Kulturfinanzkrise: Schleswig-Holstein

Zeitung des Deutschen Kulturrates

Nr. 04/10 · Juli – August 2010 www.kulturrat.de 3,00 E · ISSN 1619-4217 · B 58 662

Kulturfinanzierung Europa/Internationales Internet-Enquete puk-Preis Beilage Interkultur Welche Auswirkungen hat die Schul- Welche Rolle werden in einigen Jahren Was wollen die Sachverständigen-Mit- Was ist das Spezifische an den Ar- Welche historische Dimension hat denbremse auf den Kulturhaushalt? die Nationalstaaten noch in Europa glieder der Enquete-Kommission des beiten der puk-Journalistenpreis- die Debatte um Transkultur ver- Was bedeuten Haushaltskürzungen spielen? Welchen Stellenwert hat Kul- Deutschen Bundestags „Internet und träger 2010? Welche Themen sind sus Interkultur? Ist Integration ein für die Kultureinrichtungen und turpolitik in einem stärker zusammen- digitale Gesellschaft“ bewegen? Wel- relevant? Welche Anstöße konnten neues politisches Thema oder stellt -verbände? Am Beispiel des Landes wachsenden Europa? Welche Akzente che Akzente wollen sie setzen? Welche sie geben? Was haben sie bewegt? Die sich diese Frage immer wieder neu? Schleswig-Holstein wird gezeigt, wie setzt das Europäische Parlament? Wel- gesellschaftspolitische Dimension hat mit dem puk-Journalistenpreis 2010 Wie kann das bürgerschaftliche En- sich Kürzungen im Kulturbereich che Debatten zur kulturellen Bildung ihre Arbeit? Welchen rechtspolitischen ausgezeichneten Beiträge werden gagement von Migranten gestärkt auswirken. werden geführt? Handlungsbedarf sehen sie? vorgestellt. werden?? Seiten 3 bis 8 Seiten 9 bis 11 Seiten 14 bis 15 Seiten 17 bis 21 Beilage Seiten 1 bis 4

Editorial Die Zukunft unserer Staaten Beton oder: Wem schulden wir Loyalität? • Von Rupert Graf Strachwitz as Schlimmste an der Krise des des Stadtschlosses geführt? Die Vor- Solange die Fußballweltmeister- Dpolitischen Systems, die wir in sitzende des Kulturausschusses des schaft unser tägliches Leben domi- diesen Tagen miterleben müssen, Deutschen Bundestages, Monika niert, sehen wir wieder überall die ist die Visionslosigkeit. Die Kanzler­ Grütters, sprach im Zusammenhang schwarz-rot-goldenen Fahnen flat- in, sichtbar von dem Rücktritt von mit der Verschiebung des Baubeginns tern. Millionen von Deutschen lau- Bundespräsident Köhler gezeichnet, des Stadtschlosses vom „Fluch der schen mit sonst nicht mehr erlebter gibt freimütig zu Protokoll, dass sie Fassade“. Und hier liegt vielleicht Ergriffenheit der Nationalhymne. immer gerade das abarbeite, was auf das Problem, die Diskussionen wer- Sport, so will es scheinen, ist der ihrem Schreibtisch lande. Große Ziele den von der Gestaltung der Fassade Rettungsanker deutschen National- scheinen der Republik abhanden mehr bestimmt, als von der Frage stolzes gegen die Anfeindungen von gekommen sein. Selbst der Mindest- was in dem Gebäude stattfinden supranationaler, globaler, regionaler konsens, den unsere Gesellschaft soll. Beton ersetzt, auch in der Bun- und staatsverdrossener Seite. Die viele Jahrzehnte einte, ein besseres deskulturpolitik, seit Jahren oftmals Rettungsaktion für Griechenlands Leben für Alle erreichen zu wollen, den Diskurs. Staatsfinanzen lässt uns anderer- scheint nach den einseitigen Sparvor- Vollkommen abgemeldet sind in seits verstärkt darüber nachden- schlägen in Frage gestellt zu sein. diesem Zusammenhang die Künstler. ken, welche Staatsinstanz für was Kann es dann wenigstens eine Sie sind eigentlich die geborenen kompetent ist und mit welcher sinnstiftende visionäre Kulturpolitik Visionäre und Sinnstifter. Es stimmt, Durchsetzungsmacht ausgestattet in dieser Krise geben? Bundestagsvi- sie werden auch nicht gefragt. Doch sein sollte. Ist es also vielleicht zepräsident nannte wo steht geschrieben, dass Künstler nur noch im Sport so, dass wir uns den im Rahmen der Sparbeschlüsse sich erst dann einmischen dürfen, als Deutsche fühlen, sonst aber verschobenen Wiederaufbau des wenn sie von der Obrigkeit dazu doch eher als Europäer, zunehmend Preußischen Stadtschlosses in Ber- aufgefordert werden? auch als Weltbürger mit zufällig lin, „das größte und spannendste Das Humboldtforum, so wird der deutschem Pass, andererseits aber Kulturprojekt in der Geschichte Inhalt des zukünftigen Berliner Stadt- auch als Sachsen oder Hambur- der Bundesrepublik Deutschland schlosses genannt, zeigt die Sprach- ger? In Flandern, Schottland oder Rupert Graf Strachwitz Foto: Erol Guriau – die Vollendung der Humboldtschen losigkeit auch des Kulturbereiches in Katalonien, ansatzweise auch in Idee: der Dialog zwischen Europa der Krise auf. Wenn der Humboldt- der Lombardei und im Languedoc, Selbst in Frankreich sind die Regi- eine weitere Abnahme der Bedeutung und den Weltkulturen in der Mitte sche Geist wirklich einmal durch das bilden regionale Strukturen heute onen heute oft selbstbewusstere, aber des Nationalen im Lebensgefühl und Berlins“. Wenn Wolfgang Thierse rekonstruierte Schloss wehen soll, den Kern des staatlich-politischen auch auf sich selbst angewiesenere der Lebensplanung der Bürgerinnen Recht haben sollte, könnte dieses muss vorher die Sinnfrage in einer Selbstverständnisses. In Edinburgh Kulturträger. und Bürger sorgen. Der Wegfall der Projekt zur Sinnstiftung beitragen. öffentlichen Debatte beantwortet jedenfalls ist die Nationalflagge Dass die Wahrnehmung, alles Wehrpflicht in vielen Staaten, der Aber warum ist der Funke für diese werden. Bislang bestimmt aber nicht des Vereinigten Königreichs kaum spiele sich in den Grenzen des Natio- mit Sicherheit auch in Deutschland Idee bislang nicht übergesprungen, der Geist Humboldts, sondern der zu sehen, in Barcelona wird die nalstaates ab, von je her irrig ist, zeigt bevorsteht, trägt hierzu bei. Dem Na- warum lehnt die Bevölkerung den Preußens auf der Schlossbaustelle in Nationalsprache kaum gesprochen, ein einfaches Beispiel: In mindestens tionalstaat bleiben nicht viele Kom- Wiederaufbau des Stadtschlosses in der Mitte von Berlin und verhindert das relativ kleine Belgien scheint acht EU-Mitgliedsländern sprechen petenzen, dem deutschen besonders Berlin mit überwältigender Mehrheit eine öffentliche Debatte. auseinanderzubrechen, und selbst Bürger als Muttersprache deutsch, wenige. Das meiste von dem, womit ab, warum wird jetzt noch nicht ein- in Frankreich und Italien, hier im aber in nur zwei die Mehrheit der wir Bürger im Grundgesetz den Bund mal in den Feuilletons eine angeregte Olaf Zimmermann, Herausgeber von Norden, dort im Süden, gewinnen Bürger. Der primäre Kulturträger beauftragt haben, ist schon nach Euro­ Debatte über die inhaltliche Füllung politik und kultur Kräfte an Einfluss, deren Loyalität einer Gemeinschaft ist also nicht pa gegangen oder wird es noch tun, nicht dem Nationalstaat gilt. kongruent mit staatlichen Grenzen. Länder und Gemeinden sind hiervon Kurzum: So sehr in der Europäischen kaum berührt. Insofern ist die Bedeu- nsere Länder – der Ausdruck Union die 27 Signatarstaaten auf tung von Fahnen und Hymnen im UBundesländer wäre falsch – gal- ihre Souveränität pochen und ihre Sport ein Relikt aus früherer Zeit. Kultur-Mensch ten lange Zeit als skurrile Bremser Macht im Rat ausüben, die Lebens- In dieser Umwälzung kommt das Klaus Wagenbach eines Konzepts vom Europa der Na- wirklichkeit sieht anders aus. Wenn haptische Erleben von Gemeinschaft tionalstaaten. Doch nehmen sie die sich die Union, was wohl mit Blick ein Stück weit abhanden. Regiona- Klaus Wagenbach feiert im Juli 2010 Wagenbach und der Wagenbach Ver- Bundestreue vergleichsweise ernst. auf Griechenland zu begrüßen wäre, lisierung unter europäischem Dach seinen 80. Geburtstag. Der von ihm lag stehen dafür, dass das Buch eben In ungezählten Gremien und Zirkeln als durchsetzungsbefugte Aufsichts- als Gegenbewegung zu prognosti- im Jahr 1964 gegründete Verlag be- beides ist: Wirtschafts- aber vor allem der 16, manchmal auch 17 mit dem instanz über die Finanzen der Mit- zieren, ist daher keineswegs abwegig. zeichnet sich selbst als „unabhängiger auch Kulturgut. Damit letzteres sich Bund, allen voran in der Kultusminis- gliedsstaaten durchsetzt, verschiebt Nicht bedingt, aber beflügelt durch Verlag für wilde Leser“. Wagenbach, entfalten kann, werden Vermittler wie terkonferenz, wird zäh, aber letztlich sich die Macht weiter zugunsten der das Schengener Abkommen und Mensch und Verlag, blicken auf eine der Wagenbach Verlag gebracht. ergebnisorientiert um einheitliche Union. Die Nationalstaaten stehen die gemeinsame Währung, rücken bewegte Geschichte zurück. Politische Lebens- und Rechtsverhältnisse auf der Verliererseite. Nehmen wir Regionen und Gemeinden auch Texte, Texte, die zu gerichtlichen gerungen. In Belgien scheinen Po- hinzu, dass eine spezifische Außen- transnational sogar enger zusammen. Auseinandersetzungen führten und sitionen, nicht Ergebnisse, oberste politik eines einzelnen EU-Staats Verkehrsprojekte, lokale Infrastruk- Literatur, sie gehören bei Wagenbach Priorität zu haben. Schottland ist kaum noch vorstellbar ist, dass tur, Fremdenverkehr und natürlich zusammen. Einige Buchreihen sind stolz auf sein von England grundsätz- die NATO schon seit Jahrzehnten in besonderem Maße das kulturelle legendär wie z.B. die rotgebundene lich verschiedenes Rechtssystem. In für eine weithin gemeinsame Ver- Angebot machen an keiner innereu- Reihe Salto. Ähnliches gilt für den Italien werden sich voraussichtlich in teidigungspolitik sorgt und dass ropäischen Grenze mehr Halt. Und Freibeuter, die bis 1999 erscheinende den nächsten Jahren regionale Steu- staatliche Großverbünde wie der schließlich: Staat als solcher ist für die Reihe für Kultur und Politik. ersysteme entwickeln, während unser Nordische Rat oder Benelux seit meisten Bürger längst nicht mehr so bundeseinheitliches Steuersystem als Jahrzehnten geräuschlos funktio- wichtig wie noch vor einer oder zwei Wagenbach ist unverwechselbar. Sein solches kaum zur Diskussion steht. nieren, so ist die These, der Natio- Generationen. Blick richtete sich über den Tellerrand Und während wir ebenso gern, wie nalstaat alteuropäischer Prägung der bundesdeutschen Diskussionen. oft zu Unrecht, von der Kulturhoheit sei ein Auslaufmodell, keine Utopie, Viele Schätze der Literatur wurden der Länder sprechen, bemühen sich sondern Ergebnis einer realistischen Weiter auf Seite 2 von Wagenbach gehoben, Schätze, diese oft genug darum, dass ihnen der Analyse. die nicht im allgemeinen Mainstream Bund unter die Arme greift, um große Die moderne Kommunikation der Verlagslandschaft liegen, die sich Kultureinrichtungen zu erhalten und und die Entwicklung der interna- aber lohnen gelesen zu werden. Klaus Foto: Martin Przkawedtz stellen mit Begeisterung Anträge auf tionalen Zivilgesellschaft werden 4:l;p EU-Mittel für ihre Kulturprojekte. ebenso wie der globalisierte Markt für Leitartikel politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 

ditionskultur fruchtbar zu machen. Fortsetzung von Seite 1 Was bleibt uns dadurch an Bitterkeit, Leid und Begrenzung erspart, was ist Die Zukunft das für eine kulturelle Bereicherung unserer Staaten und Entgrenzung! Europa ist aber auch ganz neu. Der Machtverlust ist für die Natio- Wir haben die Chance, eine neue nalstaaten spürbar und schmerz- politische Ordnung in neuen Gren- lich. Ihn zu bremsen oder wenigs- zen im demokratischen Verfahren tens die Schmerzen zu lindern, zu gestalten. Wir müssen nicht mehr ist ihnen daher ein Anliegen. Die Bodin, Hobbes oder Hegel folgen, Flut von Kontrollen, die unter dem nicht einmal Plato und Aristoteles, die Stichwort Sicherheit oder Gerech- die Grundlagen zu unserem Staatsver- tigkeit die Bürgerinnen und Bürger ständnis gelegt haben. überschwemmt, ist letztlich so zu Die Eckdaten zu entwickeln, ist erklären. Aber die Geschichte lehrt ein kultureller Prozess. Ein Grundsatz uns, dass kulturelle Entwicklungen wird, so denke ich, die umfassende durch Demonstrationen der Macht Subsidiarität sein. Jeder führt gern die zwar zu verzögern, aber niemals Subsidiarität dann im Munde, wenn aufzuhalten sind. Wir befinden uns es gilt, sich von der größeren Arena mitten in einer kulturellen Revolu- abzugrenzen: Die Mitgliedsstaaten tion. Wie wir uns damit auseinan- gegenüber der Union, die Länder derzusetzen haben, sagt uns schon gegenüber dem Bund, die Gemein- In Rom wurden am 25. März 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet, die den Grundstein der Europäischen Kommis- Dante: „Der eine wartet, daß die den gegenüber den Ländern. Echte, sion gelegt haben. Foto: Kristin Bäßler Zeit sich wandelt. Der andere packt umfassende Subsidiarität ist etwas sie kräftig an und handelt.“ Victor ganz anderes. Sie hat mit einem euro- hängt davon ab, dass wir das verin- sind heute gleichberechtigte, alte ritorialer Basis, zivilgesellschaftliche Hugo setzt noch eins drauf: „Nichts päischen Menschenbild zu tun, dem nerlichen. Die Schweiz kann uns ein Grenzen überschreitende Arenen Gruppen also und möglicherweise ist so mächtig wie eine Idee, deren Grundsatz, dass die Gesellschaft von Vorbild sein. gesellschaftlicher Interaktion. Was auch Unternehmungen im Markt, Zeit gekommen ist.“ den Menschen ausgeht, von diesen Ein weiteres ist die freie Wahl der Loy- in welcher Arena verhandelt und so sich diese als soziale Organis- Die territoriale Idee, deren Zeit her zu begreifen und zu gestalten alitäten. Nicht jeder muss ein 100- ausgeführt wird, ist für die Zukunft men und nicht nur als Instrumente gekommen ist, heißt für uns Europa. ist – und nicht etwa umgekehrt, wie prozentiger Europäer werden. Jedem noch nicht bestimmt. der Gewinnoptimierung definie- Europa wird schlechtgeredet, weil es uns Theoretiker über 200 Jahre steht das Recht auf ein eigenes Loy- Der Staat des 20. Jahrhunderts ren. Netzwerke zwischen Gemein- unsere Politik alles Unbeliebte dorthin weismachen wollten. Überall und alitätsmix innerhalb einer Gesamt- wird, so meine Prognose, im 21. von schaften werden entstehen, um ein abschiebt. Angeblich kommen 80 Pro- immer wieder ist daher zu fragen, ob heit territorialer Zuordnungen zu. der Bühne gehen. Die Nation der Problem anzupacken und vergehen, zent der europäischen Verordnungen, ein Problem nicht auf kleinerer Ebene Sich überwiegend als Münchner zu „Moderne“ wird allenfalls für die wenn es gelöst erscheint. Eine Kul- über die dann in Deutschland so viele gelöst werden kann. fühlen, und im Übrigen als Bayer, ist kleineren eine politische Realität tur der komplexen Strukturen wird Krokodilstränen vergossen werden, als Zu den Eckdaten gehört auch die An- legitim, solange deutsche und eu- bleiben, für die größeren aber weit- am ehesten die Leitkultur der Zu- Vorschläge aus Deutschland. In Wirk- erkennung der Verschiedenheit. Wir ropäische Loyalität nicht in Zweifel hin relativiert werden. Ein Europa kunft sein. Dieser Kultur schulden lichkeit aber eröffnet unser, auf der streben eben nicht den Einheitsstaat gezogen werden. der 50 Regionen ist kein unattrak- wir Loyalität. Eine erschreckende Akropolis, dem Kapitol und Golgata an, wollen nicht die gleiche Sprache Und schließlich: Nicht alles, tives Modell. Das Bedürfnis für Vorstellung? Nein! Wir müssen nur gebautes Europa, eine wunderbare sprechen, nicht der gleichen Religi- was sich der moderne Verfassungs-, Gemeinschaft wird leben. Regional lernen, damit umzugehen. kulturelle Perspektive. Wir sind her- onsgemeinschaft zugehören, nicht Gewährleistungs- oder Wohlfahrts- und lokal ausdifferenzierte Gemein- ausgefordert, das Gemeinsame und gleiche Gesetze, gleiche Schulen, staat an Aufgaben zugemessen schaften werden, bisweilen in neuen Der Verfasser ist Direktor des Mae- das Verschiedene, auch das bisher kurz, es nicht überall gleich haben. hat, wird staatliche Aufgabe blei- Grenzen, an Bedeutung zunehmen, cenata Instituts an der Humboldt Trennende, für eine europäische Tra- Die Gestaltung unserer Ordnung ben. Markt und Zivilgesellschaft auch solche auf personaler, nicht ter- Universität zu Berlin Inhaltsverzeichnis

Editorial Kulturpolitische Diskussion auf der Mittlerorganisationen unter Die Ballade und das Kultur und Kirche Strecke geblieben Zugzwang Boulevard-Blatt Beton Von Robert Habeck 6 Von Ronald Grätz 12 Von Lukrezia Jochimsen 20 Das kulturpolitische Schweigen der Von Olaf Zimmermann 1 Kirchen Bedrohte Kulturlandschaft Goethes Welt Zusammengebrochene Von Olaf Zimmermann 28 Leitartikel Von Anke Spoorendonk 6 Sekretärinnen Ein Haus ohne Mauern Von Beate Kayser 21 Kirche. Macht. Kultur Die Zukunft unserer Staaten Einsparungen in Schleswig-Holstein Von Aya Bach 13 Von Hannes Langbein 28 Von Rupert Graf Strachwitz 1 Von Wilfried Wengler 6 Künstlerleben Innenleben Kulturelles Leben Kultur-Mensch Gegen Rasenmäherkürzungen Zwischen Profession und Von Hans Müller 6 Weggabelung Anfängergeist Die Freizeitrevoluzzer Klaus Wagenbach 1 Von Olaf Zimmermann 13 Ein Gespräch zwischen den Von Georg Ruppelt 29 Kulturelle Bildung geschont? Künstlern Irene Fastner und Kulturfinanzierung Von Guido Froese 7 Internet-Enquete Romen Banerjee 22 Zur Diskussion gestellt Kulturelle Teilhabe ist gelebte Jetzt geht es zur Sache – Kulturpolitik Statement der Kulturelle Demokratie in Schleswig-Holstein unter dem Sachverständigen-Mitglieder 14 Der Wert der Wahl im Von Olaf Zimmermann und Dogma des Sparens Vielfalt Medienzeitalter Gabriele Schulz 3 Von Heinz-Werner Jezewski 7 Urheberrecht Werkzeugkasten „Kulturelle Vielfalt Von 30 gestalten“ Kulturfinanzkrise: Gemeinsamer Appell der Bundesar- Der Urheber steht im Von Christine M. Merkel 23 Portrait beitsgemeinschaft der Freien Wohl- Mittelpunkt Schleswig-Holstein fahrtspflege, des Deutschen Kultur- Von Gabriele Schulz 16 Kulturelle Intelligentes Sparen als Rettung vor rates und des Deutschen Olympischen dem Rasenmäher Bildung Gefährliche Kürzungen im Sportbundes an die Mitglieder der puk-Preis Andreas Kolb portraitiert Siegmund Kulturetat Gemeindefinanzkommission 7 Leseförderung gut vernetzt Ehrmann 31 Von Rolf Teucher 4 Die Verleihung des Von Andreas Müller 24 Berliner stadtSchloss puk-Journalistenpreises Bundestags- Auch Volkshochschulen in der Von Max Fuchs 17 Durch Kultur mitten im Schusslinie Weder Luxusprojekt noch Leben! drucksachen 31 Von Martin Lätzel 4 restaurative Politik Redaktion „Investigative Recherche“ Von Angela Meyenburg 24 Von Wolfgang Thierse 8 der SZ ausgezeichnet Kurz-Schluss Wo sparen und wo nicht Von Wolfgang Börnsen 17 Vielfalt ist deutsche Realität Von Deborah Di Meglio 4 Mommert meint Von Kristin Bäßler 25 Wie ich einmal beim Zukunftsgipfel puk-Preis in der Kategorie der Kanzlerin einen Blick in die Zu- Sorge um musikalische Jetzt geht’s ans Eingemachte Fernsehen Kulturlandschaft kunft werfen durfte Basis Von Wilfried Mommert 8 Von Siegmund Ehrmann 18 Von Theo Geißler 32 Von Klaus Volker Mader 4 Deutschland Europa Junge Redaktion Beilage Reduktion und Kooperation Von Martin Kotynek 18 Kreative Impulse und Von Jutta Kürtz 5 Europa eine Seele geben lebendige Tradition Interkultur Von 9 Die Angst des Redakteurs Von Barbara Rüschoff-Thale 26 Vielfalt als Reichtum? Wirtschaftlichkeit und Kultur vor der Kultursendung Von Max Fuchs 1 Von Kirstin Funke 5 Wandel von der Wirtschafts- zur Von Claudia & Günter Wallbrecht 19 Internetplattform Kulturgemeinschaft arTÜthek Popkultur und ihre Diversifikation Positive Entwicklung wird Von Doris Pack 10 „...ich schicke Dir 155 Küsse und 398 Von Wolfgang Sannwald 26 Von Udo Dahmen 2 abgeschnitten Grüße“ Von Natalie Heinrich 5 Internationales Von 19 Luther 2017 Zwischenraum für Kunst & Migration Von Olga Drossou 3 Destabilisierte Klassik, abgeschaffter Kulturelle Bildung hat Fahrt Der Dichterin Ilse Weber wieder eine Gegenwartsbedeutung der Jazz aufgenommen Stimme geben Losungen Gleichberechtigte Partnerschaft Von Rolf Beck 6 Von Max Fuchs 11 Von Ulrike Migdal 20 Von Hermann Gröhe 27 Von Irene Krug 4 Kulturfinanzierung politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 

Kulturelle Teilhabe ist gelebte Demokratie Einsparungen in den Kulturhaushalten müssen die Konvention Kulturelle Vielfalt berücksichtigen • Von Olaf Zimmermann und Gabriele Schulz Vor gut einem Jahr, im Juni 2009, ha- kulturellen Bereiche sind miteinander im Land Schleswig-Holstein schon ben Bundesrat und Deutscher Bun- verwoben. Veränderungen in dem im Vorfeld nicht gelungen ist, sollte destag die sogenannte Schulden- einen Bereich ziehen Auswirkungen zumindest jetzt von den Entschei- bremse im Grundgesetz verankert. in anderen nach sich. In diesem dungsträgern verlangt werden, dass Der Bund darf ab dem Jahr 2016 nur Zusammenhang gilt es auch noch offengelegt wird, warum welche Prio- noch Kredite bis zu 0,35 Prozent des einmal zu unterstreichen, dass bei ritäten in der Kulturförderung gesetzt Bruttoinlandsprodukts aufnehmen, aller Wertschätzung für die kulturelle werden. Die Konvention Kulturelle die Länder dürfen ab dem Jahr 2020 Bildung und deren Bedeutung für die Vielfalt ist nicht nur ein Blatt Papier, keine Schulden mehr machen. Die Weitergabe kultureller Traditionen, die sie ist geltendes Recht in Deutschland Länder Berlin, , Saarland, Heranführung an Kunst und Kultur und gilt selbstverständlich auch in Sachsen-Anhalt und Schleswig- sowie die Ausbildung junger Künstler, Schleswig-Holstein. Ihre Einhaltung Holstein, die vor einer besonders die individuelle Künstlerförderung kann eingeklagt werden. schwierigen Haushaltslage stehen, und andere Förderbereiche nicht zu sollen in den Jahren 2011 bis 2019 kurz kommen dürfen. Kulturelle Bil- Zusammenhalt Konsolidierungshilfen erhalten. Die dung ist von zentraler Bedeutung, sie Verankerung der Schuldenbremse kann und darf aber nicht das alleinige macht stark im Grundgesetz, die im Rahmen der Ziel der Kulturpolitik sein. Kulturpoli- Dass Zusammenhalt stärkt ist eine Föderalismusreform II verabschie- tik, die nicht mehr die Künste in den Binsenweisheit. Sie ist dennoch ernst det wurde, war nach der Föderalis- Blick nimmt, die darauf verzichtet, zu nehmen. Die erwähnte Kulturent- musreform I, man erinnere sich, es gerade in jene künstlerischen Aus- wicklungsplanung setzt letztlich auch ging damals um die Entflechtung drucksformen zu investieren, die auf die Zusammenarbeit der verschie- von Bundes- und Länderangelegen- noch nicht etabliert sind, verliert ihre denen Akteure vor Ort. heiten, das zweite Großprojekt der v.l.n.r.: Olaf Zimmermann (Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates), Michael Zukunftsfähigkeit. Der Deutsche Kulturrat ist mit dem Großen Koalition. Vesper (Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes) sowie Gerhard Ironie der Geschichte in Schles- „Gemeinsamen Appell der Bundesar- Timm (Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspfle- wig-Holstein ist, dass dem Vernehmen beitsgemeinschaft der Freien Wohl- chon vor eineinhalb Jahren hat der ge) bei der Vorstellung des Gemeinsamen Appells am 3.6.2010 in Berlin nach eine Kulturentwicklungsplanung fahrtspflege, des Deutschen Kultur- SDeutsche Kulturrat vor drohenden Foto: Verena Kurz eines externen Beraters vorliegt, aber rates und des Deutschen Olympischen Einsparungen im Kulturbereich ge- für das Sparkonzept im Kulturbereich Sportbunds an die Mitglieder der warnt und wurde belächelt. Manche Holstein. Nur die Fraktion Die Linke eingespart werden. Dabei wird als nicht genutzt wurde. Gemeindefinanzkommission“ noch wollten glauben machen, dass die Ein- stimmte dagegen. Ausgangsbasis der Kulturhaushalt einen Schritt weitergegangen. Er hat sparungen zur Haushaltskonsolidie- 2010 ohne die 10-prozentige-Einspa- Kulturelle Vielfalt schützen gezielt den Schulterschluss mit dem rung aus der Portokasse zu bezahlen Haushaltskonsolidierung á rung genommen. Sozialbereich und dem Sport gesucht. seien. Doch die Schuldenbremse ist Bei diesen Einsparungen von In den 2005 bis 2007 wurde auf der Ziel dieser drei Dachverbände ist es, nicht nur ein Versprechen, dass in der la Schleswig-Holstein durchschnittlich 30 Prozent in den bundespolitischen Ebene intensiv das Bewusstsein für die Sicherung der Zukunft keine Schulden mehr gemacht Das wenig Tröstliche zuerst: Kultur ist kommenden zwei Jahren wird es aber über die UNESCO-Konvention zum kommunalen Daseinsvorsorge noch werden sollen, die Schuldenbremse nicht das Politikfeld, in dem zuerst und aller Voraussicht nach nicht bleiben. Schutz und zur Förderung kultureller einmal zu schärfen. geht einher mit einer tiefgreifenden am meisten gespart wird. Wer mag, Zu befürchten steht, dass bei Misch- Ausdrucksformen (Konvention Kultu- Ein bisschen pathetisch aber den Sanierung der Haushalte. kann unter http://www.schleswig- finanzierungen auch die anderen relle Vielfalt) diskutiert. Manche be- Kern des Zusammenlebens in den Jetzt hat Schleswig-Holstein holstein.de/STK/DE/Schwerpunkte/ Finanzierungspartner ihre Zusagen zeichnen das von der UNESCO verab- Städten und Gemeinden treffend be- als erstes Bundesland sprichwört- Haushaltskonsolidierung/Wospa- nicht einhalten werden, so dass letzt- schiedete und innerhalb von kürzester schrieben, wird in dem Gemeinsamen lich die Hosen heruntergelassen. ren/wosparen__node.html nachlesen, lich ein Dominoeffekt entstehen Zeit von zahlreichen Mitgliedstaaten Appell dieser drei Verbände formu- Am 26.05.2010 wurde das Konzept dass angefangen von Abfindungen könnte. Auf den nachfolgenden Seiten der UNESCO ratifizierte Dokument liert: „Kulturelles, sportliches und „Schleswig-Holstein ist auf dem für Tarifbeschäftigte über Dänische stellen Kulturakteure aus Schleswig- als Magna Charta der Kulturpolitik. soziales Leben findet vor allem in den Weg. Handlungsfähigkeit erhalten Schulen, den Flughafen Kiel-Holten- Holstein dar, was die geplanten Ein- Im März 2007 wurde die Konvention Städten und Gemeinden statt. Hier – Zukunftschancen ermöglichen“ der au, Frauenberatungsstellen und Frau- sparungen für sie bedeuten. Kulturelle Vielfalt in Kraft gesetzt. ist der unmittelbare Ort der Daseins- Haushaltsstrukturkommission vorge- enhäuser, die Segelsportförderung bis Die weitere innerstaatliche Dis- vorsorge, hier leben die Menschen, stellt. Dieser Kommission gehörten an: hin zur Wohnraumförderung in zahl- Kulturentwicklungs­ kussion um die Konvention Kulturelle hier ist ihre Heimat und hier nutzen Rainer Wiegand, MdL (Finanzminister reichen Einzeletats gespart wird. Vielfalt rankte sich vor allem um die sie die sozialen Einrichtungen, die von Schleswig-Holstein), Dr. Christian Dennoch hilft dieser Umstand nur planung Frage, wie die Umsetzung erfolgen Kultur- und die Sporteinrichtungen. von Boetticher, MdL (Vorsitzender wenig, wenn es um die Sicherung der Die Enquete-Kommission des Deut- kann bzw. ob es dafür spezielle Um- Daseinsvorsorge heißt für die Bun- der CDU-Landtagsfraktion), Wolf- kulturellen Infrastruktur geht. Der Kul- schen Bundestags „Kultur in Deutsch- setzungsgesetze geben müsse. Von desarbeitsgemeinschaft der Freien gang Kubicki, MdL (Vorsitzender der turfinanzbericht 2008 (hg. vom Statis- land“ hat in ihrem Schlussbericht Seiten der Bundesregierung wurde Wohlfahrtpflege, für den Deutschen FDP-Landtagsfraktion), Tobias Koch, tischen Bundesamt) weist aus, dass im (Bundestagsdrucksache 16/7000) stets betont, dass es spezieller Um- Kulturrat und für den Deutschen MdL (Finanzpolitischer Sprecher der Jahr 2007 (Soll-Daten) die öffentliche den Ländern empfohlen, im Dis- setzungsgesetze nicht bedürfe, da Olympischen Sportbund mehr als CDU-Landtagsfraktion), Katharina Kulturförderung im Land Schleswig- kurs mit den Kommunen und freien alles, was in der Konvention Kulturelle eine Minimalversorgung. Es geht um Loedige, MdL (Finanzpolitische Spre- Holstein unter der des Jahres 1995 lag. Trägern Kulturentwicklungspläne Vielfalt steht, ohnehin schon Praxis die Möglichkeit der Teilhabe an der cherin der FDP-Landtagsfraktion). Im Jahr 2005 hatte nur noch das Saar- bzw. -konzeptionen zu erarbeiten. in Deutschland sei. Von Seiten der Gesellschaft und um Lebensqualität Beraten wurde sie vom Präsidenten land weniger Pro-Kopf für die Kultur Diese Kulturentwicklungspläne bzw. Deutschen UNESCO-Kommission für die Bürgerinnen und Bürger. des Landesrechnungshofs Dr. Aloys ausgegeben als Schleswig-Holstein -konzeptionen sollen laut Enquete- wurde im Rahmen der Bundeswei- Diese Teilhabe ist eine wesentliche Altmann. Weitere Teilnehmer waren (Pro-Kopf Ausgaben Saarland 50,1 Kommission dazu dienen, dass die ten Koalition Kulturelle Vielfalt ein Voraussetzung für gelebte Demokratie Dr. Arne Wulff (Chef der Staatskanz- Euro, Pro-Kopf-Ausgaben Schleswig- kulturpolitischen Ziele und die zu Weißbuch erarbeitet, in dem konkrete in der Gesellschaft und zur Identi- lei des Landes Schleswig-Holstein) Holstein 53,6 Euro). Kürzungen treffen deren Erreichung notwendigen Res- Handlungsempfehlungen formuliert tätsbildung. Gerade auf der lokalen und Dr. Olaf Bastian (Staatssekretär in Schleswig-Holstein also keineswegs sourcen, Mittel und Verfahren besser wurden. Ebene können die vielfältigen gesell- im Finanzministerium des Landes auf „gut genährte“ Kulturstrukturen, definiert werden. Also nicht, wie Eigentlich stellt die Finanzkrise schaftlichen Herausforderungen wie Schleswig-Holstein). die ruhig abspecken können, sondern zurzeit fast schon zynisch formuliert die Nagelprobe für die Konvention Rechtsextremismus, Gewalt und Van- Noch vor der Vorstellung der Er- auf eine kulturelle Infrastruktur, die wird „Freibier für alle“, sondern die Kulturelle Vielfalt dar. Das erste der dalismus wirksam bekämpft werden. gebnisse der Haushaltsstrukturkom- im Vergleich zu anderen mit wenig gemeinsame und solidarische Erar- genannten Ziele der Konvention Das setzt allerdings eine Identifikation mission hat der Schleswig-Holstei- Mitteln auskommen musste. beitung von kulturpolitischen Zielen Kulturelle Vielfalt ist, die Vielfalt kul- mit dem Gemeinwesen voraus.“ nische Landtag eine Schuldenbremse Noch im laufenden Haushaltsjahr und die Festlegung der Ressourcen zur tureller Ausdrucksformen zu schützen Wenn jetzt in Schleswig-Holstein in seiner Landesverfassung festgelegt. werden im Kulturbereich durch- Erreichung dieser Ziele. Dabei gilt es und zu fördern. Als fünftes Ziel wird und in der nächsten Zeit in den ande- Die Schuldenbremse soll ein Signal an schnittlich 10 Prozent eingespart. Ei- nicht ein bürokratisches Monster mit formuliert, dass die Achtung vor der ren Ländern und in den Kommunen die Geberländer sein, dass Schleswig- nige wenige werden geschont, andere Kennzahlen aufzubauen, wie Gegner Vielfalt kultureller Ausdrucksformen über die Kulturfinanzierung gespro- Holstein bis zum Jahr 2020 die Marke dafür sofort abgewickelt. Die Kultur­ der Kulturentwicklungsplanung ein- geschärft und das Bewusstsein für chen wird, geht es genau um diese Neuschuldung Null erreicht. Für die akteure wurden von Einsparungen werfen, sondern um die Vergewisse- deren Wert auf den verschiedenen Identifikation mit dem Gemeinwe- Verankerung der Schuldenbremse unvorbereitet getroffen und viele rung und Diskussion welche kulturelle Ebenen (lokal, national, international) sen. Kulturfinanzierung ist mehr als stimmten die Fraktionen von CDU, werden sie kaum auffangen können. Infrastruktur gewollt ist. Dass dabei gefördert werden soll. Und schließ- der Unterhalt von abstrakten Gebäu- SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen In den Jahren 2011 und 2012 sollen manches auf den Prüfstand muss, lich wird noch das souveräne Recht den. Es geht um die Unterstützung und SSW im Landtag von Schleswig- jeweils 15 Prozent im Kulturbereich ist selbstredend. Der demografische der Staaten bekräftigt, Maßnahmen und Ermöglichung zeitgenössischer Wandel, eine veränderte Altersstruk- zum Schutz der kulturellen Vielfalt zu Kunst, es geht um die Bewahrung tur der Bevölkerung, eine geänderte ergreifen. des kulturellen Erbes, es geht um die Bevölkerungszusammensetzung und Jetzt ist spätestens der Zeitpunkt kulturelle Bildung, es geht um einen nicht zuletzt die Binnenwanderung gekommen, an dem Politik zeigen zentralen Markt für kulturelle Güter Kulturfinanzierung machen es notwendig, über die vor- muss, dass sie die ratifizierte Konven- und Dienstleistungen, es geht um Bereits seit anderthalb Jahren ist das Kulturbereich zu erstreiten, so muss der handene kulturelle Infrastruktur zu tion Kulturelle Vielfalt ernst nimmt attraktive kulturtouristische Orte, es Thema Kulturfinanzierung ein Dauer- schleswig-holsteinische Kulturminister streiten und über deren Weiterent- und kulturpolitische Maßnahmen geht um das bürgerschaftliche Enga- brenner in dieser Zeitung. Angefangen Eckhard Klug seinen Beitrag zur Sanie- wicklung gemeinsam nachzudenken. zur Vielfaltsicherung ergreift. Einspa- gement von Menschen in und für die von den Auswirkungen der Finanzkrise rung des schleswig-holsteinischen Lan- Dieses gemeinsame Nachdenken rungen in den Kulturhaushalten müs- Kultur und es geht nicht zuletzt um auf die Stiftungen über die Debatten deshaushalts leisten. In dieser Ausgabe kann für einige durchaus schmerzhaft sen den Grundsätzen der Konvention die Frage, in welcher Gesellschaft wir zu möglichen Kürzungen bis hin zu kommen Vertreter von Kulturverbänden sein, denn es gälte, dass jede einzelne Kulturelle Vielfalt folgen. leben wollen. den geplanten Kürzungen in Schles- und Institutionen in Schleswig-Holstein Institution auf den Tisch legen müsste, Damit schließt sich wieder der Es kann daher der künftigen Ge­ wig-Holstein, die in dieser Ausgabe im zu Wort, die kulturpolitischen Sprecher wen sie erreicht, wie viele Ressourcen Kreis zur Kulturentwicklungsplanung. staltung der Kulturfinanzierung gar Mittelpunkt stehen. Schleswig-Holstein der im schleswig-holsteinischen Land- sie dafür benötigt und welche Zu- Eine Verständigung über den Erhalt nicht genug Aufmerksamkeit ge- kommt dabei die durchaus zweifelhafte tag vertretenen Parteien positionieren kunftsperspektiven gesehen werden. und die Förderung der kulturellen schenkt werden. Rolle zu, Vorreiter in der Spardiskussion sich. Olaf Zimmermann und Gabriele Kulturentwicklungsplanung ist Vielfalt kann besser gelingen, wenn im Kulturbereich zu sein. Gelang es dem Schulz ordnen die Sparvorschläge in sehr vielschichtig und anspruchsvoll. zuvor ein Bewusstsein dafür besteht, Olaf Zimmermann ist Geschäfts- Kulturstaatsminister Bernd Neumann einen größeren Kontext. Sie muss sowohl die Künste, die kul- was unter kultureller Vielfalt konkret führer des Deutschen Kulturrates. bei der Verabschiedung des Sparpa- turelle Bildung, die Kulturwirtschaft, vor Ort bzw. im Land verstanden Gabriele Schulz ist Stellvertretende kets für den Bund, Ausnahmen für den Die Redaktion die Nutzer vor Ort als auch den Kultur- wird und wie diese kulturelle Vielfalt Geschäftsführerin des Deutschen tourismus in den Blick nehmen. Alle gestärkt werden kann. Wenn dieses Kulturrates KuKullturfinanziturfinanziturfinanzKriseerungrunge: Schleswig-Holstein politikpolitik undund kulturkultur · • Juli Juli – –August August 2010 2010 · •Seite Seite  

