Eine Aktion auf der einen Seite bedingte, nicht gegen, sondern für den Besuch. Zweitens habe forderte oder ermöglichte bzw. begünstigte eine ich der Vermutung Ausdruck gegeben, daß der Bun- Aktion auf der anderen Seite. Deshalb müssen beide deskanzler ebensowenig wie wir anderen 1987 hat Seiten betrachtet werden. wissen können, was 1989 passieren würde. Ich denke, Bei aller Sorgfalt bei der Ergründung der einzelnen das bleibt richtig. sachlichen Vorgänge und Zusammenhänge, die die (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Kommission leisten muß, bleibt natürlich der Mensch der PDS/Linke Liste) im Vordergrund; denn die Politik wird von Menschen gemacht. Also sind auch die Auswirkungen auf die Menschen in die Betrachtungen einzubeziehen, und Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Schmieder. die Empfindungen und das Denken über diese oder jene politische Darstellung bzw. Zwangssituation sind gleichfalls von Interesse. Dr. Jürgen Schmieder (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Mit der Einsetzung Es gilt zu ergründen, wo die Ursachen für Erschei- einer Enquete-Kommission unternimmt der Deutsche nungen wie Desinteresse und Lethargie lagen. Es gab Bundestag einen Versuch, seinen Teil zur Aufhellung ja unbestritten eine Resignation vor den allgegenwär- der Vorgänge und Zusammenhänge in der sowjeti- tigen Auswirkungen der Volksverdummung, vor den schen Besatzungszone und in der DDR beizutragen. Potemkinschen Dörfern und den kommunistischen (Unruhe) Losungen, die von einer Großtat zur anderen Weg- begleiter sein und zu Selbstverpflichtungen Anlaß geben sollten. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Schmieder, wenn Sie einen Augenblick warten, bis wieder Ruhe Viele Bürger sahen diese Sachen einfach nicht eingekehrt ist. Ich darf die Kollegen bitten, wieder mehr: die kommunistischen Losungen am Werktor, Platz zu nehmen. die roten Fahnen, die Verherrlichung der sowjeti- Bitte. schen Filme und Sportler. Das war eben so, und damit gut. Nur wenige fanden die Kraft zum offenen Wider- stand. Andere taxierten den Spielraum der Gesetze Dr. Jürgen Schmieder (F.D.P.): Hierbei geht es um eine politische Aufarbeitung, Erklärung und Darstel- aus und gerieten damit auch in das Gesichtsfeld der lung der Geschichte, um eine Verdeutlichung der Stasi. Die meisten aber hatten die Gegebenheiten zur Folgen der Diktatur der SED und der deutschen Kenntnis genommen und versucht, den eigenen Teilung. Es geht um die Untersuchung der Lebens- Lebensraum aufzubauen. Man zog sich zurück in die und der Verhaltensweisen der Menschen und deren Familie, in seine eigenen vier Wände oder in seinen Befindlichkeiten. Es geht auch darum, die Formen der Garten. Unterdrückung zu analysieren. Die ersten drei bzw. vier Buchstaben des Namens Durch die Unterdrückungsherrschaft der SED und eines bekannten, von vielen wie die Pest gehaßten durch die ständig expandierende Machtausübung Moderators des DDR-Fernsehens galten als Maß für unter verfeinerten Methoden waren Bedingungen Schnelligkeit, nämlich für Schnelligkeit beim Um- entstanden, unter denen die Menschen im Osten schalten des Fernsehsenders, wenn man aus Verse- leben mußten, denen sie sich anpaßten — einige hen beim DDR-Sender gelandet war. Es gab aber auch willfährig, andere widerwillig —, wo einzelne Frei- noch andere Maßeinheiten für Schnelligkeit. Man war räume schufen und Widerstand leisteten und so die da erfinderisch. Ein „HON" z. B. entsprach etwa Voraussetzungen für die politische Wende herbei- einem Viertel „SCHNI". Damit hatte sich das Pro- führten. Es gilt, das Befinden der Menschen gestern blem. Man schaltete um, bzw. man schaltete eben ab und heute zu ergründen und Chancen für eine Reha- oder auf Durchgang, z. B. bei den montäglichen bilitierung der Opfer und für eine Bestrafung der Täter „Roten Schulungen". zu schaffen. Doch man konnte der SED nicht entfliehen. Alles Gerade die Kenntnis der konkreten Lebensum- war von deren Seite wohlorganisiert und kontrolliert stände der Menschen in der ehemaligen DDR würde — zum Wohle des Volkes selbstverständlich — und meiner Meinung nach den Prozeß des eigenen Erken- schließlich war außen ja noch ein Zaun drum nens und der gegenseitigen Akzeptanz im Verhältnis herum. 6720 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Jürgen Schmieder Viele von denen, zu deren Wohl angeblich alles Ein wesentlicher Punkt in diesem Zeitabschnitt ist geschah, sahen mit zunehmender Deutlichkeit das die Erforschung des Wechselspiels und des Ausprä- drohende Ende. Durch den Überwachungsstaat ein- gens der politischen Kräfte, allem voran die Parteien- geschüchtert, verspürten erst nur wenige die Kraft der landschaft, ausgehend von vier Parteien über die Gleichgesinnten; andere kämpften für sich allein und Drei- bis hin zur Fünf-Parteien-Landschaft. Wo lagen sahen keine Chance für die Aktivierung der Masse. die Beweggründe, wo die Triebkräfte, welches waren Eines aber einte alle und reihte auch viele von den die äußeren und inneren Zwänge? Hätte es sein einfach nur Unzufriedenen ein: Man war fertig mit müssen, oder wäre dieses oder jenes zu verhindern dem Staat DDR und mit dessen Führung. gewesen? Der Volksmund hatte seine eigene Interpretation Vor der Kommission, über deren Einsetzung wir der Symbolik der DDR-Flagge, nämlich: „An einem heute beschließen, liegt eine umfangreiche und schwarzen Tag versprachen die Roten goldene Zeiten; schwierige Aufgabenstellung; aber die Besetzung der doch jetzt haben wir einiges zu zirkeln, daß wir nicht Kommission sollte es ermöglichen, daß m an auch unter den Hammer kommen und wieder Ähren lesen unter Ansetzung eines relevanten Zeitumfanges erste müssen. " gesicherte und inhaltsreiche Zwischenergebnisse erwarten kann. Ich gehe davon aus, daß die Kommis- Diese Erkenntnis, der erneute Wahlbetrug zu den sion Ende 1993 einen ersten Zwischenbericht vorle- Kommunalwahlen 1989 und das hochgestochene gen sollte. Jubelfest im Oktober 1989 gaben dann den letzten Anstoß: Die Zurückhaltung, die Angst vor der eigenen In Punkt 5 des Antrages zur Einsetzung der Courage und die Angst vor dem Unterdrückungsre- Enquete-Kommission wird formuliert, daß sich die gime wurden überwunden. Oppositionelle Gruppen, Enquete-Kommission den Inhalt des Auftrages allen voran das Neue Forum, riefen, und der Funke zunächst selbst erarbeiten soll und ihn dann dem sprang über. Bundestag bis zum 20. Mai als Beschlußempfehlung vorzulegen hat. Die Arbeit der Kommission beginnt All diese Prozesse gilt es jetzt zu ergründen und zu also mit der Erledigung von Hausaufgaben. Es geht analysieren: Wie gelang es der SED, rund 16,5 Millio- um die Ausgestaltung des Auftrages und meiner nen Menschen zu beeinflussen, mitzumachen oder Meinung nach auch um die Fixierung eines geeigne- wenigstens stillzuhalten? Wie gelang es einigen, Kraft ten Arbeitstitels dieser Enquete-Kommission. Die jetzt und Mut zu finden, um Auswege aus der gelähmten, - gefundene Formulierung — Aufarbeitung der Ge- weitestgehend neutralisierten Situation zu finden und schichte und der Folgen der deutschen Teilung und ein ganzes Volk zu aktivieren? der SED-Diktatur — wirft doch zumindest die Frage Hier hat die Enquete-Kommission ein reiches Betä- auf: Welche Geschichte soll denn hier aufgearbeitet tigungsfeld. Es muß motiviert werden; und es wäre werden? Auf der anderen Seite steht die Frage: Kann wünschenswert, wenn erreicht werden könnte, daß es sich denn hierbei schlechthin nur um Aufarbeitung sich viele Bürger angesprochen fühlen und an der handeln, Aufarbeitung eines Stapels von Geschichte, Erkennung und Identifikation der deutschen Ge- den man nach der Aufarbeitung zur Seite legt? Die schichte teilhaben. Kommission kann aus meiner Sicht nur Erfolg haben — das darf ich hier noch einmal in aller Deutlichkeit Neben der Aufarbeitung im Bundestag mit parla- sagen —, wenn jede Frage gestellt werden darf und mentarischen Mitteln — ich denke, die Enquete- versucht wird, auf jede gestellte Frage Antworten zu Kommission ist dazu ein hervorragendes Instru- finden. Ich schließe mich da Herrn Eppelmann an, daß ment — muß es weitere Formen der Aufarbeitung man keine parteitaktischen Spielereien zulassen darf und der Beschäftigung mit dieser Problematik geben. und daß keine gegenseitigen Schuldzuweisungen Einige Vorstellungen hierzu sind bereits bekannt, und stattfinden dürfen. man hört auch von ersten Aktivitäten. Es gibt Foren, Gesprächskreise an runden Tischen, Arbeitsgemein- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne schaften, Zirkel. Das ist gut so. Man kann hierbei ten der CDU/CSU und der SPD) keinen einzigen Tag auslassen und sollte, ja, man muß Die Enquete-Kommission darf nicht instrumentalisiert beim 8. Mai 1945 beginnen. werden; denn andernfalls wäre ihre Arbeit umsonst. (Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten Durch meine Einführung ist hier gerade deutlich der CDU/CSU) geworden, daß es eben nicht nur um Aufarbeitung Es wäre nicht gerechtfertigt, das Aufgabenfeld der geht, sondern im wesentlichen um Erkennung und Kommission erst mit der Gründung der DDR begin- Darstellung, Offenlegung und Identifizierung mit nen zu lassen; denn auch und gerade in den Anfängen eben dieser Geschichte. Hier ist die Kommission der sowjetischen Besatzungsherrschaft liegen die gefordert. Die Kommission sollte sich zum Ziel setzen, Wurzeln und Ansätze für viele spätere Fehlentwick- die diktatorischen Machtstrukturen, die repressiven lungen. Ebenso bestand keine Möglichkeit, durch die Unterdrückungsmechanismen dieser Macht ein- Besatzungsmacht verübtes Unrecht aufzuarbeiten schließlich der Auswirkungen auf die Verhaltenswei- und öffentlich darzustellen. Diese Chance bietet sich sen der Menschen im Osten Deutschlands vom 9. Mai jetzt. Es geht hier nicht nur darum, nicht weiter Gras 1945 an bis zur friedlichen Revolution sowohl in darüber wachsen zu lassen, sehr geehrter Herr Brandt, allgemeingültiger Art, aber auch exemplarisch und sondern — ich möchte das erweitern — man muß auch dokumentarisch aufzuzeigen. das Gras wachsen hören. Man muß hellhörig sein, auf Zwischen 1945 und 1949 wurde im Osten Deutsch- bestimmte Probleme eingehen und natürlich allen lands an der Entstehung eines diktatorischen, politi- Befindlichkeiten hier Rechnung tragen. schen Systems gearbeitet, das in seinem Kern die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6721

Dr. Jürgen Schmieder Erhaltung und den Ausbau der Machtstrukturen einer ständlich unter Einbeziehung der Unterlagen von kommunistischen Partei — der SED — hatte. Unter Salzgitter; Maßnahmen der Repression an den Gren- dem Vorwand, es handele sich um Diktatur des zen durch alle dort tätigen Organe; Strukturen bzw. Proletariats, wie man im nachhinein festzustellen Organisationsstrukturen der Organe des nationalen wußte, bereitete sich die SED dort den Boden für ihre Verteidigungsrates; Auftrag und Arbeitsweise der künftigen Machtstrukturen. Im Prinzip legte sie den Sonderabteilung K 1 der Kriminalpolizei; repressive Grundstein für ihr Machtpotential bereits bei der Funktionen der Kampfgruppen, der Zivilverteidigung Vereinigung von KPD und SPD, zumindest in der und der Nationalen Volksarmee. Quantität. Des weiteren geht es um die Klärung der Informa- War diese Vereinigung wirklich Zwang, war sie tions- und Kontrolltätigkeit der Kaderleitungen in den Mittel zum Zweck, war sie notwendig? Auf all diese Betrieben, um Untersuchungen der Auswirkungen Fragen gilt es Antworten zu suchen. Die tatsächlichen der Repressionsfunktion von politischen Schulungen, Machtstrukturen blieben bisher vielfach verborgen. Kampagnen sowie von politischer Agitation und Pro- Diese aufzudecken und in ihrer wirklichen Durchdrin- paganda. Es geht um die Ergründung der Rolle der gung wichtiger gesellschaftlicher Bereiche deutlich SED-dominierten Bereiche wie Bildung, Kultur, Sport zu machen, muß Ziel der Untersuchungen sein. und Medien. Und es geht schließlich um die Ergrün dung der Rolle untergeordneter Strukturbereiche wie Natürlich wird die Kommission hier schnell an den der Wohngebietsausschüsse und der Nationalen Rand des Machbaren, des in eigener Regie Machba- Front. ren. stoßen. Man muß sich zwangsläufig um die Zusammenarbeit mit anderen Forschungseinrichtun- Neben der Kenntnis der SED-Strukturen, der Hier- gen bemühen. Ja, man sollte vielleicht gezielt For- archie in dieser Partei, der Organisationsstrukturen schungsaufträge vergeben. untergeordneter Organe, neben dem Wissen um ein- zelne Unterdrückungsmechanismen geht es natür- Es gilt hier, unter dem Stichwort „Machtstrukturen" lich, wie eingangs schon gesagt, um die spezifischen die Aufdeckung der eigentlichen Machthierarchie Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Diese vorzunehmen und den Aufbau und die Arbeitsweise Bedingungen haben die Mitbürger über 40 Jahre der SED zu ergründen. Gleichzeitig gilt es, die Diffe- geprägt und deren Lebensinhalte bestimmt. Eine renzierung der einzelnen Machtbereiche innerhalb Untersuchung der Bedingungen ist für das eigene dieses Apparates, das Zusammenwirken mit- anderen Erkennen und gegenseitige Akzeptieren von außeror- Parteien und Massenorganisationen, die Werbungs- dentlicher Bedeutung. Deshalb sollte die Kommission methoden sowie Beitrittsmotive und die internen einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit gerade dieser Motivierungsmechanismen zu eruieren. Untersuchung widmen. Es geht um eine Untersuchung der Einflußnahme Es geht hier, wie schon geschildert, um die Offen- der SED auf andere gesellschaftliche Bereiche hin- legung des Umfangs und der Form des politischen sichtlich der Mittel, Methoden und Intensität der Widerstandes, der politischen Verfolgung. Es geht Einflußnahme, natürlich insbesondere gegenüber der um Beziehungen zwischen politischem Widerstand , gegenüber den Staatsorganen auf und Kirche, zwischen Kirche und Staat — denn Landes-, Bezirks- und Kreisebene, gegenüber dem schließlich reifte die friedliche Revolution unter dem Ministerium für Staatssicherheit, gegenüber der Dach der Kirche —, und es geht um die Darstellung Justiz und gegenüber einzelnen Personen. Es geht um des Lebens in der Diktatur, insbesondere um die die Ergründung und Untersuchung der Einflußnahme Klärung bestimmter Phänomene, die durch Anpas- der SED und des Staates auf die Kirche. Es geht um die sung, Desinteresse, Lethargie, Mitläufertum, Fanatis- Aufdeckung der tatsächlichen Funktionen der Block- mus, Verhetzung und Verdummung geprägt waren. parteien und Massenorganisationen sowie um die Ergründung ihres Umfangs der Teilhabe an der Die Beschäftigung mit der Geschichte der letzten Macht. 40 Jahre Ostdeutschlands läßt sich eben nicht nur auf die Stasi-Frage und den Umgang mit dem riesigen Zur Absicherung ihrer umfassenden politischen Aktenberg, den diese Behörde hinterlassen hat, redu- Herrschaft war es für die SED lebensnotwendig, zieren. Vielmehr geht es bei der Beschäftigung mit der Unterdrückungsapparate aufzubauen, die es ihr Geschichte darum, die von der SED maßgeblich und ermöglichten, selbst nicht als Unterdrückungsorgan dominant gestalteten Prozesse im Osten unseres in Erscheinung treten zu müssen. Hier geht es für die Vaterlandes zu ergründen, ihre Auswirkungen auf die Kommission vorrangig darum, den Umfang, die For- Menschen darzustellen und die Geschichte von der men der Repressionen und die Vielfalt der Repres- Vergewaltigung und der Zwangsdeutung durch die sionsorgane zu ergründen und deren Arbeitsweise SED zu befreien. aufzudecken. Die Geschichte des Lebens der Bürger in der ehe- Eine Aufgabe der Kommission muß folglich darin maligen DDR in ihren inneren Zusammenhängen und bestehen, diese Repressionsmechanismen darzustel- in ihrer Wechselbeziehung innerdeutsch und mit dem len und hierbei folgende Sachverhalte aufzuklären Umland ist eigentlich eine weitestgehend unbekannte und zu ergründen: Strukturen und Arbeitsweise des Geschichte. Helfen Sie mit, meine Damen und Herren, Ministeriums für Staatssicherheit in der Innen- und diese Geschichte ehrlich aufzuarbeiten, zu analysie- Außenwirkung; Repressionen durch die Organe der ren und damit transparent zu machen. Die F.D.P. ist Justiz, insbesondere Mißhandlungen und Haftbedin- dazu bereit. Es ist unsere Geschichte, ein Bestandteil gungen; Menschenrechtsverletzungen, selbstver der Geschichte des deutschen Volkes. 6722 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Jürgen Schmieder Danke. schiede gegenüber der DDR es dort auch gab, so viel (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU war andererseits an Analogien und Gemeinsamkeiten sowie bei Abgeordneten der SPD) vorhanden. Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte kann schon wegen der weltpolitischen Dimension der deutschen Einheit keineswegs nur als ein Problem der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der Ostdeutschen angesehen werden, und mitnichten ist Abgeordnete Gerd Poppe. sie gar ein den Ostdeutschen aufgezwungenes Pro- dukt einer westdeutschen Siegerpose. Ich wehre mich Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Präsiden- ganz entschieden gegen die anläßlich der Stasi- tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Akten-Diskussion betriebenen Verkürzungen und Geschichte hat das Urteil über die SED-Diktatur Verballhornungen, seien sie nun aus einer Verunsi- gesprochen. Jedoch mit der bloßen Feststellung des cherung heraus oder in demagogischer Absicht ent- Zusammenbruchs eines mehr als 40 Jahre aufrechter- standen, die dem Muster folgen: Der Wessi macht den haltenen Herrschafts- und Unterdrückungssystems Ossi platt. können wir nicht einfach zur Tagesordnung überge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der hen, sprich, den mühevollen Weg zur demokratischen PDS/Linke Liste) Erneuerung der neuen Bundesländer und zur Anglei- chung der Lebensverhältnisse in Ost- und West- Um ein deutsch-deutsches Problem handelt es sich deutschland gehen. Das können wir schon deswegen schon deswegen, weil sich beide deutsche Nach- nicht, weil es sich um einen Vorgang von weltpoliti- kriegsstaaten aus der gemeinsamen Vergangenheit scher Dimension handelt, in seiner Bedeutung bei der NS-Diktatur und des von dieser verursachten aller Unterschiedlichkeit allenfalls vergleichbar mit Weltkrieges und seiner Folgen ableiteten und sich dem Ende des NS-Regimes und dessen Folgen. überdies auch permanent aufeinander bezogen. Die West- und die Ostdeutschen sind, wenngleich auf Das Verschwinden der DDR von der politischen ganz unterschiedliche Weise, mit der Aufarbeitung Weltkarte ist ein Bestandteil des Niedergangs des der Nazi-Vergangenheit gescheitert. Die alten Ver- gesamten sowjetischen Imperiums, der Beendigung drängungsleistungen mögen auch heute noch so man- der Blockkonfrontation und des mit ihr verbundenen che daran hindern, sich allzu intensiv mit der Repres- politischen und militärischen Status quo. Für die sion in der DDR zu beschäftigen. Vielleicht kann nun Deutschen brachte der Zerfall des östlichen Imperi- aber die gegenwärtige Diskussion neue Impulse aus- ums die langersehnte, wenngleich etwas hastig voll- lösen, daß sich Deutsche in Ost und West offener als zogene Einheit, für die europäischen Völker des bisher auch jenem verdrängten Teil deutscher vormals sowjetischen Einflußbereiches immerhin die Geschichte zuwenden. Aussicht auf eine baldige Rückkehr nach Europa. Und selbst die Menschen in der Dritten Welt, so weit sie in (Beifall bei der SPD) ihrer großen Mehrheit auch von einem menschenwür- Ich erwähne dies nur als Möglichkeit, weil es ja auch digen Dasein noch entfernt sind, könnten nun, da sie nicht Gegenstand der heutigen Debatte ist. nicht mehr Spielball der geopolitischen Interessen zweier Supermächte sind und sich darüber hinaus im Durchaus aktuell scheint mir aber jene im Zusam- Westen eine zunehmende Sensibilisierung in Men- menhang mit der Rolle der Kirchen aufgeworfene schenrechtsfragen anzudeuten scheint, vielleicht brisante und für manchen hier im Plenum sicherlich neue Hoffnung schöpfen. auch unbequeme Fragestellung zu sein, ob denn nun Was jedoch im Herbst 1989 in Leipzig und in Berlin, zu allen Zeiten die bundesdeutsche Politik gegenüber in Prag und Budapest so friedlich begann, was schließ- der DDR so und nicht anders nötig und richtig gewe- lich in Moskau und Sankt Petersburg den Versuch sen sei, ob der DDR nicht zu lange eine Stabilität widerlegte, das poststalinistische System zu restaurie- zuerkannt wurde, die sie nicht besaß, ob es sich nicht ren, ist seitdem in eine lange Reihe gewaltsamer gelohnt hätte, eher und aufgeschlossener auf die Auseinandersetzungen eingemündet, die uns jetzt — wenn auch zahlenmäßig kleine — Opposition täglich aufs neue erschrecken und die uns allesamt, zuzugehen. Diese — so wird dem entgegengehal- gestandene Föderalisten, Demokraten und Politprofis ten — hätte sich erst im Zuge der Entspannungspolitik aus dem Westen ebenso wie die mitunter belächelten formieren können, da nur durch sie das Regime zu Amateure oder die mit leicht unwilligem Kopfschüt- einem moderateren Verhalten gegenüber Anders- teln bedachten Moralisten aus dem Osten, reichlich denkenden Anlaß gehabt hätte. hilflos aussehen lassen. Die jeweiligen Argumente sind hinlänglich be- Wollen wir den auf Grund der weltpolitischen kannt. Manche meiner Zweifel bleiben jedoch — so- Veränderungen entstandenen neuen Herausforde- wohl am roten Teppich für Honecker als auch an den rungen und Gefahren gerecht werden, wollen wir Versuchen der ideologischen Koexistenz. Von den verantwortungsvoll und in Kenntnis der Befürchtun- Zweistaatlichkeitsthes en mancher unserer potentiel- gen anderer Völker unsere Rolle als Deutsche neu len Bündnispartner will ich gar nicht erst reden. Ich bestimmen, so werden wir darin um so glaubwürdiger, will damit sagen: Die Untersuchung des Problems je offener und konsequenter wir mit unserer eigenen lohnt sich — ohne Blauäugigkeit, aber auch ohne Vergangenheit umgehen. Geschichtsfatalismus. Vielleicht vermittelt sie uns Einsichten über den Umgang mit heutigen Diktatu- Darüber hinaus kann uns vieles, was wir an analy- ren. Soviel zur deutsch-deutschen Dimension. tischer Arbeit zur Aufklärung der Strukturen und Mechanismen der SED-Diktatur leisten, den Blick für Sie werden feststellen, daß ich mit der Auflistung die Probleme Osteuropas öffnen. So viele Unter- der Probleme vom jeweils größeren und vielleicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6723

Gerd Poppe politisch bedeutsameren zum jeweils bescheideneren Überreaktionen sind ebenso zu bedauern wie die und für uns überschaubareren komme. Die notwen- mitunter zu vermutende bewußte Vernebelung von dige Einschränkung macht die Aufgabe, vor der wir Fakten. Neue Legenden entstanden, wie z. B. die von stehen, trotzdem nicht leicht. Der Teufel steckt der angeblichen Steuerung der Wende durch die bekanntlich im Detail. Aber ich schließe mich denje- Stasi. Unerträglich finde ich es, wenn die Opfer von nigen an, die sagen, die Aufgaben einer Enquete- einst nunmehr zu Denunzianten erklärt werden, Kommission sollten präzise formuliert und in einem einige Erfüllungsgehilfen des Regimes sich dagegen absehbaren Zeitraum abzuschließen sein. Eine Über- ihrerseits als Opfer darstellen. frachtung birgt das Scheitern in sich. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Niemand aber wird uns verwehren, die Umrisse des F.D.P.) Gesamtbildes im Hinterkopf zu bewahren, bevor wir Unerträglich finde ich es auch, wenn Stasitäter als uns der sorgfältigen Darstellung des Details zuwen- Kronzeugen aufgerufen werden, um je nach Interes- den. senlage andere zu be- oder entlasten, Wenn nun über die konkrete Aufgabenstellung der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Enquete-Kommission nachgedacht wird, so wird F.D.P.) natürlich vor allem vom Leben der Ostdeutschen die Rede sein, von den Herrschaftsstrukturen, denen sie wenn sie als glaubwürdig gelten, die von ihnen selbst unterworfen waren, von den Repressionsmechanis- angelegten Akten aber als unglaubwürdig men, den Opfern und Tätern, aber auch von den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Auswirkungen im Alltag und den Möglichkeiten, dem der SPD) scheinbar übermächtigen Apparat zu widerstehen. oder wenn sie sich andererseits unter Berufung auf Ich hoffe, Sie sind in allen Fraktionen mit mir der eine ihnen von anderen Tätern auferlegte Schwei- Meinung, daß aus Gründen der Sachkenntnis und der gepflicht weiterhin in ihren Villen verschanzen. elementaren Betroffenheit Abgeordnete und Sach- verständige aus den neuen Bundesländern im Ver- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der gleich zur prozentualen Zusammensetzung des Bun- F.D.P.) destages überproportional in der Enquete-Kommis- Die Fortsetzung der öffentlichen Auseinanderset- sion mitarbeiten sollten — zung darf nicht behindert werden. Jedoch sind ein- (Beifall bei der SPD) deutigere Feststellungen und zugleich eine sehr viel differenziertere Betrachtungsweise als bisher nötig. allen genannten deutsch-deutschen Gemeinsamkei- Nach der Durchsicht meiner mehr als 10 000 Blatt ten zum Trotz. umfassenden „Sammlung" in den letzten zehn Ich meine, daß es der Sache dient und daß wir einen Wochen darf ich sagen, daß das Stasi-Unterlagen- Anspruch darauf haben. Schließlich sind 1989 trotz Gesetz vorerst hinreichende Voraussetzungen für die aller Anpassung Hunderttausende aus ihren Nischen Aufarbeitung dieser Akten bietet. Es gibt keine zwin- gekommen und haben mit Hilfe derer, die in Ost- genden Gründe für eine schnelle Novellierung des europa viel eher als wir zum Protest fähig waren, mit Gesetzes, erst recht nicht für eine Schließung der Hilfe auch derjenigen, die mit den Füßen abstimmend Akten. dem Staat den Rücken kehrten, dazu beigetragen, daß (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der das nur scheinbar stabile System ohne nennenswerte F.D.P.) Gegenwehr in sich zusammenfiel. Wichtig ist aber die vollständige Umsetzung des Die gewaltlosen Revolutionäre des Herbstes 1989 Gesetzes, vor allem die schnellstmögliche Einsetzung haben eine wichtige Vorleistung für die heute mögli- des vorgesehenen Beirats und die Schaffung der che Analyse der Diktatur erbracht, indem sie deren Benutzerordnung. Hauptwerkzeug, das Ministerium für Staatssicherheit, hat ihre prinzipielle Eig- zerschlugen, auflösten, den größten Teil der Akten Auch die Gauck-Behörde sicherten und seit jener Zeit mit großer Energie die nung unter Beweis gestellt. Allerdings bedarf sie größerer Unterstützung, um die Flut der Anträge in Akteneinsicht für die Betroffenen forderten — an Runden Tischen, in Bürgerkomitees und in Parlamen- angemessener Zeit bewältigen zu können. ten. Wenn ich an dieser Stelle die ostdeutschen Die Akten selbst sind durchaus geeignet, zur Auf- Bürgerbewegungen ausdrücklich erwähne, so unter- klärung des gesamten Repressionsmechanismus bei- nehme ich damit nicht wie in letzter Zeit mehrfach zutragen. Sie beschreiben nicht die ganze, aber unterstellt wurde, einen Profilierungsversuch, den wir immerhin einen Teil der Wahrheit. Es handelt sich um auf Grund einer uns im vereinten Deutschl and dro- pedantische, meist in einer entsetzlich bürokratischen henden Bedeutungslosigkeit angeblich nötig hätten. Sprache verfaßte Faktensammlungen monströsen Weil es sich für uns nach wie vor um ein existentielles Ausmaßes, die zu ihrer Bewertung unbedingt der Problem handelt, ist das für uns vielmehr eine Frage Erinnerung der Betroffenen bedürfen. Erst dadurch der Selbstachtung und letztlich auch der Demokratie- werden sie für die Darstellung des Geschehenen fähigkeit. verwendbar. An dieser Stelle möchte ich einige Anmerkungen zu Unangebracht wäre es aber andererseits, die von den ersten Erfahrungen mit den Akten der Staats- den stalinistischen Denkschablonen der Täter ge- sicherheit machen. Es ist seit der Öffnung der betrof- prägten Fehlinterpretationen als Fälschungen anzu- fenen Akten einige Unruhe entstanden. Hysterische sehen. Die übergroße Bereitwilligkeit der vielen Hel- 6724 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Gerd Poppe fershelfer machte ein solches Vorgehen überflüssig. nackte Existenz, sondern um die Disziplinierung Entscheidend war auch nicht die Bezeichnung als durch Gewährung kleiner Privilegien sowie durch Inoffizieller Mitarbeiter, die Unterschriftenleistung deren Entzug. Mangelnde Anpassung wurde im all- oder die Annahme von Geld. Einzig entscheidend, gemeinen durch ein abgestuftes System von Schika- gemäß den Intentionen der Stasi, für meine Begriffe nen bestraft. Dazu gehörten beispielsweise die Ver- auch entscheidend für die heutige Bewertung war die hinderung einer angemessenen Ausbildung, der anhaltende Bereitschaft zur geheimgehaltenen Zu- Abbruch von Karrieren, Berufs- und Reiseverbote. sammenarbeit, Nun ist festzustellen, daß sich durchaus eine Mehr- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. heit in diesem Gefüge von Anpassung und Diszipli- sowie des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) nierung einrichtete. Wer will heute darüber richten? Zweifellos gelten in einer Diktatur andere Verhaltens- aus welchen Motiven auch immer. normen als in einer Demokratie. Die in den letzten Wochen in der Öffentlichkeit Aber gerade, weil das so ist, wundere ich mich in entstandenen Mißverständnisse und Spekulationen diesen Tagen häufig darüber, in welcher Weise Men- erweisen sich schon mit unserer heutigen Kenntnis als schen in den alten Bundesländern über eigenes völlig unnötig. Eine Versachlichung erscheint drin- Anpassungsverhalten in Extremsituationen spekulie- gend geboten. Ich habe die Hoffnung, daß die ren und wie sie daraus mitunter mehr Verständnis für Enquete-Kommission dazu beitragen kann. Insbeson- die kleinen und mittleren Täter ableiten als für die dere gilt dies für die Benennung der eigentlich Ver- Opfer. antwortlichen für die Bespitzelung und Unterdrük- kung. So unverzichtbar die vielen Zuträger für das (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Gesamtgefüge auch waren, verantwortlich für Maß- F.D.P.) nahme- und Zersetzungspläne waren die Offiziere des Ich finde, das ist ein fragwürdiges Gedankenexpe- Mf S riment. Nicht die Selbstzweifel an der eigenen Wider- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der standsfähigkeit werden die Westdeutschen dazu brin- F.D.P.) gen, die Ostdeutschen besser zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil. und ihre Auftraggeber in den verschiedenen Ent- scheidungsgremien der SED. Das eigentliche Phänomen, das letztlich auch den Herbst 1989 ermöglichte, ist die Widerstandsfähigkeit (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der der Ostdeutschen trotz insgesamt 56 Jahren Diktatur, F.D.P.) auch wenn sie vorwiegend nur in Form des privaten Die Entscheidungsmechanismen zur Durchsetzung Rückzugs oder einer mühsam verschleierten Verwei- des Machtmonopols der SED in allen gesellschaftli- gerung bestand. chen Bereichen harren bis heute der detaillierten (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Aufdeckung. Vor allem hierin sehe ich eine wesentli- F.D.P.) che Aufgabe der Kommission. Schon die uns bisher vorliegenden Stasi-Akten Neben der Analyse der innerparteilichen Hierar- belegen eindrucksvoll die Vielfalt solcher Wider- chien kommt es darauf an, die formelle und perso- standsformen bis hin zu beeindruckenden Versuchen nelle Entscheidungsgewalt des SED-Apparates auf des aufrechten Ganges. allen staatlichen Ebenen sowie in der Wirtschaft darzustellen und zu verdeutlichen, in welcher Weise Wir waren kein Volk von Widerständlern, aber noch sie alle gesellschaftlichen Bereiche einschloß, von den weniger eines von Denunzianten. repressiven Institutionen der Staatssicherheit, der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Justiz, der Polizei, der Armee, des Strafvollzugs über F.D.P.) ebe, über das Gesundheits- und Bildungswe- die Betri Die Akten beschreiben nicht die Allmacht der sen bis hin zum Kindergarten. Staatssicherheit, sondern die lange Geschichte ihres Zu untersuchen sind die Methoden der politischen Scheiterns. Schon um dieses Nachweises willen müs- Indoktrination u. a. mit Hilfe der Blockparteien, der sen sie geöffnet bleiben. Gewerkschaften und der Massenorganisationen. Die (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Abhängigkeit sämtlicher Institutionen von den Ent- F.D.P.) scheidungen des SED-Apparats muß untersucht und dokumentiert werden, ebenso die besondere Rolle der Zur Aufarbeitung der Geschichte der SED - Diktatur Ideologie als Herrschaftsinstrument, transportiert u. a. gehört zwingend die Darstellung ihrer Grenzen. Des- über die Massenmedien, die Bildungseinrichtungen, halb müssen auch das Alltagsleben, die Bedeutung den staatskonformen Kunst- und Kulturbetrieb. der Privatsphäre, die Rolle von Individuen und Grup- pen und der Umgang des einzelnen mit der Macht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gezeigt werden. Die Prüfung konkreter Fallbeispiele SPD und der F.D.P.) könnte dabei den zweifellos erheblichen Aufwand Es wird vor allem auch darum gehen, die offenen minimieren. Überhaupt könnten wir uns zur Arbeits- und verdeckten Methoden der Repression offenzule- methodik vorstellen, daß parallel zur Analyse der hier gen. Für das Gros der Bevölkerung war die mittelbare angedeuteten grundsätzlichen Themen Untersu- Unterdrückung erlebbarer und wirksamer als die eher chungsgruppen zur Behandlung exemplarischer Vor- als exotisch angesehene unmittelbare Verfolgung gänge in der DDR-Geschichte gebildet werden. Damit durch Stasi und Justiz. Meist ging es nicht um die könnte eine möglichst große Anschaulichkeit der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6725

Gerd Poppe Problemfelder erreicht werden, was die öffentliche Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Diskussion auch schon vor Beendigung der Arbeit der lenkt uns nicht ab von den aktuellen Aufgaben der Kommission erleichtern und möglicherweise schon in Vollendung der deutschen Einheit, sondern schafft einem relativ frühen Stadium der Arbeit Anregungen erst eine ihrer unabdingbaren Voraussetzungen: die für das Verfahren der Gesetzgebung wie auch für die Erlangung des inneren Friedens. Arbeit der Justizbehörden liefern könnte. Schönen Dank für die Aufmerksamkeit. Derartige Einzeluntersuchungen sollten sich so- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der wohl auf die frühe DDR-Geschichte beziehen, z. B. auf F.D.P.) die politischen Prozesse der fünfziger Jahre, die Zwangskollektivierung oder auch die Zwangsum- siedlung von Bewohnern der grenznahen Gebiete, Präsident Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer Kurzintervention hat nach der ersten Runde der Abge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ordnete Duve. der SPD) als auch auf die jüngere Geschichte, z. B. die Behand- Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin! Meine lung von denjenigen, die einen Antrag auf Ausreise Damen und Herren! Ich beziehe mich auf die Inter- stellten, möglicherweise im Zusammenhang mit den vention des Herrn Bundeskanzlers und auf den Zorn, Ereignissen im Januar und Februar 1988 infolge der den ich mir während seiner Rede anscheinend zuge- Luxemburg-Liebknecht-Demonstration. zogen habe. Hier findet sich vielleicht schon eine Erklärung für (Zuruf von der CDU/CSU: Zu Recht!) den späteren Zusammenbruch des Regimes. Darüber — Hören Sie mir doch bitte zu. hinaus würde eine große Gruppe von Menschen (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Hätten Sie angesprochen, deren Handeln auf die Untrennbarkeit zugehört, hätten Sie auch keinen Zorn der Geschichte der beiden deutschen Staaten ver- gehabt!) weist, und es würde zugleich der Zusammenhang Es hat 1982/83 keine Wende in der Deutschland- zwischen der Aufgabe der Kommission und der unmit- politik gegeben. telbaren Betroffenheit einzelner Menschen deutlich. (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Le Soll die Arbeit der Enquete-Kommission- erfolg- gende!) reich sein, so müßte sie sich aus zwei essentiellen Wir Deutschen können dankbar dafür sein, daß es entwickeln. Die erste lautet: Grundvoraussetzungen diese Wende nicht gegeben hat. Die Geschichte des SED-Staates ist nicht hinreichend beschreibbar, wenn sie sich vordergründig auf frühe- (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Noch eine res Herrschaftswissen bezieht, sondern nur, wenn sie Legende!) aus der Sicht der Betroffenen nachvollziehbar wird. Wir haben großen Respekt davor gehabt, daß Sie sich Die zweite Voraussetzung: Die Arbeit der Kommission in die Kontinuität der Deutschlandpolitik Willy kann nicht isoliert von anderen Formen der Aufarbei- Brandts gestellt haben. Das war für uns alle sehr tung betrieben werden. Schlußfolgerungen aus der wichtig. Stasi-Akteneinsicht, wissenschaftliche Forschung, (Beifall bei der SPD) rechtsstaatliche Verfahren, die vielfältigen Formen von bürgernahen Initiativen und Foren, die Arbeit von Dieser Fragestellung galt mein Zwischenruf, Betroffenenverbänden und die parlamentarische Ar- obwohl ich gesagt habe: Und Sie standen, Herr beit sollten aufeinander Bezug nehmen und sich Bundeskanzler, damit in der Tradition Willy Brandts. ergänzen. — Wir haben großen Respekt gehabt, meine Kollegen von der Union, für den Weg, den Sie von der Ableh- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies nung Helsinkis zu dieser Kontinuität zurückgelegt loch] [SPD]) haben. Davor haben wir Respekt. Dieser Respekt bleibt auch. Aber wir haben keinen Respekt vor Ich bin mir darüber im klaren, daß schon der hier nur Versuchen, Geschichte jetzt umdeuten zu wollen. Das angedeutete Katalog möglicher Aufgaben die Kapazi- würde uns allen schaden. tät einer Enquete-Kommission bei weitem übersteigt. Die Überwindung parteipolitischer und eventuell (Beifall bei der SPD) noch vorhandener Ost-West-Barrieren vorausgesetzt, sollte uns jedoch eine sinnvolle Auswahl von Themen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt gelingen. der Abgeordnete Dr. Wolfgang Schäuble. Meine Damen und Herren, das Vorhaben einer umfassenden Aufklärung und Erneuerung verpflich- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsiden- tet uns dazu, die weißen Flecken der jüngeren deut- tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich schen Geschichte so vollständig wie möglich auszufül- werde auf die Kurzintervention des Kollegen Duve bei len und zugleich die Flecken auf den weißen Westen passender Gelegenheit noch eingehen. der Täter sichtbar zu machen. Der Deutsche Bundes- tag wird seinen Beitrag dazu leisten. Wenigstens dies (Zuruf von der SPD: Das war ja zu erwar schulden wir den Opfern, in dem schmerzlichen ten!) Bewußtsein, daß volle Gerechtigkeit für sie immer — Dafür führen wir ja Debatten, damit wir auf das unerreichbar bleiben wird. eingehen, was der Vorredner sagt. Wenn Sie das nicht 6726 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Wolfgang Schäuble wollen, sollten Sie eigentlich parlamentarische Debat- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Schäuble, ten nicht führen wollen. gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Lassen Sie mich an der Stelle nur eines sagen, Herr Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Nein, Frau Kollege Duve. Es gibt vielleicht schon einen Unter- Präsidentin, ich möchte im Augenblick zum Thema schied, nämlich den, daß die Union an dem Ziel der kommen. Aber ich bitte doch, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sich nicht darüber zu Einheit in Frieden und Freiheit in diesen 40 Jahren, auch in den 80er Jahren, festgehalten hat beklagen, daß ich auf das eingehe, was der Kollege Brandt und was der Kollege Duve hier gesagt haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Das muß wohl noch möglich sein. und daß dieses nicht bei allen Mitgliedern Ihrer Partei Gleichwohl finde ich, daß wir uns bewußt sein und Ihrer Fraktion in gleicher Weise der Fall gewesen müssen, daß wir diese Debatte in einer Zeit führen, in ist, um eine sehr zurückhaltende Formulierung zu der vielfältige Verletzungen spürbarer werden als gebrauchen. zuvor, Verletzungen aus eben diesen 40 Jahren tota- (Beifall bei der CDU/CSU) litärem Sozialismus und Teilung und auch als Folge des schnellen Wechsels zur Einheit, zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialer Marktwirtschaft, wie Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Schäuble, wir sie in diesen 40 Jahren im Westen entwickelt gestatten Sie eine Zwischenfrage? haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat nachher Bei den Diskussionen, die sich aus dem Zugang zu noch Redezeit!) den Stasi-Akten ergeben, zerfließen die Grenzen zwischen Tätern und Opfern. Während auf der einen Seite das System der Stasi-Bespitzelung in seiner (CDU/CSU): Herr Kollege Dr. Wolfgang Schäuble konkreten menschlichen Ausformung immer bedrük- Schmude, bitte sehr. kender sichtbar wird, wächst auf der anderen Seite auch die Einsicht, daß nicht jeder Kontakt mit dem Dr. Jürgen Schmude (SPD): Vielen Dank, Herr System schon zu einer Stigmatisierung führen darf Schäuble. Würden Sie denn wenigstens zugestehen, und daß die Motive und Zwänge zu solchen Kontakten daß bei allen Mitgliedern der SPD und ihrer Fraktion vielfältig waren und eben die ganze Skala zwischen Übereinstimmung darin bestand, daß wir die Deut- Edelmut und Niedertracht ausfüllen konnten. schen in beiden getrennten Staaten immer mehr Mich bewegt übrigens auch die Sorge, daß bei der zusammenführen, daß wir das weitere Umsichgreifen medienwirksamen Konzentration auf einige wenige der Teilung und Trennung nicht zulassen durften und Personen, auf einige wenige Fälle von Opfern und daß wir an der einheitlichen deutschen Nation als Tätern sich eine Mehrheit vor allem der Menschen in einer politischen Lebenswirklichkeit festhalten und den östlichen Bundesländern zunehmend unbeach- diese stärken mußten? Würden Sie das bitte zugeste- tet, in ihrem persönlichen Schicksal vergessen sehen hen? könnte, über 40 Jahre ausweglos unter einem totalitä- ren System gelebt zu haben, in dem Bestreben, das Beste daraus zu machen, unter dem Zwang, sich (CDU/CSU): Herr Kollege Dr. Wolfgang Schäuble anzupassen, für die eigene Lebensplanung oder für Schmude, das ist wahr, aber es ist nicht die ganze die Zukunftsperspektiven der Kinder Kompromisse Wahrheit. Sie haben eben auch die eine deutsche einzugehen, aber eben auch in dem Willen, so anstän- Staatsangehörigkeit zur Disposition gestellt. dig zu bleiben, wie es uns Menschen allgemein (Beifall bei der CDU/CSU) gegeben und möglich ist. Sie haben die Wiedervereinigung als Lebenslüge Gerät nicht über diesem Schicksal einiger weniger, erklärt. die jetzt im Vordergrund öffentlicher Aufmerksamkeit (Beifall bei der CDU/CSU) stehen, das Schicksal der vielen anderen zunehmend in Vergessenheit, die zumal in den ersten Jahren und Sie haben nach der Öffnung der Mauer gesagt, man Jahrzehnten unter der SED-Diktatur im Osten solle jetzt nicht von Einheit und solchem reden, Deutschlands zu leiden hatten? Ich meine das Schick- (Beifall bei der CDU/CSU) sal z. B. derer, die zwangsweise umgesiedelt, zwangs- auch nicht von der Hauptstadt Berlin. Deswegen ist weise enteignet wurden, das Schicksal der Bauern, die die ganze Wahrheit eben komplizierter, als sie sich in in die LPGs gepreßt wurden, das Schicksal der Ihrer Zwischenfrage erschließt. zwangskollektivierten Gewerbetreibenden und (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) Handwerker in den Städten. Wie viele Hausbesitzer wurden auf kaltem Wege enteignet, indem man ihnen Aber, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, systematisch die Mittel vorenthielt, um ihr Eigentum ich würde gerne dafür werben, daß wir diese Debatte instand halten zu können! Wie vielen Menschen hat nicht nur im Sinne einer Fortsetzung unserer west- das SED-Regime die Möglichkeit genommen, sich ihr deutschen politischen Auseinandersetzungen füh- Leben nach ihren eigenen Vorstellungen einzurich- ren. ten, indem es ihnen etwa die gewünschte Ausbildung, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — den gewünschten Beruf reglementierte oder verwei- [SPD]: Das machen Sie! — gerte! Wie vielen Menschen hat dieser Zwangsstaat Abg. Dr. Jürgen Schmude [SPD] meldet sich das Recht genommen, sich frei zu ihrer Konfession zu zu einer weiteren Zwischenfrage) bekennen und danach zu leben! Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6727

Dr. Wolfgang Schäuble Deshalb dürfen nach meiner Überzeugung über den und auf die innerdeutschen und internationalen noch so spektakulären Einzelschicksalen die nach Beziehungen. Hunderttausenden zählenden Fälle der Unterdrük- Es scheint ja, als würde derzeit das Ausmaß von kung, Benachteiligung und Diffamierung nicht ver- Elend und Unterdrückung erst richtig sichtbar: die gessen werden, die sich im täglichen Leben abspiel- Perfektion des Bespitzelungssystems, der Mißbrauch ten, das Hundertausendfache alltägliche Unrecht der Psychiatrie, um Unliebsame zu vernichten, unter diesem Regime. Zwangsumsiedlungen, Zwangsadoptionen, die men- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schenverachtende Behandlung von Frühgeburten Wird denn die Diskussion zwischen denen, die die oder die Todestrakte in Bautzen, um nur einige der damalige DDR vor dem Mauerbau 1961 und wieder Perversionen eines der Menschenwürde des Individu- zunehmend in den 80er Jahren verlassen haben, und ums nicht verpflichteten Systems zu nennen. denen, die blieben, wirklich geführt — eine Diskus- Aber sind alle diese schrecklichen Erkenntnisse sion, von der jeder weiß, wie notwendig sie ist, der sich wirklich so neu? Hatten wir das meiste nicht wenig- noch erinnert, wie viele zwischen Gehen und Bleiben stens in Umrissen auch schon in früheren Jahren schwankten oder sich Vorwürfe machten oder gehört und wissen können, wenn wir es denn wissen machen lassen mußten, weil sie die Chance vor dem und glauben wollten? Ist es vielleicht also so, daß Mauerbau nicht genutzt hatten? manches an Wahrheiten in den letzten Jahren und Jahrzehnten zunehmend verdrängt wurde, und zwar Manche Diskussion, die derzeit scheinbar zw ischen Ost und West geführt wird, ist in Wahrheit Auseinan- in beiden Teilen Deutschlands gleichermaßen? dersetzung zwischen Menschen, die gingen, und (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Vorsichtig ausge Menschen, die blieben. drückt!) Schon deshalb darf diese Debatte nicht nur zwi- Verdrängt, vielleicht weil in den 70er und 80er Jahren schen den Deutschen im Osten geführt werden, die Scheußlichkeiten nach Zahl und Brutalität tatsäch- obwohl ich Ihnen, Herr Kollege Poppe zustimme, daß lich weniger wurden, wie überhaupt in der öffentli- Sie sich in dieser Debatte natürlich besonders enga- chen Diskussion vielleicht die 80er Jahre zu einseitig gieren müssen. Ich nehme an, daß Sie selber sagen im Vordergrund stehen, obwohl die größeren Verlet- müssen, daß Sie es mit mir zusammen als einen zungen ja schon lange zuvor zugefügt wurden? Aber Skandal empfinden, daß während Ihrer Rede,- Herr verdrängt vielleicht auch, weil es unbequem, inoppor- Kollege Poppe, nicht einmal ein einziges Mitglied der tun war, die Scheußlichkeiten zur Kenntnis zu neh- Gruppe Bündnis 90 bei dieser Debatte anwesend men, auszusprechen, weil von innen wie von außen gewesen ist. der Versuch unternommen wurde, auf Besserung der (Beifall bei der CDU/CSU) Verhältnisse hinzuwirken? Das hat mit dem Anspruch Ihrer Kolleginnen und Dazu gab es ja kaum eine verantwortbare Alterna- Kollegen nichts mehr zu tun. Auch das muß hier tive, solange jedenfalls Teilung und totalitärer Sozia- ausgesprochen werden, weil es zur Wahrheit lismus auf Grund der weltpolitischen Konstellation gehört. einstweilen unabänderlich zu sein schien. Aber es könnte schon sein, daß dabei diejenigen, die immer (Gerd Poppe [Bündnis 90/GRÜNE]: In der noch auf menschenverachtendes Unrecht hinwiesen, nächsten Legislaturperiode werden wir mehr leiser oder weniger gehört wurden. sein!) Deshalb gilt es um so mehr, sorgfältig und wahrhaf- — Ja gut, aber auf diese Weise werden Sie nicht mehr, tig zu prüfen und vor allzu eilfertiger Überheblichkeit sondern überhaupt nicht mehr dasein; denn nur reden zu warnen. Ich will einige Bemerkungen dazu beitra- und überhaupt keinen mehr zum Zuhören zu stellen gen: Einmal zu den Wirkungen, die von der Deutsch- geht in parlamentarischen Debatten auch nicht. landpolitik der Bundesrepublik Deutschland ausgin- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen, weil wir uns ja auch mit den wechselseitigen Einflüssen im geteilten Deutschland beschäftigen, Jedenfalls müssen auch wir im Westen uns an dieser und zum anderen zu der jetzt intensiv diskutierten Debatte beteiligen, weil wir ebenfalls betroffen sind. Rolle der Kirchen. Die Teilung war unser gemeinsames Schicksal. So einfach konnte sich keiner selbst aussuchen, ob er in Die Politik der Bundesregierung, für die ich von Freiheit oder Unfreiheit zu leben hatte. Es ist unsere 1984 bis 1989 als für die deutsch-deutschen Beziehun- gemeinsame Vergangenheit, um die wir uns gemein- gen zuständiger Chef des Kanzleramtes Verantwor- sam mühen, unsere gemeinsame Last, unsere gemein- tung tragen durfte, war, die Folgen der Teilung zu same Verantwortung. Nur wenn wir das begreifen lindern, Verbindungen im geteilten Deutschland auf- und uns danach verhalten, wird aus dieser Diskussion recht zu erhalten, möglichst viele Begegnungen zwi- auch Einheit wachsen. schen Menschen aus beiden Teilen Deutschlands zu ermöglichen. Das konnte nur in Zusammenarbeit mit Wir wollen eine sachbezogene Aufarbeitung dieser denen erreicht werden, die für die Menschen in der Vergangenheit, nicht die Jagd nach Enthüllungen. damaligen DDR Verantwortung trugen, und das bleibt Nicht die DDR als Skandalgeschichte soll im Vorder- meines Erachtens auch aus heutiger Sicht im Ziel wie grund stehen, sondern die systematische Aufarbei- in der Methode richtig. tung, Aufklärung der Zusammenhänge der ehemali- gen DDR und ihre Auswirkungen auf Personen, Das war übrigens auch außergewöhnlich erfolg- gesellschaftliche Organisationen, das Staatsgefüge reich, wenn ab Mitte der 80er Jahre — ausgehend von 6728 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Wolfgang Schäuble den Gesprächen des Bundeskanzlers Kohl, die er im geraten, Honecker im September 1987 so zu empfan- März 1985 beim Amtsantritt Gorbatschows in Moskau gen, wie es geschah. mit Honecker führte, übrigens umgesetzt in meinen Ich kann auch heute die Gefühle der Resignation Verhandlungen mit Schalck-Golodkowski — statt ein und der Verbitterung vieler Opfer des SED-Unrechts- paar tausend jüngerer Menschen jedes Jahr Millionen regimes gerade in jenen Tagen gut verstehen. Ich aus der damaligen DDR zum Besuch der Bundesrepu- bleibe dabei, daß dies in der Abwägung aller blik Deutschland reisen konnten. Was das am Ende Gesichtspunkte pro und kontra richtig war, etwa weil zum Wandel in der damaligen DDR im Herbst 1989 mit Honeckers Besuch die Öffnung im Reiseverkehr und zur Einheit Deutschlands beigetragen hat, sollte unumkehrbar wurde oder weil als Gegengewicht zu gewiß auch nicht so leicht unterschätzt werden. Fahne und Hymne eben jene auch im Fernsehen der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. DDR live übertragene unvergeßliche Rede Helmut sowie bei Abgeordneten der SPD) Kohls stand. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dem entsprach im Prinzip auch vieles an den Bemühungen, insbesondere in der evangelischen Kir- Schonungsloseres zum Unrecht von Teilung und che. Sie war von Teilung und totalitärem Sozialismus Unterdrückung mußte sich Honecker bis zu seinem — und ist es sinngemäß auch in der aktuellen Diskus- Sturz niemals anhören. sion — stärker be troffen, als die katholische Kirche, Die Regierung Kohl jedenfalls hielt am Ziel der die in ihrer Diasporasituation leichter abgrenzbar war, Einheit in Freiheit fest, auch wenn sie dafür als für sich selbst wie für das totalitäre System. Ich will mir reaktionär gescholten wurde. Über die Geraer Forde- mein Urteil über die unterschiedliche Rolle und rungen war mit uns nicht zu verhandeln. Wir waren in Betroffenheit beider Kirchen nicht anmaßen. Aber wer den Grundsatzpositionen unverrückbar fest. Viel- sich damit beschäftigt, darf gewiß nicht übersehen, leicht haben wir gerade deshalb in der praktischen daß die evangelische Kirche schon wegen der konfe- Zusammenarbeit mehr erreicht, als es andere und als sionellen Grundstruktur mehr Kontakte im geteilten es insbesondere viele Sozialdemokraten für möglich Deutschland aufrechterhielt, was Dienst an der Ein- hielten. heit war und bleibt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der ordneten der F.D.P.) SPD) - Die SPD jedenfalls muß sich fragen, was aus Die evangelische Kirche schuf auch Freiräume für Deutschland geworden wäre, wenn wir eine eigene viele, die nicht immer nur aus Glaubensgründen DDR-Staatsangehörigkeit akzeptiert hätten. solche Freiräume bei der Kirche suchten. Daß damit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge die Gefahr wechselseitiger Ansteckung zwischen Kir- ordneten der F.D.P.) che und sozialistischem System größer war, ist wohl auch kaum zu bestreiten, aber das galt eben in beiden Oder wie wollen Sie den Opfern des SED-Unrechts Richtungen. Jedenfalls haben das auch die Machtha- heute erklären, daß sich sozialdemokratisch regierte ber der damaligen DDR so gesehen. Deshalb war die Bundesländer seit Januar 1988 an den Kosten für die evangelische Kirche mehr als andere Objekt von Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter nicht mehr Infiltration und Bespitzelung. beteiligt haben? Für jeden, der sich an einer solchen Politik beteiligte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge — ob er nun aus dem Westen oder aus der DDR kam —, ordneten der F.D.P.) war das immer eine Gratwanderung, vielleicht zwi- Sie reden immer von anderen Zeiten, aber Sie haben schen Wandel und Annäherung. So wird sich jeder in der Endphase der Geschichte der DDR die größten prüfen müssen, ob die notwendige Balance auch Fehler in Ihrer Deutschlandpolitik gemacht. immer eingehalten wurde, ob insbesondere die grundsätzlichen Unterschiede im Werteverständnis (Beifall bei der CDU/CSU) wie im Ziel hinreichend deutlich bewußt blieben, Ich will hier wirklich keine parteipolitische Ausein- wenn man sich mit den Mächtigen des sozialistischen andersetzung führen. Systems einließ, um eine mißliche Lage zu verbessern, (Lachen bei der SPD) solange man sie denn nicht grundsätzlich beseitigen konnte, ob man sich mit Teilung und Sozialismus nicht Nur, wenn wir uns unter dem Gebot der Wahrheit doch abgefunden hatte, ob der Wunsch, Linderung für bezüglich der Geschichte von Teilung und SED- die Opfer zu erreichen, bestimmend blieb oder ob Unrecht beschimpfen, dann kann man die Unter- diejenigen, die vom Regime verfolgt wurden, nicht schiede nicht so wegwischen; denn das ist gelogen eher als störend, lästig empfunden wurden. und nicht die Wahrheit. Ich habe z. B. die Prozessionen westdeutscher Poli- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tiker zu Honecker, etwa anläßlich der Leipziger Die Aufarbeitung der Geschichte von SED-Diktatur Messe, immer eher als peinlich empfunden. und Teilung ist nötig, um Wirkungszusammenhänge zu verstehen, Verhaltensweisen zu bewerten, Maß- (Beifall bei der CDU/CSU) stäbe zu finden und vor allem auch um Verantwort- Auch bei dem Empfang für den Volkskammerpräsi lichkeiten und Betroffenheiten offenzulegen. Das denten Sindermann war es mir der Ehre eher zuviel. Unrecht von über 40 Jahren kann nicht oder allenfalls Umgekehrt habe ich dem Bundeskanzler Helmut Kohl nur sehr unvollkommen wiedergutgemacht werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6729

Dr. Wolfgang Schäuble Aber die Feststellung von Unrecht, Opfer und Verant- vollzogen hat, daß schon deshalb ein einfacher wortung kann immerhin heilsam wirken. Vielleicht Schlußstrich nicht gezogen werden kann. Das schafft wird so auch das Verständnis wachsen oder erhalten gewiß auch zusätzliche Konflikte. Nicht jeder in werden, wie unter den Bedingungen von totalitärem Deutschland kann so einfach ertragen, daß etwa den Sozialismus und Teilung die Menschen in Deutsch- Hauptrepräsentanten des früheren Unrechtregimes land lebten: zwischen Anpassung und Widerstand in heute im wesentlichen der Prozeß nur wegen Verun- Zeiten weltpolitischer Konfrontation und in Zeiten der treuung von SED-Vermögen gemacht werden soll Entspannung. Die Einsicht, wie man sich damit in Ost (Peter Conradi [SPD]: Nicht einmal das!) und in West arrangiert hat, kann auch Gemeinschaft stiften, kann helfen, die Teilung zu überwinden. oder auch daß etwa Herr Modrow im frei gewählten Parlament des vereinten Deutschlands sitzt, Auch die Justiz, die Strafgerichtsbarkeit, muß ihren Beitrag zur Aufarbeitung leisten. Allerdings wissen (Peter Conradi [SPD]: Ihr Briefpartner!) wir und müssen immer wieder sagen, daß die Mög- oder gar ein Vertreter der PDS im Brandenburgischen lichkeiten im Rechtsstaat sehr begrenzt sind, mehr Landtag Vorsitzender des Untersuchungsausschusses jedenfalls, als die Opfer von Unrecht und Unterdrük- in Sachen Stolpe ist. kung verstehen können. Aber so wie die Grenzen des Rechtsstaats unbedingt einzuhalten sind, so müssen (Freimut Duve [SPD]: Oder Herr Schalck am auch die Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen Tegernsee weilt!) ausgeschöpft werden. — Für das Verfahren gegen Herrn Schalck-Golod- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kowski ist die Staatsanwaltschaft im Lande Berlin der F.D.P.) zuständig. Da Strafverfolgung nach dem Grundgesetz grund- (Peter Conradi [SPD]: Geben Sie Ihren Brief sätzlich Ländersache ist, finde ich nicht in Ordnung, heraus!) wie sich die Bundesländer insgesamt bei der Verfol- Ich verweise Sie auf die Aussagen der Frau Justizse- gung von Regierungs- und Vereinigungskriminalität natorin Limbach, SPD. — Im übrigen zeigen Ihre verweigern bzw. wie sie das mit dieser Aufgabe allein Zwischenrufe nur, daß Ihnen an einer ernsthaften überforderte Land Berlin im Stich lassen. Erörterung der Probleme nicht sehr gelegen ist, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Sie sie eher fürchten. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zu dem Ausschöpfen der rechtsstaatlichen Grenzen Ich jedenfalls frage mich, wie es auf viele Menschen gehört für mich auch, daß wir gesetzgeberisch klar- wirken muß, wenn im Brandenburgischen Landtag im stellen, daß die Verjährung der Strafverfolgung von Untersuchungsausschuß in Sache Stolpe ein Mitglied - Unrecht gehemmt war, solange eine Verfolgung SED der PDS Vorsitzender ist. während des Bestehens der DDR praktisch nicht stattfand. Ich habe den historischen Ablauf gelegentlich als unvollendete Revolution bezeichnet. Man könnte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch sagen: unvollkommene Revolution. Zu den Der Prozeß der politischen wie der strafrechtlichen damit verbundenen Verwerfungen gehört auch, daß Aufarbeitung des SED-Unrechts ist zusätzlich kompli- der Umschwung seit Herbst 1989 zumindest nach ziert wegen des historisch ganz einzigartigen Prozes- eigenem Verständnis und in der Wahrnehmung der ses, in dem SED-Regime und Teilung überwunden Medien wesentlich von vielen mitgestaltet wurde, die wurden: von der Fluchtbewegung über Ungarn und sich zuvor nicht unbedingt im Widerstand oder in der CSFR zu den massenhaften Protestkundgebun- fundamentaler Opposition zu Sozialismus und Tei- gen, die zunächst teilweise auch als Alternative zur lung befunden hatten. Massenflucht verstanden wurden, zur Einsicht in die Ich habe den Konflikt zwischen Bleiben und Gehen, Unhaltbarkeit der Situation in der herrschenden SED den viele Menschen in der früheren DDR aushalten mit dem Sturz Honeckers und dem Übergang zu Krenz mußten, schon erwähnt. Manche, die geblieben und Modrow, wobei ersterer eine Episode blieb und waren und sich im Herbst 1989 engagierten, hingen aus letzterem eine Übergangsregierung bis zu den an der Eigenstaatlichkeit der DDR, glaubten an die freien Wahlen am 18. März wurde, nach denen dann Reformierbarkeit von Sozialismus und DDR. Das gab die erste und einzige demokratisch legitimierte Volks- es übrigens in Ost wie in West gleichermaßen. Der vertretung der ehemaligen DDR nicht etwa die alte Kollege Brandt hätte dies natürlich auch erwähnen Ordnung mit einem Federstrich für null und nichtig müssen. erklärte, sondern sich schrittweise an ihre Änderung machte. Einen eigentlich revolutionären Akt hat es auf Sie waren dann überrascht, wie schnell aus dem diesem Weg nicht gegeben. Das ist nicht zu kritisie- Streben nach Reformen und Freiheit auch der unwi- ren, weil der Weg zu Einheit und Freiheit nur so derstehliche Wunsch nach Einheit wurde, wie sich der unblutig und wahrscheinlich überhaupt nur so gelin- Satz „Wir sind das Volk" in den Ruf „Wir sind e i n gen konnte. Volk" weiterentwickelte und wie sich in den ersten freien Wahlen am 18. März 1990 eine klare Mehrheit (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der für die Grundzüge der im Westen entwickelten Ord- SPD) nung entschied. Ich habe für solche Betroffenheit auch Aber die Beschäftigung mit der Vergangenheit wird Verständnis, finde aber, daß, wer sich für Reformen in schwieriger, wenn sich der Übergang so fließend der damaligen DDR engagierte, als die Zeit reif 6730 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Wolfgang Schäuble schien, deswegen noch nicht einen Monopolanspruch die SED war. Und davon, welche Rolle viele SPD- auf Widerstand und Verfolgtsein hat. Funktionäre und -Mitglieder aus Ost und West bei der Vereinigung von SPD und KPD 1946 auch aus freien (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Stücken spielten, ist in jener Blockparteien-Diskus- ordneten der F.D.P.) sion überhaupt nicht mehr die Rede gewesen. Auch die Wende selbst im Herbst 1989 ist in der damaligen DDR nicht nur von der Bürgerbewegung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erzwungen worden, sondern hat gewiß auch viel mit Wieviel Entmutigung der Übersiedlungswelle und damit auch mit unserer Politik des Offenhaltens und der Nichtausgrenzung zu (Peter Conradi [SPD]: Eine Beleidigung der tun. Opfer ist das!) (Beifall bei der CDU/CSU) — Herr Kollege Conradi, hören Sie einmal zu; denken Sie mal an die Opfer —, Das alles schafft Verletzungen und macht den Prozeß der Aufarbeitung so schwer, wobei umgekehrt (Zuruf des Abg. Wolfgang Thierse [SPD] — auch hinzugehört, daß mit dem schnellen Wandel und Freimut Duve [SPD]: Sie sprechen von Stil! — der Herstellung staatlicher Einheit die Sache noch Günter Rixe [SPD]: Er hat doch keinen nicht erledigt ist, sondern die Bereitschaft, die Teilung Stil!) zu überwinden, von uns allen, in Ost wie in West, wieviel Entmutigung, Herr Thierse, mag es für die fortdauernd gefordert wird. Menschen in der damaligen DDR bedeutet haben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Weitere Zurufe von der SPD) Noch stehen wir bei der Aufgabe, Unrecht und Teilung zu überwinden, eher am Anfang. Deshalb gilt — ich sage es so lange, bis Sie zuhören —, daß der es zunächst, auch für die Enquete-Kommission, die Sozialismus in der DDR im Westen in manchen politi- richtigen Fragen zu stellen. schen wie in vielen sogenannten intellektuellen Krei- sen so viel verständnisvolle Sympathie fand. Einiges lehren uns die Erfahrungen der letzten Jahre schon heute: Gebrauchte Menschen, wie Lothar (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) de Maizière gesagt hat, im Sinne unserer Vergangen- Zu den Erfahrungen der letzten Zeit gehört auch, heit sind wir alle, in Ost wie in West. - daß sich keiner leicht der Eigengesetzlichkeit unserer Schon deshalb war übrigens die Blockflöten-Dis- westlichen Medienwelt entzieht, die ja Verführung kussion, wie sie von vielen Linken ab 1990 geführt genauso wie grausame Betroffenheit beinhalten kann. wurde, voreilig, überheblich, ungerecht. Manche, die heute bitter darüber klagen, haben gestern noch sehr den Glanz von Kameras und Schlag- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zeilen genossen. Deshalb ist es unwahr, wenn jetzt in

Das Nachdenkliche, was der Kollege Willy Brandt der Debatte über die Stasi - Akten behauptet wird, der zu den Mitgliedern der SED gesagt hat, steht ja schon Westen walze den Osten platt. in einem schrecklichen Gegensatz zu den Reden, die die Sozialdemokraten im Jahre 1990 und im Jahre (Freimut Duve [SPD]: Jedenfalls ist Ihre Rede 1991 in diesem Hause gehalten haben. eine schwere Belastung für die Arbeit der Kommission!) (Beifall bei der CDU/CSU) Es waren Vertreter aus der früheren DDR schon vor Das ist schwer erträglich für uns. dem 3. Oktober 1990 und aus den ostdeutschen Bun- Wenn Sie manches an unseren Äußerungen desländern danach selbst, die die Öffnung der Akten beschwert, überlegen Sie sich doch einmal die Wider- am entschiedensten forderten, auch gegen manche sprüche zwischen dem, was der Nachfolger von Willy Mahnung aus dem Westen, daß daraus neue Verlet- Brandt als Parteivorsitzender der SPD von diesem Pult zungen entstehen müssen. aus in den letzten Jahren zu der Blockflöten-Diskus- Wir brauchen mehr Ehrlichkeit und weniger Ver- sion beigetragen hat, und dem, was Willy Brandt drängung, und wir brauchen faire Maßstäbe. heute zu den Mitgliedern der SED gesagt hat. Schwer zu ertragen für Ihre Partner in parlamentarischen (Peter Conradi [SPD]: Weniger Verdre Auseinandersetzungen! hung!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge — Herr Duve, Sie machen — — ordneten der F.D.P.) (Freimut Duve [SPD]: Das war ich nicht! Wir Eine Zeitlang konnte man aus Ihren Reden fast den sind über 200 Kollegen!) Eindruck gewinnen, als wären für das Unrecht in der früheren DDR nur die sogenannten Blockparteien — Darm war es Herr Conradi. Aber Sie machen jetzt verantwortlich, allenfalls noch die Politik der Regie- schon wieder einen Zwischenruf. Sie haben sich rung Kohl. vorhin beklagt, daß man Ihnen nicht so genau zuhöre. Meine Sorge ist, daß Sie überhaupt nicht zuhören, (Wolfgang Thierse [SPD]: Hat ja nie jemand weil Sie ständig nur reden. Aber sei es drum. behauptet!) Ich sage jedenfalls: Wir brauchen faire Maßstäbe. — Aber Herr Thierse, Sie waren noch gar nicht hier, als schon so geredet worden ist. Es wurde kaum noch (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies erwähnt — Herr Vogel hat es nicht erwähnt —, daß es loch] [SPD]) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6731

Dr. Wolfgang Schäuble Wer über de Maizière mit Häme herzog, tut sich heute liegendes und kürzlich Geschehenes überden- bei Stolpe schwer. ken. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge In der Zukunft blüht die Vergangenheit, in der ordneten der F.D.P. — Freimut Duve [SPD]: Vergangenheit reift die Zukunft, schreibt Anna Wer hat denn de Maizière fallenlassen?) Achmatowa. Darauf hoffe auch ich, auf die heil- — Sie schreien immer, wenn es weh tut. Deswegen samen Kräfte des Gedächtnisses. schreien Sie ruhig laut, damit wir auch wissen, daß Sie (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ getroffen sind. CSU — Beifall bei der F.D.P.) Wer sich in der ehemaligen DDR zurechtfand, muß mit Fundamentalkritik gegen die unter dem Grundge- Das Wort hat nun setz gewachsene Freiheitsordnung behutsam sein, Vizepräsidentin : der Kollege Markus Meckel. wenn er nicht die Frage riskieren will, ob er sich mit Teilung und Sozialismus doch besser abgefunden hatte als mit Einheit und Freiheit. Markus Meckel (SPD): Frau Präsidentin! Verehrte (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr rich Kolleginnen und Kollegen! Was wir hier eben erlebt ig!) haben, zeigt, wie schwierig das ist, was wir vorhaben. Wem es um Demokratie und Freiheit geht, der muß Ich bin beschämt über die Diskussion der letzten den Willen der Mehrheit zur Einheit, auch zur schnel- Minuten. Viele große Erwartungen der Menschen im len Einheit, respektieren. Osten unseres Landes sind mit dieser Kommission und mit dem verbunden, was hier auch im Bundestag geschehen soll. Ich hoffe, daß das, was wir dann tun Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege werden, an die beiden ersten Redner der heutigen Schäuble, würden Sie noch eine Zwischenfrage des Debatte anknüpft Kollegen Ullmann gestatten? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Bitte sehr. und zur Klärung, zur wirklichen Differenzierung und zu fairen Maßstäben führt. Denn mit dem, was wir Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Herr heute beginnen wollen, stellen wir uns eine Aufgabe, Schäuble, sind Sie der Meinung, daß Ihre Darstellung--t die für ein Parlament bisher wohl ohne Vergleich ist. der Rolle von Herrn de Maizière in Ihrem Buch über Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist eine den Vereinigungsprozeß fair ist? Aufgabe, die wir in Deutschland nicht zum erstenmal haben, der sich ein deutsches Parlament in dieser Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Ja, ich denke, Weise aber zum erstenmal stellt. daß ich mich in meinem Buch nach besten Kräften, die Das gesamtdeutsche Parlament versucht, seinen mir zur Verfügung und zu Gebote standen, bemüht Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der DDR als habe, meinen Freund Lothar de Maizière in seiner eines Teils der deutschen Geschichte zu leisten. Es Rolle und auch in seinen Widersprüchen, denen wir macht damit deutlich, daß es eine Geschichte ist, die alle ausgesetzt sind, fair zu würdigen. uns alle angeht. (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Des In wie unterschiedlicher Weise dies der Fall ist, zeigt halb mußte er als stellvertretender Parteivor auch diese Debatte. sitzender gehen!) Die Aufarbeitung dieser Geschichte ist eine gesamt- Ich finde auch, daß derjenige, der für die Aufarbei- deutsche Verantwortung und muß deshalb gemein- tung von Unrecht und für Wiedergutmachung steht, sam geschehen. Diese zweite deutsche Diktatur nicht nur an die Oppositionellen der 80er Jahre betrifft uns in Deutschland eben alle; Rainer Eppel- denken darf, sondern daß er auch an die Opfer seit mann hat dies eindrücklich dargestellt. Wir Deutsche 1945 denken muß, gleichgültig, ob sie heute im sind zumindest in der Weise alle Betroffene, als es an Westen oder im Osten leben, wenn sie denn über- uns allen gemeinsam ist, mit dieser Geschichte fertig- haupt noch leben. zuwerden. Die Enquete-Kommission kann einen Beitrag zur Ich bin davon überzeugt, daß da, wo es uns gelingt, Aufarbeitung der Vergangenheit leisten. 40 Jahre wirklich zu Differenzierungen zu kommen, alle aus- totalitärer Sozialismus und Teilung haben tiefe Wun- gestreckten Zeigefinger wieder in der Hand ver- den geschlagen. Wenn die Debatte über die Vergan- schwinden werden. genheit Nachdenklichkeit und Verständnis fördert, Wer selber in der DDR gelebt hat, hat natürlich ein kann sie auch über alle Betroffenheit Heilung schaf- ganz besonderes Verhältnis zu dieser Geschichte. Sie fen. hat unseren Lebensweg geprägt, so geprägt, daß ich Lew Kopelew schreibt in der Schlußbetrachtung eine Frau im Herbst 1989 habe sagen hören, sie habe seines Buches „Und schuf mir einen Götzen" die 40 Jahre umsonst gelebt. Mich hat dieses Wort zutiefst folgenden Sätze: erschreckt, sagt es doch so viel über die vergangene Der Vergangenheit kann man nicht entrinnen, Gesellschaft, aber auch über die Menschen, die so und dazu ist es nötig, sich zu erinnern, an alles zu etwas sagen können. erinnern, was mit uns, mit unserem Land, mit der Es ist viel Unrecht geschehen, Unrecht, durch das Welt geschehen ist, nichts zu verbergen, nichts zu allein sich dieser menschenentmündigende Staat so unterschlagen, immer wieder aufs neue Zurück- lange halten konnte. Die Opfer dieses Unrechts for- 6732 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Markus Meckel dern heute Gerechtigkeit. Wir stehen vor vielen Fra- ren und das Gespräch miteinander, auch zwischen gen, die wir heute noch nicht beantworten können. Opfern und Tätern. Kunst, Kultur und Wissenschaft Diese Kommission wird intensiv an ihnen arbeiten haben dabei eine langfristige Aufgabe, die für die müssen. Gesellschaft und das öffentliche Bewußtsein in dem Deutlich aber ist: Die Art und Weise, wie wir mit einen Deutschland von nicht zu überschätzender diesem Unrecht umgehen, wie es uns gelingt, diese Bedeutung ist. Geschichte zu verarbeiten, hat für viele Menschen im Zweitens. Die Aufarbeitung der Geschichte kann Osten Deutschlands direkte Auswirkungen auf ihr nicht stellvertretend geschehen. Ich kann es nicht für Vertrauen in die Demokratie. andere tun, und andere können es nicht für mich tun. (Beifall bei der SPD sowie des Abgeordneten Man kann es aber selber so tun, daß es beispielgebend Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/ für andere ist. GRÜNE]) Es ist also die Aufgabe des Bundestages, sich für Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist Verant- sein eigenes Handeln bessere Voraussetzungen zu wortung für die Opfer der Vergangenheit und für die schaffen. Die bessere Klärung der DDR-Wirklichkeit Zukunft der Demokratie. Heute sind viele Menschen wird zu eigenem Handlungsbedarf führen. Eine enttäuscht. Sie hatten von einem Rechtsstaat erwartet, genauere Kenntnis dieser Zeit wird für den Umgang daß diejenigen, die für das Unrecht der vergangenen mit den Verhältnissen und den Menschen, die von Jahrzehnte verantwortlich sind, für dieses Unrecht vor dieser Geschichte geprägt sind, nicht ohne Folgen Gericht zur Verantwortung gezogen werden. Es ist ja bleiben können. wirklich ein Skandal, daß bisher kaum einer der Die letzten Wochen haben wieder sehr deutlich Hauptverantwortlichen wegen dieser Schuld vor gemacht, wie schwierig es ist, mit der Vergangenheit Gericht steht, während die Handlanger und Befehls- in der DDR und ebenso der Vergangenheit mit der empfänger die Strafe trifft. DDR sachgemäß umzugehen. Die Instrumentalisie- Es ist für viele schwer zu lernen, daß es in einem rung dieser Vergangenheit für die gegenwärtige poli- Rechtsstaat keine Strafe ohne Gesetz geben kann, daß tische Auseinandersetzung haben wir soeben wieder bis zum Beweis der individuellen Schuld von der und schon vorher mehrmals auch beim S treit um Unschuld auszugehen ist. Jetzt haben die — so sagen Manfred Stolpe erlebt. viele —, die kein Recht kannten und es -verdrehten, die ihr Interesse zum Recht erklärten, den Nutzen von Gleichzeitig zeigt sich immer wieder, wie wenig es dieser strengen Rechtsauslegung. bis heute gelungen ist, zu einem klareren öffentlichen Verständnis für die DDR-Wirklichkeit zu kommen, Das ist richtig; man kann es verstehen. Andererseits viel weniger noch zu einer wirklich angemessenen gehört das nun einmal zu den festen Prinzipien der so Einschätzung und Beurteilung der Situation und von lange ersehnten Rechtsstaatlichkeit und darf nicht Verhaltensweisen. Aber genau das ist notwendig. aufgegeben werden. Die Öffnung der Archive der Staatssicherheit für Und doch stellen sich Fragen, die weiter diskutiert die Betroffenen führte zu immer neuen Enthüllungen. werden müssen. Es kann doch wohl nicht sein, daß ein Gleichzeitig zeigt sich vielfach die Unfähigkeit, mit Diktator zu Beginn seiner Herrschaft nur alles Recht solchen Texten umzugehen, wenn man glaubt, daß außer Kraft zu setzen braucht, um dann für nichts mehr diese Akten als letzte Wahrheitsquelle benutzt wer- zur Verantwortung gezogen werden zu können. den können. Es besteht die Gefahr, sich in der (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ öffentlichen Diskussion nur noch der Kategorien der GRÜNE) Staatssicherheit zu bedienen, mit denen man eben Die Diskussion muß geführt werden, welches Recht kein wirklichkeitsgetreues Bild malen kann. hier eigentlich angewendet werden kann und muß, Manche sind zu der Konsequenz gekommen, man um Recht zu schaffen. Doch es ist wichtig, zu betonen: solle die Akten wieder schließen. Genau das aber darf Diese Kommission kann und sollte zwar ein Forum nicht passieren. Das Wissen der Täter von einst würde auch für diese Diskussion sein und sie voranzutreiben für sie dann zu einem Monopol, das gern teuer versuchen; die juristische Aufarbeitung der Vergan- verkauft wird. Jede Denunziation würde für wahr genheit aber ist ihre Aufgabe nicht. Hier muß es bei gehalten werden, da sie nicht überprüft werden der klaren Unterscheidung zwischen Parlament und könnte. Die Menschen haben ein Recht, das Herr- Justiz bleiben. schaftswissen vergangener Zeiten, das auf unter- Unsere Aufgabe ist die politische Aufarbeitung schiedlichste Art zusammengetragen wurde, den dieser Vergangenheit. In den letzten Monaten ist viel Tätern von einst zu entreißen und in ihren Akten ihrer darüber gestritten und nachgedacht worden, wie sie Geschichte aus der Sicht der Staatssicherheit wieder- geschehen kann. Mir sind dabei zwei Grundsätze zubegegnen. Das ist oft hart. Aber das Recht darauf wichtig: gehört einfach zur Verarbeitung dieser Geschichte. Die Opfer haben ein Recht, zu sehen, was die Absich- Erstens. Es kann kein Monopol auf eine Aufarbei- ten dieses Machtapparats waren, wie man sie kaputt- tung der Geschichte geben. Sie ist ein langer Prozeß, machen wollte und welche unmenschlichen Mittel der von möglichst vielen auf allen gesellschaftlichen man dabei benutzte. Ebenen getragen werden muß. Die Auseinanderset- zung mit der eigenen persönlichen Geschichte ist Erst wo offengelegt wird, was war, wird auch genauso wichtig wie die Darstellung der historischen persönlich Vergebung und Versöhnung möglich sein. Zusammenhänge und der gesellschaftlichen Struktu Die Glaubwürdigkeit von Institutionen und auch von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6733

Markus Meckel Parteien hängt daran, wie offen sie mit ihrer Vergan- nachvollziehen und daraus auch seine Schlüsse zie- genheit umgehen. hen konnte. Versöhnung braucht Wahrheit. So ist es kein Zufall, daß wir heute oft noch zuwenig Es muß jedoch klar sein: die Stasi-Akten allein sind von den strukturellen Zusammenhängen und Verant- nicht die Wahrheit. Die Stasi war ein Teil des Systems wortlichkeiten wissen. Dabei ist es für unsere Beurtei- der Unwahrheit, in dem wir lebten und dessen ganze lung heute von großer Bedeutung, zu wissen, welche Wirklichkeit wir erst noch in den Blick bekommen Kompetenzen z. B. bei einem Vorsitzenden des Rates müssen. Gewiß verdichtete sich in ihr der absolute des Bezirks lagen, bzw. wie die Kommunikationsab- Wahrheits- und Machtanspruch der Partei. Sie war läufe zwischen Partei, Staatsapparat und Stasi waren. Schild und Schwert der Partei und hatte eine doppelte Natürlich sind auch die Blockparteien, die Massenor- Funktion: Sie sollte den Herrschenden Sicherheit ganisationen und ihre Rolle in diesem System mit zu durch Bedrohung und Angst und den Beherrschten untersuchen. den Eindruck der Allmacht und Allwissenheit der Wir werden bei all diesen Fragen genau zu unter- Herrschenden geben, dies beides übrigens nicht scheiden haben zwischen dem, was man heute weiß, zufällig alte göttliche Attribute. In ihr wird die men- und dem Horizont, aus dem man damals handelte. schenverachtende Entmündigung dieses Systems Gerade auch letzteren zu rekonstruieren wird wichtig besonders deutlich. Deshalb sind die öffentliche Auf- sein. Wir werden heute diese ganze Geschichte neu merksamkeit und die persönliche Wut und Betroffen- ansehen und fragen müssen, wo wir die damalige heit der Menschen hie' natürlich besonders groß. Statt Situation heute anders einschätzen müssen als die Personalakten zu schließen, wie manche fordern, damals, und dann natürlich auch zu Bewertungen brauchen wir möglichst bald auch die Aufarbeitung unseres eigenen Handelns kommen: Wann haben wir der Sachakten der Staatssicherheit sowohl als auch uns eben einfach nur geirrt? Wo und wie haben wir uns der der Parteien und des Staatsapparates. einspannen lassen in dieses System? Wann waren wir Mit dem Zugang zu diesen Akten haben wir eine feige und opportunistisch? Dabei ist klar: Feigheit und neue Grundlage, die vergangene Wirklichkeit nun Opportunismus sind nicht strafbar. Doch wann haben besser zu erfassen; denn die gesetzlichen Grundlagen sie einen in eine Situation gebracht, in der wir dafür sind geschaffen. schuldig geworden sind? Wie groß war der Druck wirklich, so im normalen Alltag? Wer glaubte wirklich, Wir können hier nur darum bitten, daß auch die daß das, was er tat, richtig war? Wann ist von Verrat zu Kirchen ihre Akten über das Verhältnis zum Staat sprechen? — Fragen, die schwer zu beantworten sind, öffnen. Gleichzeitig, denke ich, wird es notwendig selbst wenn man das Leben in der DDR kennt. sein, auch die Akten des innerdeutschen Ministeri- ums zu öffnen. Das Leben in dieser Diktatur hatte viele Schattie- rungen. Eine schnelle Beantwortung der obigen Fra- Das Bemühen um eine wirklich differenzierte Dar- gen, besonders durch Menschen, die im Westen stellung der DDR-Wirklichkeit auf breitem Kenntnis- gelebt haben, kann nicht erfolgen. Deshalb ist es gut, stand ist eine zentrale Voraussetzung für die dringend wenn immer wieder auch geäußert wird: Wer weiß, erforderliche politische Auseinandersetzung mit der was ich im Osten getan hätte? M an muß dann aber DDR-Geschichte, dem Leben in ihr und ihrer Bewer- andererseits natürlich auch darauf achten, daß diese tung. Formulierung dann nicht heißt: In der Dämmerung Es gehörte zu diesem System, in dem wir lebten, sind alle Mäuse grau — als wäre es egal, wie man sich nicht offen zu sein, sich nicht durchsichtig zu machen. verhalten hat. „Man mußte ja", lautet dann die Man kann dies an vielen Beispielen darstellen, nicht allgemeine Entschuldigung. Und fast alles scheint nur an der strikten Geheimhaltung von Umweltdaten. entschuldbar, was ich von der Möglichkeit der Verge- Die meisten Menschen in der DDR wußten deshalb bung deutlich unterscheiden möchte. auch nicht, wo und durch welche Mechanismen die Der zentrale Unterschied zwischen der DDR und Entscheidungen fielen. Es war immer nur klar: schuld einem demokratischen Staat war die fehlende Unter- ist die Partei. Und das war natürlich auch richtig. scheidung von Staat und Gesellschaft. Alles sollte Partei, Staat und Stasi waren eine undurchsichtige beherrscht und gelenkt sein. Jedes selbständige Han- Einheit, die Begriffe austauschbar, weshalb die deln und Denken galt als gefährlich — und war es für Begriffe Partei und Staat für viele im Osten bis heute diesen Staat auch wirklich. Jeder Versuch, selbst belastet sind. Ich glaube, daß der normale DDR- Verantwortung zu übernehmen und sich für die Bürger auch in der Vergangenheit z. B. mehr Minister eigene Wirklichkeit zuständig zu fühlen, mußte mit aus der Bundesregierung kannte als Politiker oder gar Bedrohung rechnen. Initiative und Verantwortungs- Minister des eigenen Landes; sie hatten einfach keine bereitschaft waren eine Gefahr für die Herrschafts- Bedeutung und nichts zu sagen. Wichtig war eben nur strukturen. der Spitzenmann in einer zentralistischen Komman- dogesellschaft. Von dem Versuch der Vermeidung dieser Gefahr war das Bildungssystem, vom Kindergarten bis zum Für mich selbst war in den 70er Jahren das Buch von Studium, geprägt. Indoktrination und Disziplinierung Zdenek Mlynar „Nachtfrost" wichtig, in dem er die waren die wichtigste Zielstellung. Ein wichtiges Zei- Vorgeschichte und die Ereignisse in Prag 1968 chen dafür war auch die alles durchdringende Dimen- erzählt, und zwar aus der Innenperspektive. Es war sion des Militärischen. Selbst bei Mathematikbüchern wichtig für mich, weil man hier endlich einmal in mußten die Autoren den Nachweis erbringen, daß sie einem ähnlichen Apparat Entscheidungsabläufe die Wehrbereitschaft fördern. 6734 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Markus Meckel Recht im wirklichen Sinne gab es nicht. Ein feudales leicht — was ich hoffe — möglich sein kann, zu einer System von Privilegien sollte die Menschen lenken, Übereinstimmung, zu einem Konsens in der Aufga- was vielfach auch gelang. Recht war — wie im Schul- benbeschreibung zu kommen. buch und bei Marx zu lernen — das Instrument der Wir brauchen für die Arbeit in dieser Kommission herrschenden Klasse. Wo aber Verantwortungsbereit- die Öffentlichkeit als Korrektiv. Vielleicht aber wer- schaft und Rechtsbewußtsein nicht gefördert und den wir auch manchmal versuchen, als Korrektiv einer entwickelt werden, kommt es zu einem Defizit an pauschalisierenden Öffentlichkeit aufzutreten. Ich Gewissensbildung, oder, wenn ich das altmodische hoffe, daß es uns gerade angesichts der nicht geringen Wort benutzen kann, an Sittlichkeit. A lles, was nützt, Schwierigkeiten, die Aufgaben zu begrenzen und zu scheint erlaubt. operationalisieren, gelingt, zu möglichst klaren Kon- Kultur wurde als Ideologieträger mißbraucht. Mit sequenzen für den Bundestag zu kommen. Dies kann Zuckerbrot und Peitsche wurde versucht, Künstler in und darf nicht erst am Ende dieser Arbeit, sondern hat der Linie zu halten; nicht selten gelang das. Gleich- immer wieder zwischendurch zu geschehen. zeitig gab es aber die ständige Angst des Staates vor Eine Bemerkung zum Schluß: Durch die Sitzvertei- einer freien und eigenständigen Kultur. Da es diese lung im Bundestag ist klar, daß Bündnis 90 nur ver- dann doch immer wieder gab — gerade noch geduldet hältnismäßig in der Kommission vertreten sein kann. oder auch verfolgt —, war die Sucht der Menschen Doch möchte ich mich an dieser Stelle für unsere nach Büchern und gutem Theater ungeheuer groß. Fraktion noch einmal sehr entschieden dafür ausspre- All das hat langwirkende Folgen hinterlassen. Es chen, daß die, mit denen wir nicht erst 1989 politisch war und ist ein Wunder, daß es trotz all dieser gearbeitet haben und die mit uns im Herbst 1989 sehr zerstörenden Mechanismen so viele aufrechte, ver- viel bewegt haben, auch einen gleichberechtigten antwortungsbewußte und wundervolle Menschen im Sachverständigen im Ausschuß erhalten können. Osten Deutschlands gibt. (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNE — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: des Bündnisses 90/GRÜNE) Es ist doch alles einvernehmlich geregelt!) Während die Wahl in der früheren DDR den Herr- — Wenn ich höre, daß dies inzwischen geregelt ist, schenden immer wieder zeigte, daß es noch klappt, freut es mich, daß Sie dem zugestimmt haben. Daß die Leute ohne allzu große Bedrohung in Schach zu dieses Recht in diesem Fall auch der PDS zukommt, halten, daß sie einfach folgten, weil Angst und Anpas- dürfte kein Argument dagegen sein. sung so groß sind, zeigt andererseits das stetige Ich danke Ihnen. Anwachsen der Stasi an, wie sehr die SED wußte, daß (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ sie sich des Volkes nie sicher war, und auch, daß mit GRÜNE) den Jahren offensichtlich der Mut wuchs, doch wenig- stens im kleinen einmal zu widerstehen, nein zu sagen, dem eigenen Gewissen zu folgen statt dem, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat das Wort was verlangt wurde. Es gab viele Formen des Wider- der Innenminister des Landes Sachsen, Herr Heinz stehens oder wenigstens des Versuchs, sich herauszu- Eggert. nehmen und nicht mitzumachen, vom Rückzug in die Nische, von der Ausreise und der gezielten Verwei- gerung, vom Nichtaufsagen eines Gedichts bis zur (Sachsen): Frau Präsidentin! Wehrdienstverweigerung und zum Sich-Versammeln Minister Heinz Eggert Meine Damen und Herren! Unter der Parole „Wir sind in Gruppen, die gesellschaftliche Fragen thematisier- ten, und vieles mehr. das Volk!" erhob sich die Bevölkerung der ehemali- gen DDR gegen ein Unrechtsregime, das die Men- An dieser Stelle müßte man auch auf das Handeln schen im östlichen Teil Deutschlands über 40 Jahre der Kirchen eingehen, der einzigen nicht gleichge- lang bevormundet, ausgenutzt und unterdrückt hat. schalteten Institutionen in diesem Staat. Sie haben für Dadurch, daß keine Gewalt angewandt wurde, die Menschen in der DDR unendlich viel geleistet. Ich geschah dies alles mit einer von aller Welt bewunder- möchte das ausdrücklich betonen. ten Würde. (Beifall bei der SPD) Diese Würde ist jetzt durch einen unwürdigen Natürlich gab es auch Fehleinschätzungen, Versagen Umgang mit der Aufarbeitung der Vergangenheit in und Schuld. Ich will das jetzt nicht weiter erläutern, Gefahr. Immer dann, wenn Unwürdigkeit in einer denke aber, daß auch hier gilt, was schon gesagt Vergangenheitsbewältigung auftaucht, ist auch der wurde: Versöhnung und Glaubwürdigkeit erwachsen innere Frieden in Gefahr. allein aus der offenen und öffentlichen Darstellung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dessen, was war. Mit dem Slogan „Wir sind ein Volk!" traten einige Meine Damen und Herren, mit dieser Enquete- Zeit später viele Deutsche für die deutsche Einheit ein Kommission — das wird immer deutlicher — haben und gaben damit zu verstehen, daß sie kein zweites wir eine nicht leichte Arbeit auf uns genommen. Ich Experiment „Sozialismus" mehr wollten. Denn trotz habe am Anfang auf die Schwierigkeit hingewiesen, großer Ideale und vieler Ideen sah man keine Chance, die auch in dieser Debatte deutlich wird, und auf die in überschaubarer Zeit eine menschenwürdige Belastungen, die von ihr ausgehen. Die Anträge, die Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Nach dem, was wir vorliegen haben, weisen ebenso wie die Rede am wir heute über die metastasenhafte Durchsetzung Anfang dagegen doch in die Richtung, daß es viel- aller Bereiche in der DDR durch die Staatssicherheit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6735

Minister Heinz Eggert (Sachsen) wissen, wäre allein schon dadurch ein zweites Expe- — also schon aus dem Grunde! —, damit sie sich nicht riment überhaupt nicht mehr gelungen. wiederholen kann. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der F.D.P. und beim Bündnis 90/GRÜNE) F.D.P. und beim Bündnis 90/GRÜNE) Mit etwas menschlicherem Antlitz und wenig zuge- Neben allen noch so wichtigen Analysen von Ursa- gebener Demokratie hätten sich die Herren von chen kommt es mir deshalb vor allem darauf an, daß gestern als die Herren von morgen erwiesen und ihre die Kommission auch Handlungsempfehlungen für Herrschaft forgesetzt; denn die Strategie dazu war Parlament und Regierung entwickelt. Wir müssen schon entworfen. Das hätte uns im Osten vielleicht die dabei nach den Wurzeln totalitärer Tendenzen in letzte Kraft und auch die letzten Möglichkeiten geko- unserem Volk fragen, wir müssen die Gründe für stet, den Westen Milliarden an Krediten, die letztlich Unrecht in der Vergangenheit analysieren, damit wir — wie das DDR-immanent war — nicht viel bewirkt daraus für die Zukunft Konsequenzen ziehen können. hätten, es sei denn, die Funktionärskonten im Ausland Für mich bedeutet Vergangenheit bewältigen: erin- wären verstärkt worden. nern, analysieren und daraus folgern; denn Vergan- genheit ist immer Prolog. (Beifall bei der F.D.P.) Ohne diese Vergangenheitsbewältigung fehlen uns Ich weiß, daß es vielen nachdenklichen und kriti- die Grundlagen für eine zukunftsweisende Politik, schen Mitbürgern damals viel zu schnell ging, weil sie und dabei ist die Vergangenheitsbewältigung eine befürchteten, daß das marode System der DDR schnell Angelegenheit unseres gesamten Volkes im Osten zerbrechen würde und die Menschen weitgehend, und im Westen gleichermaßen, die Angelegenheit auch unvorbereitet, Sog und Segnungen West- eines jeden einzelnen und jeder gesellschaftlichen deutschlands gleichermaßen preisgegeben sein wür- Gruppierung. den. Sie hielten Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht für die beste aller Das Dritte Reich war nicht Sache einzelner, das denkbaren und hätten es lieber gesehen, mit genü- SED-Regime war es gleichermaßen ebensowenig. gend Zeit und ohne viele äußere Einflüsse eine Viele haben mitgestaltet, sind mitgelaufen, haben menschliche Gesellschaftsordnung entwerfen zu kön- stabilisiert, von innen oder außen. Manche sind schul- nen. Dieses Nachdenken hätte — so glaube ich — dig geworden; viele haben sich dagegen gewehrt. Deutschland im Osten und im Westen gleichermaßen Dabei müssen wir natürlich beachten, daß manches, gutgetan, was früher angebracht erschien, uns heute in einem (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf- ganz anderen Licht erscheint. Was 1987 noch als gang Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE]) politischer Erfolg galt — nach dem Motto: seid klug wie die Schlangen —, gilt heute als moralisch verwerf- aber die Zeit und die Geschichte geben diesen Raum liches Taktieren oder sogar als Verbrechen. Ich denke, zum Nachdenken nicht im voraus. Deshalb beginnen diese Einschätzungen sind Gratwanderungen. Hier ist wir heute damit. wirklich nur ein zurückhaltendes und differenzie rtes Nur für eine kurze Zeit bestand die Möglichkeit, die Nachdenken angemessen. deutsche Einheit zu erwirken und einen für die (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Geschichte unseres Volkes so wichtigen Schritt zu SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE — Dieter unternehmen. Ich muß sagen — ich glaube, kaum Wiefelspütz [SPD]: Solch eine Rede hätten jemand wird sich dieser Einschätzung verweigern —: Sie auch halten können, Herr Schäuble!) Gott sei Dank ist dieser Schritt get an worden. — Deshalb halte ich jetzt das Nachwort. Trotz oder gerade wegen dieser repressiven Politik des frühen Systems in der DDR hat sich bei uns, bei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vielen Landsleuten im Osten, ein feines Gespür für Deshalb brauchen wir aber auch notwendige Krite- Gerechtigkeit, Solidarität, Ehrlichkeit und Echtheit rien, die von einem hohen ethischen Niveau getragen entwickelt, das wir schon in unser gemeinsames sind und die die Würde des Menschen in den Mittel- Denken, auch politisches Denken, und Handeln ein- punkt ihrer Überlegungen stellen. Wir wissen, viele beziehen wollen. Menschen waren Werkzeug und Opfer eines Systems, Wenn wir die deutsche Teilung aufarbeiten wollen das eine freie Entfaltung der Persönlichkeit stark — dieser Aufarbeitungsprozeß wird ein schmerzlicher behinderte. Wenn diese Aufarbeitung jetzt nicht zur Prozeß sein, weil er uns gleichzeitig auf unser eigenes Farce werden soll, dann gibt es nur eines: Erstens persönliches Versagen hinweist —, dann müssen müssen die Täter für ihr Handeln einstehen, und auch in dieser Diskussion diese Stimmen wieder zweitens müssen die Opfer neue Chancen bekom- stärker werden. Es geht letztlich doch um eine tragfä- men. hige Grundlage für eine menschenwürdige Gestal- tung unseres gemeinsamen Vaterlandes. Von daher (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der halte ich die Einsetzung dieser Kommission für ein SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE) geeignetes Mittel, wertvolle geistesgeschichtliche Ich sage ausdrücklich ja zum Rechtsstaat der Bun- Grundlagen unserer gemeinsamen Geschichte und desrepublik Deutschland, und ich bin dankbar, daß Kultur wieder bewußt zu machen, um daraus wesent- diese Rechtsordnung auch dort gültig ist, wo ich lebe. liche Erkenntnisse für die Gestaltung unserer Politik Ich bin dankbar dafür, daß wir ein Grundgesetz zu erhalten und gleichzeitig auch die menschenver- haben, das geschaffen worden ist, gerade um die achtenden Strukturen einer Politik aufzuzeigen Würde des einzelnen vor dem Zugriff und der A ll- 6736 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Minister Heinz Eggert (Sachsen) mächtigkeit eines Staates zu schützen. Aber genau da ohne selbst strafrechtlich zur Verantwortung gezogen liegt jetzt auch unser Problem. Die Rechtsordnung der zu werden. Bundesrepublik Deutschland schützt die Täter von (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der gestern mehr, als das DDR-Recht sie geschützt hätte. SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE) Jeden Tag wird anschaulicher, wieviel unglaubliches Unrecht und wieviel Menschenverachtung im SED- Es ist schon unerträglich, wenn ein gewisser Perso- Regime an der Tagesordnung waren. Es ist von einer nenkreis nach außen verbreiten läßt, nie als Inoffiziel- solchen Anschaulichkeit, daß viele am liebsten wieder ler Mitarbeiter für die Staatssicherheit gearbeitet zu wegschauen würden, um es nicht verarbeiten zu haben, und jeder weiß, daß dieser Personenkreis auf müssen; denn Verarbeitung ist mühsam, setzt Ver- Grund seiner Stellung in der SED-Nomenklatur wei- ständnis voraus und ist schmerzlich, besonders auch sungsberechtigt gegenüber dieser Organisation ge- für die im besonderen Getroffenen. wesen ist. Es verstärkt sich immer mehr der Eindruck: Die (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Kleinen hängt man, und die Großen läßt man laufen — SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE) wobei feststeht, daß die Schuld des einen die Schuld Unerträglich ist es auch, daß des anderen nicht kleiner macht, daß jeder für seine frühere SED-Funktio- die wir im Osten Deutschlands aus dem öffent- Schuld einzustehen hat und daß jeder die Konsequen- näre, lichen Dienst entfernen, im Westen Deutschlands in zen eines verkehrten Strebens zu tragen hat. den öffentlichen Dienst eingestellt und zu 100 % (Dr. Elke Leonhard-Schmid [SPD]: Sehr all bezahlt werden. gemein!) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Kaum noch ertragbar ist — jetzt komme ich aus dem SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE) allgemeinen heraus —, wenn die Namen der Inoffi- ziellen Mitarbeiter die Schlagzeilen füllen und die Ich sage es ganz deutlich: Die Experten der DDR in wirklichen Auftraggeber, die wirklichen Verantwort- den Bereichen Verwaltung und Ökonomie waren lichen, die Chefideologen und Volksverhetzer, die Experten für die DDR, und sie sind keine Experten für Chefs der Parteizentralen und der Zentralen der die Bundesrepublik. Sie könnten es nur neu lernen. Staatssicherheit im Schatten bleiben, Von daher ist es notwenig, denjenigen unter uns eine Chance zu geben, die zu DDR-Zeiten eben keine (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P.,- der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE) Chance hatten, weil sie nicht das richtige Parteibuch hatten, das sich ja später als das falsche erwiesen hat. nicht etwa um ein Schattendasein zu führen, sondern Denn auf dem Weg in die Gesetzlichkeit und die um bei bester Bezahlung zu Gesprächsrunden einge- Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik fangen wir laden zu werden, Bücher zu veröffentlichen, alle von vorn an. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Jawohl!) Meine Damen und Herren, ein wirtschaftlicher genug Raum und Platz in der Öffentlichkeit zu bekom- Aufschwung Ost ohne eine moralische Aufarbeitung men, um eloquent oder intellektuell — falls sie es mißlingt. Es darf nicht sein, daß Menschen, die andere können — über Vergangenes plaudern zu können, als mit Hilfe ihres Amtes entwürdigt haben, jetzt auch beträfe es sie in keinster Weise. noch von den Steuergeldern ihrer ehemaligen Opfer im öffentlichen Dienst bezahlt werden. Zu Recht hört (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der man immer wieder den Satz: Dafür sind wir nicht auf SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE) die Straße gegangen. Man kann es nur bestätigen: Wir haben momentan die Situation einer unerträg- dafür wirklich nicht. lich makaberen Politparty-Plauderei, wo man nicht mehr genau weiß: Wo hört das Verbrechen eigentlich (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der auf, und wo beginnt hier schon wieder eine neue SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE) Entwürdigung der Opfer? Ein Wort zur Öffnung der Stasi-Archive: Es ist (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der notwendig und unvermeidlich und übrigens auch für SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE) die Arbeit dieser Kommission unentbehrlich, daß die Stasi-Akten nun offen und zugänglich sind. Die Atmo- Es ist kaum noch zu ertragen, wenn die sozialistischen sphäre der Angst und des Mißtrauens läßt sich nur Betriebsleiter von gestern auf einmal die marktwirt- durch Einsichtnahme und Offenlegen abbauen. Wir schaftlichen Geschäftsführer von heute sind, sehen jetzt klarer. Wir wissen jetzt, wer die Täter (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der waren, und wir wissen gleichzeitig, wer sie nicht SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE) waren. die den gleichen Personenkreis, den sie früher poli- Das Nennen der Täter entlastet die vielen Unschul- tisch bedrückten, jetzt wirtschaftlich erpressen und digen von ungerechtfertigten Verdächtigungen und auf die Straße setzen. schützt gleichermaßen die Schuldigen vor späteren Erpressungen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Es ist unerträglich, daß hauptamtliche Staatssicher- Ich halte es für sehr bedenklich, daß schon wieder die heitsoffiziere, die auch weiterhin ihre frühere Desin- Schließung der Archive der Staatssicherheit gefordert formationspolitik betreiben — das darf man ja dabei wird. Ich halte es auch für sehr bedenklich, daß diese nicht vergessen —, als Kronzeugen gehört werden, Forderung mit Diskussionen um die politische Ver- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6737

Minister Heinz Eggert (Sachsen) gangenheit eines prominenten ostdeutschen Politi- kein Anpassungsprozeß wird? Von den Antworten kers verknüpft wird. Denn die Diskussion um seine dieser Kommission erwarte ich mir sehr viel. Person ist kein Ergebnis der Öffnung der Archive der Ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit. Staatssicherheit, sondern ein Ergebnis seiner Selbst- offenbarung in der Presse. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und beim Bündnis 90/ Die Frage nach dem menschlichen Umgang mitein- GRÜNE) ander und der menschlichen Kultur bleibt bei alledem natürlich bestehen. Ich halte es auch für sehr bedenklich, wenn man Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- lege Uwe-Jens Heuer das Wort. glaubt, Aufarbeitung als Instrument parteipolitischer Personalpolitik gebrauchen zu dürfen, (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Frau Präsi- dentin! Meine Damen und Herren! Ein Wort an Herrn und ich halte es für sehr bedenklich, wenn man glaubt, Schäuble, wenn er es gestattet: Ich meine, daß die zur Aufarbeitung der Vergangenheit und der persön- Entscheidung, wen der brandenburgische Landtag lichen Verantwortung die Frage ausklammern zu zum Vorsitzenden einer Untersuchungskommission können, was aus dem Westen zur Systemstabilisie- bestellt, Sache des brandenburgischen Landtages ist. rung Das ist jedenfalls mein Verfassungsverständnis. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]): Sehr (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Bei uns richtig!) nennt man das: „den Bock zum Gärtner machen" !) der DDR und des SED-Regimes beigetragen worden ist. Der Deutsche Bundestag steht vor einer sehr schwierigen Aufgabe. Wir sollen eine Kommission (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der einsetzen, die sich mit der Aufarbeitung von SPD) Geschichte befaßt, der Geschichte eines untergegan- An dieser Stelle ergeben sich große Arbeitsfelder. genen Staates, und dies zu einem Zeitpunkt, da die Bürger dieses Staates und auch wir Abgeordneten von Meine Damen und Herren, wir sind ein Volk — ob einer Flut von Enthüllungen — wahren, halbwahren wir es wahrhaben wollen oder nicht. und falschen — über eben diesen Staat überschüttet (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Begriffen haben werden. Wohl erstmals in der Geschichte steht einem wir es schon!) Staat ohne Krieg und ohne Waffengewalt fast das gesamte Archivmaterial eines anderen Staates zur Wir selbst sind am Aufarbeiten in Ost und West Verfügung, dessen Beseitigung, wie heute Bundes- gleichermaßen beteiligt, weil uns die Einheit in kanzler Kohl noch einmal bestätigt hat, stets sein Deutschland insgesamt verändert hat. Das ist wie bei innerstes Anliegen gewesen war. einer Ehe: Es geht niemand unverändert hinaus, und Die gegenwärtige Atmosphäre kann in vielem nach die Scheidung steht für uns ohnehin nicht an. meiner Ansicht nur mit der Atmosphäre der fünfziger Die selbstkritische Frage im Westen, wo der ein- Jahre, der Atmosphäre zur Zeit des KPD-Verbots zelne gestanden hätte, wenn er im SED-Staat gelebt verglichen werden. Damals betrachtete jeder der hätte, ist genauso abseits aller Überheblichkeiten beiden Staaten sich als den rechtmäßigen deutschen ehrlich zu beantworten, wie wir im Osten zu unserem Staat, den anderen als einen Unrechtsstaat. Damals eigenen Versagen zu DDR-Zeiten stehen müssen. waren hier Vokabeln wie „Stalinismus" und „Totali- tarismus" in aller Munde, dort wurde vom „Kolonial- Trotzdem, glaube ich, ist es richtig, daß sich im staat BRD" gesprochen und scheute man nicht vor der Osten wie im Westen gleichermaßen herumspricht, Bezeichnung „vorfaschistischer" oder „kriegstreibe- daß das Rückgrat nicht nur ein Teil des Körperbaus ist, rischer Staat" zurück. sondern daß man es auch zum Leben braucht, Seitdem war das Klima ruhiger geworden. Die (Zuruf von der SPD: So ist es!) Entspannung brachte neue Einsichten, die auf realen gerade als Ermunterung für die Jugend, damit sie den Veränderungen, aber auch auf dem Willen zur fried- Mut zum Widerstehen bekommt, falls sie mit ihren lichen Koexistenz beruhten. Die SPD bescheinigte der Begabungen und Idealen wieder einmal ideologisch DDR Reformfähigkeit, die SED der Bundesrepublik mißbraucht werden soll. Friedensfähigkeit. Der Bundeskanzler Kohl empfing Erich Honecker als Staatsoberhaupt. Meine Damen und Herren, wir waren keine 17 Mil- Heute ist die größere Bundesrepublik in großem lionen Widerstandskämpfer, und wir sind auch keine Umfang zur Terminologie des Kalten Krieges zurück- 17 Millionen Täter. Wir hatten Täter, wir hatten Opfer, gekehrt. Die vielkritisierte DDR-Forschung greift wie- und wir hatten viele Mitläufer. Genau an dieser Stelle der zur Vokabel des Totalitarismus. Honecker ist auf muß differenziert werden. dem besten Wege, zum Stalin von heute zu werden. Trotzdem wissen wir: Die Bundesrepublik Deutsch- In dieser Atmosphäre wird es sehr schwer sein, eine land hat nur so viel Perspektiven, wie jeder einzelne zweifellos notwendige — gerade auch für Sozialisten Bürger in diesem Land eine Perspektive hat. Wie notwendige — Aufarbeitung der Geschichte wahrhaf- schaffen wir es, diese Vergangenheit aufzuarbeiten? tig durchzuführen. „Versöhnung unter Menschen Wie schaffen wir es, daß aus dem Vereinigungsprozeß kann ohne Wahrheit nicht gelingen", erklärte Richard 6738 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Uwe-Jens Heuer von Weizsäcker bei der Verleihung des Heine gemacht haben, welche Chancen es gegeben hat, die Preises. versäumt wurden.