Gefährliche Kürzungen im Kulturetat Kultur hat einen schweren Stand im Landeshaushalt von Schleswig-Holstein • Von Rolf Teucher Das Land Schleswig-Holstein ist arm und muss sparen. Die schwarz-gelbe Regierung unter Ministerpräsident hat sich des- halb zunächst einmal selbst bedient: 7 Minister, 10 Staatssekretäre und dazu noch eine ganze Riege von hauptamtlichen Beauftragten. Wozu z.B. ein Wirtschaftsminister, dem 2 hoch bezahlte Staatssekretäre zur Seite stehen, noch einen Beauf- tragten für den Mittelstand braucht Martin Lätzel und ein Kulturminister neben seinem Foto: Landesverband der Volkshoch- Staatsekretär noch eine Beauftragte schulen Schleswig-Holsteins e.V. für Minderheiten und Kultur, bleibt den Menschen im Norden der Repu- Auch Volkshochschulen in der blik unerfindlich. Und was eigentlich Schusslinie ein Integrationsbeauftragter ne- Die allgemeine Erwachsenenbildung ben einem Beauftragten für Flücht- ressortiert in Schleswig-Holstein im lings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen Kulturetat. Mit dem Ressort stehen macht, können sich die meisten Bür- nun auch die Volkshochschulen und ger des Landes auch nicht erklären. Bildungsstätten trotz aller Beteue- Gleiches gilt für die Tatsache, dass rungen, auf keinen Fall bei der Bildung das Land zwischen den Meeren mit zu sparen, in der Schusslinie. rund 2,8 Millionen Einwohnern jetzt Mit ihrer Bildungsarbeit leisten die ein Parlament mit 95 Mitgliedern Volkshochschulen und Bildungsstätten anstelle der sonst üblichen 69 Ab- einen eminent kulturellen Beitrag für geordneten unterhalten muss. Das das Land. Insofern mag es als (zwei- durch Ausgleichs- und Überhang- felhafte) Ehre gelten, in den kulturellen mandate aufgeblähte Parlament Kürzungsstrudel geraten zu sein. kostet so fast 4 Millionen Euro mehr Betroffen sind rund 150 Volkshoch- pro Jahr als bisher. schulen, von denen ein Großteil eh- renamtlich und nebenberuflich betreut enau 0,62 Prozent des Landes- wird. Hier soll der Rotstift 15 Prozent Ghaushaltes macht der Kulturetat der Zuwendung streichen. Ebenso zum aus. Und in diesen Kosten sind nicht Verband gehören die vom Land geför- nur die direkten Ausgaben für Kul- Rolf Teucher bei der Feier zu „60 Jahre Landeskulturverband Schleswig-Holstein“ Foto: Jens Hinrichsen derten Bildungsstätten. Deren angekün- turinstitutionen enthalten, sondern digte Mittelkürzung von fast 30 Prozent auch die gesamten Personalkosten Kulturausgaben aller Bundesländer beschlüsse“, so der Originalton des sikfestival wird gerupft, Kunstpreis, gefährdet ihren Fortbestand, zumindest der Landeskulturverwaltung. Schles- anzugleichen. Unternehmensverbandes, aber in Kinopreis und Kulturpreis werden ihren Bildungsauftrag. wig-Holstein ist damit, gemessen am Nach den jahrzehntelangen Kür- der Schublade des Kulturministers eingestampft, die Minderheiten Kürzungen der Landesförderung bedeu- Anteil der öffentlichen Ausgaben zungen sind inzwischen teilweise verschwunden. werden geschröpft und viele Kultur- ten höhere Kosten für die Kommunen, für Kultur, Schlusslicht in der Bun- massive Engpässe und Einbußen Der Landeskulturverband hat sich verbände und -institutionen geraten Einschränkung des Angebotes und desrepublik. Die negativen Zahlen im Leistungsangebot entstanden. von Anfang an bereit erklärt, an einem in akute Existenznot. Erhöhung der Gebühren. ziehen sich dabei durch alle Sparten. Die Kürzungen haben zur Frustra- Kulturentwicklungsplan mitzuarbei- Dabei geht es im Kulturbereich In jüngster Zeit grassiert im Land der So werden in Schleswig-Holstein tion oder gar Resignation bei ehren- ten. Außerdem hat er den Vorschlag „nur“ um ein Sparvolumen von rund Begriff der kulturellen Infrastruktur. Er zum Beispiel pro Jahr nur rund 22 amtlich engagierten Kräften in der unterbreitet, einen Landeskulturfonds einer Million Euro. Der Landeshaus- macht deutlich, dass wir es bei Kultur Euro öffentliche Mittel pro Kopf für kulturellen Breite geführt und die aufzulegen, aus dem gefährdete Kul- halt muss aber um jährlich 125 Mil- und Bildungseinrichtungen nicht allein Theater und Musik aufgewendet, wirtschaftliche Situation der professi- turbetriebe kurzfristige Unterstützung lionen Euro entlastet werden, wenn mit lässlichen Freizeitangeboten zu tun während es im Mittel aller Bundes- onell arbeitenden Kulturschaffenden erhalten könnten. Nichts aber scheint das Land denn sein selbst gestecktes haben, sondern mit einer tragenden länder mehr als 1 ½ mal so viel sind. verschlechtert. die Regierungsfraktionen davon ab- Ziel erreichen will, ab dem Jahr 2020 Struktur für das Land. Für Museen stehen knapp 9,- Euro Hinsichtlich neuer Anforde- halten zu können, Schleswig-Holstein auf Neuverschuldung gänzlich zu Kultur und Bildung machen ein Land zum pro Kopf und Jahr zur Verfügung, im rungen und Aufgaben im Euro- kulturell aufzugeben. Bei einer sol- verzichten. Gemeinwesen. Kulturelle Infrastruktur Bundesdurchschnitt sind es knapp päischen Integrationsprozess, im chen Tendenz müsste die Regierung Mit der Kürzung des Kulturhaus- hält Einrichtungen vor, die Selbstreflexion 15,- Euro. Und während für die sons- Bereich der Kinder- und Jugendkul- eigentlich konsequent sein und den haltes kann man den Haushalt des und Expression der Bürger ermöglichen. tige Kulturpflege und Heimatkultur tur, im grenzüberschreitenden und Bund bitten, die Kultur- und Bildungs- Landes nicht retten, aber man zer- Dazu gehören Volkshochschulen und Bil- in Deutschland durchschnittlich interkulturellem Dialog, hinsichtlich aufgaben zu übernehmen. schlägt jahrzehntelang gewachsene dungsstätten, überdies in der Verfassung rund 8,- Euro ausgegeben werden, des steigenden Interesses von Ju- So, wie es derzeit im nördlichen Strukturen und demotiviert viele in der Schleswig-Holsteins verankert. Das ist sind es in Schleswig-Holstein gerade gendlichen an kultureller Bildung Bundesland läuft, kann es jedenfalls Kultur engagierte haupt- und vor allem kein Luxus. Das ist Substanz. einmal 3,90 Euro. und den weiter sinkenden Ausgaben nicht weitergehen: Der Bestand ehrenamtlich tätige Menschen. Martin Lätzel, Verbandsdirektor des Trotz dieser Negativliste soll aber müsste das Land endlich strategische der öffentlichen Theater ist gefähr- Schleswig-Holstein ist dabei, sich Landesverbandes der Volkshoch- nun ausgerechnet bei der Kultur Entscheidungen auf der Grundlage det, die öffentlichen Büchereien selbst aufzugeben. schulen Schleswig-Holsteins noch einmal kräftig gekürzt werden. einer Kulturentwicklungsplanung schränken ihre Leistungen ein, die Eine sogenannte Haushaltsstruk- treffen. Eine solche Entwicklungs- Erwachsenenbildungsstätten und Der Verfasser ist seit 2003 1. Vorsit- turkommission hat vorgeschlagen, planung ist zwar eingeleitet, vor dem Volkshochschulen nagen am Hun- zender des Landeskulturverbandes nach einer bereits in diesem Jahr Hintergrund der „mutigen Kürzungs- gertuch, das Schleswig-Holstein Mu- Schleswig-Holstein e.V. durchgesetzten 10 %igen Kürzung bei vielen Vereinen und Verbänden in den Jahren 2011 und 2012 das Schlacht- messer noch einmal anzusetzen und die Fördermittel jeweils noch einmal Wo sparen und wo nicht um 15 % zu beschneiden. Für viele Einsparungen im Kulturbereich in Schleswig-Holstein • Von Deborah Di Meglio Kulturvereine und -institutionen be- deutet dies eine Kürzung der öffent- Der Bundesverband Bildender Künst- · Vertretung der beruflichen Inter- Stellen in berufsspezifischen Ange- lichen Fördermittel innerhalb von ler Schleswig-Holstein (BBK-SH) essen der Künstler Schleswig-Hol- legenheiten leistet. Die Entwicklung knapp 3 Jahren um bis zu 40 %. Da setzt sich für die Verbesserung der steins. und Durchführung künstlerischer wird dann der Kulturminister schon gesellschaftlichen Rahmenbedin- Es ist ein Verband, der die Interes- Programme wird unterstützt. Ein ganz euphorisch, wenn er bemerkt, gungen auf künstlerischem, publizis- sensvertretung und Öffentlichkeits- Schwerpunkt dabei ist die Förderung dass es ja nicht alle Kulturinstituti- tischem, wirtschaftlichem, sozialem arbeit für die Künstlerinnen und der ästhetischen Bildung bei Kindern, onen gleichermaßen treffen wird. und arbeitsrechtlichem Gebiet für Künstler gegenüber öffentlichen Jugendlichen und Erwachsenen Einige würden ja „nur“ um insgesamt die professionellen Künstlerinnen Die institutionelle Forderung, die 15 Prozent beschnitten, andere sogar und Künstler in Schleswig-Holstein wir für diese Arbeit bisher vom Land Klaus Volker Mader Foto: privat „nur gedeckelt“. ein. Schleswig-Holstein erhielten, deckt So sollen die drei öffentlichen ungefähr die Hälfte der Kosten ab. Die Sorge um musikalische Basis Mehrspartentheater zwar keine no- n den letzten 50 Jahren hat der BBK- Gegenfinanzierung erfolgt durch Mit- Der Landesmusikrat Schleswig-Holstein minalen Kürzungen hinnehmen, aber ISH sein Angebot gezielt entwickelt, gliederbeiträge und Sponsorengelder. sorgt sich um die musikalische Basis wie diese mit ihren rund 90 Prozent erweitert und den gesellschaftlichen Jetzt erwarten wir in den nächsten des Landes. Personalkosten auf Dauer mit li- Bedingungen angepasst. 3 Jahren eine Kürzung von 30% der Das Land Schleswig-Holstein ist pleite. mitierten Zuschüssen auskommen Die Arbeit des BBK LV SH richtet Landeszuschüsse. So hat die Regierung den schier aus- sollen, wenn z.B. Tariferhöhungen sich insbesondere auf folgende Ziele: Da die Finanzplanung ohnehin sichtslosen Kampf gegen das Defizit anstehen, scheint die Politik nicht · Förderung der professionellen sehr knapp ausgelegt war, stellt sich aufgenommen. Eine der ersten Maß- zu interessieren. Gleiches gilt für die künstlerischen Kreativität, die Frage, wo Einsparungen vorge- nahmen betrifft die Kulturförderung mit öffentlichen Bibliotheken. · Hilfe für Berufsanfänger, nommen werden können. Es muss einer Reduzierung von 10 Prozent in die- Die Mitglieder des Landeskul- · Kooperation mit Künstlern und das Angebot in reduzierter Form sem Jahr und jeweils 15 Prozent in den turverbandes haben deshalb die Künstlerinnen aus dem internatio- stattfinden und Teile werden ganz nächsten beiden Jahren. Schon jetzt Landesregierung aufgefordert, die nalen Ostseeraum, wegfallen. Es kann nur noch das kann man sich ausrechnen, wie vieler Kürzungen im laufenden Kultur- · Kooperation mit anderen Kulturins- Kürzungen es noch bedarf, um daraus haushalt zurück zu nehmen und sich titutionen, auch Sparten übergrei- ein Nullsummenspiel zu machen. u mittelfristig an den Durchschnitt der fend, Deborah di Melio Foto: F. Stubenrauch Weiter auf Seite 5 KuKullturfinanziturfinanziturfinanzKriseerungrunge: Schleswig-Holstein politikpolitik undund kulturkultur · • Juli Juli – –August August 2010 2010 · Seite• Seite  

· Die Landesschau, die seit 50 Jahren sehr geringem Umfang stattfinden Service, Information und Beratung u Mit nur 1,15 Mio. Euro unterstützt Fortsetzung von Seite 4 in den Museen des Landes Schles- können. für Mitglieder und Kunstinteressierte das Land die musikalische Basisver- wig-Holsteins präsentiert wird und · Die außerordentlich erfolgreiche reduziert sich damit deutlich. sorgung, die von den Musikverbänden Minimalangebot gehalten werden, einen Überblick über die neuen Kunstmesse, die alle 2 Jahre mit 200 Unsere vielfältigen Ausstellungs- geleistet wird. Diese betreiben und or- um die Interessen der Künstlerinnen Arbeiten und Entwicklungen von Künstlerinnen und Künstlern statt- aktivitäten und unser Engagement ganisieren u.a. 21 Musikschulen, Lan- und Künstler zu vertreten und ein Kunstschaffenden der Region gibt, findet, kann nicht mehr organisiert sind nicht nur wichtig für die Künst- deswettbewerbe von „Jugend musiziert“ Sprachrohr in der Gesellschaft zu kann nur noch alle zwei Jahre statt- werden. Hier war der Ort, an dem lerschaft in unserem nördlichsten bis Landesorchesterwettbewerb, die sein. Kunstpädagogische Angebote finden. immer ein sehr fruchtbarer Dialog Bundesland, sondern strahlen aus Landesjugendensembles vom Landes- und Ausstellungen werden weniger · Der Landesschaupreisträger wird zwischen Kunstinteressierten, Käu- in die anderen Bundesländer, nach jugendorchester bis Landesjugendkorps und geringerem Umfang stattfinden. keine finanzielle Unterstützung für fern und Künstlern erfolgte. Skandinavien und in den Raum des der Spielleute, sowie diverse Kurse, Das über Jahre entwickelte Programm seine Ausstellung erhalten, ein Kata- · Das Programm im Brunswiker Pavilli- Mare Baltikum. Arbeitsphasen und Fortbildungen. würde auf ein Minimum schrumpfen log kann nicht gedruckt werden. on, Geschäftsstelle und Ausstellungs- Die Vielzahl von Aufgaben ließ sich bereits und an Präsens in der Gesellschaft · Die Austauschprogramme und Aus- fläche des BBKSH insgesamt wird auf Die Verfasserin ist Vorsitzende des in der Vergangenheit nur mit ausge- und Attraktivität verlieren. stellungen mit den Kunstschaffen- 3 bis 6 Ausstellungen reduziert wer- Bundesverband Bildender prägtem Kostenbewusstsein und großem Konkrete Beispiele der Einspa- den der skandinavischen Nachbar- den und die Geschäftszeiten des BBK Künstler Landesverband zusätzlichen ehrenamtlichen Engagement rungen könnten sein: länder werden wegfallen oder nur in SH werden drastisch gekürzt werden. Schleswig-Holstein realisieren. Reelle Einsparmöglichkeiten gibt es seit Jahren nicht mehr. Auch das ehrenamtliche Engagement, das in der Vergangenheit bereits hemmungslos ausgenutzt worden ist, stößt unter diesen Reduktion und Kooperation Bedingung an seine Grenzen. Heimat- und Kulturpolitik mitgestalten: der Schleswig-Holsteinische Heimatbund e.V. • Von Jutta Kürtz Betrachtet man den Gesamthaushalt des Landes, so beträgt der Umfang der Wo Heimat drauf steht, da stecken musikalischen Basisförderung weniger wir drin. So formulieren wir es locker. als 0,01 Prozent. Mit Kürzungen in- Und wir sagen auch: HEIMAT wird bei nerhalb dieses geringen Anteils ist kein uns groß geschrieben. Haushalt zu sanieren. Im Gegenteil, man wird Strukturen, die einmal zerschlagen ir – das ist der Schleswig-Hol- worden sind, irgendwann mit großem Auf- Wsteinische Heimatbund e.V. wand teuer wieder aufbauen müssen. (SHHB), Landesverband im nörd- Es ist deshalb an der Zeit, sich bewusst lichsten Bundesland, 1947 (neu) zu machen, welche für die Kultur ne- gegründet mit dem Ziel, die Hei- gativen Folgen im Einzelnen mit den mat- und Kulturpolitik des Landes Kürzungen verbunden sind, auch und mitzugestalten, auch im nationalen gerade bei den kleineren Zuwendungs- und europäischen Rahmen. empfängern. Wir hoffen deshalb, dass Kinder, Jugendliche und Erwach- in diesem Sinne eine Kosten-Nutzen- sene werden auf den Gebieten von Rechnung für die Musikförderung Kultur, Umwelt und Geschichte aufgestellt wird aufgrund derer diese in weitergebildet. Landeskunde und Zukunft von weiteren Kürzungen ausge- Heimatkultur – von der niederdeut- nommen wird. schen und friesischen Sprache bis Klaus Volker Mader, Präsident des zu Natur- und Umweltschutz-Auf- Landesmusikrates gaben sind die Schwerpunkte. Die Schleswig-Holstein e.V. deutschen Minderheiten werden unterstützt, ein Jugendverband und der Landestrachtenverband zentral geführt. Durch kompetente wissen- schaftlich ausgebildete Referenten und durch Fachausschüsse werden die rund 50.000 Einzelmitglieder in weit über 300 Mitgliedseinrichtungen aus den Bereichen Kultur, Natur und Der große Schleswig-Holstein- Tag Foto: Tim Hahn Umwelt, Heimat, Trachten und Volks- tanz, Bildung und Wissenschaft, Sozi- Aufgaben. Da Mitgliedsbeiträge – ein unverwechselbares Landesfest, dem ganzen Land waren bei dem ales und Jugend – sowie Gemeinden nicht erhöht werden können, Spon- das alle zwei Jahre auf acht Themen- großen Festumzug während des und Kreise – betreut. Landesweite sorengelder zunehmend schwer meilen und in rund 200 Pagodenzel- Schleswig-Holstein-Tages dabei! Nur Wettbewerbe (Schölers leest Platt, einzuwerben sind, wird die Redukti- ten auf beeindruckende Weise die wenige Tage zuvor allerdings erfuhr Knick- und Alleen-Wettbewerbe, on der Landesmittel zur Reduktion vielseitige landesweite ehrenamt- der SHHB auf medialem Wege, dass Umweltfreundliche Gemeinde, Me- der Dienstleistungen, auch für das liche Arbeit präsentiert und rund auch der Landeszuschuss für den dienpreis u.a.), eine Zeitschrift und Land, führen. Eine Veränderung 300.000 Besucher aus ganz Schles- Schleswig-Holstein-Tag – jährlich vor allem der Schleswig-Holstein-Tag des Profils und der Strukturen, eine wig-Holstein zusammenbringt. EURO 75.000 – komplett gestrichen sind Markenzeichen. Verkleinerung des Portfolios und Traditionell ein Schaufenster des wird. Von dem Ministerpräsidenten, Ein Mix aus Beiträgen, Spenden Kooperationen mit anderen Trägern Landes. Rund 2.300 Teilnehmer aus der dieses professionell gestaltete Natalie Heinrich Foto: Jörn Knüppel Sponsoring und einem institutio- sind als Maßnahmen geplant. fast 90 Vereinen und Verbänden, Mu- Fest glanzvoll eröffnete und beglei- nellen Landeszuschuss, sowie einem Ironie der Situation: bei strah- sikgruppen und Spielmannszügen, tete... Positive Entwicklung wird projektbezogenen Zuschuss – und lendem Wetter feierte der SHHB in Gilden, Trachtengruppen und Schüt- abgeschnitten ein umfangreicher, wahrhaft unbe- Rendsburg dieser Tage den seit 1978 zenvereinen, Karnevalsvereinen, aus Die Verfasserin ist Journalistin und Aufgrund der aktuellen Kürzungen, die zahlbarer ehrenamtlicher Einsatz, vom Ministerpräsidenten in Auftrag Kirche, Schule und Jugendgruppen, Autorin, Landesvorsitzende des teilweise bereits in diesem Jahr erfolgt landesweit und in allen Gremien des gegebenen Schleswig-Holstein-Tag Einrichtungen und Institutionen aus SHHB sind, mussten wir unsere selbst organi- Landesverbandes – machen diese sierten Kulturveranstaltungen in Salzau Arbeit möglich. zum Sommer diesen Jahres einstellen. Die seit Jahren immer geringer Dieser Schritt war leider auch mit perso- werdenden Landes- und Förder- nellen Konsequenzen verbunden. mittel haben den SHHB schon wie- Wirtschaftlichkeit und Kultur Die aktuellen Pläne, Salzau zu verkau- derholt zu strukturellen Verände- Nachdenken über neue Strukturen • Von Kirstin Funke fen, würde ich außerordentlich bedau- rungen gezwungen. Die aktuellen ern, da mit der Orchesterakademie des Sparmaßnahmen, die den SHHB Wenn es im politischen Diskurs um nicht-kommerziellen Kulturbetrieb Einrichtungen, die ihren Schwer- Schleswig-Holstein Musik-Festivals ein gleich mehrfach treffen (komplette Einsparungen im Kultursektor geht, abstoßen müssen. punkt in der kulturellen Bildung kulturelles Highlight mit internationaler Streichung der Landesmittel für den stellen sich stets dieselben Fragen: Die Vorschläge der Haushalts- haben, wie Musikschulen, pädago- Bedeutung in der bewährten Form nicht Schleswig-Holstein-Tag, Kürzung Darf der Staat mit seiner finanziel- strukturkommission sehen im Kul- gische Museumsarbeit und das große mehr bestehen könnte. Zudem würden der institutionellen Förderung und len und ideellen Förderung auch turbereich eine klare Schwerpunkt- Landesmuseum. Begeisterung und zahlreichen Chören, Musikgruppen und der Projektmittel) führen zu einer Wirtschaftlichkeit erwarten? Eine setzung vor: Keine Einsparungen für Interesse bei Kindern und Jugend- Jugendorchestern die kostengünstigen weiteren Kürzung der hauptamt- Wirtschaftlichkeit, die von kreativer lichen für Kultur zu wecken, ist und Übungsmöglichkeiten sowie der in- lichen Arbeitszeiten und damit der Seite mitunter als Bevormundung bleibt das vorrangige Ziel. Auch die terdisziplinäre Austausch mit anderen empfunden wird? Welche Verant- freien Theater und die nordischen Künstlern genommen. wortung trägt der Staat gegenüber Filmtage werden weiter unterstützt. Unsere Arbeit der letzten fünf Jahre hat seinen Bürgern bei der Finanzierung Etablierte Festivals, die sich größten- dazu geführt, Salzau wirtschaftlich und von Kulturprojekten? teils aus Drittmitteln finanzieren, sol- kulturell stetig weiter positiv zu entwi- len weniger Zuschüsse erhalten. Hier ckeln. Diese Entwicklung wurde auch ll diese Fragen müssen immer müssen kreative Lösungen gesucht seitens der Landesregierung außeror- Awieder neu beantwortet werden. werden, um mit weniger staatlicher dentlich begrüßt. Weitere Kürzungen für Wenn ein Bundesland, das in seinen Hilfe auszukommen. 2011 und 2012 in der avisierten Höhe Staatszielen unter anderem die För- Kultur kostet, das ist unbestritten. würde eine Fortführung dieser Arbeit derung der Kultur verankert hat, aus Doch angesichts der desaströsen unmöglich machen und Salzau, auch finanziellen Gründen kurz vor seiner Haushaltslage benötigt dieses Land in der touristischen Entwicklung, um Handlungsunfähigkeit steht, muss beides: Eine Kultur der Wirtschaft- Jahre zurückwerfen, wenn nicht sogar über neue Strukturen und Schwer- lichkeit und mehr Wirtschaftlichkeit ganz in Frage stellen. Ich hoffe für alle punkte nachgedacht werden. Die der Kultur. Kulturinteressierten in Schleswig-Hol- „Alternative“ zur Haushaltskonsoli- stein und darüber hinaus, dass dies dierung sieht düster aus: Spätestens Die Verfasserin ist Kulturpolitische nicht passieren wird. im Jahr 2020 könnte der Staat kei- Sprecherin der FDP-Fraktion Nathalie Heinrich, nerlei freiwilligen Leistungen mehr im Schleswig-Holsteinischen Geschäftsführerin des Jutta Kürtz Foto: Thea Fischer erbringen und würde den gesamten Kirstin Funke Foto: Ute Boeters Landtag Landeskulturzentrums Salzau KullturfinanziturfinanzKriserunge: Schleswig-Holstein politikpolitik undund kulturkultur · • Juli Juli – –August August 2010 2010 · •Seite Seite  

Destabilisierte Klassik, abgeschaffter Jazz Das Schleswig-Holstein-Musik Festival fürchtet um seine Zukunft • Von Rolf Beck Die öffentliche Hand hat bisher ge- meinsam mit unserem begeisterten Publikum und unseren Sponsoren und Förderern die wirtschaftliche Stabilität des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF) gewährleis- tet: Die drei wesentlichen Finanzie- rungsäulen sind die Kartenerlöse, die Spenden- und Sponsorengelder sowie der Zuschuss des Landes Schleswig-Holstein. Der Landeszu- schuss, der bislang knapp 20 Prozent Robert Habeck Foto: roberthabeck.de des Gesamtetats ausmacht, gibt un- serem Festival die Planungssicher- Kulturpolitische Diskussion auf der heit, die für einen internationalen Strecke geblieben Konzertbetrieb mit seinen langen Schleswig-Holstein ist bislang Vorletzter Planungsvorläufen unerlässlich ist. im Konzert der Bundesländer. Wir sind das Bundesland, dem seine Kultur am ine Kürzung der öffentlichen Mit- zweitwenigsten Wert war. In Kürze je- Etel bedeutet daher eine empfind- doch werden wir das Bundesland sein, liche Destabilisierung des nicht nur dem seine Kultur am wenigsten wert ist. künstlerisch überaus erfolgreichen, Es ist richtig, sich der Herausforderung sondern obendrein für das Land „Nachhaltigkeit“ auch finanzpolitisch zu Schleswig-Holstein auch gewinn- Das Orchester des Schleswig-Holstein Musik Festivals Foto: Axel Nickolaus stellen. Falsch allerdings ist willkürliches bringenden Festivals: Die öffentlichen Sparen. Das gilt im politischen Raum Gelder sind mehr als gut angelegt, wie eine repräsentative Studie des Instituts worte, die die Bedeutung des SHMF einer Kürzung des Landeszuschusses grundsätzlich, das gilt aber insbesondere für Medien- und Sozialforschung TNS für das Land Schleswig-Holstein skiz- könnte das SHMF sicherlich die kos- auch für den Bereich der Kultur. Deshalb Emnid belegt. Demnach fließt jeder zieren. Angesichts der angespannten tenintensive Flächenbespielung, die muss die kulturpolitische Diskussion Euro staatlicher Förderung fast vier Haushaltslage des Landes Schleswig- einen erheblichen kulturellen und stärker werden, anstatt schwächer. Nur, Mal zurück in die Wirtschaft Schles- Holstein hat sich das SHMF bereit wirtschaftlichen Mehrwert für Schles- wenn man weiß, welchen Begriff von wig-Holsteins. Hinzu kommt, dass das erklärt, seine selbsterwirtschaftete wig-Holstein bedeutet, in ihrer jet- Kultur man eigentlich verwendet, kann SHMF mit seinem weltweit einzigar- Risikorücklage in Höhe von mehr als zigen Form nicht mehr durchführen. man Kulturpolitik betreiben. Die kultur- tigen Schwerpunkt im pädagogischen 1,1 Millionen Euro als Solidaritäts- Entsprechendes gilt auch für das Fes- politische Diskussion ist in Deutschland Bereich – mit der Orchesterakademie, beitrag dem Land zur Verfügung zu tival JazzBaltica, das 2002 auf Wunsch und auch in Schleswig-Holstein völlig der Chorakademie und den Meister- stellen. Damit hat das Festival seinen des Landes vom SHMF übernommen auf der Strecke geblieben. In Schleswig- kursen – eine klassische Aufgabe der Sparbeitrag für die nächsten Jahre wurde. Den Zuschuss, wie geplant, ab Holstein ist das besonders bitter, weil es öffentlichen Hand übernimmt: den bereits geleistet. Eine zusätzliche 2011 komplett einzusparen, stellt die mit Björn Engholm mal einen Anlauf gab, Bildungsauftrag. Nicht zu vergessen Kürzung des Landeszuschusses wäre Zukunft dieses bedeutenden Festivals, Schleswig-Holstein kulturell zu erfassen der positive Imagefaktor, den die also mehr als ungerecht. Und mehr als das den Namen Schleswig-Holsteins und zu verändern. Heute gibt es keine Festivalakademien als charismatische unverständlich, wenn man bedenkt, weltweit Bekannt gemacht hat, in Verständigung, noch nicht einmal einen Botschafter des Landes Schleswig-Hol- dass der gesamte Kulturetat Schles- Frage. Diskurs darüber, welches Verständnis stein während ihrer internationalen wig-Holsteins weniger als 1 Prozent die Gesellschaft eigentlich von sich Konzerttourneen transportieren. des Landeshaushaltes beträgt. Die Der Verfasser ist Intendant des selbst hat. So geht dann alles drunter Kulturauftrag, Bildungsauftrag, Politik sollte Weichen stellen und nicht Schleswig-Holstein Musik Festivals und drüber. Denkmalschutz wird gegen Rolf Beck Foto: Gunter Glücklich Wirtschaft, Tourismus – vier Stich- nach Rasenmäherprinzip kürzen. Bei und der JazzBaltica Wirtschaftsinteressen ausgespielt, Kunst und Kultur begrifflich munter vermengt, kulturelle Bildung und Kulturwirtschaft gleichgesetzt. So kann keine geordnete politische Entscheidung erfolgen. So Bedrohte Kulturlandschaft arbeitet die CDU/FDP-Regierung und wirft Ein Statement des Südschleswiger Wählerverbands • Von Anke Spoorendonk in ihrer Hilflosigkeit den Rasenmäher an. Damit rasiert sie das kulturelle Leben, Aus Sicht des Südschleswiger Wäh- prägt unser Leben und bereichert es. einem niedrigen Niveau stabilisiert Materialien zum Beispiel in Schulen löst aber keine Probleme und beantwor- lerverband (SSW) ist die Kulturland- Kultur darf daher nicht nur ein Luxus und damit die notwendige Weiter- oder Vereinshäusern, gäbe es keine tet keine Fragen. Im Gegenteil, so hat schaft Schleswig-Holsteins akut der oberen Bevölkerungsschichten entwicklung der Kulturlandschaft Orte, wo Kultur gemeinsam entste- man die gleiche Situation wie vorher, nur bedroht. Dies hängt nicht nur mit sein, sondern muss als Lebensmit- in den letzten Jahren ausgebremst. hen und sich entwickeln könnte. Aus auf niedrigerem Niveau. Und nicht von den geplanten Kürzungsvorschlägen tel allen Menschen zur Verfügung Der SSW fordert seit vielen Jah- Sicht des SSW muss Kulturpolitik als der Hand zu weisen ist die These, dass der Haushaltsstrukturkommission stehen. ren eine verbesserte Förderung der Strukturpolitik begriffen werden. Es gerade in Zeiten, in denen Menschen zusammen. Schon jetzt steht das Aus kulturpolitischer Sicht kann Breitenkultur, um so ein lebendiges muss eine kulturelle Infrastruktur Einschnitte verkraften müssen, die Frage Schleswig-Holsteinische Landes- es jedoch nicht nur um die Betonung Schaffen und eine ganzheitliche Teil- geschaffen, entwickelt und langfristig nach dem Sinn und Wohin von Gesell- theater vor der Schließung der Mu- des ideellen Stellenwerts von Kultur habe aus der Mitte der Gesellschaft finanziert werden. schaft, also die K-Frage schlechthin, siksparte, viele Institutionen haben gehen. Unsere Aufgabe ist es vor zu fördern. Dies kann aus unserer mehr Raum braucht, statt weniger. in den vergangenen Jahren schon allem, entsprechende Rahmenbedin- Sicht nur über eine institutionelle Die Verfasserin ist Fraktions- Robert Habeck, Fraktionsvorsitzen- drastische Einschnitte hingenom- gungen zu schaffen, damit sich Kultur Unterstützung, also eine strukturpo- vorsitzende und Kultur- der von Bündnis 90/Die Grünen im men und weitere 10 bis 15 Prozent entwickeln kann. Gerade in der Poli- litische Ausrichtung der kulturellen politische Sprecherin des Landtag Schleswig-Holstein Kürzungen kommen von 2010 bis tik hat Kultur aber keinen einfachen Förderung erreicht werden. Ohne Südschleswiger Wählerverbands 2012 auf die kulturellen Einrich- Stellenwert. In Schleswig-Holstein das zur Verfügung-Stellen von Rah- im Schleswig-Holsteinischen tungen des Landes zu. hat sich die finanzielle Förderung auf menbedingungen wie Räumen und Landtag

ultur ist aus Sicht des SSW ein Kgesellschaftspolitisches Entwick- lungsinstrument. Durch die Erschaf- fung von Kultur und die Teilhabe an Gegen Rasenmäherkürzungen Kultur entdecken die Menschen die Von Hans Müller Gesellschaft und gestalten sie. Sie ist ein elementarer Bestandteil unserer Die Förderung der Kultur ist nach der einnahmen über die öffentlichen ohne öffentliche Zuschüsse zu arbei- gesellschaftlichen Wirklichkeit, sie Schleswig-Holsteinischen Landes- Subventionen hinaus erwirtschaften ten. Wenn das Land seine Förderung verfassung Pflichtaufgabe von Land und notfalls auch in der Lage sind, einstellen will (was oft auch einen und Kommunen, aber unser Land Rückzug der Kommunen zur Folge gibt „traditionell“ besonders wenig hat), muss mit den Betroffenen ein für Kultur aus. Deshalb müssen mehrjähriger Auslaufplan erstellt aus unserer Sicht unvermeidbare werden, um ihnen Gelegenheit zu Kürzungen die gesellschaftlichen geben, sich auf neue wirtschaftliche Folgen – besonders den Versor- Bedingungen einzustellen. gungsauftrag für die Bevölkerung Ein vom Tourismus abhängiges Wilfried Wengler, Foto: CDU-Fraktion mit bezahlbaren und erreichbaren Bundesland wie Schleswig-Holstein im Schleswig-Holsteinischen Landtag kulturellen Angeboten – mit be- muss berücksichtigen, welche Ein- rücksichtigen. Z.B. sind Kürzungen sparungen kontraproduktiv sind, weil Einsparungen in Schleswig-Holstein der Kulturarbeit der Sinti und Roma sie Einnahmeverluste auslösen, wenn Der Schuldenstand des Landes Schles- um 4.000 Euro bei einem jährlichen potentielle auswärtige Besucher sich wig-Holstein ist auf nahezu 25 Milliar- Einsparziel von 125 Mio. Euro ein für andere Ziele entscheiden. Wir wer- den Euro angewachsen. Jede Sekunde lächerlicher Betrag, treffen aber den beantragen, die bei uns ansässigen kommen 50 Euro hinzu. Wenn wir jetzt diese Minderheit hart. Minderheiten (Dänen, Friesen, Sinti nichts tun, werden sich der Schulden- und Roma) weiterhin wie bisher zu stand und damit auch die Zinsbelastung ie SPD ist gegen „Rasenmäher- fördern. binnen zehn Jahren verdoppeln. Bereits DKürzungen“ und erwartet von heute muss bei einem Steueraufkom- der Landesregierung, sorgfältig zu Der Verfasser ist Kulturpolitischer men von sechs Milliarden Euro pro Anke Spoorendonk prüfen, welche kulturellen Einrich- Hans Müller Sprecher der SPD-Fraktion im Jahr eine Milliarde allein für Zinsen u Foto: Lars Salomonsen tungen und Vereinigungen Eigen- Foto: SPD-Landtagsfraktion Schleswig-Holsteinischen Landtag KulturfinanzKrise: Schleswig-Holstein politik und kultur • Juli – August 2010 • Seite  KullturfinanziturfinanzKriserunge: Schleswig-Holstein politik und kultur · • Juli Juli – –August August 2010 2010 · Seite• Seite  

uaufgewendet werden. Diese Milliarde Euro steht für Zukunftsaufgaben nicht Kulturelle Bildung geschont? mehr zur Verfügung – nicht für Forschung, Empfindliche Kürzungen beim Nordkolleg Rendsburg • Von Guido Froese nicht für bessere Bildungschancen, nicht für Entwicklung der Infrastruktur und Die Kürzungsabsichten des Landes letztendlich auch nicht für den kulturellen treffen das Nordkolleg als Akademie Bereich. für kulturelle Bildung des Landes Wir müssen jedoch in Schleswig-Holstein Schleswig-Holstein und Sitz des die finanzielle und politische Handlungs- Hauses der Kulturverbände empfind- fähigkeit bewahren, wenn wir erreichen lich. Bereits im aktuellen Haushalts- wollen, dass unsere Kinder und Kindes- jahr ist uns bei laufendem Betrieb kinder ihre Zukunft eigenverantwortlich eine 10-prozentige Kürzung der gestalten können, ohne ausschließlich Landesförderung auferlegt worden die von uns hinterlassenen Schulden zu – für 2011 und 2012 sind jeweils 15 bedienen. Prozent angekündigt. Dieses Ziel erreichen wir jedoch nur durch umfassende und konsequente Einspa- ine wirtschaftliche Kompensation rungen, Aufgaben- und Leistungsverzicht Ewäre ohne deutliche Abstriche sowie Einnahmeverbesserungen. Die beim kulturellen Bildungsauftrag in notwendigen Kürzungen betreffen nahezu unseren Fachbereichen Musik, Spra- alle Bereiche des öffentlichen Lebens chen & Kommunikation, Literatur & – auch des kulturellen Lebens. Aber sie Medien sowie KulturWirtschaft nicht sind ohne Alternative! zu leisten. Dabei ist das Interesse an Knappere Mittel zwingen zu Schwer- kultureller Bildung ungebrochen. punktförderungen. Wir haben uns daher Die Zahl der Bildungsveranstal- für Kultureinrichtungen entschieden, die tungen am Nordkolleg, die sich in besondere Bedeutung für den Bildungs- erster Linie auch an Multiplikatoren bereich haben – etwa Musikschulen, richten, hat sich in den letzten Theater, Museen, deren Förderung drei Jahren um 50 Prozent erhöht, unangetastet bleibt. Andere wie Jazz Bal- die Teilnehmerzahl um über 60 tica, SHMF, kulturelle Verbände werden Prozent und die Eigenwirtschafts- schmerzhafte Einschnitte verkraften müs- quote um 5 Prozent auf nunmehr sen. Ich appelliere daher an die an Kultur 80 Prozent. Damit konnten die ste- Beteiligten und Interessierten, Verständ- tigen schleichenden Kürzungen der nis zu zeigen und ihre Kreativität einzu- letzten Jahre aufgefangen werden. bringen, Synergien zu heben und andere Der Wert der Landesförderung pro Finanzierungswege aufzuzeigen. Teilnehmertag ist in den vergan- Wilfried Wengler, MdL, Kulturpoli- genen 10 Jahren bereits um knapp tischer Sprecher der CDU-Fraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag

Nordkolleg Rendsburg Foto: Jochen Bock

40 Prozent abgesunken. Die aktuelle weiteren Bildungsmaßnahmen aus. Tagungshotel. Von dem Versuch der Situation lässt sich, will man nicht Personelle Konsequenzen wären Landesregierung, kulturelle Bildung das Risiko einer Schließung unserer unvermeidlich – gefährden aber die von Kürzungen weitgehend zu ver- seit knapp 170 Jahren existierenden qualitativ hochwertige Erfüllung schonen, ist beim Nordkolleg leider Bildungseinrichtung eingehen, nur des Bildungsauftrages und die Auf- noch nichts zu merken. durch drastische Maßnahmen über- enthaltsqualität unsere Gäste. Mehr stehen. Preiserhöhungen wären Gastveranstaltungen wären unver- Der Verfasser ist Direktor des unvermeidlich – schließen aber ei- meidlich – machen das Nordkolleg „Nordkolleg Rendsburg – Akademie Guido Froese Foto: Christoph Böhmke nen Teil unserer Teilnehmer von aber auf Dauer zu einem x-beliebigen für kulturelle Bildung“ Heinz-Werner Jezewski Foto: Prien

Jetzt geht es zur Sache – Kultur- politik in Schleswig-Holstein unter dem Dogma des Sparens Gemeinsamer Appell der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, „Handlungsfähigkeit erhalten – Zu- des Deutschen Kulturrates und des Deutschen Olympischen Sportbundes an die kunftschancen ermöglichen“ hat die Landesregierung ihre Sparpläne genannt. 1 Mitglieder der Gemeindefinanzkommission Genau das Gegenteil wird damit erreicht werden. Der kulturpolitische Kahlschlag Berlin, Frankfurt/Main, den 3.6. und Bürger. Diese Teilhabe ist eine · ein System zu entwickeln, damit Städ- bedingungen dafür zu sichern und zwischen Nord- und Ostsee hat schon 2010. Die Bundesarbeitsgemein- wesentliche Voraussetzung für gelebte te und Gemeinden ausreichend finan- auszubauen. Bürgerschaftliches lange vor der Verkündung der aktuellen schaft der Freien Wohlfahrtspflege, Demokratie in der Gesellschaft und ziert werden. Eine ausreichende Finan- Engagement hat eine eigene Qualität Einsparvorschläge begonnen, als am der Zusammenschluss der Spitzenver- zur Identitätsbildung. Gerade auf der zierung der Städte und Gemeinden ist und ist ein Wert an sich und darf 26.02.2010 die Abgeordneten von CDU bände der Freien Wohlfahrtspflege, der lokalen Ebene können die vielfältigen die Voraussetzung zur Sicherung der daher nicht gegen hauptamtliche und FDP einmütig die Dynamisierung Deutsche Kulturrat, der Spitzenver- gesellschaftlichen Herausforderungen kommunalen Selbstverwaltung und zur Arbeit ausgespielt werden. der Zuschüsse für das Schleswig-Hol- band der Bundeskulturverbände, und wie Rechtsextremismus, Gewalt und Erfüllung der zentralen gemeindlichen steinische Landestheater ablehnten der Deutsche Olympische Sportbund, Vandalismus wirksam bekämpft werden. Aufgaben der Daseinsvorsorge. Was 1 Die Gemeindefinanzkommission soll sich und so mindestens die Schließung der die Dachorganisation des deutschen Das setzt allerdings eine Identifikation hier scheinbar gespart wird, muss an mit dem Prüfauftrag des Koalitionsver- Musiksparte, wenn nicht gar – über das Sports, appellieren an die Mitglieder mit dem Gemeinwesen voraus. anderer Stelle teuer bezahlt werden. trag zur Neuordnung der Gemeindefi- Drama des künstlerischen Abstiegs – die nanzen befassen und hierzu Vorschläge der Kommission zur Neuordnung der Schließung des Theaters besiegelten. erarbeiten. Der Kommission gehören Gemeindefinanzen, die kommunalen Sowohl für den Sport als auch die Die Bundesarbeitsgemeinschaft der der Bundesminister der Finanzen, der Gemessen daran sind die Kürzungen, Finanzen nachhaltig auf ein sicheres Kultur und die Freie Wohlfahrtspflege Freien Wohlfahrtspflege, der Deutsche Bundesminister des Innern, der Bundes- die die Haushaltsstrukturkommission vor- Fundament zu stellen, damit das sozi- ist das bürgerschaftliche Engagement Kulturrat und der Deutsche Olympische minister für Wirtschaft und Technologie, schlägt, im Kulturbereich beinahe milde. ale, kulturelle und sportliche Leben in unverzichtbar. In vielen Vereinen und Sportbund fordern die Länder, die Städ- Vertreter des Deutschen Städtetags, Direkt trifft es vor allem das SHMF und unseren Städten und Gemeinden nicht Institutionen des Kultur-, Sport- und te und Gemeinden auf: des Deutschen Städte- und Gemeinde- die internationale Jazz-Baltica. Indirekt bundes, des Deutschen Landkreistag und durch kurzfristige Sparmaßnahmen Sozialbereiches leisten bürgerschaftlich aber bedeuten die Sparpläne das Ende der Länder an. Aufgabe der Kommission beeinträchtigt wird. Engagierte einen grundlegenden Beitrag · die kommunalen Pflichtaufgaben ist es, auf der Basis einer Bestands- der Kulturförderung im Land. Bei all den zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur nicht gegen die freiwilligen Ausgaben aufnahme Lösungsvorschläge zu den Kürzungen, die auf Kosten der Kreise und Kulturelles, sportliches und soziales und zum sozialen Frieden in unserem auszuspielen, Soziales, Kultur und drängenden Problemen des kommunalen Gemeinden stattfinden, steht schon im Leben findet vor allem in den Städten Land. Sport ausgewogen zu unterstützen. Finanzsystems zu erarbeiten und zu be- Vorhinein fest, dass auf der kommunalen und Gemeinden statt. Hier ist der Gerade auf der kommunalen Ebene werten. Dabei hat die Kommission auf Ebene die Axt an die Kulturförderung die Vermeidung von Aufkommens- und unmittelbare Ort der Daseinsvorsorge, Zivilgesellschaftliche Organisationen gibt es vielfache Verschränkungen der gelegt werden wird. Tröstlich erscheint Lastenverschiebungen zwischen dem hier leben die Menschen, hier ist ihre des Sport-, Sozial- und Kulturbereiches Bereiche, die im Zusammenspiel das Bund auf der einen und den Ländern da die Kreativität der Kommunalpolitik Heimat und hier nutzen sie die sozi- leisten einen wesentlichen Beitrag zur Leben in den Städten und Gemeinden und Kommunen auf der anderen Seite im Lande. In Lübeck und Flensburg alen Einrichtungen, die Kultur- und die Integration von Menschen mit Migra- lebenswert machen. zu achten. In diesem Zusammenhang soll beantragte DIE LINKE die Einführung Sporteinrichtungen. Daseinsvorsorge tionshintergrund und tragen damit zur auch der Ersatz der Gewerbesteuer durch eines „Kultur-Euros“, der den Hoteliers heißt für die Bundesarbeitsgemein- Teilhabe bei. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer in den Städten einen Teil der Anfang des und einen kommunalen Zuschlag auf die schaft der Freien Wohlfahrtpflege, für Freien Wohlfahrtspflege, der Deutsche Jahres geschenkten Mehrwertsteuer Einkommen- und Körperschaftsteuer mit den Deutschen Kulturrat und für den Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Kulturrat und der Deutsche Olympische einem eigenen Hebesatz geprüft werden. zum Zweck der Kulturförderung wieder Deutschen Olympischen Sportbund Freien Wohlfahrtspflege, der Deutsche Sportbund fordern den Bund, die Län- Darüber hinaus sollen Handlungsemp- abnehmen soll. Ob dies gelingt, wird die mehr als eine Minimalversorgung. Kulturrat und der Deutsche Olympische der, die Städte und Gemeinden auf: fehlungen zur Stärkung der kommunalen Zeit zeigen. Es geht um die Möglichkeit der Teil- Sportbund appellieren daher an die Mit- Selbstverwaltung erarbeitet werden, die Heinz-Werner Jezewski, MdL, habe an der Gesellschaft und um glieder der Kommission zur Neuordnung · das bürgerschaftliche Engagement ebenfalls im Koalitionsvertrag angekündi- Kulturpolitischer Sprecher der gt werden. Den Vorsitz der Kommission Lebensqualität für die Bürgerinnen der Gemeindefinanzen: weiter zu stärken und die Rahmen- hat der Bundesminister der Finanzen. Fraktion Die Linke im Schleswig- Holsteinischen Landtag Berliner Stadtschloss / Mommert meint politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 

Weder Luxusprojekt noch restaurative Politik Eine große Chance wurde von der bürgerlich-konservativen Regierung nicht begriffen • Von Wolfgang Thierse Die Absicht, den Bau des Hum- boldtforums zu verschieben, ist ein kulturpolitisches Armutszeug- nis. Die Bundesregierung hat sich gegen das größte Kulturprojekt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entschieden und baut stattdessen lieber ein paar Kilome- ter Autobahn. Um diese und keine andere Alternative geht es!

ie Entscheidung der Bundesre- Dgierung ist reine Symbolpolitik der falschen Art nach dem Motto: In so harten Zeiten, in denen wir den Menschen drastische Kürzungen zumuten müssen, können wir doch kein „Luxusprojekt“ bauen. Bei der Entscheidung gegen das Hum- boldtforum geht es aber nicht um weniger Sozialabbau oder ein paar Euro mehr für die Kommunen. Kein Theater, kein kommunales Kulturprojekt wird dadurch geret- tet. Wer dies dennoch behauptet und das eine gegen das andere ausspielt, gefährdet die gesamte Kulturfinanzierung in Deutschland. Selbst bei guter Konjunkturlage ist es schwer, für kulturelle Belange zu streiten. Wer der Strategie der Bun- desregierung kritiklos folgt und sie unterstützt, stärkt die Argumente, mit denen künftig in Deutschland Theater und Orchester geschlossen werden. Im Zweifel sind Straßen, Kitas und Schwimmbäder immer wichtiger als Orchester und Theater, denn diese kann man allzu leicht als „Luxusprojekte“ denunzieren. Eine schmerzliche Erfahrung, die kein Kulturpolitiker je vergessen sollte! Blick von Unter den Linden auf das Stadtschloss Foto: Wilhelm von Boddien/ Förderverein Berliner Stadtschloss Gerade deshalb müssen Kultur- verbände und -politiker für die Ver- Bau und Umzug des Bundesnachrich- All diese Projekte kann man ohne außereuropäische Kultur präsentiert onenhöhe wird erst ab dem Jahr wirklichung des größten deutschen tendienstes nach Berlin 1,5 Milliarden Schaden strecken oder verschieben. und so ein Dialog der Weltkulturen 2013 fällig. Bereits eingegangene Kulturprojekts streiten und für die fas- Euro. Ist hier von einer Streckung des Der Verkehr auf Deutschlands Auto- ermöglicht und inszeniert werden. Verträge müssen eingehalten oder zinierende Idee des Humboldtforums Bauvorhabens oder der Verschiebung bahnen würde trotzdem weiter rollen Eine vergleichbare Museumsland- Entschädigungen gezahlt werden. werben. Die Sparalternative heißt des Umzugs die Rede? Der Bund zahlt oder stocken, wie bisher. Man würde schaft gibt es nirgendwo sonst auf der Die Baukosten werden sich durch eben nicht Sozialabbau oder Verbes- 1,5 Milliarden Euro für das von der auch weiterhin mit der Bahn Stuttgart Welt! Das wäre eine Visitenkarte eines das Ansteigen des Baupreisindexes serung der Kommunalfinanzen. Das Mehrheit der befragten Stuttgarter erreichen. Das wären Einsparalter- modernen, auf überzeugende Weise erhöhen. Notwendige Investitionen strukturelle Haushaltsdefizit wird abgelehnte Bahnprojekt „Stuttgart 21“. nativen, die niemandem wirklich weltoffenen Deutschland! Das wäre in die Museen Dahlem müssten mit dieser Entscheidung in keinster Die Gesamtkosten belaufen sich der- weh täten. ein Ort lebendigster interkultureller getätigt werden. Allein der Verbleib Weise angegangen. Die Sparalter- zeit auf ca. 4 Milliarden Euro, Tendenz Die Entscheidung gegen das Kommunikation, der Vergangenheit der Sammlungen in Dahlem würde native sind andere Großprojekte im steigend. Wird hier diskutiert, dass Humboldt-Forum aber tut weh – all und Gegenwart, West und Ost, Nord 200 Millionen Euro kosten. Haushalt des Bundesbauministers angesichts der Haushaltskrise auf ein jenen, die das Faszinierende dieses und Süd zu verbinden vermag! Schließlich: Wie soll der För- . so umstrittenes Mammutprojekt erst Projektes begriffen haben. Es geht Darum geht es wirklich. Diese derverein des Humboldtforums 80 Der Bau des Humboldtforums einmal verzichten werden kann? Die eben nicht um ein „Luxusprojekt“ große Perspektive wird durch den Millionen Euro Spenden einwerben, kostet insgesamt 552 Millionen Euro, in Berlin umstrittene Verlängerung der oder um restaurative Politik wie die Regierungsbeschluss verdunkelt. Das wenn nicht klar ist, ob es überhaupt der Anteil des Bundes beträgt 440 Mil- Autobahn A100 um ein paar wenige Ablehner der Schlossfassade meinen. ausgerechnet eine bürgerlich-kon- gebaut wird? lionen Euro. Im Vergleich dazu kosten Kilometer kostet 430 Millionen Euro. Mit dem Bau des Humboldtforums servative Regierung die große Chance So schrumpft der Einspareffekt soll nicht die Monarchie in Deutsch- dieses Projektes nicht begriffen hat, auf ein paar geringe Kommastellen land wieder eingeführt werden. Viel- ist traurig. zusammen. Der kulturpolitische mehr soll die grandiose Idee der Ge- Der Einspareffekt ist übrigens Schaden für Deutschland aber ist brüder Humboldt vollendet werden: nebulös und wahrscheinlich sehr groß. Die Entscheidung der Bundes- Nachdem auf der Museumsinsel das gering. Für die beiden ersten Jahre regierung muss korrigiert werden! Ganze der europäischen Kultur ge- waren lediglich Planungskosten im www.conbrio.de sammelt und dargestellt ist, soll in der Bundeshaushalt eingestellt. Die Der Verfasser ist Vizepräsident des Mitte der deutschen Hauptstadt die Bausumme in dreistelliger Milli- Deutschen Bundestags Mommert meint www.conbrio.de Jetzt geht es also „ans Eingemachte“ der Stiftung Preußischer Kulturbesitz diese Leidenschaft für das Projekt in beim Sparen, jetzt wird mit harten klar machte, der auf den zig-Millionen der Vergangenheit nicht allzudeutlich Bandagen gekämpft so wie es ja schon teuren Sanierungsbedarf der Dahlemer öffentlich werden ließ. im vergangenen Jahr der Deutsche Museen der außereuropäischen Mu- Kulturrat prophezeit hatte und dafür von seen hinwies, die das Glanzstück im Ja, es stimmt schon, die gesamte manchen (vor allem Unions-) Politikern künftigen Humboldtforum bilden sollen reichhaltige deutsche Kulturlandschaft als „Kassandra“ kritisiert wurde. Jetzt und also dringend auf den Umzug in mit ihren attraktiven Museen, Theatern, soll es „knüppeldick“ in vielen Berei- die (attraktivere) historische Mitte der Opern und Orchestern wie auch die www.conbrio.de chen der Gesellschaft kommen, jetzt ist Hauptstadt warten. Bildungsförderung darf dem rücksichts- wieder die hohe Zeit auch für irrationale losen Sparhammer nicht zum Opfer Beschlüsse. Dass dabei ein in Deutsch- Es ist auch „eine wohl beispiellose kul- fallen, es geht um unsere Identität als land beispielloses Kulturprojekt wie das turelle Niederlage der Bundesrepublik“, Kulturnation Deutschland, wie es Spit- ConBrio Humboldtforum im wiederaufzubauen- sollte es bei dem jetzigen Beschluss zenpolitiker von (CDU) den Berliner Stadtschloss auch auf‘s Eis bleiben, wie der Kunstwissenschaftler bis Frank-Walter-Steinmeier (SPD) und gelegt wird, war zu befürchten, schon Horst Bredekamp von der Berliner Hum- (FDP) nicht müde aus psychologischen Gründen, um den boldt-Universität in der „Süddeutschen werden, zu betonen. www.conbrio.de eisenharten Sparwillen der Bundesre- Zeitung“ mahnte, der die Sammlung ConBrio gierung zu demonstrieren. Das fand im Humboldtforum vorbreitet. Auch Aber auch der Blick für einzigartige denn leider auch den vorschnellen und Kulturstaatsminister Bernd Neumann kulturpolitische Visionen, für deren populistischen Beifall des Geschäftsfüh- (CDU) hat zu Recht auf das in der Welt Verwirklichung uns spätere Generati- rers des Deutschen Kulturrates. dann einzigartige Kulturensemble in onen (und auch das Ausland) dankbar Verbindung des Humboldtforums mit sein werden, darf dabei nicht verloren Aber das ist nicht nur ökonomisch eine der benachbarten Museumsinsel, im- gehen – meint Mommert. Milchmädchenrechnung, wie zum Bei- merhin ein Weltkulturerbe, hingewiesen. www.conbrio.de www.conbrio.de ConBrioConBrio spiel Hermann Parzinger als Präsident Schade nur, dass der Staatsminister Wilfried Mommert ConBrioConBrio europa politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 

Europa eine Seele geben Kultur als wichtiger Baustein im europäischen Integrationsprozess • Von Bernd Neumann Was uns Europäer am engsten mit­ einander verbindet, ist eine in mehr als zweitausend Jahren gewachsene Kultur, auf der unser Wertesystem gründet. Die Europäische Union hat seit dem Vertrag von Maastricht die Kultur entdeckt, die die Menschen in Europa in ihrer ganzen Vielfalt eint. Deshalb setze ich als Kul­ turstaatsminister mich dafür ein, dass der Kulturraum Europa auch heute Leben und Gestalt annimmt. Für die Europäische Union ist Kul­ tur – bei allem Respekt vor dem Subsidiaritätsprinzip, wonach die Zuständigkeit für Kultur in den Mit­ gliedstaaten verbleibt und die EU nur komplementär tätig ist – mittler­ weile ein wichtiger Baustein im europäischen Integrationsprozess und von hoher Bedeutung für das Zugehörigkeitsgefühl der Bürger­ innen und Bürger zur Europäischen Union. Letzteres lässt sich sicher noch weiter fördern, deshalb un­ terstützt Deutschland auch den im März 2010 vorgelegten Vorschlag der Europäischen Kommission für die Schaffung eines Europäischen Kulturerbe-Siegels, mit dem künftig Stätten mit prägendem Symbol­ charakter für die europäische Geis­ !SING – DAY OF SONG, Blick in die VELTINS-Arena kurz vor dem Konzertstart von !SING EUROPE Foto: RUHR.2010/Manfred Vollmer tesgeschichte und Integration aus­ gezeichnet werden. aufgestockt und mit seiner Förde­ Rahmen der Initiative Kultur- und Viele Schwerpunkte, die der BKM in hat 2009 kulturelle Bildung zu einem rung ein deutliches Zeichen gesetzt: Kreativwirtschaft der Bundesregie­ Deutschland angestoßen hat, ste­ Schwerpunkt gemacht, am 27. No­ it Förderprogrammen wie Ein Zeichen für die Kultur und ein rung (www.kultur-kreativ-wirtschaft. hen mittlerweile in Brüssel auf der vember 2009 haben wir Kulturminis­ M beispielsweise „Kultur 2007“ Zeichen für Europa! de), sondern auch auf EU-Ebene Agenda. ter hierzu Ratsschlussfolgerungen im oder aber auch „Europa für Bürger­ Die deutsche Kulturhauptstadt dafür ein, dass das Zukunftspoten­ Neben der Kultur- und Krea­ EU-Kulturministerrat verabschiedet. innen und Bürger“ finanziert die EU 2010 erzählt die Geschichte des Wan­ zial der Kulturwirtschaft als Motor tivwirtschaft ist an dieser Stelle die Ich habe mich hier dafür eingesetzt, europaweit grenzüberschreitende dels, die Entwicklung von den Kri­ für Wachstum und Beschäftigung Digitalisierung zu nennen. Wir wollen dass kulturelle Bildung und Vermitt­ kulturelle Projekte. Für das EU-Pro­ senbranchen Kohle und Stahl hin zur genutzt wird – auch in anderen Po­ die Digitalisierung von Kulturgut vor­ lung an die junge Generation als gramm Kultur 2007 stehen für sieben Kultur- und Kreativwirtschaft, die ein litikfeldern der EU. Ich habe mich antreiben und gleichzeitig unter Wah­ Querschnittsaufgabe künftig in den Jahre über 400 Millionen Euro zur hohes Potenzial für Wachstum und daher jüngst beim letzten formellen rung des geltenden Urheberrechts Förderprogrammen und Initiativen Verfügung. Der von meinem Haus Beschäftigung birgt. Für diese Me­ Rat der EU-Kultur- und Medien­ Vielfalt und Wettbewerb sichern. Im der EU klar als Ziel verankert wird. geförderte Cultural Contact Point in tamorphose steht das Ruhrgebiet als minister im Mai 2010 ausdrücklich November 2009 habe ich gemein­ Ich begrüße es, dass auch „Essen für Bonn informiert Kulturschaffende in Modellregion und zu ihrem Sinnbild dafür ausgesprochen, das Potenzial sam mit meinem französischen das Ruhrgebiet“ in der kulturellen Deutschland über das Programm und wurde die vom BKM geförderte Zeche der Kultur- und Kreativwirtschaft Amtskollegen Frédéric Mitterrand Bildung einen Schwerpunkt legt. berät bei der Antragstellung (www. Zollverein, heute UNESCO-Welterbe auch in der EU 2020-Strategie stärker die schwedische EU-Ratspräsident­ Darauf habe ich bei den von meinem ccp-deutschland.de). Die ebenfalls und Kulturort, der im Januar 2010 die hervorzuheben. schaft, die Europäische Kommission Haus geförderten Projekten beson­ vom Beauftragten für Kultur und Me­ beeindruckende und verschneite Ku­ Entscheidend ist: Das föderale und unsere europäischen Amtskol­ deren Wert gelegt. Ich freue mich, dien (BKM) geförderte Website www. lisse für die Eröffnungsveranstaltung Deutschland beteiligt sich aktiv an legen nochmals aufgefordert, sich dass am „Day of Song“ am 5. Juni europa-foerdert-kultur.info infor­ der Kulturhauptstadt Europas mit der EU-Kulturpolitik. Seit Gründung dem Thema Digitalisierung als einer 2010 der größte Chor deutscher Mu­ miert die Akteure der Kultur darüber Kommissionspräsident Barroso und des BKM 1998 hat Deutschland in der großen Zukunftsaufgaben zu sikgeschichte mit 8.000 Sängerinnen hinaus über Aktionen, Programme Bundespräsident Köhler bot. Brüssel im Kulturministerrat ein stellen. Deutschland ist Mitinitiator und Sängern auf dem Spielfeld und und Kontakte der Europäischen Die wirtschaftliche Bedeutung Gesicht und eine Stimme aus der der Europäischen Digitalen Biblio­ 60.000 Gästen aus ganz Europa in Union, die für kulturelle Vorhaben der Kultur- und Kreativwirtschaft, die Kulturpolitik. Als Kulturstaatsminis­ thek Europeana (www.europeana.eu) den Rängen die Veltins Arena und das relevant sind. einen der Themenschwerpunkte des ter leite ich die deutsche Delegation und leistet mit finanzieller Förderung Ruhrgebiet zum Singen und Klingen Ein besonders populäres Leucht­ Programms der deutschen Kultur­ bei formellen und informellen EU- des BKM für die Europeana Stiftung gebracht hat. turmprojekt europäischer Kulturpoli­ hauptstadt bildet, ist inzwischen aner­ Kultur- und Medienministerräten. und mit der jüngst beschlossenen Auch das Projekt „Jedem Kind tik ist die Kulturhauptstadt Europas. kannt. Mit ihrer Bruttowertschöpfung Denn Kulturpolitik wird auch auf Deutschen Digitalen Bibliothek, die ein Instrument“ ist hier vielverspre­ Wir sind stolz auf das beeindrucken­ (2008: 63 Milliarden Euro) liegt die europäischer Bühne immer wich­ 30.000 deutsche Kultur- und Wissen­ chend. Hier engagiert sich die von mir de Programm, das Deutschland mit Kreativindustrie in ihrer volkswirt­ tiger. Zahlreiche kulturpolitische schaftseinrichtungen vernetzt, als geförderte Kulturstiftung des Bundes seiner Kulturhauptstadt 2010 „Essen schaftlichen Bedeutung in der Mit­ Grundsatzentscheidungen werden einer der Säulen der Europeana einen mit zusätzlichen 10 Millionen Euro. für das Ruhrgebiet“ vorlegt (www. te zwischen chemischer Industrie durch Brüssel getroffen oder zumin­ gewichtigen Beitrag. Ziel ist es, das Im Rahmen der Kulturhauptstadt ruhr2010.de). Die überregionale und und Automobilwirtschaft. Mehr als dest vorgezeichnet. Dies betrifft aber europäische Kulturgut über das Inter­ Europas wird die Stiftung Mercator gesamteuropäische Bedeutung des eine Million Erwerbstätige sind in nicht nur den Kulturbereich oder den net für jedermann zur Verfügung zu zudem einen europäischen Kongress Projekts wird denn auch durch das Deutschland in dieser Zukunftsbran­ der audiovisuellen Medien. Denn stellen. Ein einziges virtuelles Biblio­ zur kulturellen Bildung veranstalten, Engagement der Bundesregierung che tätig. Auch europäische Studien auch im Bereich Binnenmarkt und theksportal eröffnet in mehreren den ich am 13. September 2010 ge­ deutlich. Als Kulturstaatsminister und Initiativen der EU bauen auf Wettbewerb ist es außerordentlich Sprachen den Zugang zu Büchern, meinsam mit meinem polnischen steuere ich mit 19 Millionen Euro die Innovationskraft und das über­ wichtig, dass die Kultur nicht durch Landkarten, Gemälden oder Filmen. Amtskollegen in Essen eröffne. aus meinem Haushalt einen Löwen­ durchschnittliche Wachstum dieser reine Marktansätze verdrängt wird, Bis Jahresende sollen 10 Millionen Initiativen wie die der Kultur­ anteil zum Gesamtbudget der Kul­ Branche. Bereits unter deutscher sondern eine eigene Stimme und Digitalisate in der Europeana zur hauptstadt Europas zeigen, was turhauptstadt bei. Gerade in Zeiten EU-Ratspräsidentschaft 2007 hat der Fürsprecher in Brüssel hat. Daher Verfügung stehen. Bereits beim Start Kultur bewirken kann. Hier besinnt der Finanzkrise hat der BKM seine BKM hier einen Schwerpunkt gesetzt. setze ich mich immer wieder dafür der Pilotphase der Europeana im No­ Europa sich auf seine Ursprünge als Mittel nicht etwa gekürzt, sondern Deshalb setze ich mich nicht nur im ein, dass die in den Europäischen vember 2008 war die Nachfrage über­ „Gemeinschaft der Bürger“. Hier wird Verträgen verankerte Kulturverträg­ wältigend. Am ersten Tag nutzten bis die „Polis“ als Wiege unserer Werte lichkeitsprüfung auch innerhalb der zu 20 Millionen Bürgerinnen und und unserer Kultur wieder leben­ Europäischen Kommission aktiv zur Bürger pro Stunde das Angebot – ein dig. Daran sollten wir uns gerade in Anwendung kommt. enormer Erfolg für ein EU-Projekt. Zeiten der Wirtschafts- und Finanz­ Ach Europa! Die Europäische Kommission hat Hier sieht man, welch Potenzial die krise erinnern. Der Zusammenhalt Die europäische Kulturpolitik war in die Behandlung der UNESCO-Konven- diese Entwicklung bereits erkannt Kultur entfaltet – auch im Sinne eines zwischen uns Europäern liegt in den letzten Ausgaben von politik und tion zum Schutz und zur Förderung und mit der sogenannten „Europä­ Europas der Bürger. unserer gemeinsamen Geschichte kultur kontinuierlich ein Thema. Da- kultureller Ausdrucksformen in Euro- ischen Kulturagenda“ 2007 Grund­ Ein weiteres Beispiel ist die kul­ und Kultur begründet. Hier gelingt mit reagiert politik und kultur auf die päischen Parlament. züge einer Kulturpolitik für Europa turelle Bildung in Europa. Ich habe es, wie Jacques Delors einst forderte, wachsende Bedeutung europäischer formuliert. Nach der sogenannten eine Reform der von mir geförderten „Europa eine Seele zu geben“. Und Kulturpolitik, nicht zuletzt aufgrund der Damit wird zugleich der Bogen zu den Methode der offenen Koordinie­ Stiftung Genshagen (www.stiftung- an diesem gemeinsamen Ziel arbeite Umsetzung der EU-Kulturagenda. internationalen Debatten geschlagen. rung wird dies seither konkretisiert. genshagen.de) angestoßen und im ich im Schulterschluss mit meinen Max Fuchs, Präsident des Deutschen Da Kulturpolitik aber zuvorderst Juni 2009 mit einer Konferenz er­ Kolleginnen und Kollegen auf Län­ In dieser Ausgabe informiert Kul- Kulturrates, informiert über die 2. Aufgabe der Mitgliedstaaten bleibt öffnet. Als Plattform für Kunst- und derseite und in der Bundesregierung, turstaatsminister Bernd Neumann, UNESCO-Weltkonferenz zur kulturellen – hieran ändert auch der Vertrag von Kulturvermittlung in Europa verfolgt meinen europäischen Amtskollegen MdB über die europakulturpolitischen Bildung in Seoul, Ronald Grätz, Gene- Lissabon nichts – ist eine entschlos­ die Stiftung das Ziel, über Grenzen und der Europäischen Kommission: Aktivitäten der Bundesregierung, ralsekretär des Instituts für Auslands- sene und sachgerechte Vertretung hinweg in ganz Europa Kontakte konkrete Ergebnisse für die Entwick­ Doris Pack, MdEP, Vorsitzende des beziehungen stellt das neue Leitbild deutscher Interessen in Brüssel im zwischen Expertinnen und Experten lung eines lebendigen europäischen Kulturausschusses des Europäischen des Ifa vor und die Rubrik „Goethes Bereich der Kultur wichtiger als je der kulturellen Bildung herzustellen Kulturraums. Parlaments eröffnet eine neue Reihe Welt“ widmet sich WM-tauglich dem zuvor. Der BKM versteht sich als und konkrete Kooperationsprojekte zur Arbeit des Europäischen Parla- Goethe-Institut in Johannesburg. Anwalt der Künste und der Kultur gerade mit Jugendlichen zu reali­ Der Verfasser ist Staatsminister bei ments und Christine Merkel, Deutsche in Deutschland und vertritt diese sieren. Nunmehr findet dies auch der Bundeskanzlerin und UNESCO-Kommission, berichtet über Die Redaktion Interessen deutscher Kulturpolitik in Brüssel seinen Niederschlag. Die Beauftragter der Bundesregierung auch im Kulturministerrat in Brüssel. schwedische EU-Ratspräsidentschaft für Kultur und Medien europa politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 10