Jeder, der sich mit wissenschaftlicher historischer (Zuruf des Abg. Dr. Günther Müller [CDU/ Arbeit beschäftigt hat, weiß, wie schwierig es ist, CSU]) Wahrheit über Geschichte zu sagen. Ohne eigenen Alle diese Fragestellungen aber kennen diejenigen Standpunkt kann man nichts erkennen, und zugleich nicht, die hier eine Enquete-Kommission vorschla- kann der eigene Standpunkt wichtige Einsichten gen. verstellen. Der Scheinwerfer der Erkenntnis ist unab- dingbar; aber er läßt auch immer etwas im Dunkeln — Geschichtsaufarbeitung mit einer solchen Zielstel- wie erst, wenn Interessen wirken und das Bild verzer- lung droht zur Stunde der großen Vereinfacher, zum ren! Wenn solche geschichtliche Einsicht aber in einer Werkzeug für jene zu werden, die das Jahr 1992 zum Zeit der Aufgeregtheit bis hin zur Hysterie und der Jahr der endgültigen Vernichtung der DDR-Reste Suche absatzgieriger Medien nach immer neuen Ent- machen wollen hüllungen gewonnen werden soll, muß das erste (Zuruf von der CDU/CSU: Die gibt es doch Gebot der Wissenschaft, aber auch der Politik Nach- gar nicht!) denklichkeit sein: Radikalität der Kritik, die verstehen und begreifen und erst dann urteilen will. Ich glaube und dabei seit anderthalb Jahren doch immer wieder in den Reden von Willy Brandt und Rainer Eppelmann dem alten Unrecht neues Unrecht hinzufügen. heute auch so etwas verspürt zu haben. Unsere Zweifel an der Tauglichkeit einer solchen Ich weiß, daß das sehr viel von Politikern verlangt. Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der DDR haben vielfältige Gründe. Warum soll Tatsächlich stimmen schon die Titel der Vorlagen Geschichte Aufarbeitung von Unrecht in der deutschen Ge- bedenklich. Der SPD-Antrag ist überschrieben: „Poli- schichte sich auf die Geschichte der DDR beschrän- tische Aufarbeitung von Unterdrückung in der SBZ/ ken, eines Staates, mit dessen Untergang auch das in DDR" . Der gemeinsame Antrag lautet: „Aufarbeitung ihm existierende Unrecht untergegangen ist? der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur". Das DDR-Bild des SPD-Antrages wird bereits im Aus welchem Grunde wird die sehr komplexe Aufbau deutlich: erstens Machtstrukturen, zweitens Geschichte der DDR von vornherein verkürzt als offene Repressionsmechanismen, drittens- verdeckte Unrechtsgeschichte definiert? Repressionsmechanismen und viertens Leben in der Diktatur. Für Reformer ist hier kein Platz mehr. Das (Zuruf von der CDU/CSU: Weil sie es war!) Leben in der Diktatur wird mit wenigen Begriffen Im SPD-Antrag wird einerseits von der unbearbeite- erfaßt: Widerstand, politische Verfolgung, Kirche ten Geschichte der DDR gesprochen und der Stand- sowie Mitläufertum, Anpassung und Lethargie. punkt bezogen, daß die tatsächlichen Machtstruktu- ren vielfach verborgen blieben. Die DDR erscheint Auch für Dr. Jürgen Schmieder gab es heute in der gewissermaßen als Terra incognita. Zum andern aber Debatte nur Anpasser oder Widerständler. Er sprach wird diese Geschichte bereits bewertet mit einer von dem allgegenwärtigen System der Volksverdum- Vielzahl von Begriffen, die zu verstehen geben, daß mung. Nun meine ich, daß die Ostdeutschen vielleicht man schon sehr genau weiß, wie es war. solche Ausdrücke nicht immer gebrauchen sollten. Herr Dr. Schmieder war immerhin Absolvent einer Ich habe schon von dem Herangehen her den Spezialschule der Physikalisch-mathematischen Eindruck, daß es das gleiche Muster ist, das wir aus Richtung und der TH Chemnitz. Er ist Diplom- der DDR sehr gut kennen. Die politische Absicht Ingenieur, besuchte die Betriebsschule Riesa und war bestimmt das wissenschaftliche Ergebnis. Die erste dann Patentingenieur. Ich meine, wir sollten doch Position ist bezogen auf die dringliche Notwendigkeit, vielleicht auch in unserem eigenen Interesse nicht von eine politische Aufarbeitung der DDR-Geschichte zu einem allgegenwärtigen System der Verdummung im begründen. Die zweite Position zeigt, daß man sich Osten sprechen. partout von dem bereits feststehenden Urteil, die DDR sei ein Unrechtsstaat, durch keinerlei Tatsachen Niemand kann, wenn man so herangeht, mehr die abbringen lassen wird. Frage beantworten, warum so viele in ganz Deutsch- (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Das war sie land sich einst für das Ziel des Sozialismus eingesetzt doch wohl auch!) haben und gerade in diesem ostdeutschen Weg eine Antwort auf die Katastrophe des Faschismus sahen. Die Enquete-Kommission wird sich zunächst mit der Ich schäme mich auch heute noch nicht, 1946 von Aufgabe konfrontiert sehen, den generellen Sinn der Schleswig-Holstein nach Berlin gegangen zu sein, um Aufarbeitung von deutscher Geschichte und von dabei mitzutun. Ich sah damals in Westdeutschland DDR-Geschichte nach der Vereinigung zu bestim- einen Weg zur Restauration der alten Verhältnisse, men. Geschichte ist abgeschlossene Vergangenheit, weitgehend mit dem alten Führungspersonal. aus der man für Gegenwart und Zukunft Lehren ziehen kann und muß. Aber diese Aufgabe ist wissen- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ schaftlich zu diffizil und politisch viel zu brisant, als CSU) daß man sie ausgerechnet einzig und allein einem Gremium von etablierten Politikern überlassen sollte, Aber ich frage mich natürlich immer wieder, woran deren Meinung — jedenfalls wenn ich die Anträge unser Vorhaben gescheitert ist, was wir falsch studiere — bereits feststeht. So wie es keine allge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6739

Dr. Uwe-Jens Heuer meine Moral gibt, so gibt es auch keine allgemeinver- dem Antrag ganz deutlich wird. Ich denke, das sollten bindlichen Kriterien zur Bewertung von Geschichte. Sie hier auch nicht verschweigen und nicht so tun, als (Abg. Freimut Duve [SPD] meldet sich zu seien Sie der Reine und wir seien die Unreinen. Das einer Zwischenfrage) geht nicht. Wir sind jetzt mit der Gefahr konfrontiert, daß eine Kommission des Bundestages zur Bewertung eines wichtigen Abschnitts deutscher Geschichte von der Dr. Uwe - Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Nein, das Moral und Autorität der Sieger beherrscht wird. behaupte ich nicht. Wenn wir einig wären, daß wir hier alle gemeinsam arbeiten und uns gemein- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollege Heuer, sam — — gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Nein!) Duve? — Entschuldigen Sie!

Dr. Uwe - Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Ja, bitte (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Ich war schön. kein Marxist-Leninist! Sie waren einer!) (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Das ist — Das fehlt Ihnen, mein Herr; das fehlt Ihnen. unerträglich! Sie waren doch einer der Chefideologen dieses Staates!) (Zuruf von CDU/CSU: Nein, das ehrt ihn!) Das ist eine gute Schule. Freimut Duve (SPD): Herr Kollege, Sie beschweren (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ sich über mögliche politische Absichten, die politische CSU]: Eine sehr gute Schule für Massenmör Parteien bei der Einsetzung haben könnten. Ich habe der!) Ihren Antrag genau studiert, und ich muß sagen, daß — Der erste Tote in diesem Hause war ; Sie an mehreren Stellen politische Absichten, was das ich will Ihnen das einmal sagen. Sie sollten das Wort Verhalten verschiedener Bundesregierungen angeht, nicht ungestraft in den Mund nehmen. in diesen Antrag bereits so hineingebaut haben, daß jedenfalls ich Ihrem Antrag genau diese gleiche (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Sie waren doch ein Marxist-Leninist!) Absicht unterstellen muß, die Sie aus den anderen- Anträgen glauben herauslesen zu müssen. — Was hier Mord betrifft, sage ich: Der erste Tote aus diesem Hause war Gerhard Riege, und Sie sollten Dr. Uwe - Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Ich will dieses Wort nicht in den Mund nehmen. Ihnen eines sagen: Wir bewegen uns hier auf dem Feld der Politik, und es ist für Politiker sehr schwer, (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU) Wissenschaft zu betreiben. Ich weiß das. Ich war mein — Darf ich weitersprechen? Leben lang gerne Wissenschaftler. Ich bestreite nicht, daß wir eigene Gesichtspunkte (Lachen bei der CDU/CSU — Dr. Günther zur Geschichte haben. Wir haben eine Fülle von Müller [CDU/CSU]: Chefideologe waren Sie Fragen aufgelistet, und ich halte es für unser gutes doch, Herr Heuer!) Recht, auch unsererseits Fragen in die Debatte einzu- — Entschuldigen Sie, mein Herr. Lesen Sie meine bringen. Bücher! Ich habe das schon früher anderen Kollegen Politische Aufarbeitung gerade auch der DDR- von Ihnen empfohlen. Lesen Sie meine Bücher, dann Geschichte ist eine Aufgabe aller politischen Strö- können wir uns ernsthaft unterhalten. mungen gerade in Ostdeutschland, die nicht durch (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Die habe allgemeinverbindliche Vorgaben oder Schlußfolge- ich doch gelesen, deswegen weiß ich es!) rungen einer Kommission ersetzt werden kann. Für — Das ist sehr schön. Dann unterhalten wir uns die politischen Kräfte, die im Kapitalismus den End- darüber. punkt der Geschichte sehen, stand und steht die Schlußfolgerung aus dem Sozialismusversuch in der (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Sie haben DDR fest: Es darf nie wieder einen solchen Versuch doch die Verfassung interpretiert!) geben, auch keinen mit menschlichem und demokra- Sie kennen doch gar nicht den Unterschied zwischen tischem Antlitz. Diejenigen, die sich für einen solchen Ideologie und Wissenschaft. Darüber können wir uns Versuch in der DDR engagiert haben, müssen mora- ein anderes mal unterhalten. lisch abqualifiziert und bestraft werden. (Widerspruch bei der CDU/CSU — Dr. Für die Sozialisten in Ostdeutschland gibt es ganz Günther Müller [CDU/CSU]: Das ist die Arro andere Schlußfolgerungen: Gescheitert ist sowohl das ganz der SED!) Konzept der Diktatur des Proletariats als auch das der Aber nun zu Herrn Duve. administrativen Kommandowirtschaft. Wir als Partei des Demokratischen Sozialismus Vizepräsidentin Renate Schmidt: Bitte sehr. stellen uns die Frage nach unserer Verantwortung für das Schicksal des Sozialismus in unserem Lande. Wir Freimut Duve (SPD): Sie haben in Ihrem Antrag sprechen und wollen weiterhin sprechen über die mehrfach politische Ereignisse der 50er und 60er Verantwortung von Sozialisten und von denjenigen, Jahre und auch Konföderationsangebote in einer die sich als solche ausgaben, für Fehler und Verbre- Weise angesprochen, daß die politische Absicht in chen, die bei diesem Versuch begangen wurden. 6740 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Uwe-Jens Heuer Die überwiegende Mehrheit in der zu bildenden wollten im Herbst 1989 nicht die Beseitigung der DDR; Enquete-Kommission bzw. die politischen Richtun- das wissen auch Sie, Herr Schmude. gen, die sie repräsentieren, waren von Anfang an (Zuruf von der CDU/CSU: Was? Wo haben gegen diesen Versuch, eine sozialistische, sozial Sie denn gelebt? — Weitere lebhafte Zurufe gerechte Gesellschaft in Deutschland zu gestalten. Sie von der CDU/CSU) haben uns — das ist meine Meinung — von Anfang an nicht für unsere Fehler kritisiert, auch nicht primär für — Entschuldigen Sie, Lautstärke entscheidet nicht Unrecht, sondern dafür, daß wir diesen Versuch über wissenschaftliche Fragen. überhaupt annahmen. (Lachen bei der CDU/CSU) Ich bin überzeugt: Wären Rosa Luxemburg oder Herr Poppe. Robert Havemann Präsident der DDR geworden, die Herrschenden der BRD hätten der DDR, so sie denn gekonnt hätten, auch kein anderes Schicksal berei- Gerd Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Kollege tet. Heuer, sind Sie der Meinung, daß es angemessen ist, für diese These ausgerechnet die Person Robert Have- Wir haben ein eigenständiges Interesse an der manns zu erwähnen, nach dem Schicksal, das ihm die Aufarbeitung der DDR-Geschichte, sowohl, um dar- SED bereitet hat? aus konzeptionelle Konsequenzen für unsere Pro- grammatik zu ziehen, als auch, um daraus politische (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Schlußfolgerungen für die Bewertung der Vergan- F.D.P.) genheit und unser politisches Verhalten in Gegenwart und Zukunft abzuleiten. Dr. Uwe - Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Ich verur- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: teile das, was gegenüber Robert Havemann gesche- 40 Jahre habt ihr die Andersdenkenden ins hen ist. Aber Robert Havemann war Sozialist, und Gefängnis gebracht und umgebracht!) Robert Havemann hätte an der Spitze dieser DDR das Gegenüber einer generellen Aburteilung der DDR gleiche Schicksal erlitten. Das ist meine Überzeu- und des in ihr unternommenen Sozialismusversuchs gung. werden wir immer wieder aufs neue darauf verweisen, (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: daß der Einsatz von Millionen Menschen für den Heute!) - Aufbau einer anderen Gesellschaftsordnung in Über- — Sie können eine andere haben. Allende ist in Chile windung des faschistischen Erbes keiner Entschuldi- ermordet worden. gung bedarf, (Zuruf von der CDU/CSU: Was haben Sie (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ein denn für Herrn Havemann gemacht?) gekerkert, gefoltert, das ist euer Versuch — Das habe ich eben gesagt. Das weiß ich ja. Ich habe gewesen! Schämen Sie sich!) es nicht gemacht. Aber andere. daß es zur Realität im Nachkriegsdeutschland nun einmal gehörte, daß zwei Staaten existieren. (Zuruf von der CDU/CSU: Für ihn!) — Ich will Ihnen einfach erläutern, daß ich der Meinung bin, daß auch dann, wenn Reformsoziali- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege sten, wenn Sozialisten wie Luxemburg und Have- Heuer, es liegen zwei Wünsche auf Zwischenfragen mann, an der Spitze dieses Staates gestanden hätten, vor. Sie müssen mir zwischendrin einmal Gelegenheit diejenigen, die den Sozialismus in keiner Form wol- geben, Sie zu fragen, ob Sie sie zulassen. len, diesen Staat ebenfalls erbittert bekämpft hätten. Das ist meine Meinung. Aber das würde genügen. — Darf ich bitte fortfahren. Dr. Uwe - Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Ja, bitte schön. (Zuruf von der SPD: Gegen Dub č ek in Prag sind Sie gemeinsam einmarschiert!) — Mein Herr, ich bin nicht einmarschiert. Ich war nie Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Schmude und dann der Kollege Poppe. Soldat, im Gegensatz zu Ihnen vielleicht. (Zuruf von der CDU/CSU: Aber Ihre Partei! Sie haben es doch verantwortet!) Dr. Jürgen Schmude (SPD): Herr Heuer, wenn Sie eben davon sprachen, daß die Herrschenden in der Es ist wichtig, über Unrecht in der DDR zu sprechen. Bundesrepublik Deutschland der DDR ein bestimmtes Aber es ist ebenso wichtig, über gegenwärtiges Schicksal bereitet hätten, wären Sie vielleicht so Unrecht zu sprechen, über die Zerstörung unserer freundlich, darüber zu sprechen, daß die Bürger der Lebensgrundlagen und über das, was etwa die Hälfte DDR ihrem Staat selber ein Schicksal bereitet haben? der DDR-Bevölkerung gegenwärtig als Kolonialisie- Das ist doch nicht von hier gekommen. rung empfindet, über die massenhafte Verletzung von Menschenwürde und Menschenrechten im Rahmen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der der Abwicklung und der Deindustrialisierung Ost- F.D.P.) deutschlands und der bevorstehenden Vertreibung von Hunderttausenden von ihren Grundstücken und Häusern. Dr. Uwe - Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Ich weiß, welche Rolle die Bürger der DDR in diesem Zusam- (Zuruf von der SPD: Das ist doch Quatsch! menhang gespielt haben. Aber diese Bürger der DDR Niemand wird vertrieben!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6741

Dr. Uwe-Jens Heuer Unser Verständnis von Geschichtsaufarbeitung ist in Mertens an Stolpe, auf welche Gesetzesverletzungen unserem Antrag dargelegt. Ich möchte die fünf er sich denn berufen könne. Punkte, die wir im Antrag beschrieben haben, erläu- Die DDR war ein völkerrechtlich souveräner Staat tern. mit einem eigenen Rechtssystem. Erstens sagen wir nachdrücklich ja zu einer sachli- (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Einem Un chen und differenzierten Aufarbeitung der DDR- rechtssystem, und Sie waren der Interpret!) Geschichte. Wir haben dabei auf vielfältige Unter- drückungsmechanismen hinzuweisen, aber auch zu Im Grundlagenvertrag von 1972 hat die Alt-BRD dies beachten, daß es Leistungen, Konfliktregulierungs- anerkannt. Die Untersetzung der Formel von „Un- mechanismen und Werte in dieser DDR gab, die rechtsregime DDR" durch die Geschichtsaufarbei- Zustimmung vieler Bürger fanden. Eine differenzierte tung soll alles das vergessen machen bzw. als nichtig Aufarbeitung der DDR-Geschichte durch die En-- erscheinen lassen. quete-Kommission ist deshalb so schwierig, weil das (Zuruf von der CDU/CSU: Eine Zumu gesellschaftliche Klima, auch das Klima in diesem tung!) Hause, wie Sie beweisen, auf Verdammung und nicht auf Klärung aus ist. Die große Lüge der SED- Der Enquete-Kommission erwächst hier eine sehr Machthaber, daß das politische System auf einem fragwürdige Funktion: die Kriminalisierung der tiefen, unerschütterlichen Vertrauensverhältnis zwi- DDR - Geschichte, den nachträglichen Ausschluß der sch en der Part ei, der Arbeiterklasse unddemVolk DDP der Völkerrechtsgemeinschaft und der Hin- beruhe, wird ersetzt durch die ebenso große Lüge von weis auf ihren Charakter als Unrechtsstaat. der DDR-Geschichte als Horrorgeschichte von Re- (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ pressionsakten und -mechanismen. CSU]: Kriminelle werden nicht kriminali Hier wird die reale Widersprüchlichkeit des gesell- siert!) schaftlichen Lebens in der DDR ebenso eliminiert wie Drittens schließlich halten wir es für notwendig, die auch keineswegs wirkungslose Möglichkeiten der Ursachen des Scheiterns des Versuchs zu ergründen, Interessenartikulation und der Lösung sozialer Kon- auf deutschem Boden einen sozialistischen Staat zu flikte im politischen System oder am Arbeitsplatz. Die errichten. Dabei geht es auch darum, die Ursachen für Normalität des gesellschaftlichen Lebens, im Arbeits- Verantwortung und Schuld zu bestimmen. Zum bereich, im Territorium, im Gesundheits- und Bil- Sozialismusversuch in der DDR gehören zahlreiche dungswesen wird allein aus dem verengten Blickwin- positive Erfahrungen im Kampf um soziale Gerechtig- kel von Machtmißbrauch und des bornierten Macht- keit, begriffs der SED erfaßt, bis hin zu erfundenen Schau- ergeschichten, der Ertränkung der Frühgeborenen in (Zurufe von der CDU/CSU) Wassereimern. Bewußt negiert wird, daß die DDR um ein solidarisches und friedliches Gemeinwesen auf Vorbildliches auf den Gebieten der Sozialpolitik, der deutschem Boden. Dazu gehören aber auch Fehler, Kultur-, Wohnungs- und Bildungspolitik geleistet Irrwege, Versäumnisse und Unrecht. hat, Warum gelang es nicht, den Weg zu Demokratie (Zuruf von der CDU/CSU: Plattenbau- und Rechtsstaat im Rahmen des Sozialismusversuchs weise!) in der DDR zu gehen? daß es bei einer „halbierten deutschen Geschichte" (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Weil die — Richard von Weizsäcker — bleibt, wenn wir dies Diktatur des Proletariats der Maßstab war!) unbeachtet lassen. Demokratie ist immer ein Risiko, Recht ist immer ein (Zuruf von der SPD: Sie haben nichts dazu- Risiko. Beide schränken die Allmacht ein, stabilisieren gelernt!) aber zugleich das System. Der Kapitalismus hat das in vielen Krisen gelernt. Die SED-Führung war nicht Diese differenzierte und widersprüchliche Gesell- bereit, ein Risiko einzugehen, und ging damit notwen- schaft in der DDR wird reduziert auf eine Opfer- dig den Weg in ihren glanzlosen Untergang, der Täter-Struktur. Die wichtigste und gefährlichste Kon- zugleich das Ende des Sozialismusversuchs war. sequenz dessen ist, daß, wer nicht Täter sein will, sich als Opfer darstellen muß und so Wendehälse, Heuch- Man kann der DDR als Staat nicht vorwerfen, daß ler und Karrieristen produziert werden. sie ein Staat war und entsprechend handelte. Man kann ihr aber sehr wohl vorwerfen, daß die Ableh- Zweitens wenden wir uns gegen das vor allem für nung jeglicher Reformen mit einer unablässigen die CDU/CSU charakteristische Bemühen, in das Vergrößerung des Sicherheitsapparats und mit teil- Zentrum der Aufarbeitung der DDR-Geschichte die weise der eigenen Verfassung und den Rechtsvor- Formel vom Unrechtsregime DDR zu plazieren, um schriften widersprechenden Repressionsmaßnahmen von da aus den großen, repressiven Rachefeldzug Hand in Hand ging. gegen alle, die sich mit der DDR verbunden fühl- ten, Viertens muß die Aufarbeitung der DDR Geschichte von den Wechselbeziehungen der Nach- (Zuruf von der CDU/CSU: Wo gibt es denn kriegsgeschichte zwischen beiden deutschen Staaten einen repressiven Rachefeldzug?) und deren Einbindung in internationale Kräftekon- und mitunter sogar gegen alle, die in der DDR nicht stellationen und spezifische Bündnisse ausgehen. Wir aus politischen Gründen im Gefängnis saßen, zu können nicht übersehen, daß die DDR wie auch die rechtfertigen. Ich erinnere nur an die Frage von BRD, wie die deutsche Teilung überhaupt Resultate 6742 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Uwe-Jens Heuer des Kalten Krieges waren. Eine sachliche und kriti- sammenhänge aus den letzten 40, 45 Jahren mit sche Aufarbeitung der DDR-Geschichte hat auch nach sichtbar zu machen. Wir müssen uns davor hüten, daß den Auswirkungen des Kalten Krieges auf die Ent- die Kommission in erster Linie oder ausschließlich den wicklung in der DDR und in der BRD zu fragen. innenpolitischen Teil — den ich für den wichtigsten Fünftens kann wirkliche Vereinigung über Ge- halte — betrachtet. Sie muß sich vielmehr darüber im schichtsaufarbeitung nur gelingen, wenn wir uns klaren sein, daß das Ergebnis dieser Enquete-Kom- einer Aufarbeitung der deutschen Geschichte in die- mission auch international gesehen und beachtet sem Jahrhundert in ihrer Gesamtheit widmen. Es ist wird. Das bedeutet für mich nicht, daß die Kommission für die Zukunft Deutschlands verhängnisvoll, wenn nun bis in die letzte Einzelheit hinein alles, was in der sich die Tendenz fortsetzt, hinter der Abrechnung mit Vergangenheit geschehen ist, auch entsprechend auf- der DDR die ungenügende Bewältigung des faschisti- arbeiten muß. Aber es muß sichtbar werden, welche internationalen Zusammenhänge mit der nationalen schen Erbes zu verdecken und die Dinge in Zusam-- menhang mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte Entwicklung verbunden waren. Dazu lassen Sie mich so darzustellen, als ob die DDR die Fortsetzung des ein paar Bemerkungen machen. Dann wird nämlich Nazi-Staates gewesen sei, auch die Bemerkung, die wir eben hörten, daß wir bei dieser ganzen Arbeit von Moral und Autorität der (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Sehr wahr! Siegermächte bestimmt seien, in sich zusammenfal- Rot und Braun!) len. ansonsten aber über die Verbrechen dieses Nazi- Staates kein Wort zu verlieren. Meine Damen und Herren, mit Recht ist darauf hingewiesen worden, daß wir 1945 beginnen müssen, In der Debatte hat heute einzig und allein Herr mit den vier Besatzungszonen und ihren unterschied- Poppe ein Wort der Kritik am Nazi-Staat gefunden. lichen Entwicklungen. Wir müssen berücksichtigen, Sonst hat hier niemand etwas in dieser Richtung wie der Versuch gemacht wurde, auch in der sowjeti- gesagt. schen Besatzungszone eine demokratische Struktur (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Warten Sie aufzubauen. Es ist kein falscher Ansatz, wenn man ab! Es kommt ja noch! — Detlev von Larcher darauf hinweist, daß der Zusammenschluß von KPD [SPD]: Sie haben ja nicht zugehört! — und SPD 1946 für die beiden anderen politischen Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Kräfte, die es damals gab, eine Schwächung bedeu- CSU]: Da war er noch nicht im Plenum!) tete. Das hat nichts damit zu tun, daß wir davon etwas Deswegen sehe ich in dieser Vorgehensweise die wegwischen wollen. Im Gegenteil: Wir müssen natür- große Gefahr, daß die Verbrechen des Nazi-Staates lich hinzufügen, daß von Kurt Schumacher von der durch die Kritik an der DDR verdeckt werden. späteren Bundesrepublik, den damaligen drei West- zonen, aus versucht worden ist, den Zusammenschluß Wenn über Unrecht und Demokratieverletzung in zu verhindern, daß es Hunderte und Tausende von der DDR zu reden ist, dann darf man auch über SPD-Mitgliedern gab, die das nicht mitgemacht Unrecht in der BRD nicht schweigen. haben, die versucht haben, woanders Zuflucht zu Wir sagen ja zur Aufarbeitung der Geschichte in finden. Aber umgekehrt gab es Tausende und Hun- ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Wir werden uns in derttausende, die in die Einheit gegangen sind und diesem Sinne an der Arbeit der Kommission beteili- damit die anderen Kräfte, die damals noch die Hoff- gen. Wir sagen nein zu einer Unterordnung dieser nung hatten, ein demokratisches System zu schaffen, Aufgabe unter das politische Ziel, die Schlachten des in ihren Bemühungen geschwächt haben. Kalten Krieges nun auch moralisch siegreich gewin- nen und juristisch besiegeln zu können. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dr. Wolf Auch das müssen wir in aller Ruhe untersuchen und gang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: uns damit auseinandersetzen. Höchst schwach!) (Dr. Elke Leonhard-Schmid [SPD]: Es gab keine Abstimmung darüber! Die sind unter Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat Zwang hineingegangen!) der Kollege Wolfgang Mischnick das Wort. — Genau das ist der Punkt, wo die Untersuchungen ansetzen müssen. Man muß deutlich machen, wo der Wolfgang Mischnick (F.D.P.): Frau Präsidentin! Ausgangspunkt war. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist Es muß dann aber auch Klarheit darüber geben, daß schon vieles zum Ausdruck gebracht worden, was von das zu Entwicklungen führte, die es 1949 leichter uns allen gleich gesehen wird: Erfahrungswerte, Not- machten, den DDR-SED-Staat in dieser Form zu wendigkeiten. Ich will mich bemühen, ein paar bilden. Dazu gehört — das halte ich für ein ganz Gesichtspunkte anzufügen, die ergänzend auf einiges gewichtiges Kapitel —, daß man den Beginn der hinweisen sollen. Freien Deutschen Jugend 1946 sehr sorgfältig unter- Ich bin in letzter Zeit sehr viel von Ausländern sucht. Denn machen wir uns nichts vor: Mit dieser gefragt worden: Wie war es eigentlich möglich, daß es Staatsjugend, die eingeführt wurde, wurde die Vor- nach den Erfahrungen mit der nationalsozialistischen aussetzung geschaffen, daß man über Jahrzehnte Diktatur so lange gedauert hat, bis in dem, was die jungen Menschen das einimpfen konnte, was zumin- DDR war, der entsprechende Widerstand zur Beseiti- dest zum Dulden, zum Mittragen geführt hat, zum gung des Systems führte? Es sollte eine wichtige Glauben daran, daß es doch der richtige Weg sei. Man Aufgabe der Kommission sein, auch die Gesamtzu- muß untersuchen, was es bedeutet hat, daß 1946, als Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6743

Wolfgang Mischnick die FDJ gegründet wurde, HJ-Führer pauschal über- hen. Da ist das Gespräch Chruschtschow-Kennedy in nommen wurden unter dem Motto: Entweder ihr Wien, das man sehen muß — nicht, weil ich anklagen, macht mit, oder ihr geht in Haft. Warum sage ich das? weil ich andere beschuldigen will, sondern weil ich Daß man daraus die Lehren für die Zukunft zieht und vermeiden will, daß morgen oder übermorgen der sichtbar macht, wo man bei Weichenstellungen auf- Eindruck entsteht, es wäre allein Sache der Deutschen passen muß, die für die künftige Entwicklung viel- gewesen, dies abzuschütteln. Vielmehr war es so, daß leicht gefährlich sein könnten. internationale Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben, die dann danach dazu führten, daß auf einer Das bedeutet doch, daß man das Erziehungssystem anderen Ausgangsbasis versucht werden mußte, an anpacken muß. Ein einzügiges, ein einheitliches die Lösung der Probleme heranzugehen. Das gehört Erziehungssystem birgt immer in sich, daß die Gefahr mit dazu. größer wird, daß Diktaturen Zugriff auf alle haben. Ein pluralistisches Erziehungssystem, wie wir es für rich-- (Beifall bei der F.D.P., der SPD sowie bei tig halten, hat eine größere Chance, solchen Gefahren Abgeordneten der CDU/CSU) zu wehren. Auch das als Erfahrungswert sichtbar zu Meine Damen und Herren, 1968 die Niederschla- machen scheint mir notwendig zu sein. gung der Reformbewegung in der CSSR unter Mit- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne wirkung der Nationalen Volksarmee war doch wie- ten der CDU/CSU) derum ein Punkt, bei dem der Eindruck entstehen mußte, hier werde alles hingenommen. Ich erinnere Meine Damen und Herren, ich geh e auch nic ht mich noch sehr genau dieser Nacht, als es manche darüber hinweg, daß man natürlich die Ministerprä- Sorge bei uns innerhalb der Bundesrepublik gab: sidentenkonferenz in München untersuchen muß: Könnte dieser Einmarsch nicht vielleicht bedeuten, daß es damals Einwirkungen von außen gab, um daß man über die Grenzen hinweggeht? Ich habe manche Dinge, die man damals noch versucht hatte zu damals schon gesagt: Das ist klar geregelt. Hier gibt es bewegen, nicht in die richtige Richtung zu bringen. die Einflußspähren. Ich wiederhole noch einmal: Ich Wir war doch die Parole: Die Partei hat immer recht. will damit niemanden anklagen, ich will nur, daß die Ganz nebenbei: Auch Parteitage haben nicht immer Aufarbeitung wirklich richtig geschieht und nicht recht. Was will ich damit sagen? Es muß herausgear- einseitig bei einer Seite stehenbleibt. beitet werden, daß in einem freiheitlichen demokrati- (Beifall im ganzen Hause) schen Rechtsstaat die Staatsgewalt nicht von einer einzelnen Gruppierung ausgeübt werden darf. Dazu gehört natürlich auch, obwohl ich geneigt wäre, hier noch zu vielen Einzelpunkten Stellung zu (Freimut Duve [SPD]: Das ist die Privatisie nehmen — aber die Zeit läßt es nicht zu —, daß rung des Staates!) diejenigen, die nur einen besseren Sozialismus woll- Hier muß es vielmehr eine Trennung geben. Ganz ten — da haben wir manches gehört —, offensichtlich nebenbei: Daß es bei absoluten Mehrheiten auch in bis heute nicht erkannt haben, daß das ganze System, unserem Bereich manchmal Gefahren gibt, ist nicht zu seine ideologische Grundlage, falsch war und daß sie verschweigen. Das ist ein Thema, das man von beiden sich jetzt selbst prüfen müssen, ob sie nicht auf dieser Seiten untersuchen muß. falschen Grundlage entscheidend dazu beigetragen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — haben, daß wir heute diese Vergangenheit aufarbei- Freimut Duve [SPD]: Das mußte doch einmal ten müssen. gesagt werden!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — Natürlich. Weil es zum Demokratieverständnis Wenn sich jemand davon nicht lösen kann, gut, das insgesamt gehört. müssen wir zur Kenntnis nehmen. (Dr. Elke Leonhard-Schmid [SPD]: Die Legi Ich verstehe, daß es manchen gibt, timation der F.D.P.!) (Abg. Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste] Was ist aber auch notwendig? Wenn wir werten und meldet sich zu einer Zwischenfrage) bewerten wollen, warum manche Entwicklungen so — kleinen Augenblick, lassen Sie mich noch einen gekommen sind, müssen wir auch sehen, daß der Satz sagen; vielleicht hat es sich dann schon erle- Versuch 1953, sich zu befreien, scheiterte, weil die digt —, der sagt: Besatzungsmacht diesen Aufstand niederknüppelte, weil man von westlicher Seite enttäuscht wurde. Auch Mein Vater war Kommunist, er ist in der Nazi-Zeit das gehört für mich zur Aufarbeitung: verhaftet worden, ins Konzentrationslager gebracht worden, vielleicht sogar umgekommen oder hatte das (Dr. Elke Leonhard-Schmid [SPD]: Richtig!) Glück zurückzukommen, hat dann mit beim Aufbau daß 1956 das, was in Ungarn geschah, natürlich für die gewirkt; ich bin als Kind dort erzogen worden; für Vielzahl der Menschen, die anders dachten, den mich war das die Welt, von der ich glaubte, daß dies Eindruck erwecken mußte: Wir haben im Augenblick auf Dauer das Richtige ist. keine Chance, wir müssen uns einrichten; daß 1961 (Dr. Elke Leonhard-Schmid [SPD]: Das gab natürlich dazu geführt hat, daß viele der Mauerbau es!) meinten: Nun liegt eine lange Zeit vor uns, und das, was mit der Fluchtbewegung von Hunderttausenden, Da fällt es schwer, heute einzusehen, daß hier etwas ja Millionen, dem Abmarsch, geschehen ist, ist auch zusammenbrach. — Ganz nebenbei: Das ist ja auch — ich sage das so offen, weil ich keine Legendenbil- 1945 bei vielen geschehen, daß etwas zusammen- dung haben will — mit Duldung des Westens gesche brach, von dem man glaubte, daß es richtig gewesen 6744 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Wolfgang Mischnick ist. Das hat doch nichts damit zu tun, daß man ein tung von Schuld, Mitwirkung usw., aufzuarbeiten. Ich System verteidigt, sondern nur damit, daß man ver- habe die große Sorge, daß die berechtigten Interessen sucht, zu erforschen, zu erklären, zu erfassen, was die derjenigen, die als Opfer Einblick haben, und die Hintergründe gewesen sind. Wenn man diese Auf- berechtigten Interessen derjenigen, die als Dritte, gabe sieht, dann ist das ein wichtiger Punkt für die nicht als Täter, beteiligt sein können, nicht immer Aufarbeitung unserer Vergangenheit. ganz auseinandergehalten werden, so daß man da Bitte schön. sehr aufpassen muß. Ein zweites: Wissen Sie, der Vater oder die Mutter, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zwischen- die dem Kind ersparen wollten, Schwierigkeiten bei frage. der Berufswahl zu haben, und sich dann zu irgend etwas entschieden haben, ohne daß sie straffällig Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Herr Misch-- geworden sind, sind für mich anders zu beurteilen als nick, ist stimme vielem von dem zu, was Sie gesagt diejenigen, die vielleicht formal nirgendwo beteiligt haben. Aber meinen Sie, daß die Art, wie hier zum Teil gewesen sind, aber heute plötzlich so tun, als seien sie gehandelt und gerufen wird, z. B. bei meiner Rede, allein die Besseren gewesen. ermöglicht, einen vernünftigen Dialog mit denen zu (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne führen, die für einen demokratischen Sozialismus ten der CDU/CSU und der SPD) waren und, was ich von mir sagen muß, auch noch sind? Der Mann, der zwar in dem System verhaftet war, z. B. — was weiß ich — als Wachtmeister oder Feldwebel Wolfgang Mischnick (F.D.P.): Herr Kollege Heuer, der Volkspolizei, dem plötzlich wegen Westkontak- für mich ist es schwer, etwas dazu zu sagen, und zwar ten, die von ihm gemeldet worden waren, gesagt wird: aus dem einfachen Grunde, weil ich mich immer um Du mußt dich jetzt entscheiden: Scheidung oder raus einen fairen Umgang bemüht habe. Aber ich verstehe aus dem Beruf, der sich für das Herausgehen aus dem nicht, wenn heute nicht endlich die Einsicht besteht, Beruf entscheidet und dem heute vielleicht gesagt daß es nicht einzelne Personen oder Persönlichkeiten wird: Auch du warst ja bei der Volkspolizei, obwohl waren, die diesen Staat DDR, wie Sie es genannt das schon sechs oder sieben Jahre her ist, dieser Mann haben, ins Verderben geführt haben, sondern daß es kann mutiger gewesen sein als mancher anderer, der das System war, das dort bestand. Da hätte sein sich nie geäußert hat. können, wer wollte, es wäre zugrunde gegangen. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und Abgeordneten der CDU/CSU) dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeord Ich will die Differenzierung. Das gilt für Künstler, das neten der SPD) gilt für Sportler usw. Da habe ich das Gefühl, daß Sie noch nicht soweit sind, dies einzusehen. Das ist das Problem. Es ist mehrfach gesagt worden — auch ich will es erwähnen, damit man nicht meint, ich denke nicht (Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste] mel daran —: Die Anordnenden, die Netzauswerfer, die det sich zu einer Zwischenfrage) Bedrohenden, das sind doch die wirklichen Täter. Um — Bitte. diese muß man sich mehr kümmern als um diejenigen, die hineingeschlüpft, hineingeschlittert sind oder miß- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Meinen Sie, braucht worden sind. Hier anzusetzen, das wird eine daß die Art des Umgangs mit mir und meinesgleichen ganz entscheidende Aufgabe sein. heute und auch mit den Wissenschaftlern in Ost- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der deutschland wirklich in der Lage ist, uns bzw. sie von SPD) den Vorzügen des neuen Systems zu überzeugen? Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Wolfgang Mischnick (F.D.P.): Ich muß Ihnen ganz Schluß sagen: Wenn es hilft, der Selbstgerechtigkeit offen sagen: Das hängt natürlich sehr oft davon ab, wie mancher, vielleicht vieler in ganz Deutschland — das der Umgang mit den Andersdenkenden von deren sage ich ausdrücklich — mit der Arbeit der geplanten und von Ihrer Seite her erfolgt. Es ist doch häufig so, Enquete-Kommission zu begegnen, dann wird sie in daß es aus dem Wald so wieder herausschallt, wie man der vor uns liegenden Zeit nicht nur einen Sinn haben, es hineingeschrien hat. Das ist ein Gesichtspunkt. Daß sondern uns weiterhelfen. Denn die Selbstgerechtig- Sie heute schon wieder gesagt haben, der Kapitalis- keit derer, die nichts davon durchlitten haben, ist mus sei nun eigentlich eine ganz schlimme Geschichte schlimmer als manches, was man heute als Tat ver- und wir hätten uns überhaupt nicht mit der Nazi- folgt. Vergangenheit auseinandergesetzt, das ist doch ein Herzlichen Dank. Punkt, der einfach nicht richtig ist. Wenn Sie das nicht lernen, wird natürlich die Gefahr immer wieder groß (Anhaltender Beifall bei der F.D.P., der CDU/ sein, daß man sich so auseinandersetzt, wie es eben CSU, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE geschehen ist. — Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nur noch zu einem Bereich ein paar kurze Bemerkungen machen. Wir sind jetzt dabei, die Tätigkeit der Stasi Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- z. B. mit Akteneinsicht, verbunden mit der Verbrei lege Rolf Schwanitz das Wort. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6745

Rolf Schwanitz (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr bei den Kommunen in den neuen Bundesländern gibt verehrten Damen und Herren! Man soll bei einem es keinen derartigen Mut. Man möchte das gern solch diffizilen und ausführlich behandelten Debat- wegdelegieren, man möchte sich nicht die Hände tenthema eigentlich keine Noten verteilen. Ich will schmutzig machen. Es ist bei den sozialen Irritationen, aber auf jeden Fall sagen, daß nach den vielen die es in den neuen Bundesländern gibt, sicher auch Zwischentönen der Redebeiträge von Kollegen eine schwierige Aufgabe. Es handelt sich um ein Mischnick und Herrn Eggert bei mir der Mut, daß wir kompliziertes Thema. Niemand redet über die Füh- auch schaffen, was wir uns vorgenommen haben, rungsoffiziere, niemand redet über die Befehlsstruk- wieder ein wenig größer ist. Dafür will ich an dieser turen der SED auf der Kreisebene, der Bezirksebene Stelle ausdrücklich meinen Dank sagen. und der zentralen Ebene.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) der CDU/CSU) Ich kann es mir nicht ersparen, ein Wort zu dem zu sagen, was Kollege Dr. Heuer in seiner Rede ausge- Ich erinnere mich sehr gut an das unvergeßliche führt hat. Ich möchte hier nur auf einen Satz eingehen, Zitat von Erich Loest in seinem Buch „Zorn des weil er mir einfach wehtut. Wenn ich es richtig Schafes" aus einem Brief des damaligen stellvertre- verstanden habe, Kollege Heuer, haben Sie gesagt, tenden Kulturministers Höpcke, der heute, wie wir die Menschen in der DDR hätten die DDR weiter alle wissen, im thüringischen Landtag sitzt, an das gewollt. Dazu muß ich ganz einfach sagen: Ich komme Politbüromitglied Hager. Dort schreibt Herr Höpcke, zu einer vollkommen anderen Einschätzung der der Genosse Hager möge Herrn Höpcke, also ihn damaligen Situation in den Jahren 1989/90. Man muß selbst, im Falle Loest zu diesem und jenem beauftra- sich an das erinnern, was damals auf den Straßen vor gen. Das geschah natürlich auch. sich ging. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Unterschriftenaktion „Für unser Land". Ich erinnere Diese Trennung zwischen der Befehlsebene und daran, wie wenig Resonanz diese Aktion fand der geistigen Ebene, der Ebene der Urheberschaft, geht vollständig verloren. Diese müssen wir auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einmal angehen. Das geschieht hoffentlich in dieser der CDU/CSU und der F.D.P.) Enquete-Kommission. Wir müssen fragen: Wo waren die entsprechenden Entscheidungsgremien? Wo steht und wie die Leute mit den Transparenten, auf denen Verantwortlichkeit? Daß diese Schieflage gemindert dieser Slogan stand, in den Demonstrationen unterge- wird, verspreche ich mir auch von dieser Kommis- gangen sind. Es bestand der eindeutige Wille, dies sion. solide zu Ende zu bringen, aber eben zu Ende zu bringen. Das war das Votum der Menschen in den Die zweite Ebene von Leistungen, die ich von der Jahren 1989/90. Enquete-Kommission erwarte, ist, daß die Enquete- Das, was wir heute tun wollen, ist eigentlich die Kommission sich damit auseinandersetzen und den Fortsetzung dessen. Das hat nichts mit Siegermentali- Versuch starten muß, die doch noch weißen Flecken in tät zu tim. der Unterdrückungsgeschichte dieser Vergangenheit aufzuarbeiten, daß sie — ich relativiere das — zumin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dest den Versuch macht, damit zu beginnen. der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir wissen längst nicht alles. Teile der Unterdrük- Der Bundestag hat heute, nachdem wir vor nicht kungsformen, die in der DDR existent waren, sind allzulanger Zeit das Stasi-Unterlagen-Gesetz und das noch immer verborgen. Wie groß war tatsächlich der Bundesarchivgesetz verabschiedet haben, den dritten Umfang der Stasi-Präsenz in der Wirtschaft, in den Punkt auf der Tagesordnung, bei dem wir versuchen, Betrieben? Welche Rolle spielten die Kaderleitungen etwas für die Aufarbeitung der Vergangenheit zu tun. und das ganze Personalwesen an dieser Stelle? Wie Ich möchte einige Bemerkungen zu der Frage wurde das System der Internierungslager durch die machen, welche Leistungen man von dieser Enquete- Bezirkseinsatzleitungen organisiert und geplant? Was Kommission erwarten kann. Mir scheint, das ist für uns war dort vorgesehen? Welche Aufträge und Anträge, alle doch noch mit einem gewissen Fragezeichen welche Vorgehensweisen hatten die Abteilungen für versehen. innere Angelegenheiten bei den Räten der Kreise und Ich glaube, die Leistungen dieser Enquete-Kom- der Bezirke beim Schikanieren von Ausreiseersu- mission sind auf drei Ebenen zu erwarten. Die erste chenden an dieser Stelle? Ebene ist — auch da möchte ich mich nicht einer eigenen Aussage enthalten —, daß diese Enquete- Hier ist vieles bei uns nur im Gefühl vorhanden, Kommission etwas gegen die Schieflage der Aufar- ohne daß wir detailliertes Wissen haben. Hier kann beitung tut, die wir derzeit gerade in den neuen aber nur Wissen die Befähigung zur Differenzierung Bundesländern erleben. Wir haben schon darüber schaffen. Die Enquete-Kommission muß versuchen, geredet: Die Vergangenheit wird auf den Punkt mit diesem Prozeß zu beginnen. Staatssicherheit konzentriert. Die Staatssicherheit wird auf den Punkt der Tätigkeit von Inoffiziellen Eine dritte Leistungsebene erwarte ich von der Mitarbeitern konzentriert. Eine Differenzierung fehlt Enquete-Kommission. Sie ist für mich — ich will das vollständig. Es gibt zur Zeit keinen Mut, ausgewogen offen bekennen — vielleicht sogar die wichtigste. Ich und differenziert über dieses Thema zu reden. Auch erwarte von der Enquete-Kommission, daß sie ein 6746 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Rolf Schwanitz Signal für die Opfer und für die Hinterbliebenen ist, was wir hier machen. Das hat mit dem eigentlichen setzt. Dasein von Politikern, von Abgeordneten in Opposi- tions- und Regierungsposition relativ wenig zu tun; (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ das ist sicherlich so. Aber ich glaube, wir müssen hier GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ über unseren Schatten springen. Es gibt gerade CSU und der F.D.P.) gegenüber den Opfern so etwas wie einen Zwang zum Dabei geht es — das will ich gern voranstellen — Konsens. Ich will hier nicht verhehlen, daß ich auch nicht um Rache oder Vergeltung. Aber ich will auch heute bei der Debatte an einigen Stellen Angst hatte, ganz deutlich sagen: Die vielen Toten, die mehr als daß wir das nicht schaffen. Ich habe deswegen am zehntausend Toten in Bautzen, die mehr als zwanzig- Anfang gesagt: „Mir ist jetzt wieder wohler.” Aber tausend Toten in Sachsenhausen, die vielen unschul- natürlich sind meine Ängste an diesem Punkt nicht dig Verurteilten und Schikanierten erwarten vom vollständig über dem Berg. Wir werden Streit nicht - vereinten Deutschland, daß ihr Schicksal nicht ver- vermeiden können; darüber bin ich mir klar. Aber geblich erlebt worden ist; sie erwarten von diesem wenn es nicht gelingt, meine Damen und Herren, Staat, daß bei allen wirtschaftlichen und sozialen parteipolitische Interessen zu minimieren und die Problemen — darüber werden sich Regierung und Themen in der Enquete so aufzugreifen, wie sie für Opposition an dieser Stelle noch genug streiten — das Leben in der DDR und in der SBZ bestimmend dieser Staat das nicht einfach vergißt und nicht einfach waren, dann ist unser Auftrag vor der Öffentlichkeit zur Tagesordnung und zum Alltäglichen übergeht, gescheitert. sondern sich dieser Schicksale annimmt und offen Hier wird es zwei Eckpunkte geben. Der erste legt. Denn Offenheit und Erkennen ist auch ein Teil Eckpunkt ist diese Debatte heute, wo wir das zeigen von Gerechtigkeit. Und Gerechtigkeitsdefizite wer- müssen. Der zweite Eckpunkt wird die Frage sein, ob den bleiben; ich glaube, das ist uns allen durchaus es gelingt, bis zum 20. Mai einen konsensfähigen bewußt. Wir können die Wunden bei den Opfern nur Arbeitsauftrag für die Enquete zu erarbeiten, den man dann heilen, wenn diese Offenlegung geschieht. der Öffentlichkeit auch zeigen kann und nicht nur der Das Hadern der Opfer mit ihrer eigenen Geschichte, eigenen Partei. Das wird ein Punkt sein, wo wir noch das ich schon an vielen Stellen bemerke, und die Leistungen erbringen müssen, und da sind nicht nur Frage, ob es sich denn überhaupt gelohnt hat, sich so die Mitglieder aufgefordert, sondern auch die Fraktio- zu verhalten, schlagen uns ja schon entgegen. Diesem nen, die hinter den Mitgliedern stehen. Ich glaube, Hadern muß etwas entgegengesetzt werden. Hierin hier müssen wir ran, auch wenn wir vor den Schwie- steckt vieles, was mit Vertrauen zur Demokratie zu tun rigkeiten Angst haben. — Danke schön. hat. Hier müssen wir etwas leisten, um auch über die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der schwierigen Zeiten der nächsten Jahre hinwegzu- F.D.P. und beim Bündnis 90/GRÜNE) kommen. Aber ich glaube auch, daß der Bundestag selber als Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Organ von dieser Enquete-Kommission eine ganze lege Dr. Gerhard Friedrich das Wort. Reihe wichtiger Informationen und Hilfsgrößen erwarten kann. Ich will bloß das Problem der Verjäh- (CDU/CSU): Frau Präsiden- rung von Regierungskriminalität ins Feld führen. Dr. Gerhard Friedrich Reicht es aus, daß man sich eventuell einigt, daß die tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eingangs kurz auf zwei Vorredner eingehen, zunächst Verjährung erst mit dem 3. Oktober 1990 losgehen auf den Kollegen Heuer, der sich hier wiederholt soll, also vorher quasi gehemmt war? Oder werden wir eventuell zu der Überlegung kommen, daß man die darüber beklagt hat, daß wir PDS-Reden mit Zwi- schenrufen stören. Jetzt will ich mal den harmloseren Verjährungsfrist verlängern muß? Das kann natürlich erst dann geschehen, wenn wir uns über den Taten Vorwurf hier wiederholen. umfang Kenntnis verschafft haben. Hierzu wird die Herr Kollege Heuer, Sie haben schriftlich und Enquete-Kommission hoffentlich auch Beiträge direkt mündlich empfohlen, daß die Enquete-Kommission für den Bundestag leisten können. gleichgewichtig Fehlentwicklungen in den alten Bun- desländern und SED-Unrecht und SED-Verbrechen Und wie ist das mit den Bahnen, in denen die untersucht. Damit erweist sich der Kollege Heuer als Aufarbeitung künftig laufen soll, wenn wir über diese ein ganz großer Verharmloser. Das empört uns, und schwierige Phase der ersten zwei, drei Jahre, in denen deshalb gibt es Zwischenrufe. wir diese Defizite haben, hinwegkommen? Soll die an Aufarbeitung dann Universitäten überlassen werden? (Zuruf von der CDU/CSU: Das nennt m Oder sollten wir nicht Institutionen schaffen, die sich Dialektik!) mit diesem Problem auseinandersetzen? Es ist ein Meine Damen und Herren, mir wird da immer mehr Thema, auf das wir momentan noch keine Antwort klar, weshalb sich diese Partei nicht neu gegründet haben. Die Enquete wird uns hier sicherlich auch ein hat, um einen Neuanfang deutlich zu machen, son- ganzes Stück weiterbringen. dern sich damit begnügt hat, nur einen neuen Namen darüber zu stülpen, aber die Inhalte offensichtlich im Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum wesentlichen beizubehalten. Abschluß noch ein paar Worte zur parlamentarischen Besonderheit dieser Enquete-Kommission hier sagen. (Dr. Wolfg ang Bötsch [CDU/CSU]: Alte Brü Bei dieser Enquete-Kommission stehen die Abgeord- der — alte Kappen!) neten in einer besonderen geschichtlichen Verant- Das zweite: Altbundeskanzler Willy Brandt hat uns wortung. Ich glaube schon, daß das etwas Untypisches durch seine Rede heute Vormittag gezwungen, das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6747

Dr. Gerhard Friedrich aufzugreifen, was wir als deutschlandpolitische Aus- Grund vieler Einzelfakten, auch wenn man diese in einandersetzung hier 40 Jahre lang erlebt haben. Das einem Prozeß erst mühsam sammeln muß. war heute früh notwendig; aber ich möchte — durch- Wir haben uns dafür entschieden, daß sozusagen aus in ähnlichem Sinne wie mein Vorredner, der das lieber ein Schuldiger frei herumläuft, als ein Unschul- angedeutet hat — empfehlen, diese Auseinanderset- diger zu Unrecht hinter Gefängnismauern verschwin- zung wenigstens nicht schwerpunktmäßig in diese det. Diejenigen, die unter diesem Unrechtsregime Enquete-Kommission hineinzutragen. gelitten haben, müßten deshalb eigentlich Erleichte- (Detlev von Larcher [SPD]: Das hat Willy rung empfinden. Und wie für alles im Leben müssen Brandt auch nicht gemacht!) auch diese Opfer einen Preis bezahlen. Der Preis Willy Brandt hat gesagt: Wir haben überhaupt keine besteht darin, daß nicht nur sie vor Willkür geschützt Probleme, daß unsere Wahlprogramme aus dem Jahr sind, sondern auch die Täter, unter denen sie so lange 1987 zitiert werden. Da steht drin: Der Kern der gelitten haben. Deutschen Frage ist die Freiheit. Deshalb sage ich Ich möchte aber nicht den Eindruck erwecken, als parteipolitisch völlig uneigennützig: Diese Auseinan- ob alles, was ich an nicht Befriedigendem angespro- dersetzung ist wieder einmal die Auseinandersetzung chen habe, sozusagen unabänderlich und die notwen- zwischen Regierung und Opposition. Sie ist notwen- dige Folge der Anwendung unseres Strafgesetzbu- dig. Aber behandeln wir sie an einer anderen Stelle! ches oder der Strafprozeßordnung ist. Es gibt Pro- Momentan und in der Enquete-Kommission interes- bleme, die wir durchaus besser lösen könnten, andere, sieren uns weniger die deutschlandpolitischen Sün- die wir, befürchte ich, gar nicht lösen können. den der SPD als die SED-Verbrechen; davon dürfen wir nicht ablenken. Es fängt schon damit an, daß wir beim Beitritt der damaligen DDR einen ganz kleinen Justizapparat (Detlev von Larcher [SPD]: Das war alles sehr übernommen haben, weil Recht „dort drüben" natür- ausgewogen, was Sie da gesagt haben!) lich nicht groß-, sondern ganz kleingeschrieben Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich wurde. Natürlich mußten wir überprüfen, ob sich schwerpunktmäßig mit der Rolle der Justiz — die sie diese früheren Richter und Staatsanwälte für die Justiz bisher gespielt hat und die sie in Zukunft spielen in einem demokratischen Staat fachlich und von den muß — und damit befassen, daß diese Enquete-Kom- persönlichen Voraussetzungen her eignen. Schon das mission die Arbeit der Justiz nicht ersetzen, sondern hat Verunsicherung ausgelöst. Und verunsicherte ergänzen soll. Anlaß ist für mich folgendes Zitat — ich Menschen sagen natürlich: Ich mache am ehesten kann es nicht einmal mehr zuordnen, ich habe es mir dann keinen Fehler, wenn ich überhaupt nicht ent- aber gemerkt, weil es mich tief getroffen hat und mich scheide. immer noch beschäftigt —: „Wir wollten Gerechtig- Ich habe gehört, in einzelnen Bundesländern sind keit und bekamen den Rechtsstaat. " 30 %, 40 % der früheren Richter übernommen worden. Hier kommt die Enttäuschung darüber zum Aus- Damit sind sie natürlich noch lange nicht Spezialisten druck — Kollegen haben das schon angedeutet —, in der Anwendung unserer Strafpozeßordnung. Man- daß im Hinblick auf die Schüsse an der Mauer zur Zeit che fordern von uns strengere Maßstäbe bei der ausschließlich diejenigen angeklagt werden, die den Personalpolitik. Wir wollen hier aber nicht der PDS Finger am Abzug hatten, nicht aber die Schreibtisch- zuarbeiten, die den Eindruck erweckt, als würden wir täter, die politischen Hintermänner; die Enttäuschung es sozusagen als eine reine Westaufgabe betrachten, darüber, daß ein Großteil der SED-Prominenz noch quasi als Sieger in der Mitte und im Osten Deutsch- heute frei herumläuft und sich profimäßig vermarktet lands aufzuräumen. Das wollen wir gerade nicht. und andere SED-Größen — heute gibt es wieder Deshalb müssen wir bei der Personalpolitik Kompro- Pressemeldungen darüber — bisher nur wegen misse schließen. Nebensächlichem angeklagt wurden: Untreue usw. In diesem Zusammenhang möchte ich den B rief Natürlich wäre auch bei uns im Westen die Empö- eines Leitenden Oberstaatsanwalts aus einem neuen rung groß, wenn hinsichtlich eines bekannten Tot- Bundesland erwähnen, der darauf aufmerksam schlägers eine Anklage nur deshalb erhoben würde, gemacht hat, daß er von den Westkollegen, die er weil er bei einem Streifzug so nebenbei einen Ziga- brauche, nach seinen Berechnungen etwa ein Siebtel rettenautomaten geplündert hat. Diese Empörung habe. Dieses Siebtel ist momentan überwiegend gerade in den neuen Bundesländern muß man verste- damit beschäftigt, die übernommenen Ostrichter und hen. junge Assessoren auszubilden. Ich darf in diesem Zusammenhang einen Appell an unsere Rechtspoliti- Zwar habe auch ich ein gewisses Verständnis für ker und auch an den Bundesjustizminister richten: den Ruf nach einem schnellen Prozeß, aber unterstüt- Bitte sorgen Sie dafür, daß das vom Bundesrat vorge- zen kann ich diese Forderung nicht. In dem Augen- legte Gesetz zur Vereinfachung der Rechtspflege blick, in dem sich die revolutionären Kräfte in den wenigstens in den Grundzügen schnell verabschiedet neuen Bundesländern dafür entschieden hatten, werden kann. Wir müssen im Westen vorübergehend einen gewaltfreien Weg zu gehen, auf Gewalt zu auf einen Teil der Luxusausstattung unseres Rechts- verzichten, war eigentlich klar, daß es schnelle Pro- staates verzichten, damit wir in den neuen Bundeslän- zesse nicht geben kann und nicht geben darf. Der dern endlich die Grundausstattung garantieren kön- Rechtsstaat darf solchen populären Forderungen nicht nen. entsprechen. Er würde sich sonst selbst aufgeben. Wir verurteilen nicht auf Grund allgemeiner Eindrücke Ich möchte einen zweiten Punkt sehr kritisch — auch wenn die noch so richtig sind —, sondern auf ansprechen. Nach dem Tatortprinzip ist die Berliner 6748 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Gerhard Friedrich Justiz für die Regierungs- und Vereinigungskrimina- Gerade deshalb hat die CSU im November des lität zuständig. Es gab Vorschläge aus Bonn, eine letzten Jahres erstmals die Empfehlung abgegeben, zentrale Ermittlungsstelle einzurichten. Auch die daß man diese auf Dauer nicht voll befriedigende bayerische Justizministerin hat zugestimmt und ent- Arbeit der Justiz durch ein parlamentarisches Gre- schieden, daß diese Aufgabe bei einem Land angesie- mium begleiten muß, das ergänzend Arbeit leisten delt bleiben soll. Ich sage den Justiz- und Innenmini- soll. Die Opfer, die feststellen werden, daß nicht alle stern der Länder: Wer sich auf Landeskompetenzen ihre Täter verurteilt werden, haben wenigstens einen beruft — man kann dabei auf die Verfassung verwei- Anspruch darauf, daß ihr Schicksal persönlich sen —, muß daraus auch die Konsequenz ziehen, beschrieben werden kann — wir sollten sie übrigens diese Kompetenzen tatsächlich auszuüben. einladen und ihnen die Chance geben, ihr Schicksal Es ist schon mehr als ärgerlich, daß es etwa neun selbst zu schildern — und Unrecht auch politisch Monate gedauert hat, bis 51 Weststaatsanwälte bei bewertet wird. der Berliner Justiz angekommen sind. Es gibt immer Meine Damen und Herren, wenn wir uns schwer- noch riesige Defizite bei den Hilfsbeamten der Staats- punktmäßig auch noch um die richtigen Leute küm- anwaltschaft, bei den Kriminalbeamten. Eine Zahl, mern — dazu ist heute schon vieles gesagt worden —, die ich mir aufgeschrieben habe, besagt, daß 33 West- dann dürfen wir nicht nur dauernd die Stasi - Akten kriminalbeamte in Berlin angekommen sind; eine auswerten und darüber reden. Es ist doch ganz klar, neueste Zahl: 15 vom Bundeskriminalamt, 26 aus den daß Herr Modrow bei seiner Überprüfung auf Mitar- alten Bundesländern. Das kann doch nicht wahr sein. beit bei der Staatssicherheit selbstverständlich als Wir haben gestern noch einmal in Berlin angerufen Saubermann herauskommen muß. Die Staatssicher- und eine erschütternde Nachricht erhalten, nämlich heit durfte doch nicht über diejenigen, die angeleitet die Aussage, man habe den Eindruck, daß bei der haben, die überwacht haben, Akten führen. Zusammenarbeit mit den Innenministern der alten Die eigentlich interessanten Akten — ich bitte die Bundesländer die Tendenz absolut lustlos sei. Das Enquete-Kommission, die mit in den Mittelpunkt der kann nicht so bleiben. Wir dürfen uns sonst nicht Diskussion zu stellen — sind die Kaderakten der SED. wundern, daß in Berlin zur Zeit bestimmte Großver- Ich freue mich, daß es uns gelungen ist, die gesetzli- fahren schlicht ruhen und nicht weiterbearbeitet wer- chen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß diese den. wichtigsten Personalakten der früheren DDR in staat- Der Bundesinnenminister — im Detail kann ich das liche Verwahrung überführt werden können. aus Zeitgründen nicht vortragen — hat weitere Hilfe Mein letzter Satz lautet, Herr Heuer: Die Glaubwür- angeboten. Wir können von ihm aber nicht erwarten, digkeit der PDS — früher SED — hängt natürlich ganz daß er die Probleme löst. Das Bundeskriminalamt hat entscheidend davon ab, in welchem Zustand Sie uns insgesamt etwa 1 500 ausgebildete Kriminalbeamte, die Kaderakten Ihrer Partei übergeben. Nordrhein-Westfalen 4 600. Hier wird deutlich, wo Vielen Dank. personelle Ressourcen sind und wer zur Zeit vorrangig Hilfe leisten muß. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/Linke Liste]: Ich Selbst wenn diese Defizite aufgearbeitet sind, soll- schicke Ihnen meine Kaderakte!) ten wir uns nicht der Illusion hingeben, daß uns das, was an Urteilen eines Tages herauskommt, voll befrie- digen wird. Wir haben heute mehrfach übereinstim- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt hat unser mend festgestellt, daß nach der Verfassung, nach Kollege Dr. Jürgen Schmude das Wort. vielen Gesetzen der DDR und nach dem Statut der SED die Hauptverantwortung für alles, was in diesem Staat passiert ist, im Politbüro angesiedelt war. Wir Dr. Jürgen Schmude (SPD): Frau Präsidentin! Sehr hoffen ja immer noch, daß es eines Tages der Justiz geehrte Damen und Herren! Mit der Einsetzung der gelingt, die Kausalkette in Einzelfällen nachzuwei- Enquete-Kommission wollen wir einen Erkenntnis- sen. Das ist ein mühsames Geschäft. und Arbeitsprozeß fördern und in eine neue Bahn bringen. Längst aber ist er im Gange und sucht sich Wenn wir uns anschauen, wie diese Männerriege im seine Wege — angemessene und auch zweifelhafte. Politbüro zusammengesetzt war, dann sehen wir aller- dings, daß es sich um eine Greisenriege handelt. Wir Von der Enquete-Kommission erwarten wir, daß sie müssen unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in keine Entfremdung Ost-West aufkommen läßt. Jahr- den neuen Bundesländern ganz nüchtern sagen: Die zehntelang war es im Bundestag eine häufig und Wahrscheinlichkeit, daß diese Greisenriege noch in einhellig bekräftigte Grundüberzeugung westlicher einem verhandlungsfähigen Zustand ist, wenn ein Deuschlandpolitik, daß die Bürger der DDR Deutsche rechtskräftiges Urteil verkündet werden kann, ist wie wir waren und daß es bei dieser Gemeinsamkeit doch wirklich sehr gering. Hier müssen wir nüchtern bleiben sollte. Ich rufe das noch einmal in Erinnerung, bleiben, um nicht Erwartungen zu wecken, die wir um allen Legendenbildungen entgegenzutreten, als nicht erfüllen können. hätte die SPD hier eine andere Position vertreten. Es gibt auch bei den unmittelbaren Tätern eine (Beifall bei der SPD) Unzahl von Problemen, vor allem im Bereich der Es gilt, an den damals gewonnenen Einsichten Schuld. Sie werden auf Befehlsnotstand und auf festzuhalten und schon den Ansätzen des Empfindens Verbotsirrtum verweisen. Wir müssen uns darauf zu widerstreiten, als gebe es zwei Sorten Deutsche, gefaßt machen, daß nicht alles, was Unrecht war, nach von denen die einen oben und die anderen unten unseren Gesetzen strafrechtlich zu ahnden ist. seien, die einen überlegene Beobachter und die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6749

Dr. Jürgen Schmude anderen belastet mit einer kritikwürdigen Vergan- würde sich auf die Dauer Bahn brechen. Vergebung genheit. und Aussöhnung müßten sich als trügerisch erweisen, wenn sie ahnungslos oder unter falschen Vorausset- Wie ungerecht solches Wertungsgefälle wäre, wird zungen begründet worden sind. jedem schnell klar, der sich vorstellt, die Sowjetunion hätte ihre Besatzungszone nach dem Krieg in Bayern, Die Enquete-Kommission ergänzt den Weg der in der Pfalz oder am Niederrhein gehabt. Im einzelnen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und setzt ihn beziehe ich mich auf das, was Herr Mischnick und in besonderer Richtung fort. Andere Vorgehenswei- Herr Schmieder dazu gesagt haben — das war sehr sen werden damit nicht entbehrlich und beiseite wichtig —, und führe fort: Eine solche Abhängigkeit, gedrängt. So kann es durchaus sinnvoll sein, mit dem wenn wir sie denn im Westen erlebt hätten, hätte auch zur Zeit entstehenden Forum zur Aufklärung und in anderen Teilen Deutschlands gewiß zu den glei- Erneuerung in kleineren Bereichen und exemplarisch chen Ergebnissen geführt. Dann wären eben andere Menschen zum klärenden Gespräch zusammenzu- Menschen in dieser Lage. führen. Und es wird natürlich weitergehen, daß Da gab es über die Jahre hin im östlichen Deutsch- Betroffene Folgerungen aus der Einsicht in ihre Akten land viel Unheil und Unterdrückung, Menschen- ziehen und daß Journalisten und Wissenschaftler über rechtsverletzungen und Mißwirtschaft. Aber das war gewonnene Erkenntnisse öffentlich berichten. Wün- nur ein Teil der Wirklichkeit, die nicht im ganzen von schenswert ist dabei jedoch, daß in der Wechselwir- diesen Belastungen her abgestempelt und nicht zur kung der verschiedenen Wege Maßstäbe geklärt und verlorenen Zeit erklärt werden darf. Insofern hat die faire, sorgfältige Verfahrensweisen gefördert wer- Frau, die Herr Meckel vorhin zitiert hat, nicht recht. den. Sie hat sich irritieren lassen. Dem Bundespräsidenten kommt hier das Verdienst (Beifall bei der SPD) zu, ein weiteres Mal für wichtige Entscheidungen wegweisende Orientierung gegeben zu haben. Die Es war doch die Lebenszeit von Menschen, die sich Akten der DDR, zumal ihres Staatssicherheits- unter den herrschenden Umständen eingerichtet, die dienstes, sagt er, sind einseitig, müssen bewertet gegen so ihren privaten Bereich totalitäre Zugriffe werden und dürfen nicht als objektive oder moralische gut wie möglich behauptet und ihre persönliche Lage Instanz für Verurteilungen genutzt werden. Das wird Schritt für Schritt verbessert hatten. Trotz mancher auch die Enquete-Kommission zu bedenken haben. Bedrängnis und Enttäuschung haben sie glückliche Sie wird sich bemühen müssen, in den wirklichen Zeiten erlebt, haben Selbstbewußtsein und ein gewis- Bedeutungsgehalt von Äußerungen und Vermerken ses Maß an Zufriedenheit entwickelt. Und sie haben in aus der damaligen Sicht einzudringen. Da wurden ihrer großen Mehrheit wachsende innere Distanz zur Leistungsberichte erstattet und Phrasen gedroschen, Besatzungsmacht sowieso, aber auch zu den deut- die niemand besonders ernst nahm. Sie waren eben so schen Machthabern gewahrt. üblich. Und es wurde in vorsichtigen Formulierungen Darin und in ihrer schließlichen Bereitschaft, mit zwischen den Zeilen geschrieben und gelesen. Dem dem System schnell und gründlich zu brechen, unter- damaligen Zuhörer war das erkennbar; der heutige schieden sie sich deutlich von ihren und unseren Betrachter, zumal der westliche Betrachter, sieht gemeinsamen Vorgängergenerationen während der leicht darüber hinweg. Nazi-Zeit. In jener gemeinsamen deutschen Vergan- genheit war die Identifikation mit dem Staat und Die Enquete-Kommission wird sich nach den Pla- seinen Gewaltherrschern sehr viel stärker ausgeprägt nungen für ihren Auftrag mit der Rolle der Kirche in trotz des verbrecherischen Krieges und des mörderi- der DDR zu befassen haben. Sie wird dabei, so hoffe schen Rassismus. ich, klare Linien in eine Diskussion bringen, die gegenwärtig von Mißdeutungen und Verdachtsunter- Die Auseinandersetzung mit dieser Nazi-Zeit ist stellungen geprägt ist. Man muß ja wahrlich nicht am nach dem Krieg zögerlich erfolgt, bald ins Stocken Bild der „Heldenkirche" festhalten, das sich vorüber- geraten und hat sich dann mühsam über Jahrzehnte gehend aus dem Überschwang der Gefühle während hingezogen. Stattfinden mußte sie doch — auch der Wendezeit zu entwickeln schien. Aber es hatte schmerzhaft, aber viel zu spät und unter Inkaufnahme doch seinen Grund, daß Menschen der Kirche vertrau- von schweren Nachteilen für den neuen Anfang. So ten, daß sie Pfarrer in verantwortliche Aufgaben für ungleich die Zeiten und Verhältnisse waren, die den neuen Anfang riefen oder sogar nötigten. Dieser Erfahrungen mit der erst versäumten und dann verzö- Tatsache verdanken wir ja auch einige Mitglieder gerten Aufarbeitung lehren uns, daß man die Dinge unseres Hauses. nicht auf sich beruhen lassen darf und daß man der Wahrheit nicht ausweichen kann. Die Menschen hatten schließlich erlebt, daß die Kirche einzelnen und Gruppen Schutz gewährte und (Beifall bei der SPD) daß sie ihrem Auftrag treu geblieben war, ohne sich Der Weg zu Versöhnung und innerem Frieden vom Staat vereinnahmen zu lassen. Wir alle haben das — was wir ja alle wollen — führt durch die Wahrheit erlebt, woran Herr Meckel und Herr Schäuble heute hindurch. Beide sind in der Abwendung von ihr nicht noch einmal erinnert haben, und haben im Bundestag zu gewinnen. Deshalb sind es weder praktikable noch oft genug die Kirche — meist war die evangelische hilfreiche Vorschläge, mit denen angeregt wird, die gemeint — lobend gewürdigt. Führende Kirchenleute gerade erst eröffnete Akteneinsicht zu beschränken aus der DDR waren in Bonn begehrte Gesprächspart- oder gar zu beenden. Auch da beziehe ich mich auf ner. Dieser Einstellung lagen Erlebnisse und Erfah- das, was schon Herr Meckel gesagt hat. Die Wahrheit rungen aus vielen Jahren zugrunde. 6750 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Jürgen Schmude Soll das alles nicht wahr, soll das alles Selbsttäu- macht. Deshalb ist bei Aburteilungen aus westlichem schung gewesen sein, weil sich jetzt ergibt, daß sich Mund Zurückhaltung geboten, und zwar schon einzelne Pfarrer und andere kirchliche Funktionsträ- gegenwärtig und auch bei den vielen Ergebnissen, die ger in anstößiger Weise mit dem Staatssicherheits- wir von der Enquete-Kommission erwarten. dienst eingelassen haben? Sollen diejenigen, denen Mit der Einsetzung dieser Kommission eröffnen wir man im Vertrauen auf ihre besonderen Beziehungen uns eine große Chance. Sie kann — noch wirksamer stets die schwierigsten Aufgaben im Umgang mit dem als alle anderen Aufklärungsverfahren — eine gründ- DDR-Staat zugeschoben hatte, jetzt dafür verurteilt liche und abgewogene Erfassung wichtiger Zusam- werden, daß sie die damals erwarteten weitreichen- menhänge der jüngsten Vergangenheit leisten. Damit den Beziehungen auch wirklich hatten und nutzten? kann sie dazu beitragen, daß Zufälligkeit sowie Hek- Meine Damen und Herren, das Ganze ist ein tik und Hysterie der gegenwärtigen Auseinanderset- gewichtiger Beispielsfall dafür, wie jahrzehntelang- zungen von einer sachgemäßen Gesamtbetrachtung hochangesehene Menschen mit völlig unsachgemä- abgelöst werden, die eine zuverlässigere Einordnung ßer Verwendung von Informationsmaterial und mit und Bewertung der einzelnen Vorgänge ermöglicht. höchst unpräzisen Verdächtigungen herabgesetzt Das kann so sein, und das sollte so sein. Es wird nur so werden. sein, wenn alle Beteiligten der Versuchung widerste- Ich will ein Beispiel nennen. Da reicht offenbar nicht hen, sich parteipolitisch übereinander statt über die der naive Mißbrauch von Stasi-Akten. Es kommen Sache herzumachen. auch oft genug — heute vormittag beklagt — die (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei ehemaligen Offiziere des Staatssicherheitsdienstes zu Abgeordneten der CDU/CSU) Bedeutung und Ehren. Das Beispiel: Herr Diestel, CDU-Fraktionschef in Brandenburg, scheut nicht vor Wir haben oft Wahlkämpfe, meine Damen und der offensichtlich absurden Verunglimpfung zurück, Herren. Aber die Erstellung von Wahlkampfmaterial drei Viertel der kirchlichen Mitarbeiter seien Inoffi- darf nicht einmal zum Nebenzweck der Kommissions- zielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes gewe- arbeit werden. sen. Man stelle sich das einmal vor. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Wolfgang Thierse [SPD]: Ausgerechnet Die der F.D.P.) stel!) Auch sollte der Versuchung widerstanden werden, Zur Berichtigung aufgefordert und nach Beweisen die deutschlandpolitischen Streitereien der letzten befragt, erklärt er, das habe er von einem hohen Jahrzehnte wiederaufzunehmen und einer nachträg- Stasi-Offizier erfahren. Das ist dann auch schon alles. lichen Abrechnung zuzuführen. Der weiteren Beweisführung bedarf es anscheinend (Wolfgang Thierse [SPD]: Leider hört Herr nicht, um die Evangelische Kirche in den Schmutz zu Schäuble damit nicht auf!) zerren. Daß derselbe Stasi-Offizier in einem Magazin- Interview in dieser Woche erklärt, er habe eine solche Damit will ich keinesfalls ausschließen, daß Information gar nicht gegeben, sei als Fußnote hinzu- deutschlandpolitische Leitvorstellungen und die Pra- gefügt. Für die Schäbigkeit des Rufmordes ist es xis der innerdeutschen Beziehungen und Verbindun- wahrlich ohne Belang. gen in ihrer Wirkung auf die Entwicklung in der DDR gewürdigt werden. Geschieht das gründlich und sorg- Zu wünschen ist, daß die Medien gegenüber sol- fältig, ist es sogar ein großer Gewinn, jedenfalls im chem ebenso bösen wie leichtfertigen Gerede noch Verhältnis zu dem leider häufigen Gebrauch kurzer kritischere Distanz wahren. Anspielungen und Verdächtigungen, mit denen poli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tischen Gegnern sozusagen Versagen und Irrwege der CDU/CSU und der F.D.P.) durch Schlagwort und Stichwort vorgeworfen werden. Eine gründliche Diskussion täte da wahrlich gut. Der Bundespräsident hat die Pressefreiheit gewür- digt, aber vor dem Mißbrauch als Verleumdungsfrei- (Beifall bei der SPD) heit gewarnt und der Verbreitung von Angst und Ob die Kommission in ihrer politischen Besetzung Feindschaft heftig widersprochen. Sehr viele Journa- diese klärende Aussprache zustande bringt, ist kei- listen — dafür bin ich dankbar — haben diese Mah- nesfalls sicher. Vielleicht lassen die Politiker da den nungen aufgegriffen und unterstützt. Andere, die Wissenschaftlern den Vortritt. Vielleicht gibt dieser stärker gemeint waren, werden sich davon hoffentlich Aspekt auch noch einen zusätzlichen Anreiz, die Zahl noch beeindrucken lassen. der Wissenschaftler zu erhöhen. Gar nicht ernst genug können wir aus dem Westen (Beifall des Abg. Markus Meckel [SPD]) Deutschlands die Ermahnung des Bundespräsidenten nehmen, uns vor der Rolle selbstgerechter Sprecher Ich will zur Deutschlandpolitik nur noch einen der Opfer oder gar der Rolle von Richtern zu hüten. In Beispielsfall aufgreifen, über den ebenfalls zu spre- der Tat gilt es, über Verstrickung und Schuld zu chen sein wird. Ob im Rahmen dieser Politik alle reden. Aber zu ihnen ist es manchmal unter notvollen einzelnen Schritte gleichermaßen hilfreich waren, Umständen in einer Lage gekommen, in der sich die darüber wäre ein offener Disput sehr reizvoll. Aber die Bürger des westlichen Deutschlands nicht befunden zwei Beispiele: Ich halte die Vereinbarung des haben. Der Versuchung oder dem Druck, die man- Dialog - und Streitpapiers zwischen SPD und SED im chen Ostdeutschen in die Verstrickung geführt haben, August 1987 auch nachträglich für ebenso richtig wie sind die Westdeutschen so wenig ausgesetzt gewesen den anschließend im September 1987 stattfindenden wie der Belastung mit der sowjetischen Besatzungs offiziellen Empfang Honeckers in der Bundesrepu- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6751