Wandel von der Wirtschafts- zur Kulturgemeinschaft Aktuelles aus dem Ausschuss für Kultur und Bildung des Europäischen Parlaments • Von Doris Pack Lange Zeit dominierten wirtschafts­ förderter Film die begehrte Goldene politische Fragen den Diskurs in­ Palme des Filmfestivals in Cannes nerhalb der Europäischen Union. gewonnen. Das Filmförderungs- Inzwischen wächst die Überzeugung, Programm hilft Fachleuten, eine dass die politische, wirtschaftliche ordentliche Ausbildung zu erhalten und soziale Einigung Europas keinen und ihre Projekte zu entwickeln, zu dauerhaften Erfolg haben wird, wenn fördern und zu verbreiten. sich Europa ausschließlich als Wirt­ Projekte außerhalb Europas und schaftsgemeinschaft und nicht auch die Zusammenarbeit mit Drittländern als Kulturgemeinschaft begreift. Die werden durch das jüngere Programm Bedeutung und die Ansprüche an die MEDIA MUNDUS unterstützt, für Kulturpolitik nehmen dementspre­ dessen Entstehung sich der Kultur­ chend zu. ausschuss stark gemacht hat. MEDIA MUNDUS ist eine starke Antwort as Europäische Parlament – ins­ auf die neuen Herausforderungen, D besondere der Ausschuss für denen sich die europäische Film­ Kultur und Bildung – fördert und industrie angesichts neuer Märkte unterstützt im Rahmen der Subsi­ außerhalb Europas stellen muss. Mit diarität durch seine Beschlüsse und dem Programm werden europäische seine haushalts- und gesetzgebenden Filme als globale Botschafter unserer Befugnisse den Bereich der Kultur. kulturellen Werte unterstützt und Kultur sollte in allen Politiken der die Grundsätze der UNESCO-Kon­ Union berücksichtigt werden. vention umgesetzt, indem kulturelle Themen, die den Ausschuss für Vielfalt in Europa und weltweit ge­ Kultur und Bildung des Europäischen fördert wird. Parlamentes aktuell beschäftigen, sind die Online-Bibliothek Euro­ Europeana peana, das Europäische Kulturerbe- Siegel sowie die Kultur und Kreativ­ Im Mai hat das Europäische Parla­ Die digitale Bibliothek Europeana bietet Zugang zum historischen und kulturellen Erbe. wirtschaft. ment eine Resolution zur digitalen Bibliothek Europeana verabschiedet, sen“ eingesetzt, der Vorschläge zur lebendigen sozialen Raum. Daher digitale Agenda vor, wobei sie speziell Kultur, Media, die einem Bericht meiner Kollegin beschleunigten Digitalisierung erar­ sollte sich die Kreativwirtschaft nicht auf die Bedeutung der kulturellen Helga Trüpel folgte. Europeana er­ beiten soll. nur an wirtschaftlichen Zielvorgaben Vielfalt in der Strategie einging. Auch Media Mundus öffnet auch für kommende Gene­ Neben dem Ausbau der Inhalte orientieren. Sie sind keine Mittel wenn dieser Schritt sehr positiv ist, so Die größte Herausforderung für die rationen einen freien Zugang zum ist auch eine Klärung des rechtlichen zum Zweck, sondern haben einen ist er dennoch nicht ausreichend. nächsten Jahre wird die Neuauflage kulturellen und wissenschaftlichen Rahmens für den Umgang mit dem Eigenwert, der die entsprechende Im digitalen Zeitalter ohne greif­ der europäischen Förderprogramme Erbe, zum digitalen Gedächtnis Eu­ Urheberrecht wichtig. Viele jüngere Unterstützung rechtfertigt. Leider bare Grenzen für Online-Angebote, im Bereich Kultur von 2014 bis 2021 ropas. Derzeit stellen mehr als 1.000 Schriften oder Fotos sind urheber­ wurde Kultur in den vergangenen ergeben territoriale Beschränkungen, KULTUR, MEDIA sowie MEDIA Museen, Bibliotheken oder sonstige rechtlich geschützt, während älteres Jahren bei vielen Debatten über die dem Nutzer den Zugang zu eu­ MUNDUS sein. Es wird darum ge­ Kultureinrichtungen circa 6 Mio. Material frei zugänglich ist. Um zu die Kreativwirtschaft auf der Ebene ropaweiten Diensten und Inhalten hen, aufbauend auf Erfahrungen die Medien (Bilder, Texte, Tonaufnahmen vermeiden, dass Europeana für das der Europäischen Union nicht als erschweren, keinen Sinn. Gesetzliche bestehenden Programme zu evalu­ und Videos) online. In diesem Jahr 20. und 21. Jahrhundert schwere elementarer Bestandteil von gesell­ Regelungen sind hier erforderlich. ieren und neue Ideen einzubringen. sollen noch 10 Mio. Medien erreicht Lücken aufweist, muss dringend schaftlicher und wirtschaftlicher Die mit dem Zugang zu Online-Inhal­ Anregungen und Vorschläge durch werden und Versionen in allen 23 eine Regelung zum Umgang mit ge­ Entwicklung berücksichtigt. ten verbundenen kulturellen Fragen den Deutschen Kulturrat sind zu Amtssprachen der EU sind ebenso schützten Werken gefunden werden. Die Potentiale dieses kreativen sind kritisch. Daher ist es unmöglich, gegebener Zeit ausdrücklich will­ in Planung. Es gilt, einen Kompromiss zwischen Sektors sind in der EU leider noch diese Fragen aus rein wirtschaftlicher kommen. Nötig ist dazu aber ein stärkeres den Interessen der Autoren sowie der nicht ausreichend ausgeschöpft und juristischer Sicht zu behandeln. KULTUR und MEDIA sind seit Engagement einzelner Mitglieds­ Öffentlichkeit zu finden. worden. Das Europäische Parlament Lösungen im Bereich Urheberrecht langer Zeit etablierte Programme. staaten, so auch Deutschlands. Die hat die Kommission wiederholt zum Schutz von Innovation und Ich werde mich für eine ausreichende Bundesregierung, die Länder, und Europäische aufgefordert, den Zusammenhang Kreativität müssen unbedingt auch finanzielle Ausstattung trotz aller die deutschen Kultureinrichtungen zwischen Kultur, Kreativität und In­ die kulturelle Vielfalt fördern. Krisen einsetzen. Wir können stolz müssen sich stärker für Europeana Kulturerbe-Siegel novation zu beachten und politische Die Kommission schlägt eine Rah­ darauf sein, dass MEDIA seit bald 2 engagieren, um das deutsche und Vor wenigen Wochen hat die Europä­ Maßnahmen auszuarbeiten, um die menrichtlinie zur Vereinfachung von Jahrzehnten erfolgreich europäische europäische Kulturerbe im Internet ische Kommission ihren Vorschlag für europäische Kreativwirtschaft in Urheberrechten und zur Regelung Filme fördert. Mit dem Film „Das für alle Menschen zugänglich zu ein Europäisches Kulturerbe-Siegel diesem Sinne zu unterstützen. Die von grenzübergreifenden Lizenzen weiße Band“ von Michael Haneke machen. Ende April wurde durch veröffentlicht. Es soll Orte kennzeich­ Kommission hat darauf mit einem vor. Ohne Zweifel wird die Diskussion hat zum fünften Mal ein MEDIA-ge­ die Kommission ein „Rat der Wei­ nen, die in der Geschichte und beim im April erschienenen Grünbuch hierzu im Europäischen Parlament Aufbau der Europäischen Union eine über die „Erschließung des Poten­ eines der wichtigsten Gesetzgebungs­ Rolle gespielt haben. Ziel ist es, das tials der Kultur- und Kreativindus­ verfahren im kulturellen Bereich in Zugehörigkeitsgefühl der europä­ trien“ reagiert. Die von Androulla den kommenden Jahren sein. ischen Bürgerinnen und Bürger zur Vassiliou, der EU-Kommissarin für EU anhand gemeinsamer Elemente Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit LUX-Filmpreis der Geschichte und des Kulturerbes und Jugend, gestartete öffentliche zu stärken, den Stellenwert der Vielfalt Konsultation zur Zukunft der Kul­ In diesem Jahr steht zum 4. Mal die zu steigern und den interkulturellen tur- und Kreativindustrien zeigt die Verleihung des LUX-Filmpreises des Das Musik-Kultur-Politik-TV-Programm der nmz Dialog zu fördern. Es geht weniger Offenheit und den Handlungswillen Europäischen Parlamentes an. darum, historische Orte zu konser­ der Kommission in diesem kultu­ Der Preis für den von den Parla­ vieren, als darum, diese Orte in ihrer rellen Bereich. Um so erstaunlicher mentariern gekürten Film besteht in Bedeutung für die EU bekannt zu ist, dass die Kommission in ihrer der Übersetzung und Untertitelung machen. Weil sich das seit 2006 beste­ neuen „Strategie 2020“ noch nicht in die 23 Amtsprachen der EU. Die hende Siegel in alleiniger Verantwor­ einmal Kultur erwähnt, geschweige Originalfassung wird zudem für tung der Mitgliedsstaaten nicht voll denn die Bedeutung kultureller As­ sehbehinderte Menschen und für entfalten konnte, wird das Projekt an pekte in den Wachstumsbranchen Gehörlose und Menschen mit einer die EU übergeben. Nach dem Vorbild anerkennt. Hörbehinderung bearbeitet. So wer­ der Kulturhauptstadt-Initiative gilt es Ich bin überzeugt, dass es sich den die Verbreitung des europäischen nun einen eindeutigen europäischen die EU nicht länger leisten kann, Filmes sowie der interkulturelle Dia­ Mehrwert zu generieren und der Ini­ den Wert des kulturellen und krea­ log europaweit gefördert. tiative den notwendigen qualitativen tiven Sektors bei der Formulierung Der LUX Filmpreis ist eine außer­ Schritt nach vorn zu ermöglichen. zukünftiger Strategien zu ignorieren. gewöhnliche Initiative des Europä­ Der Vorschlag der Kommission über Es reicht nicht aus, sich auf Inno­ ischen Parlamentes, den kulturellen sounding D: Ein Netzwerk neuer Musik das Kulturerbe-Siegel wird im Kultur­ vation zu konzentrieren, die von Reichtum und die kulturelle Vielfalt ausschuss diskutiert werden. Wissenschaften und industriellen Europas einer großen Bevölkerungs­ Ein außergewöhnliches Musikfestival plant das Netzwerk Neue Musik Technologien abgeleitet wird. Kultu­ gruppe zugänglich zu machen. Es in diesem Sommer. Ein Zug wird quer durch Deutschland rollen, und Kultur- und relle Kreativität spielt ebenfalls eine besteht die Absicht diesen Preis als wo immer er Halt macht, finden unzählige, teils ausgefallene- Kon wesentliche Rolle in der Innovation. ein Flaggschiff des Europäischen zerte und Aktionen statt. Baustellenlärm und Orchesterklang, Schul- Kreativwirtschaft Das Europäische Parlament wird Parlamentes im Bereich der Kom­ klasse und Profiensemble, U-Boothalle und Konzertsaal – alles wird Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist die Europäische Kommission und munikation auszubauen und inter­ geboten sein. Die grundlegenden Infos zum Projekt gab es kürzlich in auch aufgrund seiner großen öko­ die Mitgliedstaaten drängen, diese essierte Bürgerinnen und Bürger der einer Auftaktveranstaltung im Berliner Bundesrat, wo auch der erste nomischen Bedeutung ein wichtiges Aspekte in der „Strategie 2020“ auf­ Mietgliedsländer in den Prozess der Teil unserer Dokumentation über „sounding D“ entstand. Ab Mitte Au- Thema für die Europäische Union. zunehmen. Auswahl einzubeziehen. Wir geben gust begleiten wir von nmzMedia den Zug dann mit der Kamera und Dieser Wirtschaftszweig weist ein damit eine Antwort auf Wim Wenders erstatten jeden Tag exklusiv filmisch Bericht. überdurchschnittliches Wachstum Digitale Agenda Wunsch europäische Geschichte mit auf und spielt eine entscheidende Hilfe von Filmen zu erzählen und Rolle bei der Entwicklung von Infor­ Die digitale Agenda und Urheber­ damit die Seele Europas sichtbar zu ([NOXVLYXQGNRVWHQORVXQWHU mations- und Kommunikationstech­ rechte sind Themen, die der Kultur­ machen. nologien. ausschuss mitberatend mit anderen ZZZQP]PHGLDGH Darüber hinaus stärkt die Kreativ­ Ausschüssen behandelt. Kommissa­ Die Verfasserin ist Vorsitzende www.nmz.de wirtschaft den sozialen Zusammen­ rin Neelie Kroes stellte vor kurzem im des Kulturausschusses des halt und die Zugehörigkeit zu einem Kulturausschuss die Strategie für die Europäischen Parlaments internationales politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 11

Kulturelle Bildung hat Fahrt aufgenommen Eine gute Bilanz der zweiten UNESCO-Weltkonferenz für kulturelle Bildung in Seoul • Von Max Fuchs „Rückenwind für kulturelle Bildung“ In Lissabon wurde die Engführung war die Überschrift meines Berichtes des Begriffs der arts education auf die über die erste Weltkonferenz zur traditionellen Kunstformen Musik, künstlerischen Bildung im Jahre Theater und Bildende Kunst – und 2006 in Lissabon. Bei der zweiten dies auch noch mit einem starken Weltkonferenz, die vom 25. bis zum schulischen Akzent – kritisiert. Diese 28. 5. 2010 in Seoul/Korea stattge­ berechtigte Kritik an der Roadmap funden hat, konnte man feststel­ hat in der Umsetzung in der Praxis len, dass dieser Rückenwind kein keine Rolle gespielt. Jedes Land hat einmaliger Windstoß war, sondern vielmehr sein eigenes Verständnis von sich zu einer dauerhaften Brise „Kunst“ zugrunde gelegt, so dass ge­ entwickelt hat: Kulturelle Bildung rade in den Workshops sehr viel auch steht nicht nur im Zentrum der UN­ Weben, Schmieden, Textilbearbeitung ESCO. In vielen Ländern zeichnen und Töpfern die Rede war. Wenn sich so deutliche positive Entwick­ „Künste“ ins Spiel kamen, waren es lungen ab, dass die Entscheidung vor allem angewandte Künste. Dies der Organisatoren richtig war, keine entsprach auch dem programma­ neue Fortschreibung der in Lissabon tischen Motto des Kongresses: arts diskutierten und zwischenzeitlich for society, education for creativity. immer wieder veränderten Roadmap Die Künste sind für gesellschaftliche vorzunehmen, sondern komprimiert Fragen zuständig, und diese reichen zehn Entwicklungsziele für die nächs­ von der Gesundheitsförderung über ten Jahre zu formulieren. Diese Integration und Inklusion, der Nach­ sollen spätestens 2014 evaluiert haltigkeit bis zur Kulturwirtschaft. werden. Diese Seoul-Agenda wurde Die Erziehung und Bildung wiederum am letzten Tag des Weltkongresses kümmert sich um den Einzelnen, beschlossen. wobei Kreativität das von nieman­ dem öffentlich in Frage gestellte elche Entwicklungstrends kann ultimative Bildungsziel ist. Bis auf W man weltweit feststellen? Wie wenige Ausnahmen, etwa in dem hat die Roadmap als Motor der Ent­ sehr klaren Beitrag des inzwischen wicklungen funktioniert? Welche Pro­ zweiten UNESCO-Lehrstuhlinhabers bleme tun sich heute und in Zukunft für kulturelle Bildung, Eckart Liebau auf? Zunächst einige Informationen aus Erlangen, wurde der Eigenwert Max Fuchs während seines Vortrags bei der UNESCO-Weltkonferenz in Seoul Foto: Joachim Reiss über die Rahmenbedingungen. Etwa der Künste kaum thematisiert. Alle 2000 Experten aus über 100 Ländern, diesbezüglichen Thesen unseres Lehrer gesprochen, eben weil diese war die Kriegsgefahr in Korea keine hat sogar – und dies überrascht an­ darunter aus 20 Ländern Vertreter im europäischen Papiers, das bei einer alle Kinder und Jugendlichen errei­ abstrakte Angelegenheit, sondern gesichts unseres üblichen Klagens Ministerrang, diskutierten in dem Konferenz im Jahre 2009 in Berlin in chen: In der Praxis betreibt er selbst vielmehr täglich in den Medien – einen privilegierten Platz. Kein gewaltigen Coex-Komplex mitten in einem mühsamen Prozess ausgehan­ jedoch eher „Community based“- präsent. Hilary Clinton besuchte in anderer Bildungsbereich, auch nicht Seoul. Dieser Konferenzkomplex ist delt wurde, wurden kaum zur Kennt­ Projekte und hat mit Schule nichts dieser Zeit Korea. Zudem laufen z. Zt. die PISA-Fächer, die in Lissabon so groß, dass das auch schon enorme nis genommen: Der intrinsische zu tun. Hier muss man also Rhetorik die Vorbereitungen für den nächsten noch deutlich bedrohlich wahrge­ Konferenzzentrum von Lissabon Wert der Künste oder die Rolle ihrer von Praxis unterscheiden. Und in G-20-Gipfel in Seoul auf Hochtouren. nommen wurden, spielt eine solche vermutlich zweimal hineinpassen Rezeption und Produktion ist offen­ der Praxis kam der Austausch über Kulturelle Bildung in Krisenregionen, Rolle in der UNO oder der UNESCO. würde. Die Tage waren thematisch bar ein sehr europäisches Thema. All Schule deutlich zu kurz. Zu kurz kam in Situationen von Gewalt und feh­ Bestenfalls ist es die Alphabetisie­ den Schwerpunktthemen der Road­ dies – so muss man feststellen – passt auch die Umsetzung des Anspruches, lender staatlicher und gesellschaft­ rungskampagne „Education for All“, map zugeordnet: practice, advocacy, aber auch nur auf den europäischen alle Lebensphasen thematisieren zu licher Ordnung war immer wieder aber damit ist man ja bereits im capacity-building and research. Kunstkanon, ist dort natürlich be­ wollen. Eindeutig lag der Fokus auf Thema von Präsentationen. Ich selber Kernbereich kulturelle Bildung. Und Thematisch ist das Leitprogramm rechtigt, erfasst jedoch im gesamten Kindern und Jugendlichen. bin auch skeptisch gegenüber zu voll­ wer diese Einschätzung bezweifelt, der UNESCO bindend: Kultur des Feld der kulturellen Bildung nur Ein weiterer Aspekt betrifft den mundigen Wirkungsbehauptungen. möge sich überlegen, wo in dieser Friedens, Nachhaltigkeit, Dialog der einen kleinen Teilbereich. Daher Erhalt kultureller Traditionen. Auch Doch fand ich die Situationsbe­ Form Mathematik oder die Natur­ Kulturen, Inklusion. Zentrale Aufga­ muss man feststellen: Die UNESCO dies war in Lissabon nicht so präsent. schreibungen aus Kriegszonen und wissenschaften auf UNESCO-Ebene be war die Evaluation der Lissabon handelt zwar über „arts education“, In Korea fand dies sehr viel Anklang, Gefahrengebieten und die dort auf thematisiert worden sind. Roadmap und die Entwicklung von von den Inhalten und Zielen her vom Gastgeberland deutlich nach einfachstem Niveau realisierten Kul­ Eine zweite Schlussfolgerung: konkreten Handlungszielen. geht es jedoch eindeutig um „cultural vorne geschoben und gerade von turprojekte beeindruckend: Es geht Wir brauchen mehr Präzision in un­ Zunächst zur Rolle der Roadmap. education“. Vertretern aus Afrika, Asien und Sü­ nicht mehr um einen zusätzlichen seren Begrifflichkeiten. Von „Kunst“ Es hat einige Untersuchungen darü­ Bedauern muss man dies nicht. damerika im Hinblick auf kulturelle Kick in einer ohnehin schon satten über „Kultur“, „Bildung“ bis hin zur ber gegeben, ob und wie die Roadmap Denn natürlich bleibt für die Künste Identität stark betont. Die indigenen Gesellschaft, sondern es zeigte sich „Forschung“ herrscht eine unge­ auf nationaler Ebene gewirkt hat. In i.e.S. und den pädagogischen Um­ Kulturen sind wichtig. Hierzu gibt es eindrucksvoll, wie sehr Kulturarbeit ordnete Pluralität von Konzepten einer unserer beiden europäischen gang damit genug zu tun. Auch dies nur schwer Vergleichsmöglichkeiten dazu taugt, Menschlichkeit auch und Verständnisweisen. Diese mag Konferenzen in Wildbad Kreuth im machte Eckart Liebau deutlich: Bei zur westlichen Situation. Denn es unter schwierigen Bedingungen zwar ein Reichtum sein („celebrate Mai 2008 konnte man den Eindruck allem Respekt vor dem Erfahrungs­ geht dabei nicht etwa um den Erhalt aufrecht zu erhalten oder wieder zu the diversity“, so die UNESCO), sie gewinnen, dass die Roadmap als Re­ gewinn reflektierter Praktiker und der „deutschen Leitkultur“ rund um entdecken. produziert aber auch erhebliche ferenzdokument umso wichtiger war, den Möglichkeiten, mit künstleri­ Goethe und Beethoven. Korea mit Vor dem Hintergrund solcher Verwirrung. So sollten wenigstens je kleiner das betreffende Land war. schen Methoden die Wirklichkeit seiner hoch entwickelten Informa­ Erfahrungen erscheinen manche un­ wir für uns deutlich machen, welche So waren Malta und Island Beispiele zu erschließen, muss die Relevanz tionstechnologie (Samsung) strebt serer Debatten in Deutschland eher Relevanz und welchen Anwendungs­ dafür, dass die Roadmap nationale einer wissenschaftlichen Forschung, dabei eine deutliche Synthese der eigenartig: Ob Künste und Künstler bereich unserer Begründungen oder Entwicklungen angeschoben hat. In die die hier relevanten Standards der Tradition mit den digitalen Medien an „autonom“ sind und ob diese Auto­ Wirkungsbehauptungen haben. Deutschland dagegen hat man zwar Sorgfalt, der Überprüfbarkeit und der (quasi der bayrische Weg von Laptop nomie gefährdet ist, wenn Kunst in Was gilt für das Theater, die Musik, vereinzelt die Roadmap zitiert, doch übersubjektiven Gültigkeit, betont und Lederhose). Das ist interessant. sozialen oder pädagogischen Kontex­ den Tanz? Welche Rolle spielen die dürften die meisten Entwicklungen werden. Und ein solcher Zugang ist Doch zeigen die an prominenter ten stattfindet, ob Lehrer, Kulturpäd­ institutionellen Zusammenhänge? – gerade in der Kulturpolitik – ohne für jedes der Arbeitsfelder im großen Stelle gezeigten Beispiele, wie schwer agogen oder Künstler die besseren Was ist die spezifische Wirkung eines deren Einfluss stattgefunden haben. Bereich der kulturellen Bildung nö­ dies ist. So zeigte man bei der Eröff­ Vermittler sind, ob Kreativität unser Schulfaches Theater im Vergleich Vielleicht muss man auch gar nicht tig. Klar wurde aber auch, dass eine nungsperformance wunderschöne Bruttosozialprodukt steigert etc. Was zur Theaterpädagogik in außerschu­ nach Ursache-Wirkung-Prinzipien solche strenge Position im internati­ Beispiele traditioneller koreanischer man erleben kann, ist vielmehr: Das lischen Kontexten? Es ist zu hoffen, suchen. Sondern es sind die Road­ onalen Konzert einen schweren Stand Musik- und Tanzkultur verbunden Subjekt, und zwar der Einzelne, der dass die Arbeit an einem interna­ map, das Interesse der UNESCO und hat. Denn gerne hat man in Seoul mit den neuesten digitalen Mög­ Lust auf Leben hat, der in die Lage tionalen Glossar hier Hilfestellung die nationalen Entwicklungen alle jede mögliche Form individueller lichkeiten. Bei Letzteren dominierte versetzt wird, sein Leben für sich leistet. Pluralität ist übrigens auch Teil desselben Trends, dass nämlich Erfahrung auch schon „Forschung“ jedoch die Lust an den technischen und andere sinnvoll zu gestalten, auf UNESCO-Ebene nicht gegeben. ganzheitliche Bildung, die Ermögli­ genannt. Möglichkeiten des Mediums, so dass steht – so auch ein UNESCO-Slogan So haben beide UNESCO-Lehrstühle chung von Phantasie, die Stärkung Ein zweiter Aspekt betrifft den Fo­ die spezifische Ästhetik des Digitalen – im Mittelpunkt. Dazu braucht einen Theaterschwerpunkt ebenso der Menschen weltweit als notwendig kus auf Schule, der in Lissabon noch zugunsten von Kitsch und Plakativität man Schutz und Anerkennung der wie der neue Präsident der World betrachtet werden und über kreative sehr deutlich war. Dies traf in Seoul auf der Strecke blieb. Auch dies ist Person und ihrer Ansprüche an das Alliance of Arts Education ein The­ und künstlerische Arbeitsweisen sehr nicht mehr zu. Die Thematisierung in Deutschland die Herausforde­ Leben. Dies wurde immer wieder in atermensch ist. Das ist eine nicht gut gelingen. Was war also neu und der Rolle der Künste im Curriculum rung, eine angemessene Ästhetik Beiträgen aus Kuba, aus Südamerika, gute Einseitigkeit. Vielleicht wird anders in Seoul? und der notwendigen Professionali­ des Digitalen als Qualitätsmaßstab aus Afrika, aus Indien betont. Armut hier Abhilfe geschaffen, wenn es Natürlich kann diese Frage nicht tät der Lehrer ist eindeutig zu kurz in einer kulturellen Medienbildung hat zwar bei uns ein anderes Gesicht – wie vorgesehen – neue UNESCO- umfassend beantwortet werden, gekommen. So hat sich zwar durch zu realisieren. als in diesen Regionen. Doch gibt es Lehrstühle in Afrika, Südamerika denn es gab im Plenum eine Eröff­ den Zusammenschluss der Weltver­ Inhaltliche Leitorientierung war – auch hier einen notwendigen Kampf oder Asien geben sollte, die dann nungsansprache des amerikanischen bände von Lehrenden im Bereich wie erwähnt – die Bindung an soziale um menschenwürdige Existenz, und hoffentlich andere fachliche Schwer­ Ehepaares Bernstein über den Zu­ Tanz, Theater, Bildende Kunst und Ziele wie Zusammenhalt, Kreativität zu dieser gehört kulturelle Bildung punkte haben. sammenhang von wissenschaftlicher Musik zu einer World Alliance for (als gesellschaftlicher Produktivkraft eindeutig dazu. Eine nächste Weltkonferenz soll es und künstlerischer Begabung, es gab Arts Education ein neuer „global für die ökonomische Entwicklung) Welche vorläufigen Schlussfolge­ geben. Afrikanische Kollegen hatten vier keynotes und einige Podiums­ player“ – auch als Ansprechpartner bis hin zu heilenden und therapeu­ rungen lassen sich m. E. ziehen? Die Interesse bekundet, weil dort offenbar runden. Daneben gab es 25 meist für die UNESCO – gebildet, zwar hat tischen Aspekten. Dies klingt ein we­ erste und vielleicht überraschendste eine Menge an Überzeugungsarbeit parallel laufende Workshops, von deren Präsident Dan Baron Cohen, nig danach, als ob kulturelle Bildung Erkenntnis ist diese: Bildung ins­ bei Regierungen zu leisten ist. Das denen man schlechterdings nur ei­ selber ein guter und ideenreicher nunmehr überstrapaziert werden soll gesamt und kulturelle Bildung als letzte Gerücht war, dass Kolumbien nen Teil mitbekommen konnte. Aus Theaterpraktiker aus Wales, der vor für die Realisierung aller utopischen integraler Bestandteil hat auf der sicherlich subjektiver Sicht daher allem in Brasilien arbeitet, von einer Ziele oder für die Lösung aller gesell­ Agenda der Weltgemeinschaft einen Weiter auf Seite 12 einige Auffälligkeiten. notwendigen Konzentration auf schaftlichen Probleme. Immerhin stabilen Platz. Kulturelle Bildung internationales politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 12

die staatliche Seite in Deutschland vorgetragen wurde. In Seoul soll – so der Relevanz? Ich weiß es nicht. Da­ Hier geht die Arbeit nun weiter. Der Fortsetzung von Seite 11 zu, so wie sie in Seoul in Erscheinung ein Gerücht – ein Ländervertreter bei ist unsere Entwicklung durchaus Rückenwind hält international an. Es getreten ist. In Lissabon gab es noch anwesend gewesen sein. Er hat sich vorzeigbar. Die Deutsche UNESCO- kommt jetzt darauf an, dem Gegen­ Kulturelle Bildung hat eine offizielle Delegation, in Seoul erfolgreich unsichtbar gemacht und Kommission hat eine hervorragend wind, der aus der Finanzkrise resul­ Fahrt aufgenommen waren es Einzelkämpfer, die sich nie das Gespräch mit den deutschen gestaltete und informationsreiche tiert, erfolgreich zu begegnen. alles selbst organisieren mussten. In Vertretern gesucht. Der Bund hat englischsprachige Sonderausgabe den Hut in den Ring geworfen hat. Lissabon gab es eine abgestimmte auf eine Präsenz gleich komplett von UNESCO Heute vorgelegt, mit Der Verfasser ist Direktor der Anerkennung gibt es also für unser Position zwischen Bund und Län­ verzichtet. Was steckte dahinter: Un­ der man in Seoul sehr gut Kontakte Akademie Remscheid und Präsident Feld. Dies trifft allerdings kaum für dern, die gemeinsam im Plenum kenntnis, Arroganz, Unterschätzung knüpfen konnte. des Deutschen Kulturrates Mittlerorganisationen unter Zugzwang Zur Identitätsentwicklung des Instituts für Auslandsbeziehungen • Von Ronald Grätz Durch den interkulturellen Dialog tution mit über 90-jähriger Tradition friedliches und bereicherndes Zusam­ Kulturen zu verbinden und Menschen – intensiv mit der Frage auseinan­ menleben von Völkern, Staaten und Auszüge aus dem Leitbild des ifa zu bewegen, ist übergeordnetes Ziel der, wie sich eine kulturelle Mitt­ Religionen. Insbesondere seit der Kon­ des Instituts für Auslandsbeziehun­ lerorganisation an neue, sich stetig zeption 2000 für die Auswärtige Kultur­ Unser Verständnis gen (ifa). Ein interkultureller Dialog verändernde Rahmenbedingungen politik wird auch die Friedensarbeit als · Das Institut für Auslandsbeziehungen engagiert sich im Kulturaustausch für ist immer auch ein Dialog zwischen anpassen kann. Ähnlich wie der zentraler Bestandteil bzw. als ein Ziel ein friedliches und bereicherndes Zusammenleben von Völkern, Staaten und Gesellschaften. Doch unsere Ge­ Charakter eines Menschen wird auch des Kulturaustauschs verstanden: Frie­ Religionen. sellschaft befindet sich im Wandel die Identität einer Institution über die den und Gerechtigkeit, den Erhalt der · Kulturaustausch ist Friedensarbeit. – sie nimmt derzeit und wird auch Jahrzehnte hinweg von zahlreichen Lebensgrundlagen und der Kulturen · Dialog ist Wertschöpfung aus kultureller Vielfalt. in Zukunft unvorhersehbare Formen äußeren Faktoren geformt und ge­ der Menschheit sowie ein geeintes annehmen, die zum einen von ho­ prägt. Sie ist ausschlaggebend für Europa sehen wir als unsere großen Unser Handeln mogenisierenden und zum anderen die Wahrnehmung einer Institution Herausforderungen. Menschenrechte, · Das ifa initiiert den interkulturellen Dialog. von heterogenisierenden Faktoren nach innen und nach außen. Um die Freiheit des Ausdrucks und der · Das ifa ist Kompetenzzentrum der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. geprägt werden. sich den neuen Herausforderungen Information sind Grundlage und · Das ifa weckt das Interesse an Deutschland im Ausland. zu stellen, muss das ifa nicht seine Ziel unserer Arbeit. Einen zweiten ultimedia und Web 2.0 einer­ komplette Identität ablegen und Referenzrahmen bildet ein moder­ Unsere Arbeitsweise M seits beschleunigen die schwin­ eine neue annehmen – aber es muss ner Dialogbegriff. Wir verstehen den · Das ifa ist weltweit tätig und europäisch eingebunden. dende Bedeutung nationaler Grenzen an einigen Eckpunkten feilen und Dialog als Lerngemeinschaft und als · Das ifa arbeitet zielgruppenspezifisch. und die Entstehung von globalem sein Profil schärfen. Da ein Leitbild Haltung. Er ist in seinem Charakter · Das ifa ist ein verlässlicher Partner. Wissen und somit die homogenisie­ die Grundlage für das Vermitteln der prozessorientiert und ergebnisoffen rende Wirkung von Globalisierung. Identität einer Kulturinstitution ist, und sagt auf dieser Ebene weit mehr Wir verbinden Kulturen. Kulturen verbinden Menschen. Das ifa bringt Menschen Verstärkte Migrationsströme und die hat das ifa seit Anfang des Jahres ein aus und ist schwieriger zu realisieren zusammen. damit einhergehende intensivierte neues. als – überspitzt formuliert – lediglich Begegnung von Kulturen anderer­ Ein so vielfältiges Portfolio wie es das Durchführen von Projekten vor seits fördern nicht ausschließlich das ifa hat – von Kunstausstellungen Ort. Dialog ist Wertschöpfung aus moderiert und dokumentiert das ifa entierte Zusammenarbeit setzen und kulturelle Vielfalt, sie zeigen auch und Dialogveranstaltungen im In- kultureller Vielfalt – auf diesen Leitsatz Diskussionen und Fragen der inter­ seine Netzwerke der Kultur und Bil­ kulturelle Differenzen und somit die und Ausland über Austausch- und unserer Identität hatte insbesondere nationalen Kulturbeziehungen. Wir dung, der Medien, der Zivilgesellschaft heterogenisierende Wirkung von Glo­ Förderprogramme bis hin zu zahl­ die UNESCO-Konvention zum Schutz vernetzen Themen aus der Praxis mit und der Politik weiter ausbauen. balisierung auf. Machtverhältnisse in reichen Publikationen und einer Spe­ kultureller Vielfalt Einfluss, aber auch Wissenschaft und Medien und sind Unsere Aufgabe ist es, Kulturen der Welt verändern und geografische zialbibliothek in Stuttgart – verlangt Konzeptbestandteile der „Public Di­ Kompetenzzentrum der Auswärtigen zu verbinden und Menschen zu­ Schwerpunkte verlagern sich. Für die einen einenden Kern. Aus diesem plomacy“ bzw. der „Cultural Relati­ Kultur- und Bildungspolitik. Durch sammenzubringen. In unserem deutsche Auswärtige Kultur- und Bil­ Grund definierte das ifa einen ersten onship“ wurden integriert. Im Dialog die Vermittlung innovativer Positi­ Prozess der „Identitätsfindung“, in dungspolitik gilt es, Mittel und Wege Referenzrahmen des Handelns, dem haben Menschen die Möglichkeit, sich onen aus Deutschland in Form von den während der einzelnen Prozess­ zu finden, sich dieser omnipräsenten sowohl ein moderner Kulturbegriff als umfassend und gleichberechtigt an Austauschprogrammen, Ausstellun­ phasen sämtliche ifa-Mitarbeiter Entwicklung anzupassen, sie nicht ver­ auch Theorien zur Transkulturalität zu offener und folgenreicher Zukunfts­ gen, Publikationen, Vortragsreisen eingebunden waren, haben wir intern schreckt zu beobachten, sondern sie Grunde liegen. Das ifa gründet sein gestaltung zu beteiligen. und Besucherprogrammen wecken eine neue Akzeptanz und ein neues für sich nutzbar zu machen. Doch ist Verständnis auf der Veränderlichkeit, Von unserem Verständnis leiten wir das Interesse an Deutschland im Selbstverständnis für diese Aufgabe die Auswärtige Kultur- und Bildungs­ der Beweglichkeit und der Durch­ wir unser Handeln ab: Wir fördern Ausland. geschaffen. Den Weg zu unserem Ziel politik überhaupt in der Lage, sich auf lässigkeit von Kulturen, ohne dabei den Kunst- und Kulturaustausch in Wegweisend für eine Veränderung werden wir von nun an noch versier­ einem Markt zu positionieren, der von die bewahrende und begrenzende Ausstellungs-, Begegnungs-, Dialog- unserer Arbeitsweise waren besonders ter und energiegeladener gestalten. zahlreichen globalisierten Kräften do­ Wirkung von Kulturen außer Acht zu und Konferenzprogrammen. Durch Netzwerktheorien, d. h. die Frage, miniert wird, ohne ihren Idealismus zu lassen. Die kulturelle Begegnung kann zivile Konfliktbearbeitung tragen wir wann ein Netzwerk belastbar ist, ob Der Verfasser ist seit September 2008 verlieren und ohne samt ihrer eigenen einerseits Quelle von Konflikten sein zum Friedenserhalt und durch die man sich als Netzwerk versteht, Netz­ Generalsekretär des Instituts für Strahlkraft in einer von Globalisierung und andererseits deren Umgestaltung Förderung kultureller Minderheiten werke initiieren will und wie man sich Auslandsbeziehungen (ifa) und Her- geprägten Welt unterzugehen? ermöglichen. Mit diesem modernen zum Erhalt der kulturellen Vielfalt bei zum Nutzen der Institution in beste­ ausgeber der „KULTURAUSTAUSCH In den letzten Wochen und Mo­ Kulturbegriff als Basis engagiert sich – das ifa initiiert den interkulturellen henden Netzwerken bewegt. Das ifa – Zeitschrift für internationale naten setzte sich das ifa – eine Insti­ das ifa im Kulturaustausch für ein Dialog. Außerdem initiiert, analysiert, wird künftig verstärkt auf zukunftsori­ Perspektiven“.

Ashley Hunt: A World Map on which you see. Dieses und andere Werke sind ab dem 22.10.2010 in der Ifa-Galerie in Berlin zu sehen. Foto: Ashley Hunt Goethes Welt / Innenleben politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 13

Ein Haus ohne Mauern Das Goethe-Institut in Johannesburg: zuständig für die Region Subsahara • Von Aya Bach „Laufen Sie bloß nicht hier auf den wood, wo sich hinter hohen Mauern denen Ländern zusammenbringt Straßen rum“, rät mir der Taxifahrer, die Villen wohlhabender Menschen und so gemeinsames Arbeiten und als er mich downtown Johannesburg verbergen. Genauso sah es früher am einen innerafrikanischen Austausch absetzt: 245, Main Street, die Adres­ Goethe-Institut aus. Aber getreu der ermöglicht. se musste er erst mal suchen, aber Devise „die Mauer muss weg“ ist das Dabei beschränkt sich „Goethe“ irgendwo unter den Betonstelzen der Institut seit kurzem frei zugänglich: Die nicht auf die Rolle des Geldgebers, der Highway-Brücke war dann doch ein Mauer, deren Abriss geschichtsträchtig gut gemeinte, möglicherweise aber Schild zu finden, das hierher führt, am 9. November 2009 begann, ist nun kontraproduktive Entwicklungshilfe zum „Arts on Main“. Das Kunst- und verschwunden. Das hat weit mehr leistet: „Trade statt aid“ lautet die Kulturzentrum existiert erst seit als symbolische Bedeutung in einer Devise von Peter Anders, Leiter der Mai 2009, in einem „schwarzen“ Stadt, in der man über kaum etwas kulturellen Programmarbeit: „Nur, Quartier, das die meisten weißen Jo­ so viel diskutiert wie über das Thema wenn wir Produktion ermöglichen, hannesburger lieber meiden – noch Sicherheit. schaffen wir auch die Voraussetzung, heute, 16 Jahre nach dem Ende der Wer das nun offener gewordene, uns über die aktuelle Kultur auszu­ Apartheid. Doch unter Kennern hat einladende Gelände mit dem freund­ tauschen!“ sich inzwischen herumgesprochen, lichen Innenhof betritt, der mag viel­ Dann ist ein Dialog auf Augenhöhe, dass auf diesem Gelände Südafri­ leicht die Bibliothek nutzen, eine ein Verhandeln der unterschiedlichen kas berühmtester Künstler, William Kulturveranstaltung besuchen oder zu Kulturleistungen möglich. Ein erfolg­ Kentridge, sein Atelier hat, dass einem der zahlreichen Deutschkurse reiches Beispiel ist der panafrikanische „Goethes Welt“: Goethe-Institut Johannesburg © AVJRLauret sich Galerien und Verlage aus dem kommen: Allein die ziehen Jahr für Jahr Kurzfilmwettbewerb „Latitude“: Über In- und Ausland hier niedergelassen rund 300 Menschen an, Tendenz stabil. Strukturen des Goethe-Instituts haben the-Institut da auf vermintem Gelän­ werde „der Geheimtipp zur WM in haben – und dass das Goethe-Insti­ Doch die Arbeit des Instituts geht weit junge Filmemacher ihre Projekte ein­ de? „Spannend ist es auf jeden Fall“, Johannesburg“. tut einen Projektraum betreibt. über den klassischen Aufgabenkanon gereicht und produziert. Neun davon findet Peter Anders, „da muss man Wenn es doch nur immer so ein­ bei „Goethe“ hinaus und umfasst wurden parallel zur Berlinale gezeigt, auch mal Risiken eingehen!“ fach wäre. Bislang floriert die Arbeit as „Goethe on Main“, promi­ inzwischen deutlich mehr als den bila­ und inzwischen gibt es – wieder über Zu diesen riskanten Unterneh­ des Goethe-Instituts auch deswegen, D nent im Eingangsbereich des teralen Kulturaustausch: „Ich finde es die Goethe-Institute – Anfragen zur mungen zählt sicher das Theaterfor­ weil das Auswärtige Amt noch unter weitläufigen Geländes gelegen, zeigte ausgesprochen wichtig, dass wir hier Präsentation der Filme aus der ganzen mat „X-Wohnungen“: Ein Team des Frank-Walter Steinmeier im Rahmen von Anfang an Flagge: Es eröffnete den die Chance haben, eine Plattform für Welt. Und die südafrikanische Produk­ Berliner „Hebbel am Ufer“ wird parallel der „Aktion Afrika“ ein 5-Millionen- Veranstaltungsreigen, als das „Arts on kulturelle Entwicklungen innerhalb tion wurde kürzlich zum „Best African zur Fußball-WM gemeinsam mit ein­ Euro-Paket für die Arbeit der Subsa­ Main“ an den Start ging. Aber kein Afrikas zu bilden“, unterstreicht Katha­ Short Film“ 2010 gewählt. heimischen Künstlern Performances hara-Institute geschnürt hatte. „Es Streichquartett aus Deutschland war rina von Ruckteschell-Katte, „früher Dennoch stellt sich bei jeder Ko­ in Privatwohnungen von Menschen wäre fatal“, so die Institutsleiterin, da zu hören, sondern „Isicathamiya“: musste unsere Arbeit immer einen produktion die Frage, wie sie entsteht machen, die in der ärmsten Gegend „wenn all das, was wir jetzt aufgebaut Zulu-Gesänge und -Tänze der Men­ Deutschland-Bezug haben, heute und was die deutsche Seite dazu bei­ Sowetos und in einer so genannten haben, aufgrund mangelnder Finan­ schen aus den umliegenden Straßen. können wir dazu beitragen, dass sich trägt. Um nicht in eine paternalistische, „No-Go-Area“ Johannesburgs leben. zen zurückgefahren werden müsste“. „So haben wir Leute zusammenge­ hier etwas formiert, dass sich kulturelle letztlich bevormundende Position zu Doch zur Fußball-WM gibt es Nach den jüngsten Botschaften aus bracht, die sonst nicht zusammen­ Projekte entwickeln“ geraten, ist größte Zurückhaltung nö­ bei „Goethe“ auch weniger heikle dem Auswärtigen Amt – ein strenger kommen“, erzählt Institutsleiterin So wie im „Goethe in Main“. Doch tig. Aber, so Peter Anders, „man muss Projekte. „Trailer Park“ heißt eine Sparkurs, der das Goethe-Institut Katharina von Ruckteschell-Katte. die Arbeit beschränkt sich nicht auch Werte und Qualitätsurteile haben Aktion, die für Andrang auf dem als Ganzes trifft und direkte Auswir­ „Seitdem kommen die Bewohner aus auf Johannesburg, nicht einmal auf und vertreten – wenn es beispielsweise Institutsgelände sorgen dürfte: Dort kungen auf die Projektarbeit hätte der Nachbarschaft eigentlich zu jeder Südafrika: Das Institut ist zuständig darum geht, Kritik zu üben, die in der werden Wohnwagen aufgestellt, die – gibt es konkreten Anlass zur Sorge. Eröffnung, die wir hier haben; sie fin­ für die gesamte Region Subsahara hiesigen Kultur ganz anderen Kriterien jeweils „typisch deutsch“ und „typisch Für die Region Subsahara könnte das den es interessant, was hier passiert. – mithin für 47 Länder. In 24 von unterliegt als bei uns und oftmals gar südafrikanisch“ ausstaffiert sein sol­ bedeuten, dass nun ein zartes Pflänz­ Was wir uns vorgenommen haben, ihnen ist „Goethe“ vertreten, so dass nicht verankert ist.“ len – inklusive Fernseher fürs Public chen verdorrt, das gerade erste Früchte funktioniert richtig“. ein kulturelles Netzwerk entstanden Ein heikler Balanceakt in einem Viewing, versteht sich. Gekrönt wird getragen hatte. Wahrscheinlich funktioniert es ist, dessen Fäden in Johannesburg zu­ Land, in dem man als Weißer un­ das Fußballfest mit einem „Braai“, deswegen, weil es im „Goethe on sammenlaufen. In der Praxis bedeutet weigerlich Teil der verhängnisvollen einem südafrikanischen Grillgelage. Die Verfasserin ist Redakteurin in Main“ ausschließlich Projekte gibt, das beispielsweise, dass man Künstler Geschichte von Kolonialismus und Institutschefin Katharina von Ruck­ der Kulturredaktion der Deutschen die in Partnerschaft mit einheimi­ oder Kulturmanager aus verschie­ Rassismus ist. Bewegt sich das Goe­ teschell-Katte vermutet schon, das Welle schen Künstlern entstehen: Nicht das Goethe-Institut, sondern eine lokale Jury entscheidet, was hier entsteht. Gediegene Repräsentationskultur aus dem fernen Deutschland wird man Weggabelung hier nicht finden. Vielmehr geht es in Der Deutsche Kulturrat steht vor seinem dritten Aufbruch • Ein Kommentar von Olaf Zimmermann Johannesburg erst einmal darum, die Folgen der Apartheid zu überwinden Ein Jahr vor dem dreißigsten Jubilä- Experiment Deutschen Kulturrat wohl des Kulturrates berufen. Nach dem kulturverbände wahrgenommen wird. und Künstlern aus bislang benach­ um des Deutschen Kulturrates, steht schnell zu Ende gewesen. Man kann die plötzlichen Tod von Everding übernahm Zusätzlich haben wir in den letzten teiligten Bevölkerungsgruppen neue der Verband an einer Weggabelung. damalige Bereitschaft der großen, gut 1998 Franz Müller-Heuser, der Präsi- Jahren unsere Zusammenarbeit mit Chancen zu eröffnen. Angefangen hatte alles 1981 am organisierten Kulturstrukturen, einen dent des Deutschen Musikrats, seinen befreundeten Spitzenverbänden au- „Die Mauer zwischen Schwarz und Küchentisch von Karla Fohrbeck in dauerhaften Machtverzicht zu Guns- Platz. Seit 2000 ist jetzt Max Fuchs, ßerhalb des Kulturbereiches verstärkt. Weiß – und zwischen Arm und Reich Bonn, mit der Idee, mehr Einigkeit ten der kleineren oftmals weniger gut Direktor der Akademie Remscheid, der Der Gemeinsame Appell Anfang Juni – ist in der Stadt eindeutig zu sehen“, unter den Kulturverbänden durch organisierten Kulturbereiche zu üben, Präsident des Deutschen Kulturrates. 2010 der Bundesarbeitsgemeinschaft bedauert die Institutsleiterin, „wenn mehr Abstimmung untereinander zu nicht hoch genug loben. Bis heute Wenn man es in der Sprache des der Freien Wohlfahrtspflege, des Deut- sich das wieder zu mischen beginnt, erreichen. Andreas Wiesand, Olaf haben alle Sektionen, also Mitglieder Fußballs sagen würde, ist der Deut- schen Kulturrates und des Deutsches ist das ein erster Schritt in Richtung Schwencke, Rolf Zitzlsperger, Bogislav des Deutschen Kulturrates die gleichen sche Kulturrat über die verschiedenen Olympischen Sportbundes an die Normalisierung und kann dem Ras­ von Wentzel, Andreas Eckhardt waren Rechte in den Entscheidungsgremien. Ebenen in die Bundesliga aufgestiegen. Mitglieder der Gemeindefinanzkom- senhass entgegenwirken, den es auf mit Karla Fohrbeck einige der Utopis- Der Deutsche Musikrat mit 107 Kultur- Jetzt steht er, so glaube ich, vor den mission ist ein Beispiel dafür. beiden Seiten noch gibt“. ten der ersten Stunden. Ein Verein, mit verbände entsendet genauso viele De- Sprung in die Champions League. Wie Ebenso deutlich zugenommen hat die Meist, erzählt sie, gelingt eine sol­ Mitgliedschaft und Satzung, durfte der legierte in die Gremien des Deutschen im Fußball ist ein solcher Sprung aber mediale Präsenz des Kulturrates. Gera- che Mischung im „Goethe on Main“. aus der Taufe gehobene Deutsche Kul- Kulturrates wir z.B. die Sektion Design nicht nur an die Leistung des Vereins de die Wahrnehmung durch die Medien Auch wenn es schon mal Überra­ turrat nicht direkt sein. Zu groß waren mit 10 Kulturverbänden. und der Mannschaft gekoppelt, sondern verlangt vom Deutschen Kulturrat eine schungen gibt: Als etwa der junge die Vorbehalte vor einem Dachverband Im Jahr 1995, also erst vor 15 Jahren, die Champions League verlangt deutlich immer schnellere Entscheidung über Choreograph Musa Hlatshwayo aus der Bundeskulturverbände. Trotzdem erhielt der Deutsche Kulturrat eine mehr. Im Fußball müssen zumindest ein kulturpolitische Fragen ab. Denn dort KwaZulu-Natal mit einer politisch war die Aufgabenbeschreibung für Satzung und wurde zum eingetragenen adäquates Stadion und eine den ge- wo die Politik uns noch Tage bis Wochen aufgeladenen „Moses“-Interpretation den Deutschen Kulturrat letztlich von Verein und konnte sich von diesem wachsenen Anforderungen der Liga ent- zur Abstimmung zugesteht, verlangen zu Gast ist, erscheint ein rein weißes Anfang an klar: Versammlung von Zeitpunkt an auch juristisch korrekt als sprechende Vereinsstruktur vorhanden die Medien unmittelbare Antworten. Publikum. möglichst allen bundesweit tätigen Spitzenverband der Bundeskulturver- sein. Übertragen auf den Deutschen Wer nicht sprachfähig ist, verliert seine Kein Grund, sich zu grämen. Dass Kulturverbänden, ob Künstlerver- bände verstehen. Das von den eigenen Kulturrat bedeutet das, dass auch wir, Verbreitungsmöglichkeiten von Inhalten überhaupt Weiße in dieses Quartier bände, Kulturwirtschaftsverbände, Mitgliedern akzeptierte Selbstverständ- wenn wir den nächsten Schritt machen über die Medien gänzlich. kommen, ist ein Fortschritt in einer Verbände der Kultureinrichtungen und nis alleine genügt aber für einen Inter- wollen, sehr kritisch unsere Strukturen Der Deutsche Kulturrat steht an der Stadt, die nicht nur von „Mauern in der bundesweit tätigen Laienverbände essenverband nicht. Auch die Politik, unter die Lupe nehmen müssen. Weggabelung. Er kann jetzt entschei- den Köpfen“, sondern von ganz realen des Kulturbereiches und Vertretung die Medien und die Interessenvertreter Die ständig zunehmenden kulturpoli- den, den Druck aus dem Kessel her- Mauern geprägt ist: Johannesburg der gemeinsamen Interessen dieser der gesellschaftlichen Bereiche außer- tischen Debatten setzen den Deutschen auszunehmen, einen Gang zurück zu wirkt wie ein Hochsicherheitstrakt. bunten Gruppe. halb der Kultur, mussten dies ebenso Kulturrat deutlich unter Druck. Kulturfi- schalten und sich mit dem Erreichten Gerade darum setzt „Goethe“ mit Durch den Deutschen Musikrat, der sehen. nanzkrise, Urheberrecht, europäische zufriedenzugeben. Er kann aber auch seiner Präsenz in der Innenstadt ein bereits über eine beeindruckende In den letzten 15 Jahren seit der Ver- Kulturpolitik sind nur einige wenige den Sprung in die Champions League Zeichen: Veränderung, so zeigt sich, ist Organisationsstruktur verfügte, wurde einsgründung hat der Deutsche Kul- Stichworte der Debatten den letzten anstreben. Dann wird der Deutsche möglich. Rund um das „Arts on Main“ die Binnenstruktur des Deutschen Kul- turrat einen weiten Weg zurück gelegt. Wochen. Neun Fachausschüsse des Kulturrat seine Strukturen aber an beginnt sich die Stadt zu verändern: turrates vorgegeben. Acht Sektionen, Beständig ist der Kulturrat gewachsen. Deutschen Kulturrates arbeiten ständig die neuen Erfordernisse anpassen Schon sind die ersten Weißen hierher jeweils eigene selbstständige nach Heute sind 234 Bundeskulturverbände an diesen Themen und ihre Sitzungs- müssen. gezogen, und wenn nicht ein Prozess künstlerischen Bereichen getrennte über die acht Sektionen Mitglied des intensität nimmt rasant zu. Zu immer Die Feierlichkeiten zum 30-jährigen der Verdrängung und Gentrifizierung Mitglieder, wurden Träger des Deut- Vereins. Zu verdanken hat diese rasante mehr kulturpolitischen Fragen muss der Jubiläum im Herbst 2011 sollten nach einsetzt, dann könnte aus dem eins­ schen Kulturrates. Die erste Sektion Entwicklung der Kulturrat besonders Deutsche Kulturrat in immer schnellerer 1981 und 1995 der dritte Aufbruch tigen Schwarzenghetto ein Quartier wurde der Deutsche Musikrat, der seinen Präsidenten. 1995 übernahm Zeit sprachfähig werden. Immer seltener des Deutschen Kulturrates werden. werden, in dem zumindest nicht die wegen seiner schieren Größe die der Opernindendant und Präsident des akzeptiert die Politik langes Hinwarten Angst vor dem vermeintlich Fremden anderen sieben Sektionen weit über- Deutschen Bühnenvereins August Ever- oder gänzliche Sprachlosigkeit des Der Verfasser ist seit 1997 regiert. flügelte. Hätte der Deutsche Musikrat ding das Ruder des Verbandes. Er hat Deutschen Kulturrates, der immer unbe- Geschäftsführer des Deutschen Das eigentliche Goethe-Institut diese Stärke ausgespielt, wäre das mich auch 1997 zum Geschäftsführer strittener als Spitzenverband der Bundes- Kulturrates liegt in einem „weißen“ Bezirk, in Park­ Internet-Enquete politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 14

Netzanbieter zu motivieren oder zu und Bedürfnisse berücksichtigt sehen. verpflichten. Grundlegende Regulierungsvorausset- · Durch die digitale Transformation des zungen sind Prinzipien wie offener und öffentlichen Sektors mittels EGovern- neutraler Zugang, Weiterleitung und Internet-Enquete ment und E-Justice erhalten auch Kommunikation für Nutzer wie Anbieter In der letzten Ausgabe von politik und aufgrund ihrer Sach- und Fachkenntnis Wirtschaft und Gesellschaft wichtige (Netzneutralität). Nur mit dieser Offen- kultur haben die Abgeordneten-Mit- berufen. Auch sie wurden gebeten, kurz Impulse für die Internetnutzung. heit kann sich die digitale Welt zum glieder der Enquete-Kommission des und knapp zu benennen, welches Anlie- · Als drittes Handlungsfeld möchte ich Nutzen aller weiterentwickeln. Zugang Deutschen Bundestags „Internet und gen ihnen in der Enquete-Arbeit beson- das Thema Bezahlsysteme für das zum Netz, zu Dienstleistungen, Wissen, digitale Gesellschaft“ über ihre Anliegen ders wichtig ist. Bis auf Constanze Kurz, Internet auf die Tagesordnung bringen. das ist der entscheidende Faktor. Eine in der Enquete-Kommission Auskunft Sachverständiges Mitglied der Fraktion Wir brauchen diskriminierungsfreie Spaltung in digitale und nicht digitale gegeben. Sie haben deutlich gemacht, Die Linke, sind alle unserer Bitte, ihre Bezahlsysteme mit niedrigen Trans- Gesellschaft muss daher vermieden welchen Themen sie sich besonders Ziele und Schwerpunkte zu nennen, aktionskosten für Klein- und Kleinst- werden. verpflichtet fühlen, welche sie beson- nachgekommen. Den Statements beträge als Alternative zum Bezahlen Cornelia Tausch, Leiterin des Fach- ders voranbringen wollen. ist zu entnehmen, dass Kultur nicht mit persönlichen Daten. bereichs Wirtschaft und Internati- In dieser Ausgabe kommen die Sach­ vordringliches Anliegen der Enquete- Mein Eingangsstatement in voller Länge onales beim Verbraucherzentrale verständigen Mitglieder zu Wort. In Mitglieder ist. Um so wichtiger wird es unter www.blogfraktion.de. Bundesverband, Sachverständiges Enquete-Kommissionen sind die sein, sich bei Anhörungen und anderen Harald Lemke, Berater bei McKinsey, Mitglied der SPD-Fraktion Sachverständigen Mitglieder den Ab- Dialogforen zu Wort zu melden. Dieter Gorny Foto: BVMI Sachverständiges Mitglied der CDU/ geordneten gleichgestellt. Sie werden Die Redaktion CSU-Fraktion Neben Kommunikation und Services gehören Content-Angebote zu den Jahren beschäftigen wird – angefangen bunden ist ein zweiter Themenkomplex: beliebtesten und meistgenutzten Ser- bei der Sicherung von Meinungsfreiheit die sogenannte Netzneutralität. Drittens vices im Netz. Angesichts der gigan- und Medienvielfalt über die Folgen der sollte sich die Enquete mit der Siche- tischen Menge an frei verfügbaren Digitalisierung für Medien und Gesell- rung der Medienvielfalt sowie der Viel- und scheinbar kostenlosen Angeboten schaft bis zu den daraus entstehenden falt publizistischer und künstlerischer von hochwertigen Inhalten haben wir Herausforderungen für die Kommu- Betätigungsformen beschäftigen. Das vergessen, dass die Mehrzahl dieser nikationsordnung – befassen sich die Internet ermöglicht die Entfaltung krea- Angebote nur deshalb existiert, weil sie Landesmedienanstalten seit Jahren tiver Energien, die es zu aktivieren gilt. ihre ökonomische und kreative Basis in intensiv. Ich freue mich deshalb, aus Und schließlich gilt es viertens, die Ba- der analogen Welt haben. Das Internet dem Bereich Rundfunk zum Sachver- lance zwischen Sicherheit und Freiheit selbst schafft keine Inhalte, es trans- ständigen berufen worden zu sein. (wieder-)herzustellen, für einen moder- portiert sie nur. Inhalte werden immer Von zentraler Bedeutung sind für mich nen Datenschutz Sorge zu tragen sowie noch von Menschen und Unternehmen Fragen der Netzneutralität, des freien das Urheber- und Leistungsschutzrecht erschaffen und produziert. und ungehinderten Zugangs im Inter- auf den Prüfstand zu stellen, ob es den Das Urheberrecht hat deshalb auch im Nicole Simon Foto: Nik Bernhardt net und damit verbundene Strategien Anforderungen einer modernen Infor- Internet eine zentrale Funktion, weil es zur Vermeidung der digitalen Spaltung. mationsgesellschaft noch genügt oder dafür sorgt, dass Kreative und Unterneh- Das das Internet einen tiefgreifenden Wolfgang Schulz Foto: Sandra Mir persönlich sind auch Jugendme- einer Fortentwicklung bedarf. men für ihre Arbeit fair entlohnt werden. Einfluss auf unser aller Leben und Hoever/Hans-Bredow-Institut dienschutz und Medienerziehung ein Hubertus Gersdorf, Gerd Bucerius- Gleichzeitig muss das Urheberrecht den Wirtschaften hat, begreifen inzwischen großes Anliegen. Freiheiten kann nur Stiftungsprofessur für Kommunika- Realitäten der digitalen Welt angepasst die meisten. Nicht so sichtbar: die In der Wissensgesellschaft wird es verantwortlich wahrnehmen, wer auf tionsrecht in Verbindung mit dem werden, dazu gehören beispielswei- Veränderungen in der Gesellschaft sind immer wichtiger werden, Wege zu fin- der anderen Seite der Waagschale Öffentlichen Recht an der Juristi- se Ansätze wie Creative Commons mindestens mit denen der industriellen den, politische Entscheidungsprozesse Rechtsgüter und Werte schützt. Und der schen Fakultät der Universität Ro- oder Open Source. Aber Urheber und Revolution vergleichbar und erfordern, systematisch mit fachlicher Expertise zu Schutz von Kindern und Jugendlichen stock, Sachverständiges Mitglied der Produzenten müssen auch in der digi- dass bestimmte Themen komplett neu verknüpfen. Der Ansatz, die alte Form ist eine Aufgabe mit Verfassungsrang. FDP-Fraktion talen Welt selbst darüber entscheiden definiert werden müssen. Für mich ist der Enquête-Kommission zu einem Kinder und ihre Familien brauchen können, wie, wann und wo ihre Inhalte wichtig, dass die Politiker spätestens modernen, hoch relevanten Thema wie medienpädagogische Unterstützung, genutzt werden. Durch das Internet ist durch den Abschlussbericht andere dem Internet und den neuen Medien um die Risiken, die das Internet birgt, das Urheberrecht in Konflikt mit anderen Sichtweisen kennenlernen und Themen einzusetzen, erscheint daher spannend erkennen, einschätzen und abwehren Rechten wie dem Datenschutz oder dem besser verstehen können; z.B. „Wie und auch wichtig. Es steht allerdings zu können. Dafür werde ich mich in Recht auf informationelle Selbstbestim- kann man das Internet für jedermann zu vermuten, dass es auch neue Wege der Enquete-Kommission stark machen mung geraten. Ich wünsche mir deshalb nutzbar und benutzbar machen? Welche braucht. und freue mich auf den Austausch mit von der Enquete-Kommission „Internet Voraussetzungen müssen geschaffen Ich sehe mich als neutralen Sachver- Experten und die öffentliche Debatte. und digitale Gesellschaft“ eine entideo- werden, damit es ein wertvolles Werk- ständigen und verbinde keine politische Wolf-Dieter Ring, Präsident der logisierte Debatte über diese Themen, zeug bleibt und nicht negative Aspekte Agenda mit der Kommissionsarbeit. Bayerischen Landeszentrale für neue die den berechtigten Interessen aller von Wirtschaft und Politik ausgenutzt Für mich geht es zunächst darum, die Medien (BLM) und Vorsitzender Beteiligten Rechnung trägt und dabei werden?“ Gleichzeitig will ich heraus- Veränderungen einzuordnen und auf der Kommission für Jugendmedi- ökonomische und kulturelle Realitäten finden, wie man die parteiübergreifen- Begriffe zu bringen, bevor es um Ent- enschutz (KJM), Sachverständiges nicht außer Acht lässt. de Wirkung der Enquete-Kommission scheidungen geht. Fachlich halte ich vor Mitglied der CDU/CSU-Fraktion Dieter Gorny, Vorstandvorsitzender nutzen kann, um die Themen einer allem alle Fragen, die mit öffentlicher des Bundesverband Musikindustrie, breiteren Öffentlichkeit bekannt zu ma- Kommunikation und Wissenszugang zu Sachverständiges Mitglied der CDU/ chen und den Bürger zum Mitmachen tun haben, für besonders bedeutsam. CSU-Fraktion anzuregen. Mit meiner Arbeit in der Kommission Nicole Simon, Beraterin für Unter- möchte ich dazu beitragen, dass die nehmen im Bereich Social Media, Politik es möglich macht, die Potenziale Sachverständiges Mitglied der CDU/ des Netzes, wie zum Beispiel den ver- Bernhard Rohleder Foto: BITKOM CSU-Fraktion einfachten Wissenszugang, zu haben und zugleich den Herausforderungen, Die lange gehegte Meinung, der digitale etwa dem drohenden Zerfall demokra- Graben zwischen Online- und Offline- tischen Öffentlichkeit, zu begegnen. Welt werde sich demnächst biologisch Ziel der Arbeit der Kommission sollte schließen, ist inzwischen obsolet. Mit die Entwicklung einer fairen, lernfähigen der zunehmenden Verbreitung von und netzgerechten Informationsordnung Internetzugängen und Smartphones in sein. allen Gruppen und Altersklassen der Wolfgang Schulz, Direktor des Hans- Gesellschaft öffnen sich neue digitale Bredow-Instituts, Sachverständiges Gräben. Die Internetwelten von Er- Mitglied der SPD-Fraktion wachsenen und Jugendlichen könnten unterschiedlicher kaum sein. Hier geht es um die Fortsetzung der traditionellen Hubertus Gersdorf Foto: privat Kommunikation mit neuen Mitteln, dort verlagern sich große Teile der Sozio­ Als Bill Gates vor 15 Jahren prognos- sphäre ins Digitale. Hieraus entsteht tizierte, dass das Internet die Welt eine Wertespaltung der Gesellschaft, Harald Lemke revolutionieren würde, haben ihn viele wie es sie vielleicht noch nie, vielleicht Foto: McKinsey & Company milde belächelt. Heute lacht niemand zuletzt in den 60er Jahren des vorigen mehr über ihn. Er hatte Recht! Und Jahrhunderts gab. Datenschutz, Pri- Zwei Erwartungen habe ich an die Er- Recht hat er auch, wenn er immer vatheit, Jugendschutz, Wert geistigen gebnisse der Enquetekommission: Cornelia Tausch Foto: vzbv wieder betont, dass die Revolution erst Eigentums, politische Partizipation, Si- · Eine Fokussierung auf die Chancen begonnen hat. Die Enquete sollte in cherheit, Überwachung, Meinungsfrei- des Internet für Gesellschaft, Wirt- Die Interessen der Verbraucher in die erster Linie die Chancen des Internet heit, informationelle Selbstbestimmung schaft und Staat und klare Hand- Diskussion um die Gestaltung, den herausstellen: den Gewinn an Trans- – in diesen für unser Zusammenleben lungsempfehlungen, wie Politik dieses Rechtsrahmen und die Weiterentwick- parenz in Staat und Gesellschaft, die grundsätzlichen Kategorien könnte Potenzial erschließen kann. lung von Internet und Rechtsrahmen gesteigerten demokratischen Partizipa- die Kluft zwischen Net Community · Sachliche Analyse der Zielkonflikte sowie die Auswirkungen auf die Ge- tionsmöglichkeiten und die beruflichen und gewöhnlichen Internetnutzern, zwischen den politischen Dimensi- sellschaft einzubringen, das ist mein Entwicklungschancen des Einzelnen zwischen digital Natives und digitalen onen Freiheit, Wohlstand, Schutz und zentrales Anliegen. sowie die Wachstumspotenziale der Analphabeten größer kaum sein. Das Sicherheit. Effektiver Datenschutz und Recht auf Wolf-Dieter Ring Wirtschaft. Vier Themenfelder erschei- Verständnis zwischen beiden Welten Drei Handlungsfelder haben mein be- Privatsphäre sind in der digitalen Gesell- Foto: Christoph Vohler nen mir besonders wichtig: Erstens zu fördern und gemeinsame Ansätze sonderes Interesse: schaft, in der sich alles um die Nutzung sollte die Enquete die stationäre und für die künftige Verfassung der digitalen · Der Staat muss im Rahmen seiner von Daten dreht, wesentlicher denn je. Internet und Digitalisierung sind eine mobile Breitbandversorgung in den Fo- Welt zu finden, ist mir ein zentrales Daseinsvorsorgeverpflichtung für Das Urheberrecht hat den Übergang zur große Chance für unsere Gesellschaft kus rücken. Insbesondere im mobilen Anliegen. diskriminierungsfreien Zugang zum digitalen Welt bislang nicht so geschafft, – wenn wir sie verantwortungsvoll Bereich wird es in den nächsten Mona- Bernhard Rohleder, Hauptgeschäfts- Internet sorgen. Hier müssen Mög- dass auch Kulturschaffende und Ver- nutzen. Mit vielen Themen, die die En- ten und Jahren einen stetig steigenden führer von Bitkom, Sachverständiges lichkeiten gefunden werden, die braucher ihre berechtigten Interessen quete-Kommission in den nächsten zwei Breitbandbedarf geben. Eng damit ver- Mitglied der CDU/CSU-Fraktion Internet-Enquete politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 15