Dr. Jürgen Schmude bilk. Beides hat der DDR-Führung nur dem flüchtigen Schicksal des anderen nicht betroffen. Die Teilung Anschein nach genützt. In Wahrheit hat es sie sogleich Deutschlands ist eine Folge des Zweiten Weltkriegs in innere Konflikte gestürzt, alte politische Positionen und damit Folge unserer gesamtdeutschen Ge- der dortigen Führung öffentlich demontiert und sie schichte. Ich denke, dies kann nicht oft genug gesagt damit nachhaltig geschwächt. Das läßt sich in einer werden. umfassenden Betrachtung der damaligen Abläufe In der gegenwärtigen Diskussion über die Vergan- sehr gut belegen, aber eben nicht bei der Beschrän- genheit spielt der Staatssicherheitsdienst eine wich- kung auf kurze Blicke und schnelle Vorwürfe. tige Rolle. Aber dabei droht mir allzu leicht die Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, mit Tatsache in den Hintergrund zu rücken, daß der gewichtigen Gründen haben wir uns oft genug gegen- Staatssicherheitsdienst ein Instrument des SED-Staats seitig ermahnt, uns nicht von deutschen Selbstbe- war. Die SED als Einheitspartei war die alles dominie- trachtungen und Bemühungen nur um die eigene rende und strukturierende Kraft. Vorbild war Lenins Sache gefangennehmen zu lassen. Unsere Verpflich- Partei „neuen Typs". Und jeder, der die Grundlagen tungen gegenüber anderen in der Welt dürfen nicht der Partei zur Kenntnis nahm, mußte sehen, daß es notleidend werden. Der Bedarf an Hilfe und Zuwen- hier um einen unteilbaren Wahrheits- und Machtan- dung ist ja nach der Einheit noch viel größer gewor- spruch für eine Elite von Genossen ging. Sie dachten den. Aber unser eigenes Haus müssen wir in Ordnung und handelten nach dem alten bolschewistischen halten und — bei Bedarf — in Ordnung bringen. Das Grundsatz: Uns ist alles erlaubt, denn unsere Huma- brauchen wir für unser Selbstverständnis als Bürger nität ist absolut. des nun alle Deutschen umfa ssenden demokratischen und sozialen Rechtsstaats Bundesrepublik Deutsch- Unter diesem Leitsatz ging die SED daran, die land. Die Enquete-Kommission kann und soll uns Diktatur des Proletariats in der DDR zu errichten. dazu wertvolle Hilfe leisten. Klassenkampf war die Parole. Das hieß Abschottung gegen den „imperialistischen Klassenfeind". Das hieß Danke schön. Klassenjustiz in der Rechtsprechung, Parteilichkeit in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wissenschaft und Kunst, Enteignung des Privateigen- der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke tums, Zensur in Presse und Literatur. Und das hieß Liste) Erziehung zur „allseitig entwickelten sozialistischen Persönlichkeit" von der Kinderkrippe bis zur Univer- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat das Wort sität. unsere Kollegin Angela Merkel. Dieser Klassenkampf war keineswegs nur Stalinis- mus. Die SED bekannte sich bis zum Schluß zu Lenin. Dr. Angela Dorothea Merkel (CDU/CSU): Frau Prä- Er hatte die „unbedingte und strengste Einheit des sidentin! Meine Damen und Herren! Zum zweitenmal Willens" verlangt. Er forderte die völlige Unterord- stehen wir Deutsche vor der schwierigen Frage, wie nung des Einzelnen unter die Sowjetmacht als „eine wir mit einer totalitären Vergangenheit umgehen Macht, die an keine Gesetze gebunden ist". sollen. Aus meiner Sicht sollten wir dabei vor allem beachten, daß es immer um Menschen, um ihre Trotz aller Rhetorik von der Befreiung des Men- Handlungen und um ihre Schwächen geht und daß schen von Ausbeutung, Entfremdung und Herrschaft, sich die Aufteilung von Schwächen und Stärken nicht der Leninismus war von Anfang an nicht etwa eine nach der Geographie richtet: im Westen nur die Befreiungsphilosophie, wie so oft und gerne behaup- Charakterfesten, im Osten nur die Täter, Anpasser tet, sondern eine Anleitung zur Unterdrückung der oder Mitläufer. Wir müssen vielmehr, denke ich, auch Massen. nach den Alltäglichkeiten und den Lebensumständen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) im geteilten Deutschland fragen. Dazu möchte ich zwei Erlebnisse nennen. Wilhelm Pieck sprach davon, die SED zu einer Ein Schüler einer elften Klasse in Suhl möchte Millionenpartei des deutschen Volkes zu machen, Biologie studieren. Das dafür notwendige Prädikat „um damit alle inneren Feinde zu schlagen" . Die „besonders geeignet" kann er nur erhalten, wenn er Folge war, daß Tausende von Demokraten — Sozial- statt eineinhalb Jahre drei Jahre zur Armee geht. demokraten ebenso wie Liberale und Christdemokra- ten — in Gefängnisse und Lager gesteckt wurden. In Emden trifft bei einer Familie ein Brief ein, in dem Viele kamen dabei um, andere flohen vor Verfolgung von den Verwandten in der DDR die Bitte geäußert und Druck in den Westen. wird, das Buch „Archipel Gulag" von Solschenizyn beim nächsten Besuch in Dresden mitzubringen. Es gehört natürlich auch zur Wahrheit, daß sich Zwei Beispiele aus dem geteilten Deutschland: In unter diesem Druck viele anpaßten und der Gleich- beiden Fällen haben Menschen abgewogen, ob sie schaltung von CDU und LDPD als Blockpartei nicht Nachteile in Kauf nehmen, ob sie, wie im ersten Fall, widerstanden. Die SPD konnte nicht zur Blockpartei nicht Biologie studieren, oder, wie im anderen Fall, die werden; sie war schon zwei Jahre vorher in der SED Aufnahme in die Liste der ständig zu Kontrollierenden aufgegangen. Auch darüber müssen wir heute disku- riskieren wollten, nur um dieses eine Buch über die tieren. Grenze zu bringen. Ich denke, in dieser Hinsicht darf nichts verdrängt, Mir scheint, diese beiden Geschichten machen nichts vertuscht werden. Wahrheit ist, daß Mitglieder deutlich, daß die Aufarbeitung der Vergangenheit in aller Parteien, auch weite Teile der SPD, für die der DDR alle Deutschen etwas angeht. Denn niemand, Gründung der sozialistischen Diktatur mitverantwort- weder in Ost noch in West, konnte so tun, als sei er vom lich waren. 6752 Deutscher Bundestag —— 12. Wahlperiode 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Angela Dorothea Merkel Die Menschen, die in diesem System leben mußten, nicht überlebt , die, die ständig psychisch und wurden zu Gefangenen im eigenen Lande. Dieses physisch drangsaliert wurden, haben die bittersten System hat es trotz großer Anstrengungen zu keiner Erfahrungen machen müssen. Zeit vermocht — das müssen wir auch sehen —, daß Doch die Vorenthaltung grundlegender Menschen- die Menschen in der DDR sich mit ihm identifizierten. rechte, wie die Freiheit der Meinungsäußerung oder Die DDR war im Grunde schon gescheitert, noch bevor der Reise, betraf alle 17 Millionen Menschen in der sie ins Leben trat. Sie konnte immer nur durch DDR. Hinzu kamen ungerechtfertigte Enteignungen, Panzergewalt und russische Truppen im Zaume Zwangsumsiedlungen und das Verbot von Büchern gehalten werden. Wir haben das am 17. Juni 1953 und und Zeitschriften. im Jahre 1961 erlebt. Niemand, der in der DDR lebte, entkam einem Die meisten Menschen haben diesen Staat von Zwang. Es ging allenfalls um mehr oder weniger Anfang an als das empfunden, was er war: eine Mitmachen, um mehr oder weniger Kompromisse. beruhte. Diktatur, die auf der Anwendung von Gewalt Das hat die Denk- und Verhaltensweisen der meisten Die Menschen haben sich ja dagegen gewehrt, in Menschen geprägt. Hier liegen Schädigungen eines verschiedenen Formen. Sie haben geschwiegen, sie Systems vor, unter denen wir noch lange leiden haben sich unter dem Dach der Kirchen getroffen, sie werden. haben sich Nischen gesucht, sie waren mehr oder weniger mutig. Aber sie haben den ständigen Konflikt Aber bei der Aufarbeitung muß es auch um die von Anpassung und Widerstand gespürt. Bewertung von Handlungen gehen. Diese Bewertung — damit plagen wir uns heute ja herum — fällt uns Verwundert waren wir im Osten oft darüber, welche besonders schwer. Sie setzt Maßstäbe oder ein Koor- Illusionen man sich im Westen über die DDR machte. dinatensystem voraus, wonach wir uns richten kön- Auch darüber müssen wir, so meine ich, diskutieren. nen. Heute, so scheint es mir, hat jeder noch sein Wie war es denn möglich, daß im Westen die soge- eigenes Koordinatensystem, das er mit sich herum- nannten fortschrittlichen Gruppierungen den Diktatu- trägt und das er für sich für gut befindet. Jetzt müssen ren im Osten einen Bonus einräumten, den sich rechte wir den Versuch machen, allgemeine Maßstäbe für Diktaturen in anderen Staaten nur erträumen konn- die Bewertung dessen zu finden, was in der Vergan- ten? genheit geschehen ist. In dieser Frage hoffe ich auf die (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Sehr gut!) Enquete-Kommission. War es ein Beitrag zur Überwindung des totalitären Wir werden, wenn es um die Rolle des Einzelnen in Zwangssozialismus, als von führenden Persönlichkei- einer Diktatur geht, sehen, daß es mutige Menschen ten im Westen die Forderung nach Anerkennung der gab. Aber wir werden auch sehen, daß eine Diktatur DDR-Staatsbürgerschaft erhoben wurde? nur dann funktioniert, wenn sich viele bereit finden, (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Sehr rich- mitzulaufen und mitzumachen, und wenn sich viele zu tig!) aktivem Handeln bereit finden. Die Perfidität des SED-Regimes bestand gerade darin, menschliche War es hilfreich, Honeckers Geraer Forderungen, die Schwächen für sich auszunutzen. u. a. die Schließung der Erfassungsstelle für Unrechts- taten in Salzgitter betrafen, zu unterstützen? War die (Zustimmung des Abg. Markus Meckel Forderung nach Streichung der Präambel des Grund- [SPD]) gesetzes und nach der Aufgabe des Wiedervereini- Im SED-Regime kam beides zusammen —— das gungsgebotes nicht Wasser auf die Mühlen der DDR- macht. die Sache so schwierig : einmal das individu- Gewaltigen? elle Nichtstandhaltenkönnen und auf der anderen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Seite die Brutalität und Heimtücke des Systems. Es wird sich herausstellen, daß die Apparate vielfältig Hat man sich jemals gefragt, wie auf uns die Aussagen verflochten waren, daß es aber immer Menschen des heutigen Ministerpräsidenten Schröder wirkten, waren, die handelten, und daß die Apparate ganz daß Honecker „ein zutiefst redlicher Mann" war? Hat konkreter menschlicher Entscheidungen bedurften. man eigentlich einmal mit den Oppositionellen im Ostblock darüber gesprochen, was sie von der Forde- Deshalb empfinde ich es wie viele andere als einen rung hielten, daß „Frieden wichtiger ist als Frei- Hohn, wenn jetzt gerade diejenigen, die allen Grund heit"? hätten, wenigstens einmal eine Weile lang zu schwei- gen, uns weismachen wollen, daß alle Täter im Was ist mit der Aufarbeitung von Vergangenheit Grunde auch Opfer waren. gemeint? Ich denke, es geht vor allen Dingen um das Erinnern. Erinnern bedeutet, Strukturen und Mecha- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. nismen des SED-Regimes sichtbar zu machen. Erin- sowie bei Abgeordneten der SPD) nern bedeutet aber auch, sich auf die Alltäglichkeiten Ich sehe es als eine herausragende Aufgabe der zu besinnen: Bespitzelung und Drangsalierung, die Enquete-Kommission an, sich des Leides der Opfer in Dominanz des Staates über die Familie, die Unmög- seiner Vielfalt anzunehmen. Sie muß vor allen Dingen lichkeit, ein Gefühl für Eigentum zu entwickeln, das das leisten, was Rechtsprechung nicht kann, morali- eindimensional ausgerichtete Bildungssystem, die sche Bewertungen vornehmen und nicht justitiable Nivellierung menschlichen Lebens auf Kosten von Sachverhalte zusammenstellen. Ich denke, deshalb Phantasie, Kreativität und Emotionalität. hat die Arbeit dieser Kommission etwas mit morali- Die Dimension von Leid war sehr vielfältig in der scher Wiedergutmachung zu tun. Dies ist um so DDR. Die, die im Gefängnis saßen —— viele haben das dringender, als wir täglich erleben, daß der Rechts- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6753

Dr. Angela Merkel Staat nicht jedes individuelle Leid wiedergutmachen Vielen Dank. kann. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) Aber ich glaube, Rehabilitierung reicht über den Buchstaben von Gesetzesvorschriften weit hinaus. Sie hat etwas mit einem Geist zu tun, den ich mir ab und an Nun hat der auch in der Rechtsprechung von Gerichten heute in Vizepräsidentin Renate Schmidt: Abgeordnete Dietmar Keller das Wort. der Bundesrepublik wünsche. Vor allen Dingen brau- chen wir mehr Phantasie und Kreativität als die Routine jahrzehntelanger Gesetzmäßigkeit. Wir müs- Dr. (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- sen jetzt, wo wir für die innere Einheit Deutschlands Dietmar Keller tin! Meine Damen und Herren! Dieser Tage las ich in arbeiten, auch bereit sein, unkonventionelle Wege „El Dia Latino Americano" einen Artikel, und ich der Wiedergutmachung zu gehen. Es darf nicht immer möchte mir erlauben, daraus zu zitieren: gleich heißen: das Grundgesetz oder dieses und jenes läßt dies aber nicht zu. Ist es denn nicht gerechtfertigt, Die DDR war übermäßig geordnet und sicher, länger BAföG zu zahlen, wenn jemand endlich eine aber ohne die notwendigen Freiheiten, die heute gewünschte Ausbildung nachholen kann? Können wir substantiell für ein voll erfülltes Leben sind, eine nicht auch in anderen Bereichen zu Ausnahme- und langsame Gesellschaft in einer schnellen Welt, Sonderregelungen kommen, die uns ein kleines Stück eine isolierte Gesellschaft in einer immer mehr ausgleichender Gerechtigkeit bringen? vereinten und wechselseitig verbundenen Welt, die weder die Mauern von Berlin noch die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Beschränkung für die Freizügigkeit von Perso- sowie bei Abgeordneten der SPD) nen, Gütern und Ideen toleriert. Vielleicht ist es eine tragische Gewißheit, daß es in der Lage, in Deshalb meine dringende Bitte, daß diese Enquete- der sich die DDR befand, im Herzen Europas und Kommission uns noch einmal deutlich macht, wo wir an der Grenze mit dem Kapitalismus in der BRD, mehr Phantasie im täglichen politischen Handeln keine andere Art und Weise gab für die Gestal- walten lassen können. tung des Sozialismus als in dieser Form. Aber das würde auch heißen, daß das, was man dort In diesen Zusammenhang gehört auch, daß wir das versuchte, ein unmögliches Unterfangen war. System der organisierten Verantwortungslosigkeit, Deshalb sind wir traurig, denn das wären 40 wie wir es ja schon in der DDR genannt haben, verlorene Jahre. Soviel Bewußtsein, Energie, durchbrechen. Denn daß dies noch immer nachwirkt, Opfergeist und Intelligenz anscheinend für zeigt sich für mich daran, daß es heute so schwer umsonst verbraucht. Alles für nichts. Aber es wird scheint, die Hauptverantwortlichen für irgendeine nicht so sein. In dem vereinten Deutschland von ihrer Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Deshalb morgen wird in der einen oder anderen Form das möchte ich hier noch einmal betonen, daß es gelingen viele Gute, was die DDR im sozialen Gefüge ihres muß, die Verurteilung der Hauptverantwortlichen Landes hinterläßt, in die Poren der vereinten zügig zu vollziehen. Es ist eine historische Pflicht für ganzen Nation eindringen und in ihrem tiefsten die alten Bundesländer, Berlin, das dabei die Haupt- Inneren den Samen der Gerechtigkeit, der Ver- aufgabe hat, zu helfen. nunft und Menschenwürde einpflanzen, der im Inneren dessen keimte, was aufhört, die Deutsche Es geht mir darum, daß bei allem, was geschah, Demokratische Republik zu sein. nicht vergessen wird, daß es Menschen waren, die handelten und betroffen waren. Es wird jetzt nicht Der Autor dieses Artikels ist der Präsident der ganz auszuschließen sein, daß es zu Ungerechtigkei- Sozialistischen Partei Chiles, ten und Fehlurteilen kommt. Aber gerade weil es um (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Al- Menschen und Familien geht, ist das Bemühen um ein meyda!) hohes Maß an Sorgfalt in den Bewertungen geboten. gegenwärtig Botschafter seines Landes in Moskau. Sind wir dazu nicht fähig, bringen wir den Mut zu differenzieren nicht auf, werden wir die innere Ein- (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Das wollte heit nicht gewinnen. In Ostdeutschland gibt es — das ich gerade sagen! Ich habe ihn gleich ist heute hier schon oft gesagt worden — das bittere erkannt!) Wort vom „Plattmachen" . Dieser Eindruck darf sich — Hören Sie doch erst einmal zu! Er hat Erich nicht verfestigen. Das werden wir schaffen, wenn wir Honecker Exil gewährt. niemanden verdächtigen und beschuldigen, ohne daß (Zuruf von der SPD: Asyl! — Dr. Günther konkrete Beweise vorliegen. Wir brauchen keine Müller [CDU/CSU]: Er bringt einen Terrori- Klischeebilder. Wir brauchen auf Tatsachen beru- sten unter! In einer konspirativen Botschaft! hende Analysen der Verhältnisse. Wir brauchen die — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Dem Einsicht der Westdeutschen, daß ihr Mut nicht größer armen alten kranken Mann!) war als der ihrer Landsleute im Osten, denn das haben wir an verschiedenen Fällen ja beobachten können. Das ist die Antwort darauf, daß Erich Honecker und die DDR ihm und seinen Freunden 1975 ebenfalls Exil Deshalb meine Bitte: Wer im Osten Wahrheit ein- gewährt haben. Diese Chilenen hatten ihren Antrag fordert, muß auch zur Redlichkeit im Westen fähig zuerst in der Bundesrepublik Deutschland gestellt. sein. Wenn uns das gelingt, werden wir eine erfolg- Die Bundesrepublik Deutschland hat diesen Exilan- reiche Enquete-Kommission haben. trag abgelehnt. Der damalige Ministerpräsident von 6754 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Dietmar Keller Baden-Württemberg hat das damit begründet, daß es Ich frage Sie nicht, ob Sie den Mut gehabt haben, den ein Sicherheitsrisiko sei. Sie jetzt von anderen Menschen einfordern. (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Das ist ( [CDU/CSU]: Ich z. B. wahr!) durfte gar nicht studieren! — Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/CSU]: Eine Verhöh- Der damalige Ministerpräsident hieß Filbinger. Er ist nung der Opfer der DDR ist das!) trotz seiner Geschichte Ministerpräsident eines Bun- — Über Opfer möchte ich jetzt nicht reden; ich weiß deslandes der Bundesrepublik Deutschland gewor- nicht, wen Sie da meinen. den. (Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Das kann Vor wenigen Tagen hat Gustav Just völlig zu Recht nicht wahr sein!) sein Mandat wegen eines begangenen Kriegsverbre- chens — er war damals 20 Jahre alt — zurückgege- Ich möchte Herrn Mischnick zustimmen, der gesagt ben. hat, die deutsch-deutsche Geschichte sei fest in die internationale Geschichte eingebettet; es frage sich, (Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Ein gutes wie wir heute dastünden, wenn die vier Besatzungs- Vorbild!) mächte eine andere Grenzziehung vorgenommen oder andere Standorte gewählt hätten, und wie wir Er ist ein Mann, der in der DDR vier Jahre im heute dastünden, wenn die vier Besatzungsmächte Zuchthaus gesessen hat. All das ist deutsche nicht den Wunsch gehabt hätten, Deutschland zu Geschichte. teilen. Der Bundeskanzler hat einmal das Wort eines Wir wollen gemeinsam den Versuch machen, diese Publizisten gebraucht — er ist dafür kritisiert wor- Geschichte aufzuarbeiten. Ich hoffe, wir sind uns den —: „Gnade der späten Geburt". Als ich das jetzt darüber im klaren, daß zum erstenmal in der wieder las, fiel mir das Wort ein: Gnade der Chance, Geschichte der Menschheit ein Land versucht, seine im Westen Deutschlands geboren zu sein oder dort eigene Geschichte aufzuarbeiten. Es gibt nichts Ver- seine Heimat gefunden zu haben. gleichbares. Selbst die „Grande Nation" hat es aus (Dr. Sigrid Hoth [F.D.P.]: Euch ging es doch Anlaß des 200. Jahrestages ihrer großen Revolution gut! — Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Das nicht geschafft, sich kritisch ihrer eigenen Geschichte haben wir aber vorher von Ihnen ganz anders gegenüber zu verhalten. Wie viele Bücher wurden gehört!) geschrieben und wie viele Streite wurden ausgetra- Was Sie von mir schon gehört haben, weiß ich gen, bis die Lutherische Reformation und der Münze- — rische Bauernkrieg eine einigermaßen konsensfähige nicht. Würdigung in der Welt fanden! Wie viele Irrungen (Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Ich habe mußte das deutsche Volk hinter sich bringen, und wie neulich zitiert, was Sie beim MfS berichtet viele Irrungen bringt es jeden Tag neu hinter sich! haben!) Ich habe mit großem Entsetzen die Ausstellung — Wenn Sie eine Frage haben, stellen Sie sich ans „Entartete Kunst" in Berlin gesehen. Ich habe mich Mikrophon. Dann kann ich sie richtig beantworten. dafür geschämt, daß Ende der 40er Jahre, Anfang der Sonst wird es ein Zwiegespräch zwischen uns beiden, 50er Jahre im Rahmen der Formalismus-Diskussion in was nichts einbringt. der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der (Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: Das ist DDR fast ähnliche Argumente wie damals beim Ver- wahr!) bot der Ausstellung „Entartete Kunst" gebraucht Ich möchte gern, daß wir, wenn wir uns gemeinsam wurden. auf eine Enquete-Kommission einigen, sehr differen- Herr Brandt, Herr Mischnick, Herr Eppelmann ziert an diese Fragen herangehen. Dazu zwei Bemer- haben hier vieles gesagt, dem ich ohne Probleme kungen: zustimmen kann. Es sind Vorgaben formuliert wor- Herr Eppelmann, Sie sprachen bestimmt aus kon- den, die die Arbeit dieser Enquete-Kommission prä- kreter Kenntnis von religiösen Familien, die sich nicht gen können. Aber ich möchte auch darauf aufmerk- getraut haben, ihre Kinder zur Konfirmation zu schik- sam machen, daß vieles viel komplizierter ist, als es ken. sich manchmal in Worten darstellen läßt. Wenn hier über die Geschichte der DDR gesprochen wird, und (Martin Göttsching [CDU/CSU]: Christliche, zwar von jemandem, der Bundesminister in der jetzi- nicht „religiöse"!) gen Regierung ist, dann sage ich: Auch Sie, Frau — Entschuldigung: christliche Familien. — Ich komme Merkel, haben — ebenso wie Ihre beiden anderen aus einer nicht parteigebundenen Arbeiterfamilie. Ich Ministerkollegen — Ihre Ausbildung, Ihr Studium in bin zur Konfirmation gegangen. Ich bin auch zur der DDR absolviert. Auch Sie haben Marxismus- Jugendweihe gegangen, weil ich auf der Suche war. Leninismus-Prüfungen gemacht. Ich habe mich für eine atheistische Weltanschauung entschieden. Ich bin aber nicht dafür bestraft worden, (Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Machen daß ich müssen! Doch nicht freiwillig!) (Zuruf von der CDU/CSU: Zur Jugendweihe Ich frage Sie nicht, was Sie dort gesagt haben. gegangen bin!) (Udo Haschke [Jena] [CDU/CSU]: Das kann zur Konfirmation gegangen bin. Ich habe auch auf doch wohl nicht wahr sein!) normalem Wege studiert. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6755

Dr. Dietmar Keller Hier ist vom Besuch Erich Honeckers 1987 in Bonn das Wasser bei 100 Grad kocht. Das ist völlig logisch. gesprochen worden. Ich kann die Argumente einiger- Das konnte man nicht verändern. maßen nachvollziehen, die hier von Regierungsmit- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der gliedern formuliert worden sind. Aber war es nicht F.D.P. und der CDU/CSU) auch ein fürchterlicher Preis, den andere Menschen Ich kann zwar nicht verhehlen, daß sich manchmal der bezahlen mußten? Ist nach diesem Honecker-Besuch Boden des Topfes ein bißchen rot färbte. Das haben und nach der scheinbaren außenpolitischen Aufwer- wir toleriert. Aber was ich gemeint habe, ist folgendes: tung nach innen nicht vieles passiert, was vordem gar In meinem Studium mußte ich mehrfach diese ewig nicht möglich war? Ich erinnere nur daran, daß mit langen dreifach gegliederten Lehrgänge über Marxis- dem „Sputnik”-Verbot und dem Verbot von sowjeti- - über mich ergehen lassen. Das habe schen Filmen repressive Maßnahmen ergriffen wor- mus Leninismus ich mit Volksverdummung und Volksverhetzung den sind, die vordem nicht möglich waren und an gemeint: Es ist jahrelang versucht worden, uns einzu- denen viele Menschen zerbrochen sind. reden, diese Lehre wäre eine Wissenschaft. Das hat Ich bin im Interesse unseres eigenen Lebens, unse- Herr Heuer vorhin wieder gemacht. Davon muß ich rer eigenen Geschichte und auch im Interesse der mich eindeutig distanzieren. Geschichte unserer Kinder und Kindeskinder für eine rückhaltlose Aufarbeitung der Geschichte. Ich brau- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) che sie auch als demokratischer Sozialist, um zu wissen, was die Ursachen des Scheiterns des Sozia Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol chrauchemzu sie, bu l ege Dr. G Müller das Wort. -lismus im 20. Jahrhundert sind. I wissen: Sind Ideen des demokratischen Sozialismus brauchbar, sind sie gut, und was muß als Antwort auf die gegenwärtige Bundesrepublik Deutschland gege- Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Frau Präsidentin! ben werden? Ist sie die letzte Antwort der Geschichte? Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Wo ist sie verbesserungsbedürftig, und in welchen ehemalige Minister für Staatssicherheit in der frühe- Fragen braucht sie neue Alternativen, neue Antwor- ren DDR, Erich Mielke, steht zur Zeit in Berlin vor ten? Gericht, allerdings nicht wegen seiner Verbrechen in der DDR, für die er persönlich verantwortlich ist, hieß Die Enquete-Kommission kann und muß einen es doch in § 8 des Statuts des DDR-Ministeriums für Beitrag zur Aufhellung der deutschen Geschichte Staatssicherheit: leisten. Aber es wird eben nur ein Beitrag sein, der vor allem durch wissenschaftliche Forschungen und Der Minister leitet das MfS nach dem Prinzip der durch solide Arbeit in den Archiven ergänzt werden Einzelleitung. Er ist persönlich für die gesamte muß. Er muß durch runde Tische und eine von Tätigkeit des MfS verantwortlich. Toleranz geprägte gesellschaftliche Öffentlichkeit Vor Gericht steht er vielmehr wegen einer Mordtat, ergänzt werden, die in den vielfältigsten Formen über die er als Mitglied des geheimen Militärapparats der ihre eigene Geschichte und über ihre eigenen Bio- KPD im Jahre 1931 an zwei Berliner Polizisten began- graphien diskutiert. gen haben soll. Dieser Prozeß macht uns deutlich, um Ich danke Ihnen. was es geht. (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Die unter heftigen Geburtswehen gegen den Auf-- stand der KPD entstandene erste deutsche Republik

von Weimar war von Anfang an herausgefordert Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat das Wort durch die beiden totalitären Gruppierungen, die zu einer Kurzintervention der Kollege Schmieder. völkischen Rechtsradikalen und späteren Nationalso- zialisten und die Kommunisten, die sich nicht scheu-

Dr. Jürgen Schmieder (F.D.P.): Frau Präsidentin! ten, gelegentlich bei Volksentscheiden oder etwa

Meine Damen und Herren! Ich darf auf die Ausfüh- beim Berliner Verkehrsstreik auch gemeinsame rungen von Herrn Heuer vorhin Bezug nehmen. Ich Sache gegen die Demokratie zu machen. — Soviel zu bin direkt angesprochen worden. Er hat aus meiner Ihrem antifaschistischen Engagement. Rede ein, zwei Worte herausgegriffen und völlig aus (Heiterkeit bei der CDU/CSU) dem Zusammenhang gerissen. Das zwölfjährige Intermezzo des „Tausendjährigen Ich habe von Volksverdummung und Volksverhet- Reiches" ging 1945 zu Ende, just zu dem Zeitpunkt, zung gesprochen. Das würde ich in dem Zusammen- wo sich die Parole der KP von 1932 „Nach Hitler wir" hang, den ich nannte, auch wieder tun. Er hat diese bestätigte und die 44jährige Terrorherrschaft der Worte völlig losgelöst und hat den Eindruck erweckt, SED begann, die Diktatur des Proletariats. Wie er hätte zugehört. Das hat er natürlich nicht. Er hat schreibt doch Lenin in seinem Werk „Die proletari- nicht einmal verstanden, was er gehört hat. Das sche Revolution und der Renegat Kautsky": nehme ich ihm nicht übel. Es ist eben so. Revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Aber daß er diese Aussage mit meinem Bildungs- Macht, die erobert wurde und aufrecht erhalten weg in Zusammenhang zu bringen versucht, ist für wird durch die Gewalt des Proletariats gegenüber mich nicht nachvollziehbar. Gut, ich habe in diesem der Bourgeoisie. Land meine Ausbildung genossen. Das ist völlig klar. Ich habe ja dort gewohnt. Gerade deswegen habe ich Das haben Sie 44 Jahre lang in Ihrem Staate vorge- diese Formulierung gebracht. Ich habe ein Studium führt! auf dem Gebiet der Thermodynamik, der Wärmetech- In Art. 1 der Verfassung der DDR aus dem Jahre nik, absolviert. Auch für Kommunisten war es so, daß 1974 heißt es in wörtlicher Übernahme der sowjeti- 6756 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Günther Müller sehen, der Stalinschen Verfassung von 1936 — ich Hilfswilligen in der Bundesrepublik haben dazu bei- zitiere —: getragen, das System am Leben zu erhalten. Dutzende von Verlagen, Schriftsteller, Intellektuelle und Künst- Die Deutsche Demokratische Republik ist ein ler in der Bundesrepublik Deutschland waren teils aus sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie Überzeugung, teils aus Naivität im Dienste der Partei ist die politische Organisation der Werktätigen in tätig. Ja, selbst Schriftstellerkongresse wurden aus Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse Ost-Berlin gesteuert. und ihrer marxistisch-leninistischen Partei. (V o r sitz : Vizepräsident Helmuth Becker) Was Diktatur des Proletariats selbst für die Mitglie- Schon vor dem Sturz des SED-Regimes genügte ein der der KP bzw. SED bedeutete, kann man so recht Blick in das Buch „Fünf Finger sind keine Faust" von nachlesen im Stenogramm der geschlossenen Partei- Klaus Rainer Röhl, dem Ehemann von Ulrike Meinhof, versammlung der Deutschen Kommission des Sowjet- um zu erfahren, wie mit DDR-Geldern Zeitungen schriftstellerverbandes vom September 1936 in Mos- gegründet und die Wallraffs und Engelmanns zu kau, wo nach den ersten Stalinschen Säuberungspro- besonderem Einsatz aktiviert wurden. zessen und der Verabschiedung der schon zitierten Verfassung unter dem Motto der proletarischen Auch die Kampagne gegen Ministerpräsident Fil- Wachsamkeit die eigenen Genossen ans Messer binger, die gerade erwähnt wurde, wurde aus diesen geliefert wurden. Die Entscheidung der kleinen Par- Fonds finanziert und gespeist, und daraufhin wurden teikommission der KPD, bestehend aus den Genossen die falschen Informationen geliefert. Ulbricht, Dengel und Funk, über das Ruhen einer 1972 erschien im Bundestagswahlkampf ein Mitgliedschaft, bis andere Stellen ihre Untersuchung Schwarzbuch über Franz Josef Strauß, in dessen beendet haben, kam oft einem Todesurteil gleich. Die Vorwort es heißt, daß die Autoren und Herausgeber Überlebenden, Alfred Kurella, Willy Bredel, Johannes die Arbeit auf sich genommen haben, um Unheil von R. Becher, Friedrich Wolf, um nur einige zu nennen, der Bundesrepublik abwenden zu helfen. Es ist von waren nach 1945 für die deutsche Diktatur des Prole- einer Mehrzahl von Autoren die Rede, obwohl nur tariats verantwortlich. einer genannt wird: Bernt Engelmann. Heute wissen wir, daß die anderen Autoren aus dem Staatssicher- Die DDR war kein Staat wie jeder andere. Es war heitsdienst kamen. Kaum zu glauben, daß zwei heute weder der Staatspräsident noch die Volkskammer, die so kluge Kollegen in diesem Haus, nämlich der etwas zu sagen hatten, sondern es waren das Zentral- wirtschaftspolitische Sprecher der SPD, Wolfgang komitee und das Politbüro der SED, die die Diktatur Roth, und die stellvertretende Fraktionsvorsitzende ausübten. Um so erstaunlicher ist es, daß dies im der SPD, Ingrid Matthäus-Maier, damals in ihrer westlichen Teil unseres Vaterlandes im Laufe der Eigenschaft als Bundesvorsitzende der Jungsoziali- Jahre immer mehr verdrängt wurde. Die kommunisti- sten bzw. der jungen Demokraten als Herausgeber sche Diktatur wurde verharmlost. Man wollte die DDR des Buches fungierten und sich naiv von der Stasi und die Bundesrepublik wie zwei gleichwertige poli- einspannen ließen! tische Systeme definieren. Das geschah selbst im Schwerwiegendere Folgen hätte es auch noch „DDR-Handbuch", wo zuerst Ministerrat, Volkskam- haben können, wenn die Forderung der SPD, die mer usw. genannt wurden und erst am Ende die SED zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter abzuschaffen, und ihre Kader, die eigentlichen Machthaber. erfüllt worden wäre. Das Geld wurde ja von den Ich war sehr dankbar dafür, daß Willy Brandt heute SPD-regierten Ländern verweigert. Als erster promi- in seiner Rede gesagt hat: Wir müssen die Vergangen- nenter SPD-Politiker hatte der damalige stellvertre- heit auch der Entspannungspolitik kritisch hinterfra- tende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Jür- gen. — Wenn er dies tut, wird er sich sicher daran gen Schmude, schon 1984 ihre Abschaffung gefordert. erinnern, daß er 1982 in einem Artikel im „Spiegel" 1985 stellte er das Wiedervereinigungsgebot des die Systeme der DDR und der Bundesrepublik Grundgesetzes zur Diskussion, und noch wenige Tage Deutschland ausdrücklich als gleichwertig bezeich- vor dem Fall der Mauer im Oktober 1989 plädierte er nete, was er sicher heute nicht mehr tun würde. in der ARD-Fernsehsendung „Pro & Contra" gegen die Wiedervereinigung. Um so erstaunlicher ist es, wenn man heute bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit diese Gleich- Nicht zu Unrecht schrieb der sächsische Umweltmi- wertigkeit nicht gelten lassen will. Wie sagte doch der nister Arnold Vaatz — ich zitiere —: SPD-Bundestagsabgeordnete Schily: Falsche Wahlen Die intellektuelle Hehlerei haben die Schmudes, können nicht gefälscht werden. — Mit gleicher logi- die Gaus', die Böllings, die Grass' anscheinend scher Konsequenz könnte man heute sagen: Eine längst zu ihrem Ehrenkodex erhoben. falsche Verfassung kann auch nicht gebrochen wer- den, eine Verfassung, die z. B. den Art. 31 enthielt, der Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege die Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldege- Dr. Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des heimnisses festschrieb, obwohl jedermann die Reali- Kollegen Dr. Schmude? tät kannte. Ein besonderes Feld ist die Verstrickung von Bür- Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Gerne. gern der Bundesrepublik in die Arbeit der SED zur Ausdehnung ihres Machtbereichs. Nicht nur die vie- Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr. len informellen Mitarbeiter und Offiziere im besonde- ren Einsatz des Staatssicherheitsdienstes auf dem Dr. Jürgen Schmude (SPD): Würden Sie bitte zur Gebiet der DDR, sondern ihre Agenten und die Kenntnis nehmen, Herr Kollege Müller, wobei ich die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6757

Dr. Jürgen Schmude Widerlegung Ihrer anderen Behauptung hier unter- man dafür sorgen wolle, daß im Abschlußkommentar lasse, damit es nicht zu weit führt, daß ich in der von die DDR-Außenpolitik positiv dargestellt werde. Ihnen zitierten Fernsehsendung nicht gegen die Wie- Man hätte sich bei den Liveübertragungen vom dervereinigung gesprochen, sondern deutlich erklärt Berliner Alexanderplatz an den amerikanischen habe, daß ich nicht gegen sie sei, sie aber nicht für ein Anstalten ein Beispiel nehmen können. Man zog es vordringliches Problem halte, und daß ich folglich beim deutschen Fernsehen vor, nicht live zu berich- nicht dafür zu vereinnahmen bin, ich hätte mich dort ten, sondern die Übertragung eines Tennisspiels fort- gegen die Wiedervereinigung ausgesprochen. Das ist zusetzen. schlicht falsch. Könnten Sie das bitte zur Kenntnis nehmen oder zitieren, was Sie über mich wissen? Die Ausgrenzung der Kritiker des SED-Terrorsy- stems als „Kalte Krieger" — so ist es mir geschehen —, „Antikommunisten", „Revanchisten" durch die ton- angebenden Intellektuellen führte zu bemerkenswer- Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Ich danke Ihnen ter Selbstzensur. Wenn Theo Sommer 1987 in der dafür, daß Sie mir ausdrücklich bestätigt haben, daß „Zeit" in einem Kommentar zum gemeinsamen Papier Sie die Wiedervereinigung im Jahre 1989, während von SPD-Grundwertekommission und der Akademie die Menschen demonstrierten, nicht für ein vordring- der Gesellschaftswissenschaften beim SED-Zentral- liches Ziel gehalten haben. Danke schön für diese komitee schrieb, daß keine Seite der anderen die Bestätigung. Existenzberechtigung absprechen dürfe, dann hatte Wir wissen heute, daß mindestens in zwei Bundes- das Signalwirkung. tagsfraktionen Einflußagenten der Staatssicherheit In demselben Jahr 1987 erschien das Buch „Die tätig waren, die die Politik der Fraktionen zum Teil DDR auf dem Wege in das Jahr 2000". Dort wird mit entscheidend bestimmten. Recht darauf hingewiesen, daß mit dieser Phraseolo- (Dr. Peter Struck [SPD]: Was ist denn das für gie vom „Revanchismus" auch mancher seriöse Geist- ein Quatsch? Jetzt reicht es aber bald!) liche der evangelischen Kirche vor den Karren der SED gespannt wurde. Wie schreibt die „taz" am — Sie kommen gleich dran; Sie sind der Geschäfts- 17. Februar 1992 so richtig: führer. Warum werden Sie denn nervös? Die SPD ist ja noch nicht be troffen. Die guten verständnisvollen Beziehungen zu den einstigen Machthabern auf der einen, die flä- uck [SPD]: Es ist alles Unsinn, (Dr. Peter S tr chendeckende Ignoranz gegenüber den Bürger- was Sie da sagen!) rechtlern auf der anderen Seite, dieses von der Wie schreibt Elisabeth Weber im Februar-Heft der historischen Entwicklung peinlich pointierte Zeitschrift „Kommune" — passen Sie jetzt genau Mißverhältnis markiert den nicht erst seit der auf —: Wende thematisierten Skandal der Entspan- Daß die Staatsinteressen der DDR als grüne nungspolitik. Position akzeptiert wurden, genauso legitim grün Wer mit Egon Krenz gemeinsam die Sauna besucht, wie die anderen, darin liegt einer der wirklichen hat eben keine Zeit, die Bürgerrechtler zu treffen. und verhängnisvollen Erfolge von Dirk Schnei- der. (Zustimmung bei der CDU/CSU) Dirk Schneider focht für die staatlichen Interessen der Ich zitiere wieder die „taz": SED, die Anerkennung der DDR ohne Wenn und Aber Die SPD-Entspannungspolitiker fanden viel und die Anerkennung der Geraer Forderungen leichter mit den Politbüromitgliedern in Prag, Honeckers, übrigens genau in Übereinstimmung mit Warschau und Ost-Berlin ihren Modus vivendi als prominenten Politikern der SPD, deren Forderungen mit den Oppositionellen der Charta 77 oder von sich nicht von denen des Stasi-MdB unterschieden. Solidarnosc. Auch Teile des Journalismus, und zwar nicht nur Die Bürger der ehemaligen DDR zu verurteilen die in der IG Druck und Medien engagierten Journa- wäre gerade angesichts der freiwilligen Verstrickung listen, ließen sich allzuleicht mißbrauchen. Während von Bürgern der Bundesrepublik unverantwortlich. z. B. in der Tschechoslowakei und Rumänien das Jedermann hat das Recht zu Fehler und Irrtum. Fernsehen die entscheidende Rolle bei der Revolution Verzeihung setzt aber auch Bekennen voraus. Hier spielte, hatte es die ARD in vorauseilendem Gehorsam scheint eher die Ausnahme die Regel zu sein. Der von vorgezogen, etwa über die große Friedensdemonstra- der Stasi gefolterte und sechs Jahre eingelochte Gün- tion in Dresden nicht zu berichten. ter Fritsch zieht eine traurige Quintessenz, wenn er (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schreibt: Den eindrucksvollen Kerzenzug zur Frauenkirche, Zahlreiche Nutznießer der ostdeutschen Diktatur den die Eurovision gerne übernehmen wollte, hatten haben kritische Mitbürger mit bleibenden Schä- sie eben nicht im Kasten. Man war zwar dabei den in die Verfolgung get rieben. Seit zwei Jahren gewesen, hatte aber nicht gedreht. könnten sie sich risikolos mit einem Wort des Bedauerns an die von ihnen Verfolgten wenden. Nach Öffnung der Akten gibt es hier sicher noch Möchten Sie wissen, wieviele solche Zeichen ich manche Überraschungen; so, wenn wir erfahren, daß inzwischen erhalten habe? Kein einziges! bei dem Antrag zur Dreherlaubnis zum 10. Jahrestag des Treffens Brandt/Stoph im „Erfurter Hof" der Zu denken gibt auch der Satz des Ex-Stasi-Obersten Korrespondent der ARD in Ost-Berlin versicherte, daß Joachim Wiegand, den Herr Schmude heute schon 6758 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Günther Müller zitiert hat — Herr Schmude gibt mir immer Vorla- Ich möchte vorweg auf Ausführungen von Herrn gen —, der ja bekanntlich die Akten der Kirchenab- Heuer und Herrn Keller eingehen. teilung der Stasi hat verschwinden lassen, in einem Zunächst zu Herrn Keller. Sie berufen sich auf Interview im letzten „Spiegel". Er hat in diesem Chile. Im Vorfeld der ganzen Diskussion über das Ob Interview wörtlich gesagt: von Enquete-Kommission und Untersuchungsaus- Wenn die Kirche aufruft, daß sich ihre eigenen schuß habe ich mit argentinischen Parlamentariern Schäfchen stellen sollen, dann müssen die Hirten gesprochen. Sie haben mir gesagt: Sie haben ihr mit gutem Beispiel vorangehen. Unrecht dadurch begrenzen und Schuldige zur Ver- Das gilt auch ganz im Norden der Republik. antwortung ziehen können, daß sie nach ihrer Revo- lution eine Untersuchungskommission eingesetzt und Verzeihen — ja, aber nicht verdrängen. Deshalb danach Gesetze vorgelegt haben, um die Schuldigen muß das ganze Aktenmaterial der Diktatur aufgear- zu verurteilen. beitet werden. Die Staatssicherheit ist nur ein kleiner und nicht einmal der wesentliche Teil. Das Parteiar- Zu Herrn Heuer. Sie sagten: Die Opfer reagieren chiv der SED wie ihrer Unterorganisationen, vor allem jetzt hysterisch. die Kaderakten, haben die Schlüsselfunktion bei der (Zuruf des Abg. Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS/ Aufarbeitung der zweiten totalitären Diktatur in die- Linke Liste]) sem Jahrhundert auf deutschem Boden. — Gut, wenn Sie es nicht so gesagt haben. — Sie Ich schließe mit einem Satz, der in der „Neuen Zeit" reagieren besonnen und konsequent. Sie verlangen vom 27. April 1991 als Leserbrief von einem ehemali- natürlich Gerechtigkeit. gen Oberleutnant der Staatssicherheit geschrieben wurde. Ich zitiere: Sie sagten weiter: Die PDS stellt sich der Aufarbei- Aber wehe Euch, wenn sich rot und braun einmal tung. Ich frage nach wie vor: Warum übernehmen vereinigen. Die Bevölkerung legt Wert auf objek- Herr Modrow und Herr Keller nicht die Verantwor- tive Berichterstattung, ist unzufrieden mit der tung? Verantwortung heißt, die Schuld bekennen, und Entwicklung in den Ländern unserer ehemaligen nicht, im Bundestag sitzen. DDR. Vielen wäre es lieber, wenn eine Gruppe (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ulbricht die Macht wieder übernehmen würde. der CDU/CSU und der F.D.P.) Dies sollten wir gründlich verhindern. Drittens. Sie haben den Einmarsch in die Č SSR nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge verurteilt. Ich war damals Schülerin. Ich weiß, was für ordneten der F.D.P.) Schwierigkeiten es brachte, als wir die Lehrer danach fragten und uns nicht damit einverstanden erklär- ten. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, zu einer Zwischenintervention gemäß § 27 Viertens. Als Krenz Anfang November an die Macht der Geschäftsordnung erteile ich das Wort dem Kolle- kam, wollten wir in der DDR keine Reformen mehr; da gen Dr. Schmude. war es uns egal, ob da jemand Müller, Krause oder Krenz hieß. Wir wollten eine Änderung der Verfas- sung, und wir wollten, daß das Neue Forum und die - Dr. Jürgen Schmude (SPD): Sehr geehrte Damen SDP, die wir damals waren, legitimiert sind und nicht, und Herren! Wir haben uns heute in der Debatte daß man uns danach verfolgt und verurteilt. Ich habe mehrfach einvernehmlich geäußert, daß es unzuläs- in meinen Stasi-Unterlagen die Belege dafür, daß wir sig, ja sogar skandalös ist, ehemalige Stasi-Offiziere in dieser Zeit noch verfolgt worden sind. heute in den Rang von Kronzeugen zu erheben und, Fünftens. Sie waren mitverantwortlich dafür, daß auf ihr Wort gestützt, Verdächtigungen und Beschul- Angst bei uns herrschte. Das ist einer der Punkte, auf digungen auszusprechen. die ich eingehen möchte. Ich war nämlich 18 Jahre Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alles hilft uns und studierte seit gerade zwei Monaten Biologie. Da nicht weiter, wenn anschließend der Kollege Müller kam von der Heimleitung — ich lebte damals in daherkommt und wörtlich eine Verunglimpfung die- Diesdorf in einem Studentenheim — die Aufforde- ses Stasi-Obersten Wiegand gegen die Evangelische rung, ich solle doch einmal runterkommen. Ich kam Kirche zitiert. Das ist genau der falsche Weg. herunter, völlig unwissend, was da sein werde. Dort (Beifall bei der SPD) saßen zwei Herren mit dunklen Brillen. Sie sagten, sie möchten mir mir sprechen, und erzählten mir, daß Fluchtversuche stattfänden und daß sie meine Mit- Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile das Wort hilfe wünschten. Ich wußte zunächst gar nicht, was die unserer Kollegin Angelika Barbe. wollten. Da zeigten sie mir ihre Dienstausweise von der Staatssicherheit. Ich sollte mitarbeiten. Angelika Barbe (SPD): Herr Präsident! Meine Ich sagte: Ich bin völlig unscheinbar; ich habe keine Damen und Herren! Wir haben in den Zehn Thesen, Funktionen als Studentin; mich sollten sie nicht neh- die wir vor einer Woche parteiübergreifend vorgelegt men; ich tauge dafür nicht. Da haben sie gesagt: Na ja, haben, auf genau das hingewiesen, was Jürgen sie sind doch fünf Kinder zu Hause; ihre Eltern haben Schmude sagte: Stasi-Offiziere brauchen wir nicht als doch wenig Geld; wollen sie sich nicht etwas dazuver- Kronzeugen der Geschichte. Wir haben dafür andere dienen? Ich war so betroffen und wütend, daß die Gremien. Dazu soll auch die Enquete-Kommission meine Würde kaputtmachen wollten, und sagte ihnen: dienen. Ich mache das nicht. Daraufhin boten sie mir Bedenk- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6759

Angelika Barbe zeit an und sagten, ich dürfe aber niemandem etwas Eva Stege möchte ich noch stellvertretend nennen, darüber sagen. Das war meine Rettung, denn da fiel eine Frau, die damals von den Russen verurteilt mir etwas ein. Ich sagte ihnen, ich würde alles mit worden ist. Sie ist von der Straße weggefangen meiner Mutter bereden und ihnen dann Auskunft worden, kam nach Sibirien ins Arbeitslager, war geben. Dadurch änderte sich die Atmosphäre. Sie vergewaltigt worden usw. Sie durfte 40 Jahre darüber wurden wütend, verboten mir, über das Gespräch nicht reden. Es wurde ja gar nicht geglaubt; wer dort überhaupt mit jemandem zu sprechen; sie verboten bei den „Freunden" gewesen war, der mußte schon mir, sie wiederzuerkennen und jemals etwas darüber irgendwie selber daran schuld sein. verlauten zu lassen. Das müssen Sie sich vorstellen! Diese Opfer wollen keine Rache, aber sie wollen Ich habe ein Jahr mit dieser Angst gelebt und mich mindestens Gerechtigkeit. Die damals Unrecht Spre- nicht getraut, darüber zu sprechen. Erst als ich den chenden im Justizapparat sollen heute nicht wie Mut fand, mit einer Freundin darüber zu reden, war Wetzenstein-Ollenschläger unschuldig als Anwälte dieser Bann gebrochen. auftreten können. Eine nachweislich bewußte Ver- Das ist es, worauf ich eingehen will: die Angst, die strickung mit dem Apparat muß zu Konsequenzen dieses System dort verursacht hat und die uns alle führen; diese Personen sind für Vetrauensstellungen gefangengehalten hat, die wir dort als Kinder und im Rechts- und Gesundheitswesen, im politischen, Erwachsene von diesem System abhängig waren. pädagogischen und kirchlichen Bereich sowie in Füh- Auch als Eltern waren wir es nachher, nämlich als wir rungspositionen anderer Sektoren für eine Über- die Sorge für die Kinder hatten. gangszeit ungeeignet. Ich zitiere da wieder eine der Thesen, die wir vorgelegt haben. Das ist eine meiner Fragen und etwas, was in der In Elternversammlungen schwiegen Eltern, um Enquete-Kommission aufgearbeitet werden muß: ihren Kindern nicht zu schaden. Im Unterricht schwie- Welches waren diese Prinzipien der Einschüchte- gen Kinder, um sich nicht mit manchem Staatsbürger- rung? Wie kann man sie überwinden, wenn man kundelehrer anlegen zu müssen. Wer es dennoch tat, erkennt, was da stattfindet? wer Fragen stellte, sich bewußt mit der Welt ausein- Ich denke, totalitäre Systeme leben von der Angst andersetzen wollte, mußte als Schüler damit rechnen, der Menschen und schüren sie deshalb bewußt. keinen „festen Klassenstandpunkt" bescheinigt zu Immer wieder wird die Angst der Menschen bewußt bekommen. Das kann ich Ihnen nachweisen; das habe benutzt, um sie zu beherrschen. Und immer wieder ich so bei mir drinstehen. Dabei war dann das Abitur in schweigen Menschen aus dieser Angst. Über die Gefahr. Vergangenheit in unserer Lebensumwelt DDR spre- Die Gefährdeten - Karteien, von denen der „Stern" chen heißt eben auch, die vielfältigen Methoden schrieb, existierten wirklich. Ich habe mich mit dieser Einschüchterung benennen. in Verbindung gesetzt. Sie hat im Die Angst, die ich noch heute nicht vergessen kann, Nachlaß des ehemaligen Rates des Bezirks Potsdam, ist nur ein Bruchteil der Angst, die Menschen erlebt Abteilung Volksbildung, eine Dienstanweisung vom haben, die in den Gefängnissen gesessen, in Untersu- 30. 7. 1987 vorgefunden, eine Bleichlautende Dienst- chungshaft gelebt haben oder umgekommen sind. anweisung von Ostberlin von 1983. Das sind keine Stasi-Akten; aber dort ist aufgeführt, (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ daß auch Schüler, die politisch aggressives Verhalten CSU und der F.D.P.) aufweisen, von Direktoren besonders beobachtet wer- Ich möchte ein paar Beispiele nennen. Es werden nur den sollten. Da ist natürlich nicht auszuschließen, daß wenige sein. Ich denke an den Schüler Markus die Staatssicherheit zu diesen Unterlagen Zugriff Sandmann aus meiner Bekanntschaft, 17jährig, von hatte, insbesondere zu Akten, in denen „politisch der Staatssicherheit beim Fluchtversuch in die CSSR aggressives Verhalten" verzeichnet war. Dies ist mit seinem Freund gefangengesetzt in Untersu- sogar recht wahrscheinlich, schreibt Marianne Birth- chungshaft. Niemand wußte Bescheid. Die Eltern ler in ihrem Brief an die Redaktion der Zeitung „Der kriegten wochenlang keinen Bescheid. Niemand Prignitzer". Es ist eindeutig festzustellen und hervor- wußte, was aus ihm wird. Er hatte natürlich erst einmal zuheben, schreibt sie weiter: die Lehrer waren nicht seine Zukunft beiseite legen können. Gott sei Dank ist Stasi-Spitzel, wenngleich diejenigen, die politische heute noch Zeit, daß er das Studium, das er machen Auffälligkeiten von Kindern in „Gefährdeten-Kar- möchte, durchführen kann. teien" vermerkten, den Kindern vermutlich Schaden zugefügt haben. Mein Bruder saß in Bautzen. Wissen Sie, weshalb? Wegen „Beeinträchtigung der Arbeit der Behörden", Immer wieder wurde Angst erzeugt. Immer wieder nur weil er mehrere Ausreiseanträge gestellt hätte. wurde Menschen der letzte Rest von Mut und das Die Untersuchungsrichterin, die ich in meiner Not letzte Selbstvertrauen genommen. Erst meine Erfah- aufsuchte, weil ich Angst hatte, daß ihm was passiert, rung, erstens nichts mehr in der DDR verlieren zu sagte: „Den werden wir auch noch knacken." Ich können, und zweitens, gleichgesinnte Menschen werde diese Worte nie vergessen. In meiner Verzweif- gefunden zu haben, mit denen sich das Risiko des lung habe ich mich dann an den Generalsuperinten- Widerstandes leichter tragen ließ, nahmen mir all- denten Krusche mit der Bitte um Hilfe gewandt, weil mählich die Angst. ich Angst hatte, daß ihm in der Haft etwas passiere. Ich Ich danke vor allen Dingen den Frauen des Panko- hoffte darauf, daß er dann irgendwann einmal freige- wer Friedenskreises und des Johannisthaler Frauen- kauft wird; denn das war für viele, die im Gefängnis kreises, die mit unbequemen Fragen damals laut und saßen, die letzte Rettung. öffentlich vor den Wahlen diese Praktiken anmahnten 6760 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Angelika Barbe und mit denen wir zusammen auf die Straße gingen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Allein waren wir machtlos, aber Hunderttausende Herren, eine kurze Bemerkung zur Geschäftslage: Wir konnten nicht mehr liquidiert werden. Trotzdem saß haben noch eine Reihe von Wortmeldungen, haben uns noch der Schock der chinesischen Lösung in den aber die vereinbarte Debattenzeit schon überschrit- Knochen; das weiß ich auch noch. ten. Nun ist das bei diesem Thema nicht ungewöhn- Die Enquete-Kommission wird diese Fragen klären lich. Ich bitte nur, damit einverstanden zu sein, daß der Kollege Stübgen, der hier sitzt, seine Rede zu Protokoll müssen, ob und warum Männer anfälliger für den gegeben hat. Ich hoffe, daß es keinen Widerspruch Verrat waren. Männer waren in großer Mehrheit in Führungspositionen von Blockparteien, von SED, Kir- dagegen gibt. — Dann haben wir das so beschlos- sen.*) chen, Staatssicherheitsdienst und Massenorganisatio- nen. Warum fehlte vielen das Mitgefühl mit der Nun hat zunächst der Kollege Dr. Müller das Wort bedrohten Umwelt und den Mitmenschen? Galt ihnen zu einer Zwischenbemerkung. der Machterhalt um jeden Preis als das wertvollste Gut? Warum schweigen heute die meisten und lehnen Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Herr Kollege wieder jegliche Verantwortung ab? Viele Antworten, Schmude, ich wollte nur richtigstellen, daß ich keiner- die wir heute auf unsere Fragen erhalten, sind nicht lei Angriffe gegen meine eigene Kirche — auch ich zufriedenstellend; sie müssen erst noch gefunden bin evangelisch — gerichtet habe. werden. Nun haben Sie Herrn Wiegand erwähnt. Wir erleben im Osten den Vertrauensschwund bei (Dr. Jürgen Schmude [SPD]: Nicht nament- den Bürgerinnen und Bürgern. Immer weniger glau- lich!) ben daran, daß Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft wirklich das Wohl der Gemeinschaft — „Nicht namentlich", gut. Ich habe eben den anstreben und daß die Beseitigung von Mißständen Namen, aber an der Sache ändert das ja nichts. — Da auch tatsächlich stattfindet. Die Suche nach Gerech- ich nicht dem Motto „Quod licet Iovi, non licet bovi" tigkeit als Ausgleich für all die Angst durch das anhänge, bin ich der Meinung, daß wir den Satz, den System „40 Jahre SED/Blockparteien" ist das minde- ich zitiert habe „Wenn die Kirche dazu aufruft, daß ste, war wir als Ostdeutsche und Westdeutsche sich die eigenen Schäfchen stellen, dann sollten die gemeinsam tun können, um denen zu helfen, die Hirten mit gutem Beispiel vorangehen", doch alle Unrecht erlitten haben, damit der Glaube an die unterstreichen können. Das ist jedenfalls mein Selbst- Demokratie wachsen kann und keine Instrumentali- verständnis von dieser Kirche. Nur die Wahrheit kann sierung stattfindet, Herr Heuer. Frieden schaffen: Veritas facit pacem. (Dr. Jürgen Schmude [SPD]: Die Wahrheit, Zum Schluß danke ich, daß Sie Markus Meckels und aber nicht falsches Zeugnis!) meine Anregung angenommen haben, diese En- quete-Kommission einzusetzen. Ich wünsche mir, daß wir im Rahmen der gemeinsamen Arbeit in der Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Enquete-Kommission keine einseitigen Antworten Herren, im Anschluß an diese Debatte gibt es eine geben, sondern eine offene Auseinandersetzung statt- Geschäftsordnungsdebatte. Nach der augenblickli- findet. chen Übersicht wird die ungefähr um 15.10/15.15 Uhr stattfinden. Mit einer persönlichen Impression möchte ich schließen. Ich habe sie „Deutsch-deutsche Antwor- Nunmehr erteile ich das Wort unserem Kollegen ten" betitelt: Dirk Hansen. Es geht nicht, der Rechtsstaat verbietet es, Dirk Hansen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen sagen Juristen — und Herren! Es hat im Laufe dieser heutigen Debatte ihr habt eure Macht an den Staat längst abgege- doch hin und wieder so ein bißchen parteipolitische ben. Geplänkel gegeben. Dazu ist dann im Zuge der Debatte gesagt worden, daß das angesichts der gro- Unser Grundgesetz gilt jetzt, ßen Aufgabenstellung dieser Enquete-Kommission es hat sich bewährt, doch eigentlich eher störe. Dieser Auffassung muß sagen Politiker — man, so denke ich, entgegenhalten: Der Deutsche ihr seid doch beigetreten. Bundestag diskutiert gewissermaßen hautnah. So wie Ich war es nicht, die Diskussion außerhalb dieses Hauses stattfindet, so Honecker ist es gewesen, offenbar auch hier. Insofern wird hier die Nähe des sagen die Modrows und Berghofers — Bundestages, der Mandatsträger zu den Wählern ihr seid jetzt verantwortlich. selber deutlich und vielleicht auch verständlich. Es wird auch gar nicht anders sein können, als daß in der Jetzt habt ihr im Osten Arbeit der Kommission selber die Fronten im Zuge von endlich den Rechtsstaat, Vergangenheitsbewältigung, beispielsweise auch der sagen Demokraten — eigenen Politiken allein der vergangenen 20 Jahre, Gerechtigkeit haben wir auch nicht. immer wieder aufeinanderstoßen. Danke schön. Aufarbeitung der Geschichte — ist das überhaupt möglich? Kann man das, was geschehen ist, im Sinne (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) *) Anlage 2 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6761

Dirk Hansen des Wortes aufarbeiten? Wir im Westen haben seit vier Antworten, gemeinsame Antworten, jetzt im neuen, Jahrzehnten immer von Vergangenheitsbewältigung größeren Deutschland sucht. gesprochen. Wir müssen uns fragen, ob wir die Ver- Die Identität ist, wie Werner Weidenfeld gesagt hat, gangenheit — und damit meinten wir immer wieder das „Amalgam aus Gedächtnisstoff, Gegenwartser- die Vergangenheit des Nationalsozialismus — bewäl- fahrung, Zukunftsprojektion", und auf diese Suche tigt haben. Jetzt stellt sich die Frage: Soll die Vergan- muß man sich ständig, täglich neu begeben. Das genheit des Kommunismus in Deutschland allein eigene Orientieren für die Zukunft wurzelt in einem aufgearbeitet und bewältigt werden? Kann man diese Bewußtsein der eigenen Geschichte, und sind diese beiden Vergangenheiten gewissermaßen überhaupt Wurzeln verdeckt oder gar verdrängt, so kann der in einem Atemzug nennen? Oder ergibt sich daraus Stamm des eigenen gegenwärtigen Seins sich nur nicht zugleich der Streit, der in den späten 80er Jahren verbiegen oder Wucherungen zeugen, die keines- unter dem Stichwort „Historikerstreit" in die Annalen wegs deutlich machen, worin dann das Ausschlagen eingegangen ist nach dem Motto: Die braunen und die junger Triebe oder gar grüner Blätter begründet roten Diktatoren — sie kann man nicht in eine liegen könnte. Parallele setzen. Wer das eine tut, der relativiert gewissermaßen das andere. In den vergangenen 45 Jahren, aber keineswegs ein historisches Dennoch stellt sich für mich die Frage, ob die seit nur in diesen, war die deutsche Frage Faktum. Ob normativ oder voluntaristisch definiert, den 60er Jahren eingestellte Diskussion um den gerade nach 1945 mußten sich die Deutschen fragen, Begriff des Totalitarismus nicht doch eine Ebene schafft, auf der bestimmte Herrschaftstechniken ver- wer sie sind, was die Nation ist. Aus dem zumindest in gleichbar sind, Methoden gewissermaßen, die sich den ersten Jahrzehnten als anormal empfundenen Zustand der deutschen Teilung erwuchs immer wie- ähneln, auch wenn die Ziele sich nahezu vollständig der neu die Frage nach dem eigenen Standort und unterschieden. nach den eigenen Bindungen. Ist die Westbindung der Ich will hiermit deutlich machen, daß es meines Bundesrepublik zugleich eine Wertbindung gewe- Erachtens keineswegs allein um die Aufarbeitung der sen? Ist das Selbstverständnis der Regierenden in der Geschichte der DDR bzw. der SED-Diktatur geht, DDR wirklich, wie sie behaupteten, das einer „sozia- sondern daß zu Recht von der Geschichte und den listischen Nation" gewesen? Folgen der deutschen Teilung im Zusammenhang mit Die Ost - West - Debatte und die Frage nach dem der Aufgabenstellung der Enquete - Kommission die Rede ist. Es gibt eine gemeinsame Vergangenheit, Standort der Deutschen mittendrin stellte sich späte- und die Aufgabenstellung ergibt sich keineswegs stens ab 1946. Nach den Konferenzen von Teheran, allein aus den Ereignissen des Herbstes 1989 in der Jalta und Potsdam zerfiel die Anti-Hitler-Koalition sehr schnell in ihre ideologisch-politischen Gegen- damaligen DDR, sondern aus der deutsch - deutschen Vergangenheit insgesamt, auf jeden Fall aus der nach sätze. Der Kalte Krieg, wie Walter Lippmann es dem Zweiten Weltkrieg, d. h. auch für die Jahre 1945 formulierte, begann. Mit der Rede von Außenminister bis 1949, die Waldemar Besson einst als „Inkubations- Byrnes im September 1946 in Stuttgart, der Truman- zeit" beschrieben hat, in der die Weichen für das Doktrin, dem Marshall-Plan, der Bizone, den Londo- gestellt worden sind, was sich ab 1949 in beiden Teilen ner Empfehlungen der Westalliierten, den Frankfurter Deutschlands vollzogen hat. Dokumenten und der Währungsreform wurde deut- lich, daß die drei westlichen Zonen Deutschlands in Ich bin mir bewußt, daß der 8. Mai 1945 natürlich eine Richtung marschierten, die danach immer wieder keineswegs die Stunde Null war, wie vielfach behaup- unter das Motto gestellt wurde, Freiheit und Einheit tet worden ist. Die Jahre der deutschen Entwicklung seien die Ziele, die zugleich zu erreichen seien. Es nach 1945 standen ja zunächst einmal stramm unter waren ja zum Teil auch intellektuelle Wortspiele, ob dem Zeichen des sogenannten Antifaschismus oder „Freiheit durch Einheit" oder die „Einheit in Freiheit" besser gesagt des Antinationalsozialismus und sehr vorrangig zu erzielen sei: diese waren abgehoben, bald dann auch im Zeichen des Antikommunismus. denn zugleich passierte im Osten entgegen allen Beide Anti-Haltungen waren nichts anderes als Grün- verbalen Bekundungen — bis in die letzten Verfas- dungsmythen, die ja Paten für die jeweilige Staats- sungstexte der DDR hinein — doch ab 1946 — viel- gründung waren. leicht auch schon im Juni 1945 mit der Bildung des (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der sogenannten Antifa-Blockes, mit der Zwangsvereini- SPD) gung der SED im April 1946, mit der Volkskongreß- bewegung der FDJ, die als Instrument geschaffen Eine historisch orientierte Enquete-Kommission, wurde — nichts anderes als eine Entwicklung zum wie der Name ja sagt, begibt sich auf die Suche, auf die Zentralismus über die einzelnen Länder hinweg, die Suche nach Identität, auf die Suche, diesen Zeitgeist- Entwicklung zum Einheitsstaat, der unter den Fitti- begriff wenn nicht definieren, so doch erläutern zu chen der sowjetischen Militäradministration doch so wollen, einen Begriff, der die Werte, Bedürfnisse, unglaubliche Schandtaten zu verantworten hatte, die kulturellen Bindungen, die subjektiven Lebensfor- Verhaftung, Vertreibung, auch Ermordung von miß- men beschreibt. Es ist die Suche nach der eigenen liebigen Deutschen. Identität, vielleicht auch die Suche nach Selbster- kenntnis und Selbstanerkennung, eine Suche, die den Die Geschichte der im Deutschen Bundestag vertre- eigenen Standort zu beschreiben sucht, ohne die tenen Parteien liefert auch dafür genügend Hinweise. beliebte Nabelschau zu betreiben, die Suche, die Ich will mich mit dem Hinweis auf das Scheitern der fragt: Woher kommen wir, wer sind wir, und wohin DPD, der Demokratischen Partei Deutschlands, gehen wir? Es ist eine Suche nach Identität, die auch begnügen, die unter Führung von Theodor Heuss und 6762 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dirk Hansen Wilhelm Külz im März 1947 die „unverzügliche Wie- Ost wie West müssen gemeinsam Scheuklappen derherstellung der deutschen Gesamtstaatlichkeit" ablegen, eigene Urteile als vorschnelle Vorurteile zu und die „baldige Ausschreibung von allgemeinen, revidieren auch bereit sein. Wir alle dürfen uns unbeeinflußten, demokratischen Wahlen bei unge- keineswegs etwa diesem Grundsatz anheimgeben, hinderter Zulassung und Entfaltung aller demokrati- der für manche Historiker verführerisch klingt: „Quod schen Parteien in allen Besatzungszonen und die non est in actis, non est in mundo". — Was sich nicht in Bildung einer deutschen Gesamtregierung nach dem den Akten findet, das existiert gewissermaßen auch Willen des deutschen Volkes" forderte. nicht. Ziel der Liberalen war es, Verbindung und Zusam- Nein, die historische Wirklichkeit geht über diesen mengehörigkeitsfühl der Menschen in beiden Teilen Rahmen weit hinaus. Die Akten, die wahrhaft „deut- Deutschlands zu stärken und zu fördern. Dann mußten schen Akten" — um mit Klaus Hartung zu reden —, im Laufe der Jahre Tabus gebrochen werden; mit der die in kilometerlangen Regalen der Bearbeitung har- DDR wurde auf den vielfältigsten Ebenen gesprochen. ren, geben nur einen Teil der Wirklichkeit wieder. Über die Entspannungspolitik nach Osten, die Abrü- Vielleicht sind sie tatsächlich gut für „Skandalsucher" stungspolitik in Europa hin zur europäischen Frie- und „Schmutzaufwirbler", aber weder die Justiz des densordnung — etwa bei der KSZE — vollzog sich Rechtsstaates noch die Mediengesellschaft werden schließlich auch die Wende in der DDR, die wir alle so einer ernsthaften Vergangenheitsbewältigung ge- hautnah miterlebt haben. Das Wort von recht werden können. Insofern wäre aus der vielleicht „Nation ist, wenn man sich trifft" zur Rechtfertigung nur späten Vergangenheitsbewältigung im Westen zu und Beschreibung zugleich der zwanzig Jahre lang lernen. Wie nach 1945 wird auch heute viel von aktiv umgesetzten ostpolitischen Vorstellungen um- Befehlsnotständen unter dem isolierten Handeln einer schreibt eine Phase, die auch in diesem Hause in Clique von Verbrechern in Wandlitz geredet. Nein, bester Erinnerung sein dürfte. die Fragen müssen nach den Systemen gestellt wer- den. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Wir dürfen aber auch nicht ein Verbrechen gegen Es ist heute vormittag zu Recht darauf hingewiesen das andere ausspielen; worden, daß es in diesem Hause Kontinuitäten gibt. (Beifall bei der F.D.P.) Ich will diese jetzt nicht im einzelnen verteilen, aber sonst kommen wir in die alten Schablonen von Anti- diese Kontinuitäten haben eben zu dem Ort geführt, Haltungen. Skeptisch dürfen wir bleiben, ob Lehren an dem wir heute stehen. aus der Geschichte gezogen werden können. Den- Wenn sich in den letzten Wochen mit der Offenle- noch ist es richtig zu fragen, legitime Vergleiche gung der Stasi-Akten desaströse Hinterlassenschaften vorzunehmen und für aktuelle politische Debatten auftun, dann müssen sie aufgearbeitet werden. — also auch hier — die wissenschaftlichen Kontrover- sen zu nutzen, die auch in der Kommissionsarbeit Theodor Heuss, der den Begriff „Vergangenheits- zutage treten werden, damit die politischen Debatten bewältigung" zwar nicht kreiert, aber doch wesent- in der Gesellschaft argumentativ und nicht emotional lich für seine Verbreitung gesorgt hat, ging es schon geführt werden. damals nicht um die Frage, ob der Begriff unscharf ist, sondern es ging um die Sache. So ist es auch heute Es lohnt sich, über die neue Situation in unserem wichtig, daß nicht etwa nur die Stasi-Akten den Land, gerade mit dem Blick nach vorne, auch rück- Ermittlungsbehörden zugänglich gemacht werden, wärts zu schauen. Denn, wie gesagt, erst wenn wir sondern alle Akten müssen offengelegt und analysiert wissen, woher wir kommen, können wir auch sagen, werden; denn erst daraus ergibt sich ein Aufarbeiten wohin wir gehen. Es gibt wieder einmal viele Fragen im Sinne von Erkennen, Verstehen, vielleicht auch an die deutsche Geschichte. von künftig Fehler vermeiden. Wir müssen „begrei- Vielen Dank. fen, was gewesen ist", wie der Aufruf von Gauck, (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Schorlemmer, Thierse, Ullmann und anderen in ihrem SPD und der PDS/Linke Liste) Plädoyer für ein Tribunal formuliert worden ist.

(Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Der Bundestag kann — so glaube ich — nur seinen Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Johannes Teil dazu leisten. Aber er wird auch nicht den Nitsch das Wort. Anspruch erheben, in Ersatz für andere zu treten — seien es die Betroffenen oder sei es die Wissen- Johannes Nitsch (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr schaft. Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hansen, Ich denke, es ist richtig, wie mir vor einigen Wochen ich möchte an Ihren Satz anschließen. Sie sagen, daß ein sehr bekannter Historiker aus der ehemaligen wir nach den Systemen fragen müssen. Ich glaube, DDR geschrieben hat, daß es ihm selber nunmehr zusammen mit der Frage nach der Theorie, auf der darauf ankomme, zunächst einmal auf „autobiogra- diese Systeme aufgebaut waren, ist dies eine wichtige phische Spurensuche" zu gehen, nämlich gründlich Schlüsselfrage, die die Kommission ganz am Anfang und auch selbstkritisch die Vergangenheit zu prüfen, behandeln muß. um— wie er schreibt — „eine wirkliche Überwindung Ich möchte dazu zu dieser späten Nachmittags- des bösen Erbes" zu erreichen, durch „eine sachliche, stunde vielleicht nur einige wenige Sätze sagen. An differenzierende, die Umstände in Rechnung set- den Anfang stelle ich, daß die Arbeitsergebnisse zende Analyse". dieser Enquete-Kommission, die wir heute einsetzen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6763

Johannes Nitsch werden, in allererster Linie dem großen Leid der ich für wichtig halte. Das ist zum einen die Problema- vielen Menschen in der ehemaligen DDR und natür- tik der Anpassung vieler Menschen an den realen lich auch dem Leid mancher hier in den alten Bundes- Sozialismus, zum anderen die Frage der Wechselwir- ländern gerecht werden müssen. Aber ich möchte kung zwischen dem Gebilde DDR und der Bundesre- auch daran erinnern, daß das Leid, das aus diesem publik Deutschland und schließlich der Punkt, daß die System hervorgegangen ist, nicht im Jahre 1945 Erinnerung an das Angepaßtsein — fast jeder war begonnen hat, sondern daß seine Wurzeln weit irgendwie angepaßt — dem einen leichter- und dem zurückliegen. Die Ergebnisse müssen auf allen Ebe- anderen schwererfällt. nen der geschichtlichen Wahrheit entsprechen. Eines aber muß deutlich gesagt werden, besonders Die Behandlung der tragischen Einzelschicksale nach den öffentlichen Diskussionen in den letzten der Menschen ist eine notwendige, aber nicht die Wochen: Man mußte nicht in die SED oder in die hinreichende Bedingung zur Erklärung dieses DDR- Kampftruppen, und man mußte nicht IM des MfS Staatssystems, seiner sogenannten „Organe" und der sein. Brutalität ihrer Vorgehensweise in allen Lebensberei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen. Die Kommission muß sich, wie ich schon sagte, ganz am Anfang ihrer Arbeit in angemessenem Rah- Ein rechtzeitiges und deutliches Nein genügte. Wie schwer das wegen Einschüchterung und Angstmache men mit der Theorie des Marxismus-Leninismus beschäftigen. war, hat Kollegin Barbe ja eindrücklich und anschau- lich geschildert. Aber es ging. Das führte in der Regel Zu den wichtigsten theoretischen Grundlagen die- zwar zu Behinderungen in einer mittleren oder viel- ser Staatsform gehören meiner Ansicht nach die Lehre leicht auch größeren Karriere, doch damit konnte man von der Diktatur des Proletariats, die Theorie von der leben. Und es waren viele, die das so getan haben. Ich Partei neuen Typus und die Theorie vom demokrati- sage ganz am Ende: Es waren die meisten. schen Zentralismus. Hier liegen die wesentlichsten Danke. Grundlagen des verbrecherischen und leider auch über lange Zeiträume wirkungsvollen Machtappara- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tes. Der Staatsaufbau auf diesen Theo rien führte zur Annexion von Legislative, Exekutive und Judikative und deren totaler Unterordnung unter den absoluten Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Führungsanspruch der Partei. Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen Gert Weisskirchen (Wiesloch). Hier ist nicht der Ort, auf Einzelheiten einzugehen. Doch eines, meine Damen und Herren, ist zu sagen: Die Marxisten glaubten an diese Lehren und handel- Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Herr Präsi- ten danach. dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) einen oder den anderen, der heute die Debatte ver- folgt hat, beschleicht sicherlich die Sorge, daß die Nur die Partei hatte recht und machte sich ihr Recht Enquete-Kommission eine Veranstaltung werden selbst. Ich erinnere mich noch sehr gut an Worte in könnte, in der sich die Selbstgerechten wiederfin- einer Vorlesung, die da lauteten: Was Recht ist, den. bestimmt die Arbeiterklasse. — Aber es war nicht die Arbeiterklasse. Es war in der Regel das Politbüro, (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [CDU/ häufig allein der Generalsekretär, die nach den von CSU]: Das ist richtig!) Lenin entwickelten, von Stalin in brutalster Weise Wenn einige der Reden, die hier gehalten worden umgesetzten Theorien handelten. Nach Lenin ist ja sind, zur Leitlinie der Arbeit der Enquete-Kommission die „proletarische Demokratie millionenfach demo- würden, muß man diese Sorge haben. Ich bitte uns alle kratischer als jede bürgerliche Demokratie. Die Dik- herzlich um folgendes. Wenn wir jetzt am Anfang auf tatur des Proletariats und sozialistische Demokratie der Suche nach der Wahrheit sind — das ist ja die sind identisch." Ich meine, das ist der Ansatzpunkt, Aufgabe, die der Enquete-Kommission gesetzt ist —, von dem aus wir herangehen müssen, um zu verste- wird es nicht gehen, zu Ergebnissen zu kommen, die hen, was geschehen ist. Jeder, der gegen diese identitätsstiftend sind — Sie haben das Stichwort zu Staatsform und das, was in deren Namen geschah, Recht benutzt — für ein gemeinsames Zusammenle- war, wurde unterdrückt und auch getötet. Die theore- ben der bisher geteilten Deutschländer, wenn der tische Rechtfertigung für dieses Vorgehen war lük- Tenor in dieser Enquete-Kommission ein Tenor der kenlos vorhanden. Denn der Marxismus-Leninismus Selbstgerechtigkeit wird. war allmächtig, weil er wahr war. Das wurde unabläs- sig in die Köpfe hineingehämmert. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Diese Darstellung der Wurzeln des Marxismus- Jede Selbstgerechtigkeit wird den Versuch, uns Leninismus wird auch bei den Menschen hier in den gemeinsam auf den Weg nach einer Identitätssuche zu alten Bundesländern das Verständnis für das perfide begeben, scheitern lassen. Dieser Weg wird verstellt, System verstärken. Ich glaube, gerade das wollen wir wenn jeder meint, er müsse am Ende in der Enquete- im Sinne der Erreichung unserer inneren Einheit Kommission das Ergebnis haben: Ich bin derjenige, tun. der politisch über irgend-jemand anderen gesiegt hat. Schließlich möchte ich noch auf einige Gegen- Es wird keine Sieger geben. Wir alle sind diejenigen, stände der Arbeit der Enquete-Kommission hinwei- die diese Geschichte gemeinsam erlitten haben. In der sen, die teilweise schon genannt worden sind und die Geschichte wird es nicht Sieger geben, sondern es gibt 6764 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Gert Weisskirchen (Wiesloch) ein gemeinsames Leid, das gemeinsam aufgearbeitet beide Entwicklungen zusammen: die Vernunft der werden muß. Menschen von unten, eine neue Gesellschaft durch (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der ihre eigene Kraft selbst entwickeln zu wollen, und die F.D.P.) Vernunft der Menschen von oben, die über einen gouvernementalen Weg der Entspannungspolitik ver- Deswegen bitte ich herzlich darum, weil es leider sucht haben, das Ganze gemeinsam nach vorne zu manchen Klang in mancher Rede von sehr hohen bringen. Persönlichkeiten — ich nenne sie jetzt nicht mit Ich könnte auch darüber reden, wie es überhaupt Namen, weil es ansonsten eine Verlängerung dieser erst zu der Entspannungspolitik hat kommen müssen. Selbstgerechtigkeitsdebatte wäre, wenn ich das Könnte man nicht auch darüber reden, daß es die täte — gegeben hat, daß die Enquete-Kommission notwendige Konsequenz einer gescheiterten Politik dies nicht zur Kenntnis nimmt. Die parteipolitische von Konrad Adenauer sein mußte, daß überhaupt ein Ausmünzung oder die kriegswissenschaftliche Hand- neuer Weg gegangen wurde? Ich finde, diese Debatte habe des Leids von Hunderttausenden, von Millionen kann notwendig sein. Aber helfen wir uns doch bitte von Menschen müßte sich für uns wirklich verbie- auf diesem Weg gemeinsam, damit diese Debatte ten. nicht die Vergangenheit in die Zukunft hinein verlän- (Beifall bei der SPD, der F.D.P. sowie des gert. Wir brauchen den Streit, und zwar argumentativ, Abg. Rainer Eppelmann [CDU/CSU]) aber nicht in der Form und mit der Emphase der Selbstgerechtigkeit. Es geht darum, daß der alltägliche Schrecken, das Schreckliche des Alltages aufgearbeitet wird. Die (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Selbstgerechtigkeit kann nicht das Ins trument der Abgeordneten der CDU/CSU) Erkenntnis sein und darf es auch nicht werden. Es geht darum, daß wir die Verantwortung, die wir alle Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und gemeinsam tragen, wahrnehmen. Ich sage ganz frei- Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Rudolf Karl mütig, daß zu dieser Selbstachtung, die wir in dieser Krause (Bonese) das Wort. Debatte finden können, auch Selbstkritik gehört. Das sage ich ganz freimütig. Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (CDU/CSU): Sehr Wenn ich jemanden persönlich ansprechen darf, verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! dann werde ich das jetzt tun. Ich hoffe, Sie verzeihen Wie erlebte die Landbevölkerung in der DDR die mir das, Herr Präsident. Lieber Rainer, als wir im kommunistischen Repressalien, und was erwarten die September und Oktober des Jahres 1989 in vielen Hunderttausende Bauern und deren Millionen Fami- Diskussionen gewesen sind — leider waren sie nicht lienangehörigen von der Arbeit der Enquete-Kommis- so häufig, wie ich mir das gewünscht hätte, weil ich sion? 45 Jahre kommunistischen Unrechts haben sich nicht die Chance hatte, zu dir und zu anderen kommen auch im Bewußtsein der Landbevölkerung tief einge- zu dürfen, da mir jemand anders an der Grenze prägt. Die DDR war ein riesiges Gefangenenarbeits- verboten hatte, dies zu tun —, hatten wir doch die lager, ein sozialistisches Paradies in Mauern und gemeinsame Sorge, daß das, was in China auf dem Stacheldraht. Platz des Himmlichen Friedens, wie dieser Platz so Sie hielt sich so lange durch den Fleiß ihrer Bürger, schön heißt, geschehen war, auch in der vergehenden aber auch dadurch, daß das Eigentum der Fleißigen DDR passieren könnte. Hatten wir nicht diese Angst, systematisch gestohlen und heruntergewirtschaftet daß der Platz DDR zu einem Platz der irdischen Gewalt wurde. Die Jahre 1945 bis 1949 waren geprägt vom und des irdischen Terrors werden könnte? Das war Flüchtlingselend, von überfüllten Wohnungen, von unsere Angst. neuen Enteignungen und neuer Aussiedlung, von Wie jeder weiß, habe ich in manchen Momenten der Massenverhaftungen und — auch in Sibirien und in historischen Phasen der Entspannungspolitik durch- Ostdeutschland — von kommunistischem Massen- aus kritisch gesehen, daß es in der Entspannungspoli- mord. Auch das ist eine Wurzel der DDR, nicht nur der tik eine Gefahr gegeben hat, der übrigens alle Regie- Antifaschismus. renden immer unterliegen können — alle, gleichgül- Gleichzeitig entstand durch die Bodenreform tig, zu welcher Partei sie gehören —, nämlich die zunächst neues vererbbares Eigentum auf dem Lande. Gefahr, daß in solchen Momenten der Entspannungs- In vielen erschütternden Briefen berichten mir Fami- politik der gouvernementale Blick wichtiger ist als der lien von Verhaftungen und vom Tod ihrer Väter, die Blick auf das Leid der Menschen. Es besteht bei allen nach kommunistischer Art immer mit Vermögensver- Regierungen die Möglichkeit, daß sie dieser Gefahr lust und Aussiedlung der Familien verbunden erliegen. waren. Das war der Punkt, wo ich — auch in meiner Die sozialistische Umgestaltung auf den Dörfern eigenen Partei — gesagt habe: Geht lieber auf die Anfang der 50er Jahre hatte ihre Grundlagen wie- Menschen zu, die unter solchen Systemen leiden, derum in Flucht und Vertreibung, Verhaftungen und senkt euren Blick auch auf diejenigen, die in diesem Enteignungen. Opfer waren der aufrechte kleine Leid persönlich befangen sind! Aber wenn es zutrifft, Mann auf dem Dorf wie auch der politisch eigentlich daß die Entspannungspolitik auf der gouvernementa- unbeteiligte Bauer, auf dessen Besitz es aber die len Ebene notwendig war, damit aus der DDR nicht Kommunisten abgesehen hatten. Es kam zu massen- der Platz des irdischen Terrors würde, dann hat diese haften Aussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. Form der gouvernementalen Entspannungspolitik Die meisten dieser Opfer wollen jetzt wieder in ihre ihren Sinn gehabt. Insofern passen beide Strömungen, Heimatdörfer zurück. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6765

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) Nach Stalins Tod trat eine gewisse zeitweise Beru- den Medien vergessene Mehrheit nicht eine Rand- higung ein. Das Heldentum der einfachen Menschen gruppe, sondern die Zielgruppe unserer Politik. bestand in dieser Zeit darin, auch unter ständiger (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kommunistischer Bedrohung mit deutschem Fleiß für ihre Familien und die Gesellschaft gearbeitet zu haben. In der DDR blieben aber die alten DDR- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Stalinisten an der Macht. Der sozialistische Sozialneid Herren, nunmehr hat das Wort unser Kollege Wolf- führte dann zur Zwangskollektivierung. Russische gang Lüder. Verhältnisse waren das erklärte Ziel der SED-Kom- munisten. Wieder gab es gezielte Kriminalisierung der Tüch- Wolfgang Lüder (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe tigen, Verdächtigung der Fleißigen, neue Verhaf- Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte zeigt, glaube tungswellen. Die Bauern wurden zur Aufgabe ihrer ich, die Notwendigkeit der Enquete-Kommission, Höfe gezwungen. Es kam zur Massenflucht vor dem obwohl auch draußen, am Rande der Sitzung hier, Mauerbau. viele Fragen gestellt werden, ob wir es schaffen können, was wir uns vorgenommen haben. Nach den Entsprechend verheerend waren auch die wirt- ersten drei Reden, nach Eppelmann, Brandt und schaftlichen Folgen nach 1961. Insgesamt wurden Schmieder, hatte ich Hoffnung, daß wir darangehen Hunderttausende mitteldeutsche Bauernfamilien können, dieses schwierige Werk hier ordentlich zu durch Vermögensverlust, durch die Verbrechen der bewerkstelligen. Manche andere Rede danach hat Kommunisten unmittelbar betroffen. Während sich in mich zweifeln lassen. den 60er Jahren und Anfang der 70er Jahre private Ich glaube, es ist notwendig, daß die Abgeordneten Hauswirtschaften und in den LPGs Typ I Freiräume mit den Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Inso- entwickelten, etablierte sich in den Groß-LPGs eine weit geht der Vorwurf, der hier von der PDS kam, fehl, neue kommunistische Führungsschicht. Diese roten daß sich nur Politiker in der Kommission zusammen- Apparatschiks sind persönlich verantwortlich für den setzten. Politik und Wissenschaft zusammen sollen Verfall der Gebäude in den LPGs Typ III und VEG, der hier einen Anfang machen, sollen hier einen Auftrag uns heute so viel Sorgen bereitet. Der Machtantritt erfüllen, sollen hier Arbeit leisten. Honeckers führte zur vollständigen Hinwendung zu Die Arbeit ist schwer. Wir müssen uns, glaube ich, Sowjetrußland und zur Zerschlagung der letzten For- noch Gedanken darüber machen, welche Ansprüche men von privatwirtschaftlichem Eigentum. wir — im Sinne einer Voraussetzung für unsere Der real existierende Sozialismus brachte es ständig Arbeit — an uns selbst stellen. Bisher haben wir davon fertig, Überfluß in Mangel zu verwandeln. Die Gleich- gesprochen, was wir in der Enquete-Kommission macherei war wieder einen Schritt weitergekommen. machen. Aber ich meine, wir müssen uns vorher Der sozialistische Sozialneid hatte wieder gesiegt. darüber im klaren sein, unter welcher Voraussetzung Anfang bis Mitte der 70er Jahre hatte der wirtschaft- wir an die Arbeit herangehen. liche sozialistische Kannibalismus seine letzten Opfer Wir fangen doch nicht in der Stunde Null an, gefressen. sondern wir fangen an in einem Bundestag, der aus Kollegen zusammengesetzt ist, die Opfer des In dieser Zeit begannen auch die Agrarfabriken auf Unrechtsstaates in der DDR waren, die Flüchtlinge dem Lande die Umwelt zu zerstören. Die übernom- oder Vertriebene waren, die hier im Westen in den mene wirtschaftliche Substanz wurde aufgezehrt, und Wohlstand hineingewachsen sind, die im Osten für die Mehrheit der Landbevölkerung blieb es bei geblieben sind, die ihren Weg in den Blockparteien sehr schwerer körperlicher Arbeit mit Forke, Kiepe gesucht haben, wobei manche ihn auch gefunden und Karre. Für diese Menschen war die Infamie der haben, die in Blockparteien angepaßt waren, die in sozialistischen Phrasen am meisten spürbar. Blockparteien Widerstand leisteten, die in der SED Die 80er Jahre waren auf dem Lande geprägt vom das Unrechtregime getragen und bis heute nicht Verfall der Grundstücke, die sich in der Nutzung der verstanden haben, warum es gescheitert ist, usw. LPGs und Staatsgüter befanden. Es kam zur berüch- Diese alle zusammen versuchen hier, gemeinsam die tigten kalten Enteignung aus den Wolken. Der schlei- Geschichte aufzuarbeiten. chende sozialistische Vandalismus fraß sich leise und Wenn wir den heutigen Tag Revue passieren lassen, wie ein Krebsgeschwür durch unsere Gebäude. Ver- dann sehen wir, daß wir an mehr als nur an die fall und Abriß prägten das Bild der 80er Jahre. Geschichte der DDR denken müssen. Heute tagt in Berlin der Untersuchungsausschuß Schalck-Golod- Die letzten fünf Jahre sind publizistisch recht gut kowski. Gestern hat er einen Zeugen gehört, der des aufgearbeitet. Sorgen wir aber dafür, daß auch die Mordes im Dritten Reich angeklagt ist. ersten 40 Jahre der verbrecherischen SED-Herrschaft nicht vergessen werden. Es darf bei der Aufarbeitung Gestern hat das Finanzministerium über die Wie- nicht nur — das wurde schon mehrfach angemahnt — dergutmachung für jüdische NS-Opfer verhandelt. Es um die Selbstdarstellung intellektueller Randgruppen leben noch 50 000 Menschen, die keine akzeptable und Oberschichten gehen. Die SED hat weite Teile der Entschädigung für Unrecht erhalten haben, das sie im Bevölkerung beraubt und betrogen. Wenden wir uns NS-Staat erleiden mußten. deshalb den Opfern der SED zu, der Mehrheit der Die Roma und Sinti wissen noch nicht, ob wir in der Menschen in der DDR. Und das ist auch die Mehrheit Lage und fähig sind, ein Denkmal für die Verfolgung unserer Menschen auf dem Lande. Für uns ist diese in ihrer Völker zu schaffen. 6766 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Wolfgang Lüder Wir haben Daten in der Geschichte, z. B. den dieser Arbeit machen können, ist, selber bescheiden 9. November, mit denen wir nicht fertig werden. Wir zu sein. wissen nicht, ob der 9. November 1918, 1938 oder (Beifall bei der F.D.P., der SPD sowie bei 1989 das dominierende Datum ist; alle drei Daten Abgeordneten der CDU/CSU) hängen miteinander zusammen. Ich nenne den 17. Juni, den 21. August und den 20. Juli. Alles das sind Daten, derer wir uns bewußt sein müssen, wenn Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und wir festlegen wollen, was in der Enquete-Kommission Herren, ich erteile jetzt das Wort unserem Kollegen behandelt werden soll. Udo Haschke (Jena). Wir werden uns darüber klar sein müssen, daß wir in dieser Enquete-Kommission nur erste Arbeiten leisten Udo Haschke (Jena) (CDU/CSU): Herr Präsident! können. Jeder, der meint, daß diese Enquete-Kom- Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Kollege mission mehr Arbeit leisten und doch so rechtzeitig Lüder! Ich bin Ihnen sehr dankbar für das, was Sie abschließen kann, daß wir noch vor den Wahlen gesagt haben, nicht zuletzt deshalb, weil diese darüber debattieren können, macht sich etwas vor. berühmte Rede in Jena, meiner Heimatstadt, gehalten Wir sollten uns klar darüber sein, daß wir diese wurde. Arbeit nur dann leisten können, wenn wir Aufträge Wir reden heute über einen wichtigen Teil in weitergeben, Fragestellungen aufnehmen, Fragestel- unserer Geschichte. In der Begründung meiner Frak- lungen an die Wissenschaft, an die allgemeine Politik tion steht: Der Untergang der DDR ist nicht das Ende und auch an andere Gremien weitergeben. ihrer Geschichte. Nur allzu spürbar ist die Vergangen- heit gegenwärtig, wirkt das Gestern in das Heute und Wir müssen uns der komplexen Situation bewußt das Morgen hinein. — Mindestens möchte ich sagen: bleiben: 40 Jahre Geschichte in zwei Teilen Deutsch- durch uns. Denn wir können 40 Jahre unserer persön- lands, 40 Jahre Bemühen um Einheit im Westen, lichen Biographie nicht ablegen wie ein gebrauchtes 40 Jahre Wunsch nach Einheit im Osten, 40 Jahre Hemd, auch wenn heute einige so tun, als wären sie Auseinanderentwicklung nicht nur der Staaten, son- überhaupt erst im Herbst 1989 zur Welt gekommen. Es dern auch der Lebensformen. Alles dies muß zusam- gilt also auch, unseren persönlichen Platz in diesen mengefügt und aufgearbeitet werden. Als Berliner 40 Jahren Geschichte zu bestimmen, kritisch zu denke ich noch daran, daß wir in dieser Stadt, in der betrachten, auch zu bedenken, wie wir auf diesen Bundeshauptstadt Berlin, der früheren Reichshaupt- Platz gekommen sind. stadt, die Mauer, vorher den 17. Juni und davor die Blockade erlebt haben. All dies hat uns mitgeprägt. Einer der Wegweiser dahin war im System der SED Herrschaftsmechanismen und -instrumente ohne Und all dies hatte Ursachen. Wenn wir da herangehen, dann habe ich zwei Bitten. Zweifel das einheitliche sozialistische Bildungssy- stem. Ein System — so steht es in einem Arbeitspapier Lassen Sie uns nicht in die Art verfallen, mit dem des Bürgerforums Jena vom Oktober 1989 —, in dem Zeigefinger auf das Unrecht des anderen zu zeigen. Neugier, gar Zweifel unerwünscht waren, das zu angepaßtem Wohlverhalten erzog, in dem Doppel- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der züngigkeit vom Kindergarten bis zur Universität trai- CDU/CSU und der SPD) niert wurde. Ich empfehle allen Kolleginnen und Kollegen, die Ich selbst war bis 1987 13 Jahre lang als Lehrer tätig. darangehen, diese Arbeit zu machen, nachzulesen, Heute höre ich manchen Kollegen sagen, er habe doch was Theodor Heuss gesagt hat, als das Mahnmal in niemandem geschadet. Ich wünschte, ich könnte dies Bergen-Belsen eingeweiht wurde. Er sprach dort den akzeptieren, könnte dies so von mir sagen. Aber wie Satz: „Das Unrecht und die Brutalität der anderen zu sollte das möglich sein? Das Volksbildungssystem war nennen, um sich darauf zu berufen, ist das Verhalten eines der wesentlichsten Instrumente der SED, die der moralisch Anspruchslosen." Wir sollten morali- Bevölkerung gleichzuschalten und zu entmündigen. schen Anspruch erheben, wenn wir an diese Aufgabe Jeder, schrieb ein Weimarer Lehrer, der ehrliche herangehen. Noch einmal möchte ich Theodor Heuss Trauerarbeit leistet, wird in dieser seiner Biographie erwähnen. Theodor Heuss war einer derer, die als fündig werden. Er wird auch — das sage ich ganz erste nach dem Krieg die Fragen auch an sich selbst bewußt — vieles finden, was ihm Grund gibt, den gestellt haben, ob sie z. B. beim Ermächtigungsgesetz mühsam erworbenen aufrechten Gang beizubehal- nicht hätten anders handeln sollen. Auch dieses ten. Aber er wird auch auf vieles stoßen, was heute Bekenntnis, sich selbst zu fragen, was haben wir, was mancher lieber unter den Teppich kehren möchte. hat unsere Seite, was habe ich selbst getan, was hätte (Vorsitz: Vizepräsidentin Renate Schmidt) ich anders machen können, müssen wir voranstellen. Vielleicht sollten wir auch noch einmal die Rede Wahrheit ist konkret. Deshalb einige konkrete Bei- Schillers nachlesen — einige Kollegen wissen, daß ich spiele aus meinem Wahlkreis Jena. diese Rede liebe — in der er fragte: Warum und zu Meldung eines Direktors an den Stadtschulrat über welchem Ende studieren wir Universalgeschichte? Da ein besonderes Vorkommnis vom 18. April 1988: stand viel drin, warum man sich mit der Geschichte „Zwei Schüler" — es folgen die Namen mit Adresse befassen soll und daß dies kein Selbstzweck ist. Das und Geburtsdatum — „der Klasse 10 diskutieren um sollte auch ein Motto sein für die Arbeit, an die wir die Teilnahme an der Maidemonstration. Grund: Teil- schwer herangehen müssen. Wir sollten ganz nahme am Sonntagsgottesdienst." — Diese einfache anspruchsvoll sein. Das Anspruchsvollste, was wir bei Geschichte war es wert, vom Direktor an den Stadt- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6767