Das Internet und die digitale Gesell- gestalten. Es sind dabei insbesondere bestimmen können, wie sie das Netz schaft bringen Veränderungen hervor, zwei Perspektiven, die ich in die Enquete nutzen? Brauchen wir Regeln, die Netz- Mitglieder der die neue Formen der Zusammenarbeit einbringen möchte: betreibern verbieten, Anwendungen und im Netz entstehen lassen – auch über Das ist zum einen die wirtschaftlichen Services zu blockieren oder auszuschlie- Enquete-Kommission die Grenzen nationaler Arbeitsrechtsys- Dimension: Was kennzeichnet die di- ßen? Meiner Meinung nach brauchen CDU teme hinweg. Es muss in der Enquete- gitale Ökonomie und Arbeitswelt? Wie wir diese Regeln, um die Offenheit Mitglieder Kommission deswegen auch darum erlangen wir leistungsfähige, flächende- des Netzes zu erhalten und Innovation · Dr. , MdB gehen, sich der Potenziale der Entgren- ckende Breitbandnetze? Wie entstehen möglich zu machen. · Axel E. Fischer, MdB zung und Entsicherung herkömmlicher innovative Webdienste? Welche Rollen Markus Beckedahl, Blogger von netz- · , MdB sozialer Systeme anzunehmen, erst können deutsche und europäische politik.org, Sachverständiges Mit- · , MdB dann werden sich die kreativen und Angebote haben, die die spezifischen glied der Fraktion Bündnis 90/Die · , MdB produktiven Potenziale einer Internetö- Erwartungen der hiesigen Nutzer be- Grünen · Dr. , MdB konomie entfalten können. dienen? Welche Erwartungen sind dies Stellvertretende Mitglieder Lothar Schröder, Mitglied des ver.di- eigentlich? Und wie ändert sich die Rolle · , MdB Bundesvorstandes, Fachbereichslei- des Verbrauchers als aktiver Gestalter · , MdB ter Telekommunikation, Informati- der digitalen Welt? · , MdB onstechnologie, Datenverarbeitung, Zum anderen ist es die Frage, wie in · Nadine Müller, MdB Sachverständiges Mitglied der SPD- einem genuin globalen Medium über- · Lucia Puttrich, MdB Christoph Weinhardt Fraktion haupt aus einer lokalen Sicht gestal- · , MdB Foto: Franklin Avery tend Einfluss genommen werden kann. Sachverständige Mitglieder Klassische Regulierungformen müssen · Prof. Dieter Gorny In der Enquetekommission möchte ich von partizipativen Ansätzen ergänzt (Bundesverband Musikindustrie) insbesondere zu einer Versachlichung werden, die die vielen Akteure in den · Harald Lemke (McKinsey) der Debatte zur Netzneutralität beitra- verschiedenen Ebenen einbinden. Die · Prof. Dr. Wolf-Dieter Ring gen. Dabei geht es nicht nur um die heterogene Zusammensetzung der (Bayerische Landeszentrale für Thematik der Netzsperren, die m.E. in Enquete-Kommission ist eine gute Vor- Neue Medien) der Realität sogar wenig effektiv sind. aussetzung für einen solchen vom Di- · Dr. Bernhard Rohleder (Bitkom) Es wäre viel wichtiger, die Notwendigkeit alog bestimmten Prozess, der gelingen · Nicole Simon für transnationale Rechtsabkommen zu kann, wenn jeder Akteur Verantwortung (Sozial Media Consultant) wecken und die Voraussetzungen und für sein eigenes Handeln und dessen · Prof. Dr. Christof Weinhardt Programme dafür zu schaffen, dass Wirkung auf andere übernimmt. (Karlsruhe Institute of Technology) unsere Kinder und Jugendlichen den Wolf Osthaus, Leiter Politik & Annette Mühlberg mündigen Umgang mit dem Internet Regulierung, 1&1 Internet AG, Foto: Raymond King, ICANNWiki SPD lernen – hier gibt es noch sehr viel zu Sachverständiges Mitglied der Mitglieder tun. Der eigentliche Kern der Netzneu- FDP-Fraktion „Code is law“, so fasst der Harvard · Martin Dörmann, MdB tralitätsdebatte besteht vielmehr aus der Professor Lawrence Lessig die tech- · , MdB Frage, ob in Zukunft bestimmte Dienst- nische und gesellschaftliche Normen · Johannes Kahrs, MdB und Inhalteanbieter gegen Bezahlung setzende Funktion digitaler Strukturen · Aydan Özoguz, MdB einen bevorzugten Zugang zum Internet zusammen. Und wie die Architektur des Stellvertretende Mitglieder erhalten dürfen. Ein solch differenzierter Alvar C.H. Freude Foto: privat Netzes ausfällt, ob sie Orte der Frei- · Elvira Drobrinski-Weiß, MdB Zugang ist aus Theoriesicht in der Regel heit oder repressiver Kontrolle schafft, · Christian Lange, MdB zwar effizienzsteigernd. Allerdings muss Für viele Menschen ist das Internet in ob sie demokratische Strukturen und · Burckhard Lischka, MdB dabei die Chancengleichheit im Internet den letzten Jahren selbstverständlich Rechte unterstützt oder torpediert (von · , MdB gewährleistet werden. Wir müssen daher geworden: Zugverbindungen recherchie- Gewaltenteilung, kommunaler Selbstver- darüber nachdenken, wie innovative, ren, mit Freunden kommunizieren oder waltung, kultureller Teilhabe bis hin zur Sachverständige Mitglieder aber oft finanzschwache Start-Up-Un- den Inhalt des Dachbodens verkaufen, Meinungs-, Presse- und Koalitionsfreiheit · Alvar C. H. Freude ternehmen ebenfalls von einem differen- sind so einfach wie nie. Das Internet ist und dem Schutz der Privatsphäre) – das (Arbeitskreis Zensur) zierten Zugang profitieren können, damit aber auch ein wunderbarer kultureller hängt maßgeblich von politischen Ent- · Lothar Schröder in Zukunft auch durchschlagende Erfolge und sozialer Raum, der unendlich viele scheidungen ab. Entscheidungen, die (ver.di Bundesvorstand) aus Deutschland möglich werden. In Facetten auch abseits der herkömm- so komplex sind, dass sie am besten · Dr. Wolfgang Schulz diesem Sinne liegt mir für die gesamte lichen Kulturindustrie zu bieten hat. interdisziplinär an einem Runden Tisch (Hans-Bredow-Institut) Debatte der Enquetekommission am Wer allerdings das Netz hauptsächlich (Multistakeholderansatz) vorbereitet · Cornelia Tausch (verbraucher- Herzen, darauf zu achten, dass neben aus Ausdrucken kennt und nicht selbst werden. Das ist die Chance der Enquête: zentrale bundesverband) allen gut gemeinten Regulierungsansät- aktiv ist, kann die Vielfalt der Netzkultur Padeluun Foto: Velt Mette Eine international kompatible „demokra- zen nicht die riesigen Chancen dieses noch nicht einmal erahnen – Risiken tische Raumordnung“ für die Informati- FDP Mediums Internet verhindert werden. und Gefahren lassen sich hingegen „Wir wollen alles richtig machen“. Oder onsgesellschaft zu entwerfen. Mitglieder Christof Weinhardt, Universität immer schnell ausmalen, vermeintliche imperativ gesprochen: „Wir müssen Besonders engagieren in der Arbeit · Sebastian Blumenthal, MDB Karlsruhe (TH) – Professur für In- Lösungen sind dann schnell gefunden. alles richtig machen“. Ich möchte noch der Enquête möchte ich mich in den · Manuel Höferlin, MdB · , MdB formationsbetriebswirtschaftslehre , Die Diskussion um das Zugangser- ein „endlich“ hinzufügen. Bereichen: Stärkung des öffentliches Sachverständiges Mitglied der CSU/ schwerungsgesetz stand dabei nur stell- Padeluun, Künstler und Netzakti- Raumes im Netz, Stärkung der Daseins- Stellvertretende Mitglieder CSU-Fraktion vertretend für viele andere Bereiche. vist, Sachverständiges Mitglied der vorsorge in der Informationsgesellschaft, · Florian Bernschneider, MdB Denn auch im Internet muss die Freiheit FDP-Fraktion informationelle Selbstbestimmung, Ar- · Sylvia Carnel, MdB permanent vor Betrügern und Abzockern beitswelt, Mitbestimmung, Beteiligung, · , MdB ebenso wie vor Datenkraken oder einem Netzneutralität, Innovationsfähigkeit, die Grundrechte einschränkenden Staat offene Standards, Open Data sowie Sachverständige Mitglieder verteidigt werden. Die Enquête-Kom- privacy enhancing Technologien und Or- · Prof. Dr. Hubertus Gersdorf mission bietet hier die Chance, neue ganisationsformen – seien sie öffentlich (Bucerius Stiftungsprofessur für Impulse zu setzen und die Diskussionen oder privat. Kommunikationsrecht an der auf eine sachliche Ebene zu heben. Annette Mühlberg, eGovernment-Ex- Universität Rostock) Alvar C. Freude, freiberuflicher Soft- pertin bei ver.di und Internetnutzer- · Dr. Wolf Osthaus, (Leiter Politik & ware-Entwickler, Sachverständiges vertreterin bei ICANN, Sachverstän- Regulierung, 1 & 1 Internet AG) Mitglied der SPD-Fraktion diges Mitglied der Fraktion · padeluun (Netzkünstler) Die Linke Grüne Mitglieder · Dr. , MdB · Tabea Rößner, MdB

Stellvertretende Mitglieder · , MdB Lothar Schröder · , MdB Foto: Kay Herschelmann Markus Beckedahl Sachverständige Mitglieder Dabei sein ist nicht alles, aber eine Foto: Franz Patzig · Markus Beckedahl (netzpolitik.org) Grundvoraussetzung dafür, um Chancen · Dr. Jeanette Hofmann auch nutzen zu können. Um eine digitale Netzneutralität war bisher immer da: (Wissenschaftszentrum Berlin Spaltung zu überwinden, muss es des- Netzbetreiber hatten keinen Einfluss für Sozialforschung) wegen gelingen glasfaserbasierte Tele- auf Anwendungen und Inhalte, konn- kommunikationsnetze flächendeckend, ten nicht in Pakete rein schauen und Die Linke für alle zugänglich, auszubauen. Die wussten lange nicht, welche Pakete Mitglieder Breitbandstrategie der Bundesregierung bei ihnen übertragen werden. Nutzer · Dr. , MdB hat bisher nicht ausgereicht, nachdrück- konnten frei entscheiden, wie sie das · , MdB liche Impulse für den Breitbandausbau Netz nutzen wollen. Daraus entstanden zu setzen. Wolf Osthaus Foto: Torsten Proß alleine in den vergangenen 15 Jahren Jeanette Hofmann Stellvertretende Mitglieder Wer im Netz arbeitet, braucht zeit- zahllose Innovationen, die unser Leben Foto: David Ausserhofer · , MdB gemäße Rechte. Da herkömmliche Digitalisierung und weltweite Vernet- bereichert haben. Heute ist das anders: · , MdB schwarze Bretter für Netzarbeiten an zung verändern alle Lebensbereiche. Netzbetreiber haben jetzt Technolo- Die Digitalisierung und die Vernetzung Bedeutung verlieren und Werkstore Grenzen schwinden, neue Formen der gien, um in den Datenverkehr rein zu unterlaufen viele traditionelle Regeln, Sachverständige Mitglieder immer weniger die Grenze zwischen Kreativität, neue Möglichkeiten gesell- schauen. Das gibt ihnen neue Mög- die den gesellschaftlichen Umgang mit · Constanze Kurz Beruf und Freizeit markieren können, schaftlichen Miteinanders entstehen. lichkeiten, Anwendungen und Inhalte Wissen geprägt haben. Gleichzeitig (Chaos Computer Club) · Annette Mühlberg brauchen Beschäftigte Log-off-Rechte, Sie stellen Überkommendes in Frage zu kontrollieren. können digitale Informationsflüsse (ver.di Referat Neue Medien) Gewerkschaften Zugangsrechte zu elek- und bedürfen einer aufmerksamen, Das Kernanliegen der Netzneutralitäts- nur in beschränktem Umfang auf na- tronischen Netzwerken und Arbeitneh- aber nicht angstvollen Begleitung, debatte sei: Sollte man Netzbetreibern mer freien Zugang zum Netz und einen um Chancen wie Risiken rechtzeitig die Möglichkeit geben, diese Techno- Weiter auf Seite 16 zeitgemäßen Schutz Ihrer Daten. zu erkennen und zum Nutzen aller zu logien zu nutzen? Oder sollen Nutzer Urheberrecht politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 16

Der Urheber steht im Mittelpunkt Zur Berliner Rede zum Urheberrecht • Von Gabriele Schulz Als Berliner Rede zum Urheberrecht kann und damit er selbst entscheiden Pauschalvergütung in Korb II betrifft. wurde die Rede von Bundesjustizmi- kann, wann, wie und in welcher Weise War es damals die Zusage von Kanzler nisterin Leutheusser-Schnarrenber- sein Werk veröffentlicht wird. Das Schröder gegenüber den Geräteher- ger am 14.6.2010 zur Eröffnung des Urheberrecht sichert eben mehr als stellern und -importeuren, dass sie Dialogs zum 3. Korb der Reform des Vergütungsansprüche, es beinhaltet nicht zusätzlich belastet werden sol- Urheberrechts in der Informations- zugleich das Urheberpersönlich- len, die die gesamte Diskussion um gesellschaft angekündigt. Berliner keitsrecht. die Pauschalvergütung überschattete, Rede, damit wurde die Latte sehr Leutheusser-Schnarrenberger wird hier der Autor in den Mittel- hoch gelegt. Und gleich in ihren stellte unmissverständlich fest, dass punkt gerückt. Das ist wohltuend und einleitenden Worten stellte Leut- der Schutz des geistigen Eigentums wird sich hoffentlich in der konkreten heusser-Schnarrenberger eine Ver- eine Voraussetzung für kulturelle Viel- Gesetzgebung wiederspiegeln. bindung zum „Erfinder“ der Berliner falt, Kreativität und wissenschaftliche Ihr Fett weg bekamen sowohl die Rede, Altbundespräsident Herzog, Leistungen ist. Apodiktisch formulier- Verwerter künstlerischer Leistungen her, in dem sie ihn mit folgenden te sie: „Bei allen Überlegungen muss als auch die sogenannte Netzcom- Worten zitierte: „Erbärmlich ein der Kreative, muss der Werkschöpfer munity. Mehr oder weniger unmiss- Eigentumsbegriff, der sich nur auf im Mittelpunkt stehen. Niemand verständlich wurde den Verwertern Sachgüter, Produktionsmittel und sonst gehört in den Mittelpunkt, kein gesagt, dass sie sich nicht hinter dem Wertpapiere bezieht und die Leis- Dritter, weder der Verwerter, der mit Urheberrecht verstecken sollen, wenn tungen des menschlichen Geistes der Vermarktung des Werkes Geld ihre Geschäftsmodelle nicht mehr ausklammert! Erbärmlich eine Ge- verdient, noch der User, der mit der funktionieren. Als Besitzstandswahrer sellschaft, die sich einen solchen Gratis-Nutzung Geld sparen will. Es tituliert wurde ihnen vorgeworfen, zu Eigentumsbegriff leisten wollte!“ geht nicht um sie, es geht beim Urhe- spät neue Geschäftsmodelle entwickelt berrecht in erster Linie um den Krea- zu haben. Ganz liberal wurden sie auf it diesem Zitat wurde sogleich tiven. Ihn dürfen wir nicht abspalten den Markt verwiesen. Im Wettbewerb M der Grundton vorgegeben, von seinem Werk, sein Werk dürfen soll sich erweisen, welches Geschäfts- Ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger bei der Berliner Rede zum Ur- der sich durch die gesamte Rede wir nicht anonymisieren und auch modell auf Dauer tragfähig sein wird. heberrecht am 14.6.2010 in Berlin Foto: Rainer Habig/BMJ ziehen sollte: Im Mittelpunkt des nicht kollektivieren. All dies wäre ein Unmissverständlich wird formuliert: Urheberrechts steht der Urheber. fataler Irrweg.“ „Wir wollen keine Schonräume schaf- Absage erteilt. Ebenso klar grenzt Rahmenbedingungen für Verwer- Sein Werk soll geschützt werden. Diese eindeutige Autorzentrierung ist fen für Geschäftsmodelle, deren Zeit sich Leutheusser-Schnarrenberger tungsgesellschaften gearbeitet wer- Es soll geschützt werden, damit er eine Abkehr von der Urheberrechts- abgelaufen ist. Aber das Urheberrecht vom französischen Modell ab, nach den. Genauere Hinweise, an welche einen ökonomischen Nutzen aus politik in der letzten Legislaturpe- muss seinen Beitrag zu fairen Wettbe- dem nach drei Verwarnungen der In- Regelungen gedacht wird, blieb die der Verwertung seiner Werke ziehen riode speziell was die Regelung zur werbsbedingungen leisten.“ Zwar wur- ternetzugang gekappt werden kann. Ministerin schuldig. de von Leutheusser-Schnarrenberger Das Warnhinweismodell wird mit Nach dieser Berliner Rede zum koalitionstreu noch einmal bestärkt, dem Fragezeichen versehen, ob es Urheberrecht folgen in den kommen- der Nutzer und auf der supranationalen dass ein Leistungsschutzrecht für sich tatsächlich ohne Inhaltskontrolle den Monaten vier Anhörungen zu Fortsetzung von Seite 15 Ebene bewältigen. Presseverlage eingeführt werden soll, und Datenerfassung realisieren lässt. spezifischen Aspekten des Urheber- Im internationalen Bereich entwickelt sich große Hoffnungen auf Erträge wurden Klar ist, dass die Providerhaftung fort- rechts. Da geht es um das Leistungs- tionaler Ebene reguliert werden, weil die Regulierung des Internet zum Pionier aber nicht geschürt. Im Gegenteil, es entwickelt werden soll und hier der schutzrecht für Presseverlage, um das Internet geopolitische Grenzen neuer Kooperationsformen zwischen wurde klar gesagt, dass das Leistungs- Urheber in den Mittelpunkt gerückt Open Access, die Kabelweitersendung und Zeitstrukturen einebnet. Meine Regierungen, Wirtschaft und Zivilgesell- schutzrecht „kein Allheilmittel für die werden soll. Hier schimmert durch, und das sogenannte Kneipenrecht, Schwerpunkte in der Enquete-Kom- schaft. Das Ziel besteht darin, einen Strukturveränderungen des Marktes wo ein Ansatz für die bessere Durch- um Fragen der kollektiven Rechte- mission liegen in der internationalen breiten Konsens über die politischen sein“ wird. setzung des Urheberrechts gesehen wahrnehmung und schließlich um die Regulierungsdimension und im Bereich Gestaltungsprinzipien zu entwickeln. Die Der Netzcommunity wurde in der wird. Mit einer Zeitachse versehen Nutzung von verwaisten Werken. Die Urheberrecht. Enquete-Kommission, die selbst höchst Rede immer wieder ins Stammbuch ist das Thema verwaiste Werke. Die Anhörungen sollen dazu dienen, dass Das Urheberrecht gehört zu den Insti- unterschiedliche Kompetenzen und Auf- geschrieben, dass das Recht des Urhe- Dimension der Problematik wird die verschiedenen Interessengrup- tutionen, deren Wirkung sich durch die fassungen versammelt, sollte ebenfalls bers zu respektieren sei und zwar so- mit dem Verweis auf 80 Prozent ver- pen ihre spezifischen Anliegen zu Digitalisierung grundlegend geändert hat. einen kollektiven Lernprozess anstreben wohl sein Recht auf Vergütung als sein waister literarischer Werke aus dem Gehör bringen. Auf dieser Grundlage Weil in der digitalen Welt jeder Kommuni- und hierbei die interessierte Öffentlichkeit Persönlichkeitsrecht. Unmissverständ- 20. Jahrhundert deutlich. Bis Ende soll dann, so die Ankündigung, Korb kationsakt einen Kopiervorgang auslöst, teilhaben lassen. lich wurde deutlich gemacht, dass aus des Jahres 2011 soll die Deutsche 3 geflochten werden. hat sich sein Geltungsbereich weit über Jeanette Hoffmann, Wissenschaft- den bestehenden Problemen bei der Digitale Bibliothek als Pilotprojekt im Es wäre allerdings schade, wenn das ursprüngliche Maß ausgedehnt. Eine liche Mitarbeiterin am Centre Durchsetzung des Urheberrechts nicht Netz starten. Es ist also Eile geboten, das Bundesjustizministerium hier Neuregelung des Urheberrechts kommt for Analysis of Risk and Regulation geschlossen werden darf, dass das eine Regelung zu den verwaisten stehen bliebe. Wenn die Berliner Rede nicht umhin, die neue technische Um- an der London School of Economics Recht als solches obsolet ist. Werken zu finden, damit das ehr- zum Urheberrecht tatsächlich nur gebung, aber auch die alltäglichen Nut- and Political Science, Was sind neben den program- geizige Ziel der Deutschen Digitalen ein etwas zu groß gewählter Begriff zungsweisen digitaler Kulturgüter ernst zu Sachverständiges Mitglied der matischen die konkreten politischen Bibliothek eingehalten werden kann. für eine Auftaktrede zur aktuellen nehmen. Sinnvoll lässt sich ein solches Fraktion Bündnis 90/ Aussagen? Wie nicht anders zu er- Weiter soll im europäischen Rah- Urheberrechtsreform bliebe. Reformprojekt nur noch unter Einschluss Die Grünen warten, wird der Kulturflatrate eine men an einer Harmonisierung der Der Konsultationsprozess zum Grünbuch der EU-Kommission „Er- schließung des Potenzials der Kultur- und Kreativindustrien“ wäre ein sehr Zwischen Anspruch, Erwartung und Wirklichkeit: guter Anlass, um unter Beweis zu Studie des Deutschen Kulturrates »Der WDR als Kulturakteur« stellen, dass hinter der Berliner Rede zum Urheberrecht eine politische Grundüberzeugung steht, die in die verschiedenen politischen Entschei- dungsprozesse eingespeist wird. In Der WDR ist die größte ARD-Anstalt. Er verfügt über das größte Budget, dem erwähnten Grünbuch wird gera- er hat die meisten Mitarbeiter, er versorgt das bevölkerungsreichste de nicht auf den Urheber abgehoben, Sendegebiet, er repräsentiert die ARD auf internationaler Ebene. noch nicht einmal auf die Verwerter Er ist ein Sender der Superlative! künstlerischer Werke und kultureller Dienstleistungen, sondern es geht Trotzdem wird der WDR auch aus dem Kulturbereich heraus kritisiert. nur darum, wie die Informations- und Telekommunikationsbranche Š Sinkt das Niveau wirklich ins Bodenlose? ihre Netze mit Inhalten füllen kann, Š Gewinnt die seichte Unterhaltung wirklich damit sie wirtschaftlich erfolgreich die Oberhand über die seriöse Information sind. Urheber und Verwerter werden und die ernste Kultur? dabei lediglich zu Rohstofflieferanten Š Beutet der Sender die freiberuflichen Kulturschaffenden degradiert. Hier ist die Justizministerin wirklich immer mehr aus? gefragt, gegenüber ihrem Partei- und Š Werden die Kultursendungen wirklich immer mehr Kabinettskollegen Rainer Brüderle in die Spartenprogramme oder in die späten Nachtstunden klar aufzutreten und deutlich für die verschoben? Urheber einzutreten. Ähnliches wird mit Blick auf die Digitale Agenda der EU-Kommission erforderlich sein. Der gefühlten Wahrheit Fakten gegenüberzustellen, Der WDR als Kulturakteur „Berliner Rede zum Urheberrecht“, Anspruch t Erwartung t Wirklichkeit die die Gefühle bestätigen oder widerlegen, ist das Ziel der Studie. den hohen Erwartungen an einen so Gerade der Kulturbereich, der vom Wohl und Wehe des öffentlich-rechtlichen Herausgegeben vom Deutschen Kulturrat programmatischen Titel wird Leut- Rundfunks unmittelbar betroffen ist, kann es sich nicht leisten, seine Beurteilungen Autoren: Gabriele Schulz, Stefanie Ernst, heusser-Schnarrenberger erst gerecht, zu einem nicht geringen Anteil aus dem Bauch heraus zu treffen. Olaf Zimmermann wenn der postulierte Anspruch, den Berlin 2009. 464 Seiten. Urheber in den Mittelpunkt des Urhe- 24,90 Euro berrechts zu rücken, bei der anstehen- den Novelle eingelöst wird und wenn Zu beziehen über jede Buchhandlung oder unter: http://www.kulturrat.de/shop.php ISBN 978-3-934868-22-9 dieses Postulat in andere politische Entscheidungsprozesse eingebracht wird. Hier gibt es viel zu tun.

Die Verfasserin ist Stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kulturrates puk-preis politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 17

Die Verleihung des puk-Journalistenpreises Begrüßung durch den Präsidenten des Deutschen Kulturrates, Max Fuchs Herzlich willkommen zur sechsten beschäftigen? Hierbei muss man Verleihung des puk-Preises. Zu- unterschiedliche Ebenen unter- nächst möchte ich mich bei dem scheiden, und dies macht das Ganze Hausherrn, Herrn Intendanten Dr. noch ein wenig komplizierter. Auf Steul, ganz herzlich dafür bedanken, kommunaler Ebene kann man davon dass wir zum sechsten Mal in Koope- sprechen, dass Kulturpolitik etwas ration mit Deutschland-Radio Kultur ist, das man hautnah erlebt, das den puk-Preis verleihen dürfen. man quasi anfassen kann. Ein gutes „puk“ – Sie wissen es – ist die lie- Beispiel bietet meine Heimatstadt bevolle Bezeichnung für die Zeitung Wuppertal. Die entscheidende kul- des Deutschen Kulturrates: politik turpolitische Frage ist dort, ob das und kultur. Der Hintergrund für die Theater tatsächlich geschlossen wird Vergabe dieses Preises ist denkbar oder nicht. Dies ist leicht der Bevöl- egoistisch. Denn der Deutsche Kul- kerung zu vermitteln. Denn das The- turrat ist ein Interessensverband, ater ist ein Gebäude, die Menschen, der sich vor allen Dingen darum die in diesem Theater arbeiten, sind bemüht, die Rahmenbedingungen auch im Alltag anzutreffen. Kultur- für Künstlerinnen und Künstler und politik auf kommunaler Ebene ist für Kultureinrichtungen in Deutsch- also etwas sehr Konkretes. Je höher land verbessern zu helfen. Es sind allerdings die politische Ebene ist, d. weit über 200 Fachorganisationen, h. wenn wir von der Kommune zum die sich in diesem Dachverband Land, vom Land zum Bund und dann zusammengeschlossen haben. Um vielleicht sogar auf die Ebene der unsere Arbeit – man darf sie ruhig Europäischen Union oder der Welt- Lobbyarbeit nennen – verrichten zu handelsorganisation WTO gehen, können, ist Verschiedenes nötig: desto abstrakter werden die Themen In erster Linie natürlich fachlich und werden die Argumentationen in fundierte Vorschläge in den ver- der Kulturpolitik. Ich erinnere nur an schiedenen Feldern, in denen wir unseren jahrelangen Kampf mit der tätig sind. Und dies ist am wenigsten Welthandelsorganisation darüber, die Kulturpolitik selber, es ist vor ob Kultur und Medien in das GATS- Simon Fuchs und Max Fuchs, Präsident des Deutschen Kulturrates und Jurymitglied des puk-Journalistenpreises allem die Sozialpolitik, die Rechts- Abkommen aufgenommen werden Foto: Carolin Ries politik oder die Wirtschaftspolitik, sollen. Ich erinnere an die relativ in die wir unsere Ideen einbringen abstrakten Debatten darüber, was die Problemstellungen zu kommu- leicht zu vermitteln, dass Geld fehlt, riger als einen schönen Verriss über müssen. Und hierfür brauchen wir im Rahmen der Europäischen Union nizieren. Dies ist einer der Gründe, oder – nach der Wahl in Nordrhein- die letzte Aufführung im Stadttheater natürlich eine sehr gute öffentliche als Dienstleistung von allgemeinem weswegen wir den Journalistenpreis Westfalen – in noch größerem Um- oder eine kluge Rezension über ein Kommunikation. Einen Teil davon Interesse verstanden werden kann. für eine gelungene kulturpolitische fange fehlen wird, als wir es uns jetzt neues Buch zu schreiben. Ich freue können wir aus eigenen Kräften Diese Debatten sind so abstrakt und Berichterstattung ins Leben gerufen vorstellen können. Gerade deshalb mich natürlich darüber, wenn quali- bewerkstelligen. Unsere Zeitung scheinen so weit weg von einer schö- haben. muss man heute schwierige Dinge fiziert über Kunst berichtet wird. Ich politik und kultur leistet hier einen nen kulturellen Praxis vor Ort, dass Der puk-Preis soll eine Anerken- erklären, etwa was im kommunalen freue mich allerdings auch darüber, hervorragenden Beitrag. es selbst bei versierten Kulturpoliti- nung aussprechen für gute gelungene Kontext freiwillige Selbstverwal- wenn es gelingt, auf überzeugende kerinnen und Kulturpolitikern grö- Beispiele dafür, wie man schwie- tungsaufgaben sind, welche Rolle der Weise über die Rahmenbedingungen as wir brauchen, ist allerdings ßere Vermittlungsprobleme über die rige kulturpolitische Sachverhalte Bund, die Länder oder die Kommu- zu informieren, die diese Kunstwerke W eine große Resonanz weit über Relevanz dieser Fragestellungen gibt. vermitteln kann, er soll im Sinne nen nach unserer grundgesetzlichen ermöglicht haben. den unmittelbaren Kreis derer hin- Daher brauchen wir die unterschied- eines Best-Practice-Ansatzes gute Ordnung bei der Kulturfinanzierung In diesem Sinne wünsche ich uns aus, die mit dem Kulturrat verbun- lichsten Medien, also Zeitungen, Beispiele benennen, die vor allen spielen und was in diesem Kontext allen einen schönen und interes- den sind. Und hier beginnt unser den Rundfunk und neuerdings auch Dingen zur vielfältigen Nachahmung der Bund-Länder-Finanzausgleich santen Abend. Problem: Ist Kulturpolitik wirklich das Internet, die uns dabei helfen, in anderen Medien und durch andere bedeutet und wie eine faire Gemein- interessant genug, dass die unter- die Relevanz dieser Fragen zu ver- Journalisten anregen. Dies ist heute definanzierungsreform aussehen Der Verfasser ist Präsident des schiedlichsten Medien sich mit ihr mitteln und auf vernünftige Weise dringender denn je. Zwar ist es relativ könnte. All dies ist um vieles schwie- Deutschen Kulturrates Redaktion „Investigative Recherche“ der SZ ausgezeichnet puk-Preis für Martin Kotynek, Hans Leyendecker und Nicolas Richter – eine Laudatio von Wolfgang Börnsen Nicht heute, am 5., sondern am 7. Mai ris Heinze. Im Verlauf dieser „Dreh- Sie haben aufgezeigt, dass es sich gen, ohne dass eine interne Sender- dungs-, Informations- und Unterhal- 1973 stieg Benjamin Bradlee, dama- buch-Affäre“ wurde deutlich, dass nicht einfach um persönliches Versa- kontrolle funktioniert hätte. Dass tungsauftrags anvertrauen, stattfand liger Chefredakteur der Washington Doris Heinze mit Hilfe erfundener gen handelte, sondern tatsächlich um dies allein schon ein Missbrauch der ist „schlimmer als schlimm“. Post, auf einen Schreibtisch in der Autoren-Identitäten über viele Jahre ein System, für das sie die prägnante öffentlich-rechtlichen Rundfunkge- Wir Kultur- und Medienpoliti- Redaktion und bat um Ruhe. „Unsere ein System der Selbstbegünstigung Überschrift fanden: „öffentlich sen- bühren ist: ist schlimm genug. Dass ker und alle, die an diesen Themen Zeitung“, so teilte er mit, „ist mit dem etabliert hatte. Kotynek, Leyendecker den, privat kassieren“. Dieses System nebenher massiv in die eigene Tasche interessiert sind, verdanken diesen Pulitzerpreis für Außerordentliche und Richter gebührt das Verdienst, der Mauschelei, Schiebereien und gewirtschaftet wurde: noch schlim- Artikeln der drei Autoren aber mehr: Verdienste in der Kategorie Dienst eine geradezu kriminelle Vettern- Käuflichkeit hat eine ganze Branche mer. Dass alles jedoch in einem Wir verdanken ihnen, gewissermaßen an der Öffentlichkeit ausgezeichnet wirtschaft aufgedeckt zu haben, die von Fernseh- und Drehbuchautoren öffentlich-rechtlichen System, dem druckerschwarz auf weiß, die Einsicht, worden.“ Jubel kam auf. Straftatbestände wie Untreue oder in die Abhängigkeit vom Wohlwollen wir insgesamt 7,6 Milliarden Euro im dass das von uns so oft beklagte Fehlen Betrug erfüllt. einiger weniger Redakteure gezwun- Jahr zur Erfüllung seines Kultur-, Bil- von Qualität in den öffentlich-recht- as war die Ursache? Die Auf- lichen Programmen auch hier, in die- W deckung der Watergate-Affäre sem System der Vetternwirtschaft und durch die Washington Post gilt bis Angsteinflößung, eine wesentliche Ur- heute als eines der Musterbeispiele sache hat. Zitat: „Hemmungslose As- für investigativen Journalismus welt- similation kostet Qualität.“ Die zweite weit. Nach einem Einbruch im Juni Einsicht, die sich aus der Reflexion der 1972 ins demokratische Hauptquar- Süddeutschen Zeitung über die Hein- tier im Washingtons Watergate-Kom- ze-Affäre ergibt, ist, dass durch diesen plex hatte das Blatt in monatelangen Qualitätsabbruch Hunderttausende Recherchen eine Verschwörung vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen aufgedeckt, die direkt ins Weiße in Deutschland vergrault werden. Man Haus führte – mit weitreichenden wendet sich ab und sieht die anglo­ politischen Folgen. amerikanischen Serien auf DVD oder Ich weiß nicht, ob Chefredakteur lädt sie gleich illegal aus dem Netz. Hans Werner Kilz in der Redaktion Imageverlust, Bedeutungsverlust, der Süddeutschen Zeitung auf einen Autoritätsverlust für die ARD sind Tisch gestiegen ist, um den Kollegen die Folge. Nicht vertretbar für eine zu verkünden, dass Martin Kotynek, eigentlich demokratiestabilisierende Hans Leyendecker und Nicolas Rich- Institution. ter von der Redaktion „Investigative Meine Herren, Ihnen ist es gelun- Recherche“ mit dem puk-Journalis- gen – so die Jury –, ausgehend von der tenpreis ausgezeichnet worden sind. Enttarnung einer zunächst billigen Einen solch‘ sportlichen Kraftakt, Schmierenkomödie eine differen- eine solche Anerkennung hätten alle zierte Tiefenanalyse des öffentlich- drei verdient. rechtlichen Systems vorzunehmen Anlass war die Artikelserie in der und eine Diagnose zu stellen, die Süddeutschen Zeitung vom August/ an den Grund der gegenwärtigen September 2009 zur so genannten Problemlage des Fernsehens geht. Drehbuchaffäre beim Norddeutschen Rundfunk. Es ging um die Leiterin des Wolfgang Börnsen, MdB, Kulturpolitischer Sprecher der CDU-Bundestagsfraktion sowie Jurymitglied des puk-Journalis- Weiter auf Seite 18 Programmbereichs Fernsehfilm Do- tenpreises Foto: Carolin Ries puk-preis politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 18

die Printmedien zu schaffen. Dazu Anmerkung zu diesem Themenkom- Presse- und Meinungsfreiheit ist eine Leute nicht die Freiheit haben, diese Fortsetzung von Seite 17 kann ein Leistungsschutzrecht für plex: „Total-buy-out“-Verträge, die Grundvoraussetzung für unser demo- zu missbrauchen. Presseverleger gehören, wie es im den Journalisten von den Verlagen kratisches System. Es ist großartig, Gratulation den drei „Demokra- Redaktion „Investigative Koalitionsvertrag verankert ist. Dazu immer häufiger aufgenötigt werden, wenn Journalisten diese Freiheit für tie-Kommissaren“ und herzlichen Recherche“ ausgezeichnet gehört dann allerdings auch eine an- sind mit einem Leistungsschutzrecht ihre Wächterrolle in der Demokratie Glückwunsch! gemessene Bezahlung für die Journa- für Verlage nicht vereinbar. nutzen können. Eine solche Qua- Die Jury des puk-Journalistenpreises listen, die die Leistungen ja als erste Abschließend möchte ich einen litätspresse fördert und stabilisiert Der Verfasser ist kultur- und 2010 würdigte, „dass Sie damit eine erbringen. Dazu gehört außerdem die aktuellen Medienbogen schlagen: damit unsere Demokratie. Sie muss medienpolitischer Sprecher der wichtige medien- und kulturpoli- Berücksichtigung der Urheberrechte Vorgestern, am 3. Mai, haben wir den die Freiheit haben, das zu sagen, was CDU/CSU-Bundestagsfraktion und tische Debatte angestoßen haben, die der Journalisten. Und eine weitere Welttag der Pressefreiheit begangen. der Wahrheit dient, damit bestimmte gehört der puk-Preis-Jury an für eine demokratische Kulturpolitik unabdingbar ist.“ Sie haben damit ein klassisches Stück investigativer Recherche abgeliefert. Ein Vorbild für eine solche Art puk-Preis in der Kategorie Fernsehen von Recherche in Deutschland ist Die Dokumentation „Oper für Anfänger“ von Claudia und Günter Wallbrecht – eine Laudatio von Siegmund Ehrmann Hans Leyendecker. Zu ihm muss man nicht viel sagen, beinahe jeder Wer sich an seine Kinder- oder kennt ihn. Geboren 1949, machte er Jugendtage zurückerinnert, und ein Volontariat beim Stader Tageblatt daran, wie er das erste Mal in einer und durfte dort bereits als Auszubil- Oper war, dem kommt der Satz „Die dender Leitartikel schreiben. Nach singen da so komisch“ gar nicht seinem Geschichtsstudium war er mehr so komisch vor. Denn Oper ist Redakteur bei der Westfälischen keine einfache, sondern erst einmal Rundschau. Erst beim SPIEGEL, dann ziemlich harte Kost. bei der Süddeutschen Zeitung deckte er durch seine Recherchen seit 1982 n Opern geht es um Liebe, Ver- viele politische und gesellschaftliche I zweiflung, Angst, Tod, Hoffnung, Affären auf. Das Spektrum reicht von Kampf, Sehnsucht und das Böse. der Flickaffäre über die Steueraffäre Es ist der Stoff aus dem das Leben von Peter Graf bis zum Fußball- gemacht ist – komprimiert auf weni- Wettskandal. Dass auch meine eigene ge Menschen, gebündelt in wenige Partei Gegenstand der Recherchen Stunden und versehen mit gehörigem von Hans Leyendecker geworden ist, Pathos. Für all diejenigen, die zum übergehe ich an dieser Stelle nicht. ersten Mal im Zuschauerraum bei Nicolas Richter, ist stellvertre- einer Opernaufführung sitzen, ist das tender Ressortleiter für Investigative sicherlich gewöhnungsbedürftig oder Recherche bei der Süddeutschen einfach nur: komisch. Zeitung. Zuvor war er Redakteur im Doch nicht nur die Geschichte, Ressort Außenpolitik, wo er beacht- die die Oper erzählt, erscheint für so liche Reportagen und Kommentare manchen Operneinsteiger zunächst zu Themen des Völkerrechts, bis zu verwirrend. Wie die Menschen auf der den Vereinten Nationen verfasste. Bühne sprechen und singen ist fern Richter, 1973 in Genf geboren, hat des Alltäglichen. Die Sprache ist die, in München und Paris Jura studiert der vergangenen Jahrhunderte und und vor dem Volontariat bei der Süd- der Gesang hat nichts mit dem zu tun, Siegmund Ehrmann, MdB, Kulturpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion sowie Jurymitglied des puk-Journalis- deutschen Zeitung in den New Yorker was man im Radio für gewöhnlich tenpreises Foto: Carolin Ries Büros der Deutschen Presse-Agentur hört. Die Stimmen sind hoch und der und des ZDF gearbeitet. Musik fehlt der Beat. Das ist schon: ein Aufwand für eine Opernauffüh- ob mein Eindruck trügt, aber die Erzählweise des Films, die dann ir- Martin Kotynek, geboren in Wien, komisch. rung notwendig ist. Es gibt nicht nur Kinder machen einen ebenfalls sehr gendwie doch sehr ans Herz geht. hat sein Studium der Biologie mit Sie sehen, ich versuche mich die Sänger und Schauspieler auf der unaufgeregten Eindruck. Vor der Ich gratuliere Ihnen herzlich zu einer Diplomarbeit abgeschlossen, der Oper so zu nähern, wie es ver- Bühne, sondern auch jede Menge Kamera sitzen keine nervösen und dem puk-Journalistenpreis 2010 in deren Thema die Kulturpolitik in mutlich junge Menschen tun, die wichtige Leute hinter der Bühne. hyperaktiven Kids. Es sind vielmehr der Kategorie Fernsehen. den letzten Jahren förmlich elektri- noch nie eine Oper gehört, vielleicht Musikalische Leitung, Regisseur, junge Menschen, die sehr genau wis- siert hat: „Wie wirkt es sich auf die sogar noch nie ein Theater betreten Dramaturg, Dirigent, Masken-, Kos- sen, was sie sagen wollen und dies in Der Verfasser ist kulturpolitischer Gehirnentwicklung von Kindern aus, haben. Die beiden heutigen Preis- tüm und Bühnenbildner, Licht- und klare Sätze packen. Sie machen einen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion wenn sie bereits im Alter von sechs träger bringen dem Zuschauer ihres Tontechniker – sie aller arbeiten engagierten und aufgeräumten Ein- und gehört der puk-Preis-Jury an. Jahren ein Musikinstrument spielen?“ Films ebendieses Gefühl nahe und daran mit, dass die Aufführung ein druck. Ich bin sicher, dass dies sicher- Daher ist es fast folgerichtig, dass er dabei wecken sie bei dem ein oder Erfolg wird. Und sie alle arbeiten hart lich auch an den beiden Preisträgern nun einen kulturpolitischen Preis anderen unter Umständen auch alte und dabei stets im Team. Claudia und liegt, an der Art und Weise, wie sie sich erhält. Nach einer Projektleitung Erinnerungen. Günter Wallbrecht lassen die Schüler den Schülern genähert haben. bei der Umweltorganisation World Claudia und Günter Wallbrecht, immer wieder zu Wort kommen und Das Projekt ist eine tolle Idee, die Junge Wide Fund for Nature (WWF) kam unsere Gewinner in der Kategorie man merkt den jungen Leuten die pädagogisch ein Erfolg zu sein scheint. er vor drei Jahren zur Süddeutschen Fernsehen, haben in zahlreichen wachsende Begeisterung für diese Art Der Film schafft es, dieses Gelingen Zeitung. Dort ist er nun Politischer Dokumentationen bewiesen, dass die der Arbeit an. Manche können sich darzustellen. Wir sehen diese jungen Redaktion Redakteur für Umwelt- und Agrarpo- Kamera als behutsamer Beobachter sogar vorstellen, in diesem Umfeld Menschen, wie sie sich für etwas ihnen Von Martin Kotynek litik im Ressort Innenpolitik. kleine Momente eindrucksvoll ein- später einmal zu arbeiten. völlig Fremdes begeistern. Wir erfah- Die Qualitätsdiskussion führen fangen kann. Mit unaufgeregter Ka- Klar, zu Beginn ist das Kichern ren etwas über ihre Sorgen und Ängste erzlichen Dank für diese Aus- wir nicht nur in Bezug auf die Öf- meraführung lassen sie die Menschen groß. Wenn beim Proben der Schau- und erkennen dabei, dass viele Pro- H zeichnung, auch im Namen mei- fentlich-Rechtlichen, sie macht auch vor der Kamera „einfach machen“. spieler bedrohlich laut singt und das bleme im Leben immer gleich bleiben. ner Kollegen Hans Leyendecker und vor dem privatwirtschaftlichen Zei- Sie lassen sie agieren, ohne sie dabei Gesicht zu Grimassen verzieht, dann Ob man nun 15 ist, wie die Schüler Nico Richter, die heute leider nicht tungsmarkt nicht Halt, darf sie auch vorzuführen. So auch in dem Film ist das schon mal ungewöhnlich und oder aber so alt ist wie ich: Die Angst dabei sein können. Hans Leyendecker nicht. Dabei gilt „Süddeutsche“ völlig „Oper für Anfänger. Ich find‘ die zum Lachen. Doch nach und nach vor der Zukunft und die Sorge, versa- ist in Sachen NRW-Wahlen unterwegs zu Recht und noch immer als eine singen da so komisch“, den der NDR legen die Schüler ihre Scheu ab. Der gen zu können, verschwindet kaum. und Nico Richter verfolgt eine heiße der führenden Qualitätsmarken auf ausstrahlte. Film zeigt, wie die Neugier siegt, wie Es ist erstaunlich, wie erwachsen diese Spur in Sachen Bayerische Landes- dem deutschen Zeitungsmarkt. Mein Die Projektidee der Osnabrücker es den Jugendlichen Spaß bereitet, Jugendlichen schon wirken. Nicht in bank. Das war recht dringend gestern. Appell geht an die Verleger, ihre Zei- Oper, die Claudia und Günter Wallb- dieses unbekannte Terrain zu betre- dem viel beschworenen und disku- Uns ist trotzdem diese Auszeichnung, tungsredaktionen auch weiterhin mit recht dokumentieren, ist so einfach ten und wie sie ihre Vorbehalte able- tierten Sinne, dass sie frühreif sind. auch wenn jetzt nur einer von uns so viel Personal auszustatten, dass sie wie gut: 18 Schüler erleben die Vor- gen. Oper kann eben auch durchaus Nein, sie machen deutlich, dass sie dreien da ist, sehr, sehr wichtig, weil solche investigativen Artikelserien bereitungen zu „Der Freischütz“ Spaß machen. für ihr eigenes Leben Verantwortung das Ressort „Investigative Recherche“ auch drucken können. Gerade die hautnah mit. Das Besondere an der Doch es bleibt nicht dabei, dass übernehmen wollen und können. Wie bei der SZ ein sehr junges Ressort ist. sorgfältige investigative Recherche Schülergruppe ist dabei, dass sie so- die Schüler nur eine Beobachterpo- wichtig ein guter Schulabschluss ist, Es ist nicht einmal ein Jahr alt. erfordert Zeit, Energie und Aufwand, wohl aus Gymnasiasten als auch aus sition einnehmen. Sie spielen und dass es Hauptschüler ganz besonders Herr Börnsen, Sie haben es in Ih- ohne dass man immer weiß, ob sich Hauptschülern besteht. Die Frage, singen selbst – sie probieren sich schwer haben, wie schön es ist, eige- rer Laudatio gesagt, die „Investigative die Mühen auch lohnen und an der ob man Schüler für Opern begeistern aus. Sie interpretieren die Oper in nes Geld zu verdienen – all das wissen Recherche“ ist natürlich ressourcen- vermeintlich „heißen Sache“ auch et- kann, wird um die – wenn man so ihre Zeit und erkennen, dass viele diese Schüler und die beiden Filme- aufwendig; es ist ein Journalismus, was dran ist. Das ist nicht billig. Bitte möchte: bildungspolitische – Frage Probleme noch heute relevant sind, macher lassen es auch den Zuschauer der Zeit und Raum und Platz hat, leisten Sie sich diesen Aufwand wei- erweitert. Dabei schaffen es die Preis- auch in ihrem eigenen Leben. Dabei wissen. Es entsteht ein sehr liebevolles etwas tiefer zu fragen, abseits vom terhin! Davon profitieren wir alle. träger, diese beiden Schülergruppen nehmen die Theaterleute die Schüler Bild dieser jungen Erwachsenen. Der Tagesgeschehen auch einmal eine Die beachtliche Auflage der Süd- nicht gegeneinander auszuspielen an die Hand und sie nehmen sie vor Film rückt das leider gängige Bild Spur aufnimmt, die vielleicht auch deutschen Zeitung ist in den letzten oder gar die einen lächerlich zu allem ernst. Beides keine Selbstver- zurecht, dass derzeit eine Generation einmal ins Nichts führen kann. Das fünf Jahren von 440.000 auf 446.000 machen. Sie zeigen auf behutsame ständlichkeiten im Leben der Ju- ohne Verantwortungsbewusstsein kostet natürlich Zeit und Geld. Des- Exemplare noch einmal gestiegen. Art und Weise die Unterschiede gendlichen, egal ob Gymnasiast oder und Ehrgeiz heranwächst. halb ist es sehr schön, dass uns der Anerkennung! Dieser Erfolg verdankt zwischen den Gymnasiasten und Hauptschüler. Ich vermute, dass dies Kulturpolitisch betrachtet, ist der Deutsche Kulturrat mit dem puk- sie auch gerade Stories wie derjeni- Hauptschülern und vor allem aber der Schlüssel zum Erfolg des Projekts Film ein eindrucksvolles Plädoyer für Journalistenpreis stärkt und diesem gen, die wir heute auszeichnen. Auf- ihre Gemeinsamkeit: die geweckte ist: Die Schüler bekommen etwas die kulturelle Bildung. Auch dafür bin jungen Ressort Kraft gibt. Dieser Preis klärung wird belohnt! Oder wie Oscar Neugier. Und wie nebenbei werden Neues präsentiert und die Möglich- ich Ihnen sehr dankbar. ist auch intern natürlich sehr wichtig Wilde es sagte: „In früheren Zeiten auch noch Vorurteile abgebaut. keit geboten, sich ein eigenes Bild zu All dies lernen wir als Zuschauer für uns! Vielen Dank dafür. bediente man sich der Folter. Heut- Die Schüler machen sich also ge- machen und selbstständig ihr Urteil von „Oper für Anfänger“ und sind von Der Verfasser ist zusammen mit zutage bedient man sich der Presse. meinsam auf Entdeckungstour hin- zu fällen. All das dokumentieren dem Film berührt. Warum das so ist, Hans Leyendecker und Nicolas Das ist gewiss ein Fortschritt.” ter, auf, neben und unter der großen die beiden Filmemacher in ruhiger ist schwer zu sagen, da Claudia und Richter Preisträger des puk-Preises. Zu der Verantwortung von uns Opernbühne. Dabei gibt es viel Neues und zurückgenommener Art. Und Günter Wallbrecht auf die großen Sie gehören der Redaktion Investi- Medienpolitikern gehört es, ge- zu sehen und kennenzulernen. Viele ich habe ja leider kein Making-of Effekte verzichten. Vielleicht ist es gative Recherche der Süddeutschen eignete Rahmenbedingungen für der Schüler sind überrascht, was für sehen können und ich weiß nicht, aber auch genau diese unaufgeregte Zeitung an. puk-preis politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 19

Die Angst des Redakteurs vor der Kultursendung Claudia und Günter Wallbrecht bedanken sich für den puk-Preis 2010 Für uns ist das Ungewöhnlichste an Für uns als Autoren war es ein diesem Film, dass es ihn überhaupt großes Geschenk, inhaltlich und gibt. Vergegenwärtigen Sie sich für formal völlig frei arbeiten zu kön- einen Moment das ganz alltägliche nen: Mit Reportage-Elementen oder Fernsehprogramm, und dann stellen dokumentarisch beobachtend, wir Sie sich vor, sie gehen zu einem Sen- konnten O-Ton-Collagen schneiden der und schlagen ihrem Redakteur oder Passagen, in denen die Schüler einen Film über Oper vor. Der wird einfach erzählen oder selber Theater Sie mit Sicherheit ein wenig be- spielen. Diese Freiheit ist heute sehr klommen anschauen. Wenn Sie dann rar. Die meisten Sendeplätze sind ja auch noch sagen, dass Sie einen „durchformatiert“, das heißt, dass im Film machen möchten über Oper Vorfeld mehr oder weniger feststeht, und Jugendliche – eine Zielgruppe, welche Protagonisten man hat, was die Fernsehmacher ja eher mit Cas- diese sagen werden und worauf der tingshows und Nachmittagssoaps Film hinaus läuft und wie er formal in Verbindung bringen – dann wird gestaltet ist. Solche Vorgaben hatten er sie wahrscheinlich für komplett wir nicht. Und so waren die witzigsten realitätsfern halten. Denn es ist ja oder berührendsten Momente auch so: Am Ende eines Tages misst jeder genau diejenigen, in denen die Ju- Sender seine 24h-Quote. Und Kul- gendlichen unvorhersehbar reagiert tursendungen gelten dabei schnell haben: wenn sie zum Beispiel gene- als Spielverderber und Quotenkiller. rvt waren und das auch unverblümt Insofern gebührt dem NDR auf jeden geäußert haben, oder wenn sie im Fall Lob und Dank, dass er dieses nächsten Moment plötzlich derart bei Projekt gewagt hat. der Sache waren, dass eine unglaub- liche Intensität entstanden ist. ine weitere Besonderheit dieses Wir danken allen Beteiligten im E Films ist, dass wir an keinerlei Theater Osnabrück, die uns Tor und Formaterwartungen gebunden wa- Tür geöffnet und unsere Dreharbei- ren, das heißt, wir konnten uns wirk- ten unterstützt haben. Sehr zu dan- lich auf einen Prozess einlassen, der ken haben wir auch den beteiligten völlig offen war. Es hätte ja sein kön- Schulen, der Felix-Nussbaum-Schule nen, dass die Jugendlichen irgend- und dem Gymnasium in der Wüste, wann feststellen, dass Theater und die von Anfang an begeistert von Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, im Gespräch mit den Preisträgern des puk-Journalisten- Oper nichts für sie ist und sie doch dem Projekt waren und den Schü- preises Claudia und Günter Wallbrecht Foto: Verena Kurz lieber shoppen gehen wollen oder lern jeden Freiraum gelassen haben. Fußball spielen. Auf der anderen Seite Und natürlich haben wir unseren der große Quotenkiller hätte werden Schnittraum, das immer konstruktiv In diesem Sinne also ganz herzlichen war da aber auch die Chance, dass Redakteuren, Christine Gerberding können. Sie haben uns den Rücken geblieben ist. Dank. die Jugendlichen im Theater etwas und Jürgen Meier-Beer zu danken. freigehalten und dafür gesorgt, dass Wir freuen uns sehr über den puk- finden, das sie anspricht. Und selbst Sie haben es ausgehalten, dass dies wir ein paar Drehtage mehr beka- Preis, weil er eine Ermutigung ist. Und Die Verfasser sind Filmemacher und wenn sich im Verlauf des Projekts nur ein Projekt mit ungewissem Ausgang men, damit wir das Prozesshafte wir nehmen ihn als Bestätigung, dass wurden für den Film „Ich finde die für einen einzigen ein neuer Horizont war, und sie haben auch intern im auch wirklich einfangen konnten. solche Filme eben doch im großen singen da so komisch – Oper für An- eröffnet hätte, dann wäre das Ganze Sender für diesen Film geworben Auf keinen Fall missen möchten wir formatierten Programm auffallen fänger“ mit dem puk-Journalisten- schon ein Erfolg gewesen. – für einen Film, der schließlich auch auch das gemeinsame Ringen im – und dass sie ihr Publikum finden. preis ausgezeichnet „...ich schicke Dir 155 Küsse und 398 Grüße“ puk-Preis für ein Rundfunkfeature von Ulrike Migdal – eine Laudatio von Agnes Krumwiede Bei den vielen hervorragenden Bei­ men, ihre Lieblingsdichter und ihr geht sie 1944 in die Gaskammer. Und von Menschlichkeit zu finden. In Ich bin Ulrike Migdal dankbar, dass trägen in der Kategorie Hörfunk Leibgericht. Wir lernen eine junge, selbst in diesem Moment, in dieser der Gaskammer singt sie mit den ich Ilse Weber kennen lernen durfte. habe ich zuerst gedacht, dass wir es fröhliche, kreative Frau kennen, die in Hölle hilft ihr die Musik dabei, für Kindern das von ihr komponierte Aufgrund der starken emotionalen schwer haben werden, einen heraus- ihrer Heimat Ostrau einen Kulturclub sich und die Kinder einen Hauch Wiegenlied Wiegala. Wirkung dieses Radiobeitrags veran- ragenden Favoriten zu finden. Bis ich gegründet hat, in dem über Politik kert sich Ilse Webers Schicksal fest in auf das Rundfunk-Feature von Ulrike und Literatur diskutiert wurde. Ilse Herz und Gedächtnis der Hörer. Migdal gestoßen bin. Weber, eine junge Frau, die einen zio- Alle und gerade auch jede Schul- nistischen Mädchenkreis geleitet und klasse in Deutschland sollten Ulrike on einem guten Radiobeitrag sich mit einem modernen Frauenbild Migdals Beitrag hören. Die Zusam- V erwarten wir in erster Linie in- identifiziert hat. menstellung aus Texten, Lyrik und teressant verpacktes Wissen und In- Mit zwanzig beginnt die ausge- Musik und die hochkarätigen Spre- formationen. Ulrike Migdals Feature bildete Krankenschwester Bücher cherinnen und Sprecher – allen voran über das Leben der jüdischen Dich- zu schreiben. Und bald ist sie eine Anna Thalbach – machen Ulrike terin Ilse Weber ist mehr. Ihr Feature angesehene Autorin von Kinderbü- Migdals Feature über das Leben von „…ich schicke Dir 155 Küsse und 398 chern und Hörspielen für den Prager Ilse Weber zu einem lebendigen Grüße“ berührt zutiefst. Es erzählt Rundfunk. Sie heiratet den Gärtner Zeugnis gegen das Vergessen. auf unsentimentale und zugleich Willi Weber, die beiden bekommen „…Ich schicke Dir 155 Küsse unmittelbare Weise das Schicksal zwei Söhne. Ihrer Brieffreundin Li- und 398 Grüße“ ist eine Ode an die einer starken Frau im Dritten Reich: lian beschreibt Ilse Weber den Alltag Menschlichkeit. Und auch eine Ode Ilse Webers Gedichte und Kompositi- als Jüdin im besetzten Tschechien. an die Macht der Kunst. Denn es wa- onen haben in einem eingemauerten Von den kleinen Bösartigkeiten, ren ihre Lieder, mit denen Ilse Weber Erdloch überlebt. Kränkungen und Schikanen erzählt zahllosen Kindern in Theresienstadt Ulrike Migdals Feature verknüpft sie, von früheren Bekannten, die sie und Auschwitz für kurze Zeit die die wunderbaren Lied-Vertonungen jetzt auf der Straße ignorieren – weil Angst nehmen konnte. Ilse Webers und ihre Gedichte mit Ilse Weber eine Jüdin ist. Der Hörer Für mich ist Ulrike Migdals Fea- Auszügen aus Briefen – hauptsäch- durchlebt mit Ilse Weber beklem- ture der herausragendste aller ein- lich an die Brieffreundin Lilian in mende Situationen der Ausgrenzung, gereichten Beiträgen. Die brillante Schweden und an den ältesten Sohn den schmerzhaften Verlust des Hei- Machart erzeugt eine subtile Emoti- Hanus. Dazwischen ist Klaviermusik matgefühles. onalität und ermöglicht dem Zuhörer von Franz Schubert zu hören, dem Mit ihrem Mann und dem klei­ eine unmittelbare Identifikation mit Lieblingskomponisten der Protago- neren Sohn Tommy wird Ilse Weber dem Schicksal Ilse Webers. Einem nistin. Seine f-moll Fantasie, dieses nach Theresienstadt deportiert. Dort Schicksal, das zwar zu Tränen rührt, an Melancholie und unaufgeregter pflegt sie die Kinder im Krankenhaus. aber auch Mut macht. Todesahnung kaum zu übertref- Die Kunst, das Schreiben und die Denn Ilse Weber hat dem Terror fende Werk für Klavier vierhändig, Musik geben ihr Kraft, werden ihr durch ihre Kunst und ihre kompro- untermalt die emotionale Grund- wichtigstes Lebenselixier. Sie kom- misslose Menschlichkeit getrotzt. stimmung in Ulrike Migdals Feature. poniert Trostgesänge für die Kinder. Ich gratuliere Ulrike Migdal zur Ein weiterer Handlungsstrang sind Eines davon zieht sich als roter Fa- Auszeichnung mit dem puk-Jour- die Berichte des ältesten Sohnes, den durch Ulrike Migdals Feature. nalistenpreis für ihr Feature, das Hanus Weber, den Ilse Weber schon Rira, rirarutsch, wir fahren in der die Erinnerung an eine außerge- früh ihrer Brieffreundin anvertraut: Kutsch, rira, rirarutsch, wir fahren wöhnliche Frau für die Nachwelt am „Vergiss nicht, dass ich Dir meinen in der Leichenkutsch, wir fahren in Leben erhält. Jungen vermache, wenn uns etwas der Kutsch. Ilse Weber, die Kinder zustößt!“ schon immer geliebt hat, begleitet Die Verfasserin ist kulturpolitische Durch verschiedene Sprecher- freiwillig einen Transport nach Aus- Agnes Krumwiede, MdB, Kulturpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Sprecherin der Bundestagsfraktion stimmen lernen die Hörer zwischen chwitz. Sie möchte die Kinder ihrer Bündnis 90/DIE GRÜNEN sowie Jurymitglied des puk-Journalistenpreises 2010; Bündnis 90/Die Grünen und Lyrik und Musik den Menschen Ilse Krankenstube nicht allein lassen. Mit Christine Gerberding, Redakteurin beim NDR-Kulturjournal gehört der puk-Preis- Weber kennen, ihre Lieblingsblu- den Kindern und ihrem Sohn Tommy Foto: Carolin Ries Jury an puk-preis politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 20

Der Dicherin Ilse Weber wieder eine Stimme geben Die ganz unerwarteten Auswirkungen eines Hörfunk-Features • Von Ulrike Migdal Zuallererst möchte ich Ihnen, liebe Frau Krumwiede, ganz herzlich für Ihre Worte danken, die mich sehr bewegt haben. Es war ein ganz ei- genartiges Zusammentreffen: Die gute Nachricht von der Auszeichnung meines Features mit dem „puk-Jour- nalistenpreis“ traf fast zeitgleich mit einer weiteren erfreulichen Nachricht ein, die ebenfalls mit dem Hörstück verknüpft ist und in meinen Augen auch eine Auszeichnung darstellt, nur von ganz anderer Art. Doch da- von gleich.

unächst möchte ich sagen, wie Z sehr ich mich freue, diesen Preis zu bekommen, und möchte der Jury ganz herzlich danken für die Zuerkennung dieses besonderen Preises. Danken will ich hier auch Karin Beindorff vom Deutschland- funk und ihrem Produktionsteam, vor allem auch Heide Schwochow, die mit ihrer Regie sehr einfühlsam eine Produktion geleitet hat, in der alle Beteiligten empfänglich waren für das im Text Gesagte, aber auch für die Obertöne, die in diesem Hörstück mitschwingen. Einem Hörstück, das der in Aus- chwitz ermordeten und fast ver- gessenen jüdischen Dichterin Ilse Weber wieder eine Stimme gibt, indem es ihre Lyrik, ihre Briefe und Jurymitglieder und Preisträger des puk-Journalistenpreises. V.l.n.r.: Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Herausgeber der Zeitung politik Lieder zu einem polyphonen Ganzen und kultur, Jurymitglied; Reiner Deutschmann, MdB, Kulturpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Jurymitglied; Max Fuchs, Präsident des Deutschen verwebt. Kulturrates, Jurymitglied; Ulrike Migdal, freie Hörfunkjournalistin, Preisträgerin; Wolfgang Börnsen, MdB, Kulturpolitischer Sprecher der CDU-Bundestagsfrakti- Im Konzentrationslager Theresi- on, Jurymitglied; Agnes Krumwiede, MdB, Kulturpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN, Jurymitglied; Beate Kayser, Autorin bei enstadt wirkte Ilse Weber als Kompo- der Münchner tz, Preisträgerin; Martin Kotynek, Journalist bei der Süddeutschen Zeitung/ Redaktion Investigative Recherche, Preisträger; Claudia Wallbrecht, freie nistin und Dichterin. Für die Kinder Fernsehjournalistin, Preisträgerin; Lukrezia Jochimsen, MdB, Kulturpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE, Jurymitglied; Günter Wallbrecht, frei- in der von ihr errichteten Kranken­ er Fernsehjournalist, Preisträger; Siegmund Ehrmann, MdB, Kulturpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Jurymitglied Foto: Carolin Ries station komponierte sie in ihren Nachtwachen zahlreiche Lieder, die wird im Feature mit den Stimmen Ilse dieser Dichterin sie bewegt hatte: Ihr Ruf, sich ideologischen Parolen zu ermutigt wurden, sich der Zeitzeu- sie ihnen zur Gitarre sang. In jedem Webers als Komponistin, Dichterin Mut, mit Gedichten und Mitmensch- widersetzen. genforschung zu widmen und sich „ihrer“ Theresienstädter Kinder sah und Chronistin des Zeitgeschehens lichkeit dem Terror zu trotzen. Der Stimme dieser Briefe hört intensiver als zuvor mit der NS-Zeit Ilse Weber ihren Sohn Hanuš, den sie verknüpft. Tief berührt waren die Jugend- man zu, weil sie authentisch ist. Die auseinanderzusetzen. vor ihrer Deportation – über England Und nun komme ich wieder auf lichen auch von Ilse Webers Briefen Briefe waren nicht für die Öffent- Im Fall jener Schule in Nord- nach Schweden hatte retten können. meine Anfangsbemerkung von der aus den dreißigerer Jahren, in denen lichkeit bestimmt, sie geben daher deutschland, die sich nach Ilse Weber Überlebende des Lagers berichteten zweiten guten Nachricht zurück: Die sie ihrer langjährigen Freundin Lilian unverstellt Einblick in Gedanken und benennen will, war der Anstoß zu mir: „dass es kaum unglücklichere Sendung meines Features war es, die von Löwenadler über die heraufzie- Empfindungen eines Menschen, der dieser Initiative mein Hörstück. Ich Kinder gab als die gesunden, die die Schülerschaft eines Gymnasiums hende politische Katastrophe und jene Schreckenszeit durchlitt. Es ist finde, ein Mehr an spontaner Reso- Schwester Ilses Krankenstube verlas- in der Nähe Hamburgs spontan dazu ihren vom Antisemitismus vergifteten das Äußerste an Innerem, was sich nanz kann man sich im Grunde kaum sen mussten.“ anregte, sich für die Umbenennung Alltag berichtet. Die Schüler hörten in diesen an die engste Freundin ge- wünschen. Aus meinen Gesprächen mit ihrer Schule in Ilse-Weber-Schule aus diesen Briefen Ilse Webers Ver- richteten Zeilen offenbart. In meinen Überlebenden weiß ich, dass Ilse We- einzusetzen. Im Gespräch mit den zweiflung über die Zerstörung des Lesungen bin ich immer wieder jun- Die Verfasserin ist freie Hörfunkau- bers Lieder und Verse vielen Gefange- Schülern konnte ich mich davon Humanismus heraus, ihre Warnung gen Menschen begegnet, die durch torin und wurde mit dem puk-Jour- nen halfen, Hoffnung und Lebensmut überzeugen, wie tief die Stimme vor Ideologiegläubigkeit und den das Werk Ilse Webers angespornt und nalistenpreis ausgezeichnet nicht zu verlieren. Musik und Poesie waren für die Gefangenen echte „Lebensmittel“, „geistiges Brot“. Das innere Sprechen langer Gedichte, z.B. beim Appellstehen, stützte sie, das Die Ballade und das Boulevard-Blatt Imaginieren von Musik, die sie kann- Sonderdruck der tz erhält den puk-Preis 2010 • Von Lukrezia Jochimsen ten, war Note für Note Kontrapunkt gegen das ständige Hungergefühl, Zum Schluss kommen wir in der geschrieben wurde und wie Sie sie (die Häftlinge selber sprachen vom Tat zu etwas Außergewöhnlichem fortzusetzen ist. Oder: Können Sie Hunger als „Geisteskrankheit“). oder Ungewöhnlichem. Eine Jury mir sagen, welche Ballade mit den In mehr als sechzig Gedichten besteht ja aus sehr unterschied- Worten endet: „Erreicht den Hof mit schrieb Ilse Weber die Leidensge- lichen Leuten, die allerdings in Mühe und Not in seinen Armen, das schichte der Gefangenen. Mit ihren einer Sache vereint sind: das ist Kind war tot.“ Oder können Sie mir Versen widersprach sie den Propa- ihr Enthusiasmus in Bezug auf Kul- sagen, wer diese wunderbare Balla- gandalügen des NS-Regimes, das tur, Journalismus und Politik. Sie de gedichtet hat: „John Meinert war Theresienstadt 1944 in ein potemkin- müssen sich vorstellen, man wird unser Steuermann, aushielt er bis er sches Dorf verwandeln ließ, um es in vom Deutschen Kulturrat als Juror das Ufer gewann, er hat uns gerettet, einer zynischen Schau der internati- angefragt und sagt voll Freude zu. er trägt die Kron, er starb für uns, onalen Öffentlichkeit als „Kurort“ zu An einem bestimmten Tag kommen unsere Liebe, sein Lohn.“ präsentieren. dann mehrere Kartons in das Büro, Ungewöhnlich, was wir heute am Dichtung und Musik waren für in denen die Genres formatiert sind: Ende dieser Preisverleihung mit einer Ilse Weber und viele andere Künstler Es kommen die Demobänder für die Anerkennung versehen. Ungewöhn- Theresienstadts wesentliche Instru- Filme, die Hörfunkkassetten und lich vor allem deswegen, weil es Bal- mente im Kampf der Gefangenen die Aktenordner mit Printartikeln. laden in einem Boulevardblatt sind, um den Menschen als Kulturwesen. Entweder sind es Einzelstorys oder oder Balladen auf dem Boulevard. Mit kompromissloser Nächstenliebe ganze Serien und manchmal sogar Wir haben uns als Juroren gefragt, widmete sich Ilse Weber der selbst- Essays. Dann beginnt man sich von wann die Redaktion wohl die Idee ge- gestellten Aufgabe: „mit Dichterwort Genre zu Genre durchzuarbeiten, habt hat, so etwas zu machen. Gerne und Musik zu helfen und zu lindern“. und mittendrin waren dann die wären wir als Juroren dabei gewesen. Sie wusste intuitiv: dass Musik und schönsten deutschen Balladen, ein Vor allem aber war klar, dass Mut in gewisser Weise auch Dichtung ein Sonderdruck der tz. dazu gehört, eine Ballade in einem Höchstmaß an psychischer Wider- Boulevardblatt abzudrucken. Und standskraft in den Gefangenen zu ch habe mir als Laudatio eigentlich nicht nur eine Ballade, sondern ein erzeugen vermochten. I zunächst gedacht, ein kleines Quiz halbes Jahr lang, 24 Balladen: Insge- Erst im Jahr 2008 konnte das mit Ihnen zu machen: Ich lese den samt fünf mal Theodor Fontane – ein gerettete Werk der Ilse Weber, ihre Anfang einer Ballade wie: „Herr von bisschen viel wie ich persönlich finde; Gedichte und ihre Briefe, in meinem Ribbeck auf Ribbeck im Havelland, zwei Mal Goethe, zwei Mal Bertolt Buch „Wann wohl das Leid ein Ende ein Birnbaum in seinem Garten stand Brecht, zwei Mal Börries Freiherr von hat“ erscheinen. Meine Entdeckungs- und kam die goldene Herbsteszeit Münchhausen. Des Weiteren Conrad reise zu den Spuren des Weberschen und die Birnen leuchteten weit und Lukrezia Jochimsen, MdB, Kulturpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Werkes in vielen Begegnungen mit breit“ und Sie sagen mir, wer diese DIE LINKE sowie Jurymitglied des puk-Journalistenpreises Weiter auf Seite 21 ihrem überlebenden Sohn Hanuš Ballade geschrieben hat, wann sie Foto: Carolin Ries puk-preis politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 21

gespannt bin, ob einige von ihnen Da sah man Blutorangen, Zwetschen Fand er die Erde noch viel größer. sein 50. Geburtstag mit den Schau- Fortsetzung von Seite 20 wissen, von wem sie stammt. Sie an blassen Wangen sich zerquet- Er rang mit mancherlei Problemen. spielern Asta Nielsen, Paul Wegener ist übrigens sehr aktuell, eine auf schen. Zunächst: Wie soll man Anlauf neh- und seinem Verleger Ernst Rowohlt. Ferdinand Meyer, Theodor Storm, deutsche Verhältnisse bezogene Das Eigelb überzog die Leiber, men? Die Nazis haben seine Bücher ver- Adalbert von Chamisso, Otto Ernst, Ballade, die die tz übertitelte: „Der ein Fischkorb platzte zwischen Wei- Dann schiffte er von dem Balkon brannt. Johann-Ludwig Uhland, Anette von Ball ist rund“. Und die Ballade heißt: ber. sich ein in einen Luftballon. Frau Dr. Kayser, vielen herz- Droste-Hülshoff (Frauen waren ein „Fußballwahn“. Kartoffeln spritzten und Zitronen. Und blieb von da an in der Luft, lichen Dank für diese wunderbare bisschen wenig vertreten), Joachim Man duckte sich vor den Melonen. verschollen. Hat sich selbst verpufft. Balladenreihe. Ich finde, Sie haben Ringelnatz, Eduard Mörike, Robert Der Fußballwahn ist eine Krank- Dem Krautkopf folgten Kürbisschüs- Ich warne euch, ihr Brüder Jahns, wieder etwas an das Licht gebracht, Gilbert, Heinrich Heine und Clemens heit, aber selten, Gott sei Dank! se. vor dem Gebrauch des Fußball- in unsere Gegenwart, was großartig Brentano. Ich kenne wen, der litt akut Dann donnerten die Kokosnüsse. wahns! und der Entdeckung wert ist. Vielen Liebe Frau Dr. Beate Kayser, Sie an Fußballwahn und Fußballwut. Genug! Als alles dies getan, Dank. konnten im Mai des vergangenen Sowie er einen Gegenstand griff unser Held zum Größenwahn. Weiß jemand von Ihnen, diese Balla- Jahres einen kleinen, wie ich finde, in Kugelform und ähnlich fand, Schon schäkernd mit der U-Boots- de zuzuordnen? Joachim Ringelnatz, Die Verfasserin ist kulturpolitische wunderbaren Text schreiben, der so trat er zu und stieß mit Kraft Mine, geboren als Hans Bötticher, früh Sprecherin der Bundestagsfraktion lautete: „Vom letzten November bis ihn in die bunte Nachbarschaft. besann er sich auf die Lawine. gestorben mit 51 Jahren im Jahr 1935. Die Linke und gehört der puk- zum Mai 2009 haben wir in der tz Ob es ein Schwalbennest, ein Tiegel, Doch als pompöser Fußballstößer Sein letztes glückliches Erlebnis war Preis-Jury an an jedem Wochenende eine deut- ein Käse, Globus oder Igel, sche Ballade vorgestellt, an jedem ein Krug, ein Schmuckwerk am Altar, Wochenende. Das Echo bei Ihnen, ein Kegelball, ein Kissen war, unseren Lesern, war überwältigend. und wem der Gegenstand gehörte, Wir bekamen Stöße von Briefen, sie das war etwas, was ihn nicht störte. Zusammengebrochene Sekretärinnen wünschten sich ihre Lieblingsballade, Bald trieb er eine Schweineblase, Von Beate Kayer ließen sich von uns komplettieren, bald steife Hüte durch die Straße. was sie nicht mehr ganz im Kopf Dann wieder mit geübtem Schwung So gelobt zu werden – das geht gewartet, und dann gab es tatsächlich hatten. Und immer wieder kam der stieß er den Fuß in Pferdedung. runter wie Öl! Ich danke Ihnen allen diesen Zuspruch und die positive Re- Wunsch: Könnt ihr das Ganze nicht Mit Schwamm und Seife trieb er herzlich, der Jury und auch den vie- sonanz bei den Lesern. Sie schrieben als Sonderdruck herausgeben? Kön- Sport. len Leuten hier im Saal. und mailten und telefonierten: „Ich nen wir, tun wir, hier ist er.“ Und das Die Lampenkuppel brach sofort. weiß hier nicht weiter“, „Ich komme ist dann so zusagen das, von dem wir Das Nachtgeschirr flog zielbewußt ie haben natürlich recht, liebe nicht über die dritte Strophe hinaus“. einstimmig als Juroren mit unseren der Tante Berta an die Brust. S Frau Jochimsen, so eine Balladen- Diese Resonanz war wirklich schön, ganz unterschiedlichen Herkünften Kein Abwehrmittel wollte nützen, reihe in eine Zeitung zu bringen, das auch wenn unsere Sekretärinnen und vielleicht auch Auffassungen nicht Stacheldraht in Stiefelspitzen, macht sich nicht von allein. Da muss darunter fast zusammengebrochen und Definitionen von Kultur gesagt noch Puffer, außen angebracht. ich zuerst meinem Chefredakteur sind. Ununterbrochen mussten sie haben: Das fällt zwar aus dem kultur- Er siegte immer, 0 zu 8, Rudolf Bögel danken. Zu ihm ging ich die Zeitungen verschicken („Füllt uns politischen Rahmen, aber diese Leis- und übte weiter frisch, fromm, frei und sagte: „Ich hätte da so eine Idee. doch mal auf“). tung kann nicht einfach übergangen mit Totenkopf und Straußenei. Gedichte, Balladen, da könnte man Ein Beispiel: Jemand hat in einem werden. Und deshalb finden wir, dass Erschreckt durch seine wilden Stöße, doch was machen“. – Und er fragte: bayerischen Bad vier Wochen lang die diese eine besondere Anerkennung gab man ihm nie Kartoffelklöße. „Wie stellen Sie sich das denn vor?“ tz gelesen. Nach seiner Rückkehr bat wert ist. Selbst vor dem Podex und den Brüs- Dann habe ich ihm ein paar Lock- er uns, ihm die Zeitung mit den Balla- Diese Balladenreihe ist visuell ten stoffe gegeben wie Conrad Ferdinand den jede Woche nachzuschicken, weil sehr überzeugend umgesetzt wor- der Frau ergriff ihn ein Gelüsten, Meyers „Die Füße im Feuer“. Und er: er von der Reihe so begeistert war. Ingeborg Berggreen-Merkel, Abtei- den, zusammen mit der Vita des was er jedoch als Mann von Stand „Na ja, wenn Sie meinen, dann ver- Die ganze Arbeit hat wirklich lungsleiterin Kultur im BKM, gratu- Autors, der sie gedichtet hat und aus Höflichkeit meist überwand. suchen wir’s mal und schauen, was Spaß gemacht, und ich bin unserem liert Beate Kayer Foto: Verena Kurz kurzen Erklärung, woher die Namen Dagegen gab ein Schwartenmagen passiert“ („Schaun mer mal“ ist in Layouter, Heinz Asam, unglaublich kommen. Ich nehme einmal eine dem Fleischer Anlaß zum Verklagen. Bayern ja ein gängiger Spruch). dankbar, der, wenn man ihm die Sonst wird ja sehr viel mehr darauf Ballade als Beispiel heraus, weil Was beim Gemüsemarkt geschah, Das fand ich gut. Bögel ist zum Gedichte gab, sofort wusste, wie die gepackt, aber eben deshalb fiel sie wir sie, wie die übrigen Beiträge, kommt einer Schlacht bei Glück nicht einer, der immer schon Seite auszusehen hatte. Es war natür- auch immer gleich ins Auge. weder als Film noch als Hörbeispiel nah. vorher zu wissen behauptet, was lich auch sehr großzügig, dass eine Die Verfasserin ist freie Autorin der zeigen können. Dies ist eine ganz Da schwirrten Äpfel, Apfelsinen „die Leser“ wollen. Das müsse man Ballade meistens auf einer ganzen tz sowie des Münchner Merkur und wunderbare Ballade, bei der ich durch Publikum wie wilde Bienen. erstmal abwarten. Wir h a b e n es ab- Seite abgedruckt werden konnte. puk-Preisträgerin Künstlerleben politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 22