Udo Haschke (Jena) schulrat und vom Stadtschulrat an die SED-Kreislei- ziehen, die an Worten, an Begriffen begangen wur- tung geschickt zu werden. den. Sprache steht ja mit Gefühl, mit Empfinden in Internes Schreiben Ablehnung einer Bewerbung engem Zusammenhang. Ihr Mißbrauch schädigt das für die Aufnahme in die Abiturstufe — Schuljahr Denken und Empfinden von Menschen, also letztlich 85/86 —: die Menschen selbst. Seine Gesamthaltung einschließlich seiner Hal- Ich denke an einen bestimmten Begriff, an einen, tung zur Wehrbereitschaft entspricht nicht der der menschliche Werte einschließt und der zu den Aufnahmeordnung (breite Kontakte zur BRD, die positivsten Begriffen gehört, die ich mir vorstellen z. T. chistliche Kontaktursachen haben). kann. Es handelt sich um den Begriff Solidarität. Er Für das nächste Zitat möchte ich um besondere steht für mich inhaltlich ganz eng neben der Näch- Aufmerksamkeit bitten. Ich zitiere aus zwei Blättern stenliebe, der Verantwortung für den anderen, der betreffend die Beurteilung eines Schülers: Bereitschaft zu tätiger, auch zu moralischer Hilfe. Um so schlimmer stellt sich für mich die Erkenntnis dar, Der Schüler tritt hochnäsig, rücksichtslos, sogar daß auch die Solidarität in der SED-Diktatur instru- brutal gegenüber körperlich und leistungsmäßig mentalisiert wurde, daß man sie schlechten politi- schwächeren Schülern auf ... will beweisen, was schen Zielen unterordnete und sie dafür mißbrauchte, er sich erlauben kann und daß ihm die Lehrer ein in sich verwerfliches, unerträgliches System inter- sowieso nichts anhaben können. national aufzuwerten und über das wahre Wesen des Auf einem zweiten Blatt zum selben Schüler heißt Regimes hinwegzutäuschen. Ideologieexport statt es: Hilfe zur Selbsthilfe, Devisenbeschaffung für das Bei Gesprächen über seine berufliche Entwick- eigene Land statt Unterstützung der Ärmsten, so lung zeigte er sich interessiert, als militärischer lautet das Urteil über einen großen Teil von Entwick- Nachwuchskader (Offizier/MfS) geführt zu wer- lungsprojekten der früheren DDR, die unter dem den. Um ihm einen vollständigen neuen Start Etikett Solidarität liefen. Zu den besonders schlimmen ohne Vorbelastung zu geben, plädieren die Ver- Auswüchsen gehörten direkte Stasi-Projekte, z. B. in treter des MfS dafür, daß er vor Beginn des Äthiopien, oder eine als Entwicklungshelfer getarnte Schuljahres 1986/87 in eine andere Schule umge- Truppe von Sicherheitsexperten in Angola. Hier setzt wird. wurde der Begriff Solidarität nicht nur mißbraucht Wer solches wußte oder zumindest ahnte, was sagte oder instrumentalisiert, hier wurde er pervertiert. der seinen schulpflichtigen Kindern? Zitat von Christa Kaum jemand außer vielleicht dem Zentralkomitee Wolf: Der Kern der Gesundheit ist Anpassung? Erst der SED hatte einen wirklichen Überblick über die mal zur erweiterten Oberschule kommen, erst mal zahlreichen DDR-Projekte in mehr als fünfzehn Län- Abitur machen, erst mal einen Studienplatz bekom- dern. Unmittelbar nach der Wende liefen viele davon men, erst mal das Examen machen, erst mal ... Bei aus. Die Regierung de Maizière legte die faulsten wie vielen ging dieses „erst mal" bis zum Lebens- dieser Entwicklungssümpfe trocken. ende? Gewiß, nicht alles, was von der DDR aus Solidari- Bei der Arbeit der Enquete-Kommission ist auch tätsgeldern finanziert wurde, ist mit so harten Urteilen dies zu bedenken und zu leisten. Ermutigung, die zu bedenken. Aber es geht um die Erkenntnis, daß eigene Geschichte anzunehmen, damit die Chance sich ein menschenfeindliches, in seinen Prinzipien des ehrlichen Neubeginns ergriffen werden kann. Wir schlechtes Regime auch in seinen oft nur so genannten haben diese Chance. Entwicklungsprojekten nicht verleugnen konnte. Um (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der auch das zu sagen: Von den 106 Projekten, die am Tag SPD) der deutschen Vereinigung noch bestanden, mußten aus den genannten Gründen 34 gestoppt werden. Die Vizepräsidentin Renate Schmidt: So wie der Kollege Hilfe der DDR orientierte sich in erster Linie an den Stübgen bittet auch die Kollegin Frau Professor Ros- Kriterien des internationalen Klassenkampfes und witha Wisniewski, ihre Rede zu Protokoll geben zu nicht an den wirklichen Bedürfnissen der Entwick- dürfen. Besteht Einverständnis damit? — Dies ist der lungsländer. Fall. Dann wird so verfahren.*) Trotzdem fand die Entwicklungspolitik der Bundes- Nun hat unser Kollege Dr. Harald Schreiber das republik im Interesse der be troffenen Entwicklungs- Wort. länder, hauptsächlich in der Dritten Welt, die Mög- lichkeit, 64 Projekte weiterzuführen, um die Kontinui- tät zu sichern oder zumindest um keine Projektruinen Dr. Harald Schreiber (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kommission, über zu hinterlassen. Vier Projekte be trafen das Außenmi- deren Einsetzung wir heute beraten, wird sich mit nisterium. Vier wurden an Nicht-Regierungs-Organi- vielen schlimmen und verabscheuenswerten Dingen sationen übergeben. zu beschäftigen haben, die Menschen im SED-Staat Die Pervertierung der Solidarität hat noch eine angetan wurden, mit Ungerechtigkeiten, die Men- andere Seite, die ebenfalls nicht unterschlagen wer- schen oder ganzen Gruppen von Menschen zugefügt den darf. Solidaritätsspenden wurden in der DDR nur wurden. Wenn man aber prüft, welches Ausmaß die zu einem Teil wirklich freiwillig gegeben. Zu einem materiellen, körperlichen und geistigen Schäden großen Teil waren sie erpreßte Abgaben, wurden sie -erreichten, sollte m an auch Ungerechtigkeiten einbe von der Bevölkerung als Nötigung empfunden. Soli- darität war als Pflicht befohlen. Völkerfreundschaft *) Anlage 3 war kommandiert. Von der übergroßen Mehrheit der 6768 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Harald Schreiber Bürger durfte die Freundschaft mit anderen Völkern Jutta Braband (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin! nicht wirklich erlebt werden. Nicht einmal zu den in Meine Damen und Herren! Da die Behandlung des der DDR stationierten sowjetischen Armee-Einheiten, heutigen Themas in ursächlichem Zusammenhang zu Soldaten, Offizieren, Zivilangestellten oder ihren mit den Gründen für meinen Rücktritt steht, habe ich Angehörigen durfte es gesellschaftliche Kontakte dazu noch etwas aus persönlicher Sicht zu sagen. geben. Solidarität und Völkerfreundschaft blieben in Wenn ich mit anderen zusammen auf eine öffent- der Sprache der Herrschenden Lüge und Phrase. Aber liche Auseinandersetzung mit unserer Vergangen- sie durften nicht als das bezeichnet werden, was sie in heit gedrungen habe, so zielte dies auf einen emanzi- Wirklichkeit waren. Auch wenn jeder von Reibungen, patorischen Prozeß, der mehr umfaßt als die Feststel- von Streit und Gewalt wußte, die dort geschahen, wo lung von Verletzungen rechtsstaatlicher Normen und ausländische Arbeiter aus Nordafrika, Kuba oder von Menschenrechten in der DDR. Meine eigene anderen Ländern lebten und über Devisen verfügten, Geschichte, insbesondere meine inoffizielle Mitarbeit um die DDR-Bürger sie beneideten, durfte die Wahr- beim MfS vor 20 Jahren, meine Entscheidung, diese heit nicht ausgesprochen werden. Mitarbeit 1975 zu beenden, die Zeit in der Opposition Nun, da der Zwang beseitigt ist, da keine Lügen und die Erfahrung der Haft in der DDR haben mich mehr erpreßt werden, bricht sich auch auf dem Gebiet gelehrt, daß diese Emanzipation eine aktive politische der neuen Bundesländer der Ausländerhab gelegent- Auseinandersetzung aller betroffenen Menschen lich Bahn und äußert sich in einer Reihe von Fällen in selbst erfordert, die sich nicht delegieren läßt. Gewalt, die auch durch die böse Geschichte der DDR Gerade wir in der DDR haben erfahren, in welchem nicht zu beschönigen oder zu entschuldigen ist. Jede Ausmaß die Okkupation eigener politischer Willens- Gewalttat ist zuviel. Jeder Haß zeugt wieder Haß. bildung durch uns fremde Gremien zur Instrumenta- Auch wenn es sich nur um kleine Gruppen oder um lisierung von Menschen, ihrer Lebensumstände und einzelne handelt, die provozieren und vor Gewaltta- ihrer Geschichte geführt hat. Eine Enquete-Kommis- ten nicht zurückscheuen, wird das Zusammenleben sion kann die erforderliche gesellschaftliche Ausein- mit ausländischen Mitbürgern, mit Asylanten, mit andersetzung nicht ersetzen. Asylbewerbern oder Aussiedlern gestört. Darüber hinaus erleben wir heute erneut, wie Der Rechtsstaat muß Gewalt bekämpfen. Er tut es parteiegoistischer Opportunismus und die Arroganz auch. Wir alle müssen mit unseren Mitteln dafür der Macht von Politikern und Medien diese Aufarbei- eintreten, die Atmosphäre zu entgiften. Wir müssen tung behindern. Die verstaatlichte Abrechnung der verhindern, daß Gewalt eskaliert. Aber wir müssen heutigen BRD mit dem besiegten politischen System wissen: Die Saat zu alldem wurde da gelegt, wo der DDR hat überdies weitaus mehr im Visier als bloß Unrecht und Lüge zum System gehörten: in der Täter und Träger politischer Verantwortung. Gleich- Diktatur der SED. zeitig hat sie viel mehr zu bemänteln, als der Enthül- Auch in dieser Hinsicht muß die Vergangenheit in lungseifer von Parteipolitikern vermuten läßt. Wahrheit aufgearbeitet werden. Deshalb brauchen Eine Auseinandersetzung der Menschen von unten wir die Enquete-Kommission, über die wir jetzt spre- mit ihrer eigenen Geschichte, die Erhellung der Struk- chen. Erst wenn Recht wieder Recht und Wahrheit turen bürokratischer Diktatur, aber auch die Benen- wieder Wahrheit sind, wird auch Solidarität wieder nung der politischen Schuld kalter Krieger der Nach- das sein, was sie sein sollte: Mitempfinden für die kriegs-BRD und alle Formen von Komplizenschaft der Situation des anderen, Bereitschaft zu tätiger Hilfe in Herrschenden in Ost und West in der ganzen wahrer Menschlichkeit. Geschichte beider deutscher Staaten stoßen heute Danke. und gerade in diesem Parlament auf nicht wenige Gegner. (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn dies aber trotzdem gelingt, so wird der Versuch scheitern, in der Aburteilung der DDR die Idee des Sozialismus, die für mich Demokratie und Humanismus zwingend einschließt und die weder Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit sind wir am Ende der Aussprache angekommen. durch die Politbürokratien des Ostens noch durch den billigen Triumph zeitgenössischer Antikommunisten Gestatten Sie mir bitte noch ein kurzes Wort. Vorhin erledigt ist, auszulöschen. Ich stelle fest: Seit der ist unter meiner Leitung im Zusammenhang mit einer Übernahme der DDR wurde gesellschaftliche Atmo- Äußerung über die Schule des Marxismus-Leninismus sphäre für genau diesen Versuch geschaffen. der Ausdruck „Schule für Massenmörder" gefallen. Meine Damen und Herren, wir haben 1990 am Ich rüge diesen Ausdruck nicht, weil er sich gegen zentralen Runden Tisch die Auflösung des MfS nicht eine Institution gerichtet hat und nicht gegen einen nur durchgesetzt, um die Opfer der Repression in der hier anwesenden Kollegen. Ich bin aber trotzdem der DDR zu rehabilitieren, sondern um einen emanzipa- Meinung, daß wir mit derartigen Ausdrücken gerade torischen Prozeß zu befördern, der auch Menschen, in einer solchen Debatte etwas vorsichtig verfahren die das Regime überwiegend mitgetragen haben, sollten. künftig resistent gegenüber Demagogie und damit (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und der eigenverantwortlich werden läßt. PDS/Linke Liste) Die Reduzierung der Kritik auf Rechtsstaatlichkeit Nun bitte ich zu einer persönlichen Erklärung zur und Menschenrechtsverletzungen, so nötig sie ist, Abstimmung Frau Kollegin Jutta Braband ans Mikro- umgeht die Bewertung der DDR an ihren eigenen phon. Ansprüchen, d. h. an Kriterien gesellschaftlicher Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6769

Jutta Braband Emanzipation. Dies bedeutet aber auch, die Hoffnung dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen all der Menschen zu leugnen und zu verurteilen, die werden. Sind Sie damit einverstanden? — Dies scheint die Existenz der DDR als Versuch zu eben dieser der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlos- Emanzipation begriffen haben. Gerade dadurch, sen. denke ich, kann es aber nicht gelingen, auch die Wie bereits heute morgen mitgeteilt, hat die Frak- Illusionen zu benennen, die den Einsatz menschen- tion der SPD fristgemäß einen Antrag auf Erweiterung verachtender Mittel scheinbar rechtfertigten. der Tagesordnung eingereicht. Die Tagesordnung Ich bedaure, daß es keine Partei in diesem Hause soll um die Beratung der Unterrichtung durch die gibt, die bislang über diese tiefen Gräben gesprungen Bundesregierung zu den Beitragssätzen in der gesetz- ist. Ich bedaure zutiefst, daß auch die PDS bis heute lichen Krankenversicherung auf der Drucksache 12/ nicht in der Lage war, diesen Anspruch — und den 1901 ergänzt werden. Wird zu diesem Aufsetzungsan- erwarte ich im Grunde von Ihnen allen nicht, sondern trag das Wort gewünscht? — Das ist der Fall. Das Wort vor allem von den Linken selbst — an die Aufarbei- hat der Kollege Klaus Kirschner. tung unserer Vergangenheit einzulösen, und selbst über das Relativieren nicht hinausgekommen ist. Ich weiß allerdings, daß daran zum Teil auch die Atmo- sphäre schuld ist, die ich vorhin beschrieben habe. Klaus Kirschner (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Namen der SPD-Bundestags- Ich bedauere ebenso, daß Teile der Bürgerbewe- fraktion beantrage ich, den Bericht des Bundesmini- gungen diesen ihren eigenen Anspruch aufgegeben sters für Gesundheit zur Entwicklung der Beitrags- haben, wenn sie sich heute mit der CDU auf die sätze in der gesetzlichen Krankenversicherung und Forderung nach allgemeiner Säuberung nicht nur der zur Umsetzung der Empfehlungen und Vorschläge Parlamente beschränken. der konzertierten Aktion zur Erhöhung der Leistungs- Mir kommt es wirklich darauf an, daß Bedingungen fähigkeit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit im geschaffen werden, unter denen Menschen nicht Gesundheitswesen auf die Tagesordnung zu setzen. ausgegrenzt werden, sondern die Möglichkeit erhal- Ich will dies folgendermaßen begründen: ten, sich ihrer ganz persönlichen Geschichte und Die Unterrichtung der Bundesregierung auf Druck- Schuld zu stellen. Die Offenlegung ist dafür unver- zichtbar. Die Akten müssen offenbleiben. Doch sache 12/1901 ist mit Datum vom 7. Januar 1992 gerade die Vorverurteilung und das öffentliche Straf- versehen. Heute haben wir den 12. März 1992. Das kartell behindern diese Offenlegung. Auch in diesem heißt, es sind zehn Wochen seit der Überweisung Parlament wurde auf unrühmliche Weise dazu beige- dieses Berichtes durch die Bundesregierung an das tragen, die Atmosphäre zu vergiften. Parlament vergangen. Angesichts der dramatischen Ausgabenentwicklung der gesetzlichen Krankenver- Mir bleibt nur, mich von Ihnen zu verabschieden, sicherung — die Zahlen für das Jahr 1991 liegen nun auch von denen, die mich nie hier wollten. Ich vollständig vor — ist es urn so unverständlicher, daß versichere Ihnen, ich werde weiterhin Politik machen; Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, denn auch außerhalb des Parlamentes ist das mög- bisher nicht bereit waren, diesen Bericht auf die lich. Tagesordnung des Deutschen Bundestages zu setzen Guten Tag. und hier im Plenum zu beraten. (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der SPD (Beifall bei der SPD — Dr. Peter S truck [SPD]: sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) Nackte Angst!) Diese Haltung kann nur so interpretiert werden, daß Sie vor den Landtagswahlen in Baden-Württemberg Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir kommen nun und Schleswig-Holstein — ich kann verstehen, daß zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der Sie sich davor fürchten, mit den Ergebnissen Ihres CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Einsetzung einer verfehlten Gesundheits-Reformgesetzes konfrontiert Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte zu werden — eine Debatte darüber verhindern wol- und der Folgen der SED-Diktatur" auf Drucksache len. 12/2230. Wer stimmt für diesen Antrag? — Gegen- stimmen? — Stimmenthaltungen? — Damit ist dieser Meine Damen und Herren, die neuesten Zahlen der Antrag bei zwei Stimmenthaltungen angenommen Krankenversicherung zeigen, daß die Einnahmen und die Enquete-Kommission „Aufarbeitung der 1991 gerade ein Plus von 4,3 % zu verzeichnen hatten, Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur" einge- während die Ausgabensteigerung um 12,6 % fast setzt. dreimal so hoch war. Ihr Bericht versucht, diese dramatische Entwicklung schönfärberisch zu über- Gemäß Ziff. 5 des gerade angenommenen Antrages tünchen. Aber ich denke, bei einem Defizit von sind die Anträge auf den Drucksachen 12/2152, 12/ 5,5 Milliarden DM im vergangenen Jahr gibt es nichts 2226 und 12/2229 dieser Kommission zur Beratung mehr zu schönen. Deshalb muß hier und heute dieser zugewiesen worden. Bericht debattiert werden. Der Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD) auf Drucksache 12/2220 wurde zurückgezogen. Wenn die Bundesministerin für Gesundheit, Frau Der Antrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN Hasselfeldt, auf Drucksache 12/2220 (neu) soll in seinem Teil A der soeben eingesetzten Enquete-Kommission und in sei- (Dr. Peter Struck [SPD]: Wo ist die über- nem Teil B dem Innenausschuß federführend sowie haupt?) 6770 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Klaus Kirschner in ihrer Pressemitteilung zu diesem Bericht — man Papier in diesem Ministe rium mit neuen möglichen höre und staune: diese Pressemitteilung wurde bereits Belastungen für die Patienten. am 11. Dezember 1991 veröffentlicht — verharmlo- Ich meine, die Versicherten und die Öffentlichkeit send feststellt, daß die Ausgabenentwicklung in der haben ein Recht darauf, von diesen Plänen nicht erst gesetzlichen Krankenversicherung einzelne Kassen nach den Landtagswahlen zu erfahren. Dies ist ein zwingen könnte, Beitragssatzanhebungen vorzuneh- unredliches Spiel. men, so ist zu sagen, daß dies eben nicht nur einzelne (Beifall bei der SPD) Kassen trifft. Meine Damen und Herren, deshalb beantragen wir, (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ daß dieser Bericht nun endlich auf die Tagesordnung CSU]: Sie nehmen die Debatte ja schon gesetzt wird und daß die Möglichkeit besteht, darüber vorweg! — Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: zu debattieren. Man muß die Gelegenheit nutzen!) (Beifall bei der SPD) — Ich begründe es. Ich verstehe ja, daß Sie es nicht gern hören. Sie haben natürlich recht, Herr Kollege Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat das Wort Müller; Sie machen es ja auch so. zur Geschäftsordnung der Kollege Hoffacker. Sie müssen mit Ihrem Gesetz konfrontiert werden. (Dr. Peter Struck [SPD]: Ach, Paul, das hat Deshalb sagen wir: Dieser Bericht muß auf die Tages- doch jetzt überhaupt keinen Sinn!) ordnung. Dr. Paul Hoffacker (CDU/CSU): Meine Damen und (Lieselott Blunck [SPD]: Das mögen die bloß Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, nicht!) es geht ja um einen Geschäftsordnungsantrag. Zur Ich möchte darauf hinweisen, daß die Beitragssatz- Sache sprechen wir dann, wenn sie auf der Tagesord- anhebung nicht nur bei einzelnen Kassen erforderlich nung steht. ist, sondern daß 301 Krankenkassen ihre Beitrags- Das Thema verdient nicht das, was die Kolleginnen sätze zum 1. Januar dieses Jahres anheben mußten. und Kollegen von der SPD jetzt wollen, nämlich einen Dadurch stieg der durchschnittliche Beitragssatz von Schnellschuß. 12,2 auf 12,46 v. H. Dabei sollte doch das sogenannte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gesundheits-Reformgesetz angeblich die Vorausset- Dieses Thema steht, wie der Kollege Klaus Kirschner zungen für folgendes schaffen. Ich möchte den weiß, in einem breiten Zusammenhang beispiels- Gesetzentwurf von 1988 in Erinnerung rufen. Dort weise mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission. heißt es, daß die seit Jahren ansteigenden Beitrags- Es steht in einem Zusammenhang mit den jüngsten sätze in der gesetzlichen Krankenversicherung Daten, die gerade aufgearbeitet werden, zu den gesenkt und dauerhaft stabilisiert werden sollen. Themen Beitragssätze, Verbesserung der Wirtschaft- Davon kann nicht im entferntesten die Rede sein. lichkeit und Erhöhung der Leistungsfähigkeit. Um (Beifall bei der SPD) diese Themen bemühen wir uns nicht nur im Aus- schuß, sondern auch in der Diskussion mit den Part- Ich denke, meine Damen und Herren, vor diesem nern, die sich ebenfalls mit diesem Thema beschäfti- Hintergrund und unter Berücksichtigung der Tatsa- gen. che, daß dieser Bericht drei Jahre nach dem Inkraft- Wir können nicht erkennen, daß dieses so wichtige treten Ihres sogenannten Gesundheits-Reformgeset- Thema in diesem Schnellverfahren besprochen wer- zes zum erstenmal dem Parlament und der Öffentlich- den muß. keit vorliegt — er ist ja nach § 141 SGB V vorgeschrie- ben —, ist unsere Forderung mehr als berechtigt, daß Die CDU/CSU-Fraktion muß diesem Geschäftsord- dieser Bericht endlich debattiert und nicht weiter auf nungsantrag heute, Klaus Kirschner, leider widerspre- die lange Bank geschoben wird. chen. Wir sind für Ablehnung. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Peter Struck Die Bundesministerin für Gesundheit weist in ihrer [SPD]: Ein sehr dünner Beitrag!) besagten Pressemitteilung vom Dezember auf die Gesundheitspolitische Kommission der Koalitionspar- teien hin, die Maßnahmen prüft, wie dem Anstieg der Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zur Geschäftsord- Beitragssätze entgegengewirkt werden kann. nung die Kollegin Ursula Fischer. Sie sollten hier und heute sagen, was Sie vorhaben. Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- Wird ein neuer Wählerbetrug vorbereitet, der nicht tin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Verhalten vor den Landtagswahlen am 5. April bekannt werden der Koalition ist mir ein bißchen unverständlich. Nach darf? meiner Ansicht wird hier wirklich Wahlkampf betrie- (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ ben. CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Die ist doch gar nicht bei uns!) Als Mitte 1991 ein internes Papier des Abteilungslei- ters im Bundesgesundheitsministerium an die Mit- Ich verstehe das in keiner Weise. Dies ist für mich kein glieder dieser Kommission verteilt wurde, das neue Schnellschuß. Die Unterlagen liegen lange genug Belastungen in Höhe von 17 Milliarden DM vorsah, vor. wurde es schnell dementiert. Jetzt kursiert ein neues (Dr. Paul Hoffacker [CDU/CSU]: Nein!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6771

Dr. Ursula Fischer Die Bedeutung ist ausreichend bekannt. Ich habe Einseitige ideologische plakative Äußerungen, wie dem, was mein Kollege von der SPD zur Begründung sie nicht nur in letzter Zeit immer wieder zu hören gesagt hat, nichts hinzuzufügen. sind, helfen niemandem. Mit Behauptungen, das Ich bitte die Kollegen von der CDU/CSU und Gesundheitsstrukturreformgesetz sei ein Abkassie- natürlich auch von der F.D.P., diesem Antrag auf rungsgesetz und die Selbstbeteiligung sei die unsozi- Aufsetzung auf die Tagesordnung zuzustimmen. alste aller Finanzierungsformen, sagt man nicht nur die Unwahrheit, sondern man erweckt bei den Versi- (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der cherten und den Patienten den Anschein von Patent- SPD) lösungen, die es in Wahrheit nicht gibt. Lassen Sie politische Vernunft walten, in Ruhe die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zur Geschäftsord- Dinge diskutieren und, wenn wir soweit sind, eine nung hat der Kollege Bruno Menzel das Wort. ausführliche Debatte führen. (Lieselott Blunck [SPD]: Aufsetzen muß m an das!) Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Für heute lehnen wir dies ab. sehr verehrten Damen und Herren! Gesundheitspoli- tik ist eine permanente Aufgabe, um die Finanzierbar- (Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten keit aller erforderlichen medizinischen Leistungen der CDU/CSU) sicherzustellen. Wir alle wissen um die Beitragssatzsenkungen, die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Wortmel- in der gesetzlichen Krankenversicherung durch die dungen zur Geschäftsordnung liegen mir nicht vor. Gesundheitsstrukturreform möglich waren. Daß wir Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den uns heute in einer Zeit erneuter Beitragsanhebungen Aufsetzungsantrag der SPD-Fraktion? — Gegenstim- befinden, ist nicht, wie immer wieder behauptet wird, men! — Enthaltungen? — Damit ist dieser Aufset- ein Beweis für das Scheitern der Reform. zungsantrag abgelehnt. (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Sind Sie Der Tagesordnungspunkt 6 ist abgesetzt. sicher?) Bevor wir zur Fragestunde kommen, bin ich der Im Gegenteil, ohne die Reform hätten wir die Grenzen Meinung, daß wir jenseits aller politischen Unter- der Finanzierbarkeit vermutlich schon überschrit- schiede, die es in diesem Hause gibt, der Kollegin ten. Braband, die unserem Haus nicht mehr angehören wird, für ihren weiteren Weg persönlich alles Gute (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr wünschen sollten. richtig!) (Beifall im ganzen Hause) Wir alle wissen, daß die aktuelle Ausgabenentwick- lung in der gesetzlichen Krankenversicherung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: erneute gesundheitspolitische Maßnahmen erforder- lich macht. Denn die Belastbarkeit mit Sozialabgaben Fragestunde für Versicherte wie auch für die Unternehmen ist an — Drucksache 12/2197 — einem Punkt angekommen, wo die Sozialabgaben die Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Bun- Effizienz unserer Wirtschaft belasten und zu einer desministers der Finanzen. Zur Beantwortung steht indirekten Förderung der Schwarzarbeit führen. der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Dabei sollte man ehrlicherweise zugeben, daß es Grünewald zur Verfügung. keine gesundheitspolitischen Patentrezepte gibt. Es Die Frage 33 des Kollegen Benno Zierer wird gibt nur ein Bündel wohlüberlegter und aufeinander schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgestimmter Einzelmaßnahmen. Ich erinnere z. B. abgedruckt. an die Ausführungen des Sachverständigenrates. Wir kommen zu der Frage 34 der Kollegin Dr. Elke Ich spreche mich gegen die Aufsetzung des Berichts Leonhard-Schmid: zum heutigen Zeitpunkt aus, Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über den (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Oho!) Abbau der Zahl ziviler deutscher Arbeitnehmer bei den ameri- kanischen Streitkräften in Bitburg und Spangdahlem vor? weil wir, Herr Kollege Kirschner, zunächst sorgfältig, Herr Staatssekretär. ohne Tabus und Vorbehalte, die in Frage kommenden gesundheitspolitischen Maßnahmen und Instrumente diskutieren sollten. Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen: Schönen Dank, Frau (Zuruf des Abg. Horst Peter [Kassel] [SPD]) Präsidentin. — Frau Kollegin Leonhard-Schmid, die

Hierfür wird uns auch der vorliegende Bericht in Bundesregierung wurde von der US - Luftwaffe — ich den nächsten Monaten eine große Hilfe sein. betone: Luftwaffe — unterrichtet, daß im Jahr 1992 in (Horst Peter [Kassel] [SPD]: Na!) Bitburg 79 und in Spangdahlem 68 Planstellen für örtliche Arbeitnehmer wegfallen. Da ein großer Teil Außerdem haben wir in diesem Haus bereits wieder- dieser Planstellen bereits nicht mehr besetzt ist, wird holt über die Probleme der Gesundheitsstrukturre- mit höchstens 20 Entlassungen gerechnet. Weitere form beraten. Kürzungen sind bisher nicht angekündigt worden. Bei

(Klaus Kirschner [SPD]: Eine permanente der US - Army gilt ein absoluter Einstellungsstopp, der Aufgabe!) sich jedoch in den genannten Standorten nicht stark 6772 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald auswirken wird, da dort nur 91 örtliche Arbeitnehmer ten abschließt, hat zur Sicherung der Arbeitsplätze, beschäftigt sind. zur Milderung der finanziellen Folgen von Entlassun- gen und zur Erleichterung des Übergangs in andere Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage. Beschäftigungsverhältnisse mehrere Tarifverträge abgeschlossen. (SPD): Herr Staatssekre- Dr. Elke Leonhard-Schmid Der Tarifvertrag zur sozialen Sicherung der Arbeit- tär, voraussetzend, daß Ihrer geschätzten Aufmerk- nehmer bei den Stationierungsstreitkräften, den die samkeit nicht entgangen ist, daß im Fall der Flughäfen Bundesregierung bereits am 31. August 1971 abge- Zweibrücken und Hahn die betroffenen Arbeitneh- schlossen hat, sieht u. a. finanzielle Leistungen an mer erst 14 Tage vorher informiert wurden, also mit entlassene Arbeitnehmer vor, die aus dem Bundes- Schockintervention gearbeitet wurde, frage ich Sie: haushalt finanziert werden. Welche konkreten Vorverhandlungen haben Sie geführt, um das zu vermeiden? Die Stationierungsstreitkräfte ihrerseits erbringen zusätzliche Leistungen, insbesondere in Form von Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich Abfindungen, auf Grund des Tarifvertrages über sage ja: Für 1992 sind die gerade dargestellten Fragen zusätzliche Leistungen bei Entlassungen infolge von mit den US-Streitkräften abgestimmt, so daß sich Truppenreduzierungen vom 6. Dezember 1991. daraus gar keine weiteren Konsequenzen für das Des weiteren besteht ein Tarifvertrag über Kündi- laufende Jahr ergeben können. gungs- und Einkommensschutz, der bereits im Januar 1983 anwendbare Regelungen zur Vermeidung von Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Freisetzungen vorsieht. frage? Dr. Elke Leonhard-Schmid (SPD): Eine Zusatzfrage Dr. Elke Leonhard-Schmid (SPD): Welche Konse- zu dem von Ihnen genannten Vertrag vom 6. Dezem- quenz ziehen Sie aus der Tatsache, daß die Stationie- ber 1991 und zu dem eben von Ihnen erwähnten rungsstreitkräfte in dieser Region — ich betone: in Vertrag, den Sie mit der zuständigen Gewerkschaft dieser Region — Hauptarbeitgeber sind und der abgeschlossen haben: Ich frage Sie, ob die vereinbar- Abbau von Zivilbeschäftigten gerade dort eine beson- ten Abfindungen der Höhe nach jenen Beträgen dere Härte darstellt? Es geht ja nicht nur um das Jahr vergleichbar sind, die in Arbeitsgerichtsverfahren 1992, sondern um die weitere Planung, wie Sie wis- entsprechend den Kündigungsschutzbestimmungen sen. zuerkannt werden. Parl. Staatssekretär: Zur Dr. Joachim Grünewald, Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Ich weiteren Planung der Streitkräfte können wir zur unterstelle, daß das so vereinbart worden ist; aber ich Stunde keine Aussage machen. Aber es ist nach darf noch einmal darauf hinweisen, daß hier die meinem Kenntnisstand richtig, daß rund 1 000 örtliche amerikanischen Streitkräfte die Zahlungspflichtigen Arbeitnehmer dort beschäftigt sind. Sie wissen, daß sind. wir uns schon im Rahmen des Vermittlungsverfahrens zum Steueränderungsgesetz 91, aber noch intensiver Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- im Rahmen des Steueränderungsgesetzes 92 mit frage, Frau Kollegin. - einem Konversionsprogramm auseinandergesetzt haben. Das Konversionsprogramm hatte zwei Stufen. Dr. Elke Leonhard-Schmid (SPD): Welches Ziel Die erste Stufe war die verbilligte Hergabe von verfolgen Sie mit der Tarifvertragsklausel, die besagt, Grundstücken. Diese Stufe ist, wie Sie wissen, schon daß die Abfindung im Falle eines arbeitsgerichtlichen im Juni/Juli vergangenen Jahres durch einen Katalog Verfahrens entfalle? von Verbilligungsmaßnahmen abgeschlossen. Das zweite war ein sogenanntes Cash-Programm. Hier (Zuruf: Das sind zwei Fragen, das ist keine sollten also bare Mittel in die Region fließen zum Zusatzfrage!) Abbau der Kriegsfolgelasten. Im Rahmen des Vermitt- lungsverfahrens 1992 haben wir davon abgesehen Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Das ist und den Ländern — man höre und staune — ihre ein anderes Thema, das Sie nun anschneiden. Beteiligung an der Umsatzsteuer von 35 auf 37 % erhöht und sie damit in die eigenfinanzwirtschaftliche Dr. Elke Leonhard-Schmid (SPD): Ich glaube, Sie Lage versetzt, mit diesen Folgen in angemessener haben ein anderes Thema. Ich habe schon das Thema Weise fertig zu werden. und auch den Tarifvertrag. Vielleicht sehen Sie sich den mal an und geben mir dann schriftlich Nach- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- richt. fragen liegen nicht vor. Wir kommen damit zur Frage 35 der Kollegin Leon- Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Nein, hard-Schmid: nein, danke schön. Es ist ja sehr liebenswürdig, daß Sie mir eine Brücke bauen wollen, aber wir müssen Was hat die Bundesregierung bislang zur Sicherung der Arbeitsplätze der Zivilbeschäftigten unternommen? das hier denn doch etwas sorgfältiger miteinander aushandeln. Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär: Die Ich habe Ihnen gesagt, daß diese Tarifverträge von Bundesregierung, die im Einvernehmen mit den Sta- der Bundesregierung im Einvernehmen mit den tionierungsstreitkräften Tarifverträge für deren örtli- Streitkräften und auch zu Lasten der amerikanischen che Arbeitnehmer mit den beteiligten Gewerkschaf Streitkräfte — die müssen in diesem Bereich zahlen — Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6773

Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald abgeschlossen werden, so daß das weitgehend der Verträge — die Unterzeichnung dieser noch offenge- Bestimmbarkeit durch die Bundesregierung entzogen haltenen Protokolle nicht in einem bestimmten Zeit- ist. raum in Aussicht stellen würde? (Zuruf der Abg. Frau Dr. Elke Leonhard Schmid [SPD]) Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, zunächst einmal: Es ist, glaube ich, nicht üblich, daß Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- die Bundesregierung andere Staaten bittet, auffordert fragen liegen nicht vor. oder gar bewegt, bestimmten Zusatzprotokollen bei- Wir kommen damit zu den Fragen 36 und 37, die zutreten. Ich darf darauf aufmerksam machen, daß beide schriftlich beantwortet werden. Die Antworten auch die Bundesrepublik Deutschland zwei Zusatz- werden als Anlagen abgedruckt. protokollen zur Europäischen Menschenrechtskon- vention bis heute nicht beigetreten ist, zumindest hat Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs sie sie nicht ratifiziert. angelangt. Danke schön, Herr Staatssekretär. Wenn ich Ihnen hier eine Synopse geben darf — ich Ich komme nunmehr zum Geschäftsbereich des stelle sie Ihnen gern zur Verfügung —, dann werden Bundesministers des Auswärtigen. Zur Beantwortung Sie erkennen — ich habe mir gerade einmal die Mühe der Fragen steht Herr Staatsminister Helmut Schäfer gemacht, hier die Zahlen der von Ihnen zum Teil zur Verfügung. genannten Zusatzprotokolle aufzuschreiben —, daß Die Frage 4 des Kollegen Herbert Werner (Ulm) 14, 9, 8 bzw. 4 Staaten diese ebenfalls nicht gezeichnet steht als erste zur Beantwortung an: haben. Daraus können Sie nicht den Schluß ziehen, Trifft es zu, daß die Republik Polen das Zusatzprotokoll IV, daß Polen nun einen Sonderweg geht. Polen nimmt aber auch die Zusatzerklärungen I, VI, VII und IX zur Europäi- sich für die Zeichnung bestimmter Zusatzprotokolle schen Menschenrechtskonvention nicht unterzeichnen will, und was gedenkt die Bundesregierung auf bilateraler Ebene, auf der lediglich genausoviel Zeit wie andere europäische Ebene des Europarates und auf der Ebene der KSZE-Konferenz Staaten. Wir sehen darin nicht ein Abweichen der (cf. Wiener Dokument, Charta von Paris, Kopenhagener Doku- polnischen Haltung von den Verpflichtungen, die mit ment) ggf. dagegen zu unternehmen? dem Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskon- vention seitens Polens übernommen worden sind und Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen die auch viele Individualrechte beinhalten, die für die Amt: Herr Kollege, die Republik Polen hat anläßlich deutsche Minderheit in Polen von Bedeutung sind, ihres Beitritts zum Europarat am 26. November 1991 z. B. Gedanken-, Gewissens-, Religionsfreiheit, Recht die Europäische Menschenrechtskonvention unter- auf freie Meinungsäußerung und einiges mehr, was zeichnet. Die unterzeichnete Fassung umfaßt die durch den Beitritt zur Menschenrechtskonvention verfahrensrechtlichen Zusatzprotokolle 2, 3, 5 und 8. sowieso schon sichergestellt ist. Der Bundesregierung ist keine Erklärung der polni- schen Regierung bekannt, wonach diese die Zeich- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere nung weiterer Zusatzprotokolle zur Europäischen Zusatzfrage, Herr Kollege. Menschenrechtskonvention nicht beabsichtige oder ausschließe. Die Bundesregierung geht vielmehr davon aus, daß die Republik Polen im Rahmen ihrer Herbert Werner (Ulm) (CDU/CSU): Herr Staatsmini- - Annäherung an die europäische Staatengemeinschaft ster, sind Sie in der Tat der Auffassung, daß es genügt, weitere Schritte hin zu ihrer Integration in den auf der einen Seite im Vertragswerk entsprechende gesamteuropäischen Rechtsraum unternehmen wird. Regelungen zum Schutz von Minderheiten und damit Auf dieses Ziel hin ist auch der Vertrag über gute auch der deutschen Volksgruppe in Polen zu treffen Nachbarschaft und freundliche Zusammenarbeit an- und auf der anderen Seite zuzusehen, daß Bestim- gelegt, der zwischen der Bundesrepublik Deutschland mungen in diesen angesprochenen Protokollen, die und der Republik Polen am 17. Juni 1991 geschlossen sich im Hinblick auf Schutz und Förderung von wurde. Volksgruppen indirekt auch auf diesen Vertrag bezie- hen, polnischerseits bisher noch nicht unterzeichnet und damit anerkannt worden sind? Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage?

Herbert Werner (Ulm) (CDU/CSU): Herr Staatsmini- Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, es ster, sind Sie der Auffassung, daß es tatsächlich besteht für mich, für uns kein Zweifel daran, daß die genügt, daß die Bundesregierung davon ausgeht, daß polnische Seite gewillt ist, dem Vertrag, dem in dem sich Polen — wann auch immer — mit Blick auf diese Vertrag zum Ausdruck gekommenen Schutz der Min- Protokolle noch positiv verhalten wird, oder sind Sie derheiten Rechnung zu tragen. Inwieweit sie die nicht vielmehr mit mir der Auffassung, daß die Bun- Zusatzprotokolle, die Sie hier erwähnen, bald unter- desregierung die polnische Regierung darauf auf- zeichnen wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich sehe merksam machen sollte, daß es gerade angesichts der aber keinen Zusammenhang zwischen einer schnel- Tatsache, daß diese Zusatzprotokolle auch im Hin- len Unterzeichnung der Protokolle und der polnischen blick auf ihre möglichen Auswirkungen auf die deut- Haltung zu den Minderheiten, die in den Verträgen sche Minderheit in Polen von großer Bedeutung sind, festgelegt ist, auf deren Befolgung wir in unseren nicht eben ein Akt der Freundschaft und der Freund- weiteren Beziehungen zu Polen sicher großen Wert lichkeit wäre, wenn die Volksrepublik Polen, nach- legen werden. dem die beiden Verträge mit ihr unterzeichnet wor- den sind, in einem so entscheidenden Punkt — eigent- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- lich nicht in Einklang mit dem guten Geist dieser fragen liegen nicht vor. 6774 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Vizepräsidentin Renate Schmidt Wir kommen zur Frage 5 der Kollegin Dr. Margrit sie eigentlich immer noch die Tüchtigkeit, die Ent- Wetzel: wicklung in Richtung einer Demokratie und einer Wann ist mit den Ergebnissen der Auswertung bezüglich der erfolgreichen Wirtschaft in Taiwan? Antwort der Volksrepublik China (Weißbuch) auf die von Bundesminister für Wirtschaft, Jürgen W. Möllemann, über- reichte Liste der 900 Gefangenen zu rechnen, bzw. welche Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, der Teilergebnisse können bereits bekanntgegeben werden? Begriff Taiwan wird von deutschen Abgeordneten häufig gebraucht, aber er stimmt mit der Bezeichnung Staatsminister: Frau Kollegin, am Helmut Schäfer, dieses Landes dort nicht überein. Es heißt nämlich 26. Januar 1992 übergab das chinesische Außenmini- nicht Taiwan, sondern Republic of China, wie Sie sterium während des Besuchs von Bundestagsvize- wissen. Damit bemüht sich Taiwan, den Eindruck zu präsident Klein in Peking einem Vertreter der deut- erwecken, es sei China bzw. habe Anrecht auf China. schen Botschaft eine Stellungnahme zu der von Bun- Das muß man zunächst einmal klarstellen. Wir sollten desminister Möllemann übergebenen Liste. Danach also von der sogenannten Republik China sprechen. seien — ich zitiere — „303 Personen auf Grund unge- Damit wird deutlich, daß Sie nicht einfach China und nauer Namensangaben und mangelnder Informatio- Taiwan gleichsetzen können. Wir haben Beziehungen nen nicht zu identifizieren und ausfindig zu machen, zur Volksrepublik China, wie Sie wissen, und nicht zu 257 Personen nach Einstellung der Untersuchungs- Taiwan, solange Taiwan den Anspruch erhebt, China verfahren längst freigelassen, für 49 Personen gebe es zu sein — es sei denn, Sie wollen Taiwan anerkennen überhaupt kein Untersuchungsverfahren, 242 Perso- und die Beziehungen zu China abbrechen. nen seien wegen krimineller Straftaten schuldig gesprochen, 26 Personen wegen gesetzeswidriger Abgesehen von diesem Teil Ihrer Frage darf ich Handlungen in einer Besserungsanstalt, 13 Personen darauf hinweisen: Es gibt überhaupt keinen Zweifel wegen Verstößen gegen das chinesische Strafgesetz daran, daß sich nicht nur die Bundesregierung — ge- von den Justizbehörden noch zu prüfen und 13 Perso- rade beim Besuch des chinesischen Außenministers nen Geheimagenten der Kuomintang in Taiwan." wurde das in den Gesprächen des Bundeskanzlers, Das in Ihrer Frage zitierte Weißbuch zur Menschen- des Bundesaußenministers und anderer, auch Abge- ordneter, deutlich — darum bemüht, die rechtssituation in der Volksrepublik China hat kei- Menschen- nen Bezug zu den von westlichen Politikern überge- rechtslage in China durch Mahnung an die chinesi- benen Namenslisten. Das im November 1991 heraus- sche Regierung zu verbessern, sondern daß dies die gegebene Weißbuch stellt ausführlich die chinesische ganze Weltgemeinschaft tut. Rechtslage und die sozialen und historischen Hinter- Wir sollten diese Bemühungen nicht unterschätzen. gründe der heutigen Situation in der Volksrepublik Wir müssen andererseits natürlich sehen, daß das China dar. Es ist insoweit anzuerkennen, als es im Verhältnis zwischen China und unseren westlichen Bereich sozialer Entwicklungen durchaus auf Erfolge Partnern sich gerade in der jüngsten Vergangenheit hinweisen kann. im Vergleich mit uns erheblich verbessert hat. Es stellt Auf die Diskrepanz zwischen der geltenden Rechts- sich die Frage, inwieweit Sie der Auffassung sind, daß lage und der rechtlichen und politischen Praxis, die als die Bundesrepublik Deutschland als einziges Land Hauptursache politisch motivierter Menschenrechts- weit hinter dem zurückbleiben soll, was die Vereinig- verletzungen anzusehen ist, geht das Weißbuch nicht ten Staaten von Amerika, Frankreich und viele unse-- ein. rer anderen Nachbarstaaten schon längst tun.

Eine Zusatzfrage, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Frau Kollegin? Vizepräsidentin Renate Schmidt: fragen liegen nicht vor. Dr. Margrit Wetzel (SPD): Eine formale Zusatzfrage: Die Fragen 6 und 7 des Kollegen Scharrenbroich Kann dieses Weißbuch den Parlamentariern zugäng- werden schriftlich beantwortet. Die Antworten wer- lich gemacht werden? den als Anlagen abgedruckt. Wir kommen damit zu Frage 8 des Kollegen Helmut Schäfer, Staatsminister: Ich glaube nicht, Lowack: daß es damit Probleme gibt, denn es ist ein Weißbuch, Was spricht nach Ansicht der Bundesregierung eigentlich das die chinesische Regierung herausgegeben hat, dagegen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Rußland um das Ausland von ihrer Politik zu überzeugen. Ich deutsche im nördlichen Ostpreußen siedeln und dazu beitragen kenne seinen Umfang nicht. Ich werde mich gern können, daß dieser ehemals blühende Teil Europas wirtschaft- bemühen, es Ihnen zur Verfügung zu stellen. lich wieder gesunden kann?

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Staatsminister: Herr Kollege, die Zusatzfrage, Kollege Lowack. Helmut Schäfer, Rußlanddeutschen streben vor allem zurück in die Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Staatsminister, historischen Siedlungsgebiete. Wie wir wissen, ist das diese 900 Gefangenen sind ja wohl bloß der winzige nördliche Ostpreußen für die überragende Mehrheit Bruchteil eines Gulag, der im allgemeinen auf etwa der Rußlanddeutschen keine Alternative. Es kann 10 Millionen geschätzt wird. Deshalb meine Frage: nicht Sache der Bundesregierung sein festzustellen, Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung wo die Rußlanddeutschen ihre Heimat sehen sollen. überhaupt letztendlich aus dieser Entwicklung in (Zuruf von der SPD: Na, na, na! — Rudi Rotchina gezogen, die eine deutliche Verschärfung Walther [Zierenberg] [SPD]: Doch, in Bay der Menschenrechtslage bedeutet? Warum diffamiert ern!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6775

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Herr den Schluß ziehen, daß man hier nicht noch einmal Abgeordneter Lowack! eine besondere Rücksichtnahme gegenüber Polen als notwendig erachtet, sondern daß die deutsche Politik Helmut Schäfer, Staatsminister: Wollen Sie das? durchaus ihren Auftrag und ihre Aufgabe kennt? (Zuruf von der SPD: Der Kanzler kriegt damit seine Stimmen!) Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, mit dem ersten Teil Ihrer Frage bin ich insofern einver- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Im Moment hat standen, als ich noch keinen Abgeordneten des Deut- der Herr Abgeordnete Lowack Gelegenheit, eine schen Bundestages getroffen habe, der aus meinen Zusatzfrage zu stellen, auch wenn diese anderen Antworten nicht Beruhigendes entnommen hätte. Unterhaltungen sicherlich besonders interessant Aber zum zweiten Teil Ihrer Frage bin ich der Mei- sind. nung, daß wir in der Formulierung vielleicht ein Herr Abgeordneter Lowack! kleines bißchen sensibler vorgehen sollten. Es besteht gar kein Anlaß dazu, zu befürchten, daß Polen oder (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Frau Prä Litauen hier irgendwelche Ansprüche stellen können, sidentin, Sie haben recht!) ohne sich selber z. B. gegenüber Rußland in eine — Herr Abgeordneter, ich weiß, daß ich meistens vor etwas kritische Situation zu begeben. Es besteht auch allen Dingen dann recht habe, wenn ich von diesem kein Anlaß dazu, daran zu zweifeln, daß wir natürlich Stuhl aus spreche. mit der gebotenen Sorgsamkeit, Vorsicht und auch mit Nun aber bitte, Herr Abgeordneter Lowack! diplomatischem Geschick mit Interesse verfolgen werden, wie die Entwicklung bezüglich dieses Gebie- Ortwin Lowack (fraktionslos): Ich muß einräumen, tes in Zukunft verläuft, oder an dieser Entwicklung daß der Kollege Rudi Walther meist herausragend beteiligt sein werden. gute Ideen hat. Vielleicht darf ich das sagen. Herr Staatsminister, glauben Sie nicht, daß es doch Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die Fragen 9 und letztlich eine Frage ist, die die deutsche Politik zusam- 10 des Abgeordneten Hans Wallow werden schriftlich men mit der russischen Politik entscheiden oder beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abge- zumindest entscheidend mitentscheiden sollte, was druckt. bezüglich des nördlichen Teils Ostpreußens zu einer Damit sind wir am Ende der Behandlung der Fragen positiven Entwicklung führt, und hatten Sie nicht auch aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers des aus der Diskussion, die wir im Auswärtigen Ausschuß Auswärtigen. Herzlichen Dank, Herr Staatsminister. hatten, den Eindruck, daß sich in der Zwischenzeit Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des z. B. Polen, zum Teil aber auch Litauen, um eine Bundesministers für Wirtschaft. Zur Beantwortung Entwicklung bemüht, bei der wir als deutsche Politi- steht der Herr Parlamentarische Staatssekretär Beck- ker eigentlich sagen müßten, wir haben auch ein mann zur Verfügung. Zunächst die Frage 38 des Mitspracherecht oder wollen auch in irgendeiner Abgeordneten Dr. Günther Müller: Form politisch mitwirken? Hält die Bundesregierung einen Sonderrabatt von 20 % für Frauen, der von einzelnen Versicherungsgesellschaften bei der Helmut Schäfer, Staatsminister: Herr Kollege, ich Kraftfahrzeughaftpflicht gewährleistet wird, nach dem Gleich- kann in der Mehrheit dessen, was Sie gerade gesagt heitsgrundsatz des Grundgesetzes für vertretbar? - haben, keinen Gegensatz zu dem entdecken, was die Bundesregierung will. Natürlich wird über die Klaus Beckmann, Parlamentarischer Staatssekretär Zukunft des nördlichen Ostpreußens zunächst einmal beim Bundesminister für Wirtschaft: Herr Kollege in Zusammenarbeit zwischen der Russischen Födera- Dr. Müller, das Bundesaufsichtsamt für das Versiche- tion und uns zu entscheiden sein. Es gibt ja auch rungswesen hat keinem Kraftfahrversicherer in der solche Bemühungen. Es gibt ja Ideen von einer Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung einen beson- denkbaren Freihandelszone dort. Das schließt nicht deren Tarif für Frauen genehmigt. Die für die Tarifie- aus, daß Polen und Litauer an einer solchen Entwick- rung in der Kfz-Haftpflichtversicherung maßgebli- lung und sicherlich auch Deutsche beteiligt sein chen Vorschriften sehen das Geschlecht des Versiche- werden, die dorthin ziehen wollen. rungsnehmers als Tarifmerkmal nicht vor. Aber Sie haben völlig recht, wenn Sie hier sagen, die Zukunft dieses nördlichen Ostpreußens ist natür- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage. lich eine Angelegenheit, die uns zumindest so stark interessiert wie einige litauische Diplomaten oder wie Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Sie können mir also Polen, wie es gelegentliche Äußerdungen in der bestätigen, daß Meldungen, die durch die Presse polnischen Presse zeigen. Aber ich glaube, hier muß gegangen sind, wonach es einen Sondertarif gibt, man vor allen Dingen davon ausgehen, daß Rußland falsch sind? diesen Teil nach wie vor als Teil Rußlands ansieht. Und das wird eigentlich der Boden für künftige Parlamentarischer Staatssekre- Entwicklungen in diesem Gebiet sein. Klaus Beckmann, tär: Nach Auskunft des Bundesaufsichtsamtes für das Zweite Zusatz- Versicherungswesen liegt eine Genehmigung für Vizepräsidentin Renate Schmidt: einen solchen Tarif nicht vor. Demzufolge kann es sich frage, Herr Abgeordneter Lowack. hier nur um ein Mißverständnis handeln. Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Staatsminister, (Abg. Dr. Günther Müller [CDU/CSU]: darf ich aus Ihrer Antwort doch auch den beruhigen Danke!) 6776 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere Diese Angaben erfassen aber weder die Schaden- Zusatzfrage der Kollegin Blunck. häufigkeit noch den Schadenaufwand und sind für Rückschlüsse auf eine künftige Tarifgestaltung des- Lieselott Blunck (SPD): Es gibt natürlich Überlegun- halb nicht geeignet. Eine Stichprobenerhebung des gen dahin gehend, daß solche Tarife genehmigt HUK-Verbandes — allerdings auf der Basis des Zah- werden sollten. Das wäre ja auch sehr vernünftig. lenmaterials von Ende 1978 — zur Analyse der Tarif- Aber in diesem Zusammenhang, Herr Staatssekretär: struktur für die Haftpflichtversicherungen von Per- Ist der Bundesregierung bekannt, daß die privaten sonenkraftwagen kam zu dem Ergebnis, daß es Krankenversicherungen Frauen einen Zuschlag we- keine geschlechterspezifischen Schadenbedarfs- gen zu erwartender Schwangerschaften zumuten, den unterschiede gibt. Ob eine neue Untersuchung zum Männer nicht zu zahlen haben? Würde die Bundesre- gleichen Ergebnis käme, ist uns nicht bekannt. gierung zustimmen, wenn ich behaupte, daß zu die- sem Risiko der Schwangerschaft der Mann nicht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Kol- unwesentlich beiträgt? lege Müller. (Heiterkeit) Dr. Günther Müller (CDU/CSU): Gibt es andere Merkmale, die nicht mit dem Geschlecht im Zusam- Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Dem letzten menhang stehen und eklatante Unterschiede hin- Teil Ihrer Frage kann die Bundesregierung uneinge- sichtlich der Schadenhäufigkeit aufweisen, etwa in schränkt zustimmen. den Berufsgruppen? (Lieselott Blunck [SPD]: Und dem ersten Teil? An der Antwort wäre ich nämlich sehr inter Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Eine Unter- essiert, weil dieser Risikozuschlag ein ständi suchung darüber ist mir nicht bekannt. Ich will aber, ges Ärgernis ist!) Herr Kollege Dr. Müller, der Frage noch einmal nach- — Angesichts der Geschäftsordnung der Bundesre- gehen und Ihnen gerne schriftlich darüber Bericht gierung, Frau Kollegin, sehe ich mich nicht in der erstatten. Lage, Ihnen zum ersten Teil eine fachlich kompetente Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Auskunft zu diesem sozialpolitisch sicherlich interes- frage, Kollege Müller? — Nein. Dann Kollegin santen Fall zu geben. Möglicherweise kann der Bun- Blunck. desminister für Arbeit und Sozialordnung eine kom- petente Ergänzung geben. Lieselott Blunck (SPD): Herr Staatssekretär, über (Lieselott Blunck [SPD]: Es unterliegt im welche Unterlagen verfügt die Bundesregierung hin- übrigen auch dem Bundesaufsichtsamt für sichtlich des Fahrverhaltens von ausländischen Mit- das Versicherungswesen und — —!) bürgern? Denn ich setze einmal voraus, daß der Bundesregierung die Diskriminierung von ausländi- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin, im schen Mitbürgern in der Kfz-Versicherung bekannt Moment beantwortet der Herr Staatssekretär Ihre ist. Deswegen die daran anschließende Frage: Welche Frage. Sie haben nur eine Zusatzfrage. Unterlagen liegen Ihnen da vor?

Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Es ist sicher Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Der Bundes-- richtig, daß das Bundesaufsichtsamt auch hier betrof- regierung ist eine „Diskriminierung”, wie Sie sich fen ist. Allerdings hat sich die Materie sehr weit von ausdrücken, der ausländischen Mitbürger in dem der Kraftfahrzeugversicherung entfernt. negativen Sinne Ihrer Frage nicht bekannt. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Weitere Zusatz- Vizepräsidentin Renate Schmidt: frage, Kollegin Zapf. Oder war das keine Meldung? fragen liegen nicht vor. Dann kommen wir zur Frage 39 des Abgeordneten (Uta Zapf [SPD]: Hat sich erledigt!) Dr. Günther Müller: — Dann Frau Kollegin Ferner. Über welche Unterlagen verfügt die Bundesregierung zum (SPD): Ist denn der Bundesregierung Fahrverhalten von Männern und Frauen und der Unfallverhü- Elke Ferner tung? bekannt, daß bei verschiedenen Autoversicherern von ausländischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen ein Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Aufschlag nur wegen ihrer Nationalität verlangt Dr. Müller, aus den Statistiken des Statistischen Bun- wird? desamtes, „Führer von Personenkraftwagen als Hauptverursacher nach Altersgruppen und Ge- Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Dies ist der schlecht” — so das Zitat — aus der Fachserie 8, Bundesregierung bekannt, Frau Kollegin. Reihe 3.3, Straßenverkehrsunfälle 1989, ergibt sich (Lieselott Blunck [SPD]: Das ist keine Diskri- kaum ein Unterschied zwischen männlichen und minierung? Also, das verstehe ich nicht! — weiblichen Hauptverursachern von Unfällen mit Per- Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Die Nürn- sonenschaden. Ich will dies auch gerne genauer berger zahlen auch mehr als die Hambur- erläutern: Im Alter bis zu 45 Jahren überwiegt der ger!) Anteil der Männer als Hauptverursacher, im Alter Die Tarifgestaltung der einzelnen Versicherer bewegt über 45 Jahren der der Frauen. Bei der Zusammenfas- sich aber im gesetzlichen Rahmen, so daß für das sung aller Jahrgänge ergibt sich ein Unterschied von Bundesaufsichtsamt auch kein Grund vorlag, diese 3 % zuungunsten der Männer. Tarife nicht zu genehmigen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6777

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Hat der Bundesregierung nicht irgendein Hinweis fragen liegen nicht vor. vorgelegen, daß dort etwas vorgeht? Die Fragen 40, 41, 42, 43 und 44 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: In der Tat ist abgedruckt. es so, daß es sich hier um einen größeren Komplex handelt, der in einzelne Abschnitte einzuteilen ist. Für Die Fragen 45 und 46 sind zurückgezogen wor- den einen Teil, der auch in dem Bericht genannt ist, den. haben sich Verdachtsmomente nicht bestätigt. Im Die Fragen 47 und 48 werden schriftlich beantwor- Zuge der Untersuchungen sind aber neue Verdachts- tet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. momente aufgetaucht, denen die zuständigen Ermitt- Wir kommen zur Frage 49 der Frau Kollegin Uta lungsbehörden jetzt nachgehen. Zapf: Nach meinem Kenntnisstand, Frau Kollegin Zapf, Wer hat im Falle des Exports von Teilen für das Atom- und sind Mitteilungen der Zolldienststellen zum damali- Raketenprogramm des Iraks durch die deutschen Unternehmen gen Zeitpunkt der Bundesregierung nicht bekannt „Rhein-Bayern-Fahrzeugbau GmbH & Co KG” sowie deren Tochterfirma „Rhein-Bayern Avionik Dittel GmbH” die hierzu geworden. erforderlichen Ausfuhrgenehmigungen erteilt? Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Frau Kolle- fragen liegen nicht vor. gin Zapf, das für die Erteilung von Ausfuhrgenehmi- Wir kommen zur Frage 50 der Frau Kollegin Uta gungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz zuständige Zapf: Bundesamt für Wirtschaft hat den beiden genannten Seit wann wußte die Bundesregierung von dem Verdacht Unternehmen keine Ausfuhrgenehmigungen für die gegen die beiden Firmen? Lieferung von Waren in den Irak erteilt. Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Frau Kolle- Uta Zapf (SPD): Ich gehe davon aus, daß das illegale gin Zapf, gegen Firmen der Rhein-Bayern-Gruppe Exporte waren, und frage Sie: Lagen Anträge vor, oder wird bereits seit Anfang 1989 wegen möglicher Ver- sind diese Ausfuhren ohne Anträge erfolgt? Ist der stöße gegen Außenwirtschaftsbestimmungen ermit- Bundesregierung bekannt, auf welchem Weg diese telt, zunächst einmal wegen des Verdachts illegaler Exporte stattgefunden haben und ob bei Exporten Zulieferungen für das irakische B- und C-Waffen- dieser Firma eventuell beim Zoll Verdachtsmomente Programm. Dieser Komplex ist wie ich eben erwähnte, aufgetaucht sind? im vertraulichen Irak-Bericht der Bundesregierung von Anfang letzten Jahres dargestellt. Insofern hat sich der Verdacht von Zuwiderhandlungen gegen Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Anträge haben dem Bundesamt nicht vorgelegen und sind außenwirtschaftliche Bestimmungen nicht erhärtet. insofern natürlich auch der Bundesregierung nicht Allerdings ergaben sich im Zuge weiterer Ermitt- bekannt. Das ganze Verfahren ist den zuständigen lungen — auch das sagte ich eben schon im Vorgriff Untersuchungs- und Ermittlungsbehörden übergeben zur Beantwortung dieser Frage — Anhaltspunkte für worden. Dort wird im Augenblick der Sachverhalt mögliche Zulieferungen von Firmen der Rhein-Bay- ermittelt. Einen Teil davon hat die Bundesregierung ern-Gruppe für das irakische Raketen- bzw. Nuklear- schon in dem Bericht für den Deutschen Bundestag, programm. Die Ermittlungen hierüber sind noch nicht der in der Geheimschutzstelle einzusehen ist, veröf- abgeschlossen, so daß die Bundesregierung zu weite- fentlicht. ren Einzelheiten nicht Stellung nehmen kann. Die Verfahren laufen weiter. Zu den Einzelheiten Zusatzfrage, Frau kann ich wie Sie wissen, wegen der vorhandenen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Kollegin. Gesetzeslage leider nicht Stellung nehmen. Uta Zapf (SPD): Ich frage noch einmal, auch wenn Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Frau ich Gefahr laufe, daß Sie mir nicht antworten können. Abgeordnete. Nachdem schon im ersten Fall Verdachtsmomente da waren — die waren sehr konkret; da war nur der Weg Uta Zapf (SPD): Sie haben auf den Bericht hinge- sehr geschickt gewählt —, mußte diese Firma beson- wiesen. Nach meiner Erinnerung handelt es sich bei ders im Auge behalten werden. Auf welchem Wege den Lieferungen, die in diesem Bericht behandelt sind diese offensichtlich wiederum erfolgten Lieferun- werden, um Lieferungen anderer Art als diejenigen, gen erfolgt? Hat der Zoll auf Sendungen dieser Firmen die offensichtlich jetzt hier zur Sprache stehen. Es nicht ein besonderes Auge gehabt, um möglicher- handelt sich in dem Bericht um eine Untersuchung, weise zu verhindern, daß illegale Exporte dieser die mit dem Ergebnis abgeschlossen wurde, daß keine Firmen in den Irak erfolgen? strafrechtlichen Handlungen der Firma vorlagen, weil sie damals die in Rede stehenden Waren innerhalb der Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die zuständi- Bundesrepublik verkauft hatte und diese durch eine gen Ermittlungsbehörden haben gerade vor dem andere Firma in den Irak weitergegeben wurden. Hintergrund der ursprünglichen Verdachtsmomente Insofern betrifft das, was ich jetzt erfrage, ein ihre Untersuchungen intensiviert und sind dabei auf vollkommen anderes Verfahren. Auf diese Firma weitere Momente gestoßen — ich habe das soeben mußte sozusagen im Sinne eines Anfangsverdachts ausgeführt —, die auch zu weiteren Ermittlungen ein besonderes Auge geworfen werden. Ich frage führen. Insofern ist nach meiner Einschätzung die deshalb nach: Hat der Zoll keinen Verdacht gehabt? Beobachtung durch die zuständigen Ermittlungs- und 6778 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann Untersuchungsbehörden sehr sorgfältig gewesen. Kollege Dr. Hennig hat am 20. Februar in Königsberg Deswegen befinden wir uns ja jetzt in einem erneuten in seinem Gespräch mit dem Oberbefehlshaber der Verfahren, das bei der Staatsanwaltschaft anhängig baltischen Flotte, Admiral Jegorow, angeregt durch ist. den aktuellen Fund von Giftgasmunition am Strand von Bornholm, die Problematik der in der Ostsee Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- versenkten Giftgasgranaten aus dem Zweiten Welt- frage, Frau Kollegin. krieg angesprochen, ohne allerdings auf bestimmte Munitionsarten eingehen zu können. Uta Zapf (SPD): Ich möchte nachfragen, ob der Beide Gesprächsteilnehmer stimmten in der Bewer- Bundesregierung bekannt ist, auf welchen Wegen die tung der von dieser Munition für alle Ostsee-Anrainer Waren, die während der Verdachtszeit offensichtlich ausgehenden Gefahren und der symbolischen sowie in den Irak gelangt sind und die anderer Art sind als umweltpolitischen Bedeutung einer Beteiligung der die vorher in Verdacht geratenen, in den Irak gekom- deutschen Marine und der baltischen Flotte an ent- men sind. sprechenden Suchaktionen überein. Im Bundesministerium der Verteidigung werden Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär: Die einzel- derzeit vorsorglich die Möglichkeiten für eine Beteili- nen Wege, Frau Kollegin, werden im Augenblick noch gung der deutschen Marine untersucht. ermittelt. Das ist das Ziel des Verfahrens. Es gibt gewisse Verdichtungen bei den Verdachtsmomenten. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Frau Allerdings haben sich diese Verdachtsmomente noch Kollegin Mehl. nicht so weit konkretisiert, daß hier Einzelheiten genannt werden könnten. Die Bundesregierung kann Ulrike Mehl (SPD): Ist denn der Bundesregierung dies auch nicht machen, weil die Staatsanwaltschaft bekannt und würden Sie mir mitteilen, welche Art und selbst die entsprechenden Maßnahmen treffen will, welche Mengen von Giftgasmunition in der Ostsee wenn sie den Zeitpunkt für geeignet hält. liegen, in welchem Zustand sie sich befindet und an Im übrigen befinden wir uns eben wegen dieses welchen Orten sie liegen? Es ist ja eine bekannte Verfahrens noch in einem Zustand, der die Staatsan- Tatsache, daß die Ostsee dieses Problem hat. waltschaft dazu veranlaßt, sich um der Sicherheit der Ermittlungen willen im Augenblick zurückzuhalten. Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Ich bin gerne bereit, Ihnen unsere Erkenntnisse zukommen zu las- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- sen. Aber ich muß darauf aufmerksam machen, daß es fragen liegen nicht vor. sehr kompliziert ist, über das Ganze einen letztlichen Die Frage 51 des Kollegen Ludwig Stiegler wird Aufschluß zu bekommen; denn nach Ende des Zwei- schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage ten Weltkrieges haben andere Staaten Munition in der abgedruckt. Ostsee über Bord gehen lassen — um das einmal so zu Damit sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs sagen —, gerade in diesem kritischen Giftgasbereich. angelangt — herzlichen Dank, Herr Staatssekretär — Wir wissen nur sekundär, aus den Unterlagen entspre- und kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmini- chender Einrichtungen der ehemaligen DDR, was die sters der Verteidigung. Zur Beantwortung steht Herr DDR nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Rahmen Parlamentarischer Staatssekretär Willy Wimmer zur ihrer Zuständigkeit bis wohl Mitte der sechziger Jahre Verfügung. dort verklappt hat. Das heißt, wir können Ihnen aus unserem eigenen Wissen nur wiedergeben, was sich Die Fragen 52 und 53 der Frau Abgeordneten auf Informationen im wesentlichen durch andere Schmidt (Nürnberg) werden zurückgezogen, damit präzisieren läßt. sie diese Fragen in der nächsten Woche noch einmal stellen kann und endlich einmal Zusatzfragen stellen kann und nicht immer auf die Antwort des Ministeri- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- ums angewiesen ist. frage. Wir kommen damit zu den Fragen 54 und 55 des (SPD): Welche Folgen hätte Ihrer Auf- Kollegen Walter Kolbow. Diese werden entsprechend Ulrike Mehl fassung nach eine Freisetzung von Teilen oder von unserer Geschäftsordnung nicht beantwortet. Bereichen dieses Giftgases in der Ostsee — die Ostsee Die Frage 56 des Kollegen Stiegler wird schriftlich ist ja keine Deponie; das Ganze hat ja auch Konse- beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abge- quenzen, und einige Bereiche werden Sie kennen —, druckt. und hat die Bundesregierung ein Konzept, diese Wir kommen damit zu Frage 57 der Kollegin Ulrike Folgen zu minimieren oder mit den Anrainer-Staaten Mehl: eine ökologische Katastrophe zu vermeiden? Treffen Zeitungsberichte zu, nach denen der Parlamentari- sche Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, Dr. Ottfried Hennig, mit hochrangigen Vertretern der baltischen das sind zum Teil Fragenkomplexe, die sich nicht aus Flotte Ende Februar 1992 Gespräche über die Bergung von Senfgiftgasmunition aus der Ostsee geführt hat, und was ist ggf. der Zuständigkeit unseres Hauses ergeben. Deswe- das Ergebnis dieser Gespräche gewesen? gen bin ich gerne bereit, Ihnen dazu eine Antwort Bitte, Herr Staatssekretär. schriftlich zukommen zu lassen, die den Gesamtbe- reich der Bundesregierung umfaßt. Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Ich will bei dieser Gelegenheit allerdings darauf nister der Verteidigung: Frau Kollegin Mehl, der aufmerksam machen, daß wohl im Jahr 1990 der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6779

Parl. Staatssekretär Willy Wimmer Bundesminister für Verkehr dem damaligen Vorsit- sam gemacht, daß wir hier in einer schwierigen zenden des Verteidigungsausschusses, dem schles- Situation sind, weil es sich im wesentlichen um wig-holsteinischen Kollegen Ronneburger, bereits Informationen handelt, die wir von Dritten bekommen eine entsprechende Antwort gegeben hat. Aber Sie müssen, d. h. von denen, die nach Ende des Zweiten können davon ausgehen: Soweit sich das in unseren Weltkriegs Munition in der Ostsee versenkt haben. Möglichkeiten befindet, werden Sie eine umfassende Soweit es sich um die ehemalige DDR handelt, haben Antwort bekommen. Wir werden dafür Sorge tra- wir nur Erkenntnisse, die wir uns aus ihren Unterlagen gen. gewinnen konnten. Ich glaube, daß ich der guten Ordnung halber auf diesen Informationstatbestand Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine Zusatzfrage, aufmerksam machen muß. Herr Kollege Jungmann. Das zweite, die Frage, um welche Granaten wel- chen Typs es sich im Zusammenhang mit Bornholm Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Herr Staatsse- gehandelt hat: Soweit das möglich ist, wird diese kretär, ein Teil Ihrer Antwort, daß andere Nationen in Frage selbstverständlich schriftlich beantwortet, weil der Ostsee haben Munition über Bord gehen lassen, das kein für mich präsentes Wissen ist. verniedlicht so ein bißchen das Problem. Es waren Im übrigen ist vor allen Dingen aus der Sicht der nach dem Zweiten Weltkrieg rund 50 000 Tonnen Staaten der GUS das Problem in der Ostsee ein Giftgas der ehemaligen Wehrmacht, die die Alliierten relevantes. Nach den uns vorliegenden Informationen bei Bornholm und in der westlichen Ostsee in däni- sind auch Rubelbeträge in Millionenhöhe zur Verfü- schen Gewässern versenkt haben. Hinzu kommt jetzt, gung gestellt, um sich mit diesem Problem so zu daß die DDR bis 1961/ 62 ebenfalls Giftgasmunition im beschäftigen, daß jedwede Form von Gefährdung Umfang von ungefähr 30 000 Tonnen in der Ostsee ausgeschlossen werden kann. Wenn dies die Besorg- versenkt haben soll. In diesem Zusammenhang haben nislage von Anrainerstaaten der Ostsee ist, dann ist, Sie auf den Brief des Verkehrsministers aus dem glaube ich, es die Pflicht eines jeden Mitglieds der September 1990 an den ehemaligen Kollegen Ronne- Bundesregierung, wenn es darauf angesprochen wird burger hingewiesen. Ich frage mich in diesem Zusam- oder wenn es die Gelegenheit hat, dieses Thema zu menhang: Wie kommt der Parlamentarische Staatsse- behandeln, das so zu tun, wie der Kollege Dr. Hennig kretär Dr. Hennig dazu, dessen Ministerium für diese das gemacht hat. Problematik keine originäre Zuständigkeit hat, über die Beseitigung des Giftgases zu verhandeln, wo ja Lange Fragen der Verkehrsminister seit Jahrzehnten mit der däni- Vizepräsidentin Renate Schmidt: erfordern lange Antworten. Nun eine kürzere Zusatz- schen Regierung im Gespräch ist, ob diese Munition frage, wie ich hoffe, vom Kollegen Opel. beseitigt werden muß oder ob sich durch das Auflösen der Granaten durch Korrosion und das Zusammenfüh- ren der toxischen Stoffe aus den Granaten mit dem Manfred Opel (SPD): Herr Staatssekretär, ich Salzwasser das Gift zu nichttoxischen Stoffen entwik- möchte zur Präzisierung von Ihnen gerne wissen, wie kelt hat und deshalb aus Sicht der Bundesregierung das denn vor Ort wirklich war. Der Parlamentarische — so die Antwort des Verkehrsministers in dem Staatssekretär wird sich sicherlich an die gute Ord- Schreiben — keine Gefahr von dem Giftgas aus- nung halten und einen Dienstreisebericht schreiben. geht? Da müßte dann eigentlich drinstehen, wie das Ange-- bot des sowjetischen Admirals ausgesehen hat. Gibt Dann die letzte Frage, die ich zu diesem ganzen es ein solches Angebot zur gemeinsamen Suche und Konvolut von Fragen zusammenbinde, weil die Präsi- Räumung solcher gefährlichen oder auch anderer dentin gerade etwas anderes liest und mich nicht Munition, und könnte es sein, daß der Admiral bei korrigieren kann: dieser Gelegenheit das mit den Worten „Das machen (Heiterkeit) wir zusammen" angeboten hat? War das eine sowjetische Granate oder eine von den in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg versenkten Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, Giftgasgranaten, die bei Bornholm angespült worden Sie wissen, daß es sehr unzweckmäßig ist, Gespräche ist? Das wäre die Frage, die — — unter den Aspekten zu sehen, wie Sie das gerade angesprochen haben. Der Kollege Hennig hat nach Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege, seiner Rückkehr von diesem Besuch selbstverständ- würden Sie jetzt irgendwann einmal zum Ende Ihrer lich bei uns darüber auch mündlich vorgetragen und Frage kommen. es in dem Rahmen getan, wie ich es eben angespro- chen habe. (Wittmoldt) (SPD): Ich bedanke Horst Jungmann (Horst Jungmann [Wittmoldt] [SPD]: Koppe- mich ausdrücklich für den Großmut, Frau Präsiden- lin hat aber gesagt, das stimmt nicht!) tin.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das ist aber recht. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- Damit sind Sie gerade noch an einer Rüge vorbeige- fragen liegen nicht vor. kommen. Die Frage 58 des Kollegen Norbert Gansel wird Herr Staatssekretär. schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Willy Wimmer, Parl. Staatssekretär: Frau Präsiden- Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereiches. tin! Herr Kollege Jungmann, ich habe darauf aufmerk Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. 6780 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Vizepräsidentin Renate Schmidt Wir kommen dann zum Geschäftsbereich des Bun- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Frau desministers für Gesundheit. Zur Beantwortung steht Kollegin. Frau Staatssekretärin Bergmann-Pohl zur Verfü- gung. Susanne Kastner (SPD): Geben Sie mir recht, Frau Die Fragen 59 bis 65 sind alle zurückgezogen Staatssekretärin, daß für eine flächendeckende Ana- worden. lyse in den fünf neuen Bundesländern 40 Millionen DM notwendig sind, und wie bringen Sie das zusam- Wir kommen zur Frage 66 der Kollegin Susanne men bei einem Etat — wie von Ihnen schon öfters in Kastner: der Fragestunde betont — in Höhe von 11 Millionen Wann soll die von Bundesministerin für Gesundheit, Gerda DM? Hasselfeldt, angekündigte Konzertierte Aktion „Verbesserung der Trinkwasserqualität in den neuen Ländern" durchgeführt Parl. Staatssekretärin: werden, und wer soll daran beteiligt werden, um schnellstmög- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, lich Sanierungspläne und deren Finanzierung zu beschließen? Frau Kollegin Kastner, Sie wissen genau, daß es Sinn dieser Konzertierten Aktion ist, weitere Analysen durchzuführen, den Finanzbedarf zu erörtern und ihn Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit: Frau Kolle- gegebenenfalls für die Haushaltsplanungen 1993 mit gin Kastner, die von Frau Bundesministerin Hassel- einzubeziehen. feldt angekündigte Konzertierte Aktion „Verbesse- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- rung der Trinkwasserqualität in den neuen Ländern” fragen liegen nicht vor. wird am 24. März 1992 in Berlin stattfinden. Gemein- sam mit den Gesundheitsministern der neuen Länder Wir kommen damit zur Frage 67 des Kollegen Klaus sollen Sanierungspläne erörtert werden. Kirschner: Wie hoch ist nach den jetzt vorliegenden vorläufigen Werten Ziel der Konzertierten Aktion ist, auf den Ergebnis- zur Ausgabenentwicklung der gesetzlichen Krankenversiche- sen der Fachkommission „Soforthilfe Trinkwasser” rung im Jahre 1991 die Ausgabensteigerung für Zahnersatz im des Bundesministers für Gesundheit aufbauend auf Verhältnis zur Grundlohnentwicklung, und wie beurteilt die ein Gesamtkonzept zur Sanierung der Trinkwasser- Bundesregierung im Hinblick auf die Höhe dieser Steigerungs- rate die Steuerungswirkung der durch das Gesundheits-Reform- versorgung in den neuen Ländern hinzuarbeiten. Die gesetz auf 40 bis 50 % erhöhten Selbstbeteiligung für Zahner- hohe Priorität, die einer einwandfreien Trinkwasser- satz? versorgung der Bevölkerung in den neuen Ländern zukommt, erfordert eine Koordinierung der Verant- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: wortlichkeiten, um die dringend notwendige Sanie- Herr Kollege Kirschner, die Ausgabensteigerung je rung erfolgreich durchzuführen. Mitglied für Zahnersatz in der gesetzlichen Kranken- versicherung betrug 1991 13,7 %. Der Grundlohnan- je Mitglied lag im gleichen Zeitraum bei 5 %. Ob Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Frau stieg Kollegin Kastner. die erhöhte Selbstbeteiligung für Zahnersatz nachfra- gesteuernde Wirkung gehabt hat, kann nicht allein nach dem Ausgabewert für 1991 beurteilt werden. Susanne Kastner (SPD): Frau Staatssekretärin, Warum dies nicht möglich ist, habe ich bereits in wenn es in dieser Konzertierten Aktion um Sanie- meiner Antwort vom 13. Februar 1992 auf die Kleine rungspläne geht, wie beurteilen Sie dann die Tatsa- Anfrage der SPD erklärt. che, daß zu Sanierungsplänen doch wohl eine flä- chendeckende Analyse da sein muß, diese aber nicht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Kol- vorhanden ist; denn immer noch tauchen 30 % der lege Kirschner? Trinkwasserversorgungsanlagen und die Hausbrun- nen ohne Analyse im EG-Bericht überhaupt nicht auf. Klaus Kirschner (SPD): Frau Staatssekretärin, nach- Wie beurteilen Sie die Tatsache, daß die finanziellen dem nun offensichtlich ist, daß das Selbstbeteiligungs- Mittel bei der Soforthilfe Trinkwasser in Höhe von instrument von 40 bis 50 % beim Zahnersatz versagt 11 Millionen DM, von denen für 1992 noch 6 Millio- hat, frage ich: Ist die Bundesregierung nun endlich nen DM übrig sind, bei weitem nicht ausreichen, um bereit, bei den Zahnärzten die Instrumente, die im diese Analyse durchzuführen, die als Grundlage die- GRG vorgesehen sind, wie Qualitätssicherung und ser Konzertierten Aktion unbedingt notwendig ist? Wirtschaftlichkeitsprüfung, im Wege der aufsichts- rechtlichen Prüfung durchzusetzen, oder will die Bun- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: desregierung weiterhin zusehen, wie dieses nach wie Frau Kollegin Kastner, Sie haben heute in Ihrer vor abgeblockt wird? Pressekonferenz ganz zutreffend festgestellt, daß die Analysen von 431 größeren Wasserversorgungsanla- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: gen für 69, also praktisch 70 % der Wasserverbraucher Herr Kollege Kirschner, wie ich bereits in den Antwor- vorliegen. Dem gegenüber stehen weitere Analysen, ten auf die Kleine Anfrage mitgeteilt habe, wird die die bereits durchgeführt wurden, deren Ergebnisse aufsichtsrechtliche Maßnahme erst dann erforderlich aber noch nicht zusammengeführt werden konnten sein, wenn die Situation es erforderlich macht. Die und dementsprechend im Bericht noch keine Berück- Situation hat es bisher noch nicht erforderlich sichtigung finden konnten. gemacht. Die Analysen werden natürlich, wie Sie sicher dem Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage. Bericht auf Seite 30 entnommen haben, in Eigenver- antwortung der Wasserversorgungsunternehmen und Klaus Kirschner (SPD): Frau Staatssekretärin, könn- der Gesundheitsbehörden weiterhin durchgeführt. ten Sie mir einmal andeuten, wann nach Auffassung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6781

Klaus Kirschner der Bundesregierung, nachdem Sie ja deutlich mach- setzen, daß die Ausgabenentwicklung im Jahr 1992 in ten, daß die Ausgaben fast dreimal so hoch sind wie den Bahnen verläuft, die den Vergütungsvereinba- die Einnahmen, endlich Maßnahmen erforderlich rungen zugrunde lagen. wären, um auf Seiten der Leistungserbringer die Sollte in den Bereichen, in denen die Länderge- Instrumente durchzusetzen, die im Gesetz auch vor- sundheitsminister die Aufsicht über die Kassen füh- gesehen sind? ren, Vergütungsvereinbarungen getroffen werden, die deutlich oberhalb der erwarteten Grundlohnent- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: wicklung von 4 bis 5 % liegen, so kann der Bundesge- Herr Kirschner, ich habe bereits in der Vergangenheit sundheitsminister aufsichtsrechtliche Maßnahmen in meinen Antworten ausgeführt, daß man die statisti- der Länder nur anmahnen. Die bisher abgeschlosse- schen Werte immer vom Ausgangswert aus beurteilen nen Vergütungsvereinbarungen in den Ländern ent- muß. Ich kann Ihnen sagen, daß seit 1982 die Grund- sprechen in der Größenordnung dem Vergütungsab- lohnsumme um 32,5 % gestiegen ist. Demgegenüber schluß der Ersatzkassen. sind z. B. die Ausgaben der Krankenkassen für die zahnmedizinische Behandlung nahezu konstant ge- blieben. Also denke ich, daß wir erst einmal die Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Kol- weitere Entwicklung abwarten sollten, ehe wir hier lege Kirschner. aufsichtsrechtlich tätig werden. Klaus Kirschner (SPD): Frau Staatssekretärin, wel- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Eine weitere che Erkenntnisse braucht die Bundesregierung Zusatzfrage, Herr Menzel. eigentlich noch, nachdem die Ausgabenentwicklung vorliegt, um sich zu entschließen, die aufsichtsrechtli- Dr. Bruno Menzel (F.D.P.): Frau Staatssekretär, che Prüfung einzuleiten, um dem im Gesundheits würden Sie mit mir übereinstimmen, wenn ich davon Reformgesetz verankerten Grundsatz der Beitragssta- ausgehe, daß die Ausgabensteigerung nicht ursäch- bilität nachzukommen? lich nur auf die hohe Entwicklung zurückzuführen ist, sondern daß auch ganz andere Faktoren mit einwir- ken und daß es eine völlig verkürzte Betrachtung der Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: Sachlage ist, wenn man immer versucht, die Ausga- Herr Kollege Kirschner, ich glaube, wir haben schon bei der letzten Frage eindeutig herausgearbeitet, daß benentwicklung nur auf die Honorarforderungen der Ärzte abzuwälzen. die Ausgabenentwicklung nicht allein auf die Vergü- tungsvereinbarung mit den Ärzten zurückzuführen Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: ist. Herr Kollege Menzel, ich kann da völlig mit Ihnen übereinstimmen, denn ich glaube nicht, daß die Aus- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- gabenentwicklung allein als Folge der Honorarforde- frage, Kollege Kirschner. rungen der Ärzte anzusehen ist. Klaus Kirschner (SPD): Frau Staatssekretärin, gilt Vizepräsidentin Renate Schmidt: Wir kommen zur der im GRG verankerte Grundsatz der Beitragsstabi- Frage 68 des Kollegen Klaus Kirschner: lität noch für die Bundesregierung, ja oder nein? Hat der Bundesminister für Gesundheit die Absicht, die in der - Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion der SPD (Drucksa- che 12/2080) in Aussicht genommene aufsichtsrechtliche Über- Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: prüfung der Honorarvereinbarungen für die Zahnärzte einzulei- Ja. ten im Hinblick darauf, daß die jetzt vorliegenden Werte zur Ausgabenentwicklung der Krankenversicherung für Zahnbe- (Klaus Kirschner [SPD]: Na, prost Mahl- handlung und Zahnersatz im Jahre 1991 eine Überschreitung zeit!) der Grundlohnentwicklung um das Zwei- bis Dreifache auswei- sen und damit belegen, daß die Honorarverträge für 1991 mit dem Grundsatz der Beitragsstabilität nach § 71 SGB V nicht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- vereinbar sind, und die inzwischen abgeschlossenen Honorar- fragen liegen nicht vor. Wir sind damit am Ende dieses vereinbarungen für 1992 ebenfalls Ausgabensteigerungen über Geschäftsbereichs angekommen. Herzlichen Dank, die Grundlohnentwicklung hinaus ermöglichen und keine Kom- Frau Staatssekretärin. pensation für die überhöhten Honorarzuwächse im Jahre 1991 vorsehen? Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi- nisters für Verkehr. Zur Beantwortung der Fragen Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Parl. Staatssekretärin: steht Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Die- Herr Kollege Kirschner, gegenwärtig stellt sich für die ter Schulte zur Verfügung. Bundesregierung die Frage, ob die für 1992 von den Die Frage 69 des Herrn Abgeordneten Michael von der unterstehenden Krankenkassen Bundesaufsicht Schmude und die Fragen 70 und 71 des Herrn Abge- mit den Zahnärzten getroffenen Vergütungsverein- ordneten Gunnar Uldall sollen auf Wunsch der Frage- barungen den Grundsatz der Beitragssatzstabilität steller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten verletzen. Die abgeschlossenen Vergütungsvereinba- werden als Anlagen abgedruckt. rungen der Ersatzkassen sehen eine Punktwertanhe- bung von 4,3 % vor und bleiben damit im Rahmen der Wir kommen damit zu Frage 72 des Kollegen Horst erwarteten Grundlohnentwicklung. Der Bundesmini- Kubatschka: ster für Gesundheit hat deshalb keine Möglichkeit, Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß nach dem aufsichtsrechtlich tätig zu werden. Natürlich ist dies Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes der Flugbe- trieb des neuen Flughafens München II nur dann aufgenommen keine Gewähr für Beitragssatzstabilität. Es kommt werden darf, wenn die Auflagen für den Lärmschutz erfüllt jetzt darauf an, daß die Vertragspartner alles daran sind? 6782 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär beim Bun- Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- desminister für Verkehr: Herr Kollege, der Bayerische lege, der spezifische Energieverbrauch von kurzen Verwaltungsgerichtshof hat zu München II zwei Reisezügen mit Dieseltraktion unterscheidet sich nur Urteile gefällt. Das eine Urteil ist durch das Urteil des geringfügig von dem Verbrauch bei Zügen mit Elek- Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Januar 1991 auf- trolokomotiven. Allerdings ist er, bedingt durch das gehoben worden. Es wurde dem BMV am 29. Mai größere Gewicht der Wagen und Lokomotiven, höher 1991 zugestellt. Darin werden auch endgültige Vor- als der Energieverbrauch von Triebwagenzügen. gaben für die Lärmschutzmaßnahmen am neuen Flug- Bezüglich des Schadstoffausstoßes unterschreiten hafen München geklärt. Auf dieser Basis werden die Dieseltriebfahrzeuge der Deutschen Bundesbahn gegenwärtig vom Flughafen München die notwendi- die derzeitigen ECE- und UIC-Normen deutlich. gen Schallschutzmaßnahmen ge troffen. Auflagen für die Aufnahme des Flugbetriebs sind darin aber nicht Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage. gemacht worden. Das zweite Urteil des Bayerischen Verwaltungsge- Horst Kubatschka (SPD): Herr Staatssekretär, es richtshofes vom 19. Februar 1992 ist im Bundesver- geht ja im Grunde genommen um den Gütertransport. kehrsministerium am 9. März eingegangen. Darin Hängt es nicht vom Laufweg dieser Kurzzüge ab, ob wird die Klage auf weitergehende Reduzierung des sie zu größeren Einheiten zusammengestellt werden? Nachtflugverkehrs abgewiesen. Das muß doch betrachtet werden.

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage, Kol- Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Das ist lege Kubatschka. richtig. Das berücksichtigt die Bundesbahn aber auch beim Einsatz der Lokomotiven und der Wagen. Es Horst Kubatschka (SPD): Herr Staatssekretär, kommt im übrigen auch darauf an, wie das Gelände inzwischen klagen die Gemeinde Hallbergmoos und beschaffen ist. Da gibt es deutliche Unterschiede 39 private Anlieger. Sie verlangen, daß der Flugbe- zwischen Diesel- und Elektrofahrzeugen. trieb so lange nicht aufgenommen wird, bis der Lärmschutz, den man der Bevölkerung seit Jahren Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- versprochen hat und der im Planfeststellungsbeschluß frage. enthalten ist, tatsächlich realisiert wird. Wann muß der Lärmschutz Ihrer Meinung nach gewährleistet sein? Horst Kubatschka (SPD): Gibt es gewisse Mindest- entfernungen, unterhalb deren der Einsatz von Lkws Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Dr. Dieter Schulte, rentabler und weniger umweltbelastend ist als der lege, im Planfeststellungsbeschluß ist festgelegt, daß Einsatz von Kurzzügen? Anträge auf Schallschutzmaßnahmen noch fünf Jahre nach Inbetriebnahme des Flughafens gestellt werden Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- können. Schon daher kann die endgültige Durchfüh- lege, ich glaube, daß wir da eine Gesamtbilanz rung aller Lärmschutzmaßnahmen nicht Grundlage aufstellen müssen. Wenn die deutsche Bundesbahn für die Inbetriebnahme sein. nur bei einer geringen Entfernung eingesetzt wird Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- und sowohl im Vorlauf als auch im Nachlauf Lkws frage, Kollege Kubatschka. eingesetzt werden müssen, dann kann die Gesamtum- weltbilanz durchaus anders sein, als wenn man von Horst Kubatschka (SPD): Herr Staatssekretär, sind Haus zu Haus mit der Bahn fahren kann, sprich: wenn Sie nicht meiner Meinung, daß Lärmschutzmaßnah- Gleisanschlüsse vorhanden sind. men im Grunde genommen viel zu spät ergriffen wurden, um die Bevölkerung vor dem Lärm zu schüt- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- zen? fragen liegen nicht vor. Wir kommen damit zur Frage 74 des Kollegen Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Ottmar Schreiner: lege, es ist sicher so, daß nicht alle Maßnahmen Welche zeitlichen Schlußfolgerungen ergeben sich für Stra- abgeschlossen sind, wenn der Flughafen in Betrieb ßenbauprojekte aus ihrer Aufnahme in die Liste der für eine genommen wird. Das habe ich vorhin gesagt. Es soll Privatfinanzierung in Be tracht kommenden Verkehrsinvestitio- aber noch weiter abgewartet werden; es soll weiter nen, insbesondere für den Weiterbau der A 8 von Merzig/ gerechnet und gemessen werden. Deswegen wurde Wellingen bis zur luxemburgischen Grenze? eine Frist von fünf Jahren eingeräumt. Ich glaube nicht, daß diese Frist von fünf Jahren einseitig nur Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- zugunsten des Flughafens und seiner Betreiber gese- lege, mit dem Kabinettsbeschluß vom 29. Januar 1992 hen werden kann. Dies ist vielmehr eine Frist, die wurde der Bundesminister für Verkehr aufgefordert, durchaus auch im Sinne der Anlieger gewertet und umgehend Pilotprojekte auszuschreiben und zu reali- gesehen werden kann. sieren. Weitere Projekte, so auch die A 8, können in die Privatfinanzierung einbezogen werden. Zu den Vizepräsidentin Renate Schmidt: Weitere Zusatz- notwendigen Voraussetzungen gehören Planungssi- fragen liegen nicht vor. cherheit für den Gesamtabschnitt bis zur luxemburgi- Wir kommen damit zu Frage 73 des Kollegen schen Grenze und eine Abstimmung über die Planung Kubatschka: und den Zeitplan mit dem Großherzogtum Luxem- burg. Die Schaffung der Planungssicherheit ist Sache Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung bezüglich des Energieverbrauchs und des Schadstoffausstoßes beim Ein- des Landes. Der Bundesverkehrsminister wird die satz von Kurzzügen mit Diesellokomotiven vor? Gespräche mit Luxemburg vorantreiben. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6783

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zusatzfrage. wurde, bei denen eine Privatfinanzierung in der Zukunft möglich sein soll. Allerdings muß sich die Ottmar Schreiner (SPD): Herr Staatssekretär, gehe saarländische Landesregierung überlegen, ob sie das ich recht in der Annahme, daß das gesamte bundes- fördert und ob sie z. B. bei einer eventuell fälligen deutsche Autobahnnetz in Teilabschnitten realisiert Änderung der Gesetzeslage im Bundesrat mitmacht. worden ist; und was spricht dagegen, daß die A 8 bis zur luxemburgischen Grenze ebenfalls in Teilab- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Es gibt eine wei- schnitten fertiggestellt werden kann, zumal da tere Zusatzfrage. bekannt ist, daß für den ersten Teilabschnitt alle Voraussetzungen erfüllt sind, die einen sofortigen Elke Ferner (SPD): Herr Kollege Schulte, Ihr Kollege Baubeginn ermöglichen würden; und was ist der Gröbl hatte mir in einer der vergangenen Fragestun- eigentliche Grund, warum die Bundesregierung diese den auf meine Frage, wie dieses Teilstück der A 8 Maßnahme nach wie vor sabotiert? finanziert werden soll, geantwortet: Wenn eine Privat- finanzierung nicht in Betracht käme, könnte dieser Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Abschnitt nur entweder über die Bereitstellung lege, ich erinnere mich daran, daß Sie dem Bedarfs- zusätzlicher Mittel über die Straßenbauquote des plan für die Bundesfernstraßen, der die Grundlage Saarlandes hinaus oder so finanziert werden, wie es meiner Aussage ist, zugestimmt haben. Das war am der Minister Jo Leinen in einem Brief an den BMV 30. Januar des Jahres 1986. Ich habe das eigens geschrieben hat. Wie sieht es jetzt mit einer Sonderfi- nachgelesen. nanzierung aus? Vor allen Dingen war bei der Es gibt für jedes Bundesland eine Landesquote. Aus Beschlußfassung über den Bundesverkehrswegeplan der Landesquote kann das Saarland nicht alle schon bekannt, daß dieses Teilstück der A 8 weit über gewünschten Ortsumgehungen und die Autobahn die dem Saarland zustehenden Straßenbauquoten A 8 zur gleichen Zeit finanzieren. Ich kann in dieser hinausgeht, egal, ob zusätzlich Umgehungsstraßen Fragestunde auch nicht so locker 300 Millionen DM gebaut werden oder nicht. Wie sehen Sie das jetzt? vergeben. Sie wissen, daß wir dabei sind, den Bundesver- Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Frau Kolle- kehrswegeplan und den Bedarfsplan für die Bundes- gin, Sie werden ja demnächst mit vielen anderen fernstraßen als einen seiner Teile fortzuschreiben. Die zusammen im Verkehrsausschuß erleben, daß wir letzte Entscheidung wird der Bundestag treffen. Aller- nicht alles auf einmal bauen können. Es gibt ganz dings wird nicht alles auf einmal zu verwirklichen gewiß Probleme bei Bundesländern, die keine große sein, zumal da nach dem letzten Beschluß über den Quote haben, weil z. B. ihre Einwohnerzahl gering ist. Bedarfsplan Ihre Fraktion beantragt hat, die Mittel für Es stehen Projekte wie etwa der Elbtunnel im Zuge der den Bundesfernstraßenbau zu kürzen. A 7 in Hamburg an, zu denen man sich überlegen (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hört! muß: Was kann man machen? Das Saarland versucht Hört!) im Augenblick, alle Ortsumgehungen zu bauen und die Autobahn ebenfalls. Sie müßten mir, wenn im Vizepräsidentin Renate Schmidt: Zweite Zusatz- Saarland alles auf einmal geschehen soll, schon hel- frage. fen, den anderen Bundesländern zu erklären, daß sie zurückstehen müssen. Eine Sonderfinanzierung gibt Ottmar Schreiner (SPD): Herr Staatssekretär, nach- es nicht. Das ist ein Beschluß des Verkehrsausschusses dem der Bundesumweltminister, möglicherweise in des Bundestags aus der letzten Periode. So wie ich im seiner Eigenschaft als Landesvorsitzender einer im Augenblick die Meinung einschätze, wird es auch bei Saarland nicht ganz so großen Volkspartei, vor eini- der nächsten Runde, die in Kürze ansteht, keine gen Wochen öffentlich erklärt hat, der Endausbau bis Sonderfinanzierungen geben. zur luxemburgischen Grenze erfolge alsbald, und wenige Tage später das Kabinett diese Äußerung Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich lasse jetzt noch korrigiert hat, frage ich Sie, ob Sie der Einschätzung die Zusatzfragen des Kollegen Wagner und des Kol- der wahrlich staatstragenden „Saarbrücker Zeitung" legen Jungmann zu. Dann kommen wir zum Ende der zustimmen können, die diesen Vorgang folgenderma- Fragestunde. Wir haben jetzt schon eine Minute ßen kommentiert hat: überzogen. Ob solcher Spagatschritte müssen sich die Bürger Kollege Wagner. des Saarlandes und der gesamten Saar-Lor-Lux- Region fragen, wie ernst zumindest der Bonner Hans Georg Wagner (Eppelborn) (SPD): Herr Staats- Verkehrsminister die hehren Bekenntnisse des sekretär, Sie haben soeben aufs neue den Eindruck Kanzlers zu Europa nimmt. Das Saarland wird erweckt, daß das Saarland alles auf einmal haben von Bonn in Sachen grenzüberschreitender Auto- möchte. Ist Ihnen die Entscheidung der Landesregie- bahn jedenfalls so stiefmütterlich behandelt, als rung des Saarlandes bekannt, sich auf diese Autobahn solle es seine Randlage auf ewig behalten. mit Priorität eins zu konzentrieren und alle anderen Ist das die Auffassung der Bundesregierung? Maßnahmen zeitlich zu strecken, und ist Ihnen zwei- tens bekannt, daß der Bundesumweltminister im Saar- Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- land ganz konkret erklärt hat, die Autobahn A 8 lege, Sie haben sicher mitverfolgt, daß die A 8 auf werde sehr schnell kommen? Die Landesregierung Grund eines Antrags des Bundesumweltministers im des Saarlandes hat sich als eine der ersten bereit Kabinett in die Liste der Maßnahmen aufgenommen erklärt, auch eine private Finanzierung der Auto- 6784 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Hans Georg Wagner (Eppelborn) bahn 8 zuzulassen. Warum ist das nicht an höherer Diese Aktuelle Stunde hat die Fraktion der SPD Stelle im Katalog angesiedelt worden? verlangt. Als erste hat die Frau Kollegin Ingrid Matthäus Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Herr Kol- Maier das Wort. lege, wenn man sagte, wir bauen jetzt die Autobahn, und wir unterlassen es, acht oder zehn Ortsumgehun- gen zu bauen, oder wir bauen daran nicht fünf Jahre, Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Frau Präsidentin! sondern zehn Jahre, wäre das nicht sinnvoll, weder in Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bun- werkehrlicher Hinsicht noch in volkswirtschaftlicher desregierung steht vor einem finanzpolitischen Hinsicht. Die Prioritäten sind gesetzt worden. Das Scherbenhaufen. Saarland hat bisher ohne weiteres gesagt: Wir fangen mit den Ortsumgehungen an. Daß Vertreter des Saar- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist lands versuchen, zusätzliches Geld ins Land zu falsch!) bekommen, ist absolut legitim. Das machen auch Die Staatsschulden explodieren. andere. Ich sehe dies an den Blicken hier im Plenar- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auch saal. falsch!)

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Die letzte Zusatz- Eine Steuer- und Abgabenerhöhung jagt die andere. frage, Kollege Jungmann. Und die Inflation gefährdet die D-Mark. (Beifall bei der SPD) Horst Jungmann (Wittmoldt) (SPD): Herr Staatsse- Noch nie hat der Staat so viele Schulden gemacht wie kretär, da der Umweltminister Töpfer in der Kabinett- heute. Ende 1991 lag die gesamte Staatsverschuldung sitzung das in die Liste der möglicherweise privat zu bei fast 1,5 Billionen DM. finanzierenden Projekte aufgenommen hat, frage ich: (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da ist vor allem Herr Lafontaine dabei!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sehr gut!) 1992 soll dieser Schuldenberg um Schulden von über Hat er denn auch schon einen Financier genannt, und 190 Milliarden DM erhöht werden. Auch die Sozial- ist richtig, was gerüchtweise durchdringt, daß das versicherung rutscht in die roten Zahlen. Herr Möllemann sein soll? Dieser Schuldenberg droht den Staat handlungs- (Heiterkeit bei der SPD) unfähig zu machen. Für wichtige öffentliche Aufga- ben ist kein Geld da, weil es für Zinsen ausgegeben werden muß. Im laufenden Jahr sind es fast 130 Mil- Dr. Dieter Schulte, Parl. Staatssekretär: Ich gehe davon aus, daß Herr Möllemann ein tüchtiges Mit- liarden DM; das ist jede sechste Steuermark; pro Kopf glied der Bundesregierung ist und noch lange amtie- der Bevölkerung sind das über 100 DM Monat für ren wird. Monat allein für die Zinsen auf die Staatsschulden. (Lachen bei der SPD) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Niemand findet das gut!) Mir ist nicht bekannt, daß er ins Bankwesen über- - wechseln wollte. Noch unsere Kinder und Enkel werden darunter zu Ich gehe allerdings davon aus, daß die Privatfinan- leiden haben, daß in Bonn die größten Schuldenma- zierung ein solcher Renner werden wird, daß sich auf cher aller Zeiten regieren. alle Fälle Konsortien finden werden, die bereit sind, (Beifall bei der SPD — Dietrich Austermann auch bei der A 8 mitzuhelfen. Sollte dies nicht aus dem [CDU/CSU]: Sie haben noch nicht einen Saarland selber heraus geschehen, gibt es andere, die einzigen richtigen Satz gesagt!) bereit sind, ihre Interessen und Chancen mit dem zu Diesen Schuldenberg haben wir, obwohl die Bun- verbinden, was sie wollen und was die Bundesregie- desregierung dauernd an der Steuer- und Abgaben rung will. schraube dreht: an der Mineralölsteuer, der Versiche- rungsteuer, der Kraftfahrzeugsteuer, der Tabak- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit sind wir am steuer, den Sozialabgaben, der Telefonsteuer, der Ende der Fragestunde angelangt. Herzlichen Dank, Ergänzungsabgabe und jetzt auch noch an der Mehr- Herr Staatssekretär. wertsteuer. Die nicht beantworteten Fragen werden entspre- chend unserer Geschäftsordnung schriftlich beant- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist doch alles wortet. Die Antworten werden als Anlagen abge- nichts Neues, Frau Kollegin! — Dietrich druckt. Austermann [CDU/CSU]: Und von wem kommt denn die Ergänzungsabgabe?) Ich rufe den Zusatzpunkt 7 der Tagesordnung Damit nicht genug. Die Äußerungen dieser Woche

auf: zeigen: Die Bundesregierung will weitere Steuer - und Aktuelle Stunde Abgabenerhöhungen, Mehrbelastungen, Zuzahlun- gen, den Abbau von Sozialleistungen und das Haus- Lage der öffentlichen Finanzen und Pläne der haltssicherungsgesetz. Bundesregierung für ein Haushaltssiche- rungsgesetz nach den Äußerungen von Mit- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Das ist gliedern der Bundesregierung vom Wochen- falsch, schon wieder falsch! Märchen-Maier ende 7./8. März 1992 ist das!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6785

Ingrid Matthäus-Maier Nun wird zwar eifrig dementiert. Aber das kennen digt. Da muß ich doch fragen: Hat diese Bundesregie- wir schon. Immer wenn die Bundesregierung in rung noch alle Tassen im Schrank? Sachen Steuern etwas dementierte, konnte man sicher (Beifall bei der SPD) sein, daß danach das eintritt, was vorher so eifrig dementiert worden war. Der vierte und wichtigste Punkt: Wir brauchen wieder eine Finanz- und Wirtschaftspolitik mit Sinn (Beifall bei der SPD) und Verstand. Denn die beste Sparbüchse ist eine gute Vor der Bundestagswahl hieß es: Keine Steuererhö- Wirtschaftspolitik, die dafür sorgt, daß nicht in erster hungen für die deutsche Einheit. Nachher kam die Linie Arbeitslosigkeit, sondern Investitionen finan- ziert werden. Steuerlüge mit dem dicken Steuererhöhungspaket. Ich danke Ihnen. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Keine Zei tung wird das schreiben!) (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE — Dietrich Austermann [CDU/ Vor der Bundestagswahl wurde von der Bundesregie- CSU]: Märchen-Maier war das wieder!) rung heftig dementiert, daß die Mehrwertsteuer stei- gen soll, um die Vermögensteuer zu senken. Herr Geißler hatte ja recht: Mehrwertsteuer rauf und Ver- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat mögensteuer runter, das ist schlimmer als der Flug- der Kollege Jochen Borchert das Wort. benzinskandal. Jetzt ist genau das eingetreten.

Seien Sie vorsichtig m i t Dementis; sonst wird Ihre Steuerlüge zum Dauerschwindel. Jochen Borchert (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese von der SPD bean- (Beifall bei der SPD — Dr. Kurt Faltlhauser tragte Aktuelle Stunde ist reines Wahlkampftheater [CDU/CSU]: Kein Mensch schreibt das, so und der erneute Versuch einer Panikmache. Die abgestanden ist es!) Koalition plant keinen Sozialabbau; ein Haushalts- Auch eineinhalb Jahre nach der Herstellung der sicherungsgesetz wird es nicht geben; deutschen Einheit hat die Bundesregierung die Finan- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: So ist zen des Staates nicht im Griff. Deutschland erfüllt im es!) Moment nicht einmal die Voraussetzungen für den eineinhalb Jahre nach der Wiedervereinigung und Eintritt in die europäische Währungsunion den damit verbundenen finanziellen Anstrengungen (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben den ist der Haushalt solide finanziert. Vertrag nicht gelesen!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und droht in Europa vom Musterschüler zum Sitzen- ordneten der F.D.P. — Lachen bei der SPD) bleiber zu werden. Heute werden von der SPD die Schulden von Bund und Ländern wieder in einen Topf geworden, um (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Horrorzahlen zu produzieren. Aber die Prognosen der Dieses finanzpolitische Chaos der Bundesregierung SPD haben noch nie gestimmt. - darf so nicht weitergehen. Wir fordern Sie auf: (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Immer!) Erstens. Das Tricksen und Täuschen muß ein Ende Heute beklagt die SPD die Verschuldung des Bun- haben. Die Wahrheit über die Staatsfinanzen muß auf des. Aber im Vermittlungsausschuß blockierte sie die den Tisch, und zwar endlich einmal vor den Hilfe für die neuen Länder und unternahm alle Wahlen. Anstrengungen, um die Lasten des Bundes weiter zu erhöhen. Zur Finanzierung schlug sie im Vermitt- (Beifall bei der SPD — Dr. Renate Hellwig lungsausschuß vor, weiter Schulden zu erhöhen, und [CDU/CSU]: Im Saarland! — Hans-Joachim bezeichnete nicht ausgeschöpfte Kreditermächtigun- Fuchtel [CDU/CSU]: Ein Wort zum Saar gen als finanzielle Reserven, die der Finanzminister land!) auf der hohen Kante habe. Zweitens. Die Bundesregierung muß endlich ler- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen, mit dem Geld der Steuerzahler sparsam umzuge- hen. Dazu gehört vor allem auch der Stopp des Frau Kollegin, damit hat die SPD den letzten Rest Jägers 90. Statt eines einzigen Jägers 90 ließen sich finanzpolitischer Glaubwürdigkeit verspielt. 1 000 Sozialwohnungen bauen. Deswegen bedauere (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der ich es sehr, daß der Bundesfinanzminister auf dem Bau SPD) des Jägers 90 beharrt. Frau Kollegin Matthäus-Maier fordert die Rück- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ein guter nahme der Unternehmenssteuerreform. Herr Kollege Minister! Ein hervorragender Minister! Der Roth beklagt, daß die Bundesrepublik ein Hoch- beste Minister, den wir haben!) steuerland ist. Herr Lafontaine regiert im Saarland im vierten Jahr nacheinander mit einem verfassungswid- Drittens. Zum Sparen gehört außerdem, daß nicht rigen Haushalt weiter Geld für Steuersenkungen für Spitzenverdie- ner und Großunternehmen aus dem Fenster geworfen (Zurufe von der SPD: Die anderen auch!) wird. 10 Milliarden DM Steuerverringerung durch die und will jetzt den finanzpolitischen Saubermann spie- Senkung des Spitzensteuersatzes haben Sie angekün- len. 6786 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Jochen Borchert Das Ganze erinnert an Brandstifter, die anschlie- Mit dem Haushalt 1992 setzt die Bundesregierung ßend die Feuerwehr kritisieren. ihre sparsame Haushaltsführung fort. Der Bundes- haushalt ist mittelfristig solide finanziert. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU — Joachim Poß Die SPD hat jeden Anspruch verloren, als seriöser und [SPD]: Was sagen Sie denn zu Herrn konstruktiver Kritiker der Finanzpolitik ernstgenom- Köhler?) men zu werden. Der Bund ist mit dem Haushalt 1992 weiter auf dem Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster Red- dringend notwendigen Konsolidierungskurs. ner hat der Kollege Dr. Dietmar Keller das Wort. (Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Der wartet auf telefonische Anweisungen Die strikte Ausgabendisziplin wird mittelfristig fortge- von Gysi!) führt. Die im Finanzplan vorgezeichnete Ausgaben- linie — mit Ausgabensteigerungen von rund 2 % — (PDS/Linke Liste): Die brauche wird bis 1995 fortgeführt. Dies ist eine klare Weichen- Dr. Dietmar Keller ich nicht; ich weiß, was ich sage, Herr Weng. — stellung für eine solide Finanzpolitik. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Un- Die Rückführung der Nettokreditaufnahme des sere Bücher liegen offen", sagte der Bundesfinanzmi- Bundes ist ein positives Signal für die Kapitalmärkte. nister anläßlich der zweiten Beratung des Bundes- Der Eckwertebeschluß vom November 1990 sah für haushalts 1992 Ende November 1991. 1991 eine Nettokreditaufnahme des Bundes von höch- Für eine schonungslose Bestandsaufnahme der stens 70 Milliarden DM vor. Die SPD hat damals finanziellen Situation sowie für politische Entschei- prognostiziert, es würden wesentlich mehr. Wir haben dungen über Sparmaßnahmen und über eine Begren- im Ist mit 52 Milliarden DM abgeschlossen. zung der Zuwachsraten der öffentlichen Haushalte (Widerspruch bei der SPD) plädierte am vergangenen Wochenende der „Opposi- tionspolitiker" Lambsdorff. Zudem forderte der In diesem Jahr wird die Kreditaufnahme auf rund F.D.P.-Vorsitzende dazu auf, die sogenannten Neben- 45 Milliarden DM weiter gesenkt. Dies macht — ne- haushalte nach Einsparmöglichkeiten zu durchfor- benbei bemerkt — 1,5 % des Bruttosozialprodukts sten. Gleichzeitig erging an den auch von seiner aus. Das ist — trotz der historischen Aufgabe der Bundestagsfraktion gestützten Finanzminister die Wiedervereinigung — weniger als 1982, im letzten dringende Bitte, klarzumachen, welche Schlußfolge- Jahr der SPD-Regierung. Damals betrug die Neuver- rungen er jetzt aus dieser Lage zieht. schuldung 2,2'% des Bruttosozialprodukts. Schließlich blieb es dem — Sie gestatten, daß ich (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Na, na! — Franz-Josef Strauß zitiere — „Riesenstaatsmann" Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sagen Sie, wo Möllemann vorbehalten, zu einer drastischen Trend- Sie sparen wollen!) wende aufzurufen und ein als „Leistungsgesetz Moratorium" getarntes Haushaltssicherungsgesetz Eine Halbierung der Nettokreditaufnahme auf zu fordern, das in seinem Kern drastische Einschnitte- unter 25 Milliarden DM bis 1995 bleibt unser Ziel. bei den Sozialleistungen enthalten sollte. (Detlev von Larcher [SPD]: Haben Sie gele Das Dementi folgte zwar auf dem Fuße, aber es sen, was Herr Lambsdorff gesagt hat?) wirkte matt und wenig glaubwürdig. CDU-Generalse- kretär Rühe warf dem Wirtschaftsminister unnötige In den 70er Jahren hat die SPD Jahr für Jahr mehr Verunsicherung der Bürger vor, ohne jedoch im Kern Schulden im Bundeshaushalt aufgenommen, um und jenseits rhetorischer Floskeln und Nebelkerzen damit Gegenwartskonsum, d. h. Wahlgeschenke der Kürzungen bei Sozialleistungen abzulehnen. Die SPD, zu finanzieren. Bundesregierung erklärte, ein Haushaltssicherungs- (Widerspruch bei der SPD) gesetz sei nicht in Vorbereitung. Ist es abwegig, an dieser Stelle zu fragen: Ist ein solches Gesetz nur Wir nehmen heute Kredite auf, um damit den Aufbau derzeit nicht in Vorbereitung? Denen, die mir Unter- der neuen Bundesländer zu finanzieren. stellungen vorwerfen, sei geraten, sich daran zu erinnern, daß es auch einmal hieß, die Einheit Als die SPD regierte, hat der Staat Schulden aufge- Deutschlands könne man aus der Portokasse finanzie- nommen, weil wir über unsere Verhältnisse gelebt ren, es werde keine Steuer- und Abgabenerhöhungen haben. Heute nehmen wir Kredite für Investitionen in geben, und in den neuen Ländern würden innerhalb die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland auf. weniger Jahre blühende Landschaften entstehen. (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei Worum geht es im Kern? Die Bundesregierung der SPD) bekommt die Kosten der von ihr politisch so gewollten Einheit nicht in den G riff. Bis Ende 1993/94 werden Dazu gehören auch die Kredite der Treuhandanstalt sich die Gesamtschulden der Treuhand, die Schulden und des Kreditabwicklungsfonds. Der Kapitalbedarf des Kreditabwicklungsfonds und die Altschulden der beider Bereiche ist in der mittelfristigen Finanzpla- Wohnungswirtschaft auf rund 400 Milliarden DM nung berücksichtigt. summieren. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Warum warnt Die Nettokreditaufnahme von Bund, Ländern und denn dann die Bundesbank?) Gemeinden wird in diesem Jahrhundert 188 Milliar- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6787

Dr. Dietmar Keller den DM betragen — nach 167 Milliarden DM im Jahr Die Diskussionen der letzten Tage dienten der 1991. ideologischen Vorbereitung massiver Kürzungen bei den Sozialgesetzen. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wieso (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Von Ideo- redet der zu den Finanzen, obwohl er früher logie versteht er etwas!) Kultusminister war?) Das immer offenere Eingeständnis der Lage der Die Zinszahlungen der öffentlichen Hand werden von öffentlichen Haushalte seitens einzelner Koalitions- 99 Milliarden DM im Jahr 1991 auf voraussichtlich politiker soll die Fortsetzung der Umverteilung von 176 Milliarden DM im Jahr 1995 steigen. Die Altla- unten nach oben legitimieren und absichern. Statt stensanierung wird ebenfalls mit mehreren Milliarden endlich einmal ernsthaft darüber nachzudenken und DM zu Buche schlagen, ganz zu schweigen von den zu verhandeln, wie die massiven Finanzierungspro- Kosten, die eine wie auch immer geplante Reform der bleme des Einigungsprozesses sozial gerecht gelöst Bundesbahn nach sich ziehen wird. 1995 wird das werden können, wahrscheinlich 2,3 Bil- Defizit der öffentlichen Hand (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nicht der lionen DM be tragen. Einigungsprozeß, sondern daß ein Saustall Es ist verständlich, daß angesichts dieses Szenarios hinterlassen worden ist, kostet so viel einigen Koalitionspolitikern buchstäblich die Düse Geld!) geht. Der F.D.P.-Vorsitzende gebärdet sich wie wäh- statt über eine einkommensabhängige Ergänzungs- rend der letzten Wochen der sozialliberalen Koalition abgabe, über eine Arbeitsmarktabgabe für besser und mimt den finanzpolitischen Oppositionsführer. Verdienende, Selbständige und Beamte und über eine Vielleicht folgt er seinem Vorgänger Genscher und Investitionshilfeabgabe für die warenproduzierenden beglückt den noch amtierenden Bundeskanzler eben- Gewerbe zu diskutieren, ist die Bundesregierung falls mit einem Wendebrief. bestrebt, den Reichen und gut Verdienenden weitere Steuergeschenke zuzustecken. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Wo ist der Lambsdorff? Den wollen wir auch mal hören! Die PDS/Linke Liste kennt ebenso wie der Parla- Der redet über diese Themen immer nur in mentarische Staatssekretär im Bundesarbeitsministe- der „Bild"-Zeitung!) rium keine sozialen Leistungen, die Kürzungen ver- tragen, ohne so gleich andere Ansprüche auszulösen. Die Ausführungen des Wirtschaftsministers sind der Wir stimmen Herrn Lambsdorff zu und fordern eine Versuch, die Bundesbürger allmählich mit der Aus- schonungslose Bestandsaufnahme der Aufgaben des sicht auf Kürzungen bei den Sozialleistungen vertraut Bundes, und wir hoffen mit dem Wirtschaftsminister, zu machen und sie schließlich mit der Feststellung zu daß der Jäger 90 nicht kommen wird. beruhigen oder, besser gesagt, zu ködern, man habe Am Wochenanfang über die Presse verbreitete nur den Wildwuchs beseitigt, die soziale Sicherung in Durchhalteappelle des CDU-Fraktionsvorsitzenden ihrem Kern jedoch nicht angetastet. Ich erinnere nur wirken wie das Pfeifen im dunklen Wald. daran: Auch von der Finanzierung der Einheit aus der Portokasse bis zum Solidaritätszuschlag und zur Erhö- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Herr Kollege Kel- hung der Sozialversicherungsabgaben war es nur ein - kurzer Weg. ler, kommen Sie bitte zum Schluß. Wir sind in der Aktuellen Stunde, und da ist die Redezeit nach fünf (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: „Blü Minuten zu Ende. hende Landschaften"!) Kaum einen Monat nach Verabschiedung des Steuer- Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- änderungsgesetzes ist der Wirtschaftsminister schon tin, ich bin am Ende. dabei, die vom Finanzminister im Bundesrat angekün- Den Offenbarungseid wird diese Bundesregierung digte weitere Erhöhung des Kindergelds zurückzu- nach dem 5. April leisten müssen. nehmen und damit den nach unserer Ansicht sowieso (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dr. Kurt faulen Kompromiß zwischen Bund und einigen Län- Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist der zeitliche dern nach Kräften auszuhebeln. SED-Zuschlag!) In diesem Frühjahr wird das Bundesverfassungsge- richt darüber entscheiden, ob der steuerfreie Sockel Vizepräsidentin Renate Schmidt: Dies gilt für alle. bei der Einkommensteuer nicht zu niedrig angesetzt ist. Eine Erhöhung des Freibetrags um nur 100 DM Jetzt hat der Kollege Dr. Wolfgang Weng das würde den Bund jährlich 750 Millionen DM kosten. Wort. Eine Angleichung an den Grundfreibetrag für die Sozialhilfe würde eine Verdoppelung bedeuten und Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Frau Prä- den Bund jährlich 40 Milliarden DM kosten. sidentin! Meine Damen und Herren! Die Presseland- Da die Bundesregierung gewillt ist, den Unterneh- schaft kommt ja seit den bekannten Äußerungen aus men weitere Steuergeschenke zu machen, werden der Bundesregierung über notwendige Einsparungs- sowohl Steuer- und Abgabenerhöhungen als auch maßnahmen der öffentlichen Haushalte nicht mehr Kürzungen bei sogenannten Leistungsgesetzen fol- zur Ruhe, und der Bundeswirtschaftsminister steht wie gen, die vor allem die einkommensschwachen Haus- oft im Mittelpunkt des Interesses. halte überproportional belasten werden. (Lachen bei der SPD) 6788 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Wer sich aber seine tatsächlichen Äußerungen Denken Sie auch daran, daß man usprünglich der ansieht, erkennt, daß sie wie häufig überinterpretiert Überzeugung war, bei der Überführung der ostdeut- worden sind. schen Wirtschaft von der Staats- in die Privatwirtschaft am Schluß in der Bilanz (Lachen bei der SPD) werde die Treuhandanstalt schwarze Zahlen schreiben, während man heute eher Wer genau analysiert, was er gesagt hat, kann keine von 250 Milliarden als 200 Milliarden DM Schulden- sehr großen Unterschiede zwischen den Äußerungen last am Ende der Abwicklung ausgehen muß. von Jürgen Möllemann und dem finden, was auch die Finanzsprecherin der SPD-Fraktion gestern öffentlich (Zuruf des Abg. Detlef von Larcher [SPD]) erklärt hat, daß nämlich die Staatsverschuldung auf Aber es sind interessanterweise dieselben Politiker, Grund der Gesamtfinanzlage eingeschränkt werden insbesondere der Opposition, die einerseits diese muß, daß der Staatsanteil wieder sinken und daß Schuldenlast beklagen und andererseits in jedem gespart werden muß. Einzelfall hohe Ausgabeforderungen an die öffentli- Das im politischen Schlagabtausch Übliche findet chen Hände und gerade in Richtung auf die Treu- allerdings auch jetzt wieder statt. Es wird zwar richtig handanstalt stellen. Wer hier praktisch eine Verstaat- analysiert, aber weder die Handlungsvorschläge der lichung der Ostwirtschaft verlangt, würde in der Opposition noch die mehr oder weniger wohlmeinen- Konsequenz die öffentlichen Haushalte ruinieren; und den Äußerungen aus Koalitionskreisen — ich sehe das wird ja von seiten der SPD gefordert. hier gerade den Kollegen Geißler sitzen — lösen das Ich wünsche den Politikern der Koalition und vor Problem. allem den Mitgliedern der Bundesregierung, die in Auch wenn die tatsächliche Belastung durch die ihrer Analyse die Situation richtig bewerten, die deutsche Einheit bei Beginn des Einigungsprozesses erforderliche Kraft, dieser Situation bei der Aufstel- absehbar gewesen wäre, lung des Bundesetats 1993 gerecht zu werden. Ein Haushaltssicherungsgesetz, in welcher Form auch (Detlev von Larcher [SPD]: War!) immer, sollte nur in einer nicht voraussehbaren Son- wäre ein anderer als der beschrittene Weg nicht dersituation erwogen werden; es ist sonst eher ein möglich gewesen, was die Bundesseite angeht. Signal der politischen Schwäche; denn es bedeutet, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: So viele Feh daß den Notwendigkeiten nicht in geordneten Haus- ler hätte m an nicht machen müssen!) haltsverfahren Rechnung getragen wird. Daß unsere dringenden Appelle an die westlichen Wenn man das erfindet, Frau Matthäus-Maier, und Bundesländer und an die westlichen Gemeinden, der dann auch behauptet, dann muß man es eigentlich gesamtstaatlichen Situation durch sparsame Haus- auch beweisen. Beweisen können Sie es natürlich haltsführung Rechnung zu tragen, ungehört verhall- nicht, daß es solche Pläne gebe. Mir sind solche Pläne ten, ist allgemein bekannt. Das ist ja ein parteiüber- nicht bekannt, und die Bundesregierung erklärt ja greifender Vorwurf, und er trifft natürlich die SPD mit, auch, daß es keine solchen Pläne gibt. Frau Kollegin Matthäus-Maier; denn die SPD-geführ- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ihnen wird ten Bundesländer im Westen und die SPD-geführten das nicht erzählt! —Vorsitz : Vizepräsident Gemeinden im Westen, die in der Gesamtauflistung, Dieter-Julius Cronenberg) die Sie gestern vorgestellt haben, enthalten sind, - haben hier wirklich genauso ein Fehlverhalten an den — Aber Ihnen! Tag gelegt wie die in anderer Weise geführten. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Deswegen Wer Sparsamkeit anmahnt, müßte in der Konse- sind Sie hier der Redner und nicht der Möl- quenz auch sagen, welchen Personengruppen und in lemann!) welchem Umfang er staatliche Zuweisungen entzie- Kein Mensch wünscht oder fordert den Ausstieg aus hen will. Da wäre dann ein einstimmig zustande dem Sozialstaat. Wer allerdings den Hinweis darauf, gekommenes Zahlenwerk wünschenswert statt nur daß für zusätzliche Sozialleistungen im Augenblick einiger Schlagworte, die einer seriösen Prüfung nicht kein Spielraum gegeben ist, als Sozialabbau dekla- standhalten. riert und entsprechend anprangert, der hat ganz Lassen Sie mich auf die positiven Fakten des sicher den Ernst der Situation nicht erkannt. Bundeshaushalts verweisen. In der Abrechnung des Bei der SPD hat man sowieso den Eindruck, sie Jahres 1991 wurden rund 10 Milliarden DM Schulden warte nur auf tatsächliche Einsparvorschläge, um weniger aufgenommen, als ursprünglich geplant und diese dann vehement in bekannter populistischer konzipiert gewesen war. Und die Steigerungsrate des Weise zu bekämpfen. Bundeshaushalts 1992 mit weniger als 3 % gegenüber dem Soll von 1991 ist sicher maßvoll. Ich glaube nicht, (Beifall bei der F.D.P.) daß man die Ausgaben unter diesen Stand hätte Von ihr kann die Koalition ganz sicherlich keine Hilfe drücken können. erwarten. In der Sache wäre es allerdings wünschens- Was wie ein Damoklesschwert über uns hängt, sind wert, wenn die Bundesregierung mit einer Stimme die zunehmenden Risiken, die vor allem durch die spräche und wenn man den als richtig erkannten Weg Wirtschaftssituation in Osteuropa drohen, direkt in der Koalition mit konsequenten Vorgaben gemein- bezüglich der neuen Bundesländer, indirekt bezüg- sam, in Geschlossenheit beschreiten würde. lich der Bürgschaften, die wir da übernommen haben Vielen Dank. und übernehmen mußten und denen der Bundesetat künftig Rechnung tragen muß. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6789

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- Weiterer Zuruf von der SPD: Wann spricht teile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatsse- Graf Lambsdorff?) kretär Carstens. Sie können das ja etwas leiser tun. Aber zur Kritik (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Ich besteht nun wirklich kein Anlaß. dachte, Staatssekretär Köhler käme heute einmal zu uns! Er ist doch der Veranlasser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dieser Diskussion! — Ingrid Matthäus-Maier ordneten der F.D.P.) [SPD]: Wo ist denn der Herr Köhler?) Schauen Sie sich die nationalen und internationalen Finanzmärkte an. (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das hat Parl. Staatssekretär beim Bun- Manfred Carstens, Herr Köhler gemacht! Deswegen hat er so desminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine geredet!) verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen Zweifel, was auch immer die SPD sagt: Die Finanz- Sie reagieren übereinstimmend, d. h. sie vertrauen politik des Bundes ist auf Kurs, der konsequenten Politik der Bundesregierung. Das (Lachen bei der SPD) trifft auch auf die deutschen Sparbuchinhaber zu. Der langfristige Zinssatz tendiert eher nach unten, und und die Finanzpolitik des Bundes wird auf Kurs zwar schon seit geraumer Zeit. bleiben, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aber der (Detlev von Larcher [SPD]: Auf welchem Spareckzins ist eine Katastrophe!) Kurs? Schlingerkurs!) auf einem soliden Kurs, wie das schon seit den 80er Das heißt, daß der Kapitalmarkt nicht überlastet ist, Jahren der Fall ist. Daran gibt es wirklich keinen (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Auch da Zweifel. sagt Köhler etwas anderes!) (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Und sondern es schafft, die Kreditmarktmittel aufzubrin- warum sagt Herr Köhler etwas anderes? — gen. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Herr Köh ler hat nur von „Gefahren" geredet! Lesen (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Jawohl!) Sie einmal die Rede nach! — Rudi Walther Das liegt natürlich sehr daran, daß wir die Ansätze bei [Zierenberg] [SPD]: Ich habe sie! Das war der Kreditaufnahme nun schon zum zweiten- und genau das Gegenteil dessen, was Herr Car drittenmal deutlich unterschreiten, was zur Pflege des stens erzählt!) Kapitalmarkts beiträgt. Die vor der letzten Bundestagswahl von der Bun- desregierung festgelegten Eckwerte zur Finanzie- Der Kurs der D-Mark gegenüber ausländischen Währungen ist absolut stabil. rung der deutschen Einheit sind bis zum heutigen Tag nicht nur eingehalten, sondern deutlich eingehalten (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist der worden. Waigel-Bonus! — Rudi Walther [Zierenberg] - (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Was ist denn [SPD]: Deswegen steigt der Dollar dau- „deutlich eingehalten "? — Ingrid Matthäus ernd!) Maier [SPD]: Das sieht Frau Breuel aber Auch das ist ein deutliches Zeichen für die Einschät- anders!) zung der D-Mark im Ausland. Das hängt in erster Linie Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die SPD damit zusammen, daß wir schon seit 1982/83 einen diese Eckwerte damals als geschönt bezeichnet hat. Stabilitätskurs (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das sind sie (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das glaubt auch!) doch kein Mensch!) Wenn wir diese nach Ihrer Meinung geschönten mit einer strikten Ausgabenbegrenzung fahren, Eckwerte nicht nur einhalten, (Joachim Poß [SPD]: Und mit viel Umvertei- (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Also, was lung, mit Steuersenkung für Millionäre!) ist denn nun mit den Äußerungen von Herrn Köhler?) die es nun allerdings durchzuhalten gilt. Dazu gehört sondern deutlich unterschreiten, eben eine Politik, wie wir sie machen: konsequent, durchdacht und kraftvoll. Ansonsten sind derlei (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Darüber Zuwachsraten nicht durchzuhalten. reden wir doch gar nicht! Wir reden über Herrn Köhler! Das ist eine Ablenkungsdis- Es ist erforderlich, daß die Finanzpolitik konsequent kussion! — Weitere Zurufe von der SPD) fortgesetzt wird. Wir haben den Haushalt für 1992 verabschiedet. Uns allen ist klar: Sollte es zu Nachbe- verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dann willigungen kommen müssen, so sind diese ohne eine ist das doch kein Anlaß zur Kritik und zum Tadel, Erhöhung der Neuverschuldung zu finanzieren, z. B. sondern ein Anlaß, Lob auszusprechen. durch Umschichtungen in den Haushalten, ohne (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wo ist denn gesetzliche Eingriffe. Unser Vorhaben, 1993 und 1994 Herr Köhler? — Rudi Walther [Zierenberg] zu einer weiteren Reduzierung der Neuverschuldung [SPD]: Warum ist Herr Köhler nicht hier? — zu kommen, wird umgesetzt, so daß wir dann beim 6790 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Parl. Staatssekretär Manfred Carstens Haushalt für 1995 bei weniger als 25 Milliarden DM eine gesamtstaatliche Verpflichtung, die es dort ab Neuverschuldung angekommen sein werden. 1995 zu übernehmen gilt; denn ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich im Ausschuß Deutsche (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das sind ja Einheit als Vertreter des Finanzministeriums immer alles Sprechblasen! — Rudi Walther [Zieren wieder gefragt worden bin, wo wir mit den Überschüs- berg] [SPD]: Herr Köhler weiß das besser!) sen bleiben wollten, die sich aus der Veräußerung der Diese Ergebnisse werden nicht von allein erzielt, Vermögenswerte in der ehemaligen DDR ergeben sondern erforderlich ist, daß bestehende Leistungen würden. immer wieder neu auf ihre Berechtigung überprüft (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Das hat werden müssen. Wir haben das jetzt gerade beim doch die F.D.P. immer gesagt! Herr Lambs- letzten Paket, das auch im Bundesrat verabschiedet dorff hat den Stuß auch erzählt!) wurde, bewiesen. Ich darf nur an die Strukturhilfen für die alten Bundesländer erinnern, die wir abgebaut Nun haben wir diese schwere Aufgabe übernom- haben, men, und wir werden auch im Rahmen unserer Möglichkeiten dafür sorgen, daß die Treuhandbetrie- (Detlev von Larcher [SPD]: Den Ländern be in eine moderne Zukunft geführt werden. Die etwas wegnehmen und sie dann beschimp Kredite, die dort auflaufen, werden von der öffentli- fen, daß sie kein Geld haben!) chen Hand, ab 1995 zu bedienen sein. Daran kann um dieses Geld den neuen Ländern zur Verfügung zu kein Zweifel bestehen. stellen, die es viel dringender als die alten Bundeslän- Wir werden dafür sorgen, daß der Haushalt 1993 der benötigen. rechtzeitig aufgestellt wird. Wir werden dafür sorgen, daß die in den Eckwerten vorgesehenen Obergrenzen (Zustimmung bei der CDU/CSU) bei der Kreditaufnahme unterschritten werden. Neue Leistungen können nur in Betracht gezogen (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sehr werden, wenn gleichzeitig entsprechende Finanzie- gut!) rungsvorschläge auf dem Tisch liegen. Hierzu ist dann kein Haushaltssicherungsgesetz notwendig. Viel- Wir werden dafür sorgen, daß die Ausgabenzu- mehr ist erforderlich, bei jeder Ausgabe jedesmal neu wächse, die wir uns vorgenommen haben, nicht über- das Maß festzulegen, um insgesamt mit einer Ausga- schritten, sondern, wenn möglich, unterschritten wer- den. benanstiegsobergrenze um 2 % den Haushalt abzu- schließen. Dafür haben wir bei CDU/CSU und F.D.P. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Noch bes- die notwendige Rückendeckung im Parlament. ser!) Meine Damen und Herren, die Verlängerung des Das alles wird dazu führen, daß wir 1992 und in den bestehenden Moratoriums über 1992 hinaus wäre aus folgenden Jahren den Kurs der Solidität exakt werden der Sicht des Bundesfinanzministeriums sehr zu fortsetzen können. Die Bevölkerung im Inland und das begrüßen. Ich habe heute auch feststellen können, Ausland können weiter Vertrauen zur Stabilität der daß sich der Bundesvorsitzende der F.D.P., Graf D-Mark und zur guten Politik der Bundesregierung Lambsdorff, hierzu positiv geäußert hat. haben. Danke schön. - (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Wo ist der denn eigentlich abgeblieben?) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Detlev von Larcher [SPD]: Wer soll das alles So kann man dieser Frage, nachdem es auch entspre- glauben?) chende Äußerungen aus der Union gibt, dann wohl näher treten. Ich will durchaus zugeben, daß wir in den Jahren Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- 1993 und 1994 auch Risiken zu verkraften haben teile ich dem Abgeordneten Ottmar Schreiner das werden. Wort. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aha! Sie nähern sich der Wahrheit!) Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- Der Sprecher der CDU/CSU-Haushaltsgruppe, Kol- leginnen und Kollegen! Eine Anmerkung zu Herrn lege Borchert, hat schon auf den Kreditabwicklungs- Borchert, der die Glaubwürdigkeit der Finanzpolitik fonds hingewiesen, den nicht wir uns haben einfallen des saarländischen Ministerpräsidenten mit dem Hin- lassen, sondern der in erster Linie aus der Umstellung weis auf den verfassungswidrigen Landesetat im von Mark (Ost) auf D-Mark und aus der Übernahme Saarland anzweifeln wollte. von Krediten aus dem letzten DDR-Haushalt resul- tiert. Hierfür haben wir im Haushalt 1992 und in der (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Das sagt der mittelfristigen Finanzplanung den Bundesanteil ste- Landesrechnungshof!) hen. — Ja, das ist zutreffend. — Herr Kollege Borchert, Sie Des weiteren hat der Bund die Zinsen, die aus dem wissen ebenso gut wie ich, daß bereits in den frühen Fonds Deutsche Einheit resultieren, in die Haushalte 60er Jahren der damalige saarländische Ministerprä- bzw. in die mittelfristige Finanzplanung eingestellt. sident Dr. Roeder Was die großen Positionen angeht, bliebe als Risiko, (Detlev von Larcher [SPD]: War der auch das Defizit bei der Treuhandanstalt. Aber es ist wohl SPD?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6791

Ottmar Schreiner in einem ersten Saarmemorandum auf die überpro- Das ist seit zwei Jahren die zentrale Finanzstrategie portionale Verschuldung des Saarlandes wegen der dieser Bundesregierung. damals bereits beginnenden Montanlasten, die das (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Fragen Land zu tragen hatte, hingewiesen hatte. Sie wissen Sie einmal den Kollegen ebenso gut wie ich, daß das Saarland im Vergleich der Roth!) westlichen Bundesländer durchaus einen Mittelwert Nun frage ich Sie, wie Sie eigentlich Solidarität hätte, wenn es die besonderen Montanlasten nicht (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist für die ein gegeben hätte. Fremdwort!) (Beifall bei der SPD) der Westdeutschen mit den Ostdeutschen organisie- Insofern ist Ihr Hinweis im günstigsten Fall reine ren wollen, Polemik; im ungünstigsten Fall ist es schlichtes Nicht- (Zuruf von der CDU/CSU: Das müssen Sie wissen, und das sollte man sich in Ihrer Funktion nicht gerade sagen!) erlauben dürfen. Wenn Sie fortgesetzt den Eindruck erwecken, die (Beifall bei der SPD) einen sind die Lastesel der Einheit, während sich die Die zweite Anmerkung. Zu den Ausführungen des anderen dabei goldene Nasen holen. Herrn Staatssekretärs zu reden ist in der Tat schwie- (Beifall bei der SPD) rig, weil es eine Aneinanderreihung von bloßen Flos- keln war. Substantiell war überhaupt nichts dabei. Ich sage Ihnen, diese Arbeitsteilung kann nicht funk- Deshalb erspare ich es mir, etwas dazu zu sagen. tionieren. (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Das sagen wir (Beifall bei der SPD) den SPD-Ländern auch immer!) Wir sind uns einig, Herr Kollege Weng — daran gibt Ihre Politik ist nicht nur rückwärtsgewandt, sie ist in es in der SPD-Fraktion keinen Zweifel —, daß auch vielerlei Bereichen auch wenig intelligent. wir einsparen wollen. Die Frage ist, wo und mit welchen Schwerpunkten eingespart werden soll. Wir (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Schreien haben eine Fülle von Vorschlägen zum Bereich des Sie doch nicht so!) Verteidigungsetats und zu anderen Bereichen ge- Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Bei den Ausflügen macht. von Herrn Möllemann in die Sozialpolitik kommt ja Ihre Einsparbemühungen — das ist ja nun wirklich wirklich nur Schlimmes heraus. Herr Möllemann hat das Erstaunliche in der Regierung durchsetzen können, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist gar (Zuruf von der F.D.P.: Herr Schreiner, kön- nicht so erstaunlich!) nen Sie nicht lesen?) — zielen ausschließlich auf die kleinen Leute, auf die daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Osten kleinen Geldbeutel ab. Das ist das zentrale Pro- wie im Westen drastisch beschnitten werden. Das ist blem. im Osten erst recht kontraproduktiv, zumal jedermann weiß, daß ein Teil der dortigen Arbeitsbeschaffungs- (Beifall bei der SPD — Diet rich Austermann maßnahmen im infrastrukturellen Bereich eingesetzt [CDU/CSU]: Wo denn? Das stimmt doch wird. Im Westen ist es geradezu töricht, weil finanz- nicht!) politisch überhaupt nichts eingespart wird. Vielmehr Der Vorschlag von Möllemann und anderen war, werden die Kosten in Richtung Finanzierung von Sozialleistungen — — Arbeitslosigkeit verlagert. Im übrigen wird das fälsch- licherweise auch als Subventionsabbau bezeichnet. (Zuruf des Abg. Dr. Heiner Geißler [CDU/ (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider! Lei- CSU]) der!) — Nicht nur der Vorschlag von Herrn Möllemann, Nun soll mir einmal einer sagen, welchen Sinn das Herr Kollege Geißler. Die Politik der Bundesregierung macht. Der einzige Sinn, den das ergibt, ist die bestand in den letzten zwei Jahren ausschließlich Gesichtspflege des Herrn Möllemann, die zu Lasten darin, die Sozialversicherungsbeiträge zu erhöhen, von Zehntausenden von Langzeitarbeitslosen geht, diejenigen Steuern zu erhöhen, die ins kalte Wasser der Arbeitslosigkeit geworfen (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Falsch!) werden. Das ist das Problem. die den Geldbeutel der kleinen Leute betreffen. (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der Gleichzeitig ist fortgesetzt — bis zur Stunde — die CDU/CSU) Rede Ein zweiter Punkt. Anstatt sich um das Vermitt- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sie lungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit zu küm- sagen die Unwahrheit!) mern, wäre Herrn Möllemann besser anzuraten, sich um die Abräumung der Beschäftigungshindernisse in von der Absenkung der Vermögensteuer nach dem Ostdeutschland zu kümmern. Da hätte er ein weites Motto: Krieg den Hütten, Friede den Palästen! Feld. Umkehr des Prinzips (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der CSU) F.D.P.) 6792 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Ottmar Schreiner Rückübereignung vor Entschädigung. Sie wissen, daß berg] [SPD]: Nichts gegen Herrn Köhler! Der dies eines der zentralen Investitions- und Beschäfti- macht keinen Wahlkampf!) gungshindernisse in Ostdeutschland ist. Da könnte Wenn Sie, Frau Matthäus-Maier, für a ll das beichten sich Herr Möllemann im Interesse der Menschen, im müßten, was Sie hier erzählen, kämen Sie vor dem Interesse von Investitionen und von mehr Beschäfti- 5. April 1992 nicht mehr aus der Kirche heraus. gung profilieren. Er könnte sich um eine aktive Sanierungspolitk der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Treuhand kümmern. Da hätte er weite Beschäfti- der F.D.P. — Lachen bei der SPD) gungsfelder. Statt dessen schleicht er sich in die Sie sind und Sie bleiben Weltmeister in der Verunsi- Sozialpolitik ein und richtet dort eine Konfusion nach cherung der Menschen und Tabellenletzter bei der der anderen an. Problemlösung. (Beifall bei der SPD — Dietrich Austermann Bei einer solchen Rede hilft nichts anderes, als die [CDU/CSU]: Wie ist eigentlich das Thema Kompetenz der Sozialdemokraten während ihrer der Aktuellen Stunde?) Regierungszeit immer wieder von neuem in Erinne- Ich sehe, daß bedauerlicherweise meine Redezeit rung zu rufen: zu Ende geht. (Detlev von Larcher [SPD]: Wir reden jetzt (Zuruf von der F.D.P.: Gott sei Dank!) von Ihrer Politik) Man könnte noch vieles zum Bereich der Pflegeversi- cherung sagen. Sie würde zu einer drastischen Entla- Rekordverschuldung, Rekordinflation, Massenar- stung der öffentlichen Haushalte führen; allein im beitslosigkeit, Ausverkauf der Sozialklassen. Lauter kommunalen Bereich zu einer Entlastung in Höhe von Negativrekorde. 10 Milliarden DM. In Bayern habe ich neulich die (Detlev von Larcher [SPD]: Über seine Politik dortigen aktuellen Zahlen gelesen und gesehen, wie kann er nicht reden! Da hat er nichts zu die Bezirke dort stöhnen. sagen!) (Zuruf von der CDU/CSU: Wie kommt der Unsere Politik dagegen: Erweiterung der sozialen denn nach Bayern?) Sicherheit plus Ordnung der Sozialkassen plus Stabi- Wenn die Regierungsfraktionen ihren Abgeordneten lisierung der Staatsfinanzen plus gleichzei tige Steuer- die Abstimmung freigeben würden, stimmten morgen reform zugunsten der Bürger plus Senkung der Sozial- 80 % der Bundestagsabgeordneten für einen vernünf- leistungsquote. Ohne diese Ergebnisse wäre die deut- tigen Kompromiß zwischen dem SPD-Vorschlag und sche Einheit viel schwieriger zu bewerkstelligen den Vorstellungen des Bundesarbeitsministers. gewesen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Morgen hätten wir hierbei eine Zustimmung von 80 % mit dem Ergebnis einer massenhaften Entlastung bei Wir können heute über Leistungen im Sozialbereich den kommunalen Finanzen. reden, die es zu Ihrer Regierungszeit noch nicht einmal gegeben hat. (Zuruf von der F.D.P.: Und wer zahlt? Die Barger!) (Joachim Poß [SPD]: Erblast!) - Ich will abschließend zusammenfassen: Ihre Politik Unsere Politik ist nicht auf sozialen Abbau aus, ist erkennbar weder intelligent noch phantasievoll, sondern auf soziale Treffsicherheit, den Maßstab der nicht einmal mehr konservativ, sondern nur noch Zukunft. Die Leistungen müssen bei denjenigen schlicht reaktionär. Mit dieser Regierung ist kein Staat ankommen, die sie benötigen. mehr zu machen. Für die Sozialkassen gilt: Daß die Rentenversiche- (Beifall bei der SPD) rungsbeiträge in den nächsten Jahren etwas steigen werden, ist nur für denjenigen eine Neuigkeit, der sich bisher noch nicht für diese Themen interessiert hat. Das Wort Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Immerhin hat unsere Politik bewirkt, daß wir die hat der Abgeordnete Fuchtel. niedrigsten Beitragssätze und die höchsten Schwan- kungsreserven seit den 70er Jahren haben. Das ist Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Präsident! eine sozialpolitische Leistung. Meine Damen und Herren! Herr Schreiner, der ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — zige Vorschlag zum Einsparen, den ich von Ihnen Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Das ist kenne, betrifft den Jäger 90, aber nicht einmal, son- wahr!) dern zehnmal. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Hundert Daß wir wegen der Sondersituation der deutschen Einheit bei der mal!) Arbeitslosenversicherung höhere Bei- träge haben, kann nur demjenigen aufstoßen, der von Einmal wirklich und neunmal auf Pump. Nach dem Solidarität nichts hält. bisherigen Debattenverlauf kann man eigentlich nur feststellen: Hier grüßt der Wahlkampf. Nichts ande- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — res. Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Je stärker die Produktivität von den Löhnen ordneten der F.D.P. — Rudi Walther [Zieren abweicht, um so länger werden die Sozialkassen den Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6793

Hans-Joachim Fuchtel Ausgleich erbringen müssen. Dies sollten sich auch Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr die Gewerkschaften einmal zu Herzen nehmen. Präsident! Meine Damen und Herren. Im Osten Deutschlands ist die Arbeitslosigkeit schlimmer als in (Zuruf von der SPD: Das erzählen Sie einmal der Krisenzeit der Weimarer Republik. Die öffentliche Ihrem Ulf Fink!) Verschuldung wächst inzwischen so stark an, daß die Die SPD hat die Gesundheitsreform die ganze Zeit Fachleute des Bundesfinanzministeriums über ein über gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Wir Haushaltssicherungsgesetz nachdenken oder im stil- haben wenigstens Teilleistungen hinbekommen. Die len Kämmerlein bereits darüber brüten. Beiträge sind jetzt bei 12,5 %. Sie betrügen ohne Reform mehr als 15 %. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wer sagt denn das?) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) — Wenn man nachfragt, streiten sie das natürlich ab. Das wäre für Arbeitnehmer und Arbeitgeber jedes Aber es wäre bitter nötig. Jahr eine Mehrbelastung in Höhe von 32,5 Milliarden DM. All dies beunruhigt den Bundeskanzler nicht son- derlich. Er ist sogar glücklich darüber, daß wir diese Trotzdem haben wir heute im Prinzip die gleiche Probleme jetzt haben; denn wir haben die deutsche Diskussion wie 1988. Einheit, lautet seine Dauerbotschaft. Ich habe aller- (Joachim Poß [SPD]: Zum Bischof hätten Sie dings den Eindruck, die Platte hat einen Sprung. Mit es in der Kirche aber nicht gebracht bei der der deutschen Einheit verstärkt sich der Eindruck, daß Rede!) sich Täuschung u nd Selbsttäuschung die Hand rei- Ich habe das noch einmal nachgelesen. Auch damals chen. wollten einige liberale Kollegen vor den Landtags- Ich war gestern in Stuttgart und Heidelberg und wahlen einige Bonbons spezieller Art an ihre Wähler- habe dort zur Kenntnis genommen, was ein CDU klientel verteilen. Teufelskreis ist. Er beginnt damit, daß der Kanzler vor (Ina Albowitz [F.D.P.]: Was? Soviel Geld sein wiedergewonnenes Volk tritt und verkündet, haben wir gar nicht!) man könne die deutsche Einheit im Vorbeigehen finanzieren: durch Steuermehreinnahmen auf Grund Aber, meine lieben Kollegen von der F.D.P., Sparsam- der guten Konjunkturlage, durch Umschichtungen im keit ist keine Erfindung der F.D.P.. Haushalt, durch Gewinne der Bundesbank. (Zurufe von der SPD: Aha!) Er erweist sich damit als Instinktpolitiker, der zwar Vielmehr konnte die Sozialleistungsquote durch den Kairos, den günstigen Moment für die nationale gemeinsame Koalitionspolitik enorm gesenkt werden. Frage erkennt, der aber den Moment der Wahrheit 1982 betrug sie 33,2 %, 1990 29,3 %. Dies sind vier verpaßt, nämlich vor ein zu diesem Zeitpunkt wirklich Prozentpunkte oder 95 Milliarden DM, die nicht aus- opferbereites Volk hinzutreten und zu sagen: Das ist gegeben werden mußten, weil es den Menschen die Botschaft der Stunde; ihr im Westen müßt besser geht. opfern, Eines wird mit der Arbeitnehmerpartei CDU/CSU (Beifall bei der SPD) - (Zurufe von der SPD: Oh!) und die im Osten müssen leiden, aber wir helfen euch auch in Zukunft nicht gehen: unüberlegte und unaus- dabei, daß ihr relativ schnell herauskommt. gewogene Eingriffe, schon gar nicht in der Familien- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Und ihr politik, dem Herzstück der Sozialpolitik. klatscht dann Beifall!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Diese Möglichkeit hätte bestanden. Was der Kanzler ordneten der F.D.P.) in diesem Moment verschenkt hat, ist wahrscheinlich Unsere Unternehmer wissen im übrigen, daß auch der gar nicht so schnell wiedergutzumachen. soziale Friede in der Sozialen Marktwirtschaft ein Herr Geißler, Sie haben heute in den Zeitungen den bedeutender Faktor ist. Eindruck erweckt, man könne auf die Solidarabgabe (Joachim Poß [SPD]: Das ist richtig! Ein Satz, verzichten. Ich glaube, Sie irren sich da. Die großen der stimmt!) Belastungen dieser finanziellen Herausforderung ste- Die Volkspartei Union steht für Ausgewogenheit hen uns noch bevor. und Ausgeglichenheit und wird diesen Kurs der Mitte Just in diesem Moment tritt Herr Teufel, Minister- gegen undifferenzierte Gießkannenpolitik genauso präsident von Baden-Württemberg, weiter durchsetzen wie gegen egoistische Interessen- lobbyismen, weil es allen nützt. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ein guter Mann!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) den Weg nach Karlsruhe an und bestreitet den Län- derfinanzausgleich. Damit wird der Eindruck er- weckt, als seien die Schwierigkeiten des Ländle nicht auf den „Spätheu" Filbinger-Filz zurückzuführen, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- sondern darauf, daß m an als Geberland den Koch von teile ich dem Abgeordneten Werner Schulz (Berlin) Lafontaine oder die Larmoyanz der Ossis bezahlen das Wort. müsse. Hier wird ein föderales Grundprinzip in Frage 6794 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Werner Schulz (Berlin) gestellt. Hier wird das Solidaritätsprinzip in Frage oder an einer in Wahlkämpfen ausufernden Phantasie gestellt. leiden. (Zuruf von der CDU/CSU: Verstehen Sie (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) überhaupt etwas vom Länderfinanzaus Das gleiche gilt im übrigen — ich sage das in aller gleich?) Deutlichkeit — auch für einige CDU-Kollegen in die- Ich hätte viel Verständnis dafür, wenn Biedenkopf sem Hause. oder Stolpe gegen diesen Länderfinanzausgleich geklagt hätten — das ist ja ursprünglich erwogen (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Nun mach' worden —; denn das ist das einzige, das mit der aber keine Sachen! — Joachim Poß [SPD]: deutschen Einheit und mit der Übernahme des Grund- Koalitionskrise!) gesetzes leider nicht gekommen ist. Lesefehler haben sich wohl vor allem bei der Jetzt wird in Deutschland der Ruf nach einem Lektüre des Interviews von Bundeswirtschaftsmini- Kassensturz laut. Man hat den Eindruck, Deutschland ster Jürgen Möllemann mit der „Berliner Zeitung" sei eine Pommes-Bude geworden oder ein Bauchla- eingeschlichen, auf das sich der SPD-Antrag vor allem den für „Möllemanische Bauchredner". bezieht. (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Du mußt (Anhaltende Zurufe von der SPD) etwas von Bananen erzählen! Das Niveau ist — Wir können ja eine Sammelbestellung machen. Ich dann komplett!) nehme die Angebote gerne entgegen. Ich verweise auf das Gutachten des Sachverständi- Dabei hat der Wirtschaftsminister nichts anderes genrates. Er hat im letzten Jahreswirtschaftsgutach- getan, als seine Pflicht in einer schwierigen politi- ten unmißverständlich dargelegt: Die Finanzpolitik schen Lage zu erfüllen. Er wies nämlich darauf hin, der Bundesregierung wählte den Weg, der von seiten der Interessengruppen den geringsten Widerstand (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Spitzen- erwarten ließ. Das bedeutet erstens, sie hat die öffent- steuersatzsenkung!) lichen Schulden in außerordentlicher Weise erhöht; daß derzeit äußerste Sparsamkeit notwendig ist, um 190 Milliarden DM im Moment und damit wesentlich den wirtschaftspolitischen Spielraum des Staates zu mehr, als sie ursprünglich ausgewiesen hat. Hier wird erhalten und negative Auswirkungen auf die Qualität ein enormes Finanzierungsdefizit deutlich, die gan- des Standortes Deutschland zu verhindern. zen Schattenhaushalte gar nicht mitgerechnet, die im Moment fast nicht mehr überschaubar sind. Es wäre sogar fahrlässig und unverantwortlich, dies jetzt zu unterlassen; denn es ist höchste Zeit, das (Ina Albowitz [F.D.P.]: Doch!) Bewußtsein für sparsamere Haushaltsführung zu Zweitens bedeutet diese Schuldenpolitik, die schärfen. Wenn ich die Debatte bis heute hin verfolge, Finanz- und Steuerpolitik zur Finanzierung der deut- kann ich feststellen: Wir sind uns fast alle einig. Hier schen Einheit schonte die höheren Einkommen. Die müssen sich alle an die eigene Nase fassen. Hauptlast war von den unteren Einkommensbezie- (Detlev von Larcher [SPD]: Besonders Herr hern zu tragen. Die Solidarität ist ohnehin auf den Möllemann!) Kopf gestellt. - — Ja, vielleicht; aber auch Sie. Ich komme noch Meine Damen und Herren, wir stimmen Herrn dazu. Köhler zu. So kann es nicht weitergehen. Eine grund- legende Korrektur der Finanzpolitik ist überfällig. Wir Wenn ich mir überlege, mit welchen Ausgabenwün- haben heute eine Große Anfrage zur Finanzpolitik schen ich als Berichterstatterin im Haushaltsausschuß eingebracht. Wir wollen endlich sehen, wie sich die vor allem von den Sozialdemokraten überflutet Bundesregierung einen Kurswechsel in der Finanz- werde, dann frage ich mich, ob die Beteuerungen, daß und Wirtschaftspolitik vorstellt. Wir werden in dieser etwas geändert werden muß — von Ihnen vor allen Frage zumindest an Schubkraft nicht nachlassen. Dingen —, nur Lippenbekenntnisse sind. (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ulrich (Beifall bei der F.D.P. — Ing rid Matthäus- Briefs [fraktionslos] — Dietrich Austermann Maier [SPD]: So eine solide Opposition gab [CDU/CSU]: Wir setzen unseren Kurs fort!) es noch nie!) Die Forderungen nach „mehr" werden weiterhin unverdrossen vorgetragen. Man weiß zwar, daß Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr gespart werden muß. „Aber bitte nicht bei mir, son- spricht die Frau Abgeordnete Ina Albowitz. dern bei allen anderen", heißt es in schöner Regelmä- ßigkeit. Konsequenzen aus der angespannten Finanz- situation werden meistens nur halbherzig gezogen. Ina Albowitz (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr Es ist nicht zu leugnen, daß wir derzeit zu viele geehrten Damen und Herren! Bevor die SPD ihre Schulden machen. Deshalb ist es nicht nur notwendig, nächste Aktuelle Stunde beantragt, sollten die Sozial- auf Grund der Verpflichtungen in den neuen Bundes- demokraten eine Sammelbestellung für Lesebrillen ländern und in Osteuropa neue Prioritäten zu setzen aufgeben; denn wer am vergangenen Wochenende — wie auch der Bundeskanzler betont hat —, sondern aus den Interviews von Bundesministern Pläne für gleichzeitig unvermeidbar, dafür an anderer Stelle einen Kahlschlag in der Sozialpolitik herausliest, muß Ausgaben einzusparen. So etwas ist nicht populär, schon an einem nicht zu unterschätzenden Sehfehler aber notwendig. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6795

Ina Albowitz Wir dürfen auch nicht mehr viel Zeit mit Wachrüt- Helmut Esters (SPD): Herr Präsident! Meine Damen teln verschwenden, sondern müssen uns aufs Handeln und Herren! Die Sparsamkeit, Frau Kollegin Albowitz, konzentrieren. Bei Ihnen, meine Damen und Herren ist sicherlich keine Erfindung der F.D.P. Dies weiß ich. von der SPD, bezweifele ich, ob dieses Bemühen Nur, vergessen Sie doch bitte nicht: Die dicksten jemals erfolgreich sein wird; Berge gab es, wenn Schulden gemacht wurden oder (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) werden mußten, immer mit den Liberalen. denn diejenigen, die am wenigsten Einsicht in die (Beifall bei der SPD) neue finanzpolitische Situation zeigen, sind mit Die Union wird sich noch daran gewöhnen müssen, Abstand die Sozialdemokraten. daß sie eine Zeit später von den selben Liberalen den (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Vorwurf der Erblast zu hören bekommt. Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der SPD — Ina Albowitz [F.D.P.]: Ihr finanzpolitisches Fundament für waghalsige, 1982 muß tief sitzen!) unkontrollierbare Ausgabenwünsche ist auf rieseln- Herr Kollege Fuchtel, denken Sie doch bitte einmal dem Sand gebaut. In diesem traurigen Wettbewerb an eines — bei allem polemischen Streit und bei aller stehen sich Bundes- und Länder-SPD in nichts unterschiedlichen Einschätzung der weltwirtschaftli- nach. chen Lage, von der wir abhängig sind und immer Ein Haushaltssicherungsgesetz gäbe es mit Sicher- waren —: Den Schuldenteil, den wir aus weltwirt- heit schon längst, wenn die SPD die finanzpolitische schaftlichen und konjunkturpolitischen Notwendig- Verantwortung tragen würde. keiten eingegangen sind -- mit Unterstützung der (Widerspruch bei der SPD — Zuruf von der Liberalen übrigens —, hat das Bundesverfassungsge- CDU/CSU: Sehr richtig!) richt für rechtmäßig befunden. Sie haben doch — Oh ja, meine Damen und Herren. Frau Matthäus, geklagt, und Karlsruhe hat uns gesagt: Die Finanz- Sie müßten es wissen. Wir beide wissen, daß Sie es politik in der historischen Situation war richtig. wissen müssen. Wenn der Kollege Weng uns sagt, wir sollten die Oskar Lafontaine macht im Saarland bereits vor, Personengruppen nennen, denen wir etwas wegneh- wie ein finanzpolitisches Chaos aussieht. Herr Schrei- men wollen, dann muß man doch sagen, Frau Albo- ner, Sie können noch so laut schreien. Es nützt nichts, witz: Wir dürfen nicht nur um Milliardenbeträge, wir die Wahrheit bleibt die Wahrheit. dürfen auch wieder einmal um Millionen feilschen. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der SPD — Zuruf der Abg. Ina Albowitz [F.D.P.]) Zu einer außerordentlich sparsamen Haushaltsfüh- rung müssen alle beitragen. Daß dabei jede staatliche Es geht nicht nur um Milliarden, sondern auch schon Leistung vorbehaltlos geprüft werden muß, ist wohl mal um Millionen, und dann würde ich als erstes den selbstverständlich; denn wenn wir gleich zu Beginn Teil nehmen, der davon herrührt, daß wir so überbe- der Diskussion Tabus errichten, kann diese Prüfung setzte Etagen auf der politischen Führungsebene der nicht gelingen. Ein Tabu bleibt selten allein. Bundesregierung haben. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Den Spitzen (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der - steuersatz nicht senken!) CDU/CSU) Natürlich befürwortet kein F.D.P.-Politiker und Es ist doch ein völliger Witz, wenn wir aus anderen keine F.D.P.-Politikerin eine Politik des sozialen Kahl- Gründen zur Finanzierung Steuern erhöhen müssen, schlags, die uns jetzt aus Wahlkampfgründen immer und gleichzeitig geht die Bundesregierung, die diese wieder unterstellt wird. Die F.D.P. ist keine Partei der Vorschläge macht, nicht mit gutem Beispiel voran. sozialen Kälte. (Beifall bei der SPD) (Widerspruch bei der SPD) Die von uns mitgetragenen umfassenden Leistungen Denn diese Überbesetzung der Führungsetage führt für die Betroffenen des Strukturumbruchs in den auch dazu, daß wir wer weiß wie viel mehr Stellen neuen Bundesländern sind ein Beweis dafür. Auch wir bewilligen müssen, nämlich für Leute, die denen wollen weder den derzeitigen Familienlastenaus- zuarbeiten. gleich noch die Verbesserung durch das Steuerände- (Zustimmung bei der SPD — Rudi Walther rungsgesetz in Frage stellen. [Zierenberg] [SPD]: Und für Dienstwagen!) Aber verantwortungsvolle Haushaltspolitik ist die Daran liegt es doch! Voraussetzung für eine gute Konjunktur und damit für Investitionen und Arbeitsplätze. Das ist sozialer als Herr Staatssekretär Carstens, ich weiß, daß Sie am eine unbedachte, kurzsichtige Finanzpolitik, die die liebsten den Bundeshaushalt in isolierter Betrach- Grundlagen unserer Wirtschaft bedroht. tungsweise nehmen; nur haben Sie selber dankens- werterweise schon darauf hingewiesen: Im Ausschuß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Deutsche Einheit ging es damals darum, wie die Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wie Sie sie zwischen 300 und 600 Milliarden aus den Einnahmen, dauernd machen!) die für die Treuhand erwartet wurden, wohl am besten verteilt werden konnten. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort (Zuruf von der CDU/CSU: Danach hatte die hat der Abgeordnete Helmut Esters. SPD doch gefragt!) 6796 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Helmut Esters — Ja, sicherlich. Wir haben geglaubt, die Regierung auch die finanzwirtschaftlichen Grundlagen für wei- wüßte mehr, weil sie doch über den Einigungsvertrag ter steigende Investitionen, Beschäftigungszuwächse verhandelt hatte. und Wohlstand bei intakter Umwelt in ganz Deutsch- (Zuruf von der CDU/CSU: Dann glauben Sie land gestärkt werden. uns jetzt doch auch!) Die Hauptgefahr für ein Mißlingen dieser Gratwan- Wir sind jetzt in der Situation, wo wir rund 270 Mil- derung liegt in einer Überforderung durch zu weit liarden DM in 1995 aus dem Bereich der Treuhand zu gesteckte Ansprüche an den Staat und an die Lei- erwarten haben, die vom Bund zu tragen sind und stungsfähigkeit der Wirtschaft. Wenn sie nicht auf ein nicht, wie Staatssekretär Carstens so schön sagt, vertretbares Maß zurückgeführt werden, besteht das gesamtstaatlich irgendwie zu verteilen seien. Risiko eines nicht nur kurzfristigen Abrutschens der (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Schulden! — Konjunktur; dann können auch die Chancen für die Widerspruch bei der CDU/CSU) weitere wirtschaftliche Entwicklung, für die Expan- sion in Gesamtdeutschland nicht genutzt werden. Da ahne ich schon Schlimmes. Da will er nämlich die Darauf wollte der Bundeswirtschaftsminister mit sei- armen neuen Länder in die Verantwortung ziehen, nen Äußerungen hinweisen. Er hat recht, und er hat und dies darf nicht geschehen. pflichtgemäß gehandelt. (Beifall bei der SPD) Die im Zuge der Herstellung der Einheit Deutsch- Der nächste Teil ist: Jeder von uns weiß doch, lands angestiegene Abgabenlast und die hohe staat- speziell bei den Verkehrspolitikern und bei den Haus- liche Neuverschuldung dürfen kein Dauerzustand haltspolitikern, welch schwierige Aufgaben im werden. Die solide Finanzpolitik, auf die der Kollege Bereich der deutschen Bundesbahn und der Reichs- Carstens eben schon richtigerweise hingewiesen bahn vor uns liegen. Wie soll es denn anders sein, als hat, daß — so die Gutachter — rund 165 Milliarden DM dann zusätzlich im Schuldenteil von uns übernommen (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Was, werden müssen? bitte? Was war das?) Nehmen Sie bitte noch eines zur Kenntnis: Wenn und die dadurch möglichen Steuersenkungen waren sich maßgebliche Mitglieder der Koalition und der es in hohem Maße, die nach 1982 den während der Bundesregierung außerhalb dieses Parlaments über 70er Jahre verschütteten wirtschaftspolitischen Hand- die Staatsverschuldung ernsthaft Gedanken ma- lungsspielraum wieder eröffnet hatten. Dies ist auch in chen, der jetzigen schwierigen Situation des vereinten (Zuruf von der CDU/CSU: Das machen sie Deutschland der richtige Weg. Davon sind wir zutiefst hier auch! — Gegenruf von der SPD: Lambs überzeugt. Dieser Weg darf jetzt auch nicht von denen dorff! In Pressekonferenzen!) in Frage gestellt werden, die davon durch mehr Arbeitsplätze und höhere Arbeitnehmereinkommen dann ist es nicht nur das Recht, sondern auch die profitiert haben. Pflicht der Opposition, dies im Parlament zur Sprache zu bringen. Allerdings sind wir enttäuscht, daß genau Im Jahreswirtschaftsbericht 1992 hat die Bundesre- diejenigen, die in den Wochenendkommentaren das gierung ihre Absicht bekundet, alle öffentlichen Aus- gaben — ich betone: alle öffentlichen Ausgaben! — alles von sich geben, - (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Sehr einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen wahr!) und dabei neue Prioritäten und Schwerpunkte zu setzen. Nichts anderes hat der Bundeswirtschaftsmi- dann, wenn es hier ansteht, nicht anwesend sind oder nister mit seinen Äußerungen gesagt. sein können. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Und den Spit- (Beifall bei der SPD — Dr. Heiner Geißler zensteuersatz senken!) [CDU/CSU]: Da hat er völlig recht! — Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Sie kneifen, — Frau Kollegin Matthäus-Maier, die Finanzierung feige! Kneifer sind das!) der deutschen Einheit kann nur auch Einsparungen an anderen Stellen ermöglicht werden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Dann f an hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Beck- an!) -gen Sie doch einmal mann das Wort. Ich wäre einmal interessiert daran, zu erfahren, wo denn die SPD-Fraktion ihre Schwerpunkte zu setzen Klaus Beckmann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- gedenkt. minister für Wirtschaft: Herr Präsident! Meine sehr (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Die Regie- verehrten Damen und Herren! In der Tat ist es so: Die rung ist zum Regieren da, Herr Staatssekre- Haushaltspolitik gleicht einer Gratwanderung. tär! ) (Rudi Walther [Zierenberg] [SPD]: Und wo ist Möllemann?) Ich höre immer nur: Jäger 90. Es müssen ein Dutzend Entwicklungsprogramme sein, die Sie meinen, aber Erstens. Die Verwirklichung der Einheitlichkeit der nicht ein einziges. Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet macht noch auf Jahre hinaus beträchtliche finanzielle (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wie finanzie- Anstrengungen zugunsten der neuen Bundesländer ren Sie denn die Spitzensteuersatzsen- notwendig. Zweitens. Gleichzeitig müssen gerade kung?) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6797

Parl. Staatssekretär Klaus Beckmann Meine Damen und Herren, das alles hat nichts mit Meine Damen und Herren, wenn man nachschaut, dieser künstlich aufgeblasenen Diskussion um einen wie es dort, wo Sie verantwortlich sind, aussieht, etwaigen Sozialabbau zu tun. (Zuruf von der SPD: Gut!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der dann halten Sie einen Vergleich sehr schlecht aus! CDU/CSU) (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wer im Glashaus Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen: Die Wirtschaft sitzt!) sagt uns immer wieder, daß die zu geringe Differenz Besonders laut rufen der ständige Katastrophenmel- zwischen ABM-Entgelten und Arbeitslohn am Markt der Lafontaine und der Wahlkämpfer Engholm. wirtschaftspolitisch kontraproduktiv ist. Zweitens. Wir haben der Wirtschaft im Interesse der Arbeitsplätze (Joachim Poß [SPD]: Machen Sie jetzt zufällig und zur Sicherung des sozialen Netzes versprochen, keinen Wahlkampf?) die Lohnnebenkosten nicht weiter zu erhöhen. Dazu Es ist dann legitim, ihn mit dem anderen Wahlkämpfer gehören auch die Gesundheitskosten. Ich denke, wir Erwin Teufel zu vergleichen. müssen ganz nüchtern prüfen, was wir uns weiter (Weitere Zurufe von der SPD) leisten können und leisten wollen. — Na, was ist denn? Das ist doch eine reine Wahl- Ich will in diesem Zusammenhang, auch um die kampfveranstaltung hier. Dient ja auch der Kosten- Nachdenklichkeit bei der SPD-Opposition ein wenig einsparung. anzuregen, aus einem Papier eines Mitglieds der SPD-Fraktion vom Januar dieses Jahres zitieren. Die- (Joachim Poß [SPD]: Deswegen reden Sie ja ser von mir sehr geschätzte und erfahrene Kollege auch hier!) sagt: — Deswegen haben Sie es ja beantragt. Wenn angesichts der bereits eingetretenen Über- Der Schuldenstand, gemessen an der Einwohner- lastungen der staatlichen Leistungsfähigkeit, der zahl, beträgt in Baden-Württemberg 3 600 DM pro vor uns stehenden weiteren Belastungen — neue Kopf, in Schleswig-Holstein 6 900 DM pro Kopf Länder, Osteuropa — und der gleichzeitigen (Detlev von Larcher [SPD]: Was vergleichen Bedrohung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Sie jetzt eigentlich?) Volkswirtschaft durch die südostasiatischen Län- der zum Sparen aufgefordert wird, müssen und im Saarland 9 900 DM pro Kopf. zugleich die Felder und die Beträge genannt (Detlev von Larcher [SPD]: Unsolider geht es werden. Wenn wir Steuererhöhungen ablehnen nicht! — Weitere Zurufe von der SPD) und gleichzeitig mehr Sozialprogramme fordern, werden wir nicht mehr ernst genommen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Ich kann mich ihm nur anschließen. Damen, meine Herren, weder die Zuhörer noch die (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wer war das? — Stenographen kommen mit, wenn Sie in dem Umfang Joachim Poß [SPD]: Nur der Information Zwischenrufe machen. Also, wenn schon, dann gezielt halber: Wer war das denn? — Gerlinde Häm und mit der nötigen Präzision. merle [SPD]: Mierscheid!) (Helmut Esters [SPD]: Wir können aber nicht - Meine Damen und Herren, für das Vertrauen der zulassen, daß der Verteidigungsminister Investoren und die Entwicklung an den Kreditmärk- immer so geärgert wird!) ten ist es entscheidend, daß der weitere Kurs der Finanzpolitik die Erwartung einer wieder rückläufi- gen öffentlichen Neuverschuldung bestätigt. Für den Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Ja, das tut weh! Ich Bund legen wir diesen Kurs mit dem Haushalt 1993 wiederhole: Baden-Württemberg 3 600 DM, Saarland und der Finanzplanung bis 1996 fest. Beides muß in 9 900 DM. Das heißt auf deutsch: Wenn Lafontaine die diesem Juli stehen. Die Vorschläge, wie sich die Wahlen gewonnen hätte, wäre der Schuldenstand der Ausgaben ohne ein Haushaltssicherungsgesetz redu- Bundesrepublik dreimal so hoch, wie er tatsächlich zieren lassen, müssen vorher auf den Tisch. Darüber ist. sollten wir in diesem Hause gemeinsam reden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vielen Dank. der F.D.P. — Lachen bei der SPD — Detlev von Larcher [SPD]: Also, Frau Hellwig, das ist (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) doch Ihrer nicht würdig!) Es ist auch sehr gut erkennbar, warum Lafontaine seine Kampagne gegen die Wirtschafts- und Wäh- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort rungsunion gemacht hat. hat die Abgeordnete Frau Dr. Hellwig. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie sind doch wirklich besser, Frau Hellwig!) Dr. Renate Hellwig (CDU/CSU): Herr Präsident! — Hören Sie nur zu. Geben Sie sich einmal Mühe, ein Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist schon bißchen zuzuhören. sehr bemerkenswert, daß sich dann, wenn wir über Die Europäische Zentralbank bekommt bessere den hohen Schuldenstand der öffentlichen Haushalte Instrumente, als die Bundesbank sie hat. Wenn die sprechen, besonders laut diejenigen in der SPD zu Bundesbank die Instrumente hätte, die die Europäi- Wort melden, die am wenigsten Grund dazu haben. sche Zentralbank bekommt, könnte sie z. B. ein Land 6798 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Renate Hellwig wie das Saarland, das seinen Haushalt nicht im Griff Wirtschaftswachstum: 57 % in Baden-Württemberg hat, durch eine Vorwarnung und später durch eine CDU, 4 % SPD; in Schleswig-Holstein trauen es 38 % Streichung von Euro-Geldern dafür bestrafen, meine der CDU zu, nur 12 % trauen es der SPD zu. Damen und Herren. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Trotzdem kommt ihr in Schleswig-Holstein nicht (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Einen ran!) Staatskommissar einsetzen!) Ich halte es also unter diesem Gesichtspunkt für So solide ist die Europäische Wirtschafts- und Wäh- geradezu gefährlich für die SPD, eine Finanzdebatte rungsunion! anzufangen, denn je kritischer die Finanzlage ist, desto weniger ist der Bürger zu dem Leichtsinn bereit, (Zuruf von der CDU/CSU) die SPD zu wählen. Das war schon immer so. Verständlich, daß ein Schuldenmacher wie Lafontaine (Beifall bei der CDU/CSU) da „auweia" schreit und diesen Kelch an sich vorbei- Er wählt die SPD nur, wenn es ihm gutgeht und die gehen lassen möchte. Zukunft finanziell rosig ist. Diesmal geht es ihm gut, aber die Zukunft ist nicht rosig genug, um SPD wählen (Beifall bei der CDU/CSU — Gerlinde Häm zu können. merle [SPD]: Aber der kandidiert doch gar nicht in Schleswig-Holstein!) (Zuruf von der SPD: Das werden wir sehen!) Sehen Sie, meine Damen und Herren, jetzt kommen Das muß das Ergebnis der Aktuellen Stunde sein. wir zum heutigen Schuldenstand. Ein unmittelbarer Vergleich, denn den Bürger interessieren insbeson- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — dere Zahlen. Weitere Zurufe von der SPD) (Weitere Zurufe von der SPD) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort — Es ist schon bemerkenswert, daß Sie bei mir hat der Abgeordnete Austermann. ununterbrochen quatschen. Das, was ich Ihnen erzähle, tut den Genossen wohl besonders weh. Dietrich Austermann (CDU/CSU): Herr Präsident! (Detlev von Larcher [SPD]: Liebe Kollegin, Meine Damen und Herren! Die SPD hat eine Aktuelle wir kennen Sie besser!) Stunde beantragt, um etwas zum Thema der Haus- haltsfinanzen zu sagen und um die Haushaltszahlen Von 1977 bis 1982 haben sich die Ausgaben im ins Gerede zu bringen. Dabei sind Äußerungen Bundeshaushalt um 74 Milliarden DM gesteigert. gemacht worden — insbesondere vom Kollegen 74 Milliarden DM mehr Ausgaben 1982 im Vergleich Esters —, zu denen ich etwas sagen will. Ich möchte zu 1977! Dagegen die Einnahmen: nur 39 Milliarden sodann vielleicht auch auf die ganz konkreten Aus- DM mehr 1982 im Vergleich zu 1977. Das war von der wirkungen der Haushaltspolitik auf den einzelnen SPD verantwortete Politik. Bürger zu sprechen kommen. Lieber Kollege Esters, kein Bürger ist so vergeßlich, (Zuruf von der SPD: Das ist doch lächer - daß er sich nicht an den 14. Februar dieses Jahres lich!) erinnert, an den Tag, als der Bundesrat zusammensaß Demgegenüber CDU-Politik: von 1983 bis 1989 mehr und klar erkennbar war, wer den neuen Bundeslän- Ausgaben von 43 Milliarden DM, Einnahmen im Ver- dern gegenüber solidarisch war und wer nicht. gleich 1983/1989 56 Milliarden DM mehr! Das heißt, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — die CDU hat schrittweise weniger ausgegeben, als sie Widerspruch bei der SPD) eingenommen hat. Das sind die Zahlen, die den Diese Frage ist ganz klar beantwortet worden, als Bürger interessieren, meine Damen und Herren. Björn Engholm gesagt hat, er wünsche, Herr Stolpe (Beifall bei der CDU/CSU) hätte noch drei Monate gewartet. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hat er Das sind sie, die knallharten Zahlen! nicht gesagt! Das wissen Sie genau!) (Detlev von Larcher [SPD]: Sie vergleichen Er konnte aber nicht mehr warten, weil er die Unter- immer Äpfel mit Birnen!) stützung und die Solidarität brauchte. Meine Damen und Herren, ich glaube, die Situation Ich halte es für die SPD geradezu für gefährlich, der öffentlichen Finanzen rechtfertigt kein destrukti- wenn sie eine Finanzdebatte vom Zaun bricht. Denn ves Gerede. Es gibt ein paar Punkte, an denen man sehen Sie sich einmal die Kompetenzzahlen an. Wer festmachen kann, ob die Finanzen in Ordnung sind hat die Landesverschuldung nach Ansicht der Bürger oder nicht: Inflationsrate, Schulden, Zinsen, Beschäf- besser im Griff? Die Bürger in Baden-Württemberg tigung und Wachstum. sagen zu 30 % CDU, zu 15 % SPD; in Schleswig- Holstein zu 23 % CDU, zu 19 % SPD. Also selbst dort, Wie sieht es denn nun mit dem Wachstum aus? Es ist wo sie an der Regierung ist und wo grundsätzlich unbestritten — kein Sachverständiger sagt etwas Vertrauen herrscht, liegt die SPD zurück. anderes —: Es wird in diesem Jahr zwar ein geringeres wirtschaftliches Wachstum als im Vorjahr geben, aber (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Gerade es wird ein wirtschaftliches Wachstum geben, und deswegen!) zwar im zehnten Jahr nacheinander. Dies ist ja wohl Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6799

Dietrich Austermann doch von einer gewissen Bedeutung in bezug auf die gen die Leistungen für Familien und die Steuerfrei- sonstigen finanziellen Folgen. beträge je Kind. Das heißt: Eine durchschnittliche Die Inflationsrate ist zwar hoch, aber Helmut Familie mit 3 900 DM Bruttoeinkommen wird rück- Schmidt wäre froh gewesen, wenn er 1980, 1981, 1982 wirkend ab 1. Januar für das erste Kind mehr Kinder- eine Rate in dieser Höhe gehabt hätte. geld und höhere Steuerfreibeträge erhalten. Das macht 57 DM pro Monat mehr aus. Wahrscheinlich im (Zustimmung bei der CDU/CSU — Detlev April wird es eine Nachzahlung geben. Sie be trägt für von Larcher [SPD]: Sie vergleichen Äpfel mit eine durchschnittliche Familie 230 DM. Birnen!) Wenn Sie sagen, die Steuerbelastung steige stän- Ich nenne ferner die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Im dig, sage ich Ihnen weiter: Am 1. Juli wird der Februar dieses Jahres ist die Zahl der Arbeitslosen Solidarbeitrag auslaufen. Auf das Jahr bezogen heißt zurückgegangen. Das hat es in keinem Februar vorher das, daß dem Staat etwa 20 Milliarden DM weniger gegeben. 3 Millionen neue Beschäftigungsverhält- zufließen. Das bedeutet umgekehrt, daß die Bürger nisse konnten in den letzten Jahren geschaffen wer- 20 Milliarden DM mehr für den Konsum zur Verfü- den. gung haben. Und Sie reden von einer zusätzlichen Steuerbelastung der Bürger! Es ist doch töricht, das Die Zinsen sinken seit einiger Zeit. Dies gilt insbe- dem Bürger einreden zu wollen. Allein der Wegfall sondere für die langfristigen Zinsen für Investitio- des Solidarbeitrags bedeutet für den durchschnittli- nen. chen Steuerzahler einen Be trag von 80 DM bis Nun komme ich zum Thema Verschuldung; der 100 DM im Monat. Kollege Borchert hat darauf hingewiesen. Wenn Sie (Joachim Poß [SPD]: Lesen Sie einmal das den Durchschnitt der Jahre 1982 bis 1989 zugrunde DIW-Gutachten dazu!) legen und gleichzeitig die Zinszahlungen berücksich- tigen Ich glaube, das macht deutlich, daß Sie nicht von ständig steigenden Belastungen reden können. (Joachim Poß [SPD]: Und den Bundesbank Sie haben dauernd den Herrn Köhler erwähnt. gewinn!) Lesen Sie bitte den Aufsatz. Dann werden Sie wissen, — und den Bundesbankgewinn mit einbeziehen —, daß er wohl gewarnt und gesagt hat, daß wir das Geld dann werden Sie feststellen, daß keine Nettoent- zusammenhalten müssen, aber gleichzeitig auch nahme auf dem Kapitalmarkt stattgefunden hat, son- gesagt hat, daß großartige Erfolge erreicht seien. dern daß die Verschuldung in der Tat geringer gewor- Jetzt in ungewöhnlichen Zeiten die Haushaltspla- den ist. Die Neuverschuldung betrug im Rekordjahr nung zu kritisieren ist sicher falsch, weil man weiß, 1989 lediglich 15 Milliarden DM. daß wir auf einem guten Wege sind. Frau Matthäus-Maier, Sie können hier nicht ständig (Detlev von Larcher [SPD]: Wenn wir Sie tricksen, indem Sie versuchen, alles in einen Topf zu kritisieren, finden Sie es immer falsch!) werfen. Auf der einen Seite soll der Bund für die Das Haushaltsvolumen wird auch in diesem Jahr Finanzen der Dörfer und Gemeinden — z. B. in Sankt unterschritten, nicht überschritten. Es wird keine Augustin, Köln und Umgebung — verantwortlich neuen Steuern und keine neuen Abgaben geben. sein, - (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Vorsichtig! — (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das habe ich Detlev von Larcher [SPD]: Das haben Sie vor doch gar nicht gesagt!) der Bundestagswahl auch gesagt!) während der Bundesregierung auf der anderen Seite Ich glaube, es ist deutlich, daß auch die Nettokredit- auch die Finanzen der Bundesländer, in denen Sie aufnahme weiter zurückgeführt wird. Was von Ihnen, politische Verantwortung tragen, angelastet werden Frau Matthäus-Maier, und von Frau Simonis kommt, sollen. Die Finanzen der Bundespost sind, meine ich, kann niemand mehr ernst nehmen, der ein bißchen auch nach Ihrer Meinung sicher relativ geordnet. von den Fakten kennt. Wenn wir Karneval hätten, Dann erwähnen Sie den Kreditabwicklungsfonds, der würde ich sagen: Simonis und Matthäus-Maier, das die Altschulden der DDR auffängt. Diese Schulden gibt doch nur Finanzgeeier. sollen wir angeblich auch gemacht haben. So kom- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) men Sie zu der Rekordzahl von 188 Milliarden DM. Erinnern Sie sich daran, daß Sie für das vorige Jahr 200 Milliarden DM prognostiziert haben, während es nur 130 Milliarden DM waren, und zwar für Bund, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun hat Länder und Gemeinden insgesamt. Ich glaube, mit der Abgeordnete Poß das Wort. dieser Trickserei kommen Sie nicht weiter.

(Zuruf von der CDU/CSU: Unsaubere Tricks Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Meine Damen sind das!) und Herren! Herr Borchert hat vorhin von den Brand- Lassen Sie sich doch einmal ganz genau sagen, wie stiftern gesprochen. Wir haben in der Tat zwei Brand- die Perspektive für die Bürger in diesem Jahr aussieht. reden gehört, zwei schleswig-holsteinische Brandre- Sie reden immer von zusätzlichen Belastungen. Ich den. Die von Frau Hellwig hat zudem wirklich jedes stelle fest: Der Bürger wird in den nächsten Tagen und Niveau vermissen lassen. Monaten im eigenen Portemonnaie spüren, daß die (Beifall bei der SPD — Dr. Renate Hellwig Belastungen sinken. Rückwirkend zum 1. Januar stei- [CDU/CSU]: Die Wahrheit tut weh!) 6800 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Joachim Poß Herr Borchert hat mit dem bekannten Gestus des geht in erster Linie an Sie, meine Damen und Herren Biedermanns das Geschäft des Verschleierns betrie- von der Koalition. ben. Sie haben von den „Prognosen der SPD" gespro- (Beifall bei der SPD) chen, Herr Borchert. Wir haben uns leicht verschätzt. Wir haben nämlich unterschätzt, was die Notwendig- Die Bundesregierung muß endlich einen ehrlichen keit von Finanztransfers von West nach Ost für die und ungeschminkten Kassensturz vornehmen. nächsten Jahre angeht. Wann, so fragen wir die Bundesregierung, werden (Beifall der Abg. Ingrid Matthäus-Maier Sie die Warnung Ihres eigenen Staatssekretärs ernst [SPD]) nehmen, und wann werden Sie Ihren Parteifreunden endlich reinen Wein einschenken? Wenn Sie das Lesen Sie doch Miegel, Biedenkopf-Institut. Lesen Sie nämlich schon gemacht hätten, würde der Ablauf der Biedenkopf und andere. Was sagen die denn über die Aktuellen Stunde hier ein wenig anders sein, was die Notwendigkeit des Anpassungsprozesses? In drei Argumente angeht. Auch die Auseinandersetzung in oder vier Jahren blühende Länder? Oder sprechen sie den Wahlkreisen wäre von seiten von CDU-Bundes- von 10 oder 15 Jahren oder von noch längeren Zeit- tagsabgeordneten nicht so sehr von Waschmittel- räumen? Wer hat hier geschwindelt, Herr Borchert? reklame geprägt, (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Um so (Beifall der Abg. Ing rid Matthäus-Maier schlimmer ist es, wenn ein Land wie das [SPD]) Saarland eine solche Schuldenpolitik macht!) wie sie — wahrscheinlich aus Unkenntnis — in vielen Fällen anzutreffen ist. Wir müssen doch einmal feststellen, daß Sie hier wirklich geschwindelt haben: einerseits mit dem Ver- Auch die Bürger haben ein Recht darauf, daß ihnen sprechen des Bundeskanzlers vor der Wahl, keinem endlich die Wahrheit über die Finanzen gesagt werde es schlechter gehen, andererseits mit der wird. Ankündigung, der Aufbau Ostdeutschlands verlange (Beifall bei der SPD) echte Einsparungen und damit auch reale Einkom- mensverzichte im Westen. Das hat der Herr Köhler Sie haben ein Recht darauf, daß ihnen auch vor letzte Woche gesagt, der zuständige Staatssekretär für wichtigen Wahlen gesagt wird, ob auf sie weitere Grundsatzfragen. Man kann ihn in diesem Zusam- Steuer- und Abgabenerhöhungen zukommen. menhang als Kohls Minenhund bezeichnen, weil er (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Im Saar vorgeschickt wird, um dem Volk langsam zu vermit- land!) teln, was Sache ist. Das macht Kohl vor dem 5. April Köhler spricht von nicht persönlich. Sonst müßte er vor die Kolleginnen realen Einkommensverzichten. und Kollegen von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Möllemann fordert sogar Einschnitte bei Soziallei- treten, eine Fraktionspredigt halten und sagen: Wie stungen. habe ich mich doch geirrt! Das will er natürlich (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das hat er nicht vermeiden. gesagt!) Aus den Äußerungen von Köhler ergibt sich: Die Andererseits will Möllemann wie Faltlhauser- den Aussage des Bundeskanzlers vor der Wahl war Spitzensteuersatz von 53 % auf 46 % senken. falsch. (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Lesen ler- (Jochen Borchert [CDU/CSU]: Ich weiß gar nen!) nicht, wo Sie das bei Köhler gelesen Ist Ihnen eigentlich klar, meine Damen und Herren, haben!) -wie sich die von Ihnen bisher durchgesetzten Steuer Dabei spielt es keine Rolle, ob der Bundeskanzler und Abgabenerhöhungen auf die Bürger auswirken? bewußt die Unwahrheit gesagt hat, um die Wähler zu Ist Ihnen eigentlich klar, daß die F.D.P. mit Unterstüt- täuschen, oder ob er sich selbst über die wahre zung von Teilen der Union dabei ist, unter dem Dimension der finanziellen Probleme getäuscht hat. Deckmantel der Finanzierung der Einheit eine riesige neue Umverteilung von den sozial Schwachen hin zu (Detlev von Larcher [SPD]: Das kennen wir den Reichen in unserer Gesellschaft zu planen. ja!) (Beifall bei der SPD) Beides ist für sich gesehen schlimm. Wenn die Regierungskoalition von Solidarität (Beifall bei der SPD) spricht, meint sie regelmäßig Mehrbelastungen für die Beängstigend ist aber, daß auch jetzt noch auf Masse der Bürger. Für die Durchschnittsverdiener Grund der falschen Aussagen des Bundeskanzlers sind die Belastungen aus den Steuer- und Abgaben- maßgebende Koalitionspolitiker die tatsächliche fi- erhöhungen des letzten Jahres höher als die Entla- nanzielle Situation unseres Staates nicht erkennen stungen durch die Steuerreform 1990. oder nicht erkennen wollen. Die Zeit des Schönredens (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider! Lei ist jetzt endgültig vorbei. der!) (Beifall bei der SPD) Dagegen haben die Bezieher hoher Einkommen unter Die Warnung von Köhler, daß die finanzpolitischen dem Strich eine kräftige Entlastung erhalten. Mit der Warnsignale rot aufleuchten, von der Politik aber jetzt beschlossenen Mehrwertsteuererhöhung für alle nicht ausreichend zur Kenntnis genommen werden, Bürger bei gleichzeitiger Senkung der Vermögen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6801

Joachim Poß steuer und der Gewerbesteuer im Umfang von etwa letzte Position auf der Rednerliste übernommen, weil 4,5 Milliarden DM jährlich hat die Bundesregierung ich dachte, auf Herrn Poß müsse man, weil er qualifi- diesen Weg noch weiter fortgesetzt. zierte finanzpolitische Dinge vorbringt, irgendwelche (Zuruf von der CDU/CSU: Eine reine Neid Antworten bereit haben. Aber ich habe nur die alte hammel-Rede!) Leier gehört; es rentiert nicht, darauf einzugehen. Haben Sie eigentlich jedes Gefühl dafür verloren, was (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Bürgern noch zugemutet werden kann, meine Es war wieder die alte gelbe Rede des Neides. Damen und Herren von der Koalition? (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ Nur zwei Anmerkungen, Herr Poß: Sie sprechen immer von CSU: Polemik!) Kassensturz. Damit versuchen Sie den Eindruck zu erwecken, als wüßte diese Bundesregie- Auf der einen Seite fordern Möllemann und Faltlhau- rung nicht, wie es um die Zahlen aussieht. Sie legt ser die Senkung des Spitzensteuersatzes — das ist Ihnen aber die Zahlen auch aus den von Ihnen so keine Unternehmensteuerreform; davon profitieren genannten Schattenhaushalten in ganz klarer Form Manager, Ärzte, Fußballprofis und Minister mit 5 000 auf den Tisch. Klarheit ist da. Gleichwohl gibt es DM, nach gegenwärtigem Stand; Herr Möllemann natürlich die ständige Notwendigkeit für alle Finanz- schlägt also für sich eine Steuerentlastung von 5 000 politiker, jede Woche neu kritisch zu überprüfen und DM vor —, und bei anderen wollen sie an die Sozial- zu fragen: Wie steht es mit unseren Finanzen? leistungen. Schlimmer geht es in der Tat nicht mehr. (Rudolf Kraus [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Hans Peter Schmitz [Baesweiler] [CDU/ Meine Damen und Herren, letztlich hat Frau Kolle- CSU]: Sie sind ein Schwarzmaler!) gin Hellwig doch recht: Der 4. Ap ril mit den Wahlen in Was sagt der soziale Teil der Union? Wie sprach Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein veran- Herr Blüm noch bei der letzten Spitzensteuersatzsen- laßt Sie, hier hektisch nach einem neuen Thema zu kung: Schlag ins Gesicht der Malocher. Herr Schmitz, suchen. Nachdem Sie bei der Lösung des Asylpro- wie wollen Sie eine solche Maßnahme vor Ihren blems versagt haben, Wählern in Nordrhein-Westfalen vertreten? Ich bin (Detlev von Larcher [SPD]: Wer versagt hat, einmal gespannt, was Geißler, Scharrenbroich und das sind doch Sie!) andere zu diesem Tatbestand sagen werden. nachdem Sie in der Frage des Steueränderungsgeset- (Detlev von Larcher [SPD]: Die dürfen tönen, zes auf den Bauch gefallen sind, nachdem Sie im die anderen setzen sich durch!) Hinblick auf die Europäische Währungsunion heillose Die von Herrn Faltlhauser angekündigte Anhebung Verwirrung in der Führung zeigen, suchen Sie in des Grundfreibetrages ist dagegen äußerst micke- diesen Wahlkämpfen mit dramatischer Geste und rig. Für die große Zahl der Einkommensteuerzah- Tremolo in der Stimme ein neues Thema, gucken im ler — — Zettelkasten nach: Was haben wir denn? Und heraus kommt: die „Katastrophe im Haushalt". Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Das merken die Leute doch, meine Damen und geordneter Poß, Sie wissen — — Herren. Vordergründige Scheinheiligkeit ist das! - Joachim Poß (SPD): Ich komme zum Ende. Daß Sie hier scheinheilig sind, zeige ich an einem wesentlichen Beispiel: Die stellvertretende Vorsit- zende der SPD-Fraktion hat in einer Pressekonferenz Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das wäre in der Tat sehr wünschenswert. Sie haben die Zeit gestern Vorschläge zur Konsolidierung des Haushal- nämlich schon deutlich überschritten. tes gemacht. Dabei hat sie neben dem sattsam bekannten Jäger-90-Thema u. a. betont, daß die Bun- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Es reicht!) desregierung ihre Politik des „goldenen Hand- schlags” beenden müsse, bei der sie voll einsatzfähige Joachim Poß (SPD): Letzter Satz: Auch diese viel zu Staatsbedienstete mit viel Geld in den Ruhestand geringe Anhebung des Grundfreibetrages, Herr Faltl- schicke. hauser, soll nur in Stufen erfolgen, wie es zu lesen war, und damit auf die lange Bank geschoben werden. Die Abgesehen davon, daß die Sozialdemokraten zu Steuerbürger brauchen jetzt Klarheit über die Pläne ihrer Regierungszeit in dieser Hinsicht Rekorde auf- der Regierung zum Grundfreibetrag, zum Familienla- gestellt haben, die nicht mehr einzuholen sind, ist stenausgleich und dazu, wie die Sozialleistungen von dieser Vorschlag in dieser Woche, heute, am Donners- dieser Regierung eingeschränkt werden sollen. Diese tag, besonders interessant; denn morgen wird im Klarheit müssen Sie ihnen geben, und zwar vor den Bundesrat der Vorschlag der SPD-Regierung von Wahlen. Bremen zur endgültigen Abstimmung stehen, den ehemaligen — durchaus respektablen — Kollegen (Beifall bei der SPD) Grobecker zum Präsidenten der Bremer Landeszen- tralbank zu machen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde spricht der Abgeord- (Dr. Renate Hellwig [CDU/CSU]: Ein Skan- nete Dr. Kurt Faltlhauser. dal!) Im Bundesrat steht nun an, daß die SPD-Mehrheit Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Präsident! diesem Petitum zustimmen wird, und dies zwei Tage, Meine Damen und Herren! Ich habe sehr gerne diese nachdem der zuständige Finanzausschuß das Bundes- 6802 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Kurt Faltlhauser bankgesetz abschließend in zweiter und dritter Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit Lesung behandelt hat, nach dem es in Zukunft einen sind wir am Ende der Aktuellen Stunde. Präsidenten der Bremer Landeszentralbank gar nicht mehr geben wird. Ich kann den nächsten Tagesordnungspunkt aufru- Die SPD wird also einem verdienten Kollegen einen fen. Es handelt sich um den Tagesordnungspunkt 7: Posten geben, den er praktisch gar nicht mehr antre- Zweite und dritte Beratung des von den Frak- ten wird. Sie gibt ihm damit gleichzeitig das Anrecht tionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. einge- auf Abstandszahlungen für das ansehnliche Gehalt brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- bis zum 31. Dezember 1996 inklusive aller daraus rung des Gesetzes über die parlamentarische folgenden Ruhestandsbezüge. Es wird ein Millionen- Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit vertrag sein, den die SPD morgen im Bundesrat des Bundes und zur Änderung des Gesetzes zur mehrheitlich durchziehen will, der ohne irgendwel- Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmel- che erkennbare Arbeitsleistung gewährt werden degeheimnisses wird. — Drucksachen 12/1643, 12/1774 — Frau Kollegin Matthäus-Maier, das ist nicht ein Beschlußempfehlung und Bericht des Innen- goldener Handschlag, wie Sie es zu formulieren ausschusses (4. Ausschuß) pflegten, sondern ein „goldener Handschlag mit — Drucksache 12/2203 — Diamanten „ . Berichterstattung: (Beifall bei der CDU/CSU) Abgeordnete Dr. Rolf Olderog Dr. Willfried Penner Eine Partei, die eine derartige Sache — übrigens ohne Dr. Rücksicht auf den Ruf der Bundesbank — durchsetzt, hat den moralischen Anspruch verloren, über jedwede (Erste Beratung 62. Sitzung) finanzielle Verschwendung zu Gericht zu sitzen; das Die Vereinbarung im Ältestenrat lautet: Debatten- muß ich deutlich sagen. Das ist ein Skandal. zeit von einer halben Stunde. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann kann ich die (Beifall bei der CDU/CSU— Zustimmung der Debatte eröffnen und dem Abgeordneten Rudolf Abg. Ina Albowitz [F.D.P.]) Kraus das Wort erteilen. Ich will auf die Hinweise auf das Saarland gar nicht eingehen. Ich möchte nur sagen: würde Rudolf Kraus (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine hier als Finanzminister ohne zusätzliche Schulden sehr verehrten Damen und Herren! Die Kontrolle der stehen können, Nachrichtendienste durch das Parlament hat sich seit (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wo ist er denn?) der Einführung der Kontrollkommission im Jahre 1978 als richtig erwiesen. er könnte Schulden zurückzahlen, wenn die deutsche (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Bravo!) Einheit, diese schöne Herausforderung, nicht einge- treten wäre. Schulden sind nie schön. Nur, dafür, daß Die heute in zweiter und dritter Lesung zu verab- wir Deutschland langfristig wirtschaftlich wieder schiedenden Änderungen basieren weitgehend auf zusammenwachsen lassen können, rentieren sich den Erfahrungen hauptsächlich der Mitglieder der diese Investitionen. Parlamentarischen Kontrollkommission im Umgang mit unseren Geheimdiensten. Ein Letztes: Wir müssen natürlich zusehen, daß wir Bevor ich zu einigen Punkten der Änderungen eine Reihe von Dingen in langfristiger finanzieller, einige Bemerkungen mache, erlauben Sie mir ein ordentlicher Arbeit sicherstellen: paar grundsätzliche Bemerkungen. Erstens: Wir benötigen Ruhe an der Steuerfront, Erstens. Es ist sehr zu begrüßen, daß diese Gesetzes- keine zusätzlichen Steuererhöhungen. änderungen heute mit großer Mehrheit verabschiedet Zweitens: Wir müssen eine mittelfristige finanzielle werden können. CDU/CSU, F.D.P. und SPD haben die Konzentration auf die deutsche Einheit sicherstel- notwendigen Änderungen gemeinsam erarbeitet und len. in den zuständigen Ausschüssen beschlossen. Die Kontrollkommission wird dadurch in die Lage ver- Drittens: Wir dürfen nur noch das Wichtige sehen, setzt, besser als in der Vergangenheit ihren Aufgaben nicht unwichtige Inneneinrichtungen unserer Wohl- gerecht zu werden. standsgesellschaft des alten Westens. Wir dürfen die Zweitens. Gleichzeitig machen wir deutlich, daß wir Mittel nur noch für das zwingend Notwendige ausge- auch in den nächsten Jahren auf geheimdienstliche ben. Tätigkeiten nicht werden verzichten können. Die Viertens: Wir müssen auch weiterhin Wachstum Aufgaben haben sich durch das Ende der Ost-West- fördern; denn das hat die finanziellen Probleme mit zu Konfrontationen wesentlich geändert; doch scheinen lösen geholfen. Wir müssen auch weiterhin einen mir die Herausforderungen für die Dienste in den Grundsatz beherzigen: Runter mit den Steuersätzen, nächsten Jahren deswegen nicht geringer zu werden. und weg mit den Steuerausnahmen. Das war bisher Die zunehmende Internationalisierung des organi- erfolgreich, und das wird auch in der Zukunft ein sierten Verbrechens, die Möglichkeit regional be- erfolgreicher, angebotsorientierter Weg sein. grenzter Konflikte, die weltweite Herstellung von Waffen und deren Beschaffung zu kriminellen Ich bedanke mich. Zwecken sowie ein zunehmend wahrscheinlich wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dender Handel mit atomaren, chemischen und biolo- Deutscher Bundestau — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6803

Rudolf Kraus gischen Waffen sowie anderen Massenvernichtungs- Die Änderung des Gesetzes zur Beschränkung des mitteln erfordern dies. Dazu werden aber unsere Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses beschränkt Strafverfolgungsbehörden allein nicht ausreichende sich auf eine Ergänzung bezüglich der Einbeziehung Erkenntnisse erhalten können. von Abgeordnetenpost bei der Überwachung Dritter. Diese soll künftig grundsätzlich zwar ausgenommen Drittens. Als derzeitiger Vorsitzender der Parlamen- bleiben, jedoch besteht bei dem Verdacht der Fäl- tarischen Kontrollkommission danke ich allen Beam- schung von Aufdrucken, die das Schreiben als Abge- ten und Mitarbeitern des Bundesamtes für Verfas- ordnetenpost ausweisen, die Möglichkeit der Kon- sungsschutz, des Bundesnachrichtendienstes und des trolle. Ob sich die jetzt gefundene Fassung — mit der Militärischen Abschirmdienstes für ihre bisher gelei- meine Partei zwar nicht einverstanden ist, sich aber stete Arbeit. Sie können versichert sein, daß die große des Kompromisses wegen dazu verstanden hat — Mehrheit im Deutschen Bundestag wie auch in der tatsächlich als sinnvoll erweisen wird, ist nach den Bevölkerung ihre Arbeit und die Notwendigkeit ihrer Stellungnahmen der Bundesregierung und der Län- Tätigkeit anerkennt. derregierungen sehr zweifelhaft. Hier wird die G 10- Viertens. Die Dienste sind — wie alle Behörden der Kommission zu prüfen haben, inwieweit durch diese Bundesrepublik Deutschland — an die Verfassung, an Neuregelung ein Sicherheitsdefizit entsteht und wo Recht und an Gesetz gebunden. Daher gibt es auch möglicherweise Nachbesserungen unvermeidlich keinen vermeintlichen rechtsfreien Raum, wie von sind. Kritikern immer wieder behauptet wird. Die Parla- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. mentarische Kontrollkommission sieht ihre Aufgabe (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. außerdem darin, Beschwerden gegen einzelne Maß- Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]) nahmen eines Dienstes nachzugehen. Durch die Medien erfahren die Bürger naturgemäß Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort nur die Fehler und Pannen, die — wie auch bei allen hat der Abgeordnete Dr. Penner. anderen Behörden — nie ganz auszumerzen sind. Auch hier ist die Kommission künftig noch mehr gefordert, dafür zu sorgen, daß in solchen Fällen der Dr. Willfried Penner (SPD): Herr Präsident! Meine Sachverhalt schnell geklärt und die Beseitigung des Damen und Herren! Dem Grunde nach haben die Mißstandes besser als in manch vergangenem Fall politischen Trennlinien auch heute noch Bestand, was dargestellt wird. Notwendigkeit und Reichweite der Kontrolle der Nachrichtendienste durch das Parlament angeht. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und SPD wie F.D.P. sind wie früher auch auf mehr parla- Herren! Ich möchte nun noch auf einige wenige mentarische Kontrolle und auf mehr Transparenz aus. Punkte dieses Gesetzes eingehen. Als zunehmend Die CDU/CSU rückt nach wie vor die Gesichtspunkte problematisch hat sich in den vergangenen Jahren die der Effizienz der Dienste, der Diskretion und der Art, der Umfang und der Zeitpunkt der Informationen Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit ausländischen herausgestellt, die die Kommission erhalten hat. Hier Partnerdiensten in den Vordergrund und ist demzu- wird durch die Gesetzesänderung eine umfassende folge zurückhaltender, wenn es um die Kontrollrechte Unterrichtungspflicht der Bundesregierung über alle des Parlaments auch auf diesem Sektor geht. Fälle von besonderer Bedeutung statuiert. Dabei Bezeichnenderweise war das 1977 und 1978 auch bleibt es bei der Verantwortung der Bundesregierung, schon so, als die Kontrolle der Nachrichtendienste zu entscheiden, was ein Fall von besonderer Bedeu- erstmals auf eine gesetzliche Grundlage nach einer tung ist. gemeinsamen Initiative von SPD und F.D.P. gestellt Im Gegensatz zu manch anderem — auch hier im wurde und das bisherige, auf ungeschriebenen Haus — bin ich der Auffassung, daß dies in Zukunft Regeln basierende Vertrauensmännergremium ablö- nicht dazu führen wird, daß die Regierung nur ihr ste. In der Schlußabstimmung wurde das Gesetz mit genehme Fälle zur Sprache bringt. großer Mehrheit bei einigen Enthaltungen angenom- men. Die seinerzeit oppositionelle CDU/CSU und die (Beifall bei der CDU/CSU) Regierungsfraktionen der SPD und der F.D.P. hatten Die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt, daß sich aufeinander zubewegt. eine zu späte oder nur unzureichende Unterrichtung Aber — auch dies muß gesagt werden — damit ist es der Kontrollkommission zu Mißstimmungen und poli- nicht der große Wurf geworden. Aus heutiger Sicht ist tischen Auseinandersetzungen geführt hat. die gesetzliche Regelung von damals ein Produkt Die Bundesregierung wird darüber hinaus eine eines eher bänglichen und seine Kontrollrechte und Erklärung abgeben, die als fester Bestandteil der -pflichten eher skeptisch sehenden Parlaments. Denn Gesetzesänderung der Kommission Akteneinsicht nach der Entscheidung des Gesetzes und damit des eröffnet sowie es Mitarbeitern der Dienste gestattet, Gesetzgebers haben die zu Kontrollierenden, nicht sich unter gewissen Voraussetzungen direkt an die etwa die Kontrolleure das Heft des Handelns in der Kontrollkommission wenden zu können. Damit sind Hand, weil „Zeit, Art und Umfang der Unterrichtung" eine Reihe von Verbesserungen vorgenommen wor- der zudem streng geheimen Parlamentarischen Kon- den. Inwieweit sich diese bewähren und eine Verbes- trollkommission durch sie, durch die zu Kontrollieren- serung der Arbeit der Kommission ermöglichen, wird den, bestimmt wird. die Kommission nicht zuletzt auch durch den mit So ist denn auch im Laufe der Jahre aus der dieser Änderung eingeführten Bericht an den Deut- Kontrolle nichts Rechtes geworden. Die begrenzt schen Bundestag darlegen können. auskunftspflichtige Exekutive konnte nicht immer, in 6804 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Willfried Penner der Regel kaum, ein gemutmaßtes Interesse der Mit- Abgeordneten entsprechend der Regelung des Art. 47 glieder der PKK an spektakulären Fällen befriedigen. des Grundgesetzes stark eingeschränkt. Die Kontrolleure, pompös durch das Plenum des Von den durchgesetzten Änderungen halten wir Bundestags gewählt, mußten es immer wieder erle- Sozialdemokraten die erleichterte Einzelfallüberprü- ben, daß Dritte, zumeist Träger der vierten Gewalt, fung für besonders wichtig, auch wenn dies in der wesentlich wirksamer sein konnten als der berufene bindenderen Form einer gesetzlichen Vorschrift nicht parlamentarische Kontrolleur. erreicht worden ist. Die Mitberatung der Wirtschafts- Von allen Mitgliedern der Parlamentarischen Kon- pläne sowie die Unterrichtung über deren Vollzug trollkommission kam in dieser Legislaturpe riode der kann ein wirkungsvolles Kontrollinstrument werden. Anstoß, das Gesetz von 1978 zu novellieren, weil Die Lockerung der bisher auch für die Mitglieder der vorherige Versuche anderer Art zur Verbesserung der Parlamentarischen Kontrollkommission ohne Ab- Kontrolle allesamt fehlgeschlagen waren. Überein- strich geltende Informationssperre kann der Tätigkeit stimmend ging es bei Abweichungen im Detail um der Dienste wie der PKK nur nützen. folgende Gesichtspunkte: Die SPD stimmt dem Gesetz zu und verbindet ihre Erstens. Parlamentarische Kontrolle der Dienste ist Zustimmung mit der Erwartung, daß sich künftig auch notwendig. Sie ist ein selbstverständliches Korrektiv die Praxis ändert und die Kontrolle nicht nur eine gegenüber einer auf Diskretion angewiesenen staatli- Beteuerung eines neuen Gesetzblatts bleibt. chen Tätigkeit. Der aus Gründen des öffentlichen Schönen Dank für die Geduld. Interesses, der Staatsräson, unter bestimmten Voraus- (Beifall bei der SPD) setzungen belauschbare Bürger muß darauf vertrauen können, daß Kontrolle ausgeübt wird, weil sonst der Bürger in Furcht vor dem Staat die Folge wäre, was für Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort ein liberales Staatswesen nicht tragbar ist. hat der Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch. (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Die Kontrolle ist auch von der Interessenlage der Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Dienste her bedeutsam, weil die Dienste darauf ange- sehr geehrten Damen und Herren! Nach den hervor- wiesen sind, Teil des demokratischen Ganzen zu sein ragenden Reden meiner beiden Vorredner kann ich und nicht daneben zu stehen. mich auf wenige Bemerkungen beschränken. Dieses ist ja eines jener Gesetze, die einen gewaltigen Ärger Es gibt im übrigen keinen Anlaß, die deutschen und öffentliche Aufmerksamkeit verursachen, wenn Dienste zu dämonisieren und sie in die Nähe solcher sie nicht zustandekommen oder aus irgendeinem Dienste anderer, übrigens nicht nur totalitärer Staaten Grund hängen bleiben und die dann, wenn sie verab- zu stellen, die ganz massiv eigene Politikziele verfol- schiedet werden, kaum einen Zwei- oder Dreizeiler in gen und nahezu grenzenlose Machtmöglichkeiten einer Zeitung auslösen. Trotzdem sind sie wichtig. Ich haben und diese auch ausüben. Die Mitarbeiter der stimme Ihnen völlig zu, Herr Penner: Ö ffentliche Dienste der Bundesrepublik Deutschland erfüllen Macht muß so öffentlich wie möglich ausgeübt wer- einen Auftrag auf gesetzlicher Grundlage. Gerade den. Da, wo man aus der Natur der Sache heraus deswegen müssen sie auch in die Vielfalt parlamen- Grenzen finden muß, muß man sie so sorgfältig und so tarischer Kontrollmöglichkeiten einbezogen werden, skrupulös wie möglich ziehen, um zu verhindern, daß weil sie, die Dienste, auch Teil unseres demokrati- aus gebotener Vertraulichkeit Geheimniskrämerei schen Staatswesens sind. und Mißtrauen wird. Das darf es in einem demokrati- Die Verbesserung der parlamentarischen Kon- schen Staat nicht geben, und die Kontrolle der Dien- trolle ist notwendig. Die bisherigen Möglichkeiten ste sollte nicht allein durch die Medien erfolgen, der Fachausschüsse im Bundestag, insonderheit die sondern das Parlament muß wirksame Instrumente des Rechts- und des Innenausschusses, der G 10- haben, um diese Aufgabe vernünftig erfüllen zu Kommission, des Haushaltsgremiums wie der Parla- können. mentarischen Kontrollkommission reichen nicht aus. Ich glaube, daß dieses Gesetz, das mehr Zeit in Sie dürfen teilweise nur getrennt, ohne erforderliche Anspruch genommen hat, als wir ursprünglich erwar- wechselseitige Information wahrgenommen werden. teten, diese Voraussetzungen erfüllt und der Bundes- Die Kontrollpflicht der Bundesregierung über die regierung die Möglichkeit gibt, ein Gremium zu vorgesehene Rechts- und Fachaufsicht kann parla- haben, das koalitionsübergreifend ist und in dem auch mentarische Kontrolle nicht ersetzen. Sie hat im übri- schwierige Dinge mit der gebotenen Vertraulichkeit gen auch nicht immer gegriffen, wie Beispiele gerade erörtert werden können; auf der anderen Seite aus jüngster Zeit belegen. Der Datenschutzbeauf- bekommt das Parlament ein Instrumentarium, was ich tragte — übrigens immer noch nicht Hilfsorgan des nicht im einzelnen darzulegen brauche, das die bisher Bundestages — hat es gerade auf diesem Sektor der unbefriedigenden Kontrollmöglichkeiten ergänzt und Kontrolle nicht leicht. wirksam machen kann. Die jetzt zur Abstimmung stehenden gesetzlichen Ich wiederhole, was wir schon in der ersten Lesung Neuerungen sind das Ergebnis einer fast einjährigen gesagt haben, daß es uns nicht etwa darum geht, die Beratungszeit. Sie werden ergänzt durch die bin- Tätigkeit der Dienste unmöglich zu machen. Ich muß dende Zusage der Bundesregierung, in Einzelfällen sagen, daß insbesondere der so häufig kritisierte Akteneinsicht und Anhörung von Mitarbeitern der Bundesnachrichtendienst ein wichtiges Instrument Dienste zu ermöglichen. Zusätzlich wird die soge- ist, um internationale Entwicklungen zu erkennen. nannte s trategische Briefkontrolle zugunsten der Wir wollen, daß dieser Dienst leistungsfähig ist. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6805

Dr. Burkhard Hirsch Vergleicht man die parlamentarischen Kontrollsy- besonderer Bedeutung" unterrichten müssen. In der steme für die Nachrichtendienste in anderen Län- frostigen Geheimdienstatmosphäre haben wir - dern, dann sieht man, daß wir mit dem, was wir hier dezu ein gigantisches Tauwetter erlebt, als die Bun- vorschlagen, weit vorne liegen. Ich habe zu meiner destagsfraktionen von CSU bis SPD in ihren Gesetz- großen Überraschung feststellen müssen, daß es in entwurf das Wörtchen „alle" einfügten. Dieser Früh- Großbritannien überhaupt keine Kontrolle des ling war nur von kurzer Dauer; denn mittlerweile Dienstes gibt. konnten sich die Parteien darauf verständigen, daß (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: USA ist das Wort „alle" wieder zurückgenommen und durch besser!) das Wort „die" ersetzt wird. — Mag sein; da kenne ich die Verhältnisse nicht im Ich würde ja nun an dieser Stelle gern behaupten einzelnen; aber ich bleibe bei den europäischen mögen, daß die PKK über alle Skandale der bundes- Ländern. Da liegen wir mit dem, was wir hier tun, weit deutschen Geheimdienste der letzten 13 Jahre im an der Spitze. Damit, daß es in Großbritannien keiner- nachhinein informiert worden ist, also über die Exi- lei parlamentarische Kontrolle des Dienstes gibt, hat stenz und Tätigkeit der bundesdeutschen „Gladio" man in diesem Land keine guten Erfahrungen Truppe, über die Aktivitäten eines Herrn Mauss, über gemacht. die Irak-Verbindungen des BND zu Zeiten, als Herr Kinkel da noch Chef war, über Operationen bundes- Die Wirkungsweise eines Gesetzes hängt immer deutscher Geheimdienste mit Neonazis wie bei der davon ab, ob von ihm ein vernünftiger Gebrauch „Operation Ulrich", über die Zusammenarbeit des gemacht wird. Wir werden unseren Teil dazu beitra- BND mit der KoKo usw. Nur, leider sind auch die gen. PKK-Mitglieder zur Geheimhaltung verpflichtet. Je- Ich möchte mich schließlich bei den Kollegen und denfalls muß man feststellen, daß die PKK in keinem Herrn Staatsminister Schmidbauer dafür bedanken, Fall zu einer Aufklärung beitragen konnte. daß sie durch ihre Kompromißbereitschaft in der (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Sie wissen gar trifft, also umstrittenen Frage, die das G-10-Gesetz be nicht, wovon Sie reden!) in der Frage, wieweit der Verfassungsschutz auch die Post von Abgeordneten öffnen kann — was nach — Sie können mich ja belehren, wenn Sie gleich dran unserer Überzeugung nicht möglich, nicht zulässig sind. ist —, die abschließende Lesung des Gesetzes ermög- (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Darüber sollte licht und es erreicht haben, daß damit eine alte man sich vorher belehren lassen, bevor m an Streitfrage, wie wir hoffen, Herr Kollege Kraus, end- redet!) gültig erledigt ist. Meine Damen und Herren, daß dies alles Operatio- Wir werden dem Gesetz zustimmen. nen von „besonderer Bedeutung" waren, dürfte Vielen Dank. unstrittig sein. Daß die Politik der Abschottung der Geheimdienste vor parlamentarischer und öffentli- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der cher Kontrolle dadurch gebrochen werden soll, daß SPD) durch Gesetzesänderung das Wörtchen „die" einge- fügt wird, daß die PKK auch mal Akteneinsicht erhal- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort ten und Agenten anhören darf, wenn die Bundesre- - hat die Abgeordnete Frau Jelpke. gierung zustimmt, beleidigt schlicht die Intelligenz der Bürger und Bürgerinnen in diesem Land. Solange man der Bundesregierung ein Verweigerungsrecht Ulla Jelpke (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die berühmt-berüchtigten zum „Quellenschutz und Schutz der Partnerdienste" landwirtschaftlichen Nutzfahrzeuge waren noch nicht zubilligt, solange man sich selber einer Geheimhal- richtig aus dem Hamburger Hafen zurück in die Obhut tung unterwirft, solange man oppositionelle Gruppen der Bundeswehr verbracht worden, da legten Mitglie- aus der PKK heraushält, solange man es hinnimmt, der der Parlamentarischen Kontrollkommission schon daß sich selbst der Chef des Bundeskanzleramtes einen Entwurf zur Gesetzesänderung der parlamenta- heute geheimnisumwittert weigert, die Anzahl der in rischen Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit der ehemaligen DDR tätigen BND-Mitarbeiter auf des Bundes vor. Anfrage von Bundestagsabgeordneten und Medien mitzuteilen, solange wird es nicht einmal den Ansatz Die Eile in diesem Fall sollte überdecken und einer Kontrolle geben. vertuschen, was nicht nur alle Mitglieder der PKK und dieses Hauses wissen, sondern auch die Menschen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. draußen im Lande: Die bundesdeutschen Geheim- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) dienste sind nicht zu kontrollieren. Hier wird lediglich Aktivität vorgetäuscht; denn klar ist: Kein einziger Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Skandal der bundesdeutschen Geheimdienste konnte erteile ich der Abgeordneten Frau Wollenberger das in der Vergangenheit durch die PKK aufgedeckt Wort. werden. Allein die BND-Skandale des letzten Jahres machen für die Bundesregierung natürlich Hand- (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Machen Sie lungsbedarf deutlich — und sei es nur, daß m an das besser!) Kosmetik betreibt. Geht man von Buchstaben und Sinn des bisherigen Vera Wollenberger (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Prä- PKK-Gesetzes aus, dann hätte die Bundesregierung sident! Meine Damen und Herren! Die Geheimdien- die PKK bisher — ich zitiere — „über Vorgänge von ste befinden sich nach dem Ende des Kalten Krieges 6806 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Vera Wollenberger und nach ihrer unermüdlichen Skandalproduktion in Als ob das nicht schon Skandal genug wäre, befand einer tiefgreifenden Krise und bedürfen dringend es die Ausschußmehrheit für richtig, daß der Telefon- neuer Legitimation. Zu dieser Legitimation trägt auch verkehr der Abgeordneten grundsätzlich und ihre in gern beschworener Abgrenzung zur Stasi der Post in Einzelfällen durch die Dienste kontrolliert Mythos ihrer demokratischen Kontrolle bei, der werden dürfen. Teile der Union befürchten selbst durch den heute beratenen Gesetzentwurf neu belebt dabei noch ein gefährliches Sicherheitsdefizit. werden soll. Demgegenüber hält die Gruppe Bündnis 90/ Skandale, die eine solche Gesetzesnovelle notwen- GRÜNE an ihrer Auffassung fest, daß die Dienste, wie dig werden ließen, kann ich aus Zeitgründen nur BND und MAD, abgewickelt gehören und daß auch stichwortartig und unvollständig in Erinnerung rufen: die Verfassung nicht durch das gleichnamige Amt Der BND betreut das Ehepaar Schalck und liefert geschützt wird. Der beste Schutz des Staates und der Rüstungsgüter in alle Welt unter Umgehung von Verfassung ist die demokratische Gesinnung seiner Exportkontrollen. Der Verfassungsschutzpräsident Bürgerinnen und Bürger. Wir lehnen deshalb dieses lanciert belastende Dossiers gegen den angehenden, Gesetz ab. politisch mißliebigen brandenburgischen Daten- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) schutzbeauftragten. Dafür bewahrt uns der Verfas- sungsschutz weder vor ausländerfeindlichen Anschlä- gen noch vor zunehmendem Neonazismus. Wie auch? Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Er ist ja nicht einmal in der Lage, seine eigenen spricht der Abgeordnete Dr. Olderog. Dienste zu schützen, die von Agenten durchsetzt (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Nein, ich spre- waren, von Agentin Wander bei Reinhard Gehlen che nicht!) über Stasi-Schützmaulwürfe beim BND bis zum Top- — Entschuldigung, Herr Doktor, ich hätte beinahe gespann Kuron/Tiedge beim Verfassungsschutz. gesagt: Das entspricht dem Sujet. Welche Rolle soll nun der PKK zufallen? Mein (Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Der fällt grüner Kollege von Plottnitz hat aus gegebenem unter „streng geheim"!) Anlaß seine Erfahrungen so bilanziert: Die PKK diene nur dazu, Parlamentarier als zum Schweigen ver- Ich erteile dem Staatsminister Schmidbauer das pflichtete Mitwisser und Mitverantwortliche in die Wort. Geheimdienstmachenschaften einzubinden. (Dr. Rolf Olderog [CDU/CSU]: Unglaublich, Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- was Sie reden! Sie wissen gar nicht, wovon kanzler: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen Sie reden!) und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich bei denen, die sich dafür ausgespro- Ich befürchte, daß die hier beratene Novelle zu chen haben, daß es eine gute Kooperation zwischen keinem anderen Ergebnis führen wird; denn der der Bundesregierung und der Parlamentarischen schon bei der Einbringung schwächliche Entwurf ist Kontrollkommission gibt. Diese Novellierung kann nach der Ausschußberatung noch weiter verwässert dazu beitragen, daß die Vertrauensbasis erweitert worden. wird und daß wir in der Tat nach 14jähriger Erfahrung Aus Zeitgründen kann ich unsere bereits in der auf Initiative des Parlaments heute zu einer weiteren ersten Beratung vorgebrachten Einwände nicht noch Fortentwicklung des PKK-Gesetzes kommen. einmal wiederholen. Ich möchte aber auf zwei Zwei Punkte sind wohl von Bedeutung. bezeichnende Details verweisen. Eine umfassende Erstens. Die Informations- und Kontrollmöglichkeit über Unterrichtungspflicht der Bundesregierung der Parlamentarischen Kontrollkommission wird ver- Vorgänge von besonderer Bedeutung sah das Gesetz bessert. Es ist unstrittig, daß diese Effizienz erreicht in genau dieser Formulierung bisher vor. Daß statt des werden muß. Wörtchens „alle" wieder der einfache Artikel „die" — wie im geltenden Gesetz — bevorzugt wird, läßt Zweitens. Die Transparenz ihrer Kontrolltätigkeit vermuten, daß die verantwortlichen Abgeordneten für den Bundestag und damit für die Öffentlichkeit lieber nicht alles über die Dienste erfahren wollen. wird erhöht. Ich finde, auch dies ist gut so. Wie jedenfalls die Bundesregierung diese Formel Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich diese bisher ausgelegt hat und auch weiter interpretieren aus dem Parlament kommende Initiative. Im Unter- wird, ist bekannt bzw. absehbar. PKK-Mitglieder schied zu Vorrednern, auf die ich hier nicht näher sollen die Öffentlichkeit nicht über in Erfahrung eingehen will, will ich doch erwähnen, daß die Dienste gebrachte Machenschaften der Dienste informieren, rechtsstaatliche Institutionen sind. Ihnen obliegt die sondern lediglich bereits durch die Medien bekannt- Aufgabe, die innere und äußere Sicherheit unseres gewordene aktuelle Vorgänge bewerten dürfen, und Staatswesens mit zu gewährleisten. Aufgaben und das auch nur, wenn es den Vertretern der Regierungs- Befugnisse der Dienste sind in Gesetzen genau fest- fraktionen genehm ist. Deshalb sollen in den Tätig- gelegt. Daß es natürlich in Einzelfällen — das wurde keitsberichten der PKK an den Bundestag keine hier auch angesprochen — zu unterschiedlichen Auf- Angelegenheiten, die den PKK-Mitgliedern bei ihrer fassungen zwischen der Exekutive und den Kontroll- Tätigkeit bekanntgeworden sind, stehen, denn die organen des Parlaments kommen kann, halte ich für Geheimhaltungspflicht des § 5 Abs. 1 wird nicht selbstverständlich. Auch hier finde ich es gut, daß angetastet. Geheimdienstmitarbeiter sollen sich nur hinterfragt wird, daß gerungen wird und daß aufge- nach vorheriger Erlaubnis bzw. bei Gefahr faktischer klärt wird und daß nicht nur das diskutiert wird, was in Disziplinarmaßnahmen an die PKK wenden dürfen. der Presse steht, und dann altbekannte Dinge hinter- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6807

Staatsminister Bernd Schmidbauer fragt werden müssen. Auch bin ich dafür dankbar, daß Herzlichen Dank. wir in der Vergangenheit einvernehmliche Lösungen (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der gefunden haben. SPD) Ich möchte bei dieser Debatte noch auf einen anderen Aspekt hinweisen— auch das wurde von Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Vorrednern angesprochen —: Die Arbeit der Dienste Damen und Herren, damit sind wir am Ende der kann sich — naturgemäß ist das so — in großen Teilen Aussprache. nicht öffentlich vollziehen. Bei der Wahrnehmung der Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben — obwohl über den von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und sie einer wirksamen innerexekutiven Kontrolle unter- F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf; er liegt Ihnen auf liegen — ist ihre Tätigkeit daher weniger transparent den Drucksachen 12/1643, 12/1774 und 12/2203 vor. als die Tätigkeit anderer Bundesbehörden. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ich bin jedoch davon überzeugt, daß der vorlie- Ausschußfassung zuzustimmen wünschen, um das gende Gesetzentwurf mit dazu beitragen wird, daß Handzeichen. — Wer stimmt dagegen? — Damit ist unseren Diensten in Zukunft das Vertrauen entgegen- der Gesetzentwurf in der zweiten Beratung mit den gebracht wird, das sie auch verdienen und das für die Stimmen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. Motivation ihrer Mitarbeiter auch nötig ist. Die Bun- angenommen worden. desregierung ist — wie bisher schon — zu einer engen Wir treten nun in die Zusammenarbeit mit der Parlamentarischen Kontroll- kommission im Geiste wechselseitigen Vertrauens dritte Beratung bereit. ein und kommen zur Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zuzustimmen Im Bewußtsein sowohl der Verantwortung, die die wünschen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? — Bundesregierung für die Funktionsfähigkeit der drei Damit ist in dritter Lesung der Gesetzentwurf gegen Dienste trägt, als auch in der Absicht, die Parlamen- die Stimmen aus den beiden Gruppen angenommen tarische Kontrollkommission bei der Wahrnehmung worden. ihrer Aufgaben zu unterstützen, möchte ich namens Meine Damen und Herren, wir kommen nunmehr der Bundesregierung gegenüber den für diese Wahl- zu dem nächsten Tagesordnungspunkt. Interfraktio- periode in die Kontrollkommission gewählten Vertre- nell ist vereinbart worden, die heutige Tagesordnung tern des Parlaments die folgende Erklärung abgeben. zu erweitern, und zwar um die Beratung des Antrages Erstens. Die Bundesregierung wird der Parlamenta- der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf rischen Kontrollkommission auf deren Verlangen und Unterstützung des Reformprozesses in Südafrika. Das im Rahmen ihres Auftrages für alle Mitglieder oder ein ist die Drucksache 12/2232. Der Antrag soll zur von ihr ermächtigtes Mitglied Akteneinsicht gewäh- Beratung jetzt mit Tagesordnungspunkt 8 aufgerufen ren oder gestatten, daß diese von ihr bestimmte werden. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist Personen anhört, soweit dies die Zustimmung der offensichtlich der Fall. Bundesregierung voraussetzt. Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 und die Zweitens. Die Bundesregierung gestattet Angehöri- Zusatzpunkte 8 und 9 auf: gen der Dienste, sich zur Verbesserung der Auf- gabenerfüllung der Dienste mit Hinweisen an die 8. a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Kommission zu wenden, soweit die Leitung der Dien- Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche ste entsprechenden Verbesserungsvorschlägen nicht Zusammenarbeit (22. Ausschuß) zu dem gefolgt ist. Dienstrechtliche Vorschläge im eigenen Antrag der Abgeordneten Alois Graf von Interesse oder zugunsten Dritter sind ausgeschlossen. Waldburg-Zeil, Dr. Winfried Pinger, Klaus- Die Bundesregierung geht davon aus, daß die Kom- Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter mission zu den Hinweisen den Präsidenten des und der Fraktion der CDU/CSU sowie der zuständigen Dienstes anhört. Die Bundesregierung Abgeordneten Ulrich Irmer, Günther Brede- wird wegen der Hinweise im vorstehenden Sinne an horn, Jörg van Essen, weiterer Abgeordne- die Kommission Bedienstete nicht dienstrechtlich ter und der Fraktion der F.D.P. maßregeln oder benachteiligen. Ein Beitrag zu Frieden und Entwicklung durch Regionalpolitik im südlichen Afrika Drittens. Die Bundesregierung wird Maßnahmen nach den Nummern 1 und 2 verweigern, wenn dies — Drucksachen 12/851, 12/1995 — aus zwingenden Sicherheitsgründen notwendig ist. Berichterstattung: 2 Abs. 2 PKK-Gesetz findet Anwendung. Abgeordnete Hans-Günther Toetemeyer Alois Graf von Waldburg-Zeil Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Ingrid Walz ich bin sicher, daß die vorliegende Novellierung dazu führen wird, die Möglichkeiten der Parlamentari- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten schen Kontrollkommission zu erweitern und damit Alois Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Winfried auch — dies ist für mich gleichermaßen wichtig — das Pinger, Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Ab- Vertrauen in die Nachrichtendienste zu erhöhen. geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ulrich Irmer, Gün- Herzlichen Dank für die Kooperation. Ich hoffe, daß ther Bredehorn, Jörg van Essen, weiterer diese auch in Zukunft realisiert wird. Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. 6808 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Entwicklungspolitische Chancen in Um- in Äthiopien einschließlich Eritrea, für Somalia, für bruchsituationen nutzen — entwicklungs- den Sudan und für Angola das, was der Deutsche politische Herausforderungen an den Bei- Bundestag schon im Herbst 1990 einmal beschlossen spielen Äthiopien einschließlich Eritrea, hatte, einen gemeinsamen Beitrag für eine verstärkte Somalia, Sudan und Angola Entwicklungszusammenarbeit durch Entspannung — Drucksache 12/1814 — zwischen Ost und West zu leisten. Überweisungsvorschlag: Ich muß hier gleich eines hinzufügen: Diese Ent- Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federfüh- spannung hat nicht nur positive Aspekte gehabt. Im rend) Auswärtiger Ausschuß Windschatten der Weltöffentlichkeit spielen sich heute Eskalationen ab, die zum Teil zu verzweifelten c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Situationen führen, die unsere Chancen erheblich Gerd Poppe, Konrad Weiß (Berlin) und der vermindern können. Der andere Aspekt bet rifft nicht Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Chancen, die sich aus dem Zusammenbruch des Unterstützung des Demokratieprozesses in kommunistischen Weltreiches ergeben haben, son- Äthiopien und Eritrea dern die Probleme, die daraus für die Dritte Welt — Drucksache 12/1656 — resultieren. Überweisungsvorschlag: Das Interesse konzentriert sich zunehmend auf Auswärtiger Ausschuß (federführend) Europa. Ausgaben und Aufgaben wachsen ins Unge- Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit messene; der Finanzrahmen bleibt beschränkt. Des- ZP8 Beratung des Antrags des Abgeordneten Kon- halb muß jede eingesetzte Mark heute eben mehr rad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS Wirkung erbringen als je zuvor. Diesem letzteren 90/DIE GRÜNEN Zweck dient der Antrag „Ein Beitrag zu Frieden und Humanitäre Hilfe und Unterstützung von Frie- Entwicklung durch Regionalpolitik im südlichen densinitiativen für Somalia Afrika". Wir begrüßen mit dieser Initiative bereits — Drucksache 12/2159 — vorhandene Bestrebungen von Staaten des südlichen Überweisungsvorschlag: Afrikas, insbesondere der SADCC. Auswärtiger Ausschuß (federführend) Ich möchte die im Antrag genannten Punkte hier Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit nicht wiederholen; denn wir haben sie in der ersten ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- Lesung ja ausführlich diskutiert. Ich möchte aber Günther Toetemeyer, Brigitte Adler, Rudolf darauf hinweisen, daß eine erfolgreiche Regionalpo- Bindig, weiterer Abgeordneter und der Frak- litik im südlichen Afrika mit der Beteiligung Südafri- tion der SPD kas selbst steht und fällt. Diese aber ist abhängig von Unterstützung des Friedensprozesses in An- der Fortsetzung des Reformkurses von Präsident de gola Klerk. Sie steht mit dem Referendum auf dem Prüf- — Drucksache 12/2211 — stand. Ich kann dem Präsidenten, den Südafrikanern, den Afrikanern und eigentlich der ganzen Menschheit Überweisungsvorschlag: nur wünschen, daß dieses Referendum positiv für den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit (federfüh- rend) Reformkurs ausgeht. Ein negativer Ausgang würde Auswärtiger Ausschuß uns um Jahrzehnte zurückwerfen. Als weiteren Zusatzpunkt rufe ich auf: (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: So ist es!) Beratung des Antrags der CDU/CSU, SPD und F.D.P. Daß die SPD bei diesem Antrag nicht nur mitgear- beitet, sondern auch mitgedacht hat, zeigt der heute Unterstützung des Reformprozesses in Süd- vorgelegte Antrag. Wir haben ihn im Ausschuß ja nur afrika deshalb abgelehnt, um den einheitlichen Charakter — Drucksache 12/2232 — des vorgelegten Antrags zu wahren. Ich habe eigent- Zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirt- lich nur ein grundsätzliches Bedenken, das ich hier schaftliche Zusammenarbeit liegt ein Änderungsan- anfügen möchte: Es hat keinen Sinn, immer und trag der Fraktion der SPD vor. immer wieder alle Probleme der Dritten Welt haupt- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für sächlich als Folge der kolonialen Ausbeutung durch die gemeinsame Aussprache eine Debattenzeit von die Staaten Europas darzustellen. Das verführt dazu, 90 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einver- Verantwortung nicht wahrzunehmen und abzuwäl- standen? — Das ist der Fall. zen, und auch dazu, selbst korrupte und kleptokrati- Dann kann ich die Debatte eröffnen und zunächst sche Eliten — ein brillanter Ausdruck aus Ihrem einmal dem Abgeordneten Graf von Waldburg-Zeil Antrage — zu entschuldigen. das Wort erteilen. Nun zur Nutzung entwicklungspolitischer Chan- cen in Umbruchsituationen. Der Zusammenbruch des Alois Graf von Waldburg-Zeil (CDU/CSU): Herr Weltkommunismus hat in Afrika ungeahnte Auswir- Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! kungen gehabt. Diktaturen und Einparteienregime Die heutige Afrika-Debatte steht unter einem beson- werden in Frage gestellt. Der Weg des Sozialismus deren Aspekt. Es dreht sich darum, entwicklungspoli- erscheint plötzlich nicht mehr als der allein seligma- tische Chancen in Umbruchsituationen zu nutzen, und chende. Bürgerkriege verlieren mit auswärtiger zwar in einem doppelten Sinne. Der Koalitionsantrag Unterstützung ihre Kraft. Versöhnungschancen kön- gleichen Namens konkretisiert für aktuelle Beispiele nen wahrgenommen werden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6809

Alois Graf von Waldburg-Zeil Stichwort Äthiopien einschließlich Eritrea: Es gilt, zurückgekehrt sind. 420 000 warten in den Nachbar- den Demokratisierungsprozeß zu unterstützen, das ländern. Man weiß bereits jetzt, daß von diesen Selbstbestimmungsrecht zu achten, vielleicht besteht 300 000 zurückkehren werden. Das ist eine große aber auch die große Chance, föderalistische Lösungen Aufgabe für den UNHCR, die wir kräftig werden demonstrieren zu helfen. unterstützen müssen. Damit wäre ich beim Sudan. Die EG-Mitgliedslän- Ein ganz kurzes Wort zu Somalia. Die Situation ist der müssen gemeinsam im Sinne der Entschließung verzweifelt. Als wir den Antrag einbrachten, war sie dieses Hohen Hauses vom Mai 1989 auf die Beendi- besser, als sie jetzt ist. Hier wird man fast nur noch gung des Bürgerkrieges und die Wahrung der Men- daran denken können, daß friedenssichernde Grup- schenrechte drängen. Der einzige Weg wird die pen ethnischer und religiöser Verwandtschaft helfen, Gewährung der Selbstbestimmung im Rahmen der dort wieder Frieden einkehren zu lassen. Autonomie des Südens sein. (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das gilt (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut! — Zuruf nur für den Süden, Herr Kollege!) von der SPD: Sehr richtig!) Das Beispiel Angola schließt auch den Ring zur ka. Wenn wir an das In Angola konnte der Bürgerkrieg beendet werden. Regionalpolitik im südlichen Af ri Wahlen werden vorbereitet. Dieser Prozeß muß Gewicht der Krisenherde — Angola, Namibia, Süd- freundschaftlich unterstützt werden. Dabei kommt es afrika, Mosambik — der letzten Jahre denken, stellen entscheidend darauf an, die 200 000 Soldaten beider wir fest, daß sich Chancen abzeichnen, die durch eine Seiten demobilisieren zu helfen, Ausbildungshilfe zu Entwicklung in Frieden und Demokratie in dieser leisten, landwirtschaftliche Ausbildungszenhien zu Region geschaffen werden können. schaffen, um die Beschäftigung in der Subsistenzland- Danke. wirtschaft und Nahrungsmittelsicherung gleichzeitig (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der zu garantieren. SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) Es gibt drei Hauptfaktoren, die nach der Unabhän-- gigkeit Angolas von Portugal zum Zusammenbruch Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- des wirtschaftlichen Wachstums und der sozialen teile ich dem Abgeordneten Günter Verheugen das Entwicklung des Landes beigetragen haben: den Wort. Bürgerkrieg, die Flucht des ausgebildeten Personals aus allen Ebenen der Technik und Verwaltung sowie Günter Verheugen (SPD): Herr Präsident! Meine der kleinen Geschäftsleute und Farmer sowie die sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, unwirksamen und verfehlten wirtschaftspolitischen wir alle stimmen darin überein, daß die entscheidende Maßnahmen, die unter dem zentralistischen und Voraussetzung für eine stabile, dauerhafte, den Men- sozialistischen Wirtschaftssystem der Volksrepublik schen dienende Entwicklung in Afrika der Frieden Angola durchgeführt wurden. ist. Neben der Demobilisierung muß deshalb an die (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) Behebung des Mangels an Fachkräften, an eine Wir stimmen sicher auch darin überein, daß die letzten systematische strukturelle Neugestaltung der Wirt- Jahre einen fast unverhofften Fortschritt auf diesem schaft und an die Eingliederung von Beamten heran- Gebiet gebracht haben. Wer die Situation heute gegangen werden, die wegen der erforderlichen Pri- — nicht nur im südlichen Afrika, sondern in vielen vatisierung von Staatsbetrieben ihren Arbeitsplatz Teilen Afrikas — mit der von vor noch zwei Jahren verlieren. vergleicht, erkennt Afrika kaum wieder. Ich freue mich, daß auch die SPD hierzu einen Der weltpolitische Wandel hat also nicht nur tief- Antrag vorgelegt hat. Ich denke, daß wir in den greifende Auswirkungen in Europa, im Osten und in Ausschußberatungen Punkt 4 unseres Antrages ohne den atlantischen Beziehungen herbeigeführt, sondern Schwierigkeiten mit Ihren Vorschlägen werden ver- auch in Afrika. Er gibt uns die Chance, in den letzten binden können. Jahrzehnten Versäumtes jetzt nachzuholen. Er bietet die Chance, jetzt mit neuen Rezepten und neuen Wir sollten noch einen Punkt hineinnehmen. Ich Konzepten Entwicklungspolitik zu betreiben, um die Es ist denke an den Punkt der Minenbeseitigung. in weiten Teilen Afrikas wirklich verzweifelte Lage zu wesentlich dienlicher, Minen wegzunehmen, als verändern. nachher zerfetzte Leute in Krankenhäusern zu pfle- gen. Ich möchte mich heute auf die Lage in Südafrika selbst konzentrieren. Ich begrüße es, daß die Fraktio- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen die Gelegenheit dieser Debatte nutzen, um ein Wir sollten in diesem Sinne votieren. aktuelles Wort zur Situation in Südafrika zu sagen. Am Beispiel Angola möchte ich noch etwas anderes Wir können das in einer sehr entspannten Atmosphäre deutlich machen. Wir haben in der letzten Legislatur- tun. Wenn ich daran denke, wie wir uns in der Mitte periode einen Antrag betreffend den entwicklungs- und in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre hier sehr politischen Beitrag zur Lösung von Weltflüchtlings- leidenschaftlich über die Südafrikapolitik gestritten problemen beschlossen. Das Beispiel Angola zeigt, haben, dann meine ich, sagen zu können, daß sich wie stark der Rückkehrwille dann ist, wenn lebensbe- auch hier zeigt, was für ein gewaltiger Fortschritt doch drohende Situationen im ursprünglichen Heimatland erreicht worden ist. zu Ende gehen und auch nur ein Funke von Hoffnung (Dr. Volkmar Köhler [Wolfsburg] [CDU/ auf Entwicklungsperspektiven aufglimmt. Es sind CSU]: Sie haben ein Herz für reuige Sün 60 000 Leute, die von November bis jetzt bereits der!) 6810 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Günter Verheugen Aber man soll bei dieser Gelegenheit doch darauf keineswegs die von der Apartheid geschaffenen tief- hinweisen, was wirklich den Wandel in Südafrika greifenden sozialen Strukturen überwunden hat. herbeigeführt hat. Es ist nicht allein der Zusammen- (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke bruch der kommunistischen Staatenwelt und der Liste) Wegfall der von den Weißen in Südafrika als kommu- nistische Bedrohung empfundenen Ideologie. Es ist Je mehr Zeit vergeht, ohne daß wir etwas tun können, natürlich auch das Zusammenwirken — ich möchte um die riesigen Probleme im Bereich der Wohnungs- sagen: in erster Linie das Zusammenwirken — des losigkeit, der Arbeitslosigkeit und der Unterentwick- immer massiver werdenden Widerstandes der lung in den schwarzen Gebieten zu beseitigen, desto schwarzen Bevölkerungsmehrheit in Südafrika selbst schwieriger wird die soziale Situation und desto mit den Befreiungsbewegungen und den Reaktionen größer wird eine Generation in Südafrika, die eigent- der westlichen Industriestaaten gewesen. Man sollte lich ohne Hoffnung lebt und von der wir befürchten das nicht unterschätzen. müssen, daß sie einer politischen Anleitung, z. B. durch den ANC und Nelson Mandela, gar nicht mehr Ich will die Diskussion der Vergangenheit hier jetzt zugänglich ist. nicht noch einmal führen. Wir waren uns in der Frage, ob z. B. Sanktionen einen positiven Beitrag zum Es sind Millionen von jungen Menschen in Süd- Wandel in Südafrika leisten können oder nicht, nicht afrika, die eigentlich ohne Zukunftschance leben. einig. Ich möchte fast annehmen, daß wir auch heute Heute haben nur noch 15 % eines Jahrgangs, der in in der Bewertung dieser Frage nicht einig sein kön- das Berufsleben eintreten will, die Chance, einen nen. Arbeitsplatz zu finden. Das zeigt, was für eine gigan- tische Aufgabe dort zu lösen ist. (Dr. Volkmar Köhler [Wolfsburg] [CDU/ CSU]: Sehr wahr!) Das andere Problem, das wir in Südafrika haben, ist die wachsende Gewaltbereitschaft. Es gibt nicht nur Meine Meinung — das ist auch die Meinung der einen Grund für diese Gewalt, es gibt viele. Macht- SPD-Bundestagsfraktion — ist jedenfalls, daß der dra- kampf spielt eine Rolle, ethnische Auseinanderset- matische Politikwandel der weißen Seite in Südafrika zungen spielen eine Rolle, ganz gewöhnliche Krimi- dadurch herbeigeführt worden ist, daß sich herausge- nalität spielt eine Rolle. Ganz gewiß spielt auch stellt hat: Das System der Apartheid war gegen den Manipulation bei diesen Ausbrüchen von Gewalt eine Widerstand der Bevölkerungsmehrheit einfach nicht Rolle. länger aufrechtzuerhalten. Südafrika konnte auch die Mit großer Sorge sehen wir den wachsenden Wider- Isolierung, in die es politisch und wirtschaftlich gera- stand in der weißen Bevölkerung gegen die Politik ten war, nicht mehr länger durchhalten. Ich denke Mandelas und de Klerks, gegen die Politik der Ver- also, daß diese Politik ihre positiven Wirkungen sehr söhnung und der evolutionären Entwicklung in Süd- wohl gehabt hat. afrika. Es liegt eine Gefahr in dem Weg, den Präsident Ich darf hier darauf hinweisen, daß wir, die sozial- de Klerk beschritten hat. Er hat es für nötig gehalten, demokratische Bundestagsfraktion, in vielen Debat- in der nächsten Woche ein weißes Referendum abzu- ten in den achtziger Jahren immer wieder die Forde- halten. rung erhoben haben, die südafrikanische Regierung Man muß nun ganz objektiv sagen, daß es ein möge die politischen Gefangenen, einschließlich Nel- bißchen merkwürdig anmutet, daß am Beginn einer son Mandela, freilassen, sie möge die politischen nichtrassistischen demokratischen Entwicklung in Organisationen der schwarzen Bevölkerungsmehr- Südafrika eine rein weiße Entscheidung stehen soll, heit zulassen, die Verbannungen aufheben, die Apart- daß die Weißen praktisch für sich ein Veto in Anspruch heidsgesetze abschaffen und mit den Organisationen nehmen, ob dieser Weg nun beschritten wird oder der Bevölkerungsmehrheit Verhandlungen über ei- nicht. Ich kenne die Gründe, die Herrn de Klerk nen friedlichen Wandel beginnen. Das sind unsere veranlaßt haben, das zu machen. Ich verstehe sie Forderungen gewesen. Wir haben dazugesagt: Wenn auch, und ich will hier auch gar nicht päpstlicher sein die südafrikanische Regierung nicht bereit ist, diesen als der ANC, der ja auch selber sagt: Schön ist das Weg zu gehen, den wir für den einzig denkbaren und nicht. Aber es findet nun mal statt, und wir werden möglichen gehalten haben, um dieses Land vor einem alles tun, um Weißen nicht das Argument zu liefern, schrecklichen Bürgerkrieg zu bewahren, dann ist es mit Nein zu stimmen. eben notwendig, die südafrikanische Regierung unter Druck zu setzen. Ganz gewiß, nachdem es nun einmal stattfindet, ist es unser Interesse, daß de Klerk in diesem Referen- Nun sind genau diese Forderungen von der Regie- dum eine stabile Mehrheit erhält, weil diese stabile rung de Klerk erfüllt worden. Genau das ist Anfang Mehrheit die Voraussetzung dafür ist, daß der Prozeß 1990 geschehen, in allen Einzelheiten, und der Weg, beschleunigt wird. den wir immer für den richtigen gehalten haben, ist beschritten worden. Ich sehe das wirklich als einen (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) großen Erfolg, an dem wir vielleicht einen bescheide- Ich hoffe, daß das gelingt. nen Anteil haben. Ich verhehle Ihnen nicht, daß ich in der vergange- Meine Damen und Herren, das insgesamt positive nen Woche durchaus mit Sorgen aus Südafrika Bild von der Entwicklung in Südafrika darf uns aber zurückgekommen bin, was diesen Punkt angeht. So nicht darüber hinwegtäuschen, daß dort immer noch ganz sicher ist diese Mehrheit noch nicht. Es ist ein große Probleme liegen. Das Hauptproblem ist wohl, riskanter Weg, den die südafrikanische Regierung daß die Abschaffung der Apartheidsgesetze ja noch eingeschlagen hat. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6811

Günter Verheugen Darum ist es auch richtig und notwendig, daß von Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nun er- hier aus eine Botschaft an die weißen Südafrikaner teile ich der Abgeordneten Frau Ing rid Walz das herausgeht. Diese Botschaft muß lauten, daß die Wort. Politik, die in den letzten anderthalb Jahren betrieben worden ist, ihnen etwas gebracht hat. Ingrid Walz (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen! (Beifall des Abg. Helmut Schäfer [Mainz] Meine Herren! Es gibt ernstzunehmende Afrikaex- [F.D.P.]) perten, die, nach der Zukunft dieses Kontinents Die diplomatische und politische Isolierung Südafri- befragt, schlichtweg antworten: Es gibt keine, und als kas ist durchbrochen worden. Auch die wirtschaftliche einzigen Weg zur Gesundung vorschlagen: Türen Isolierung ist praktisch durchbrochen. Was wir heute schließen und keinen Experten mehr ins Land lassen; noch an Sanktionen haben, beeinflußt die wirtschaft- die Afrikaner sollen ihren Weg selbst bestimmen. — liche Entwicklung in Südafrika nur noch in geringem Soweit diese Experten. Wir werden im Laufe dieser Maße. Debatte zu untersuchen haben, ob sie recht haben. Afrika als der Kontinent unserer Träume, Afrika als Die Menschen haben also etwas davon. Man muß verlorenes Paradies ist zum Alptraum geworden. Hun- ihnen auch deutlich sagen, daß sie noch mehr davon ger, Armut, hohes Bevölkerungswachstum, Umwelt- haben werden, wenn dieser Prozeß weitergeht. zerstörung, Korruption, Mißwirtschaft und Bürger- Darum ist es so wichtig, daß in dem Antrag, den wir kriege machten Afrika bisher zum Kontinent der Hoff- gemeinsam vorgelegt haben, die Bereitschaft zu ver- nungslosigkeit und der Verzweiflung. tiefter Kooperation — und das verstehe ich als eine Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland zusam- Aber von außen projizierte Wünsche und Erwartun- men mit ihren europäischen Partnern — sichtbar wird, gen auf Entwicklungen haben nicht automatisch Fort- um Südafrika bei der Lösung der großen sozialen schrittsprozesse ausgelöst. Die Vision von der nachzu- Probleme, die es hat, nun auch wirklich zu helfen. holenden Entwicklung, mit Geldströmen abgefedert und mit unverstandenen Techniken garniert, hat sich Ich möchte so weit gehen zu sagen, daß wir den als Illusion erwiesen. weißen Südafrikanern auch sagen sollten, daß es in Afrika zwingt uns umzudenken. Afrika verlangt von dem Augenblick, wo eine demokratische Übergangs- uns eine behutsamere Begleitung in seinem schwieri- da ist — und das kann nach dem, was ich struktur gen Reifungsprozeß, der sich nicht nach den Regeln gehört habe, schon in der Mitte dieses Jahres der Fall anderer Regionen vollzieht. Im Gegensatz zu wesent- sein —, keinen Grund gibt, noch irgendwelche Sank- lichen Fortschritten z. B. vieler asiatischer Länder tionen — mit Ausnahme des Rüstungsembargos und verschlechtert sich die wirtschaftliche und soziale von Lieferungen an die Sicherheitskräfte in Süd- Situation in den meisten afrikanischen Ländern: Es afrika — aufrechtzuerhalten. sinken die Einkommen, Einschulungsraten fallen, und (Beifall bei der SPD) die Bevölkerung nimmt stetig zu; seit 1965 hat sie sich verdoppelt. Wären die Bevölkerungswachstumsraten Ich plädiere dafür, ganz eindeutig zu sagen: Damit dem asiatischen Trend gefolgt, dann hätte Afrika machen wir dann Schluß. Wir schalten um auf Zusam- heute mindestens ein um zehn Prozent höheres Pro- menarbeit und Hilfe. Ich würde gerne sehen, daß wir Kopf-Einkommen. Instrumente, die sich in der Entwicklungszusammen- arbeit bereits bewährt haben, dann auch einsetzen Aber Afrika ist verstrickt in ein negatives Ursachen- könnten, um in Südafrika zu helfen. geflecht interner und externer Bedingungen, als da sind: Preisverfall für die meisten seiner Rohstoffe, Die Konzentration dieser Hilfe muß sein: Hilfe beim aber auch unzureichende interne wirtschaftliche und Wohnungsbau in schwarzen Siedlungsgebieten, Hilfe politische Rahmenbedingungen, die bisher die bei der Bildung, bei der Ausbildung, vor allem der Modernisierung der afrikanischen Volkswirtschaften beruflichen Ausbildung, Hilfe bei der Arbeitsplatz- entsprechend den weltwirtschaftlichen Anforderun- schaffung, Hilfe bei der gesundheitlichen Versor- gen verhindert haben. Das Ergebnis ist ein ständiges gung, damit die großen Erwartungen, die die Men- Sinken der Investitionsquote und ein dramatischer schen an den Wandel in Südafrika selbst haben, auch Rückgang der Produktivität privater Investoren. erfüllt werden. Auch der Heilsgedanke, daß mehr Geld die Auswir- Ich halte es nicht für besonders klug, den Weißen in kungen der verschlechterten Rahmenbedingungen Südafrika heute zu drohen und zu sagen: Wenn ihr wettmachen könnte, hat sich nicht erfüllt. Verhee- aber mit Nein stimmt, dann wird etwas ganz Fürchter- rende Bürgerkriege haben die letzten Hoffnungen liches passieren. — Das kann den gegenteiligen Effekt vieler Länder zunichte gemacht, und Afrika trägt haben. Mir scheint, daß die positive Darstellung der schwer an dieser Entwicklung. psychologischen Seite dieses Problems eher gerecht Doch die Zeichen des Wandels mehren sich. Aus wird. Pseudodemokratien und echten Diktaturen entwik- Das tut auch der Antrag, den wir gemeinsam keln sich Länder mit einem tragenden demokrati- vorlegen. Wir halten es für richtig, diesen Antrag schen Verständnis. Regionale Feuersbrünste und heute zu verabschieden, damit er seine Wirkungen in Konflikte wie in Äthiopien, Angola und Mosambik, den letzten Tagen der Auseinandersetzung um das aber vielleicht auch in Somalia und im Sudan sind am südafrikanische Referendum noch entfalten kann. Erlöschen. Die Abkehr der Südafrikanischen Union von der Apartheidpolitik weicht Fronten auf und Vielen Dank. schafft auch die Möglichkeiten der Zusammenar- (Beifall im ganzen Hause) beit. 6812 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Ingrid Walz Nunmehr geht es darum, diese Chancen konse- African Economic Comunity sind zweifellos förde- quent und entschlossen zu nutzen, Reformen in Rich- rungswürdige, da selbst bestimmte afrikanische tung Demokratie und Marktwirtschaft nachhaltig zu Lösungsansätze. Soweit also Zustimmung zu den unterstützen. Dazu gehört auch die von den Führern Aussagen des vorliegenden Berichts. Afrikas seit langem erkannte Notwendigkeit engerer regionaler Verbindungen und Märkte; denn die mei- Die politische Argumentation in der Drucksache sten afrikanischen Volkswirtschaften sind zu klein, 12/1995 macht jedoch deutlich, wo für uns die eigent- um ohne Außenhandel Devisen zu erzielen oder sich lichen Probleme und auch Widersprüche liegen. Da zu spezialisieren. Allerdings fehlen dafür bisher die heißt es u. a.: Rahmenbedingungen, wie die Harmonisierung der Die Ursachen der Wirtschaftskrise in Afrika lie- makroökonomischen Politiken, der Aufbau einer lei- gen in erster Linie in unzureichenden wirtschaft- stungsfähigen Infrastruktur sowie die Anreize zur lichen und politischen Rahmenbedingungen, die Förderung einer effizienten Produktion und privater in der Vergangenheit eine notwendige Umstruk- Initiativen. Dazu gehört aber auch die Verbesserung turierung afrikanischer Volkswirtschaften ent- der beruflichen Bildung. sprechend den weltwirtschaftlichen Anforderun- Dies alles haben wir in unseren Anträgen als Hilfs- gen verhindert haben. angebot formuliert. Wir können zusammen mit den anderen europäischen Ländern und unseren Partnern Was ist denn bitte mit den afrikanischen Ökonomien in Afrika die Türe zu einer angepaßten Entwicklung seit ihrer Kolonialisierung betrieben worden, wenn öffnen und kommenden Generationen damit Hoff- nicht Einpassungen — dieses Wort ist hier zitiert — im nung geben. Uns Europäern würde sich die Chance Sinne von Unterordnung unter die Bedingungen eines bieten — es ist eine einmalige Chance —, Afrika als Weltmarktes, der vom entwickelten Norden dominiert Partner und nicht mehr als Missionare, Kolonialherren wurde und nach wie vor wird? Wer zeichnet verant- oder Geber zu begegnen. Das bedeutet auf der wortlich für die derzeitigen wirtschaftlichen und poli- tischen Rahmenbedingungen in verschiedenen afri- anderen Seite unsererseits jedoch auch Abbau von kanischen Staaten? Ich sehe das nicht einseitig. Handelshemmnissen und - barrieren. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Jahrhundertelang bis in die Gegenwart war und ist SPD) Afrika Objekt, nicht Subjekt von Entwicklung gewe- Zum Schluß noch ein Wort: Die Zukunft Afrikas liegt sen. Letztes Kapitel dieser Einpassungen sind für uns in Afrika. Aber auch Afrika muß den tiefgreifenden die Strukturanpassungsprogramme von IWF und internationalen Wandel erkennen und muß darauf Weltbank mit ihrem nachweislich verheerenden antworten. Es geht dabei nicht mehr um die Frage wie Ergebnis für die ärmsten Schichten der Bevölkerung. bisher: Kapitalismus kontra Sozialismus, sondern um Der Ton, in dem kraft wirtschaftlicher Überlegenheit die Frage, welchen eigenen Weg Afrika in Richtung über die Geschicke eines Kontinents verfügt wird, hat Marktwirtschaft und Demokratie beschreiten will. sich seit einigen Jahren verändert. Geblieben sind offensichtlich aber ein tiefverwurzeltes Überlegen- Afrika darf dabei nicht in der Angst verharren, daß heitsbewußtsein und eine aus ihm resultierende Arro- die internationale Aufmerksamkeit und die finanziel- ganz des entwickelten Nordens, die auch der vorlie- len Zuwendungen nachlassen oder sich auf andere gende Bericht nicht leugnen kann. Regionen verlagern könnten. Afrika muß seine Hoff- nung selbst formulieren und selbst die Bedingungen (V o r sitz : Vizepräsidentin Renate Schmidt) zur Erfüllung dafür schaffen. Afrika ist der geborene Wieder einmal hat der sogenannte „weiße Mann" die Partner Europas. Aber dies bitte in voller Souveräni- Probleme erfaßt und die Lösung parat. tät. Ich danke Ihnen. Demokratie und Marktwirtschaft nach westeuro- päischem Vorbild — offensichtlich ist das so, und man (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der kann sich wahrscheinlich auch nichts anderes vorstel- SPD) len; da danke ich übrigens Frau Walz für ihren Beitrag — sind das Allheilmittel, das dem schwarzen Konti- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort nent aber ohne hinreichende Diagnose verordnet hat die Abgeordnete Frau Dr. Fischer. wird. Der Bericht verdeutlicht für mich erstens den unge- (PDS/Linke Liste): Herr Präsi- Dr. Ursula Fischer brochenen Eurozentrismus einer Politik, da jede dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu den vorlie- Annäherung an die eigentlichen Ursachen von Armut genden Beschlußempfehlungen und Berichten bzw. und Unterentwicklung verhindert wird, und zweitens Anträgen kann ich aus Zeitgründen leider nur einige die fehlende Bereitschaft, authentische Überlegun- Aspekte ansprechen. Richtig und wichtig ist, daß die gen und Erfahrungen des Südens zu respektieren und afrikanischen Staaten bei ihren Bemühungen um die gleichberechtigt partnerschaftlich einzubeziehen. Bewältigung ihrer aktuell dringenden wie auch lang- fristigen Probleme internationale Unterstützung be- Wir negieren an dieser Stelle, um Mißdeutungen nötigen. Hunger, Armut und Unterentwicklung vorzubeugen, nicht, daß auch die inneren Rahmenbe- haben gerade in Afrika katastrophale Dimensionen dingungen in den afrikanischen Ländern für die erreicht, die wir nicht länger hinnehmen dürfen, Lösung der Probleme von Unterentwicklung, Armut denen wir uns auch nicht länger entziehen dürfen und und Hunger von großer Bedeutung sind. Meine Frage im übrigen auch nicht können. Regionale Zusammen- an dieser Stelle ist allerdings auch: Wie sind diese arbeit im Rahmen der OAU oder der Schaffung einer Rahmenbedingungen entstanden? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6813

Dr. Ursula Fischer Alle internen Reformanstrengungen auf einer licht wird. Ich frage, warum. Hängt dies mit den intensiven regionalen Zusammenarbeit der afrikani- traditionell positiven Einstellungen Bonner Politik zu schen Länder bleiben notwendigerweise ohne sehr den bisher herrschenden politischen Kräften in Süd- unzureichende Ergebnisse, solange sich die diskrimi- afrika einerseits und mit der großen Distanz zur MPLA nierenden internationalen Rahmenbedingungen andererseits zusammen? nicht grundlegend ändern, die die entscheidenden Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch Ursachen der aktuellen Krise auch in dieser Region einige kurze Bemerkungen zu den Entwicklungen in sind. der Republik Südafrika machen. Das für den 17. März Schuldenlast, „terms of trade" und Handelsprotek- vorgesehene Referendum über die Abschaffung der tionismus, u. a. mehr des Nordens, strangulieren nach Apartheid stellt einen äußerst riskanten politischen wie vor alle Versuche der Entwicklungsländer, sich an Schachzug dar. Es handelt sich um ein ausschließlich den eigenen Haaren aus der Misere zu ziehen, wie es weißes Referendum, in dem die weiße Bevölkerung von ihnen verlangt wird. Entwicklung, die immer sehr die Gelegenheit erhält, eine politische Verhandlungs- unterschiedlich definiert wird, läßt sich halt nicht lösung durch ihr Veto zu blockieren. Es muß somit als verordnen. Sie muß ermöglicht werden. der bisher massivste Versuch der Anhänger des Aufgabe des Nordens und der Bundesregierung ist Apartheidregimes gewertet werden, die bis heute es meiner Ansicht nach nicht, Konzepte zu exportieren erreichten Fortschritte unter Umständen wieder in und im Falle der Verweigerung durch einen Partner Frage zu stellen. Je nach Ausgang des Referendums notfalls aufzuzwingen. Was wirklich Aufgabe der könnte der bisher eingeleitete Reformprozeß in Süd- Bundesrepublik und der anderen Industrienationen afrika verlangsamt oder sog ar umgekehrt werden. sein kann und muß, ist die Schaffung der internatio- Das muß uns bewußt sein. nalen Bedingungen für eine dauerhafte Verbesserung Vizepräsidentin Renate Schmidt: Frau Kollegin, der Lage in den Ländern Schwarzafrikas wie auch in würden Sie bitte zum Ende kommen. allen anderen Entwicklungsländern. Zu diesbezüglichen konkreten Maßnahmen der Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Ich komme Bundesregierung äußert sich der vorliegende Bericht zum Ende. — Es wäre aus meiner Sicht unverantwort- bezeichnenderweise und meiner Ansicht nach bedau- lich, wenn Fehleinschätzungen, falsche politische Zei- erlicherweise überhaupt nicht. Die Einbeziehung der chen von seiten der internationalen Gemeinschaft internationalen wirtschaftlichen und politischen Rah- oder auch einzelne Länder die bisher erreichten menbedingungen in Überlegungen zur Überwindung Erfolge im Befreiungskampf der südafrikanischen von Unterentwicklung ist natürlich nicht neu. Auch Bevölkerung zerschlagen würden. Ich wünsche mir, der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit hat daß viele so reagieren wie Nelson Mandela auf der sich bereits mehrfach in diesem Sinne geäußert. Der Eröffnungskonferenz der CODESA, indem er sich Ihnen vorliegende Änderungsantrag der SPD zum eine Vision vorstellt, die nicht die Eroberer den Bericht zeigt, daß natürlich in diese Richtung gedacht Eroberten hinwerfen, sondern im Gegenteil eine wird. Allerdings war es selbst im Ausschuß für wirt- Vision, die Klüfte überbrücken und Wunden heilen schaftliche Zusammenarbeit als entwicklungspoli- will, welche die Apartheid aufgerissen hat. tisch relevantem Gremium aus meiner Sicht nicht möglich, einen Minimalkonsens herzustellen, der den Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das war ernst tatsächlichen Ursachen von Armut näherkommt. gemeint. Nur noch eine kurze Bemerkung zu den zu Angola vorliegenden Anträgen. Mit allem Nachdruck wen- Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): Damit ein den wir uns gegen die vorgeschlagene Empfehlung solcher Prozeß überhaupt eine Chance bekommt, des Bundestages an die Bundesregierung, sich freundschaftlich in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates einzumischen. Es ist in Vizepräsidentin Renate Schmidt: Jetzt ist es gleich erster Linie das Recht des angolanischen Volkes, dafür sehr ernst. zu sorgen, daß die freien, fairen und demokratischen (PDS/Linke Liste):... ist auch die Wahlen in ganz Angola auch wirklich stattfinden. Das Dr. Ursula Fischer internationale Gemeinschaft und mit ihr die Bundes- ist übrigens eine einmalige Chance nach Beendigung republik Deutschland gefordert. des Ost-West-Konflikts. Wie würden z. B. die Antrag- steller reagieren, wenn das Parlament eines Entwick- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) lungslandes seiner Regierung die Empfehlung gäbe, freundschaftlich darauf hinzuwirken, daß in Deutsch- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Sie haben Ihre land eine demokratisch gestaltete Vereinigung von Redezeit um eine Minute überzogen. zwei gleichberechtigten Staaten, nicht aber eine Als nächster hat der Kollege Konrad Weiß das durch Siegermentalität gekennzeichnete Anschluß- Wort. politik erfolgen möge? Konrad Weiß (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Frau (Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ Präsidentin! Meine Damen und Herren! Afrika hat CSU]: Sie wollten ja noch nicht einmal erste- nach dem Ende des Kolonialismus noch nicht wieder res!) zu sich selbst gefunden. Der Kontinent kommt nicht Ich möchte noch ganz kurz auf den Antrag zu zur Ruhe. Während sich im südlichen Afrika eine Südafrika eingehen. Mir fällt z. B. auf, daß ein ähnli- innere Befriedung anbahnt und Bürgerkriege enden, cher Vorschlag in bezug auf Südafrika nicht verwirk- brechen in anderen Regionen neue ethnische, reli- 6814 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Konrad Weiß (Berlin) giöse und politische Konflikte auf. Vorhandene wirt- Die Stärkung der SADCC als Gegengewicht zur schaftliche und politische Strukturen zerfallen. Insge- wirtschaftlichen Dominanz der Industrienationen ist samt hat sich die Situation in Afrika im zurückliegen- notwendig. Anders als die Regierungskoalition sehen den Jahrzehnt rapide verschlechtert. wir die Ursachen der Wirtschaftskrise nicht in erster Linie in den unzureichenden wi rtschaftlichen und Die deutsche Afrika-Politik ist zerfahren und eher politischen Rahmenbedingungen der afrikanischen zufällig. Die Vorlage des Bundesministeriums für Volkswirtschaften, sondern in den ungerechten, vom wirtschaftliche Zusammenarbeit, die Entwicklungs- Norden dominierten Strukturen der Weltwirtschaft. hilfe für China und Indien zu kürzen, stieß auf erheblichen Widerstand des Wirtschaftsministeriums Die Industrienationen sollten sich mit dem Schlag- und des Auswärtigen Amtes. Als es aber um die wort „korrupte Eliten" nicht aus der Verantwortung Länder Afrikas ging, war kaum ein Einspruch zu stehlen. Jahrzehntelang hat auch die Bundesregie- hören. Offensichtlich sind sie für die Bundesregierung rung solche korrupten Eliten unterstützt — auch die ohne nennenswerte Bedeutung. Regierung der DDR; das muß ich fairerweise hinzufü- gen —, wurden Diktatoren wie Mobutu in Zaire und Die Kommunikation zwischen dem Außenminister Siad Barre in Somalia durch finanzielle Zuwendungen und dem Bundesminister für wirtschaftliche Zusam- an der Macht gehalten. menarbeit sowie deren Resso rts scheint unterbrochen, zumindest aber gestört. Entwicklungszusammenarbeit, meine Damen und Herren, darf nicht als Erziehungsmaßnahme mißver- Die Konditionierung der Entwicklungszusammen- standen und braven Ländern gewährt, ungehorsamen arbeit, wie sie das BMZ vertritt und die wir im Ansatz aber verweigert werden. Angesichts der katastropha- bejahen, wird ständig durch andere Aktivitäten der len Situation der Menschen in Somalia wäre das purer Bundesregierung ad absurdum geführt. Zynismus. Tausende Menschen fallen dort einer sol- chen Politik zum Opfer. Obwohl die Versorgung der Auch die deutsche Wirtschaft be trachtet Afrika Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und mit medizini- offenbar längst als Konkursmasse, in die zu investie- scher Hilfe völlig unzulänglich, ja, geradezu katastro- ren nicht mehr lohnt. Menschen, die verhungern, die phal ist, ist nicht eine einzige deutsche Hilfsaktion im krank sind, die auf der Flucht sind, sind keine Konsu- Land. menten. Der Kontinent ist ausgeblutet, ausgeraubt. Tragödien, wie sie sich jetzt in Somalia abspielen, sind Wir fordern daher die großzügige Bereitstellung alltäglich. Sie werden kaum noch wahrgenommen. finanzieller und technischer Mittel für humanitäre Hilfe und schlagen eine Operation „Lifeline Somalia" Die Verantwortung dafür liegt auch — ich sage: ähnlich der Aktion der UNO und verschiedener Nicht- auch — bei den Ländern der nördlichen Hemisphäre, regierungsorganisationen vor zwei Jahren im Sudan liegt auch bei uns. Politisch sind die Länder Afrikas vor. Vertreter und Vertreterinnen der zahlreichen keine Kolonien mehr. Wirtschaftlich aber sind sie somalischen Flüchtlinge in Deutschl and, die sich in unselbständig, von uns abhängig geblieben. Deutsch- einem Komitee organisiert haben, sollten bei deut- land ist heute de facto mehr Kolonialmacht, als es vor schen Nothilfemaßnahmen einbezogen werden. dem Ersten Weltkrieg war. Der maßlose Wohlstand Europas und Nordamerikas verhindert Entwicklung Auch bezüglich Äthiopiens und Eritreas bleibt die und Fortschritt in Afrika. Unsere Raffgier vernichtet in Koalition hinter unseren Vorstellungen zurück. Wir Afrika die Natur. Der europäische Hochmut hat afri- freuen uns immerhin, daß die Bundesregierung inzwi- kanische Kultur zerstört. schen den Vorschlägen unseres im November einge- brachten Antrags gefolgt ist. Wir bedauern allerdings, Die weitere entwicklungspolitische Zusammenar- daß sie erst so spät aktiv wurde. Obgleich Staatsmini- beit mit Afrika ist nur dann sinnvoll, wenn wir zu ster Schäfer im Oktober Äthiopien zum zweitwichtig- wirklich tiefgreifenden und schmerzhaften Verände- sten Partnerland Deutschlands in Afrika erklärte, rungen bei uns in Deutschland und in Europa kom- blieben die entwicklungspolitischen Beziehungen bis men. Ohne eine wirklich neue Weltwirtschaftsord- vor kurzem unterkühlt. Nur die bestehenden Ver- nung, die eine gerechte Verteilung der Güter ermög- pflichtungen der alten Bundesrepublik bzw. der ehe- licht und deren höchstes Ziel nicht das Wachstum, maligen DDR wurden eingehalten. Konkrete Neuvor- sondern die Mäßigung ist, bleibt alle Entwicklungs- haben wurden im BMZ erst Ende Februar beschlos- politik Stümperei. sen. Zu einem Erlaß der Schulden hat sich die Bun- desregierung bis heute nicht entschließen können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Gruppe Bündnis 90/GRÜNE erwartet von der Erst nach dieser Präambel ist es mir möglich, zu den Bundesregierung, meine Damen und Herren, daß sie vorliegenden Anträgen Stellung zu nehmen. Die die Demokratisierungsprozesse in Afrika konsequent Gruppe Bündnis 90/GRÜNE folgt der Beschlußemp- fördert und hierfür ausreichend Mittel zur Verfügung fehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- stellt. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein res- menarbeit, meine Damen und Herren, die Integration sortsübergreifendes Konzept für eine neue Afrikapo- der Volkswirtschaften im südlichen Afrika zu unter- litik zu entwickeln, das zu wirklichen Veränderungen stützen. Wir meinen allerdings, daß die Einbeziehung führen kann. eines apartheidfreien Südafrika in die SADCC so Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. gestaltet sein muß, daß eine gleichberechtigte Ent- wicklung der anderen Staaten der Region möglich ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das wirtschaftliche Potential Südafrikas darf nicht zu der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke einer neuen Vormachtstellung führen. Liste) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6815

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Das Wort hat nun Eine marktorientierte Wirtschaftsverfassung eines Herr Bundesminister Carl-Dieter Spranger. demokratischen Südafrika ist eine grundlegende Vor- aussetzung hierfür. (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Soziale Marktwirtschaft, Herr Minister!) Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirt- schaftliche Zusammenarbeit: Frau Präsidentin! Meine — Ich nehme diese Korrektur gerne entgegen. Sehr Damen und Herren! Die Überwindung von Hunger gut! Vielen Dank. und Armut in Afrika ist nach wie vor die größte (Beifall bei der CDU/CSU) Herausforderung für die Entwicklungspolitik. Ich begrüße daher, daß Beschlußempfehlung und Bericht Es spricht sich schon herum, was ein gutes Modell des AWZ zum südlichen Afrika Gegenstand der ist. heutigen Parlamentsdebatte sind. (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das ist Die von Präsident de Klerk eingeleiteten bemer- bei uns nichts Neues, Herr Minister!) kenswerten und mutigen Schritte zur Überwindung — Ich muß diesen Dialog leider abbrechen, Herr der Apartheid in Südafrika weisen den Weg in eine Kollege; sonst läuft mir die Zeit davon. bessere, friedliche Zukunft für die gesamte Region. Sie bestätigen in eindrucksvoller Weise die Politik der Historische Chancen zu nutzen, das heißt für die CDU/CSU und der von ihr getragenen Bundesregie- internationale Entwicklungszusammenarbeit, den rung, die auf einen Ausgleich zwischen weißer Bevöl- Frieden auf dieser Welt durch aktive Unterstützung kerung und schwarzer Mehrheit, auf Gespräche statt demokratischer und marktwirtschaftlicher Reformen einseitige Verurteilung und Ausgrenzung und auf sicherer zu machen. Gerade in der schwierigen Phase Zusammenarbeit im Interesse der Menschen statt des Übergangs von der Plan- zur Sozialen Marktwirt- Isolation setzt. schaft, von der Diktatur zur Demokratie bedürfen viele Länder des Südens unserer flexiblen und zielge- Die Politik von Präsident de Merk steht beim richteten Unterstützung. Dies gilt verstärkt für die Referendum am 17. März 1992 vor einem kritischen Länder des südlichen Afrika angesichts einer sich Test. Ich wünsche, daß sein Bekenntnis zu Vernunft abzeichnenden Dürrekatastrophe. Inte rnational koor- und Zusammenarbeit, zu Freiheit und Demokratie, dinierte Maßnahmen zum Erstellen verläßlicher zum wirtschaftlichen und sozialen Ausgleich inner- Schätzungen über das Ausmaß der drohenden Nah- halb Südafrikas und in der gesamten Region eine rungsmitteldefizite und der erforderlichen Hilfsmaß- breite Mehrheit finden wird. nahmen wurden bereits eingeleitet. (Beifall im ganzen Hause) Ich begrüße den Antrag der Koalitionfraktionen, entwicklungspolitische Chancen in Umbruchsituatio- In den weiteren Beratungen des „Konvents für ein nen zu nutzen und hierbei auch über die politischen demokratisches Südafrika" müssen sich alle wichti- Stiftungen den demokratischen Prozeß zu ermutigen gen Gruppierungen eindeutig zu einer freiheitlichen und Reformkräfte zu stärken. und demokratischen Gesellschaftsordnung sowie einer auf Privatinitiative und P rivateigentum grün- (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut!) denden Wirtschaftsordnung mit sozialer und ökologi- Ich sehe das genauso. Deshalb werden wir darüber mit scher Verantwortung bekennen. den politischen Stiftungen sprechen. Eine solche Grundlage würde die Perspektiven Ebenso teile ich die Auffassung, daß Äthiopien und einer engeren Zusammenarbeit Südafrikas nicht nur Eritrea gerade jetzt der Unterstützung bedürfen, um mit Deutschland und der EG verbessern, sondern auch Frieden und Demokratie eine wirkliche Chance zu mit den in der SADCC zusammengeschlossenen Staa- eröffnen. Die Bundesregierung hat bereits Gespräche ten. Auch sie haben in ihrer großen Mehrheit erkannt, mit der äthiopischen Übergangsregierung aufgenom- daß ein solches Fundament nicht nur für ihre nationa- men und konkrete Vereinbarungen über die Entwick- len Entwicklungsbemühungen, sondern auch für die lungszusammenarbeit getroffen. Seit Juni 1991, nicht regionale Zusammenarbeit förderlich ist. erst in diesen Tagen, wurden durch Neuzusagen bzw. Die Bundesrepublik Deutschland hat seit 1981 die Aktivierung früherer Zusagen 106 Millionen DM SADCC-Projekte mit rund 111 Millionen DM direkt mobilisiert. Herr Kollege Weiss, wir haben uns da gefördert, und in den Jahren 1990 und 1991 wurden lange und intensiv Gedanken gemacht und abgeklärt, bilateral Zusagen für Hilfe in Höhe von 598 Millionen wann überhaupt Möglichkeiten bestehen, daß wir DM an die Staaten der Region gegeben. hier tätig werden können. Das ist immer noch eine sehr schwierige Situation. Ich glaube, wir sind so früh Die Bundesregierung wird das wirtschaftliche, wie irgend möglich in diese Entwicklungszusammen- soziale und politische Zusammenwachsen des südli- arbeit wieder eingestiegen. chen Afrika auch weiterhin unterstützen und sich an Auch in Eritrea brauchen die Menschen Hilfe, und grenzüberschreitenden Projekten beteiligen. Die sie brauchen sie jetzt. Die besondere politische Situa- Integration des wirtschaftlichen Potentials Südafrikas tion Eritreas macht das Beschreiten neuer, unkonven- in die SADCC ist eine historische Chance, die zum tioneller Wege erforderlich. Völkerrechtliche Verein- Wohle aller Staaten der Region genutzt werden barungen können mit Eritrea erst dann abgeschlossen sollte. werden, wenn es nach dem Referendum im Jahre 1993 (Beifall im ganzen Hause) ein selbständiges Völkerrechtssubjekt geworden ist. 6816 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Bundesminister Carl-Dieter Spranger Im Februar 1992 hat eine BMZ-Delegation bereits Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächster hat Gespräche über eine Aufnahme der Zusammenarbeit unser Kollege Dr. Volkmar Köhler das Wort. geführt. Sie soll auf der Grundlage von Absprachen zwischen den deutschen Durchführungsorganisatio- nen und der provisorischen Regierung von Eritrea Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine begonnen werden. Herren! Die Lage im südlichen Afrika erfordert Unkonventionelle Wege haben wir auch in Somalia schnelles und entschlossenes Handeln. Der Antrag, beschritten. Neben Nahrungsmittellieferungen hat den wir heute hier verabschieden, bietet dafür eine die Bundesregierung — im Einvernehmen mit dem ausgezeichnete Grundlage. Sicherheitsrat der Vereinten Nationen — einer deut- Ich bedaure persönlich, daß seit den ersten Zeilen zu schen Hilfsorganisation die dringend benötigten diesem Antrag über ein Jahr vergangen ist, bis er in Minenräumpanzer zur Verfügung gestellt. Wir stehen diesem Hause mehrheitsfähig wurde. in Kontakt mit Reformkräften im Norden Somalias und Inzwischen ist die Entwicklung im südlichen Afrika versuchen auch hier, alle Möglichkeiten für Entwick- lungszusammenarbeit im Interesse der Menschen zu rapide verlaufen. Die schon immer vorhandenen Wirt- schaftsbeziehungen zwischen Südafrika und seinen nutzen. schwarzafrikanischen Nachbarn werden inzwischen (Beifall bei der CDU/CSU) in aller Offenheit fortgesetzt. Der Handel zwischen der südafrikanischen Republik und Schwarzafrika ist Nicht nur in Somalia gilt: Die Bewahrung und im schnellen Anwachsen begriffen. Sicherung des Friedens ist eine unerläßliche Voraus- setzung für Entwicklungen. Ich begrüße daher die Die politische Normalisierung ist bereits mit einer Empfehlungen der Koalitionsfraktionen, bereits jetzt ganzen Reihe von Nachbarstaaten erfolgt. Wo dieser zu überlegen, wie wir bei der Demobilisierung der ca. Prozeß noch zögerlich erfolgt, ist das auf Rücksicht nahmen schwarzer Staatsführer gegenüber dem ANC 200 000 Soldaten in Angola helfen können. Die Bun-- desregierung plant, im Rahmen der künftigen Ent- zurückzuführen. In Wahrheit ist die verstärkte wirt- wicklungszusammenarbeit mit Angola Vorhaben im schaftliche und politische Zusammenarbeit der süd- Bereich der beruflichen Bildung zu fördern, die sich afrikanischen Republik mit Schwarzafrika eine der gleichermaßen an ehemalige Soldaten und an die ganz wenigen Möglichkeiten, zusätzliches Potential Zivilbevölkerung richten. zur Lösung der wirtschaftlichen, sozialen und politi- schen Probleme Afrikas zu erschließen. Diese Chance (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. darf nicht versäumt werden. Ulrich Irmer [F.D.P.]) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der Die Beachtung der Menschenrechte und „gute SPD) Regierungsführung" sind unerläßliche Kriterien für Da ich diesen Gedanken seit mehreren Jahren in die Vergabe deutscher Entwicklungshilfe. Ich habe Wort und Schrift vertrete, nehme ich mir heraus, in aber immer wieder betont: Wir dürfen die arme Richtung Pretoria ganz klar zu sagen, wie sehr es Bevölkerung eines Landes, die unter einem men- darauf ankommt, daß eine solche Wirtschaftsgemein- schenrechtsverachtenden Regime leidet, nicht zusätz- schaft nicht mit einer südafrikanischen Hegemonie lich bestrafen. Wir müssen vielmehr alle Möglichkei- verwechselt wird. ten nutzen, das Los der armen Bevölkerung in solchen (Zuruf von der SPD: Richtig!) Ländern zu mildern. Wir haben auch hier in Europa gelernt, wie wichtig es Daß es uns mit der Umsetzung dieser Politik ernst ist, die Interessen der kleinen Partnerstaaten ernst ist, unterstreicht unsere Haltung zur Entwicklungszu- zunehmen, und das muß man auch in Pretoria zur sammenarbeit mit Sudan. Die Bundesregierung ver- Kenntnis nehmen. urteilt die Politik der Militärjunta in Khartum ebenso (Reinhard Freiherr von Schorlemer [CDU/ wie die Menschenrechtsverletzungen und Verbre- CSU]: Sehr wahr!) chen, die von allen Beteiligten bei den kriegerischen Auseinandersetzungen im Süd-Sudan begangen wer- Eine Wirtschaftsgemeinschaft im südlichen Afrika ist den. die beste Chance für neue wirtschaftliche Wachstums- impulse in diesem Teil unseres Nachbarkontinents, Im Interesse der Menschen leisten wir aber erheb- für die Bildung größerer Binnenmärkte und für eine liche Beiträge an bewährte Nichtregierungsorganisa- verbesserte Zusammenarbeit mit den außerafrikani- tionen, die Hilfsmaßnahmen im Süd-Sudan durchfüh- schen Handelspartnern. ren. Darüber hinaus fördern wir im Süd-Sudan Maß- Dazu ist es erforderlich, daß die schwarzafrikani- nahmen in den Bereichen Basisgesundheit, Wasser- schen Nachbarn Südafrikas nicht länger zögern, der versorgung und landwirtschaftliche Produktion und südafrikanischen Republik den Weg in die Gemein- unterstützen auch weiterhin Flüchtlingsprojekte im schaft der SADCC-Staaten zu eröffnen. Präsident Ost-Sudan. Mugabe hat bei seinem Besuch in Bonn den Beitritt All dies zeigt, meine Damen und Herren: Die Südafrikas zu SADCC als einen naheliegenden, ver- Neuausrichtung der deutschen Entwicklungszusam- nünftigen und bald bevorstehenden Schritt bezeich- menarbeit ist keine theoretische Forderung. Sie ist net. entwicklungspolitische Praxis. Die Bundesregierung (Zuruf von der SPD: Richtig!) wird auf diesem Weg konsequent fortschreiten. Dies sollte nun geschehen, und ich bitte die Bundes (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) regierung, die aus der Fülle unserer Hilfe für die Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6817

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) SADCC-Staaten hervorgehende Verhandlungskraft bröckelt. Es geht um den mühsamen Prozeß der zielbewußt zu nutzen, um diesen Prozeß voranzutrei- Überwindung von Strukturen, die die Apartheid hin- ben. terlassen hat, die in Jahrzehnten entstanden sind und (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der die nicht in wenigen Tagen oder Monaten beseitigt SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) werden können. Hier hat die internationale Staaten- gemeinschaft eine große Verantwortung. Für die Wir werden, meine verehrten Kolleginnen und Mehrheit der Menschen in der Republik Südafrika ist Kollegen, zugleich heute einen Entschließungsantrag dieser Reformprozeß dann am ehesten glaubhaft, zur Situation in der Republik Südafrika verabschie- wenn die persönlichen Lebensbedingungen ertragbar den. Wir haben in der letzten Zeit mit Spannung und bleiben oder sich für die schwarze Mehrheit sogar Genugtuung die Fortschritte beim Verhandlungspro- verbessern. Die großen Defizite im Wohnungswesen, zeß der CODESA verfolgt. Dieser Demokratisie- im Gesundheitswesen, im Ausbildungswesen und bei rungsprozeß ist aus unserer Sicht von größter Bedeu- den sozialen Einrichtungen müssen ausgeglichen tung und Wichtigkeit. Die jüngsten Fortschritte, die werden. Hier muß bald Sichtbares geschehen. Das CODESA in bezug auf Interimslösungen und Minder- geht nicht ohne die Stärkung der Wirtschaftskraft heitenschutz zu Beginn dieser Woche erzielt hat, Südafrikas. Hier müssen die westlichen Industriestaa- halten wir für positiv. ten mehr leisten als nur eine Beendigung der Sank- (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) tionen. Südafrika muß wirtschaftlich eine neue Chance erhalten. Im Schlußabsatz unseres interfrak- Aber wir können in dieser Situation nur mit einiger tionellen Antrags ist mehr oder minder in Aussicht Sorge auf den 17. März, auf den Tag des Referen- gestellt, daß wir dies wollen. dums, schauen. Im übrigen ist dies erst das vierte Referendum in der Geschichte dieses Staates. Es ist Ich glaube, wir haben etwas zu bieten. Die Bundes- ganz interessant, sich in Erinnerung zu rufen, an republik ist der wichtigste Lieferant Südafrikas und welchen Weichenstellungen so etwas geschah. Dieses steht als Abnehmer südafrikanischer Waren hinter Referendum war offenbar nötig, weil Präsident de Italien und Japan an dritter Stelle. Bei den Privat- Klerk seine politische Basis nach dem Wahlergebnis in investitionen sind wir in einer ganz prominenten Potchefstroom als gefährdet betrachten mußte; einem Position. Aber darüber hinaus ist auch wichtig, zu Wahlergebnis, das mißverstanden wäre, betrachtete realisieren, daß rund 80 % der Wirtschaftsbeziehun- man es nur als Ausdruck ewiggestrigen Denkens. Das gen Südafrikas mit Europa abgewickelt werden. Dar- ist nicht nur ein Ergebnis rassistischen Denkens und aus ergibt sich meines Erachtens die Notwendigkeit einer der Zukunft nicht zugewandten Blickrichtung, einer vorwärtsgerichteten politischen Strategie. Der nein, dahinter steckt auch etwas von der wirtschaftli- Wegfall der Sanktionen im richtigen Augenblick darf chen Problematik des Landes, von der Dürre, unter der nicht das letzte Wort sein. Wenn Südafrika seine die Landwirtschaft immer mehr leidet, und von den internen Zukunftsaufgaben lösen und zugleich eine Folgen der Wirtschaftsrezession, die gerade auch die konstruktive Rolle auf dem afrikanischen Kontinent unteren, die ärmeren Schichten der weißen Bevölke- spielen soll, muß anstelle seiner Isolation seine Ein- rung, getroffen hat, über die leider allzuoft hinwegge- bindung in das internationale ökonomische Netzwerk sehen wird. und zugleich in die Gemeinschaft der freien Völker in politischer Hinsicht zum Ziel gemacht werden. Wir hoffen auf einen überzeugenden Ausgang. Dazu ist mehreres nötig, und zwar, daß nicht nur die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Mehrzahl der abgegebenen Stimmen, sondern in Denn es geht um die Wiederaufnahme Südafrikas in Wahrheit die Mehrzahl der Wahlberechtigten dieses die Völkergemeinschaft, und das sollte etwas sein, Referendum unterstützen. Ich persönlich betrachte das wir in Deutschland, die wir selbst einmal außer- mit großer Sorge die Möglichkeit, daß ein positives halb dieser Gemeinschaft gestanden haben, gut ver- Ergebnis nur durch die Stimmen der traditionell stehen und worauf wir hoffentlich gut zu reagieren stärker liberal gesinnten englischsprachigen Südafri- wissen. kaner möglich wäre, was die Buren als Niederlage empfinden müßten. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) (Zuruf von der SPD: Na ja!) Wenn Südafrika seinen Weg zur Beseitigung der Deswegen möchte ich derzeit speziell die Buren Apartheid und zur friedlichen Lösung der Probleme anrufen und sie ersuchen, zu erkennen, daß ein Weg des Zusammenlebens schwarzer und weißen Völker zurück nicht mehr frei ist, es sei denn in einem Meer konsequent fortsetzt, dann müssen wir im Interesse von Blut. Die Buren müssen begreifen, daß sie die des Gelingens dieses Experiments auch erwägen, ob Zukunft gewinnen müssen und daß sie den Lauf der nicht spezielle Wirtschafts- und Handelsbeziehungen Geschichte nicht mehr aufhalten können. zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Süd- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) afrika angebracht sind, nachdem ganz Afrika im Der Reformprozeß ist in seinem Wesen unumkehr- übrigen in solchen Beziehungen zu Europa steht. bar geworden. Wir tun gut daran, alle politisch han- Nach meiner Ansicht erfordert unsere Interessenlage delnden Kräfte zu ermutigen und konstruktiv zu eine langfristig angelegte Politik des konstruktiven begleiten. Wir müssen in den künftigen Jahren immer Engagements. Es ist dafür hohe Zeit, hoffentlich nicht wieder sowohl de Klerk als auch Nelson Mandela schon zu spät. helfen, daß deren politische Basis nicht unter dem Ich persönlich bin froh, daß ich hier nicht eine Druck der Schwierigkeiten des Reformprozesses zer- jahrelange Politik der Sanktionen zu verteidigen 6818 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Volkmar Köhler (Wolfsburg) habe, die tiefe Schädigungen in der Wirtschaft und in Geschieht dies nämlich nicht, dann verläuft jede der Beschäftigungssituation des Landes zur Folge wirtschaftliche Strukturreform in einem afrikanischen hat. Land wortwörtlich im Sand. (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr Zum letzten Weltwirtschaftsgipfel in London im richtig!) Dezember letzten Jahres hat die „Gemeinsame Kon- Ich bin froh, sagen zu können, daß wir 1977 in das ferenz Kirche und Entwicklung" — GKKE —, haben Grundsatzpapier unserer Fraktion zu Südafrika hin- also die beiden großen Kirchen unseres Landes eine eingeschrieben haben: Wir fordern die Beseitigung bemerkenswerte Studie veröffentlicht mit dem Titel der Apartheid und sind unter diesen Umständen „Plädoyer für Afrika". In ihr spricht die EKKG von bereit, konkret wirtschaftlich dem L and auf die Beine einem verlorenen Jahrzehnt für Afrika und verweist zu helfen. zum Beleg u. a. auf den Verfall der terms of trade und der „Verfangenheit in der Schuldenfalle". Sie fordert (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. daher — und dieser Forderung möchte ich mich vor- Ulrich Irmer behaltlos anschließen —: „Diesem Verfall, dessen Dies habe ich 1982 in Pretoria auf einer großen Opfer die armen Menschen sind, dürfen die reichen außenpolitischen Tagung vertreten, und ich bin froh, Länder des Westens nicht teilnahmslos zusehen." Die wenn es heute im Grundsatz die Mehrheit dieses Kirchen verweisen auf die Kolonial- und — für mich Hauses ebenfalls tut. bemerkenswert selbstkritisch — die Missionszeit und die sich aus dieser historischen Verantwortung erge- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der bende Verpflichtung für Europa. SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) An dieser Stelle ist uns der Antrag der Koalitions- fraktionen einfach zu dünn. Wir sollten immer wieder den Mut haben, uns zu unserer Geschichte zu beken- Nun hat das Wort Vizepräsidentin Renate Schmidt: nen. Ich zitiere noch einmal: unser Kollege Hans-Günther Toetemeyer. Wir Bürger und Christen sind hier als Nächste gefragt, wenn es uns auch angesichts deutscher und gesamteuropäischer Sorgen schwerfallen Hans-GüntherToetemeyer (SPD): Frau Präsidentin! Meine lieben am Thema interessierten Kolleginnen mag, dieser Anforderung die ihr gebührende und Kollegen! Aufmerksamkeit zu schenken. (Heiterkeit und Beifall) Ausdrücklich teilt die GKKE die Sorge der afrikani- schen Länder, daß aus diesem Grunde eine Ressour- Seit der Einbringung des Antrags der Koalitionsfrak- cenverlagerung in Europa stattfindet, und fordert tionen zum Frieden und zur Entwicklung im südlichen eindringlich, daß ein Privatisierungssystem nicht zu Afrika im Juni des vergangenen Jahres — der Kollege Lasten Afrikas erfolgen darf. Köhler hat noch einmal darauf hingewiesen; so lange ist das schon her — Ich möchte an drei Punkten unser Anliegen noch einmal deutlich machen. (Dr. Volkmar Köhler [Wolfsburg] [CDU/ CSU]: Da ist er erst eingebracht worden! Ein Erstens. Ich hatte schon in der ersten Lesung darauf halbes Jahr vorher haben wir schon darüber hingewiesen, wie die gegenwärtige außenwirtschaft- geredet!) liche Lage der afrikanischen Länder trotz jahrzehnte- langer Entwicklungshilfe bei unterschiedlichen Re- — richtig — hat sich in dieser Region vieles — ich gierungen ist. Die Kirchen haben recht, wenn sie hoffe, wir stimmen darin überein, Herr Kollege Köh- darauf hinweisen, daß eine Verbesserung dieses ler — zum Positiven verändert. Insbesondere die Ent- Zustandes nicht durch das Anwerben vermehrter wicklung in der Republik Südafrika in den letzten Direktinvestitionen allein erreicht werden kann, auch Wochen macht auf einmal unsere heutige Debatte nicht durch schlichte quantitative Verbesserung der hochaktuell. Zu diesem Thema hat der Kollege Günter Hilfe, sondern daß es hier — und auch da stimme ich Verheugen eben gesprochen. Ich möchte mich daher den Kirchen zu — „vielmehr um einen Abbau des in meinen Ausführungen auf Ihren Antrag, den ich außenwirtschaftlichen Drucks, der auf den Entwick- eben erwähnt habe, sowie auf den von uns einge- lungsländern lastet, vor allem in Gestalt von Nettoka- brachten Antrag zu Angola beschränken. pitalabflüssen auf Grund bestebener Zahlungsver- Zunächst zur Regionalpolitik im südlichen Afrika. pflichtungen und dem damit verbundenen Zwang, Obwohl es unsererseits zu wichtigen Feststellungen Devisen und Exporte zu verdienen" geht. Ihres Antrags Zustimmung gibt, vermissen wir doch Zweitens. Wenn Sie in Ihrem Antrag die Bundesregie- wesentliche Aussagen. Dies war der Grund für die rung auffordern, „ihre Außen-, Wirtschafts- und Ent- Einbringung unseres Änderungsantrags. Sosehr wir wicklungspolitik im Rahmen der gemeinsamen Politik Ihrer Forderung nach notwendiger Umstrukturierung der europäischen Mitgliedstaaten" entsprechend aus- afrikanischer Volkswirtschaften zustimmen, müssen zurichten, so ist dies unserer Auffassung nach wie- wir immer wieder darauf hinweisen, daß gleichzeitig derum zu kurz ge treten. Unberücksichtigt bleiben die — gleichzeitig! — Strukturreformen sowohl in den Folgen, die sich ab 1993 durch Realisierung des Industrieländern als auch in der Weltwirtschaft durch- europäischen Binnenmarktes für Afrika ergeben. Es geführt werden müssen. ist doch unbezweifelbar so, meine Damen und Herren, (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ liebe Kolleginnen und Kollegen, daß das schon heute GRÜNE) vorhandene EG-interne Strukturgefälle zwischen Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6819

Hans-Günther Toetemeyer Nord- und Südländern dann deswegen ab 1993 voll Abschließend noch einige Sätze zu Angola: Ein zum Tragen kommen wird, weil die Südländer inner- weiteres afrikanisches Land befindet sich nach halb Europas darauf drängen werden, als Kompensa- 16 schrecklichen Kriegsjahren — Übertragung des tion vom Angebotsdruck aus Drittländern entlastet zu Ost-West-Konfliktes auf ein völlig unbeteiligtes werden. Volk — auf einem hoffnungsvollen Weg zum Frieden. Wir waren Anfang Februar mit einer Delegation der ( [CDU/CSU]: Vielleicht macht Deutsch-Afrikanischen Parlamentariergruppe im der Herr Lafontaine Vorschläge dazu!) Lande. Die Erkenntnisse, von denen ich hoffe, daß alle Ich teile daher die Befürchtung der Kirchen, daß die Fraktionen ihnen — der Kollege Waldburg-Zeil hat es Weiterentwicklung zum EG-Binnenmarkt überwie- ja angedeutet — am Ende zustimmen können, sind in gend negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche unserem Antrag als Aufforderung an die Bundesre- Entwicklung der afrikanischen Länder haben wird. gierung zusammengefaßt. Eine Revision von Lomé IV erscheint mir daher Uns scheint allerdings umgehend politisches H an dringend geboten, da der Vertrag bis heute diesen -deln erforderlich zu sein, wobei ich mich heute auf Gefahren keine Rechnung trägt. Leider ist er, wie die einen Punkt, nämlich auf den der Minenräumung, Fachleute wissen, 1990 für zehn Jahre abgeschlossen beschränken möchte. Da dies — ähnlich wie in Soma- worden, so daß rechtlich erst im Jahre 2000 eine solche lia — nur von einer NGO durchgeführt werden kann, Korrektur möglich ist. Dies könnte zu spät sein. bin ich sehr glücklich, Ihnen hier heute mitteilen zu können, daß Dr. Rupert Neudeck vom Komitee Cap Drittens. Es fehlt in Ihrem Antrag nach unserer Anamur/Deutsche Not-Ärzte sowohl dem Auswärti- Auffassung auch eine kritische Auseinandersetzung gen Amt als auch mir gestern mitgeteilt hat, ein mit den sogenannten Strukturanpassungsprogram- entsprechendes Minenräum-Equipment in Angola zu men. Auch hier haben die Kirchen recht, wenn sie übernehmen. darauf hinweisen: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Gerade in den ärmsten Ländern Afrikas dürfen F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE) sich diese Programme nicht in erster Linie an der Wegen der Bedeutung dieser Maßnahme — denn Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit des sonst könnten sehr viele Orte zu Wahlregistrierung, Landes ausrichten, sondern am Ziel einer nach- die im Augenblilck stattfindet, wegen Verminung gar haltigen Befriedigung der Grundbedürfnisse der nicht erreicht werden, es könnte dort auch keine Wahl Menschen (Nahrung, Kleidung, Wohnung, Ar- stattfinden — muß hier, Herr Staatsminister, sehr beit). schnell gehandelt werden. Ich bitte daher das Aus- Daher fordern wir in unserem Ergänzungsantrag, wärtige Amt, die erforderlichen Schritte umgehend der Ihnen vorliegt, Strategien hierzu, die eine auf einzuleiten. Wir alle sollten diesem an Ressourcen so Dauer tragfähige, wi rtschaftlich produktive, sozial reichen Land nach langen Jahren unsagbaren Leidens gerechte und menschenwürdige Entwicklung för- auf dem Weg in eine friedliche Zukunft tatkräftig zur dern. Es geht also um eine entscheidende Modifizie- Seite stehen. rung dieser Strukturanpassungsprogramme — und Lassen Sie mich abschließend noch einmal aus der hier darf ich noch einmal die Kirchen zitieren —, Studie zitieren: „damit sie nicht (wieder einmal) zu Lasten der Ärm- Die Kirchen plädieren dafür, daß Afrika ange- sten gehen und damit quasi nachträglich das Verhal- sichts der tiefgreifenden Veränderungen in ten der Eliten in diesen Ländern sanktionieren". Europa nicht abgeschrieben und vergessen In diesem Zusammenhang verweisen die Kirchen wird. darauf, daß sie selber — wer mit ihnen öfter spricht, Ich danke Ihnen. wird das immer wieder hören — als Folge dieser (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Strukturanpassungsmaßnahmen in einem ihre Mög- F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE) lichkeiten bei weitem übersteigenden Maße von den afrikanischen Regierungen gebeten werden, Verant- wortung für das Erziehungs- und Gesundheitswesen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat Herr und für Aufgaben der sozialen Sicherung zu überneh- Staatsminister Helmut Schäfer das Wort. men, weil hierfür keine staatlichen Mittel mehr vor- handen sind. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wir hatten schon bei den Beratungen im Ausschuß Bundesregierung unterstützt die Politik von Staats- entsprechende Ergänzungen Ihres Antrags gefordert. präsident de Klerk und Nelson Mandela. Sie hofft Ich bedauere sehr, daß es nicht zu einem gemeinsa- daher auf eine möglichst breite Unterstützung des men Antrag hat kommen können. Wegen der aufge- Referendums am 17. März. zeigten Defizite können wir Ihrem Antrag leider nicht zustimmen. Wir bitten um Annahme unseres Ände- Bei unseren Gesprächen in Südafrika — auch bei rungsantrages. Da wir aber dem Ansatz Ihres — wie meinen Gesprächen im vergangenen November — dargestellt, unvollkommenen — Antrages nicht wi- mit allen wesentlichen Repräsentanten dort waren wir dersprechen wollen und können, werden wir uns in uns darin einig, daß es keine Alternativen zu dem der Schlußabstimmung der Stimme enthalten. Prozeß der völligen Beseitigung der Apartheid in Südafrika geben kann. Das war sowohl die Meinung (Dr. Volkmar Köhler [Wolfsburg] [CDU/ des Staatspräsidenten als auch des ANC-Vorsitzen- CSU]: Das habe ich mir schon gedacht!) den, aber auch die Auffassung der Liberalen Demo- 6820 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Staatsminister Helmut Schäfer kratischen Partei und — damals zumindest noch — erklärt, daß sie bereit ist, Südafrika bei der Lösung der Inkatha Freedom Party. Daß sich die rassistische seiner wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu konservative Partei mit dieser Entwicklung nicht unterstützen. Ich verweise in diesem Zusammenhang abfinden will, ist ein trauriges Beispiel für einen auch auf die Erklärung des Europäischen Rates in Rom völligen Realitätsschwund. vom Dezember 1990, in der die europäischen Staaten Südafrika vollzieht jetzt das längst fällige Abgehen ihre Bereitschaft erklärt haben, „einen Beitrag zur von der von vornherein zum Scheitern verurteilten Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Verbesse- Apartheidpolitik, die letztlich diesem Land schweren rung der wirtschaftlichen und sozialen Lage" durch politischen und wirtschaftlichen Schaden zugefügt die Aufhebung des Verbots neuer Investitionen zu hat. Im Sommer des vergangenen Jahres wurden mit leisten. der Abschaffung zentraler Apartheidsgesetze und der Eine Reihe der restriktiven Maßnahmen ist bereits weitgehenden Freilassung der politischen Gefange- aufgehoben worden. Herr Kollege Spranger hat aber nen entscheidende Fortschritte erzielt. darauf hingewiesen, daß wir uns bewußt sind, daß Ein weiterer wichtiger Schritt, den wir heute schon Südafrika seine Dritte-Welt-Problematik morgen diskutiert haben, war die Einberufung des Konvents nicht allein lösen kann. Es sind Voraussetzungen zu für ein demokratisches Südafrika, CODESA, am schaffen, daß wir zusammen mit unseren europäi- 20. Dezember, bei dem die EG einen offiziellen Beob- schen Partnern Südafrika helfen und einen sichtbaren achterstatus hat. Es gibt bereits erste positive Ergeb- Beitrag zu einem neuen, demokratischen Südafrika nisse der Arbeiten des Konvents. So besteht grund- leisten. sätzliche Übereinstimmung über ein ungeteiltes Süd- Es ist offenkundig, daß mit dem Referendum am afrika und über einige Grundzüge der künftigen 17. März auch über die Entwicklung der künftigen staatlichen Ordnung. Ich bin froh, daß man sich regionalen Zusammenarbeit entschieden wird. Ein inzwischen auch etwas dem Föderalismus zuwendet, negatives Votum wäre für die gesamte Region ein was vor einigen Monaten noch nicht der Fall war. schwerer Rückschlag. Der Ausbau der wirtschaftli- Vieles ist aber noch zu tun. Ich nenne nur die chen Zusammenarbeit zwischen Südafrika und seinen Bildung einer Übergangsregierung, die Ausarbeitung Nachbarstaaten wäre in Gefahr. Wir alle hoffen, daß einer demokratischen Verfassung und die Abschaf- es nicht dazu kommen wird. fung der Homeland-Politik. Der Abbau der Diskrimi- Die Bundesregierung begrüßt die entsprechende nierung im Erziehungsbereich sowie im wirtschaftli- Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaft- chen und sozialen Leben muß angegangen werden; liche Zusammenarbeit. Sie teilt und unterstützt die aber das wird viel Zeit beanspruchen. darin zum Ausdruck kommende Auffassung, daß eine Es ist klar, daß ein positives Ergebnis des Referen- intensivierte Zusammenarbeit in der Region ein wich- dums günstige Auswirkungen auf den Verhandlungs- tiger Faktor für Frieden, Stabilität und Wohlstand in prozeß haben wird. Es wird grünes Licht für die der gesamten Region ist. Vollendung eines Werks gegeben, das Staatspräsi- Meine Damen und Herren, es wurde auf andere dent de Klerk und Nelson Mandela gemeinsam Brennpunkte des südlichen Afrikas hingewiesen, auf begonnen haben. Zugleich wird aber auch den ewig Angola, wo die Vorbereitungen für die Wahlen im Gestrigen in Südafrika klargemacht, daß sie nicht nur September 1992 weiter vorankommen. Die Aussich- in Südafrika insgesamt, sondern auch unter den ten für einen dauerhaften Frieden sind gut. Die Weißen selbst in der Minderheit sind. Diejenigen Bundesregierung wird Angola bei der Wahlvorberei- Weißen, denen es besonders schwerfällt, von ihren tung helfen. Die Vorbereitungen für die Aufnahme Privilegien Abstand zu nehmen, fordern wir auf, sich offizieller Entwicklungshilfe sind, wie Herr Spranger dem Verhandlungsprozeß anzuschließen. bereits gesagt hat, eingeleitet. (Beifall bei der SPD) Die Friedensverhandlungen über Mosambik, befin- Herr Köhler, Sie haben das auf die Buren bezogen. Ich den sich in der zehnten Verhandlungsrunde. Es gibt hoffe, daß es nur die Buren sind. Aber es gibt leider, erste Fortschritte. Ich kann nur hoffen, daß in der über die Buren hinaus, in der Kapprovinz solche weiteren Entwicklung die sogenannte RENAMO auch Sorgen und Ängste. in die Lage versetzt wird, selbst zu verhandeln bzw. die Fähigkeit zeigt, die Verhandlungen zu einem (Zuruf von der CDU/CSU: Es gibt auch bei guten Ende zu führen. Ich kann nur wünschen, daß den Buren Vernünftige!) beide Seiten möglichst umgehend einem Waffenstill- Das gilt aber auch für schwarze Gruppierungen, die stand zustimmen; denn ich glaube, das ist ja nun eine angesichts der wachsenden Bedeutung des ANC ganz entscheidende Voraussetzung für den Frieden in offensichtlich die Lust verlieren, an diesem Prozeß Mosambik. noch teilzunehmen. Hier gibt es ja gute Verbindungen Das Bild Afrikas bei uns ist, Herr Kollege Toete- zu solchen Gruppierungen und die Möglichkeit, sie meyer, in der öffentlichen Meinung von negativen vielleicht zur Vernunft zu bringen, auch wenn ihnen Entwicklungen bestimmt. Wir sehen das ja auch heute offenbar die Felle davonschwimmen. Ich kann nur abend hier. Auch die späte Stunde, zu der diese hoffen, daß wir nicht auf dem rechten und linken Beratung im Deutschen Bundestag stattfindet, weist Spektrum der schwarzen Seite ganz ähnlichen Wider- darauf hin, daß diesem Thema im Vergleich zu der stand gegen dieses Referendum vorfinden. sogenannten Aufarbeitung unserer Vergangenheit Die Bundesregierung hat bereits in der Vergangen- nicht die gleiche Zeit und auch nicht die gleiche heit zusammen mit ihren europäischen Partnern Aufmerksamkeit beigemessen werden. Aber ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6821

Staatsminister Helmut Schäfer glaube, das ist ein Kampf, den wir noch lange zu Wir sind besorgt — ich darf das hier ausdrücklich führen haben werden. sagen — über Turbulenzen in großen Staaten, die traditionell gute Beziehungen speziell zum Westen Ich darf nur sagen, daß gerade die Entwicklung unterhalten haben: in Kenia und in Zaire. Ich darf in Afrikas und auch die Tatsache, daß dort ja inzwischen diesem Zusammenhang noch einmal ausdrücklich bei positive Entwicklungen zu sehen sind, hier langsam der Regierung in Zaire anmahnen, das Zusammentre- auch etwas deutlicher gesehen werden müßten, ten einer nationalen Konferenz in diesem Staat nicht (Beifall bei der F.D.P.) länger zu verhindern. denn es gibt nun einmal nach Erhebungen der Welt- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem bank immerhin schon 20 afrikanische Staaten, die Bündnis 90/GRÜNE) Strukturanpassungsprogramme durchführen und die zwischen 1989 und 1990 im Schnitt eine wirtschaftli- Auch in Kenia muß die Regierung langsam einsehen, che Wachstumsrate gehabt haben, die über der daß sie eine Liberalisierung des politischen Systems Wachstumsrate der Bevölkerung liegt. In diesen Staa- auf Dauer nicht verhindern kann. ten ist das Pro-Kopf-Einkommen gestiegen. Deutlich Ich habe — Herr Kollege Weiß, es freut mich, daß wird aber auch, daß der Zeitrahmen für eine erfolg- Sie zum erstenmal in einem Antrag meinen Namen reiche Umstrukturierung länger sein wird als aufführen — nicht gesagt, daß Äthiopien der Schwer- ursprünglich angenommen. punkt wird, sondern ich habe gesagt, daß Äthiopien ein Schwerpunkt unserer Entwicklungspolitik wird, (Zuruf von der SPD: Muß!) aber ich finde es gut, daß Sie das herausgestrichen Meine Damen und Herren, offensichtlich wird auch, haben. Was mir in Äthiopien gesagt worden ist, war daß der Einparteienstaat in Afrika die an ihn geknüpf- vor allen Dingen: Schicken Sie uns möglichst schnell ten Hoffnungen nicht erfüllt hat. Ich glaube, daß der Verfassungsexperten, die uns helfen, unsere Verfas- Wille der Bevölkerung vieler afrikanischer Staaten zu - sung zu entwickeln — also gar nicht Geld! —, und einem Pluralismus von ihren jeweiligen Regierungen natürlich auch Experten, die uns helfen, so etwas wie nicht mehr übergangen werden kann. Wir haben das eine Marktwirtschaft einzuführen. Das klingt vertraut. erlebt. Ich kann nur hoffen, daß man auch die ethni- Es kommt aus Äthiopien, aber es ist verwandt mit all schen Spannungen eher durch ein vernünftiges dem, was wir an anderer Stelle in Europa erleben. Zusammenspiel verschiedener Kräfte überwindet als durch den Versuch, die ethnischen Spannungen in Meine Damen und Herren, bedrückend bleibt die einem Einparteienstaat mit Unterdrückung zu über- Lage im Sudan und in Somalia. Ich darf hier noch winden. einmal sagen, daß wir alles unterstützen werden — sowohl Maßnahmen der Vereinten Nationen als Wir sollten nicht vergessen, daß über viele Jahre auch der Organisation Afrikanischer Staaten —, hinweg in Staaten wie Botswana, Senegal, Gambia, damit dieser schreckliche Bürgerkrieg beendet wer- Simbabwe, Mauritius demokratische Strukturen den kann, daß insbesondere die sudanesische Regie- schon gut funktioniert haben. Zu begrüßen ist, daß der rung endlich einsieht, daß mit Folterungen, daß mit nigerianische Präsident bei seinem Besuch in Bonn in politischen Gefangenen und daß mit einer Nichtbe- der vorigen Woche angekündigt hat, daß bis Ende rücksichtigung der internationalen Proteste gegen ein dieses Jahres in Nigeria Wahlen durchgeführt wer- solches Verhalten dem Sudan auf Dauer nicht gehol- den. Ich finde, wir sollten Benin und Sambia für den fen werden kann. demokratischen Prozeß dort loben. In Sambia wurde eine 23jährige Einparteienherrschaft durch Wahlen Lassen Sie mich zum Schluß kommen und sagen, beendet. Aber auch in Mali und in Kamerun haben daß wir vor den vielfältigen und tiefgreifenden Pro- sich die Dinge entwickelt. Es werden Wahlen vorbe- blemen Afrikas nicht kapitulieren wollen — zumin- reitet. dest das Häuflein der Aufrechten, das heute abend noch im Deutschen Bundestag anwesend ist, auch Wir begrüßen diese politischen Reformen nach- wenn sich die Mehrheit vielleicht nicht so unbedingt drücklich und fördern sie. Die Bundesregierung ist für die Zukunft des schwarzen Kontinents zu interes- bereit, Staaten mit konsequenten wirtschaftlichen und sieren scheint. politischen Reformen — das scheint mir besonders wichtig zu sein — im Rahmen ihrer wirtschaftlichen (Zuruf von der CDU/CSU: Die haben Frak Zusammenarbeit besonders zu stützen. Wir sollten tionssitzung!) nicht Staaten bestrafen, die den Weg gehen, den wir Meine Damen und Herren, ich kann nur sagen: Die ihnen seit Jahren geraten haben, und die, wenn sie ihn Vielzahl afrikanischer Besucher in der Bundesrepu- gegangen sind, feststellen müßten, daß ihnen nicht blik, aber auch die Besuche, die wir selber in Afrika im sehr viel mehr geholfen wird. Ich glaube, das ist auch Verlauf des letzten und vorletzten Jahres gemacht ein sehr wichtiger Gesichtspunkt unserer Entwick- haben, machen deutlich, daß wir nicht nur an Ent- lungspolitik. wicklungshilfe und -unterstützung denken dürfen, Meine Damen und Herren, ich glaube, daß auch der sondern, bitte schön, auch an die politische Präsenz in Fonds für Demokratiehilfe, den wir noch etwas ver- diesen Staaten und die politische Präsenz bei uns stärken müßten, dazu beiträgt, Wahlen gut durchzu- denken müssen, damit deutlich wird, daß wir neben führen. Ich hoffe, daß diese Wahlhilfe schon bald in unserer intensiven Beschäftigung mit unserem Land, Äthiopien und in Angola, in Staaten, die jahrzehnte- mit Mittel- und Osteuropa Afrika weiterhin helfen lang unter internen Kriegen gelitten haben, helfen wollen und darin eine Verpflichtung auch des verei- wird, eine Veränderung herbeizuführen. nigten Deutschlands sehen. 6822 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Staatsminister Helmut Schäfer Vielen Dank. — Bestreiten Sie, daß das eine Chance gewesen (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der wäre? SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Ja, das bestreite ich nachhaltig!) Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- — Dann haben Sie sich nicht damit auseinanderge- lege Christian Schmidt das Wort. setzt. — (Widerspruch des Abg. Hans-Günther Toete Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Frau Präsi- meyer [SPD]) dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Deshalb ist auch das Einwirken auf die politisch CSU hat den Vorgängen und Verhältnissen in den Verantwortlichen und die Inhaber der Regierungs- Ländern des südlichen Afrikas seit jeher die größte macht richtig, eine Verfassungsreform voranzutrei- Aufmerksamkeit gewidmet. ben, die Südafrika die Chance gibt, im internationalen (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Beonders den „Home- Konzert der Staaten nach Ende des Ost-West-Kon- lands" !) flikts eine wesentliche Rolle als sachkundiger Ver- Auch insofern setzt Bundesminister Carl-Dieter mittler im Nord-Süd-Konflikt zu übernehmen. Wenn Spranger mit seiner Politik eine gute Tradition fort und hinter das Erreichte zurückgefallen wird, wenn die befindet sich, wie wir aus der Debatte hören konnten, Apartheid wiederbelebt würde, so bestünde die hier in voller Übereinstimmung mit dem Hause. Auch Gefahr, daß sich Südafrika selbst in eine internatio- der Konflikt in Südafrika wurde in seinen Extremen nale Isolation hineindrängt, aus der ihm auch die Wohlmeinenden nicht ohne weiteres werden heraus- gespeist von der Ost - West - Auseinandersetzung. Dies wird deutlich, wenn man alleine das ständige Enga- helfen können. gement des kommunistischen Blocks in der Unterstüt- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das ist zung der Radikalisierung und Militarisierung unzu- richtig!) - friedener Gruppen und deren Organisationen be- Die Folgen für die Wirtschaft und die Politik wären trachtet. schlimm. Mich würde es nicht wundern, wenn wir bei der Wichtig ist, daß diese Verfassungsreform einen Aufarbeitung der Vergangenheit feststellen würden, evolutionären Aufstieg der farbigen und der schwar- daß die eine oder andere Aktion, die beispielsweise zen Bevölkerung vollzieht, daß sie dabei die kulturel- gegen Franz Josef Strauß in diesem Zusammenhang len Eigenarten aller — auch der Weißen — erhält und hochgezogen worden war, seinen Nährboden auch in daß eine Unterdrückung oder Ausrottung von Minder- den Akten und in den geistigen Folterkammern des heiten unmöglich gemacht wird und ein friedliches Herrn Mielke und anderer gefunden hat. Zusammenleben zustande kommt. Wenn das Referen- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Das ist dum erfolgreich abgeschlossen werden kann — was falsch, Herr Kollege! — Gegenruf von der wir alle hier hoffen —, müssen alle noch bestehenden CDU/CSU: Vorsichtig, ihr werdet euch noch Sanktionen und Handelsbeschränkungen umgehend wundern, was da rauskommt!) beseitigt werden. Südafrika muß der Weg in alle — Warten Sie es einmal ab. Wissen Sie alles? internationale Organisationen offenstehen, in die es einzutreten wünscht und die diesem Land nach ihrer (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Ganz Struktur offenstehen sollten. Südafrika muß in allen ruhig!) Bestrebungen unterstützt werden, seine Rolle als Der Weg, die quälende Langsamkeit des Ref orm- stabiler und moderner Industriestaat auch zum Wohl prozesses zu beschleunigen und die Regierung in der gesamten Region im südlichen Afrika zu festi- Pretoria in offenem Gespräch zum Handeln zu drän- gen. gen, hat — auf lange Sicht gesehen — Erfolg gehabt. Wenn ich die Äußerungen von der SPD — zumin- Zwar ist der große Schritt nach vorne nach Beendi- dest die zu Beginn — richtig interpretiere, ist festzu- gung des Ost-West-Konflikts nun von Präsident de stellen, daß man dort bereit ist, unsere Linie insofern Klerk gegangen worden; jedoch gab es ja erste mitzutragen. Ich begrüße das und hoffe, daß von der hoffnungsvolle Anzeichen bereits zu Zeiten von heutigen Debatte die Botschaft nach draußen geht, P. W. Botha. daß für die Menschen in Südafrika eine Zukunft in (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Na, na!) Frieden und Freiheit, in Gleichheit und Gerechtigkeit Wir haben damals alle auf die große Rede gewartet. Es mit einem positiven Ausgang des Referendums in gab die Aufhebung der sogenannten kleinen Apart- greifbare Nähe rückt. heid. Leider kam die oft in Aussicht gestellte Aufhe- Ich danke Ihnen. bung beispielsweise des „group area acts" viel zu (Beifall bei der CDU/CSU) spät, als daß sie noch hätte wirken können. Hoffnungsvolle Ansätze eines Gesprächs zwischen Schwarz und Weiß wie beispielsweise die von Gatsha Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- Buthelezi initiierte Indaba in Natal wurde nicht lege Dr. Werner Schuster das Wort. genutzt und fand bei uns zuwenig Resonanz, weil sie manchen nicht ins polarisierte Weltbild paßte. Dr. R. Werner Schuster (SPD): Frau Präsidentin! (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Bei dem Meine Damen und Herren! Mein Thema heute in Buthelezi waren Sie blind auf einem dieser Debatte beschränkt sich auf die Glaubwürdig- Auge!) keit deutscher Entwicklungspolitik im südlichen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6823

Dr. R. Werner Schuster

Afrika — aber sicher nicht nur dort, Herr Minister — genkommen der internationalen Finanzinstitutionen oder, um es mit Ihrem Antrag zu formulieren: „Ent- IWF und Weltbank seien. wicklungspolitische Chancen wirklich nutzen". (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Richtig!) Lassen Sie mich mit einer persönlichen Geschichte Die erhofften und angekündigten Erleichterungen bei beginnen. Die Konrad-Adenauer-Stiftung hatte An- den sambischen Auslandsverbindlichkeiten blieben fang Juni 1991 eine sehr interessante, heterogen bisher weitgehend aus. zusammengesetzte Delegationsrunde aus Südafrika Der äthiopische Staatspräsident, Meles Zenawi, hat zu Gast. Die Vertreter aller wichtigen politischen und neulich in einem epd-Interview ähnliches geäußert: gesellschaftlichen Organisationen haben Herrn Ver- heugen und mir gegenüber damals ziemlich deutlich Es scheint einen allgemeinen Trend zu geben, formuliert, was sie alle, obwohl von völlig unter- beim Beginn von Demokratisierungsprozessen schiedlichen politischen Positionen ausgehend, von Hilfe zu versprechen. Aber wenn mit der Demo- der Bundesrepublik und Europa nach Abschluß des kratisierung Ernst gemacht wird, gibt es sehr Demokratisierungsprozesses erwarten, nämlich fi- wenig tatsächliche Hilfe. Ich hoffe, daß sich dieser nanzielle und organisatorische Unterstützung sowie Trend in unserem Fall nicht fortsetzt. private Investitionen. Man traute damals aber den Herr Minister, da ist das kurzfristige Umsteuern Versprechungen der Europäer nicht. Schließlich seien Ihres Ministeriums gegenüber Sambia natürlich einschlägige Zusagen gegenüber Simbabwe zu begrüßenswert. Aber gleichzeitig sitzen Ihre Kollegen Beginn des dortigen Demokratisierungsprozesses Möllemann, Kiechle und Waigel nach wie vor auf der später nur in geringem Umfang eingehalten wor- Armesünderbank. Entwicklungspolitische Chancen den. nutzen, das bedeutet nämlich wesentlich mehr als nur den Einsatz der bekannten entwicklungspolitischen Meine Damen und Herren, heute verzeichnen wir Instrumente. Entwicklungspolitik muß, um mit Björn auf der einen Seite in einigen Staaten Schwarzafrikas - Engholm zu reden, unabdingbar als Querschnittsauf- tiefgreifende Umbrüche mit hoffnungsvollen Ent- gabe definiert, verstanden und umgesetzt werden. wicklungen wie in Südafrika, Namibia, Angola, aber auch Äthiopien und Eritrea. Auf der anderen Seite (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ stehen Länder mit abgehalfterten Diktatoren wie GRÜNE — Dr. Volkmar Köhler [Wolfsburg] Zaire und Kenia, in welchen hoffnungsvolle Demokra- [CDU/CSU]: Das ist aber eine ganz neue tiebewegungen brutal niedergeknüppelt wurden. Erkenntnis! Das haben wir 20 Jahre leider nicht gewußt!) Wir in der Ersten Welt müssen uns jetzt entscheiden, — Das bestreite ich nicht, Herr Kollege Köhler. ob wir uns weiterhin als mehr oder minder stillschwei- gende Außenbeobachter — quasi als lächelnder Mann Damit bin ich beim zweiten Punkt von Glaubwür- oder lächelnde Frau im Mond — betrachten oder ob digkeit. Der Beweis, daß es sich bei den neuen wir uns aktiv einmischen, Partei ergreifen und Chan- Kriterien von Entwicklungszusammenarbeit, Herr cen nutzen. Spranger, um mehr als nur um Lippenbekenntnisse handelt, der muß erst noch systematisch erbracht (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ werden. In vielen Ländern, über die wir heute reden, GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ haben in jüngster Zeit ermutigende Entwicklungen CSU) eingesetzt, welche zur Beendigung von jahrelangen kriegerischen Auseinandersetzungen, zur wesentli- In den Anträgen der Regierungskoalition und in chen Verbesserung der Menschenrechtslage, zu muti- vielen Beiträgen heute wurde viel Kluges über die gen politischen und wirtschaftlichen Reformen, zu internen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Pluralismus und sogar zur Senkung von Rüstungsaus- Reformpolitik ausgeführt. Herr Minister, ich unter- gaben geführt haben. stütze diese Forderung ausdrücklich, da sie den einen Wann, wenn nicht jetzt, muß diesen und anderen Teil der Wahrheit darstellt. Aber ebenso ausdrücklich Ländern die bitter notwendige Unterstützung gege- muß ich auf die externen Ursachen von Hunger und ben werden, um z. B. die völlig am Boden liegende Not in vielen Teilen Afrikas hinweisen. Entspre- wirtschaftliche und soziale Infrastruktur wieder in chende Schritte zu deren Überwindung müssen ein- Schwung zu bringen? Wann, wenn nicht jetzt, müssen geleitet werden. Solange Schuldendienstleistungen, die Demokratisierungsprozesse durch systematische Preisverfall, Handelshemmnisse und anderes mehr Alphabetisierungs-, Bildungs- und Fortbildungsmaß- die wirtschaftlichen Entwicklungen in diesen Ländern nahmen gefördert werden? hindern, bleiben alle wirtschaftlichen Strukturrefor- men, welche die genannten Länder ja erfreulicher- Die vorliegenden Anträge bieten unbestritten gute weise bereits selbst einleiten, zum Scheitern verur- Anregungen, welche schnell umgesetzt werden müs- teilt. sen. Doch die Frage wird sein: Sind wir auf diese von uns immer wieder öffentlich herbeigewünschte Situa- Der neue demokratisch gewählte Präsident Sam- tion professionell vorbereitet? Der Erwartungsdruck bias, Frederick Chiluba, stellte kürzlich ernüchternd der schwarzen Bevölkerung z. B. in Südafrika wird fest, daß demokratische und wirtschaftliche Refor- mit Schaffung einer Übergangsregierung vorherseh- men, wie sie in seinem Lande nun konsequent und mit bar völlig unrealistisch zunehmen. Am Beispiel der starken wirtschaftlichen Belastungen — gerade auch ehemaligen DDR mit ihren wesentlich günstigeren der ärmeren Bevölkerung — angegangen werden, Voraussetzungen lassen sich die negativen Konse- offenbar keine ausreichende Garantie für ein Entge quenzen leicht abschätzen. 6824 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. R. Werner Schuster Sind wir eigentlich, Herr Minister, methodisch aus- an die Weißen in Südafrika gerichtet hat. Ich glaube, reichend darauf vorbereitet, in diesen Umbruchsitua- wir sind hier auf dem richtigen Weg. tionen schnell die richtige Unterstützung am richti- Es war hier, Frau Präsidentin — jetzt kommt meine gen Ort anbieten zu können? Gibt es ausreichend Bildung zum Zuge —, die Rede von „talks about detaillierte Konzepte in der Schublade? Kennen wir talks". Ich will jetzt nicht „speeches about speeches" unsere Ansprechpartner vor Ort? Sind wir am Beispiel halten. Südafrikas, welches zur Zeit formal natürlich kein Entwicklungsland ist, bereit, über NGOs im Norden (Heiterkeit) qualifizierte Hilfe an NGOs in Südafrika zu gewähr- Aber ich will doch daran erinnern, daß wir in der leisten? Oder beginnen erst jetzt „talks about talks"? Vergangenheit eigentlich schon immer betont haben, Werden diese in Ihren Anträgen formulierten Anre- daß uns das Schicksal der weißen Minderheit in gungen von der gesamten Bundesregierung unter- Südafrika nicht gleichgültig ist und daß wir bei aller stützt werden? Betonung der Notwendigkeit, die Apartheid restlos Ich würde mir wünschen, meine Damen und Her- verschwinden zu lassen, auch immer gesagt haben: ren, daß in der weiteren Beratung dieser Anträge in Die genuinen Rechte der Weißen müssen auch den Ausschüssen gerade die Frage der konkreten, gewahrt bleiben. praktischen Umsetzungen eine dominante Rolle Ich habe heute noch einmal etwas herausgezogen. spielt. Was ich hier in der Hand halte, ist nicht etwa das Nicht zuletzt muß auch die Gretchenfrage nach der Manuskript dessen, was ich Ihnen heute sagen will, „Kohle" positiv beantwortet werden, sonst bleibt alles sondern das ist eine uralte Presseerklärung. Sie ist platonisch. Wir erwarten, daß Sie, Herr Minister, uns zufällig vom 27. Juli 1988 datiert. Da habe ich damals im Ausschuß bereits definitiv berichten können in gesagt: welchem Umfang die entwicklungspolitischen Lei- Die weiße Bevölkerungsminderheit hat ein eige- stungen für die in Rede stehenden Länder kurzfristig - nes Recht, auch nach restloser Beseitigung der erhöht werden. Apartheid in Südafrika zu leben. Will sie errei- Meine Damen und Herren, zum Schluß. Es wäre chen, daß dieses Recht auf Dauer auch von der doch was, wenn spätere Bundestage feststellen könn- schwarzen Bevölkerungsmehrheit anerkannt ten: Die achtziger Jahre, das war das verlorene und respektiert wird, muß sie selbst den notwen- Jahrzehnt für Schwarzafrika; aber die neunziger digen Wandel einleiten und durchsetzen. Je län- Jahre wurden Jahre des Segens für die Menschen in ger sie hiermit zögert, desto mehr gefährdet sie Schwarzafrika. Die Europäer haben es endlich ver- ihre eigenen Überlebens- und Zukunftschan- standen und haben sich im richtigen Augenblick cen. — das nennt man altgriechisch „Kairos" — engagiert, nicht gekleckert, sondern geklotzt, und allen voran Darauf will ich jetzt hinaus. die wiedervereinigten Deutschen. Lassen Sie uns (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Staats diese Chance nutzen! mann Irmer!) Danke. — Ja, manchmal hat man recht und manchmal behält (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und man sogar recht. dem Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der neten der CDU/CSU) CDU/CSU) Ich habe damals hier nämlich vorgeschlagen — das Vizepräsidentin Renate Schmidt: Was sind wir doch war im Jahr 1988 —, die weiße Regierung in Südafrika für ein gebildetes Parlament! möge sich überlegen, einen Stufenplan einzuleiten, damit nach dem Ablauf von zehn Jahren — und ich Jetzt hat der Kollege Ulrich Irmer das Wort. habe die Hoffnung, daß sich diese Frist jetzt verkürzen (Karl Lamers [CDU/CSU]: Jetzt wird es noch kann —, gerechnet vom Jahr 1988 an, sich die Situa- gebildeter!) tion in Südafrika bereinigen lassen würde. Ich habe hier immer wieder betont: Das geht erstens nur, wenn bestimmte Vorleistungen erbracht werden. Ulrich Irmer (F.D.P.): Frau Präsidentin! Es ist lange her, daß sich dieses Haus im Plenum mit den Vorgän- Ohne das konnte man den Schwarzen überhaupt nicht gen in der Republik Südafrika auseinandergesetzt zumuten, sich auf irgendeine Reformdiskussion ein- hat. Ich möchte hervorheben, daß dies die erste zulassen. Diese Vorleistungen hat die Regierung de Klerk erbracht. Das war vor allem die Freilassung aller Debatte ist, an die ich mich überhaupt erinnern kann, die Südafrika betraf, in der wir allesamt hoffnungsvoll politischen Gefangenen, die Zulassung oppositionel- sind und in der wir positive Entwicklungen zu ver- ler Organisationen, die Aufhebung des Ausnahmezu- standes, die Wiederherstellung der Pressefreiheit. zeichnen haben. Soweit es die Entwicklung in der Dies alles ist als Vorleistung erbracht worden. Dafür Republik Südafrika betrifft, sollte diese Debatte den einen Sinn haben, nämlich an die weiße Minderheit in müssen wir Herrn de Klerk unsere Anerkennung Südafrika zu appellieren: Stimmt bei dem Referen- aussprechen. dum für die Politik von de Klerk und von Mandela, und Jetzt kommt aber der Punkt, daß die Weißen auch tut es mit einer ausreichenden und eindrucksvollen wissen müssen, daß bei Zustimmung zu dem Referen- Mehrheit! Ich freue mich darüber, daß heute früh das dum für sie völlig neue Chancen eröffnet werden. Es Europäische Parlament einen entsprechenden Appell ist schon hier gesagt worden, daß die Sanktionen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6825

Ulrich Irmer aufzuheben sein werden, mit Ausnahme der Militär- Heinrich Lummer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! lieferungen. Meine Damen und Herren! Wenn man es genau sieht, Es ist schon gesagt worden, daß die Europäische ist eigentlich alles gesagt worden. Gemeinschaft und die Bundesrepublik Deutschland (Zuruf von der SPD: Richtig; das sehe ich intensive, verstärkte Zusammenarbeit im entwick- genauso! — Dr. Peter Struck [SPD]: Dann lungspolitischen Bereich anbieten müssen, vorausge- gehen Sie doch wieder herunter!) setzt, daß der Reformprozeß erfolgreich weitergeführt Das könnte einen veranlassen, zu sagen: Das war es werden kann. denn. Aber bestimmte Dinge kann man nicht oft Dazu gehört insbesondere das Nachholen von Bil- genug sagen. dungschancen für die schwarze Mehrheitsbevölke- Vielleicht liegt die besondere Bedeutung der heuti- rung. Das Land ist dringend darauf angewiesen, daß es qualifizierte Arbeitskräfte hat. Das ist bisher natür- gen Debatte über Südafrika darin, daß im Prinzip alle lich schamlos vernachlässigt worden. Die Schwarzen das gleiche sagen. Jene Weißen in Südafrika sollten wissen, daß wir — woimmer wir bis heute in vielen sind dort in einer Weise benachteiligt worden, gerade im Bildungsbereich, daß es gar nicht zu schildern ist. Punkten unterschiedlicher Auffassung waren — in Hier sollten wir unsere Unterstützung und Hilfe anbie- eben diesem zentralen Punkt einer Meinung sind. ten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Es besteht die große Gefahr, daß das Land in Terror, sowie bei Abgeordneten der SPD) in Bürgerkrieg, in Blutvergießen versinkt, wenn die- Darauf kommt es, glaube ich, an, und nur dieses will ser so mutig begonnene Reformprozeß nicht zu einem ich im Grunde mit wenigen Bemerkungen auch unter- guten Ende geführt werden kann. streichen. Umgekehrt hat das Land eine gute Zukunft vor sich, Wir haben jetzt zwei Jahre lang voller Hoffnungen, wenn es endlich bereit ist, auf Grund eines veränder- voller Sympathie bezogen auf einen Reformprozeß in ten Systems die Ressourcen auszuschöpfen, über die Südafrika gelebt. Was mich persönlich anbetrifft, es verfügt. Das sind nicht nur ganz erhebliche mate- hatte ich im Grunde ein Gefühl innerer Sicherheit, als rielle Ressourcen, wie wir alle wissen, sondern das würde das von selbst ohne besondere Schwierigkeiten sind insbesondere die menschlichen Ressourcen der weiterlaufen. Dann kam jener Wahltag, vielleicht eine schwarzen Bevölkerungsmehrheit, die bisher nicht Stunde der Wahrheit, jedenfalls eine Stunde der den Hauch einer Chance hatte, diese Möglichkeiten dramatischen Zuspitzung. In dieser Stunde leben wir überhaupt zu ergreifen und auszunutzen. jetzt. Ich jedenfalls fühle ein Stück Risiko, Zweifel und Meine Damen und Herren, Südafrika ist auf einem habe eine ganz gehörige Portion Sorge; denn ich bin guten Wege. Der Appell von hier aus sollte sehr nicht sicher, wie das ausgehen wird. deutlich ausfallen an diejenigen, die heute noch als Es stellt sich doch die Frage: Wird dieser Prozeß einzige berechtigt sind, an dem Referendum teilzu- gestoppt, wird er umgekehrt, oder geht es mit den nehmen: Liebe Weiße in Südafrika, stimmt dem zu! Reformen weiter? Man kann sich gewiß ohne allzuviel Frau Präsidentin, ich hätte noch einiges zu sagen. Phantasie vorstellen, was passiert, wenn das Nein Meine Redezeit ist aber abgelaufen. dominiert; schlimme Szenarien kann man sich aus- denken. Daher meine ich: Was wir wollen und wo wir stehen, Vizepräsidentin Renate Schmidt: Sie können noch können wir leicht formulieren, und das sollten wir weitersprechen. formulieren, und zwar sehr deutlich. Wir unterstützen voller Überzeugung den vom Präsidenten de Klerk eingeleiteten Prozeß und schätzen seinen Mut und seine Konsequenz. Deshalb müssen wir alle Südafri- Ulrich Irmer (F.D.P.): Gut, dann nutze ich das dazu, kaner guten Willens auffordern, an sie appellieren, noch folgendes zu sagen: Wie ich Sie kenne, würden diesen Prozeß nicht zu stoppen oder gar scheitern zu Sie mich zu Recht, wenn ich die Redezeit überschritte, lassen. hier gnadenlos abpfeifen. Ich glaube schon, daß ein Stück Zukunft des süd- (Hans-Günther Toetemeyer [SPD]: Nicht afrikanischen Staates auf dem Spiel steht. Die Dinge gnadenlos!) stehen, wenn m an so will, auf des Messers Schneide. — Ich sage „gnadenlos": Denn wenn, Frau Präsiden- Als der Präsident am 20. Februar seine Rede dort hielt, tin, ein Vergleich Ihrer Person mit der Tierwelt über- bewegt und auch bewegend, hat er diese Dramatik haupt zulässig sein sollte, dann würde ich sagen: Sie eingefangen. Er weiß, was es für ihn und seine Politik sind — und damit sind wir wieder bei Afrika — bedeutet, wenn er sagt: Die Frage liegt auf dem Tisch; allenfalls einer Löwin gleichzusetzen. die Würfel sind gefallen; wenn ich dieses Referendum verliere, werde ich zurücktreten. Ich danke Ihnen. Einer hat heute gefragt: War dieses Referendum (Heiterkeit — Beifall bei der F.D.P. und der denn nötig? Ich glaube schon, daß es nötig war; denn CDU/CSU) es gab doch im Lande die Diskussion: Hat er über- haupt noch ein Mandat für seine Verhandlungen? Diese Frage muß jetzt beantwortet werden. Er soll das Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Herr Mandat haben, und darum hoffen wir, daß dieses Kollege Heinrich Lummer das Wort. Referendum positiv ausgeht. 6826 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Heinrich Lummer Das, was in den letzten zwei Jahren geschah, haben Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe wir gewollt, begrüßt und auch gefördert. Wenn wir Bündnis 90/GRÜNE vor. uns jetzt mit einer Willenserklärung gewissermaßen Interfraktionell ist für die Aussprache eine 10- in die inneren Angelegenheiten dieses Landes einmi- Minuten-Runde vereinbart worden. — Dazu gibt es schen, dann ist das, meine ich, schlicht und einfach keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. notwendig, wo doch die Beziehungen der Völker so verflochten sind. Als erster hat das Wort der Kollege Werner Schulz. Wir sollten aber auch deutlich machen: Wenn das Referendum positiv ausgeht, werden wir diesen Reformprozeß nicht nur wie in der Vergangenheit Werner Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Frau vielleicht mit guten Worten und Sympathie begleiten, Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nicht alle sondern dann werden wir uns das auch etwas kosten Betriebe erregen so großes öffentliches Interesse oder lassen müssen; denn das ist ein Stück gesicherter haben so starke Fürsprecher wie die Werftarbeiter an Zukunft nicht nur für das südliche Afrika — eine der Ostseeküste oder die Stahlkocher in Hennigsdorf. solide, stabile Republik Südafrika braucht das ganze Viele Betriebe erleiden im wahrsten Sinne des Wortes Südafrika, um eine Zukunft zu haben —, sondern eine stille Liquidation. auch ein Stück gesicherter Zukunft für uns. Das, Wer sich die Antworten der Bundesregierung auf meine ich, brauchen wir alle. Dafür sollten wir plädie- unsere Anfrage zur Vernichtung des Keramikstand- ren, und wir hoffen, daß wir nicht auf taube Ohren ortes Großdubrau ansieht und sie mit den Fragen treffen. vergleicht, kommt aus dem Staunen so schnell nicht Danke schön. wieder heraus. Die Bundesregierung hat immerhin drei Monate gebraucht, um eine völlig nichtssagende (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Antwort auf unsere detaillierten und begründeten Fragen zu geben. Bundesregierung wie Treuhandan- stalt haben ein Problem, ein Kommunikationspro- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit schließe ich diese Aussprache. blem. Sie sind so damit beschäftigt, ihre angeblichen Erfolge darzustellen, daß sie gar nicht mehr dazu Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die kommen, Fragen nicht nur als Anlaß für Erklärungen Beschlußempfehlung des Ausschusses für wirtschaft- zu nehmen, sondern sie auch tatsächlich zu beantwor- liche Zusammenarbeit zu dem Antrag der Fraktionen ten. der CDU/CSU und der F.D.P. mit dem Thema: Ein Beitrag zu Frieden und Entwicklung durch Regional- Die Realität hinter den glatten Formulierungen sieht jedoch anders aus. Die Treuhandanstalt hat im politik im südlichen Afrika. Das betrifft die Drucksa- chen 12/851 und 12/1995. Laufe der vergangenen zwei Jahre den Standort Großdubrau nach und nach — und man hat den Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der Eindruck: systematisch — verkommen lassen. Da SPD auf Drucksache 12/2221 vor. Wer stimmt für wurde zunächst die regional- und strukturpolitisch diesen Änderungsantrag? — Wer stimmt dagegen? — verheerende Entscheidung ge troffen, zugunsten an- Enthaltungen? — Damit ist dieser Änderungsantrag derer Standorte die Produktion von Elektrokeramik in abgelehnt. diesem Ort einzustellen. Selbst an der betriebswirt- Wer stimmt dann für die Beschlußempfehlung in schaftlichen Vernunft dieser Entscheidung gibt es unveränderter Fassung? — Gegenprobe! — Stimm- erhebliche Zweifel, die durch die windelweichen enthaltungen? —Damit ist diese Beschlußempfehlung Antworten der Bundesregierung eher bestärkt als angenommen. ausgeräumt werden. Doch davon abgesehen zeigen Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen solche Fehlentscheidungen immer wieder, wie falsch der CDU/CSU, SPD und F.D.P. auf Drucksa- es ist, Struktur- und regionalpolitische Vorgaben aus che 12/2232 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? — Wer dem Auftrag der Treuhandanstalt heraushalten zu stimmt dagegen? — Stimmenthaltungen? — Dann ist wollen. Dies führt nur dazu, daß die Fehlentscheidun- dieser Antrag bei wenigen Stimmenthaltungen ein- gen im Nachhinein mit einem erheblich höheren stimmig angenommen. Aufwand an öffentlichen Mitteln korrigiert oder kom- pensiert werden müssen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 12/1814, 12/1656, 12/2159 und Doch damit nicht genug. Es gab nach dieser Ent- 12/2211 an die in der Tagesordnung aufgeführten scheidung mehrere Kaufinteressenten und auch Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver- Sanierungskonzepte. Es gibt auch jetzt noch aus- standen? — Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- sichtsreiche Käufer, die im Unternehmen selbst, in der sungen so beschlossen. Belegschaft entstanden sind. Solche Sanierungskon- zepte jedenfalls liegen vor. Alle diese Initiativen und wiederholten Vorschläge Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: wurden von der Treuhand rundweg pauschal und Beratung der Großen Anfrage des Abgeordne- ohne Angabe von Gründen abgebügelt. Chancen für ten Werner Schulz (Berlin) und der Gruppe die Erhaltung von 100 bis 200 Arbeitsplätzen wurden BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so vertan. Über quälend lange Zeit saß der Margare- thenhütte ein von der Treuhand eingesetzter Stillegung des keramischen Standorts Groß- Geschäftsführer vor, der schon vor der Wende auf dubrau/Sachsen demselben Posten Erfahrungen für diese Aufgabe — Drucksachen 12/1315, 12/1996 — gesammelt hat. Trotz massiver Proteste von allen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6827

Werner Schulz (Berlin) erdenklichen Seiten gegen die Arbeit dieses auch das notwendige Know-how vorhanden ist, wei- Geschäftsführers, der offenkundig nicht für die Erhal- terhin keramische Produkte zu produzieren, auch tung, sondern für die Vernichtung des Standortes wenn es heute für ein Zurück zur Elektrokeramik arbeitete, sah die Treuhandanstalt über Monate und keinen Weg mehr gibt. Vorschläge für andere Produk- Monate keinen Anlaß, diesen Protesten nachzugehen tionslinien — besonders im Bereich der Baukeramik, und den Mann abzulösen. der Grobkeramik — sind gemacht worden. Zufrieden- stellende Antworten der Treuhandanstalt darauf gibt In der entsprechenden Antwort der Bundesregie- es nicht. rung heißt es dazu — ich zitiere —: Die Treuhandanstalt ist kritischen Hinweisen Die heutige Situation in der Margarethenhütte ist bezüglich der Person des Geschäftsführers nach- traurig. Die nachhaltigsten Aktivitäten auf dem gegangen. Insbesondere hat wegen einer mögli- Werksgelände dienen der Renovierung einer Woh- chen politischen Vorbelastung eine Überprüfung nung für den stellvertretenden Liquidator. In der des Geschäftsführers durch den Vertrauensbe- Restbelegschaft, dem Liquidationsteam, herrscht ein vollmächtigten der Treuhandanstalt stattgefun- Klima der Einschüchterung. Wer unerlaubte Diskus- den. Der Geschäftsführer ist inzwischen aus dem sionen führt, wird verwarnt, und das zieht ja bekannt- Unternehmen ausgeschieden. lich. Diese Antwort reicht nicht aus. Wir wollen wissen Aus dem Versagen der Treuhandanstalt bei der — insbesondere die ehemalige Belegschaft hat ein Erhaltung der Margarethenhütte, das ja kein Einzel- Recht,st diese zu erfahren Aus welchen Grü nden i fall ist müsse Schlußfolgerungen gezogen werden. ieser Geschäftsführer ausgeschieden? Was haben die Untersuchungen der Treuhand ergeben? Warum Erstens. Die Treuhandanstalt muß künftig struktur- hat es so lange gedauert? Ist der ehemalige Geschäfts- und regionalpolitische Notwendigkeiten viel stärker führer in der Treuhand gedeckt worden? Sind treu- als bisher berücksichtigen. Nur dort, wo massiver handinterne Konsequenzen gezogen worden? Ist ihm Widerstand der Belegschaften eine breite Öffentlich- der Abschied mit einer großzügigen Abfindung ver- keitswirkung erzielt — wir haben es ja in Hennigsdorf süßt worden? Herr Staatssekretär Grünewald wird ja oder meinetwegen auch beim Motorradwerk in nachher die Gelegenheit haben, diese Details zu Zschopau, wo dieser Widerstand ja immerhin gereicht erläutern oder nachzutragen. hat, den Ministerpräsidenten des Landes in die Ecke zu drängen und ihm eine sechsmonatige Verlänge- Ein anderer Komplex, der nach wie vor der Aufklä- rung für dieses Werk abzuquetschen —, ist das heute rung harrt, ist die Demontage von Maschinen und schon so. Dort kommt die Treuhandanstalt in Recht- Anlagen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ohne die fertigungszwang für ihre Handlungen. Sie wird genö- notwendige Dokumentation, offenbar nur zu dem tigt, ihre strukturpolitische Verantwortung wahrzu- Zweck, eine Wiederaufnahme der Produktion in nehmen. Großdubrau unmöglich zu machen. Die Bundesregie- rung — wir haben die Antwort sehr aufmerksam Zweitens. Initiativen von Belegschaften, Vor- gelesen — will von einer Nacht-und-Nebel-Aktion schläge und Konzepte, die nicht aus den Chefetagen nichts wissen, aber sie war ja auch nicht dabei. Die zumeist etablierter westdeutscher Unternehmen direkt Beteiligten wissen es in diesem Falle etwas stammen, müssen ebenso ernst genommen werden besser. Besonders makaber ist die Tatsache, daß die wie die von Großunternehmen. Heute fällt es den von Demontage der Anlagen von der Treuhandanstalt als Arbeitsplatzverlust bedrohten Menschen in den treu- Argument für die angeblich nicht gegebene Sanie- händerisch verwalteten Betrieben oftmals doch sehr rungsfähigkeit der Margarethenhütte herangezogen schwer, die Treuhandanstalt als Partner im Kampf um wird. Das erinnert fatal an die Praxis von Immobilien- die Erhaltung ihrer Arbeitsplätze zu erkennen. spekulanten, die intakte Häuser durch Rollkomman- dos verwüsten lassen, um dann eine Abrißgenehmi- Drittens. Die Treuhandanstalt muß zu einer rück- gung zu beantragen. Auch hier sieht die Bundesregie- haltlos offenen Informationspolitik übergehen, die vor rung keinen Grund zur Beanstandung. allem der Tatsache Rechnung trägt, daß die Treu- Meine Damen und Herren, aller Öffentlichkeitsar- handanstalt den Belegschaften in den Bet rieben und beit zum Trotz ist das Vertrauen in die Integrität der den Menschen in den be troffenen Standorten verant- Treuhandanstalt bei der ostdeutschen Bevölkerung wortlich ist. Heute dient die Informationspolitik der nahe dem Nullpunkt. Dieses Verhältnis ist auch durch Treuhandanstalt in erster Linie dem Zweck, die noch so viel Öffentlichkeitsarbeit nicht zu verbessern, Erfolge der Anstalt selber bei der Privatisierung sondern nur durch größere Offenheit. Der klägliche öffentlich ins Licht zu rücken. Dahinter tritt die Kom- Versuch, einen schönfärberischen Namen für die munikation mit den direkt von Entscheidungen Treuhandabteilung „Abwicklung" zu finden, trägt zur Betroffenen in den Hintergrund. Belegschaften von Lösung dieser Probleme nichts bei. Im Gegenteil, hier Treuhandbetrieben fühlen sich häufig schlecht, werden alte Begriffe neu belebt. unvollständig oder auch falsch über anstehende Ent- scheidungen und Pläne informiert. Hier sind Verbes- Da würde es schon mehr helfen, wenn die Treu- serungen dringend erforderlich. Ich bin auf Ihre Ant- handanstalt einmal öffentlich erklären würde, wort in diesem Fall sehr gespannt, Herr Staatssekre- warum sie die von der Belegschaft vorgeschlagenen tär. Sanierungskonzepte für untauglich hält, warum es nicht möglich sein soll, an diesem seit über hundert (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei Jahren durch die Keramik geprägten Standort, an dem der SPD) 6828 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Als nächste hat Daß dieser 850 Mann starke Betrieb Entlassungen die Kollegin Maria Michalk das Wort. vornehmen muß, war unumstritten. Eine hundertpro- zentige Entlassung hatte man jedoch nicht erwartet. Die Arbeiter und die Angestellten der Margarethen- Maria Michalk (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine hütte hatten gelernt, auch unter kritischen Bedingun- sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich gen zu arbeiten. Dennoch traf es sie und die struktur- zum Anfang etwas Historisches sagen. „Margarethen- schwache Region insgesamt hart, als sie erkennen hütte" — diesen Namen durfte seit 1857 ein Braun- mußten, daß sich zwei ihrer Erwartungen nicht erfüllt kohlenwerk mit mehreren Schächten führen. Der haben, nämlich erstens die Ch ance, auf dem Markt Chronik zufolge führte das Werk diesen Namen zu doch in den Wettbewerb zu kommen, und zweitens, Ehren der sächsischen Prinzessin Margarethe. Nach daß eine Geschäftsführung hinter ihnen steht, zu der der Erschließung umfangreicher Tonlager wurden sie Vertrauen haben können. eine Tonwarenfabrik und eine Ziegelei angeglie- dert. Die Chance der Abspaltung von der Tridelta AG über das seit dem Frühjahr 1991 vorhandene Abspal- Das Jahr 1891 brachte die Entwicklung von Kraft- tungsgesetz wurde nicht genutzt. Daran ist übrigens übertragungsanlagen für hochgespannten Strom. Mit nicht nur die Geschäftsleitung schuld. Es kam zu den Isolatoren der Margarethenhütte ist die erste unliebsamen Auseinandersetzungen, die Herr Schulz Hochspannungsanlage Frankfurt/Lauffen ausgerü- schon erläutert hat. Dazu möchte ich im einzelnen stet worden. Der Einbau der Hochspannungsisolato- nichts mehr sagen. ren und die hervorragende Qualität der Produkte begründeten weltweit den guten Ruf des Werkes über Diese Fehler können wir nicht einfach wegreden. Jahrzehnte hin. Sie sind tatsächlich gemacht worden. Das Betrachten 1966 habe ich persönlich diesen Betrieb als einen dieser Fehler bringt uns jedoch nicht vorwärts. Wir VVB-Betrieb — Sie wissen, was das damals war —, müssen vorwärts schauen. Das sind wir den Men- der juristisch und ökonomisch selbständig war, ken- schen, die jetzt arbeitslos sind, schuldig. nengelernt. Mit der Kombinatsbildung hörte die juri- Ich habe anfangs im historischen Rückblick die stische Selbständigkeit auf. Es wurde in Hermsdorf in Strukturveränderungen etwas ausführlicher geschil- Thüringen — also nicht mehr in Sachsen —, dem dert, weil das zeigt, daß zu keinem Zeitpunkt das Stammbetrieb des Kombinats, bestimmt, was inve- Produktionsprofil endgültig festgelegt war, sondern stiert, was produziert und an wen verkauft wurde. ständig Veränderungen vorgenommen worden sind. Mehr und mehr wich das Kosten-Nutzen-Denken dem Befolgen zentraler Anweisungen, über die selbst die Der Name „Margarethenhütte" ist historisch und sogenannten Leitungskader den Kopf schüttelten. gehört zum Image der Region. Er wird nicht unterge- Die Margarethenhütte hatte trotz hoher Ausschuß hen. Er ist inzwischen bereits beim Patentamt gesi- raten — die in der Porzellanindustrie übrigens nicht zu chert worden. vermeiden sind — nie Probleme mit der Qualität, Die Treuhand hat sich für die Liquidation entschie- jedoch immer mit den Kosten, nicht zuletzt auf Grund den, obwohl die Gesamtvollstreckung billiger gewe- einer im Sozialismus völlig falsch angelegten Investi- sen wäre. Das war eine weitsichtige Entscheidung des tionstätigkeit. Der Bet rieb wurde in der sozialistischen Direktorats des Herrn Tränkler, weil die Grundlage Planwirtschaft nach meiner Meinung — ich habe dort für strukturpolitische und arbeitsmarktpolitische Er- gelernt und später studiert — regelrecht kaputtinve- wägungen erhalten blieb. An dieser Stelle verdient stiert. Neuinvestitionen waren notwendig. Aber in der die Treuhand keine Kritik. vollzogenen Größenordnung und damit in der Auf- nahme von Krediten, die in keinem Verhältnis zur Was geschieht gegenwärtig? Produktion standen, war es ökonomischer Unfug. Ich Das Liquidationsteam arbeitet eng mit der ABM- höre noch den Hauptbuchhalter, wie er nach Lei- Gruppe zusammen. Für Erpressung oder Unterdrük- tungssitzungen öfters stöhnte: Die Lumpen bringen kung konnte ich bei meinen monatlichen Besuchen mich noch ins Grab. keine objektiven Anzeichen finden. - Immer wenn der Betrieb extrem hoch in den roten Zahlen lag, setzte die Kombinatsleitung einen neuen Die Aktivitäten zielen auf den Bereich Versuchspro- SED-Direktor ein, nach dem Motto: Neue Besen duktion für Bau- und Zierkeramik, Um- und Weiter- kehren gut. Sie kehrten aber nicht gut und wurden bildung und andere Gebiete. Entscheidend jedoch öfters ausgewechselt. sind die Ausgliederung aus den ABM-Gruppen und damit die Schaffung von Dauerarbeitsplätzen. Deshalb verstand ich von Anfang an das Mißtrauen der Belegschaft, als der letzte SED-Direktor von der Das Liquidationsteam der Treuhand leistet dabei Treuhand als Geschäftsführer eingesetzt wurde. Das aktive Unterstützung durch Org anisation von Semi- war nicht nur ein fachlicher, sondern auch ein psycho- narveranstaltungen, Unternehmensberatung und vie- logischer Fehler. Denn das Vertrauen war gleich Null. les anderes. Zum Beispiel werden jetzt ein Stahl- und Da die Soziale Marktwirtschaft zu einem großen Teil Baubetrieb, ein Elektroinstallationsbetrieb, ein Ma- auch von psychologischen Momenten abhängt, war ler- und ein Reparaturbetrieb mit ehemaligen ein Erfolg nicht zu erwarten. Auch die Tatsache, daß Beschäftigten des früheren Bet riebes entstehen. Die- der östliche Markt, der wichtigste Absatzmarkt der se Existenzgründungen von Handwerksbetrieben letzten Jahre, mehr und mehr zusammenbrach und sind ein wichtiger Schritt. Er deckt natürlich nicht den damit der Kampf in der Auftragserteilung begann, gesamten Arbeitsmarkt ab; aber innerhalb der Mar- wirkte sich negativ aus. garethenhütte vorhandene Handwerksabteilungen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6829

Maria Michalk werden auf dieser privaten Grundlage nunmehr für Betrieb — und darauf kommt es mir an — viel kom- die Allgemeinheit zur Verfügung stehen. plizierter als erwartet ist und daß es in Verantwortlich- Als weiteres Beispiel zielorientierter Arbeit wurde keit der Treuhand letztlich realistischer ist, den die vom ehemaligen Direktor bestellte Wach- und Betrieb nicht als Gesamtheit zu privatisieren, sondern Schließgesellschaft aus dem Vertrag entlassen, und es die vorhandenen spezifischen Gebäude und Anlagen fand die Wiedereinstellung von fünf ehemaligen der elektrokeramischen Industrie, also die Tunnel- Arbeitern für die Pförtnerdienste statt. öfen, die Massemühle usw., geeigneten privaten Investoren, die die Garantie der Beständigkeit geben, (Zurufe von der SPD) zuzuschlagen. Das sind wir den Menschen schuldig. — Kleine Schritte! Ich will damit bloß beweisen, wie Der pessimistische Ausgangsfaktor der Großen mühselig die Arbeit ist und daß es nicht so ist, daß Anfrage von Bündnis 90/GRÜNE gab die Möglichkeit, nichts getan wird. die optimistisch stimmenden positiven Entwicklun- gen hinsichtlich des Fortgangs der Verhandlungen Auch wurden frühere Beschäftigte in das Liquida- mit den vorhandenen Investoren öffentlich zu benen- tionsteam übernommen. nen. Ich bestreite nicht, daß in Großdubrau noch sehr Vom April an wird ein Investor das keramische viel Arbeit zu leisten ist. Ich bestreite aber, daß die Labor mit den Arbeitskräften übernehmen und es für Margarethenhütte ein stillgelegter Standort bleibt, Bodenprobenuntersuchungen nutzen. Dies ist gerade der in Widerruf gerät. wertvoll.aus umweltpolitischen Aspekten für die Region sehr Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU) Ebenso erhält — und die Verhandlungen sind weit gediehen — einer der heimischen Investoren — mir Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- kommt es besonders darauf an, daß auch diese ihre lege Christian Müller das Wort. Chancen bekommen — für seine Produktion den Zuschlag. Er wird z. B. auch in eine Etage der reno- vierten Büroräume einziehen. Christian Müller (Zittau) (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Elek- Ein anderer Teil des Werkgeländes ist für das IB troporzellanwerk, über das wir heute hier reden, ist als Frankfurt interessant. Es soll ein Ausbildungsort aus- einer der drei Produktionsstandorte aus dem VEB gebaut werden, der nicht nur Umschulung, sondern Keramische Werke Hermsdorf hervorgegangen. auch Erstausbildung realisiert und damit eventuell Rechtsnachfolger dieses VEB ist die Keramische schon 1992 über die Region hinaus wirkt. Werke Hermsdorf-Tridelta AG. Die einzelnen Pro- Es liegt eine Liste von Investoren vor. Die Zahl duktionsstandorte, die in Hermsdorf, Sonneberg, stimmt mich hoffnungsvoll. Ich weiß, daß sehr viele beide in Thüringen, und in Großdubrau, in Sachsen, Gespräche geführt worden sind. Die Entscheidung für liegen wurden bereits umrissen. Die Gemeinde Groß- diesen oder jenen Investor muß klug vorbereitet dubrau selbst gehört zu den strukturschwächsten werden. Einen Flop können wir uns im Interesse der Gebieten der Bundesrepublik. Sie zählt ungefähr sozialen Belange der Bürger in dieser Region nicht 3 000 Einwohner, von denen ein großer Teil Beschäf- mehr leisten. tigung in diesem Elektroporzellanwerk fand. Während Treuhand und Bundesregierung von Seit das Liquidationsteam vor Ort arbeitet, ist nicht zwingenden Gründen zur Betriebsstillegung spre- mehr zu bestreiten, daß Licht am Ende des Tunnels zu chen und darlegen, daß die Sanierungsfähigkeit sorg- erkennen ist. Das steht übrigens auch schon in der fältig geprüft worden sei, stellten sich diese Sachver- Presse, die diesen Prozeß schon ein Jahr und länger halte, die mittlerweile dazu geführt haben, daß der begleitet. Die positiven Anzeichen sind durch die Betrieb dem Treuhanddirektoriat „Abwicklung" Presse öffentlich anerkannt worden. — „Rekonstruktion" wir eswürden heute nennen — In drei Monaten ist immerhin die Grundlage für zugewiesen wurde, für die Mitglieder der Belegschaft 50 Dauerarbeitsplätze geschaffen worden, nicht zu- völlig anders dar. Vor allem die Person des Geschäfts- letzt, weil der Liquidator mit den Handwerkskam- führers der Margarethenhütte wurde dabei kritisiert. mern, mit den Wirtschaftsförderungsgesellschaften, Wir hörten heute schon davon. aber auch mit dem Land selbst zusammenarbeitet. Es In der Anfrage der Gruppe Bündnis 90/GRÜNE wird mehr und mehr deutlich, daß nicht einfach finden sich auch Fragen nach diesem Herrn. Die liquidiert, sondern auch saniert wird. Die wöchentli- Bundesregierung antwortet, daß der Geschäftsführer chen Jours fixes, die 14tätigen Koordinierungen der wegen einer möglichen politischen Vorbelastung etwa 50 ABM-Kräfte, die regelmäßigen Gespräche überprüft worden sei. Über das Ergebnis schweigt sie des Liquidators mit Vertretern der Kommune, mit sich aus. Der Geschäftsführer sei allerdings inzwi- Vertretern des Fördervereins und mit Abgeordneten schen aus dem Unternehmen ausgeschieden. Das zeigen, daß Transparenz nunmehr gegeben ist. Ich wissen wir. hätte mir gewünscht, diese Transparenz wäre eher zu Die Frage bleibt bestehen: Was hat die Überprüfung verzeichnen gewesen. Sie ist für die Akzeptanz der Entscheidungen unerläßlich. ergeben? Weshalb ist er ausgeschieden? Ihm wurde von der Belegschaft vorgeworfen, seine Aufgabe Eine Reihe der noch vor einem Jahr verärgerten keinesfalls im Sinne der Margarethenhütte wahrge- Menschen an diesem Standort hat begriffen, daß das nommen zu haben. Vielmehr habe er in einem bewußt Überführen eines im Sozialismus heruntergewirt- vollzogenen Anpassungs- oder Unterwerfungsprozeß schafteten Betriebes in einen zukunftsbeständigen gegenüber der Tridelta in Hermsdorf als deren Abge- 6830 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Christian Müller (Zittau) sandter fungiert, vielleicht sogar lediglich persönliche Was bedeutet dem einzelnen Arbeiter die Rede von Interessen verfolgt. So sei es ihm zuzuschreiben, daß Dauersubventionierung unrentabler Betriebe, die das bewegliche Anlagevermögen, die gewerblichen finanziell und wirtschaftspolitisch nicht vertretbar sei? Schutzrechte, die Materialbestände einschließlich der Herr Möllemann muß sich wohl abermals die Frage unvollendeten und fertigen Erzeugnisse sowie die gefallen lassen, was denn aus seinem angekündigten Geschäftsunterlagen an Tridelta veräußert wurden. Subventionsabbau letztlich geworden ist. Dieses Diese Transaktion führte jedenfalls zu einem Konflikt Gefecht, ein Scheingefecht, war doch nichts anderes zwischen Belegschaft und Geschäftsführung und zu als das Eingeständnis, daß in der Bundesrepublik mehreren Betriebsbesetzungen im Frühjahr und im unzählige Subventionstöpfe existieren, die nicht weg- Sommer dieses Jahres. Erst durch dieses Auftreten der zustellen sind, ohne daß man in der Wählergunst Beschäftigten kam es zur Vorstellung eines Sozial- Schaden nimmt. plans und zur Verlängerung der Kurzarbeit um einen (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Monat. GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ Die Treuhand selber spricht hinsichtlich der Marga- CSU) rethenhütte von einem besonders schwerwiegenden In den ostdeutschen Bundesländern soll doch wohl Präzedenzfall und Problemfall. Während die Tridelta aber vorzugsweise die reine Lehre gelten, wobei man AG Pläne zur Börseneinführung hegte, mußte sich die ja notfalls auf die Mißwirtschaft der letzten 40 Jahre Margarethenhütte wegen der Notwendigkeit der hinweisen kann. Anpassung der vorhandenen Überkapazitäten mit der Stillegung konfrontiert sehen. Aus der Belegschaft heraus bildete sich jedenfalls eine Initiative, die eigene konkrete Fortführungskon- Letztlich wurde die Margarethenhütte aus der AG zepte erarbeitete. Sie wollte auf ihre Art und Weise ausgegliedert und der Treuhandanstalt unterstellt. zum Erhalt des Standorts und zur ökologischen Man besann sich jetzt darauf, an die Entflechtung des Erneuerung beitragen. Die Aktivgruppe der Beleg- ehemaligen Kombinats heranzugehen. Entflechtung schaft mußte dabei gewissermaßen im Untergrund hieß für Großdubrau, daß der Produktionsstandort arbeiten; denn Unterstützung fand sie nicht. Schließ- demontiert wurde und die Produktionsanlagen in lich wurde am 25. Juli 1991 ein Förderverein gegrün- Hermsdorf veräußert wurden. Die Belegschaft sah det, um zur Rettung des Standorts beizutragen. Dies sich weiterhin mit ihrem Geschäftsführer uneins und sind die nackten Tatsachen. mußte sich als Opfer der Muttergesellschaft sehen, die Des weiteren ist dies die in groben Zügen nachvoll- nur das Interesse hatte, ihre eigene Haut zu retten. zogene Chronologie eines Zusammenbruchs, dessen In der Antwort der Bundesregierung wird dazu wahrlich niederschmetterndes Ergebnis in der kom- lapidar geäußert: An den Standorten Sonneberg und menden Zeit bestenfalls dadurch gemildert werden Hermsdorf wird schon lange Elektrokeramik produ- kann, daß für Großdubrau doch noch einige neue ziert und nach derzeitigem Entwicklungsst and auch Investoren gewonnen werden können. weiterhin produziert werden. In der Tat hat die Weitere Einzelheiten diese Vorgangs mag ich an Margarethenhütte eine Tradition; auf diese wurde dieser Stelle nicht verfolgen. Mir geht es vielmehr hier schon ausführlich hingewiesen. darum, mit Nachdruck deutlich zu machen, daß wir in einer Phase der wirtschaftlichen Entwicklung im Hinzu kommt: Der Standort der Margarethenhütte Osten Deutschlands sind, wo es sich noch in diesem liegt in der einem der nunmehr struktur- Oberlausitz, Jahr entscheidet, ob ganze Landstriche Industrie- schwächsten Gebiete der Bundesrepublik. In einem standorte bleiben oder nicht; denn es geht gegenwär- solchen Gebiet hat natürlich jeder einzelne Standort tig vorzugsweise um Be triebe, deren Sanierung und eine enorme regionale Bedeutung. Jede einzelne Privatisierung deshalb schwierig sind, weil sich kein Schließung zieht die Abwanderung der hochqualifi- Käufer findet. Großdubrau ist überall. zierten Menschen nach sich, die in ihrer Heimat keine Existenzmöglichkeit mehr sehen. Damit aber stirbt die Freilich, im Bild der Öffentlichkeit gewinnen Pro- gewachsene Struktur einer Gegend, stirbt der teste dann an Dramatik, wenn Zehntausende von menschliche Zusammenhalt. Es stirbt letztlich eine Betroffenen auf der Straße für ihre Existenz streiten. gesamte Region. Damit können wir in der Oberlausitz meist nicht aufwarten. Aber unsere kleineren und größeren Indu- Das Ziel ist es, so die Bundesregierung, dem verfüg- striestandorte sind für uns ebenso wichtig wie die baren Fachkräftepotential eine Zukunftsperspektive Werften für den Norden des Landes und die Kohlere- zu eröffnen. Fachkräftepotential als Umschreibung für viere für die Lausitz. Menschen — zeugt das nicht von einem rein techni- schen, rein wirtschaftlichen Verständnis der Tatsache, Es kommt daher darauf an, alles Vernünftige zu tun, daß sich viele Menschen und ihre Einzelschicksale im um den jetzt noch vorhandenen Industriestandorten Osten derzeit in einem Überlebenskampf befinden? die Chance einzuräumen, jede Möglichkeit für ein Wenn die Bundesregierung in ihrer letzten Antwort, Überleben zu nutzen. Das sind wir ihnen schon wegen die sie auf die Große Anfrage auf Drucksache 12/1996 unserer strukturpolitischen Verantwortung schuldig. gab, ihr marktwirtschaftliches Credo nochmals aus- Die Entwicklung zu einer Industriebrache, einem drücklich äußert, so zeigt sie damit nur, daß sie die „Mezzogiorno", droht uns nach wie vor. Sicht für diese Zusammenhänge angesichts der gro- Dies heißt für mich vor allem, daß sowohl die ßen Aufgabe der deutschen Einheit und der Herstel- Regierung als auch wir selber dafür sorgen müssen, lung gleicher Lebensverhältnisse in größeren Zügen daß der Sanierung von Betrieben vor allem zur Ver- verloren hat. besserung ihrer Privatisierungschancen der Vorrang Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6831

Christian Müller (Zittau) eingeräumt wird. Dies könnte durch eine Modifizie- VEBs und die geschönten Umweltmeßdaten des SED rung des Treuhandgesetzes sehr leicht geschehen. Regimes entlarvte. Ich bin auch dafür, unkonventionelle Wege der Was waren die wesentlichen Kennzeichen der Privatisierung über Industrieholdings oder derglei- sozialistischen Kommandowirtschaft? Der Staat war chen zu gehen, um die östliche Industrielandschaft zu der General- und der Subunternehmer zugleich. Er erhalten. Wir wissen doch alle, daß es kaum möglich versuchte, alles in der Wirtschaft zu planen und zu ist, verlorene Arbeitsplätze durch Neuansiedlungen regeln. Der P rivate fand Spielraum nur in Nischen zu kompensieren. oder dort, wo der Staat merkte, daß er das Wirtschafts- Ich komme damit zum Schluß. Jedes Unternehmen pensum nicht mit seinem Planapparat bewältigen im Osten, ganz gleich, ob es sich um Existenzgründer, konnte. bereits etablierte Mittelständler oder Treuhandunter- Der Staat übernahm folgerichtig auch die wesentli- nehmen handelt, hat die unglaublich schwere Auf- chen Eigentumsrechte. Die verschiedenen Enteig- gabe zu lösen, sich unter völlig ungleichen Bedingun- nungswellen verdeutlichen, mit welcher Härte dieser gen dem Wettbewerb zu stellen. Selbst dann, wenn SED-Staat gegen seine Bürger vorging und sich an Management und Marktstrategie stimmen, müssen ihrem Eigentum verging. Hieran erkennt man deut- Ostbetriebe gegen besetzte Märkte ankämpfen; sie lich, wie wichtig es dem Staat war, das Eigentum an haben keine Kapitalreserven, so daß selbst geringfü- Wirtschaftsbetrieben nicht in privater Hand zu belas-e gige Probleme, hervorgerufen durch Schwankungen sen. der Weltmarktpreise, ihren Untergang besiegeln könnten. Dieser Tatsache sollten wir uns auf jeden Fall Beides dominier nder staatlicher Einfluß sowie ständig bewußt sein. Gleichheit der Chancen ist nicht Verzicht auf P rivateigentum — läßt sich aber mit der gegeben; die Ungleichheit ist vielmehr verheerend. Marktwirtschaft nicht vereinbaren. Daher ist es heute Ich finde, daß wir da nicht länger zuschauen dür- unerläßlich, daß der Staat sich von seinem teilweise fen. auch unrechtmäßig erworbenen Besitz trennt und ihn in privates Eigentum überführt. Ich könnte beliebige Beispiele ähnlicher Fälle hin- zufügen. Die aktuellsten sind für mich das Dieselmo- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) torenwerk im Kuhnewalde und das Ferro-Legierungs- Dies war und ist der Wille der Bürger in den neuen werk in Hirschfelde, bei denen es um das Ende ihrer Bundesländern. Dies durchzuführen, ist der Auftrag, Existenz geht. Tun wir also etwas, meine Damen und den die Treuhandanstalt auszuführen hat. Herren! Dieser Auftrag kann, wie wir wissen, nicht über (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Nacht bewältigt werden und nicht schlagartig zu GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ wirtschaftlich blühenden fünf neuen Bundesländern CSU) führen. Für diese schwere Aufgabe benötigt man Zeit, vor allem aber Ruhe und Beständigkeit, damit man sie Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- zum Erfolg führen kann. Deshalb sind die dauernden lege das Wort. Anträge der Opposition wenig hilfreich, die fortlau- fend andere organisatorische Formen und, zuletzt durch den wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD, Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sogar ein eigenes Treuhand-Ministerium und eine Damen und Herren! Die Fragen, die zu dieser Debatte unsinnige Ausweitung oder gar Umkehr der Arbeits- geführt haben, zeigen, wie groß die Unterschiede der weise der Treuhand fordern. Meinungen über den Weg sind, den die ostdeutsche Wirtschaft zur Marktwirtschaft zu gehen hat. Schon (Zustimmung bei der F.D.P.) die Einleitung zu der Großen Anfrage vom 14. Okto- So wie Rom nicht an einem Tag erbaut wurde und die ber 1991 über die Stillegung des keramischen Stand- Wirtschaftsstruktur der alten Bundesländer nicht über orts Großdubrau und auch die Beiträge von Herrn Nacht und ohne Pleiten und Rückschläge entstanden Schulz und Herrn Müller zeigen für mich deutlich das ist, große Mißtrauen der Fragesteller gegen die Treu- hand. Dagegen steht ein nahezu naiver Glaube an (Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/ Konzepte, die von Beteiligten, Betroffenen und Inter-- GRÜNE]: Die haben es wenigstens erbaut!) essierten aufgestellt werden, bei deren Scheitern wird man auch in den neuen Bundesländern Geduld allerdings nicht dieser Kreis, sondern der Staat als brauchen, um wesentliche Verbesserungen zu errei- Zahlmeister in die Pflicht genommen werden wird. chen. Wenn man den Beteuerungen aller in diesem Analysiert man die Betriebe der ehemaligen DDR, Hohen Hause vertretenen Fraktionen glaubt, dann dann stellt man häufig fest, daß bei vielen dieser gibt es keinen Dissens darüber, daß die sozialistische Unternehmen Produktionsanlagen, wenn auch veral- Kommandowirtschaft durch die Soziale Marktwirt- tet, mit Mitarbeitern, wenn auch zum Teil unzurei- schaft abgelöst werden soll. chend ausgebildet, vorhanden sind. Die Produktivität (Dr. Wolfgang Ullm ann [Bündnis 90/ ist wegen des viel zu großen Personalbestands im GRÜNE]: Richtig!) Vergleich zum Wettbewerb zu gering und kann mit Die sozialistische Kommandowirtschaft hat in den den wettbewerbsorientierten westlichen Unterneh- 40 Jahren abgewirtschaftet und Menschen und Natur men nicht konkurrieren. über Gebühr strapaziert. Dies wurde nach der Wende (Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/ überdeutlich, als man die gefälschten Bilanzen der GRÜNE]: Aha) 6832 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Paul K. Friedhoff Außerdem fehlen wettbewerbsfähige Produkte und nehmer, schwer einzusehen. Vielleicht wären hier markterfahrene Vertriebsabteilungen, um nach dem mittelständische Strukturen zur Bewältigung der Zusammenbruch des RGW in Osteuropa neue Absatz- aktuellen Probleme besser geeignet gewesen. Doch möglichkeiten zu realisieren. Betriebe in einer ver- auch dies läßt sich nicht politisch, sondern nur nach gleichbaren Situation, also mit unproduktiven Pro- Prüfung be triebswirtschaftlicher Kenndaten unter- duktionsstätten ohne Vertrieb und ohne Markt, gibt es nehmerisch entscheiden. im Westen nicht; denn die Marktwirtschaft hat hier Wenn wir bei der Umgestaltung der Staatswirt- längst entweder für eine Umstrukturierung gesorgt, schaft in den neuen Ländern zur Marktwirtschaft oder die Unternehmen sind in Konkurs gegangen. erfolgreich sein wollen, dann dürfen wir den Markt Deshalb führt die Treuhand ihren Auftrag so aus, mit seinen unternehmerischen Entscheidungen, die daß sanierungsfähige Be triebe bis zur Privatisierung jeweils betriebsbezogen und daher individuell getrof- durch Liquiditätshilfen auf Kosten der Steuerzahler fen werden müssen, nicht außer Kraft setzen. Bei erhalten bleiben. Dies ist ein teurer und nicht unge- politischen Vorgaben besteht die große Gefahr, daß fährlicher Weg. Die Erfahrungen im Westen zeigen, wir in den neuen Ländern eine Staatswirtschaft kon- daß in Staatsbetrieben die Bet riebswirtschaft und das servieren und damit die wirtschaftliche Teilung unse- unternehmerische Ziel der Gewinnmaximierung res politisch vereinten Landes für einen längeren nicht die ihr im Privatunternehmen zukommende Zeitraum festschreiben. Bedeutung haben. Ich denke, der Treuhandauftrag hat sich als richtig Es gibt genügend Beispiele, wo durch Investitions- erwiesen und darf nicht verändert werden. Wir sind zulagen und -zuschüsse mit viel weniger Mitteln auf einem richtigen Weg. Das zeigen alle Statistiken sicherere Dauerarbeitsplätze entstehen als bei dauer- über die Anzahl der verkauften Betriebe, die Höhe der subventionierten Arbeitsplätzen, wie sie z. B. im west- Investitionszusagen und die Anzahl der vertraglich deutschen Steinkohlebergbau erhalten werden. Ich fest zugesagten und nun sicheren Dauerarbeits- hoffe, wir sind uns darin einig, daß die Mittel des plätze. Staates, die aus den Taschen unserer Bürger stam- Dennoch, der Weg der Privatisierung wird für die men, nicht unbegrenzt sind und besser für neue, Treuhand in Zukunft noch schwieriger werden, da die sichere Arbeitsplätze als zur Konservierung einer noch vorhandenen Betriebe vielfach nicht privatisie- nicht wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur ausge- rungsfähig sind, ohne vorher saniert zu werden. Die geben werden sollten. zur Sanierung notwendigen Finanzmittel müssen Wenn sie es so sehen wollen, sind die Liquiditäts- volkswirtschaftlich vertretbar sein und dürfen nicht hilfen laufende Verstöße gegen marktwirtschaftliche über den überschaubaren und begrenzten Zeitraum Prinzipien, die allerdings auf Grund der Ausnahme- der Sanierung hinaus gezahlt werden. situation der Be triebe in den neuen Ländern für einen Ziel jeder Sanierung durch die Treuhand muß begrenzten Zeitraum zu verantworten sind. Diese jedoch die Privatisierungsfähigkeit des Unterneh- Subventionen dürfen aber die falschen, unrentablen mens sein. Dies wird erreicht, wenn ein Unternehmen Strukturen nicht auf Dauer erhalten; sie müssen als ohne Subvention wettbewerbsfähig ist und sich am Hilfe zur Selbsthilfe bis zum Erreichen der Privatisie- Markt behauptet. Kann die Wettbewerbsfähigkeit rungsfähigkeit angelegt sein. ohne Dauersubventionen nicht erreicht werden, so Um zu privatisierungsfähigen Unternehmen zu muß der Betrieb konsequenterweise geschlossen wer- kommen, müssen die Betriebe nach betriebswirt- den. schaftlichen Kriterien zu Einheiten entflochten oder Dies ist ein hartes, auch durch die Politik nicht zusammengefaßt werden, die den Anforderungen des wegdiskutierbares Grundgesetz der Marktwirtschaft. Marktes entsprechen. Dazu gehört selbstverständlich Daher kommt die Treuhand ihrer Aufgabe nach, wenn die notwendige Personalanpassung. Dies bedeutet in sie Betriebe, bei denen erkennbar keine Aussicht auf der Regel einen erheblichen Personalabbau. Genau eine erfolgreiche Sanierung besteht, stillegt. Die Men- dies ist auch im Falle des Tridelta-Werks in Groß- schen in den stillgelegten Unternehmen, auch in dubrau geschehen. Nach einer optimistischen Pro- Großdubrau, werden das verstehen; gnose im Jahre 1990 zeigten sich bereits kurze Zeit später erhebliche Fehleinschätzungen. Dies ist ein (Dr. Peter Struck [SPD]: Das können Sie Beweis dafür, daß unternehmerische Entscheidungen denen ja einmal erzählen!) ständig neu gefällt werden müssen und die Verände- dennern schließlich finanzieren auch sie mit ihren Steu- rungen des Marktes zu berücksichtigen haben. Der dauersubventionierte Unternehmen. Im Falle der Markt für technische Keramik war selbst für die Arbeitslosigkeit werden sie von unserem sozialen Manager vor Ort, für erfahrene Berater und Kenner Netz aufgefangen, bis sie einen neuen Arbeitsplatz des Marktes, außerordentlich schwierig zu beurteilen. haben. Tridelta und die Schließung des Werkes in Groß- dubrau sind ein unternehmerisches, ein betriebswirt- (Christian Müller [Zittau] [SPD]: Da werden schaftliches, aber kein politisches Problem. wir noch viel Geld von der Bundesanstalt für Daß die Zusammenführung der Margarethenhütte Arbeit brauchen!) in Großdubrau mit vielen anderen Werken in eine AG Durch die verschiedensten Förderprogramme des zu einem Großbetrieb mit über zehntausend Mitarbei- Bundes und des Landes sowie durch das Gemein- tern der richtige Weg gewesen sei, um neue marktfä- schaftswerk Aufschwung Ost werden auch an diesem hige Produkte zu schaffen und neue Märkte zu Standort neue, wettbewerbsfähige Industrien mit erobern, ist für mich, einen mittelständischen Unter- sicheren Arbeitsplätzen entstehen. Nur wenn nach Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6833

Paul K. Friedhoff Markt- und unternehmerischen Grundsätzen verfah- Die erste Frage ist: Was haben die Verantwortlichen ren wird, haben die neuen Bundesländer die Chance, denn wirklich falsch gemacht? Wurden alle bestehen- zu einem der modernsten Industriestandorte der Welt den Produktions- und Sanierungschancen genutzt, zu werden. blieb wirklich nur die Abwicklungsentscheidung? Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Und wenn das so ist: Werden die Chancen zur Erhaltung des Industriestandortes aus der Abwick- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lung heraus professionell genutzt? Die zweite Frage lautet: Ist es in diesem schwierigen Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Par- Prozeß zu Unregelmäßigkeiten oder gar zu strafbaren lamentarische Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald Handlungen gekommen? das Wort. Sie beschäftigen sich mit beiden Fragen, unsere Antwort auch. Aber noch einmal kurz in aller Deut- Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär beim lichkeit: Es gibt nach dem Kenntnisstand der Bundes- Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! regierung im Zusammenhang mit der Stillegung der Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Große Anfrage Margarethenhütte keine Hinweise auf strafbare von Herrn Kollegen Schulz, aber auch die bisher Handlungen der auf seiten des Unternehmens Betei- stattgehabte Diskussion gibt mir Gelegenheit, mich ligten oder gar ein Fehlverhalten des bestellten Wirt- am Beispiel eines kleinen, regional jedoch unglaub- schaftsprüfers, von dem bis jetzt noch gar nicht die lich wichtigen Unternehmens mit den enormen Rede war. Anpassungsschwierigkeiten, aber auch , Herr Kollege Friedhoff, mit den unterschiedlichen Meinungen über Wie alle Unternehmen im Beitrittsgebiet wurde die richtigen Lösungswege kurz auseinanderzuset- auch die Margarethenhütte zunächst von den alten zen. Führungskräften geleitet. Das Elektroporzellanwerk Margarethenhütte liegt (Dr. Wolfgang Ullmann [Bündnis 90/ in Großdubrau, einer Gemeinde mit ca. 3 000 Seelen, GRÜNE]: Eben!) nur wenige Kilometer von Bautzen entfernt, in einer Die Treuhandanstalt hat sich nach eingehender Prü- von den Umstellungsprozessen in ganz besonderer fung — übrigens auch unter Einschaltung des zustän- Weise, Herr Kollege Müller, gebeutelten Region; das digen Vertrauensbevollmächtigten — von dem ist unstreitig. ursprünglichen Geschäftsführer wegen seiner mögli- (Christian Müller [Zittau] [SPD]: So ist es!) chen politischen Verantwortung getrennt. Da haben Die Margarethenhütte war neben Betrieben in wir doch nichts zu verschweigen, wie hier gesagt Hermsdorf und Sonneberg der dritte Produzent von wurde. Zu beurteilen, ob das zutreffend ist, bleibt im Hochspannungskeramik des ehemaligen VEB kera- rechtsstaatlichen Verfahren anderen überlassen. mische Werke Hermsdorf, der heutigen Keramische Die Verlagerung der Maschinen und Anlagen Werke Hermsdorf-Tridelta AG. erfolgte auf der Basis ordnungsgemäß zustande Wegen des Wegfalls des bisherigen Absatzmarktes gekommener Beschlüsse und zwischen den Beteilig- für Hochspannungsisolatoren, deren primäre Abneh- ten geschlossener Verträge. Die Verträge wurden zu mer die RGW-Länder waren, erwiesen sich die Pro- einem frühen Zeitpunkt ausgehandelt, zu dem es duktionsstätten der Margarethenhütte als überdimen- hierfür noch keine Richtlinien der Treuhandanstalt sioniert und — wie wir von Ihnen, Frau Kollegin gab. Deswegen werden die Verträge jetzt noch einmal Michalk, soeben aus unmittelbarer eigener Wahrneh- von allen Beteiligten überprüft. mung sehr beeindruckend erfahren durften — auch Am Verlagerungs- und Stillegungsbeschluß des als falsch gemanagt und falsch organisiert. Deswegen Aufsichtsrates — ich betone nochmals: des Aufsichts- hat der Aufsichtsrat der Muttergesellschaft — und rates — der Tridelta AG waren die Arbeitnehmerver- nicht, wie hier wiederholt behauptet worden ist, die treter beteiligt. Er erfolgte in Abstimmung mit dem Treuhand oder gar die Bundesregierung — schon am Betriebsrat der Margarethenhütte. Die Arbeitnehmer 22. Oktober 1990 beschlossen, die Produktion nur waren fortlaufend über die Schwierigkeiten des noch auf die Tridelta Keramik GmbH Sonneberg zu Unternehmens und die getroffenen Entscheidungen konzentrieren und die Margarethenhütte stillzulegen. informiert. Ich frage Sie: Was sollte noch mehr an Wer in diesem Zusammenhang von einer Demontage Information geschehen? Für die Sorgen der Arbeit- in einer Nacht-und-Nebel-Aktion spricht, bleibt für nehmer haben wir selbstverständlich allergrößtes diese Behauptung wohl den Beweis schuldig. Verständnis. Seit Mitte September 1991 befindet sich die Marga- Die wichtigste Frage ist deshalb sicherlich, ob das rethenhütte offiziell in der Liquidation. Von den Unternehmen tatsächlich nicht sanierungsfähig und ursprünglich ca. 750 Beschäftigten blieben nach den daher der Liquidationsbeschluß unumgänglich war. zum 30. Juni 1991 erfolgten Kündigungen leider — ich Treuhandanstalt und externe Gutachter haben sich betone: leider —nur 26 Beschäftigte übrig. So weit die die Entscheidung nicht leichtgemacht, obgleich die Fakten. Stillegungsentscheidung durch die zuständigen Gre- Nach dem Tenor der Anfrage und auch nach dem mien der Muttergesellschaft längst getroffen war. Alle geleisteten Diskussionsbeitrag, Herr Kollege Schulz, Konzepte und Übernahmeangebote wurden auf ihre ist bei der Stillegung nach Ihrer Ansicht offenbar alles wirtschaftlichen Realisierungschancen hin sorgfältig falsch gelaufen. Ich meine, wir sollten uns einmal sine überprüft. Dabei haben sich einschließlich — ich ira et studio zwei ganz grundsätzlichen Fragen betone: einschließlich — des von den Belegschafts- zuwenden. vertretern unterstütz ten Konzepts alle Vorschläge als 6834 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald nicht tragfähig erwiesen, insbesondere hinsichtlich schließungsantrag? — Gegenstimmen! — Enthaltun-- des Konzepts der Belegschaft fehlte es einfach an gen? — Dieser Entschließungsantrag ist abgelehnt. jedweder betriebswirtschaftlichen Basis. Es besteht deshalb zwischen allen Beteiligten, also Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: dem Unternehmen, dem sächsischen Staatsministe- rium für Wirtschaft und Arbeit, der Treuhandanstalt Erste Beratung des von der Bundesregierung und dem Bundesministerium der Finanzen, der eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Arbeitsverwaltung und den örtlichen Entscheidungs- Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen und trägern seit langem Einvernehmen darüber, daß die Notarbestellungen Margarethenhütte in ihrer alten Struktur nicht über- — Drucksache 12/2169 — lebensfähig ist, sondern alles unternommen werden Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für muß, um einen neuen Industriestandort entstehen zu die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — lassen. Darin stimmen wir ja Gott sei Dank wieder Auch dazu gibt es keinen Widerspruch. überein. Damit kommen wir zur Aussprache. Das Wort hat Obwohl der durchgeführte Kostenvergleich die der Parlamentarische Staatssekretär Rainer Funke. Gesamtvollstreckung als die kostengünstigere Ab- wicklungsform auswies — Frau Kollegin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß dies das betriebswirt- Rainer Funke, Parlamentarischer Staatssekretär schaftlich Richtigere und Günstigere gewesen beim Bundesminister der Justiz: Frau Präsidentin! wäre —, hat sich die Treuhandanstalt wegen der Meine Damen und Herren! Der Entwurf eines Geset- regionalen Bedeutung dieses Unternehmens gleich- zes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen und wohl zur Liquidation entschlossen. Beweggrund für Notarbestellungen soll zum Aufbau rechtsstaatlicher die Entscheidung der Treuhandanstalt war, daß aus Strukturen in den neuen Ländern und zur Überwin- der Liquidation heraus Fortführungsmaßnahmen im dung des Unrechtssystems der Vergangenheit beitra- Sinne einer übertragenden Sanierung realisiert wer- gen. den sollen. Ein unverzichtbarer Grundpfeiler für ein funktio- Damit wird nicht nur der großen Erwartungshaltung nierendes rechtsstaatliches System ist eine vom Ver- in bezug auf einen Neubeginn in Großdubrau Rech- trauen der Bürger ge tragene Rechtspflege. Dieses nung getragen, sondern auch eine ganz reale Per- Vertrauen müssen selbstverständlich vor allem die zur spektive eröffnet. Der Liquidator führt seit drei Mona- Entscheidung berufenen Richter und Staatsanwälte ten intensive Gespräche — darauf wurde schon hin- erwerben. Aber auch die Rechtsanwälte und Notare, gewiesen — mit möglichen Investoren. Die vor eini- die ja Organe der Rechtspflege sind, müssen im gen Monaten noch feststellbare erschreckende Per- Grundsatz das vom System in sie gesetzte Vertrauen spektivlosigkeit klart sich nun Gott sei Dank ein wenig rechtfertigen. auf, worauf Sie, Frau Kollegin Michalk, dankenswer- terweise schon hingewiesen haben. Unsere Rechtsordnung verlangt daher auch für den freien Beruf des Rechtsanwalts — neben der fachli- Ziel des Liquidators ist es, bis zum zweiten Halbjahr chen Qualifikation — die persönliche Eignung für den 1993 350 bis 400 neue, gesicherte Arbeitsplätze in Beruf. Großdubrau zu schaffen. Das ist es, Herr Müller, was wir brauchen: Perspektiven und Chancen für den Auch das Recht der DDR stellte ansatzweise solche alten, traditionellen Industriestandort. Er wird dabei Anforderungen an die Angehörigen des Rechtsan- von der Treuhandanstalt, vom Freistaat Sachsen und waltsberufs. Es hat sich aber herausgestellt, daß bei allen Beteiligten unterstützt. der Zulassung von Rechtsanwälten und der Bestel- lung von Notaren allzu großzügig verfahren worden Dieses zugegebenermaßen unschöne Beispiel zeigt ist, um noch kurz vor der Einigung der SED-Promi- einerseits die örtlich tiefgehenden Folgen des notwen- nenz eine berufliche Zukunft zu verschaffen. digen Umstrukturierungsprozesses. Andererseits, so meinen wir, zeigt dieses Beispiel aber auch gerade die Wer aber früher als Garant des SED-Regimes in Richtigkeit und das Greifen der Instrumentarien, erheblicher Weise gegen fundamentale Grundsätze deren sich die Treuhandanstalt bedient. Das mit der der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit ver- Bundesregierung abgestimmte Verhalten — so be- stoßen hat, kann nicht heute als Anwalt oder Notar drückend zur Stunde die Situation dort auch noch und damit als Organ der Rechtspflege tätig sein. Diese ist — gibt uns doch Hoffnung, daß wir den traditionel- Berufe dürfen kein Auffangbecken für die Prominenz len Industriestandort für die Zukunft erhalten kön- des SED-Unrechtssystems sein und werden. nen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Schönen Dank. SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) (Beifall beider CDU/CSU und der F.D.P.) Mit dem Gesetz zur Prüfung von Rechtsanwaltszu- lassungen und Notarbestellungen wird hierfür das notwendige Instrumentarium geschaffen. Dabei geht es nicht um Gesinnungsschnüffelei oder Berufsver- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Damit schließe ich bote. Rechtsanwälte üben — anders als Richter und die Aussprache. Staatsanwälte — einen freien Beruf aus. Das Grund- Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- recht der freien Berufswahl nach Art. 12 des Grund- ßungsantrag der Gruppe Bündnis 90/DIE GRÜNEN gesetzes soll und wird nicht angetastet werden. Zu auf Drucksache 12/2248. Wer stimmt für diesen Ent bedenken ist selbstverständlich auch, daß sich jeder Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6835

Parl. Staatssekretär Rainer Funke Bürgerstellung, daß ein rechtsuchender Bürger seinem Pei seinen Rechtsanwalt oder Notar, nicht aber zurückgenommen werden kann, ist das Maß wahrhaf- - seinen Richter oder Staatsanwalt aussuchen kann. tig voll. Das können wir nicht hinnehmen. Der Entwurf faßt daher die tatbestandlichen Vor- (Beifall bei der SPD, der F.D.P. und dem aussetzungen für die Ausschließung so, daß nicht die Bündnis 90/GRÜNE) „kleinen Fische" im Netz verbleiben. Er stellt aber sicher, daß eine allzu großzügige Zulassungspraxis in Weil das so ist, hat die SPD-Bundestagsfraktion am den letzten Monaten des Bestehens der DDR nach den 6. Dezember vorigen Jahres eine Kleine Anfrage im gleichen Kriterien überprüft werden kann, die heute Bundestag eingebracht, um die Bundesregierung zu auf Bewerber anzuwenden sind, und er gewährleistet, bewegen, gesetzliche Grundlagen zu schaffen, die es daß Erkenntnisse aus den Unterlagen der Staatssi- gestatten, die Zulassung führender SED-Funktionäre cherheit genutzt werden können. und Stasi-Mitarbeiter zur Rechtsanwaltschaft wieder rückgängig zu machen, wenn diese sich des Rechts- Es muß aber auch verhindert werden, daß zum anwaltsberufs als unwürdig erweisen. Ähnliches gilt Schöffen oder sonst zum ehrenamtlichen Richter für Notarbestellungen. berufen wird, wer durch seine Mitarbeit bei der Staatssicherheit oder in anderer Weise Schuld auf sich Die Bundesregierung hat mit dem Entwurf eines geladen hat. Es muß sichergestellt werden, daß derje- Gesetzes zur Prüfung von Rechtsanwaltszulassungen nige abberufen werden kann, bei dem sich dies und Notarbestellungen vom 26. Februar 1992 rea- herausstellt. Auch das betrifft die Glaubwürdigkeit giert. Wir begrüßen das. der Rechtsprechung. Es wäre eine unerträgliche Vor Der Bundesrat hat in seiner Gegenäußerung vorge- schlagen — Staatssekretär hat gerade hat darauf niger auf der Richterbank begegnen könnte. Ich hingewiesen —, zusätzlich entsprechende Regelun- unterstütze daher nachdrücklich den Vorschlag des gen für ehrenamtliche Richter hinzuzufügen. Wir Bundesrates, das Gesetz u entsprechende Bestim-m stimmen dem wie die Bundesregierung zu. Wer, vor mungen zu ergänzen. Gericht geladen, neben dem Berufsrichter seinen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Stasi-Spitzel in der Person des Laienrichters erkennt, wird ebenso geschockt sein wie der, der sich vertrau- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ensvoll Rechtsrat holen will und mit seinem schreck- lichen SED-Richter im Anwaltsgewand konfrontiert wird. Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- lege Hans de With das Wort. Nun hat der Bundesrat moniert, daß die Rücknahme der Rechtsanwaltszulassung nur möglich sei, wenn der Anwalt — so heißt es dort gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit i n Dr. Hans de With (SPD): Frau Präsidentin! Meine erheblicher Weise verstoßen hat. Der Bundesrat sehr verehrten Damen und Herren! Daß auch eine meint, daß damit unter Umständen „einfache" Stasi- funktionierende und intakte Justiz für den Wiederauf- Mitglieder, die durchaus einiges auf dem Kerbholz bau in den neuen Ländern wesentlich ist, war anfangs haben können und deshalb untragbar sind, gleich- keineswegs Allgemeingut. Daß im Rahmen der Justiz wohl im und mit dem Mantel der Rechtsstaatlichkeit nicht nur Richter, Staatsanwälte und Rechtspfleger Unterschlupf finden können. Beachtung finden müssen, sondern auch die Rechts- anwälte und Notare als Bindeglied zwischen Bürger ( [CDU/CSU]: Das kann man und Justizeinrichtungen, war anfangs vielfach noch nicht machen!) weniger deutlich bewußt. - Sie waren, was die Bundesregierung anlangt, Wenn ein Freigekaufter 1990 an eine Rechtsan- etwas voreilig. Aber mir ist es sehr recht, Herr Kollege waltskanzlei in Thüringen verwiesen wurde, um sich Geis. seines enteigneten Hauses zu vergewissern und hin- ter dem Schreibtisch als Anwalt dieser seinen frühe- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Nein, ich bin Ihrer ren Richter entdeckt, der ihn wegen versuchter Repu- Meinung! ) blikflucht zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt hatte — Das freut mich sehr. und ihn nun als Organ der Rechtspflege beraten soll, dann wird dieser der neuen Gerechtigkeit mit größten Die Bundesregierung hat der Streichung des „in Zweifeln begegnen. erheblicher Weise" mit dem Hinweis widersprochen, es müsse das Gebot der Verhältnismäßigkeit beachtet (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der werden. Hier wird bei den Beratungen im Rechtsaus- F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE) schuß sehr sorgfältig zweierlei zu beachten sein: zum Solche Fälle gab es, ist mir in meiner Sprechstunde einen, daß in der Tat der Grundsatz der Verhältnis- berichtet worden. mäßigkeit gewahrt werden muß, zum anderen aber auch, daß das natürliche Spannungsverhältnis zwi- Stellt sich dann aber noch heraus, daß dies ein schen der für den Mandanten nötigen Unabhängig- Terrorrichter war, der sich in der Rechtsanwaltsrobe und der für das allgemeine Ver- versteckt und sich nun munter an den Segnungen des keit des Anwalts trauen in ihn erforderlichen rechtsstaatlichen Haltung Westens delektiert, wird der Volkszorn wachsen. nicht verschoben wird. Ergibt dazu die Prüfung noch, daß ein solcher Jurist zu Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik zur Rechtsanwälte mögen in der Bevölkerung unter- Rechtsanwaltschaft seine Zulassung erhielt und diese schiedliche Bewertungen erfahren. Unbestreitbar Zulassung nicht oder nur schwerlich widerrufen oder aber ist, daß sie im Bereich der Selbständigen wie 6836 Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Hans de With kaum eine andere Gruppe die demokratische Ent- involviert, einschließlich der Struktur der Stasi der wicklung in unserem Lande begleitet haben: von der DDR. Der Justizapparat existierte auch noch am Paulskirche über den Reichstag in den Gründerjahren 3. Oktober 1990. Er wurde nicht plötzlich durch freie und die Weimarer Republik bis hin zu den Anfängen Wahlen am 18. März 1990 ein anderer oder ließ sich nach 1945. durch Übernahme von bundesdeutschen Gesetzen in Unbestreitbar ist auch, daß mutige Anwälte — nicht die DDR-Gesetzgebung reformieren. nur im Einzelfall oft in schwierigen persönlichen Die Praxis der Zulassung von Rechtsanwälten und Situationen für Gerechtigkeit oder mehr Gerechtig- Notaren hat sich auch nach Einführung der Rechtsan- keit gesorgt haben, aber auch, daß sie die Gesetzge- waltsordnung am 15. September 1990 nicht geändert. bung, die Verwaltung und — ich sage — den gesell- Das ist ein Beweis dafür, daß rechtsstaatliche Gesetze schaftlichen Umgang im Sinne von „ weg vom Obrig- keine Garantie für rechtsbewußtes Handeln sind. keitsstaat" beeinflussen konnten. Das ist kein gering zu achtendes Gut. Um so mehr haben wir darauf zu Auch die 400 freigewählten Volkskammerabgeord- achten, daß hier keine Flecken entstehen oder gar neten des letzten DDR-Parlaments konnten diese bleiben. Arbeit, für die sie nur den alten Apparat hatten, nicht Diese Reparatur wird sicher nicht die letzte sein, zu leisten. der wir uns rasch zu entschließen haben, um die (Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern nicht resignieren zu lassen. Die vielstündige Debatte heute Warum konnte die de Maizière-Regierung weder morgen zur Einsetzung einer Enquete-Kommission Honecker noch andere Politbüromitglieder anklagen? zur Aufarbeitung der Lasten des unseligen Erbes des Ich stelle die Frage: War das mit diesem Justizapparat, SED-Regimes ist ebenso ein Versuch in diese Rich- mit diesen Rechtsanwälten möglich? Damals war das tung wie die am Mittwoch dieser Woche das sollte sicherlich nicht möglich. einmal gesagt sein — vom Rechtsausschuß des Deut- Um so wichtiger ist es, daß der Rechtsstaat heute schen Bundestages einstimmig zum Ausdruck ge- schnell zum Zuge kommt. Dazu müssen Justiz, Polizei brachte Absicht, endlich ein schlagkräftiges Instru- und die östlichen Länder intensiv zusammenarbeiten ment zur Bewältigung der Regierungs- und Vereini- und — warum nicht? — eine entsprechende, allen gungskriminalität zu schaffen. Interessen gerecht werdende Zentralstelle der östli- (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut!) chen Länder einsetzen. Wir werden uns in diesem Zusammenhang sicher- Zwei Kritikpunkte am Rechtsstaat erheben die lich noch oft mit Lichtenbergs vieldeutigem Wort Menschen heute. Erstens. Der Rechtsstaat schützt die fragen müssen: Ist denn kein Unterschied zwischen Falschen. Deshalb ist hier schnelles Handeln notwen- Gerechtigkeit und Schinderei? dig. Der zweite Punkt: Die Handelnden der Recht- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der sprechung und der Rechtsorgane dürfen nicht die F.D.P. und dem Bündnis 90/GRÜNE) Täter sein. Um letzteres im Zusammenhang mit dem zu behan- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der delnden Gesetz verstehen zu können, habe ich den Abgeordnete Dr. Michael Luther das Wort. weiten Ausflug bis hierher gemacht. Aber ich hielt dies für notwendig, um den Rahmen zu beschreiben, in dem sich dieses Gesetz bewegt. Das Gesetz ist sonst Dr. Michael Luther (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute vormit- nicht zu verstehen; denn es werden nicht nur die tag haben wir über die Einsetzung einer Enquete- Rechtsanwälte und Notare, die vor dem 18. März 1990 Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der oder vor dem 15. September 1990 zugelassen wurden, Folgen der SED-Diktatur" beraten. Diese Enquete- überprüft, sondern auch die, die nach dem 15. Sep- Kommission wird das System Sozialismus beschreiben tember 1990 zugelassen wurden. müssen: wie es entstanden ist und wie es aufgebaut Der alte DDR-Justizapparat hat Rechtsanwälte und war. Notare bestellt, die nach der Bundesrechtsanwalts- Die Einsetzung der Enquete-Kommission ist not- ordnung nie zugelassen würden oder ihre Zulassung wendig geworden, weil auf uns ein wachsender Berg aberkannt bekommen würden. Letzteres hieße, daß es von Problemen, von offenen Fragen und von Rege- einer zusätzlichen Regelung, wie es das vorliegende lungsbedürftigem zukommt. Weder mit der Erfah- Gesetz tut, dem Grunde nach nicht bedürfte. rungswelt West noch mit der Erfahrungswelt Ost läßt Das Bundesverfassungsgericht und der Bundesge- sich heute der Gesamtumfang dessen erkennen. Er richtshof haben in den vergangenen Jahren eine läßt sich höchstens erahnen. detaillierte Rechtsprechung für die Rücknahme der Wir alle wünschen uns eine Komplettlösung. Aber Zulassung politisch belasteter Rechtsanwälte an keiner weiß, wie sie aussieht. Wir können aber auch Hand von Einzelfällen aus der Hitler-Zeit sowie im nicht auf sie warten, denn die aktuellen Tagesaufga- Zusammenhang mit RAF-Sympathisanten entwickelt. ben zwingen uns zu handeln. Diese Kriterien werden bei der Überprüfung belaste- Die Lösung eines dieser Probleme wird durch den ter Rechtsanwälte und Notare in den östlichen Län- vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung dern zum Teil bereits erfolgreich angewandt. Aber angegangen. Das Gesetz beschäftigt sich mit den § 14 der Bundesrechtsanwaltsordnung geht davon Folgen des Justizapparates, der zu DDR-Zeiten ent- aus, daß die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft standen ist. In ihm sind alle Folgen einer Diktatur zurückzunehmen ist, wenn Tatsachen nachträglich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6837

Dr. Michael Luther bekannt werden, bei deren Kenntnis die Zulassung schläger möglich ist, muß über die Zukunft des hätte versagt werden müssen. Anwaltsstandes öffentlich nachgedacht werden, ob- Natürlich war es dieser alten DDR-Justizbehörde in wohl man heute abend bezweifeln kann, daß es uns den wichtigen Fällen bekannt, daß manche zuzulas- gelingt, die Öffentlichkeit herzustellen. sende Rechtsanwälte oder Notare Stasi-Leute waren. Aber in welche Richtung soll nachgedacht werden? Ja, es war Ziel des Systems, daß diese all das verkör- Soll die Verwandlung belasteter Richter in nichtswür- pern sollten. Natürlich haben sich die, die sich von dige Anwälte nach der Art jenes bekannten antiken früher aus dem System gekannt haben, schnell einen Zynismus hingenommen werden, schon mancher in sicheren Broterwerb zuschanzen wollen. der Palästra wenig erfolgreiche Ringkämpfer sei des- (Maria Michalk [CDU/CSU]: So ist es!) wegen Arzt geworden, weil dies der sicherste Weg sei, Damit liegen für die zulassende Behörde, die — das viele niederzustrecken? möchte ich betonen — aber heute personell eine völlig Oder soll man denen folgen, die den Anwalt als andere ist, eigentlich keine neuen Erkenntnisse vor. einen Dienstleistungsanbieter, der auf dem Markt mit Das wäre eine komische Tragik des Rechtsstaates. juristischer Expertise handelt, betrachten? Wenn es Um die Täter herauszufinden, um die Träger des sich so verhält, dann kann man es dem Urteil des DDR-Systems aus der Rechtspflege zu entfernen, wird Kunden überlassen, ob er bei verdächtigen Adressen dieses Gesetz notwendig. Es schlägt aber dann fehl, kaufen will — wie bei jenen Anwaltskanzleien, die wenn gleichzeitig in dieses Gesetz Begriffe hineinge- sich nicht schämen, Erpresserbriefe an ostdeutsche schrieben werden, die es unwirksam machen, die Adressen zu schicken, um dort Eigentumsrechte matt- unterhalb der BGH-Rechtsprechung bleiben. Diese zusetzen, die anderen Interessen im Wege stehen. Begriffe sind „erheblich" und „in erheblicher Weise". Bundesregierung, Länderjustizminister und auch die Was heißt denn „erheblich" schuldig geworden? Ist Bundesrechtsanwaltskammer wollten diesen Weg etwa ein wenig Stasi-Mitarbeit legitimierbar? nicht gehen, und sie hatten triftige Gründe dafür. Hier möchte ich ganz deutlich der Argumentation Wenn es unter den Staatsspitzeln des Spitzelstaates der östlichen Länder im Bundesrat folgen und vor- auch Anwälte gegeben hat, dann stehen wir abermals schlagen, diese unbestimmten Rechtsbegriffe zu strei- vor einer neuen Dimension der gesellschaftlichen- chen. Vertrauenskrise, die die kommunistische wie andere Den Vorschlag der Länder, dieses Gesetz auch auf Diktaturen hinterlassen haben. Wie für Pfarrer und die ehrenamtlichen Richter zu erweitern, unterstütze Ärzte gilt auch für Anwälte, daß sie mit der Autorität ich ebenfalls. zwischenmenschlichen Vertrauens bekleidet sein Meine Damen und Herren, aus meiner Sicht steht müssen, wenn ihre Arbeit nicht ins moralische Zwie- einer zügigen Beratung dieses Gesetzes nichts im licht geraten soll. Wege. Die Justizminister der östlichen Länder werden Ist der von der Bundesregierung vorgeschlagene für dieses Hilfsmittel dankbar sein. Die Vermutung Weg geeignet, diese Autorität des Vertrauens wieder- der Verstrickung vieler Juristen der DDR mit der Stasi herzustellen? Die Frage ist mit Nein zu beantworten. ist nicht unbegründet; denn allein in Sachsen wurden Der Gedanke, die Maßregeln, die der Einigungsver- nach dem Möglichwerden der Einsichtnahme in die trag für den öffentlichen Dienst in den östlichen Stasi-Unterlagen durch Opferaussagen vier Notare Bundesländern festgelegt hat, auf die Anwaltschaft zu und zwei Rechtsanwälte entlassen. übertragen, ist kein guter Gedanke. Hier wird auf den Ich erinnere hier an den spektakulären Fall des Bahnen des vormundschaftlichen Staates gedacht. Karl-Marx-Städter Panzersprengers, dessen Frau sich Natürlich gibt es eine staatliche Pflicht, den rechtli- während der Haftzeit ihres Mannes vertraulich mit chen Rahmen für das Wirken der Anwälte festzule- einem Kirchengemeindemitglied, einem Rechtsan- gen, wie das Rechtsanwaltsgesetz und die Bundes- walt, unterhalten hat. Dieser Rechtsanwalt hat sich, rechtsanwaltsordnung es tun. seine Frau und seine Kinder im Auftrag der Stasi Aber eines ist ebenso klar: Diese staatliche Pflicht taufen lassen allein mit dem einen Ziel, Spitzeltätig- hat nur den einen Sinn, die Freiheit des anwaltlichen keit in der Kirche durchzuführen. Wie deprimierend Wirkens sicherzustellen. Dieser Zielsetzung dient es muß es für die Frau gewesen sein, als sie die Inhalte aber keineswegs, wenn Regeln des öffentlichen der vertraulichen Gespräche dann in ihrer Stasi Dienstes auf die Anwaltschaft Anwendung finden. Unterlage lesen konnte. Laut Bundesverfassungsgerichtsentscheid 39/334/73 Ich habe dieses Beispiel gebracht, um Ihnen den muß der Anwalt die Interessen seiner Mandanten Handlungsbedarf dieses Gesetzes zu verdeutlichen. möglichst frei und unabhängig von staatlicher Ein- Danke. flußnahme wahrnehmen können. Darum darf Wider- ruf oder Zurücknahme der Zulassung zur Rechtsan- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der waltschaft nicht den Landesjustizverwaltungen über- SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE) tragen werden. Auf größte Bedenken stößt ferner die Regelung in Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- § 1 des Gesetzes, die eine nach hinten unbegrenzte lege Dr. Wolfgang Ullmann das Wort. Erstreckung der Frist vorsieht, in der zugelassene Rechtsanwälte zu überprüfen sind. Ist das mit der Dr. Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Präsidentin! Meine Damen und Herren! Solange an 26. Februar 1986 vereinbar, die den lebenslangen deutschen Gerichten ein Fall Wetzenstein-Ollen- Ausschluß aus der Anwaltschaft für verfassungswidrig 6838 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Borm, Donnerstag, den 12. März 1992

Dr. Wolfgang Ullmann erklärt? Der Deutsche Anwaltverein empfiehlt auf Ob der Ausdruck „erheblich" in diesem Zusam- Grund dieser von ihm geteilten Bedenken, die anste- menhang der richtige ist oder nicht, das mag Gegen- henden Probleme allein auf der Basis des geltenden stand der Ausschußberatungen sein. Rechtes zu lösen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Jawohl!) Im Blick auf die besondere Situation in den östlichen Wie so schwierig zu entscheidende und komplexe Ländern würde ich eher eine Regelung anstreben, die Fragen in der Gesetzessprache am besten dargestellt einerseits dem Vorschlag des Landes Hessen folgt und werden, hat uns immer beschäftigt. Daß es sich hier die im Gesetz vorgesehene Regelung auf den Notar um besonders komplexe Fragen und schwierige Aus- beschränkt und andererseits für die Rechtsanwalt- legungen handeln wird, ist wohl klar. schaft für den Zeitraum von maximal zehn Jahren eine Die Landesjustizverwaltungen würden auch in den derer vorsieht, die in der ehemaligen Überprüfung alten Bundesländern immer für das zuständig gewe- DDR nach dem 9. November beziehungsweise nach sen sein, was hier ansteht. Auch die Zulassung erfolgt dem 15. September zugelassen worden sind. Für von dort, so daß tatsächlich auch der umgekehrte Durchführung und Modalitäten dieser Überprüfung Vorgang hier hingehört. sollten allein die Rechtsanwaltkammern zuständig sein. Hinsichtlich der Notare mache ich in dem, was ich bereits versucht habe auszuführen und was andere Ich danke Ihnen. hierzu ausgeführt haben, überhaupt keine Unter- schiede zu den Rechtsanwälten. Leider gibt es durch die Schaffung eines Nur-Notariats einen unterschied- Vizepräsidentin Renate Schmidt: Nun hat der Kol- lichen Zugang, lege Detlef Kleinert das Wort. (Beifall bei der F.D.P.) und zwar in der Form, daß eine offenkundig sehr staatsnahe frühere Organisation des Notariats im Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Frau Präsiden- wesentlichen in das jetzige Notariat überführt worden tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die alte ist. Daß sich daraus Friktionen ergeben können, liegt Auseinandersetzung, ob der Rechtsanwalt ein Organ auf der Hand. der Rechtspflege ist oder nicht und in welchem Maß er Wir werden das Ergebnis der nun geschaffenen das sein sollte, spielt natürlich in die hier anstehenden Möglichkeiten einer Überprüfung insofern verfolgen. Fragen — wir haben es gerade gehört hinein. Ich Wir wären auch sehr dankbar, wenn in den neuen möchte heute nicht versuchen, diese Auseinanderset- Ländern mindestens die Möglichkeit geschaffen zung zu Ende zu bringen; das würde mir auch nicht würde, etwas zusätzlichen Wettbewerb im Sinne der gelingen. Angebotstheorie, die wir von Herrn U llmann vernom- Bei den hier anzustellenden Überlegungen ist men haben, durch die Einrichtung des Anwaltsnotari- jedenfalls entscheidend, daß das Vertrauen seitens ats zu bekommen. der rechtssuchenden Bürger in die Mitwirkung der (Beifall bei der F.D.P.) Rechtsanwälte an einer geordneten Rechtspflege von Besonders dankbar bin ich für den Hinweis von besonderer Bedeutung ist. Herrn Kollegen de With auf die historische politische (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Norbert Rolle gerade der Vertreter der Advokatur und auf den Geis [CDU/CSU]) mutigen Einsatz einzelner Vertreter — wir wollen ja gar nicht behaupten, daß es sich dabei um eine allseits Daß dieses Vertrauen nicht in solche Anwälte beste- herausragende Leistung handelt — in besonders hen kann, die kurz zuvor noch als Richter oder schwierigen Situationen. Staatsanwälte an der Setzung von Unrecht beteiligt waren — ganz im Gegensatz zu ihren rechtlichen Zu dieser Rolle der Anwaltschaft hat sich der Verpflichtungen —, liegt auf der Hand. Bundesgerichtshof — übrigens im Gegensatz zu einer Auffassung der Rechtsanwaltskammer Freiburg — in (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) einem sehr bemerkenswerten Entschluß geäußert und Man muß sich bei dieser Gelegenheit auch überle- die besonderen Vorzüge der gleichzeitigen anwaltli- gen, daß ein erheblicher Gegensatz besteht zwischen chen und politischen Tätigkeit deutlich unterstrichen. dem Vertrauen in eine ganz wichtige Eigenschaft des Es handelte sich um das Verfahren, das durch die Rechtsanwalts, nämlich die Wahrung des Berufsge- Zulassungsanträge der bekannten Kollegen Häfele heimnisses — das in besonderer Weise gesetzlich und Schäuble in Gang gesetzt wurde und das vom geschützt ist —, und der Zuträgerei von Spitzeln, die BGH tadellos entschieden worden ist. Ich empfehle jede Gelegenheit benutzt haben, vertraulich Erlang- Lektüre, damit ich jetzt der Aufforderung des roten tes dahin weiterzutragen, wohin es auf gar keinen Fall Lichtes Folge leisten kann. gehörte. Danke schön. Weil dieser Gegensatz so eklatant ist, halten wir den (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) vorliegenden Entwurf für ein durchaus geeignetes und wichtiges Mittel, das, was vielleicht doch etwas zu Damit hat als schnell und unter etwas anderen Gesichtspunkten in Vizepräsidentin Renate Schmidt: letzter der Kollege Dr. Uwe-Jens Heuer das Wort. den ersten Tagen und Monaten des Aufbaus einer Rechtspflege und auch einer Anwaltschaft und eines Notariats geschehen ist, in den gravierenderen Fällen Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS/Linke Liste): Frau Präsi- zu reparieren. dentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte trotz Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6839

Dr. Uwe-Jens Heuer der späten Stunde versuchen, in Ihnen doch gewisse Jetzt geht es aber um mehr. Der Herr Staatssekretär Zweifel an der hier überwiegend vorgetragenen Mei- formulierte: Die Rechtsanwaltschaft sollte kein Auf- nung zu erwecken. fangbecken für die Prominenz des SED-Regimes sein. Ich möchte erstens darauf hinweisen, daß der In der Vorlage heißt es, es sollten alle die nicht Zweite Staatsvertrag ganz offensichtlich auf einer Rechtsanwälte seien, die mit dem SED-Unrechtsre- anderen Position stand. Nach seinen Formulierungen gime verstrickt waren. Das ist eine außerordentlich bestand an der Gültigkeit der vor dem 3. Oktober in weitgehende Begriffsfassung, die dann im einzelnen der DDR ausgesprochenen Zulassung von Rechtsan- durch das Gesetz auch untersetzt wird. Es sind Über- wälten und Notaren kein Zweifel. Im Unterschied zur prüfungen vorgesehen, auch ohne Zustimmung der Überprüfung der Richter und Staatsanwälte gibt es Anwälte. Bis 1998 wird über allen Rechtsanwälten das grundsätzlich keine Handhabe, die Zulassung nun- Damoklesschwert der Überprüfung schweben. Wer mehr rückgängig zu machen. sich nach Parallelen umsieht, der wird vergeblich nach ähnlichen Regelungen in den ersten Jahren der Die Frage, die ich sehr eindringlich stellen möchte, Bundesrepublik Deutschland suchen. Nicht ein einzi- lautet: Ist das vorgesehene Sonderrecht für Ost- ger der durch Todesurteile oder Euthanasieverbre- deutschland — denn um solches handelt es sich — chen belasteten Nazi-Juristen, die sich dann als nötig oder überflüssig und sogar gefährlich? Nach Rechtsanwälte niederließen, wurde in der BRD für dem geltenden Recht können Zulassungen für Rechts- unwürdig befunden. Da gab es z. B. den Fall des anwälte allenfalls zurückgenommen werden, wenn Dr. Richard Wendler, Rechtsanwalt in München. Er bestimmte Umstände bzw. Tatsachen sie als unwürdig egr war vor 1945 SS-Gruppenführer und als Gouverneur erscheinen lassen, wobei dieser B iff der Unwür- im Distrikt Krakau verantwortlich für die Ermordung digkeit in ständiger Rechtsprechung stets sehr restrik- tausender Juden. Er blieb Rechtsanwalt, auch als tiv interpretiert worden ist. Die Ursache hierfür liegt gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet darin, daß es sich bei der Advokatur um einen freien wurde. und staatsunabhängigen Beruf handelt, der durch das in Art. 12 des Grundgesetzes fixierte Grundrecht auf Die Parallele, die sich mir aufdrängt, ist allerdings Berufsfreiheit geschützt ist. Herr Ullmann hat hierauf das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft schon mit Recht hingewiesen. vom 7. April 1933, das in § 1 die Möglichkeit enthielt, Von einem meiner Vorgänger wurde gesagt, die Rechtsanwälten nicht-arischer Abstammung die Zu- Rechtsanwälte seien ein Bestandteil des Justizappara- lassung zu entziehen, tes. Das scheint mir allerdings nicht zutreffend zu sein. (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Unver In der Staatsferne des Anwaltsberufs und nicht etwa schämtheit!) in einem Blackout der Verfasser des Zweiten Staats- vertrages lag auch der Grund dafür, daß der Vertrag und das in § 2 kategorisch bestimmte: Personen, die darauf verzichtete, hier Überprüfungen vorzusehen. sich im kommunistischen Sinne betätigt haben, sind Die unabhängige Advokatur ist nach herrschender von der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft ausge- Lehre unvereinbar mit der Gängelung durch den schlossen; bereits erteilte Zulassungen sind zurückzu- Staat. Der Staat kann den Bürgern eben nicht vor- nehmen. schreiben, welche politische Einstellung bzw. Ver- gangenheit ihre Anwälte haben oder nicht haben Ich sehe in dem geplanten Vorhaben einen eindeu- sollen. Als Karl Liebknecht wegen angeblichen Hoch- tigen Verfassungsbruch. Herr de With sprach soeben verrats 1907 zu 1 1/2 Jahren Festungshaft verurteilt von Volkszorn. Ich halte Volkszorn nicht für ein worden war, wurde ihm nicht die Möglichkeit der Argument für die Verfassungsmäßigkeit eines Geset- Ausübung des Anwaltberufs genommen. Mein Vater zes. Das Grundgesetz zieht rückwirkenden Hoheits- war als sozialdemokratischer Stadtrat in Ber lin von akten sehr enge Grenzen. Das gilt insbesondere für den Nazis herausgeworfen worden, konnte aber strafrechtliche Entscheidungen. Ihnen werden diszi- immerhin als Verwaltungsrechtsrat arbeiten — bis zu plinar- und ehrenrechtliche Maßnahmen gleichge- seiner Verhaftung durch die Gestapo. stellt. Für sie gilt ausdrücklich das Rückwirkungsver- bot. Ich möchte auf die Frage des Rückwirkungsver- Den Richter muß man akzeptieren. Den Anwalt bots — bisher hat niemand dazu gesprochen — und kann man wählen. Deswegen ist die Argumentation, darauf aufmerksam machen, daß die vorgesehene daß man einen Anwalt trifft, der einem nicht gefällt, Regelung nach meiner Ansicht unzulässig ist. Ich sehe nicht zutreffend, denn dann kann man zu einem die Gefahr, daß die neue Bundesrepublik die Einheit anderen Anwalt gehen, während man zu einem ande- nicht nur mit dem Abbau des errungenen Sozialstaats, ren Richter nicht gehen kann. Jeder muß, wenn er sondern ohne Not auch mit der Einschränkung verfas- denn will, einen Anwalt nehmen können, der ihm sungsrechtlicher Grundprinzipien bezahlen soll. politisch und weltanschaulich nahesteht. Ich meine, jetzt wird ein Sonderrecht vorsehen, was Zugriffs- (Ingrid Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: rechte, Eingriffsrechte in die freie Advokatur ermög- Kein Beifall von der PDS! Aber es ist ja auch licht. Wenn es wirklich um die Aussonderung von niemand da! — Zuruf von der F.D.P.: Da rührt Juristen, die in strafbarer Weise die Menschenrechte sich keine Hand! — Abg. Dr. Uwe-Jens - oder rechtsstaatliche Grundsätze verletzt haben, Heuer [PDS/Linke Liste], der inzwischen ginge, würde niemand etwas dagegen haben. Das wieder Platz genommen hat, spendet Beifall betrifft auch den genannten Fall aus Chemnitz. Wenn — Heiterkeit — Zuruf von der F.D.P.: Das hat das Berufsgeheimnis verletzt worden ist, besteht nach er früher auch gemacht! — Maria Michalk dem geltenden Recht selbstverständlich die Möglich- [CDU/CSU]: Das gehört in die Rubrik „Kar keit, dagegen vorzugehen. rikatur des Deutschen Bundestages"!) 6840 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Vizepräsidentin Renate Schmidt: Ich schließe die Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- Aussprache. ordnung angekommen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzent- destages auf morgen, Freitag, den 13. März 1992 ein. wurf auf der Drucksache 12/2169 an den Rechtsaus- Das Unglück kennt keine Grenzen, denn Sie müssen schuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige bereits um 8.30 Uhr kommen. Vorschläge? — Das ist nicht der Fall. Dann ist die Die Sitzung ist geschlossen. Überweisung so beschlossen. (Schluß der Sitzung: 21.46 Uhr) Deutscher Bundestag 12. Wahlperiode 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6841 *

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Wieczorek (Duisburg), SPD 12. 03. 92 entschuldigt bis Helmut Abgeordnete(r) — einschließlich *ür die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Dr. Ackermann, Else CDU/CSU 12. 03. 92 lung des Europarates Antretter, Robert SPD 12. 03. 92* Austermann, Dietrich CDU/CSU 12. 03. 92 Berger, Johann Anton SPD 12. 03. 92 Anlage 2 Böhm (Melsungen), CDU/CSU 12. 03. 92* Zu Protokoll gegebene Reden Wilfried zu Tagesordnungspunkt 5 und Breuer, Paul CDU/CSU 12. 03. 92 Zusatzpunkten 2 bis 6 Dr. Diederich (Berlin), SPD 12. 03. 92 (Beratung von Anträgen auf Einsetzung Nils einer Enquete-Kommission) Dr. Dregger, Alfred CDU/CSU 12. 03. 92 Ehrbar, Udo CDU/CSU 12. 03. 92 Michael Stübgen (CDU/CSU): Die Einsetzung der hier geforderten Enquete-Kommission ist ein unver- Erler, Gernot SPD 12. 03. 92 zichtbarer Schritt, um das Zusammenwachsen der Dr. Feldmann, Olaf FDP 12. 03. 92 alten und neuen Bundesländer zu fördern. Sie bietet Dr. Fell, Karl H. CDU/CSU 12. 03. 92 die Chance einer gründlichen und verantwortlichen Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 12. 03. 92 Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte, die Gallus, Georg FDP 12. 03. 92 sich weder auf die Rolle der Blockparteien noch auff Genscher, Hans-Dietrich FDP 12. 03. 92 die der Stasi reduzieren läßt. Wie wichtig eine solche Grünbeck, Josef FDP 12. 03. 92 Aufarbeitung ist, zeigt sich in dem mehr oder weniger Günther (Duisburg), CDU/CSU 12. 03. 92 fehlgeschlagenen Versuch, die nationalsozialistische Horst Vergangenheit aufzuarbeiten. Dr. Gysi, Gregor PDS/LL 12. 03. 92 Ich erwarte, daß die Kommission einen gewichtigen Dr. Hartenstein, Liesel SPD 12. 03. 92 Beitrag zu einer möglichst lückenlosen Aufarbeitung leistet. Die Darstellung von Staat, Kirche und Privat- Hasenfratz, Klaus SPD 12. 03. 92 leben in der ehemaligen DDR ist eine Grundvoraus- Dr. Hoth, Sigrid FDP 12. 03. 92 setzung, um die immer noch bestehenden Grenzen Jäger, Claus CDU/CSU 12. 03. 92 zwischen Ost- und Westbürgern abzubauen und Ver- Kolbe, Regina SPD 12. 03. 92 ständnis für die Probleme und daraus resultierenden Koppelin, Jürgen FDP 12. 03. 92 Verhaltensweisen der neuen Bundesbürger zu erzie- Kretkowski, Volkmar SPD 12. 03. 92 len. Kubicki, Wolfgang FDP 12. 03. 92 Der real existierende Sozialismus hat nicht nuru eine Dr. Kübler, Klaus SPD 12. 03. 92 zerstörte Umwelt und ein völlig marodes Wirtschafts- nd Infrastruktursystem hinterlassen, nein, er hat Kuhlwein, Eckart SPD 12. 03. 92 auch Spuren in den Köpfen der ihm ehedem ausgelie- Lattmann, Herbert CDU/CSU 12. 03. 92 ferten Menschen hinterlassen. In einem Land, in dem Niggemeier, Horst SPD 12. 03. 92 diejenigen, die die Wahrheit sagten, verfolgt und die Oostergetelo, Jan SPD 12. 03. 92 Lügner belohnt wurden, wo Recht in Unrecht verkehrt Dr. Ortleb, Rainer FDP 12. 03. 92 wurde und die kleinen und großen Unaufrichtigkeiten Ost, Friedhelm CDU/CSU 12. 03. 92 überlebensnotwendig waren, müssen die Menschen Paterna, Peter SPD 12. 03. 92 erst wieder neu lernen, mit der Wahrheit und dem Recht umzugehen und sich gegen Unwahrheit und Reddemann, Gerhard CDU/CSU 12. 03. 92* Unrecht zur Wehr zu setzen. Rempe, Walter SPD 12. 03. 92 Aber ich bemerke insbesondere seit Januar in Roth, Wolfgang SPD 12. 03. 92 meiner Wahlkreisarbeit: das Verhältnis der Bürger Dr. Ruck, Christian CDU/CSU 12. 03. 92 zum Staat ändert sich, sie werden selbstbewußter. Ein Sauer (Salzgitter), CDU/CSU 12. 03. 92 wichtiger Anschub für dieses steigende Selbstbe- Helmut wußtsein waren die Verabschiedung und das Inkraft- Scharrenbroich, Heribert CDU/CSU 12. 03. 92 treten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Die Bürger Schemken, Heinz CDU/CSU 12. 03. 92 erkennen und für viele ist es nach eineinhalb Schmidt (Dresden), Arno FDP 12. 03. 92 Jahren deutscher Einheit eine neue Erfahrung , Schwanhold, Ernst SPD 12. 03. 92 welche Rechte und Möglichkeiten ihnen offenstehen, daß sie dem Staat nicht länger ausgeliefert sind, Titze, Uta SPD 12. 03. 92 sondern ihm gegenüber genau fixierte Rechte und Dr. Vogel, Hans-Jochen SPD 12. 03. 92 natürlich auch Pflichten haben. Dies wurde in Dr. Waigel, Theo CDU/CSU 12. 03. 92 meinen Bürgersprechstunden mehr als deutlich: Fiel Wetzel, Kersten CDU/CSU 12. 03. 92 im letzten Jahr häufig der Satz „Sie müssen mir 6842* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

helfen", so sind seit Januar die Bürger immer eher ehemaligen DDR und auch auf viele Bürger in der bereit, sich gegen rechtswidrige Akte des Staates und Bundesrepublik zu haben. Das gigantische Aktenma- anderer Einrichtungen oder Bürger zur Wehr zu terial war das Werkzeug der Stasi. setzen. So fragen sie heute: „Was muß ich tun, um Da wir jetzt wissen, wie effizient das MfS gearbeitet mein Recht durchzusetzen?" hat, müssen wir auch davon ausgehen, daß die gesam- Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen melten Informationen einen hohen Wert an Richtig- Sie mich einiges zu der gegenwärtigen Diskussion um keit haben. Das zeigen im übrigen auch die Ergeb- den Umgang mit den Ergebnissen der Erkenntnisse nisse vieler Untersuchungen. aus den bisher gesichteten Papieren der SED- und Meine Damen und Herren, ein vornehmliches Ziel Stasi-Archive sagen. Die von einigen Seiten — darun- der Kommission muß sein, exemplarisch für viele, die ter leider namhafte Politiker — geforderte Schließung Einzelschicksale der namenlosen Opfer aufzuzeigen, der Archive oder beschränkte Nutzung der Akten für die nicht wie namhafte Systemkritiker oder Politiker die Opfer zeugt von einem hohen Maß an Unwissen- der ehemaligen DDR im Rampenlicht der Öffentlich- heit über die tatsächliche Situation in den neuen keit stehen. Diese namenlosen Opfer dürfen nicht zu Bundesländern und um das Wesen des DDR- vergessenen Opfern werden, während einige promi- Unrechtsstaates. nente Opfer, und immer dieselben, in Inte rviews und Die bisherigen Veröffentlichungen — dabei muß Talk-Shows brillieren. Geradezu unerträglich ist es, man sehen, daß sich die sogenannte „Gauck- daß prominente Täter es offensichtlich leicht haben, Behörde " noch im Aufbau befindet — haben gezeigt, ihre Lügen erneut medienwirksam zu verkaufen und wie minutiös und allumfassend die Spitzel des DDR- dabei noch ein Vielfaches von dem verdienen, was Staates Informationen über Bürger und Institutionen ihre ehemaligen Opfer jemals durch Rehabilitation gesammelt haben, wie das MfS den Zugriff auf alle erhalten können. gesellschaftlichen Gruppen hatte, wie es oppositio- Dieser Umstand zeigt, wie überaus wichtig es ist, nelle Gruppen nicht nur bespitzelt hat, sondern sogar daß im Bereich der Regierungs- und Vereinigungskri- in der Lage war, seine Spitzel in einflußreichen minalität umgehend die notwendigen Schritte getan Positionen dieser Gruppen und später Parteien zu werden, um hier konkrete Ergebnisse zu erzielen. installieren, und wie es scheinbar mühelos informelle Mitarbeiter in Kirchenleitungsgremien schleusen Meine Damen und Herren, die Enquete-Kommis- oder von dort rekrutieren konnte und sogar — das ist sion muß, wenn sie ihre Aufgabe erfüllen will, zur für mich eine neue bestürzende Erkenntnis — in Lobby der namenlosen Opfer werden. Sie steht in der diesen Gremien Personen hatte, die willfährig die Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Vergangenheitsaufar- Aufträge des MfS und der Staatsführung ausführ- beitung nicht nur auf der Ebene finanziell lukrativer ten. Zeitungsartikel stattfindet, sondern auch diejenigen erfaßt, die die Medien nicht nutzen können. Diese Erkenntnisse bieten der hier zur Debatte stehenden Kommission die Möglichkeit, die Machen- Darüber hinaus ist es dringend notwendig, auch die schaften der DDR-Mächtigen zu untersuchen und in Verstrickungen zwischen staatlichen, politischen und einer objektiven Darstellung der Bevölkerung zu- kirchlichen Institutionen der ehemaligen DDR darzu- gänglich zu machen. Ohne den Zugang zu den hier legen. dargestellten Informationen ist eine solche Darstel- lung unmöglich. Auch hier bietet sich ein Vergleich Dr. Roswitha Wisniewski (CDU/CSU): Ergänzend zu mit den Unterlagen des NS-Staates an: Wichtige dem, was schon zur Notwendigkeit der Systemana- Unterlagen verschwanden in den Archiven der Alli- lyse gesagt wurde, möchte ich nur auf einen, aller- ierten und konnten erst nach Ablauf von 30 Jahren zur dings — wie mir scheint — zentralen Aspekt hinwei- Klärung von Sachverhalten herangezogen werden. sen und um seine Beachtung in der Arbeit der Eine solche Verzögerung können und wollen wir uns Enquete-Kommission bitten. nicht noch einmal leisten. Um ein geschichtliches Phänomen zu verstehen, Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird in muß man die Wurzel und das Ziel zu erkennen letzter Zeit viel von dem sogenannten „Wahrheitsge- versuchen, aus dem heraus es entstand, und um für die halt" der Stasi-Akten gesprochen. Er wird vor allem Zukunft ähnlich negative Entwicklungen zu vermei- von Personen in Frage gestellt, die selbst unter Recht- den, ist in diesem Fall die kritische Auseinanderset- fertigungsdruck geraten sind oder Personen von par- zung mit der Ideologie der DDR unvermeidbar. Wir teipolitisch hohem Interesse schützen wollen. Deutschen haben, so glaube ich, die besondere Pflicht, Eines ist sicher: Die Wahrheit werden wir in diesen aus unserer Geschichte heraus einen Beitrag zur Akten nicht finden. Ich kenn auch niemanden, der geistigen Bewältigung der beiden in einem einzigen dies ernsthaft erwartet. Die Frage ist aber: Inwieweit Jahrhundert in Deutschland bzw. in einem Teil handelt es sich bei diesem Material um richtige Deutschlands zur Herrschaft gelangten Ideologien zu Informationen? Ich denke, der Gehalt an richtigen leisten und die Menschen zu warnen vor Verirrungen Informationen ist so hoch wie der Zweck, zu dem diese des Denkens, die — wenn sie großen politischen Daten gesammelt wurden. Der Zweck des Stasi- Einfluß gewinnen — zu Mißbrauch von Regierungs- Archivs war nicht, im geeinten Deutschland den macht in schrecklichster Weise führen können. Opfern die Möglichkeit zu geben, ihre Peiniger zu Die Menschen in der ehemaligen DDR lebten in entlarven und die Täter und das System durch kom- einem politischen System, in dem Gewalt gegenüber plizierte Aktenführung zu schützen. Nein, der Zweck sogenannten Staatsfeinden als Mittel der Politik war es, Macht und Einfluß auf die Bürger in der betrachtet wurde. Dasselbe, nur in noch schreckliche- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6843* rem Ausmaß bis hin zum Völkermord, taten die schen Menschen und seine Einfügung in das soziali- Nationalsozialisten. Wie konnte es dazu kommen? stische Kollektiv (vgl. Artikel 4 der DDR-Verfassung). Und dieses Verbot der Verfügungsmacht über priva- Der 1. Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepu- tes Produktivvermögen war nicht nur eine wirtschaft- blik Deutschland lautet „Die Würde des Menschen ist liche Fehlentscheidung, sondern darüber hinaus ein unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Ver- zerstörender Eingriff in die menschliche Natur und pflichtung aller staatlichen Gewalt." Der einzelne ihre Motivationskräfte. Eigentum ist mehr als Besitz. Mensch also ist Wert an sich und damit Fundament Von diesen Grundlagen her sollte die Marxismus- und Bezugspunkt für das politische Handeln. Es ist Kritik vorgenommen werden, und es wäre gut, wenn gleichgültig, ob er klein oder groß, gesund oder krank, auch der Nationalsozialismus mit seinen gravieren- alt oder jung ist, ob er Besitz hat oder nicht oder — mit den historischen und philosophischen Fehlurteilen Blick auf die Rassengesetze der Nationalsozialisten — vergleichend in den Blick genommen werden welchen Ehepartner, welche Ehepartnerin er wählt, würde. welche Überzeugung, welche Religion er vertritt. Grundrechte garantieren dem einzelnen diesen per- Die Geschichte des real existierenden, totalitären sönlichen Freiheitsraum, in dem er sich als sittliches Sozialismus verlangt nach ideologiekritischer Aufar- Wesen frei entfalten kann. Grenzen sind lediglich beitung. Der zwangsweise Eingriff in anthropologi- gesetzt durch die Rechte der anderen und durch die sche Grundkonstanten, also in wesentliche Gegeben- Regeln und Gesetze, die das gemeinschaftliche Leben heiten und Bedürfnisse der menschlichen Natur, wie erfordert. z. B. das Eigentumsverbot, führt nicht zur damit angeblich angestrebten positiven Weiterentwicklung Diese Grundgedanken sind in einer freiheitlichen der Menschen, sondern zu Unfreiheit und Katastro- Demokratie selbstverständlich. Sie sind es nicht, wenn phe. Nicht umsonst schützen daher in freiheitlich von bestimmten philosophischen Grundannahmen organisierten Staaten die Grundrechte diese wichtig- her versucht wird, Menschen auf diese Grundannah- sten Lebensbedürfnisse des einzelnen Menschen und men hin als Teile eines Kollektivs — sei es der Nation, machen dadurch den Weg frei für eine nicht mecha- sei es der totalitären sozialistischen Gesellschaft — zu nisch herbeizuführende, sondern eine langfristige, auf formen. So sind die Nationalsozialisten, um das — wie der Mitwirkung der einzelnen Menschen beruhende sie meinten — Ideal eines rassisch reinen, nordischen positive Weiterentwicklung des Menschengeschlech- und deshalb angeblich hochwertigen Menschen zu tes. verwirklichen, nicht vor der grauenvollen Konse- quenz zurückgeschreckt, alles Leben zu vernichten, das ihrer Meinung nach rassisch minderwertig oder lebensunwert war. Diese Verirrung des Denkens ist für uns alle immer noch unfaßbar und von unver- Anlage 3 gleichlicher Scheußlichkeit. Antwort Aber auch der real existierende, totalitäre Sozialis- des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des mus hat mit teilweise erschreckender Menschenver- Abgeordneten Heribert Scharrenbroich (CDU/CSU) achtung — man denke nur an die Leidensgeschichte (Drucksache 12/2197 Fragen 6 und 7): des russischen Volkes — versucht, die Menschheit auf ein höheres Niveau zu führen. Denn um ihr Ideal des Was weiß die Bundesregierung über die Verhaftung von katholischen Aktivisten, wie Dr. Eduardo Vidal und Rigoberto

„sozialistischen Menschen" zu verwirklichen, Carcellez Ibarras sowie weiterer Katholiken aus der Ortschaft schreckten die Machthaber in den sozialistischen Pueblo del Cobre nach dem 3. Februar 1992, Menschen, die an Staaten des ehemaligen Ostblocks nicht davor zurück, keiner illegalen und viel weniger an einer gewalttätigen Aktion die bestehende Lebensordnung vollständig zu verän- beteiligt waren? dern. Ihr Ziel sollte vor allem dadurch erreicht werden, Was gedenkt die Bundesregierung gegen die Menschen- rechtsverletzungen in Kuba zu unternehmen? daß die Menschen enteignet und in einen gesell- schaftlichen Produktionsprozeß gezwungen wurden. Dadurch — so war die geltende Meinung — sollte eine Zu Frage 6: Höherentwicklung der Menschheit erfolgen. Wer sich Nach glaubwürdigen Informationen sind die widersetzte, wurde unter Druck gesetzt und verfolgt. genannten Personen verhaftet worden, weil sie einer Vielfach wurde versucht, das gewünschte Denken Dissidentengruppe angehören. Danach soll ihre Fest- durch Zwang zu erreichen. nahme in keinem Zusammenhang mit ihrer Zugehö- Der Nationalsozialismus wurde letztlich durch den rigkeit zur katholischen Kirche stehen. Generell soll Rassenwahn in den Krieg und in den Untergang sich zur Zeit in Kuba niemand wegen seiner Verbin- getrieben. Der totalitäre Sozialismus endete im wirt- dungen zur katholischen Kirche in Haft befinden. schaftlichen Zusammenbruch, in der bleibenden Schädigung vieler Menschen und im Entsetzen ange- Zu Frage 7: sichts eines Spitzelwesens ungeahnten Ausmaßes. Die Bundesregierung verurteilt die wachsende Re- Beide Katastrophen lassen sich — trotz aller Unter- pression in Kuba, die gegen friedliche und Gewalt schiede, die nicht übersehen werden dürfen — ablehnende Dissidenten gerichtet ist. Sie hat in den zurückführen auf einen schwerwiegenden Verstoß letzten Monaten mehrfach sowohl gegenüber dem gegen den Menschen und sein ihm eigenes Wesen. kubanischen Botschafter in Bonn wie auch gegenüber Die Enteignung war im real existierenden Sozialismus Vertretern der kubanischen Regierung in Havanna das wichtigste, auch anthropologisch-philosophisch ihre tiefe Sorge über die wachsende Intoleranz gegen- begründete Instrument zur Herstellung des sozialisti- über poltischen Dissidenten und über Verurteilungen 6844* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 wegen des bloßen Eintretens für Menschenrechte zum Anlage 6 Ausdruck gebracht. Dabei wurde auch deutlich Antwort gemacht, daß das kubanische Verhalten die bilatera- len Beziehungen belastet. Im gleichen Sinne hat sich des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf die Bundesregierung auch gemeinsam mit ihren euro- die Fragen des Abgeordneten Manfred Kolbe (CDU/ päischen Partnern an die kubanische Regierung CSU) (Drucksache 12/2197 Fragen 36 und 37): gewandt. Ist es richtig, daß der Dresdner Treuhand-Chef Wotte seit Oktober 1990 auf Kosten der Treuhandanstalt eine Zwei- Zimmer-Suite im Hotel Bellevue für 200 DM pro Nacht bewohnt? Wieviel Geld hat die Treuhandanstalt seit dem 3. Oktober 1990 für Hotelkosten ausgegeben — möglichst nach Hotels Anlage 4 aufgeschlüsselt?

Antwort Zu Frage 36: des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des Herr Wotte hat seit Aufnahme seiner Tätigkeit als Abgeordneten Hans Wallow (SPD) (Drucksache 12/ Leiter der THA-Niederlassung in Dresden im Oktober 2197 Fragen 9 und 10): 1990 verschiedene Zimmer unterschiedlicher Katego- Sind von der „Financial Times" gemeldete Vorbereitungen rie im Hotel Bellevue bewohnt. Er hat niemals eine der UNO zur Übertragung mehrerer bisher irakischer Ölquellen Suite in Anspruch genommen. an Kuwait durch die Neuziehung der irakisch-kuwaitischen Grenze nach Ansicht der Bundesregierung rechtmäßig, und Neben der schwierigen Wohnungssituation in der stimmt sie diesen Vorhaben zu? sächsischen Landeshauptstadt haben für die Unter- bringung im Hotel vor allem Sicherheitsgesichts- Teilt die Bundesregierung die Ansicht, daß eine solche Über- tragung einen Anlaß zu zukünftigen Konflikten zwischen Irak punkte eine Rolle gespielt. Diese machten auch einen und Kuwait darstellen könnte? mehrfachen Zimmerwechsel erforderlich. Auf Grund des mit Herrn Wotte geschlossenen Zu Frage 9: Anstellungsvertrages hat die Treuhandanstalt für das erste Jahr die anfallenden Übernachtungskosten Die Grenzkommission hat bisher zum Grenzverlauf übernommen. Seither erhält er eine monatliche Tren- keine Empfehlungen ausgesprochen oder Entschei- nungsgeldpauschale. dungen gefällt. Sie hat hierauf in einer Presseveröf- fentlichung vom 5. März 1992 hingewiesen und Zu Frage 37: anderslautende Pressemeldungen ausdrücklich zu- rückgewiesen. Die Bundesregierung sieht sich daher Vom 1. Juli bis 31. Dezember 1990 wurden die nicht in der Lage, Stellung zu nehmen. Reisekosten pauschal abgerechnet. Die Aufwendun- gen beliefen sich in diesem Zeitraum auf 3,8 Millionen DM. Davon sind rund 50 %, mithin ca. 1,9 Millionen Zu Frage 10: DM, für Hotelkosten angefallen. Eine Aufstellung Die Bundesregierung kann sich aus den unter nach Hotels wäre nur mit großem personellen und Frage 9 angeführten Gründen hierzu nicht äußern. zeitlichen Aufwand möglich. Im Jahre 1991 beliefen sich die Aufwendungen der Zentrale und der Niederlassungen der Treuhandan- stalt für Hotelkosten auf ca. 42,4 Millionen DM. Eine Gesamtaufstellung nach Hotels kann nur mit Anlage 5 großem personellen und zeitlichen Aufwand angefer- tigt werden. Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Joachim Grünewald auf die Frage des Abgeordneten Benno Zierer (CDU/ CSU) (Drucksache 12/2197 Frage 33): Anlage 7 Welche Auffassung vertritt die Bundesregierung zu den Plä- Antwort nen der EG-Kommission, die in Deutschland bisher unbegrenzte des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Einlagensicherung der Banken im Konkursfall dadurch aufzu- heben, daß ab 1993 nur noch bis zu 30 000 DM ganz, bis zu Frage des Abgeordneten Michael von Schmude 70 000 DM nur zu drei Viertel, über 70 000 DM Ersparnisse nur (CDU/CSU) (Drucksache 12/2197 Frage 40): noch zur Hälfte abgesichert sein sollen, und was gedenkt sie im Beabsichtigt die Bundesregierung, sich Überlegungen des Vorfeld dieser Entscheidung zu tun? Forschungsinstituts für Wirtschaftspolitik an der Universität Mainz zu eigen zu machen, wonach das auf Ende 1994 festge- legte Auslaufen der Zonenrandförderung vorgezogen werden Die in der Frage zitierten Pläne der EG-Kommission soll auf Mitte 1992, oder teilt die Bundesregierung die Auffas- sind der Bundesregierung nicht bekannt. Sie ist viel- sung, daß die Wirtschaft verläßliche Daten und ausreichende mehr darüber unterrichtet, daß die Kommission plant, zeitliche Vorgaben benötigt, um Investitionen auch im ehemali- einen Richtlinienentwurf vorzulegen, in dem Min- gen Zonenrandgebiet unter Beibehaltung der zugesagten Zonenrand-Sonderabschreibungen durchzuführen? destgrenzen für die Einlagensicherung enthalten sind, nicht jedoch Höchstgrenzen. Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, die in Damit können die in Deutschland bewährten Einla- Artikel 5 (Änderung des Zonenrandförderungsgeset- gensicherungssysteme bestehen bleiben. zes) des Steueränderungsgesetzes vom 24. Juni 1991 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6845* neu geregelten Auslauffristen der Zonenrandförde- Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat damit die rung zu ändern. Möglichkeit, im Rahmen der dem Land zur Verfügung stehenden verplanbaren GA-Mittel in Höhe von 785,4 Millionen DM (Bund und Land) wichtige Projekte, insbesondere solche mit überregionaler Wirksamkeit, zu fördern. Anlage 8 Bisher wurden für Rostock aus der Normalförderung Antwort Mittel in Höhe von 62 Millionen DM eingesetzt. des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Insgesamt werden für Rostock bisher Mittel in Höhe Fragen des Abgeordneten Dr. Christine Lucyga (SPD) von 180 Millionen DM zur Verfügung gestellt, die (Drucksache 12/2197 Fragen 41 und 42): einem Investitionsvolumen von 720 Millionen DM Ist der Bundesregierung bekannt, daß durch die beabsichtigte entsprechen. Herausnahme des Stadt- und Landkreises Rostock aus dem Sonderprogramm der Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur" die sich abzeichnende durchge- hende Strukturkrise der Region, die nach neuesten Arbeits- marktberichten und Prognosen weit über den Raum Rostock Anlage 9 hinauswirkt und auch in konjunkturbestimmenden Bereichen hohe Arbeitsplatzverluste signalisiert, nicht mehr eindämmbar Antwort ist? des Pari. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Mit welchen Mitteln will die Bundesregierung nach Wegfall Fragen des Abgeordneten Klaus Harries (CDU/CSU) der Sonderförderung sicherstellen, daß die großen regionalen Schwerpunktaufgaben von überregionaler wirtschaftlicher Be- (Drucksache 12/2197 Fragen 43 und 44): deutung für ganz Mecklenburg-Vorpommern, wie z. B. das Sind Informationen zutreffend, daß in der Bundesrepublik Güterverteilzentrum oder der Ausbau des Seehafens Rostock Deutschland Genehmigungsverfahren für die Errichtung, noch sinnvoll und wirtschaftsfördernd für ganz Mecklenburg Erweiterung oder Modernisierung von Industrie- oder gewerb- Vorpommern weitergeführt werden können? lichen Anlagen unverhältnismäßig lange dauern, wesentlich länger als in konkurrierenden Industrie- und Handelsländern, und ist die Bundesregierung bereit, gesetzliche Regelungen zu Zu Frage 41: schaffen, die es erwarten lassen, daß in Zukunft kürzere Geneh- Das gesamte Gebiet des Landes Mecklenburg- migungsverfahren durchgeführt werden können? Vorpommern ist Fördergebiet der Gemeinschaftsauf-- Könnten ggf. branchenspezifisch nähere Angaben über zu gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruk- lange dauernde Genehmigungsverfahren gemacht werden? tur". Darüberhinaus werden für 40 % dieses Förder- gebiets mit einem Sonderprogramm des Gemein- Zu Frage 43: schaftswerkes „Aufschwung-Ost" in den Jahren 1991 Umfassende Angaben über die Dauer von Geneh- und 1992 insgesamt zusätzliche Mittel in Höhe von migungsverfahren im internationalen Vergleich lie- 300 Millionen DM (Bund und Land je zu 50 %) zur gen der Bundesregierung nicht vor. Nach einer Unter- Verfügung gestellt. suchung von Infratest Industria aus dem Jahr 1990 in Für Rostock werden aus diesen Mitteln bereits 117 den alten Bundesländern betrug die durchschnittliche Millionen DM (39 % der Sonderprogrammittel) ver- Dauer von Genehmigungsverfahren für Unternehmen wendet. Von den Sonderprogrammitteln insgesamt der mittelständischen Indus trie knapp 7 Monate; bei waren bis Ende 1991 bereits 208 Millionen DM (69 %) rund 75 % aller Fälle lag die Dauer unter diesem für konkrete Projekte gebunden. Durchschnittswert. 72 % der befragten Unternehmen beklagten die Länge der Genehmigungsverfahren, Auf Antrag des Landes Mecklenburg-Vorpommern ohne daß jedoch für die große Breite der Unternehmen hat der Planungsausschuß der Bund-Länder-Gemein- die Genehmigungsverfahren zu den entscheidenden schaftsaufgabe am 6. März 1992 beschlossen, eine Standortfaktoren gehörten. Veränderung des Sonderprogrammgebietes entspre- chend der veränderten wirtschaft lichen Situation und Die Bundesregierung nimmt die vor allem auch von der besonderen Nachteile der strukturschwachen großen Industrieunternehmen geäußerten Klagen Gebiete in den östlichen Teilen des Landes vorzuneh- über zu lange Genehmigungsverfahren sehr ernst. Sie men. Statt der kreisfreien Städte Rostock und Wismar hat in Bereichen, für die sie direkt zuständig ist, die und der dazugehörigen Landkreise können jetzt die Initiative ergriffen: wesentlich strukturschwächeren Kreise Ribnitz-Dam- — so hat sie das inzwischen in Kraft ge tretene Ver- garten, Rügen, Grimmen, Demmin, Anklam, Alten- kehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz vor- treptow, Ueckermünde, Strasburg und Pasewalk mit gelegt; den aus dem Sonderprogramm noch zur Verfügung — so prüft sie, welche Regelungen des bis Ende Mai stehenden ca. 90 Millionen DM zusätzlich gefördert 1995 befristeten Maßnahmengesetzes zum Bauge- werden. setzbuch zur dauerhaften Anwendung in allen Bundesländern geeignet sind. Zu Frage 42: Die Frage der Verkürzung der Genehmigungsver- Die Region Rostock bleibt in der Normalförderung fahren berührt jedoch vor allem Zuständigkeiten der der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regio- Länder. Der Bundesminister für Wirtschaft hat bereits nalen Wirtschaftsstruktur". Die Durchführung der im Juni 1991 den Wirtschaftsministern der L ander Förderung, d. h. die Auswahl der Förderprojekte, die einen Bericht mit entsprechenden Anregungen vorge- Festlegung der Fördersätze usw. ist Sache des Lan- legt. Auf der Länderwirtschaftsministerkonferenz am des. 25./26. März 1992 in Saarbrücken werden erneut 6846* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Möglichkeiten der Verfahrensbeschleunigung bera- voll. Solche Anreize müssen zunächst im Rahmen der ten werden. allgemeinen Wirtschaftspoltitik von den jeweiligen Ländern selbst geschaffen werden. Neben eigenen nationalen Programmen zur Existenzgründungsför- Zu Frage 44: derung bedarf es möglicherweise auch im Einzelfall Wie bereits erwähnt, liegt der Bundesregierung der Hilfe von dritter Seite. Die Bundesrepublik keine umfassende Analyse zur Dauer von Genehmi- Deutschland, die Hauptleistungsträger für Hilfen an gungsverfahren vor. Gleichwohl hat sie Kenntnis von die Länder in Mittel- und Osteuropa ist, wäre damit Einzelangaben aus der Wirtschaft, deren Repräsenta- aber allein überfordert. Es ist deshalb sinnvoll, daß tivität jedoch nicht überprüfbar ist. finanzielle Hilfen für Existenzgründer im Rahmen Beispiel chemische Industrie: Die durchschnittliche multilateraler Aktionen erfolgen. Dafür eignet sich vor Dauer der Genehmigungsverfahren soll sich während allem das PHARE-Programm der EG. Im Rahmen der vergangenen zehn Jahre von 8-10 Monaten auf dieses Programms gibt es bereits spezielle Programme inzwischen rd. 20 Monate erhöht haben. für kleine und mittlere Unternehmen in Polen und der CSFR. Beispiel Automobilindustrie: Laut Aussagen eines Automobilherstellers dauert die Genehmigung für Maßnahmen der Bundesregierung in der mittel- eine neue Fabrikhalle 4 bis 5 Jahre. standspolitischen Zusammenarbeit mit Polen und der CSFR sind subsidiär zu den Maßnahmen der EG Beispiel Bio- und Gentechnik: In Deutschland gibt sinnvoll. Zur Finanzierung mittelstandspolitischer es — anders als in den USA und Japan mit über 100 — Maßnahmen in den Ländern Mittel- und Osteuropas erst einige wenige gentechnische Produktionen. Von ist im Bundeshaushalt ein Globaltitel in Höhe von weltweit über 600 Freisetzungen gentechnisch verän- 6 Millionen DM für 1992 eingestellt worden. Vor- derter Mikroorganismen haben in Deutschland — dringliche Maßnahmen in diesem Zusammenhang unter großen Schwierigkeiten — erst zwei (lachsfar- sind Pilotprojekte, die auf der Angebotsseite der bene Petunien) stattgefunden, in Frankreich sind es Wirtschaft ansetzen (Information, Qualifikation, Bera- inzwischen über 50. Mehrere Chemieunternehmen tung, Technologietransfer, Unterstützung beim Auf- haben ihre F+E-Aktivitäten im Bereich Bio- und bau von Selbstverwaltungseinrichtungen der Wirt- Gentechnik ins Ausland verlagert, vorzugsweise USA schaft sowie von Kammer- und Verbandsstruktu- und Japan, aber auch nach Frankreich. Viele Jahre ren). wurde bei einem chemischem Unternehmen die- Inbetriebnahme einer Versuchsanlage für die Herstel- Die Bundesregierung fördert über das Mittelstands- lung menschlichen Insulins verhindert. Hierdurch hat programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau Investi- sich auch der Antrag auf die Einrichtung der eigent- tionen kleiner und mittlerer deutscher Unternehmen lichen Produktionsanlage verschoben. in den MOE-Ländern durch die Vergabe zinsvergün- Lange Genehmigungsdauern erweisen sich vor stigter Kredite. Diese langfristigen Darlehen bis zur allem in denjenigen Bereichen als Wettbewerbs- Höhe von 10 Millionen DM mit einer Laufzeit von bis nachteil, in denen der rasche technische Fortschritt zu 10 Jahren bei höchstens 2 tilgungsfreien Anlauf- ständig kürzere Innovationszyklen zur Folge hat. Die jahren werden sowohl bei 100 %iger Übernahme oder Konsequenz sind Startverzögerungen auf neuen Teil- Neugründung von Unternehmen als auch für Beteili- märkten oder auch Produktionsverlagerungen ins gungen gewährt. Ausland. Hinzu kommen die verschiedenen weiteren bilate- ralen Förderprogramme, wie z. B. Kapitalanlagega- rantien für Investitionen in den MOE-Ländern sowie die sogenannten Hermes-Deckungen für Exporte. Anlage 10 Über die bisherige Hilfe hinausgehende haushalts- Antwort belastende Fördermaßnahmen für Polen und die CSFR sind auf Grund der angespannten Haushalts- des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die lage und im Hinblick auf die Situation in den neuen Frage des Abgeordneten Ortwin Lowack (fraktions- Bundesländern und den GUS-Staaten nicht zu vertre- los) (Drucksache 12/2197 Frage 47): ten. Was spricht nach Auffassung der Bundesregierung gegen Existenzgründungsförderung in der CSFR und in Polen auf der Basis eines Abkommens über Finanzierungshilfen zur Grün- dung kleiner und mittlerer Privatunternehmen, zumindest bei deutscher Beteiligung?

Anlage 11 Der Gründung kleiner und mittlerer selbständiger Unternehmen in Polen und in der CSFR kommt eine Antwort erhebliche Bedeutung bei der marktwirtschaftlichen des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Umstrukturierung zu. Gerade mittelständische Unter- (Tännes- nehmen sind in der Lage, auf Marktanforderungen Frage des Abgeordneten Simon Wittmann berg) (CDU/CSU) (Drucksache 12/2197 Frage 48): flexibel zu reagieren. Welche Vorstellungen hatte die Bundesregierung im Rahmen Im jetzigen Stadium des Reformprozesses in der eines Konventionsprogrammes anläßlich des Truppenabbaus CSFR und in Polen sind finanzielle Anreize zur Grün- entwickelt, und warum werden diese Vorstellungen nicht ver- dung neuer Unternehmen wirtschaftspolitisch sinn wirklicht? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6847 *

In den Bund-Länder-Verhandlungen über ein Kon- künftigen Werkverträgen die Ausnutzung des Währungsgefäl- versionsprogramm hat die Bundesregierung stets die les nicht länger zu Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten deut- scher Subunternehmen führt? Auffassung vertreten, daß die Maßnahmen zur Flan- kierung des Truppenabbaus in das bewährte struktur- politische Instrumentarium zu integrieren seien. Der Bundesregierung ist nicht bekannt, daß die Demensprechend sah der Vorschlag der Bundesregie- gegenwärtige Fassung der Verträge mit osteuropäi- rung schen Staaten zur Beschäftigung von Werkvertragsar- beitnehmern wegen des Währungsgefälles zu erheb- — ein Sonderprogramm im Rahmen der Gemein- lichen Unzuträglichkeiten auf dem Baumarkt führt. schaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Sie schließt aber nicht aus, daß in Einzelfällen für Wirtschaftsstruktur" gem. Artikel 91 a GG und deutsche Bauunternehmen, die mit osteuropäischen — ein Sonderprogramm „Städtebau" gem. Artikel Arbeitnehmern auf Werkvertragsbasis kooperieren, 104 a GG gewisse Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurren- vor. Dieser Vorschlag hatte zum Ziel, die Konversions- ten (deutsche Subunternehmen) gegeben sein kön- mittel in relativ strukturschwachen und vom Truppen- nen. abbau besonders stark betroffenen Regionen konzen- Für die Bauwirtschaft insgesamt ist der Einsatz von triert einzusetzen. osteuropäischen Arbeitnehmern auf der Grundlage Die Länder forderten stattdessen vehement der in Rede stehenden Regierungsabkommen — hierin ist der Baubereich im übrigen durch Unterkon- — einen Konversionsfonds analog zum Strukturhilfe- tingente limitiert — von untergeordneter Bedeutung. gesetz. Bei einer Gesamtbeschäftigtenzahl von etwa 2,4 Mil- Es kam ihnen dabei vor allem darauf an, die lionen machen die Ende Januar hier auf Werkver- Konversionsmittel möglichst frei einsetzen zu kön- tragsbasis Beschäftigten rund 44 000 Bauarbeiter aus nen. Jugoslawien, Polen, Ungarn, der CSFR, Rumänien Der Bund ist dieser Forderung der Länder im und Bulgarien knapp 2 % aus. Vermittlungsverfahren nachgekommen, um den Der für die Durchführung der Vereinbarungen über Kompromiß im Zusammenhang mit dem Steuerände- den Einsatz von Werkvertragsarbeitnehmern sachlich rungsgesetz 1992 möglich zu machen: federführende Bundesminister für Arbeit und Sozial- — Die alten Länder erhalten 2 %-Punkte mehr am - ordnung (BMA) achtet darauf, daß es nicht zu gravie- Länderanteil des Mehrwertsteueraufkommens. renden Beeinträchtigungen der Wettbewerbschancen in starker regionaler Konzentration kommt. Dem soll — Die Mehreinnahmen belaufen sich 1993 auf ca. 4,2 durch diesbezügliche Konzentrationsklauseln Rech- Milliarden DM und 1994 auf 4,4 Milliarden DM. nung getragen werden. — Die Bundesregierung hat im Vermittlungsaus- schuß deutlich gemacht, daß — diese Senkung des Bundesanteils am Mehr- wertsteueraufkommen und Anlage 13 — die bereits vor dem Vermittlungsverfahren Antwort beschlossene verbilligte Abgabe bisher militä- risch genutzter bundeseigener Liegenschaften des Parl. Staatsskretärs Willy Wimmer auf die Frage — mit Einnahmeausfällen von ca. 1,6 Milliar- des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksa- den DM — che 12/2197 Frage 56): ihr finanzieller Beitrag zur regionalen Flankierung der Wie viele Wohnplätze für Flüchtlinge kann die Bundeswehr in Bayern kurz- und mittelfristig zur Entlastung der Kommunen zur Folgen des Truppenabbaus ist. Verfügung stellen, und bis wann werden entsprechende Ent- Es ist nun allein Sache der Länder, ob und in welcher scheidungen ge troffen werden? Form sie diese Mittel für die regionale Flankierung des Truppenabbaus einsetzen. Die Länder tragen jetzt Das Bundesministerium der Verteidigung unter- die Verantwortung für eine wirksame regionale Flan- scheidet — in Übereinstimmung mit dem Bundesmi- kierung der Folgen des Truppenabbaus. Die dazu nister des Innern — zwei Personengruppen notwendigen Finanzmittel stehen nun zur Verfü- — Aussiedler und gung. — Asylbewerber. Aussiedler Seit nunmehr fast drei Jahen stellt die Bundeswehr Anlage 12 im Rahmen der Amtshilfe Unterbringungsplätze für Antwort Aussiedler (früher auch Übersiedler) bereit und leistet damit einen anerkannten Beitrag zur Lösung dieses des Parl. Staatssekretärs Klaus Beckmann auf die Problems. Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) (Drucksache 12/2197 Frage 51): In Bayern stehen derzeit ca. 2 300 Plätze zur Verfü gung. Ist der Bundesregierung bekannt, daß die gegenwärtige Fassung der Verträge mit osteuropäischen Staaten zur Beschäf- Asylbewerber tigung von Werkvertragsarbeitnehmern wegen des Währungs- gefälles zu erheblichen Unzuträglichkeiten auf dem Baumarkt Die großen Probleme, die bei der Unterbringung führt, und was wird sie unternehmen, um sicherzustellen, daß bei von Asylbewerbern in Ländern und Gemeinden 6848* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 bestehen, sind dem BMVg bekannt. Einer Unterbrin- Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, auf die gung von Asylbewerbern in genutzten Kasernen kann Landesregierung Schleswig-Holstein einzuwirken, um die schleppende Planung von Bundesstraßenbauvorhaben durch das Bundesministerium der Verteidigung jedoch aus das Landesstraßenbauamt zu beschleunigen und sicherzustel- Sicherheitsgründen nicht zustimmen. len, daß sich eine Bankrotterklärung des Landesstraßenbauam- tes nicht wiederholt, wonach aufgrund angeblichen Personal- In Absprache mit dem Bundesminister der Finanzen mangels beim Landesstraßenbauamt noch nicht einmal Perso- haben wir deshalb Liegenschaften oder Teile davon, nalkapazität zur Ausarbeitung eines Ingenieurvertrages für die an denen die Bundeswehr keinen Bedarf mehr hat, in Planung der großen Umgehung Schwarzenbek vorhanden ist? das Allgemeine Grundvermögen des Bundes über- führt, damit über eine weitere Nutzung entschieden Die Bundesregierung kann, um im Sinne der Frage- werden kann. Sie stehen in vielen Fällen — nach stellung Einfluß zu nehmen, lediglich die Landesre- entsprechenden infrastrukturellen Maßnahmen (Aus- gierung Schleswig-Holstein auf die Folgen für den zäunung, Zuwegung) zu Lasten des Nutzers — auch Infrastrukturausbau im Lande hinweisen. Eine unmit- für Asylbewerber zur Verfügung. telbare Einwirkungsmöglichkeit hat sie nicht. Das BMVg nimmt auf die Nachnutzung keinerlei Einfluß. In Bayern sind das ca. 2 260 Plätze, die zur Entla- stung in den Kommunen beitragen können. Anlage 16 Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Dieter Schulte auf die Fragen des Abgeordneten Gunnar Uldall (CDU/CSU) Anlage 14 (Drucksache 12/2197 Fragen 70 und 71): Antwort In wie vielen Fällen hat das zu Beginn der Legislaturpe riode geäußerte Vorhaben, Grundstücke der Deutschen Reichsbahn des Pari. Staatssekretärs Willy Wimmer auf die Frage zu verwerten, zum Erfolg geführt? des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (Drucksache Wie beurteilt die Bundesregierung diese Möglichkeit ange- 12/2197 Frage 58): sichts der klaren Rechtsverhältnisse bei den meisten Reichs- bahngrundstücken und der angespannten Grundstücksmarkt- Welche konkreten Vorstellungen hat die Bundesregierung zu lage in den neuen Bundesländern? einer gemeinsamen Bergeaktion der in der Ostsee versenkten Giftgasgranaten aus dem Zweiten Weltkrieg durch die deutsche und die sowjetische Marine und hat der Oberkommandierende Zu Frage 70: der baltischen Flotte der sowjetischen Gesamtstreitkräfte, Admi- ral Jegorow, auf die Frage des Parlamentarischen Staatssekre- Die Deutsche Reichsbahn ist bestrebt, ihren für den tärs Dr. Ottfried Hennig bei einem Besuch in Königsberg nach eigentlichen Bahnbetrieb nicht benötigten Grundbe- der Möglichkeit gemeinsamer Suchtrupps mit dem Satz „Das sitz bestmöglich zu verwerten. Als mögliche Verwer- machen wir zusammen" geantwortet, wie der Parlamentarische Staatssekretär in Presseerklärungen berichtet hat, oder hat er die tungsformen kommen Vermietung, Verpachtung, die Frage unbeantwortet gelassen, wie der den Parlamentarischen Vergabe eines Erbbaurechtes oder die Veräußerung Staatssekretär begleitende Bundestagsabgeordnete Koppelin in Betracht, wobei die wirtschaftlichste Lösung im ebenfalls in Presseerklärungen berichtet hat? Einzelfall Vorrang hat. Bei den Verwertungsformen Vermietung und Ver- Im Bundesministerium der Verteidigung wird der- pachtung, bei denen bestehende Verträge übernom- zeit vorsorglich geprüft, welche Möglichkeiten für men wurden, gilt es, diese nun den neuen Gegeben- eine Beteiligung der Deutschen Ma rine an der Suche heiten anzupassen. Bei rund 3 500 Verträgen wurde nach Giftgasmunition in der Ostsee bestehen. Das dies bereits erledigt. Ergebnis dieser Prüfung wird im Rahmen der Arbeit einer Arbeitsgruppe, die der Bundesminister für Ver- Veräußert wurden seit dem 3. Oktober 1990 22 Ob- kehr einzusetzen beabsichtigt, für die Entwicklung jekte. künftiger Maßnahmen genutzt werden können. Auf die Frage des Kollegen Dr. Hennig nach der Zu Frage 71: Möglichkeit einer Beteiligung der deutschen Ma rine Die Bundesregierung be trachtet das bisherige und der Baltischen Flotte an einer zivil-militärischen Ergebnis als unbefriedigend, weil die Immobilienbe- Aktion zur Auffindung von in der Ostsee versenkter wirtschaftung ein wichtiger Zweig im Unternehmen Giftgasmunition erklärte Admiral Jegorov sein Ein- Deutsche Reichsbahn sein könnte. Die konsequente verständnis. Über die zustimmende Reaktion des Vermarktung der Liegenschaften kann zu steigenden Oberbefehlshabers der Baltischen Flotte hat auch der Einnahmen bei der Deutschen Reichsbahn und zur bei dem Gespräch anwesende Vertreter der deut- wirtschaftlichen Belebung in den neuen Bundeslän- schen Botschaft Moskau berichtet. dern führen.

Anlage 15 Anlage 17 Antwort Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Dieter Schulte auf die des Parl. Staatssekretärs Dr. Dieter Schulte auf die Frage des Abgeordneten Michael von Schmude Frage des Abgeordneten Norbert Gansel (SPD) (CDU/CSU) (Drucksache 12/2197 Frage 69): (Drucksache 12/2197 Frage 75): Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6849*

Wie ist der Stand der Verhandlungen bzw. des Abkommens Wie beurteilt die Bundesregierung die Gefahren, die von den über den kleinen Grenzverkehr zwischen der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg in der Ostsee versenkten Giftgas- Deutschland und der CSFR, und welche Möglichkeiten sieht die granaten ausgehen, und welche Maßnahmen beabsichtigt die Bundesregierung, Verhandlungen zu beschleunigen, damit die Bundesregierung zu ergreifen, um ggf. diese Gefahren zu Belastungen an den Grenzübergängen zur CSFR (Verkehrs- beseitigen? überlastung, lange Wartezeiten, Umweltbelastung, sanitäre Verhältnisse etc.) vermindert werden können? In der Regel geht von Giftgasmunition, die in ausreichender Tiefe versenkt ist, keine Gefahr aus. Die Verhandlungen mit der CSFR über den Auch durch die jetzt bekannt gewordenen Versen- Abschluß eines Abkommens zur Regelung des Klei- kungsaktionen der Deutschen Demokratischen Repu- nen Grenzverkehrs sind im Gange. Bisher haben zwei blik in dem Versenkungsgebiet östlich von Bornholm Verhandlungsrunden in Passau (Juli 1991) und Eger wird die Fischerei nicht gefährdet, wenn sie das in den (Januar 1992) stattgefunden. Dabei wurde über die Seekarten mit dem Zusatz Gasmunition gekennzeich- Grundzüge des Abkommens sowie über eine Reihe nete Gebiet meidet. von Vertragselementen einschließlich ersten Textent- würfen Übereinstimmung erzielt. Das Bundesverkehrsministerium hat eine erneute umfassende Bestandsaufnahme über Versenkungs- Die nächste Verhandlungsrunde ist bereits für den orte, Mengen und Arten von Giftgas- und anderer 23. bis 27. März 1992 vorgesehen. Die Bundesregie- Munition in der Ostsee veranlaßt. Zudem wird der rung beabsichtigt dabei, die Verhandlungen über den Bundesverkehrsminister über die bereits eingeleite- Vertragstext abzuschließen, damit das Abkommen ten Maßnahmen hinaus in Zusammenarbeit mit dem möglichst bald unterzeichnet werden kann. Ziel ist es. Bundesumweltminister und den Umweltministerien die Vorteile, die sich für die Grenzbevölkerung und der Küstenländer eine Arbeitsgruppe einsetzen, die die Wanderer aus diesem nicht ratifizierungsbedürfti- die jetzt bekannt gewordenen Informationen auswer- gen Abkommen ergeben, noch für diese Sommersai- ten und Vorschläge für weitere Maßnahmen erarbei- son wirksam werden zu lassen. ten soll. Absprachen mit der tschechoslowakischen Seite über die kurzfristige Verbesserung der Ablauforgani- sation bei der Zollabfertigung sind getroffen. Die Zollverwaltungen und die beteiligten Grenzspedi- teure setzen diese derzeit um. Erste Erfolge dieser Anlage 20 Entflechtung des auf die Grenzzollstellen zurollenden Antwort Lkw-Verkehrs sind bereits erkennbar. des Parl. Staatssekretärs Dr. Dieter Schulte auf die Frage des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler (SPD) (Drucksache 12/2197 Frage 78): Ist der Bundesregierung das genaue Ausmaß und die chemi- Anlage 18 sche Zusammensetzung der in den Medien genannten riesigen Antwort Gasblase in der Ostsee bekannt, und auf welche Ursachen führt die Bundesregierung das Zustandekommen dieser Gasblase des Parl. Staatssekretärs Dr. Dieter Schulte auf die zurück? Frage der Abgeordneten Ulrike Mehl (SPD) (Druck- sache 12/2197 Frage 76): Der Bundesregierung liegen keine Informationen Ist die Bundesregierung bereit, die Bergung von Giftgasaltla- über eine Gasblase in der Ostsee vor. In dem Seege- sten deutschen Ursprungs aus der Ostsee zu betreiben, um einer biet östlich von Bornholm finden sich jedoch Sedi- möglichen ökologischen Katastrophe vorzubeugen? mente, in denen sich aus natürlichen Gründen Gase sammeln. Hauptsächlich bildet sich Meth an. Eine Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß Giftblase im Zusammenhang mit der in diesem Gebiet von der nach dem Zweiten Weltkrieg in der Ostsee versenkten Giftgasmunition ist nach Expertenmei- versenkten Giftgasmunition eine ökologische Kata- nung auszuschließen. strophe droht. In der Regel geht von Giftgasmunition, die in ausreichender Tiefe versenkt ist, keine Gefahr aus. Eine Gefährdung der Meeresfauna durch freige- setzte Kampfstoffe ist auszuschließen. Anlage 21 Die Giftgasmunition kann dann eine Gefahr bilden, Antwort wenn sie an die Meeresoberfläche geholt wird und dort mit Sauerstoff reagiert. Daher sieht die Bundes- des Parl. Staatssekretärs Dr. Bertram Wieczorek auf regierung eine Bergung der Giftgasmunition als nicht die Frage der Abgeordneten Susanne Kastner (SPD) zweckmäßig an. (Drucksache 12/2197 Frage 79): Wie beurteilt die Bundesregierung die Ergebnisse einer ohne deutsche Beteiligung erstellten Studie der EG-Kommission, daß die angespannte Wasserversorgung die wi rtschaftliche Entwick- lung der Gemeinschaft behindere und die Sicherung der Trink- Anlage 19 wasserversorgung allein durch verstärkte Maßnahmen der tech- nischen Trinkwasseraufbereitung zu erreichen sei, und wird sich Antwort die Bundesregierung auf EG-Ebene dafür einsetzen, daß die des Parl. Staatssekretärs Dr. Dieter Schulte auf die Industrie und die Landwirtschaft als Verursacher der Schadstoff- einleitungen die Kosten der Gewässersanierung zu tragen Frage des Abgeordneten Horst Jungmann (Wittmoldt) haben und nicht die Wasserversorger und Verbraucher über die (SPD) (Drucksache 12/2197 Frage 77): steigenden Kosten der Trinkwasseraufbereitung? 6850* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

Die Bundesregierung hat Kenntnis davon, daß die Trifft es zu, daß die Strahlenschutzkommission die akzeptierte für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung zustän- jährliche Belastung durch das im Uranbergbaugebiet entste- hende Radon vom bisher allgemein akzeptierten Richtwert dige Generaldirektion der EG-Kommission bei eini- 0,2 Becquerel Strahlung pro Gramm Boden erhöhen wi ll, angeb- gen Firmen eine Studie in Auftrag gegeben hat über lich um den Sanierungsbedarf des Geländes künstlich zu verrin- Forschung und technologische Entwicklung für die gern und damit Geld zu sparen? Versorgung und den Gebrauch der Süßwasserres- sourcen. Entwürfe von Teilstudien sind der Bundesre- Zu Frage 80: gierung vor wenigen Tagen bekannt geworden; deren Es ist zutreffend, daß die im sogenannten Altlasten- erste Auswertung ergab keine Hinweise, daß als kataster erfaßten Flächen erheblich umfangreicher als zusammenfassendes Ergebnis die Auffassung vertre- die im Umweltkataster der Wismut aufgenommenen ten wird, die Sicherung der Trinkwasserversorgung Flächen sind. Dies folgt schon daraus, daß im Altla- sei allein durch Trinkwasseraufbereitung zu errei- stenkataster alle zu untersuchenden Gebiete enthal- chen. ten sind. Die Studie dient nach unserer Kenntnis der Ermitt- Nach dem Verursacherprinzip ist die sowjetisch lung von Prioritäten für die Forschungspolitik der deutsche Aktiengesellschaft Wismut (SDAG Wismut) Gemeinschaft; insofern ist nicht davon auszugehen, bzw. ihre Rechtsnachfolgerin—also seit Ende Dezem- daß die Ergebnisse unmittelbar die Gewässerschutz- ber 1991 die zu 100 % deutsche Wismut GmbH — zur politik der Kommission bestimmen. Ich möchte auch ordnungsgemäßen Stillegung der Betriebe sowie zur darauf hinweisen, daß die Ergebnisse bislang mit der Sanierung und Rekultivierung der von ihr genutzten zuständigen Generaldirektion XI nicht besprochen Flächen verpflichtet, soweit diese nicht seinerzeit worden sind. nach DDR-Recht an Dritte rechtmäßig rückübertragen Selbst wenn sich nach endgültiger Fertigstellung worden sind. Hiervon geht das vom Bundestag am der Studie wider Erwarten herausstellen sollte, daß 12. Dezember 1991 beschlossene Gesetz zum deutsch- sowjetischen Abkommen über die Beendigung der die Verfasser wider Erwarten tatsächlich zu dem Tätigkeit der SDAG Wismut aus. Der Bund trägt den Ergebnis kommen sollten, einzig und allein die Trink- für diese Stillegung, Sanierung und Rekultivierung wasseraufbereitung könne die Probleme der Wasser- erforderlichen Aufwand. Soweit demnach im einzel- versorgung lösen, so sprechen keine Anzeichen dafür, nen die Wismut eine Sanierungspflicht unmittelbar daß dies zu einem grundlegenden Umdenken der - nicht trifft, können bei existierendem Sanierungsbe- Kommission über die Gewässerschutzpolitik in der darf — wie bei anderen Altlasten in den neuen Gemeinschaft führen könnte. Bundesländern — Mittel aus dem Umweltschutz- Wir gehen selbstverständlich davon aus, daß die Sofortprogramm der Bundesregierung in Anspruch Kommission — wie auch die Bundesregierung — nach genommen werden, wobei die jeweiligen Bundeslän- wie vor die Auffassung vertritt, daß die Probleme der der über die Prioritäten entscheiden. Gewässerverschmutzung nur durch Maßnahmen an der Quelle zu lösen und daß für die notwendigen Zu Frage 81: Maßnahmen die Verursacher heranzuziehen sind. Nein! Diese Auffassung spiegelt sich im übrigen in allen Gewässerschutz-Richtlinien der Gemeinschaft wider; In den Empfehlungen der Strahlenschutzkommis- ich möchte z. B. an die Nitrat-Richtlinie erinnern, die sion zu den Auswirkungen des Uranbergbaus in den zum Ziel hat, die Nitrateinträge aus der Landwirt- Südbezirken von Sachsen und Thüringen werden schaft zu verringern. Kriterien für die weitere Nutzung von Flächen ange- geben. Diese Kriterien beziehen sich auf das Radio- Auch im Frankfurter Wasser-Seminar der Umwelt- nuklid Radium 226. Eine uneingeschränkte Nutzung minister und im kürzlich in Den Haag durchgeführten von Flächen ist hiernach bis zu einer Bodenkonzen- Minister-Seminar zum Grundwasserschutz, auf denen tration von 0,2 Bq/g möglich. die zukünftige Gewässerschutzpolitik der Gemein- Das aus dem Radium 226 entstehende Radon in der schaft beraten wurde, gab es weitgehende Überein- Atmosphäre steht in keinem festen Verhältnis zu der stimmung hinsichtlich der Ziele der Gewässerschutz Konzentration des Radium 226 im Boden. Vielmehr politik in der Gemeinschaft. wird die Radonkonzentration durch bodenphysikali- sche und meteorologische Parameter entscheidend bestimmt. Die Strahlenschutzkommission hat deshalb in den Empfehlungen zu den Auswirkungen des Anlage 22 Uranbergbaus darauf hingewiesen, daß die Empfeh- lung zum Radon vom 30. Juni 1988 nach wie vor Antwort Gültigkeit hat, die die Einhaltung von 250 Bq/m 3 des Parl. Staatssekretärs Dr. Be rtram Wieczorek auf Radon im Wohnbereich von Neubauten vorsieht. die Fragen der Abgeordneten Siegrun Klemmer (SPD) (Drucksache 12/2197 Fragen 80 und 81): Trifft es zu, daß die im sogenannten Altlastenkataster erfaßten, vor 1962 verursachten Altlasten vor allem heute im Kommunal- Anlage 23 besitz befindliche Flächen be treffen, daß diese Flächen in ihrer Größe ein Vielfaches der im Umweltkataster (für nach 1962) Antwort erfaßten Flächen betragen, und stimmt es, daß die Bundesregie- des Parl. Staatssekretärs Dr. Bertram Wieczorek auf rung nicht bereit ist, die Kosten für die Sanierung der im Altlastenkataster erfaßten Flächen zu übernehmen, sondern dies die Frage des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler (SPD) den Kommunen überlassen will? (Drucksache 12/2197 Frage 82): Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992 6851*

Zu welchem Ergebnis ist die Prüfung, die Bundesminister für ihren Bedarf an Satellitenkapazität bei jedem Signatar Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Klaus Töpfer, in der Sitzung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und ihrer Wahl zu decken („Wettbewerb unter Signata- Reaktorsicherheit am 15. Mai 1991 in Berlin zugesagt hat, in der ren"). Es steht derzeit noch nicht fest, welche Maß- Frage gekommen, in welcher Form ein Schutz vor den in der nahmen darüber hinaus im einzelnen zur angestreb- Ostsee nach dem Zweiten Weltkrieg versenkten großen Mengen ten Verbesserung ergriffen werden. Denkbar ist die chemischer Kampfstoffe, zum Beispiel durch Bergung dieser chemischen Kampfstoffe oder durch Liegenlassen, erfolgen soll, Einführung eines sogenannten „Signatory Affairs und in welchem Zeitrahmen das entsprechende Prüfungsergeb- Office". nis realisiert werden soll? Zu Frage 84: Fragen zur Ostseesanierung wurden am 24. April 1991 auf der Sitzung des Ausschusses für Umwelt, Die Statuten der Satellitenorganisation EUTELSAT Naturschutz und Reaktorsicherheit erörtert. Der BMU lassen grundsätzlich weder eine Mitgliedschaft von führte damals aus, daß es derzeit keine Bergungsme- Lizenznehmern zu, noch räumen sie Lizenznehmern thode für chemische Kampfstoffe gäbe, bei der ein das Recht ein, Satellitenkapazität unmittelbar bei Auseinanderbrechen und damit eine Gefährdung der EUTELSAT zu mieten. Die Satellitenkapazität kann Beteiligten ausgeschlossen werden könne. Deshalb aufgrund der Statuten nur über die Signatare der rieten alle Ostseeanrainerstaaten von einer Bergung Betriebsvereinbarung von EUTELSAT erworben wer- dieser Munition ab. Diese Einschätzung besteht wei- den, wobei die Signatare in aller Regel die herkömm- terhin fort. Durch Hinweise auf eine Häufung von lichen nationalen Fernmeldeverwaltungen sind. Munitionsfunden in der Ostsee hat der Bundesver- kehrsminister veranlaßt, daß das Bundesamt für See- Diese Lage kann nicht einseitig, d. h. auf nationaler schiffahrt und Hydrographie in Hamburg eine umfas- Ebene verändert werden, sondern nur aufgrund einer sende Bestandsaufnahme über Versenkungsorte, Anpassung der Statuten nach entsprechender Mehr- Mengen und Arten von Giftgas- und anderer Munition heitsentscheidung innerhalb der Satellitenorganisa- in der Ostsee durchführt. Außerdem wird eine tion. Eine Mehrheit für eine Änderung der Statuten in Arbeitsgruppe der Bundesregierung unter Federfüh- dieser Hinsicht besteht zur Zeit nicht. Der Bundesmi- rung des Bundesamtes für Seeschiffahrt und Hydro- nister für Post und Telekommunikation setzt sich graphie die vorhandenen Informationen auswerten jedoch dafür ein, eine entsprechende Veränderung und Vorschläge erarbeiten. der EUTELSAT-Konvention zu erreichen.

Anlage 24 Antwort Anlage 25 des Parl. Staatssekretärs Wilhelm Rawe auf die Fragen Antwort des Abgeordneten Dr. Jürgen Schmieder (F.D.P.) (Drucksache 12/2197 Fragen 83 und 84): des Parl. Staatssekretärs Wilhelm Rawe auf die Fragen des Abgeordneten Joachim Hörster (CDU/CSU) Plant das Bundesministerium für Post und Telekommunika- tion, privaten Betreibern von Satellitenkommunikation gleiche (Drucksache 12/2197 Fragen 85 und 86): Zutrittschancen zu ermöglichen, wie sie die Deutsche Bundes- Ist es zutreffend, daß nach der Trennung der unternehmeri- post TELEKOM innehat? schen Aufgaben von den hoheitlichen Aufgaben auf dem Gebiet Ab wann und unter welchen Bedingungen können private des Post- und Fernmeldewesens die Unternehmen POST- Betreiber von Satellitenkommunikation direktes Mitglied von DIENST, POSTBANK und TELEKOM unter Berücksichtigung EUTELSAT werden oder direkt bei EUTELSAT Satellitenkapa- des Steuerrechts als Be triebe gewerblicher A rt anzusehen zität anmieten? sind? Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die Deutsche Zu Frage 83: Bundespost POSTBANK ausschließlich Leistungen erbringt, die nicht dem hoheitlichen Bereich zuzuordnen sind, wenn nein, Der Bundesminister für Post und Telekommunika- warum nicht? tion beabsichtigt, die Möglichkeiten des Zugangs zur Satellitenkapazität der internationalen Satellitenor- ganisationen für Lizenznehmer im Satellitenfunk Zu Frage 85: kurzfristig zu verbessern. Durch die Postreform im Jahr 1989 hat sich am Die Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten ist verfassungsrechtlichen Status der Deutschen Bundes- notwendig, weil die Lizenznehmer im Satellitenfunk post als hoheitlicher Bereich, der in bundeseigener einen diskriminierungsfreien Zugang zu diesen Satel- Verwaltung wahrzunehmen ist, nichts geändert. Hier- litenkapazitäten benötigen, um ihre Satellitendienste von geht auch das Umsatzsteuergesetz aus. Eine anbieten zu können. Überdies hat auch der Rat der ausdrückliche gesetzliche Festlegung, ob die Unter- Europäischen Gemeinschaften in seiner Resolution nehmen der Deutschen Bundespost in steuerrechtli- vom 4. November 1991 die Mitgliedstaaten der Euro- cher Hinsicht als Hoheitsbetriebe oder als Betriebe päischen Gemeinschaften aufgefordert, die Zugangs- gewerblicher Art einzuordnen sind, wurde damals möglichkeiten zu verbessern. nicht getroffen. In diesem Zusammenhang wird der Bundesminister Im einzelnen regeln folgende Bestimmungen die für Post und Telekommunikation in Kürze die Rege- Steuerpflicht der Unternehmen der Deutschen Bun- lung in Kraft setzen, daß Lizenznehmer befugt sind, despost: 6852* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 82. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 12. März 1992

1. Im Umsatzsteuergesetz wird die Tätigkeit der Zu Frage 86: Deutschen Bundespost TELEKOM ab 1. Juli 1990 schrittweise wie eine gewerbliche Tätigkeit Mit der Postreform des Jahres 1989 wurde eine behandelt. Außerhalb dieser Fiktion liegt ein organisatorische Trennung zwischen dem politisch/ Betrieb gewerblicher Art in den Randbereichen hoheitlichen und dem betrieblich/unternehmerischen vor, die nicht zu den originären Aufgaben des Post- Aspekt der Staatsaufgabe „Bundespost" vorgenom- und Fernmeldewesens zählen, z. B. Kantinenbe- men. triebe. 2. Die Deutsche Bundespost ist subjektiv steuerbe- Die Auffassung, daß die Deutsche Bundespost freit gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 Körperschaftssteuer- POSTBANK ausschließlich betrieblich/unternehmeri- gesetz, § 3 Nr. 1 Gewerbesteuergesetz und § 3 sche Aufgaben wahrnimmt, ist in dem Sinne gerecht- Abs. 1 Nr. 1 Vermögenssteuergesetz. fertigt.