Zwischen Profession und Anfängergeist Ein Gespräch zwischen den Künstlern Irene Fastner und Romen Banerjee Romen Banerjee: Liebe Irene, mich Linie existenziellen Fragen nach. Ich beschäftigt seit einiger Zeit die Fra- denke, jeden Menschen treiben diese ge, weshalb sind wir Künstler? Ich Fragen an, nur der Künstler hat sie möchte mit der Frage beginnen: zum Beruf. Welchen Stellenwert hat die Wert- Fastner: Meine Eltern waren einfache schätzung, die deiner Kunst entge- Leute und hatten mit Kunst über- gengebracht wird, für dich? haupt nichts am Hut – katholische Irene Fastner: Dazu fällt mir direkt Familie, sehr katholische Gegend, ein Erlebnis der letzten Woche ein: tiefstes Niederbayern. Ich versuchte, Für eine Ausstellung nahm ich aus an das alles zu glauben – Gott und die dem Atelier Lithographien mit, um sie Heiligen … . Der Glaube mit diesem zu Hause zu rahmen. Beladen mit den strafenden Gott machte mir Angst Lithographien in einer Pappschachtel – als Kind vor allem in der Nacht, war ich noch beim Einkaufen im Su- in der mir Geister erschienen. Das permarkt, wo ich sie an einem Regal versuchte ich damals zu malen. Ich stehen ließ, merkte dies aber kurz kann das Malen viel weniger steuern, darauf, ging sofort zurück – und die als wenn ich bspw. etwas erzähle. Ich Schachtel war weg. Es stellte sich her- steuere natürlich auch beim Malen, aus, dass eine übereifrige Angestellte aber da kommt irgendetwas anderes diese Pappschachtel sofort in einen dazu, dass ich selber dann gar nicht Papierschredder hineingesteckt hat- so verstehe. te. Ein Angestellter machte den De- Banerjee: Als Künstler steht man vor ckel von diesem Kasten auf und sagte: der Entscheidung sich entweder sel- „Ist es das?“ Und ich sah dann diese ber zu inszenieren, oder der inneren Schachtel, überall die Fetzen, die Notwendigkeit des Werkes zu folgen, heraushingen und in der Mitte durch- diesem also zu dienen. Je intensiver geschnitten und zusammengepresst diese Haltung des Dienens ist, desto und … ja. Er nahm die Schachtel her- größer ist auch die Intensität des aus und öffnete sie, sah die Lithos und Werkes. Inszenierungen haben eher sagte: „Ja, da war ja nix von Wert drin.“ erzählerische Qualität, während sich Und ich sagte: „Da ist jetzt etwas ganz eine dem Werk dienende Haltung als Schlimmes passiert!“ Er schaute mich die ungreifbarere, formale Struktur so an und kapierte überhaupt nichts manifestiert. Formales ist dafür – und ich ging mit meiner geschred- verantwortlich, ob uns eine Arbeit derten Schachtel heim und dachte, dann auch in der Tiefe des Herzens „dem Rest der Gesellschaft ist Kunst berührt, während Erzählerisches un- sowieso vollkommen egal“. Das war sere mentalen Fähigkeiten fordert, ein schlimmes Erlebnis. sich also eher an der Oberfläche Banerjee: Dieses weitverbreitete bewegt. Mit diesem Spannungsfeld Foto: Irene Fastner Unverständnis der Kunst gegenüber zwischen Tiefe und Oberfläche gründet nach meinem Eindruck auf arbeitet ein Künstler mehr oder we- – wie beim Kunstwerk auch – mit das Gefühl habe, die Leute sehen jetzt dass man von der Kunst leben kann. einer fatalen Unkenntnis des künst- niger bewusst. Glück zu tun. eigentlich zuviel von mir. Fastner: Es gibt dann dieses Unmit- lerischen Lebensentwurfs. Entweder Fastner: Genau. Folgt man dieser Fastner: Künstlerin war für mich Banerjee: Das was einen getrieben telbare, dieses Frische, dieses Unver- wird der Künstler als ein normaler Notwendigkeit, die man selber gar überhaupt kein Berufsbild. In der hat, wird als Kunst materialisiert, fälschte, was mir immer wichtig war. Kleinunternehmer wahrgenommen, nicht so kapiert, dann ist das total fas- Gegend, wo ich aufwuchs, gab es kein löst sich auf und fehlt als Motivation. Und wenn ich dann so etwas gemacht oder er gilt als gescheiterte Existenz zinierend. Es entsteht etwas, wo man Museum, keine Galerie – kulturelle Di- Das Verarbeiten eines persönlichen habe, dann ist das sehr befriedigend. – irgendwie nicht lebensfähiger dennoch genau weiß, das könnte jetzt aspora. Ich studierte Kunstgeschich- Anliegens als Motivation wird durch Nur es ist viel zu selten, dass dies Sozialfall. Nach meiner Erfahrung niemand anderer machen, nur ich te, Völkerkunde, alles Mögliche. Ich Routine ersetzt, es ist nunmehr der einfach so geschieht. Man verstellt jedoch geht ein Künstler in erster selber. Gerade durch eine dienende nahm an der Uni Zeichenunterricht. Beruf, man fängt einfach an – und sich die Gegenwart mit Wünschen Haltung entsteht ein zutiefst indivi- Es dauerte dann aber Jahre, bis ich dann setzt dennoch irgendwann die und Ängsten. dueller Aspekt, der in jedem guten den Mut zum Kunststudium hatte. Ich Verselbständigung des Werkes ein. Banerjee: Ich darf den Wünschen Kunstwerk ist. Wenn jetzt jemand war so ganz ein Mädel vom Lande in Für mich persönlich stellt sich in und Ängsten keinen Raum geben, Künstlerleben versucht, z. B. ein Bild von mir zu der Stadt. Dann hatte ich das Glück, meinem Leben sogar die Frage: Ist es diese aber auch nicht verdrängen. Was treibt Künstler an? Warum kopieren, dann würde die Kraft feh- während meines Kunststudiums von überhaupt eine sinnvolle Perspektive, Analog der „inneren Notwendigkeit machen sie weiter Kunst, auch len. Die kann beim bloßen Kopieren einer sehr guten Galerie in München bis zum Ende Kunst zu machen, trotz meines Kunstwerkes“ zeigt sich eine wenn sie am Markt nicht erfolgreich nicht entstehen, denn du folgst dann entdeckt zu werden. Willi Bleicher, der Erfolg und Geld, oder kann man viel- „innere Notwendigkeit meines Le- sind? Wie stehen sie Durststrecken nicht mehr dem Werk. Das ist dann die Otto-Galerie damals machte (ein leicht auch ganz ohne Kunst leben? bens“, die sich dann als Handlung durch? Wie motivieren sie sich im- der spürbare Unterschied zwischen Urgestein der Münchner Kunstszene) Es gibt einfach so viele spannende zu erkennen gibt. Ich lasse mich von mer wieder neu? Wie sind sie über- Original und Epigone. sagte: „Wir machen eine große Einzel- Möglichkeiten. Warum nicht noch meiner eigenen Handlung überra- haupt darauf gekommen, Künstler Banerjee: Diese Verselbständigung ausstellung mit Katalog.“ Das war so einmal ganz anders leben? Ist das für schen und genieße mein Leben dort zu werden? des Kunstwerkes, der man als Künst- abstrus, ich kapierte überhaupt nicht, dich eine denkbare Variante? und derart, wo es mich hinträgt und Diese und andere Fragen werden ler ausgeliefert ist, zeigt etwas All- dass das jetzt etwas ganz Tolles war. Fastner: Diese Überlegungen über- wie es mich trägt. in den Interviews der neuen Reihe tägliches auf. Wir haben Pläne im Das brach so über mich herein. Dann kommen mich, wenn ich das Gefühl Fastner: Ja … das war ein gutes Ge- in politik und kultur Künstlerleben Leben, doch welche wir umsetzen war diese Ausstellung mit 50 Bildern habe, ich arbeite zwar viel, aber ich spräch. Momentan geht mir das im gestellt. Die Gespräche führt der können und ob die damit für uns von mir und die Eröffnung, bei der ich kann nicht richtig davon leben. Es Kopf herum, und ich habe das Gefühl, Bildende Künstler Romen Banerjee. persönlich erhofften Effekte auch dann erst merkte, was das jetzt ist. Ich gibt immer andere spannende Sa- ich bin da mittlerweile so unfrei. Ich Den Auftakt bildet ein Gespräch eintreten, scheinen wir nicht in der stand da plötzlich mit diesen ganzen chen, die man machen kann, und müsste wieder mehr … mit der Bildenden Künstlerin Irene Hand zu haben. Vielleicht haben wir Bildern schutzlos dieser Öffentlich- die auch in der Gesellschaft etwas Banerjee: … Anfängergeist … Fastner. nur die Entscheidung, es zu genießen keit ausgeliefert, und das war ganz bewirken können. Fastner: Ja. wie es ist oder dagegen zu kämpfen, schlimm. Bei der Vernissage habe Banerjee: Was könnte so etwas sein Die Redaktion und anscheinend hat das dann etwas ich mich irgendwann auf der Toilette bei dir? eingesperrt. Am ersten Abend wurde Fastner: Ja. Das ist dann genau der Irene Fastner fast alles verkauft. Gedanke: Was könnte das sein bei Romen Banerjee, Künstler Banerjee: Hat denn die Professionali- mir? Und mir fällt nichts ein. Man 1963 geboren in Zwiesel sierung deine Kunst verändert? muss vom Hamsterrad und davon 1988-1994 Geboren 1963 in Berlin Fastner: Die Energie, die damals in wegkommen, sich selber so unter Studium der Malerei bei Prof. Hel- 1984 bis 1990 Studium bei Prof. Wolfgang Petrick, die Bilder hineingeflossen war, die Druck zu setzen. Dann kann man die mut Sturm an der Akademie der Hochschule der Künste, Berlin habe ich nicht mehr. Zu der Zeit gab Arbeit auch wieder mehr genießen. Bildenden Künste in München, 1988 Gründung der Ateliergemeinschaft Tempelhofer Ufer, Berlin es unheimlich intensive Gefühle und Banerjee: Man kommt ja in Versu- Meisterschülerin 1994 bis 1995 Lehrauftrag an der Hochschule der Künste Berlin so viel zu verarbeiten. Die jahrelange chung, dass man sich zufrieden gibt 2005-2005 Auseinandersetzung mit dem Ster- mit einer Arbeit, die nicht mehr diese Atelierstipendium des Bayerischen Ausstellungen in diversen Galerien, u.a.: ben, durch den Tod meines Vaters. Magie besitzt, die einen selber faszi- Ministeriums für Wissenschaft, For- 2009 Galerie Tobias Schrade, Ulm Diese Intensität war spürbar in diesen niert. Ich habe für mich festgestellt, schung und Kunst 2008 DIE BERÜHRUNG, Galerie M, Berlin Bildern, und die erste Ausstellung dass man zwischen dem Leben und 2006 2007 WACHSEN UND WERDEN, mit Rorf Scharrer, simple fact, Nürnberg war vielleicht sogar meine beste. Die dem schöpferischen Schaffen im Arbeitsstipendium im Tyrone Guthrie 2006 ELEMENTARES, mit Ralf Kehrbach und Michael Franke, Galerie Berlin Bilder haben sich insofern verän- Atelier doch nicht wirklich trennen Centre in Annaghmakerrig, Irland DER WILLE ZUR KUNST mit Menno Fahl und Frank Paul, Galerie dert, als sie ruhiger geworden sind. kann. Relevante Tiefe in der Kunst 2007 im Turm, Berlin Dieses Direkte, Emotionale habe ich erreicht man nur unter einer Bedin- Kunstpreis des Europäischen Frau- 2005 F40, mit Detlef Günther u.a., Berlin ein bisschen rausgenommen, aber gung: Meine gesamte Haltung muss enforums BERAUSCHUNG mit Stas Belopolskiy und Wernher Gambs, auch als Selbstschutz. Ich möchte sich ändern – ich muss wirklich auch 2010 Stiftung Starke, Berlin schon etwas von mir preisgeben – das im normalen Leben raus aus dieser Arbeitsstipendium im Hospitalfield 2004 F40, mit Goessel, Heyder, Paul, Horbach, Wenzel, Berlin macht man ja, wenn man malt – aber Mühle. Der Punkt ist ja folgender: House in Arbroath, Schottland 2003 Kunsthaus Eching nicht zuviel. Die Leute, die Betrachter Wenn ich der inneren Notwendigkeit, Lebt und arbeitet als freischaffende 2000 KARMA, Installation mit M. Paul für Nina Hagen, Volksbühne Berlin waren von diesen Bildern damals die mir das Kunstwerk abverlangt, Künstlerin in München 1998 mehrere Projekte u.a. mit M. Paul zwar beeindruckt, aber ich hatte das konsequent folge, also als Künst- Seit 1990 1997 Kunst 30 Tage – 30 Künstler, Galerie Wolf, Berlin Gefühl, zuviel von mir preiszugeben ler dem Werk radikal diene, dann Zahlreiche Einzelausstellungen und Wahrnehmung – Perception, Galerie Wolf, Berlin und nackt dazustehen. Und das war kommt eine Phase der Vertiefung, Ausstellungsbeteiligungen im In-und schlimm. Das ist immer noch oft so, in der wieder alles zur Disposition Ausland wenn ich Bilder ausstelle, dass ich steht – gerade auch der Umstand, kulturelle vielfalt politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 23

Werkzeugkasten „Kulturelle Vielfalt gestalten“ Wichtige Initiativen des Kulturausschusses des Europaparlaments • Von Christine M. Merkel Wie wird das UNESCO-Überein- Kommission, Eine digitale Agenda tisch-kritische Zusammenschau für kommen zur Vielfalt Kultureller für Europa vom 20. 05.2010, Abschnitt den Zeitraum 2005-2010 vor, wie die Ausdrucksformen (2005) bislang 2.7.3.). Die Agenda sieht grundsätzlich EU und ihre Mitgliedsstaaten den genutzt, um die Verpflichtung der Eu- gute Optionen zur Stärkung und För- Handlungsrahmen dieser Magna ropäischen Union zur Beachtung kul- derung kultureller Vielfalt, da künstle- Charta für Internationale Kulturpo- tureller Aspekte in ihren Innen- und rische und kulturelle Inhalte mit Hilfe litik im Innen- und Außerverhältnis Außenbeziehungen zu erreichen? neuer digitaler Medien leichter und nutzen. Selbstverständlich wird Mit welchen Initiativen zur Förderung kostengünstiger Verbreitung finden dabei an den bestehenden EU-Ins- kulturelle Vielfalt sollte die EU in den und mehr Adressaten, auch interna- trumenten angeknüpft, v.a. an der kommenden Jahren in Europa und in tional, erreichen können. Erwartet Fernsehrichtlinie, den Filmförder- der internationalen Zusammenarbeit wird auch ein größerer Pluralismus in und Kulturprogrammen (MEDIA, beispielhaft vorangehen? den Medien. Demgegenüber stehen AKP-Filmfonds), der Kulturwirt- jedoch hohe Investitionskosten für schaftsdebatte und der Nutzung n seiner Sitzung am 2. Juni 2010 Digitalausrüstung, u.a. im Bereich der Regional- und Sozialfonds zur I hat der Ausschuss für Kultur und Kino, Bibliotheken und Museen, die Stimulierung kultureller Vielfalt jen- Bildung des Europaparlaments unter sich negativ auf die Zahl der Anbieter seits der urbanen Metropolen sowie Vorsitz von MEP Doris Pack dazu eine auswirken können. im internationalen Bereich an den wichtige und grundsätzliche Debatte Wie die volle Verwirklichung des Außenhandelsinstrumenten, der Ent- geführt. Gut zwei Jahre vor der ers- digitalen Binnenmarkts konkret zu wicklungskooperation, den ökono- ten offiziellen Berichtsrunde an die Schutz und zur Förderung der Vielfalt mischen Partnerschaftsabkommen, UNESCO, die 2012 ansteht, hatte der kultureller Inhalte im Sinne sozialer den politischen Außenbeziehungen EP Kulturausschuss zu Jahresanfang Lebensqualität beitragen kann, wird und dem Menschenrechtsdialog,. eine Bestandsaufnahme in Auftrag die entscheidende Alltagsaufgabe Seit 2007, dem In-Kraft-Treten gegeben. Im Rahmen des Workshops 2010/2011/2012, für die Kommissarin der UNESCO-Konvention und der vom 2. Juni 2010 ging es um kurz- Kroes den Kulturausschuss dezidiert Verabschiedung der EU-Kulturagen- und mittelfristige Perspektiven von um sachkundige und kritische Mitar- da, sind diese Instrumente deutlich Schutz und Förderung kultureller beit bat. Vereinbart wurde, sehr bald weiterentwickelt worden, so 2008 mit Vielfalt. Mit dem Lissabon-Vertrag ein Gespräch zwischen den Abgeord- der als Richtlinie über audiovisuelle (Art. 167, Abs.4) ist die EU zur Beach- neten und der von der Kommission Dienste novellierten Fernseh-Richt- tung kultureller Aspekte verpflichtet. beauftragten Reflexionsgruppe zur linie, dem Filmförderprogramm Diese Absichtserklärung sei jedoch Digitalisierung zu führen. Dem im MEDIA Mundus, der Programmlinie noch lange nicht Wirklichkeit, so die April 2010 eingesetzten dreiköpfigen „Investing in People“ in der Entwick- Ausschussvorsitzende. ‚Komitee der Weisen’ gehört u.a. Eli- lungszusammenarbeit, einem Pilot- Besonderes Gewicht erhielt dieser sabeth Niggemann, Generaldirekto- programm Kulturwirtschaft mit fünf Workshop durch die unmittelbar da- rin der Deutschen Nationalbibliothek AKP Ländern, ersten Gesamtansätzen vor geführte intensive Aussprache mit an. Die Gruppe soll bis Jahresende zu Stärkung des Kunst- und Kreativ- der Vizepräsidentin der Kommission innovative Lösungsmöglichkeiten sektors in insgesamt 14 AKP Ländern, Neelie Kroes, zuständig für die Digi- erarbeiten, u.a. zu Fragen der ra- Bemühungen zur Verbesserung der tale Agenda. Dieses sehr engagierte scheren Klärung von Lizenzrege- Künstlermobilität und insbesondere und konstruktive Gespräch drehte lungen und Rechten, zu tragfähigen durch die Einführung von Kulturpro- sich wesentlich um die Bedeutung Finanzierungsmodellen sowie zum tokollen im Zusammenhang mit den der Bereitstellung hochwertiger, Online-Zugang zum gemeinsamen Ökonomischen Partnerschaftsab- darunter kultureller und kreativer, europäischen Kulturerbe. kommen (2008 mit Cariforum, 2009 Inhalte für die digitale Zukunft Eu- Als Schlüsselaktion nennt die mit Korea, derzeit mehrere weitere ropas. Damit verbunden stellt sich Agenda die Digitalisierung von Inhal- im Verhandlungsstadium), die jedoch die Frage einer auf Dauer angelegten ten für die öffentliche EU-Online-Bi- auf unterschiedlich motivierte Kritik EU-Parlament in Brüssel Foto: Kristin Bäßler Sicherung der Einnahmen von Künst- bliothek bis spätestens 2012 (Ausbau stießen (vgl. dazu u.a. das Konzept- lern und weiteren geistig-kulturellen der Europeana, vgl. dazu den Bericht papier der französischen Regierung kompletten Lebensweg künstlerisch- fer Anwaltskanzlei im Winter 2010 Produzenten. Die Abgeordneten an- von MEP Helga Trüpel, den sich die zur Förderung kultureller Vielfalt in kultureller Inhalte grundlegend um- Koalitionen für Kulturelle Vielfalt, erkannten ausdrücklich das ernsthaf- Kommission weitgehend zu Eigen den Außenbeziehungen der EU, Paris, wälzt. Dieser Moment kann bewusst UNESCO-Nationalkommissionen, te Bemühen der Kommission, hierzu gemacht hat). Drei weitere Aktionen Dezember 2009). für Vielfaltszielsetzungen genutzt Ministerien aus einem guten Dutzend eine grundsätzliche neue Balance sind die „Gewährleistung der in der Nicht überraschend stellen sich werden, wie es sich in der Digitalen Länder sowie UNESCO, UNCTAD, zwischen der Produktion und der Ver- Richtlinie über audiovisuelle Medien- die Hauptfragen in den neuralgischen Agenda der Kommission zumindest die Commonwealth-Stiftung und die breitung künstlerisch-kultureller In- dienste enthaltenen Bestimmungen Bereichen, die vor zehn Jahren zur ansatzweise anbahnt. EU-Kommission zu ihrer bisherigen halte und der Schaffung des digitalen zur kulturellen Vielfalt“ – bis Ende Initiierung der Verhandlungen zu die- Im Bereich der Auswärtigen Be- Arbeit mit dem UNESCO-Überein- Binnenmarkts anzustreben, als Trade 2011 sollen die Mitgliedsstaaten über sem UNESCO-Übereinkommens ge- ziehungen der EU geht es zum einen kommen sowie zu ihren Erwartungs- Mark einer genuin Europäischen Va- ihre Anwendungspraxis informieren führt haben: Im Kern geht es um eine darum, die Frage der Kombination haltungen befragt. Das Ergebnis ist riante kultureller Vielfaltspolitik im - , Vorschläge für „Maßnahmen zur politisch gewollte Stärkung kulturel- von Handels- und Kulturbeziehungen sehr gemischt: Neben großer Zielstre- Sinne der Zielsetzungen der 2005-er Erschließung des Potenzials der Kul- ler Aspekte gegenüber den vereinbar- in einen breiteren Entwicklungskon- bigkeit und klarer interner Selbstorga- UNESCO Konvention. tur- und Kreativwirtschaft“ bis 2012 ten Handelszielen, insbesondere zur text zu stellen. DG Handel und DG nisation (z.B. eine Inter-Ministerielle- Vizepräsidentin Kroes unterstrich, (bis 1.7.2010 öffentliche Konsultation strukturellen Stärkung des kulturellen Kultur legen hierzu im Juli 2010 ein Arbeitsgruppe im föderalen Kanada, dass die Umsetzung der Digitalen zum Grünbuch der Kommission ) so- Sektors in denjenigen gut hundert- gemeinsames Rahmenpapier vor, ein Neustrukturierung des Ministeriums Agenda als Querschnittsprojekt zwar wie eine Empfehlung zur Förderung siebzig Ländern, die nicht zu dem Novum an ressortübergreifender Ko- in Brasilien), produktiven Beispielen kein leichtes Unterfangen sein werde, der Digitalisierung des europäischen Dutzend Staaten gehören, welche die operation. Und ein gutes Zeichen da- des kooperierenden Dialogs zwischen dass die bessere grenzüberschreiten- Kinos bis 2011. Weltmärkte in den Bereichen Film, für, dass der kritische Dialog seit 2008 Zivilgesellschaft und Regierungsbe- de Nutzung kultureller Inhalte bei Obwohl der Aspekt „Pluralismus AV, Musik, Buch dominieren (neben auf fruchtbaren Boden gefallen ist. hörden, finden sich auch Beispiele gleichzeitiger Gewährleistung der in den Medien“ in der Agenda aus- den USA sind dies die größeren EU Wichtig ist, dass die EU ihre Stimme eher verhaltenen Abwartens sowie geistigen Eigentumsrechte jedoch drücklich thematisiert wird, wird Staaten sowie zunehmend China). und ihr Gewicht in die Auswertung die z.B. von kleineren Ländern des eines der Herzstücke des Projektes hierzu leider weder eine spezifische Die Schaffung regional und lokal der Milleniumsentwicklungsziele Commonwealth geäußerten Sorge, darstelle. Ihr persönlicher Traum Aktion genannt, noch dezidiert an tragfähiger Märkte ist hierfür ebenso in New York im September 2010 in Tempo und Governance nicht mit sei, dass Autoren, Komponisten und den von der Kommission (DG INF- entscheidend wie die Stärkung der einbringt, für deren Erreichung die größeren Staaten mithalten zu kön- andere Künstler die Schaffung eines SO) 2008/2009 initiierten wichtigen Produzentenkompetenz in diesen kulturelle Dimension menschlicher nen. Ergänzend hat das Genfer Team echten digitalen Binnenmarkts als Vorarbeiten zur Entwicklung risiko- Ländern. Für Europa selbst geht es Entwicklung wesentlicher ist als bis auf Basis seiner eigenen Spezialge- gemeinsame große Chance sehen basierter Indikatoren angeknüpft v.a. um die vorrangige Beachtung kul- jetzt verstanden wurde. Mit Blick biete Vorschläge vorgelegt, z.B. stärker könnten, mit der für die Erzeuger und (Indicators for media pluralism un- tureller Aspekte im Zeitalter nach der auf die gut ausgebauten EU Instru- den Aspekt der Marketingkosten in Nutzer von Inhalten eine neuartige der a risk based approach, eine Ex- technologischen Konvergenz, u.a. in mente im Bereich des Menschen- der Verwertungskette in den Blick zu win-win Situation entstehen könne. cel-basierte Diagnosemethode, vgl. der Neujustierung des Kulturauftrags rechtsdialogs wird zudem angeregt, nehmen, da sich massives Marketing Die UNESCO-Konvention sei dafür Eric Karstensen, Media Pluralism des öffentlichen Rundfunks und der die Menschenrechtsdimension der auf die Verfügbarkeit eines vielfältigen ein Hauptinstrument und integraler unveiled, 19 June 2009; http://www. damit verbundenen audiovisuellen UNESCO-Konvention aktiver als Kulturellen Angebots stark einschrän- Bestandteil des Gemeinschaftsrechts. ejc.net/magazine/article/media_plu- Dienste sowie einer entsprechenden bislang in den politischen Dialog mit kend auswirken kann (klassisches Dies müsse inzwischen in den Köpfen ralism_monitor_unveiled/). Neuausrichtung der Verwertungsge- einzubeziehen. Beispiel die Marketingsbudgets der aller Entscheidungsträger sowohl Für den Workshop zur UNESCO- sellschaften. Zur wichtigen Frage der Beteili- Blockbuster die bis zu 150% der Pro- in der Kommission als auch in den Konvention zur Vielfalt kultureller Als Zwischenergebnis lässt sich gung Zivilgesellschaft hat die EU in duktionskosten betragen können). Mitgliedsstaaten verankert und an- Ausdrucksformen hatte der Aus- festhalten, dass die verschiedenen der Umsetzung der Kulturagenda Das Team machte auch Vorschläge gekommen sein. schuss je ein Übersichtspapier zur Generaldirektionen der EU-Kom- von 2007 erste Erfahrungen durch für Frühwarnmöglichkeiten zu Si- Die am 20. Mai 2010 von der EU- Umsetzung innerhalb der EU (Mira mission seit 2007 in der Summe eine die Kombination aus Gruppen von tuationen ernsthafter Gefährdung Kommission vorgestellte „Digitale Burri, Universität Bern) und in den Vielzahl nützlicher und als nützlich Regierungsexperten und der Ein- kultureller Ausdrucksformen, für die Agenda für Europa“ ist die erste Außenbeziehungen der Union erstel- intendierter Initiativen zur Stärkung richtung zivilgesellschaftlichen Platt- die Konvention verpflichtende Zu- von sieben Leitinitiativen für die len lassen (Jordi Baltà Portolés, Stif- der Vielfalt kultureller Ausdrucks- formen gesammelt, die im Sommer sammenarbeit der Vertragsparteien Strategie 2020. Unter dem Stichwort tung Inter-Arts, Barcelona). Ein Gen- formen ergriffen haben. Diese Ein- 2010 ausgewertet werden. Für die vorsieht. „Förderung von kultureller Vielfalt fer Anwaltsbüro erstellte eine Studie zelinitiativen ergeben jedoch noch Weiterentwicklung dieser Koopera- Zusammenfassend erkennt die und kreativen Inhalten“ stellt die zu Umsetzungstrends in einem Dut- kein plastisches Gesamtbild, was u.a. tion können Erfahrungen aus dem Europäische Kommission in ihrer Agenda auf Basis des Rechtsrahmens zend ausgewählter Vertragsstaaten, mit der mehrschichtigen Governance Umweltbereich hilfreich sein, wie z.B. Antwort auf diese Befragung an, dass des UNESCO Übereinkommens von mit sehr interessanten Antworten und den vielen beteiligten Akteuren Formen der Bevölkerungsbeteiligung sich nach der Verabschiedung der 2005 ausdrücklich fest, dass sich die u.a. aus Sicht der EU-Kommission, zu tun hat. Es gibt also noch einiges wie sie in den letzten Jahren mit Hilfe Europäischen Kulturagenda 2007 Förderung und der Schutz der Vielfalt der Commonwealth-Stiftung, der zu tun, um hier gemeinsam besser der Aarhus Konvention entwickelt in den Außenbeziehungen der EU kultureller Ausdrucksformen welt- UNESCO sowie von UNCTAD. und überzeugender zu werden. Der worden sind. weit „ebenso auf neue digitale Um- Damit liegt erstmalig auf insge- rasche digitale Wandel ist hierbei Im Auftrag des EP Kulturaus- Weiter auf Seite 24 felder erstreckt“ (vgl. Mitteilung der samt hundert Seiten eine systema- ein starker exogener Faktor, der den schusses hat das Team einer Gen- kulturelle bildung politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 24

einkommen bringt eine neue Rolle für Follow-Up der UNESCO-Konvention 2010 (IP/B/CULT/IC/2010_065); Mitteilung der Kommission, Eine digi- Fortsetzung von Seite 23 die Kultur und die kulturelle Vielfalt im ist damit ein hervorragendes Beispiel · Mira Burri, World Trade Institute, Uni- tale Agenda für Europa, 20. 05.2010, Bereich der Global Governance mit gesetzt. Es ist zu wünschen, dass versität Bern, The Implementation of insbesondere Abschnitt 2.7.3. zur Werkzeugkasten „Kultu- sich, gilt es doch als kultureller Grund- dies auch auf der Ebene nationaler the UNESCO Convention on the Diver- Förderung von kultureller Vielfalt und relle Vielfalt“ gestalten pfeiler auf globaler Ebene und somit Parlamente Schule machen wird. sity of Cultural Expressions in the EU’s kreativen Inhalten; Terminhinweis: als Spiegelbild für die Erfolge, welche Die Interparlamentarische Union Internal Policies, 30 p. , May 2010 13./14.10.2010, Seminar der bel- ein neuer strategischer Rahmen für Umweltinitiativen und -abkommen wäre hierfür ein geeigneter Partner. (IP/B/CULT/IC/2010_066); gischen EU-Ratspräsidentschaft zur die Kultur abzeichnet: Kultur wird auf dem Gebiet des Klimawandels Für 2011 plant die Parlamentarische · Beide Briefing notes sind verfügbar un- Digitalen Agenda zunehmend als strategischer Faktor und der biologischen Vielfalt erreicht Versammlung der Frankophonie eine ter www.europarl.europa.eu/studies der politischen, sozialen und wirt- haben (vgl. Antwort der Kommission ähnliche Initiative. · Germann Avocats(Genf) und multi- Die Verfasserin ist Leiterin des Fach- schaftlichen Entwicklung angesehen unter www.culturdiversity.eu). disziplinäres Forschungsteam, Die bereichs Kultur, Memory of the World und nicht nur als Gegenstand gele- Der Parlamentsausschuss hat Zum Weiterlesen: Umsetzung des UNESCO-Übereinkom- der Deutschen UNESCO-Kommis- gentlicher Veranstaltungen oder als mit dieser ersten Bestandsaufnahme Bestandsaufnahme der Umsetzung der mens von 2005 in der Europäischen sion und der Kontaktstelle für das Aushängeschild. Die Kopenhagener zum Umsetzungsstand des UNESCO UNESCO-Konvention durch die EU: Union, 80 S., Mai 2010, (IP/B/CULT/ UNESCO-Übereinkommen zum Kriterien für den Dialog zwischen Übereinkommens fraktionsübergrei- · Jordi Baltà Portolés, Interarts Founda- IC/2009_057); Schutz und zur Förderung der Viel- der EU, dem westlichen Balkan und fend politisch klug, selbstbewusst tion, Barcelona, The Implementation · Ausführliche Antworten u.a. der EU- falt kultureller Ausdrucksweisen. Seit der Türkei verdeutlichen, wie dieser und strategisch beispielhaft von of the UNESCO Convention on the Kommission, der Commonwealth- Mai 2010 Vorsitzende des Lenkungs- neue Ansatz auf konkrete Aufgaben seinen Handlungsmöglichkeiten Diversity of Cultural Expressions in Foundation, UNESCO, UNCTAD unter ausschusses Kultur des Europarats / anwendbar ist. Das UNESCO-Über- Gebrauch gemacht. Für ein effektives the EU’s External Policies, 30 p., May www.culturaldiversity.eu www.unesco.de Leseförderung gut vernetzt In Niedersachsen helfen eine Broschüre und eine Ausstellung bei der Verbreitung von Leseförderideen• Von Andreas Müller Leseförderung ist als guter Zweck für 2011 bereit. Es sind fast immer weitgehend anerkannt. Aber was Orte, denen lediglich eines der steckt konkret dahinter? Drei Bei- Plakate gewidmet ist. Aber es wird spiele. Ein pensionierter Germanis- offenbar als Mehrwert gesehen, dass tik-Dozent hilft zweimal die Woche man seinen Platz in einem größeren Grundschülerinnen beim Lesenler- Rahmen findet, dass man also mit nen. Eine Bibliothekarin organisiert seinem örtlichen Netzwerk ein Teil in der Stadtbücherei alljährlich des größeren, niedersachsenweiten einen Sommerleseclub für 10- bis Netzwerks der Leseförderung ist. 14-Jährige. Eine Lehrerin geht mit Die Akademie für Leseförde- ihren Oberstufenschülern regelmä- rung, die vom Niedersächsischen ßig in die Universitätsbibliothek, Kultusministerium, dem Nieder- damit diese bei der Facharbeit auf sächsischen Ministerium für Wissen- die dortige Literatur zurückgreifen. schaft und Kultur sowie der Stiftung Durchweg lobenswerte Beispiele Lesen getragen wird, hat mit ihrer der Leseförderung, wohl wahr! Aber gezielten Öffentlichkeitsarbeit für können sie mehr sein als ein Tropfen die Lesenetzwerke offenbar lan- auf den heißen Stein? desweit ein neues Bewusstsein für die große gemeinsame Aufgabe der ie Antwort heißt: ja – wenn Förderung von Lesekompetenz und Ddie Akteure Mitstreiter finden. Lesemotivation geschaffen. Professi- Der Germanistik-Dozent schließt onelle Akteure wie Lehrer und Bibli- sich mit anderen am Ort zu einem othekare, aber auch ehrenamtliche Lesementoren-Verein zusammen. Leselernhelfer und Vorlesepaten Die Bibliothekarin beteiligt sich an nehmen wahr, dass und wie sie zu- einem landesweiten Projekt und sammenwirken können, lokal und erhält dadurch zusätzliche Mittel zur regional. Ein Mehrebenensystem Anschaffung von Büchern für den entsteht, neue Akteure kommen Leseclub. Die Lehrerin entwickelt hinzu, Entscheidungen werden zusammen mit der Universitätsbib- besser koordiniert. Auch ohne zen- liothek ein Konzept für Bibliothek- trale Steuerung oder Management seinführungen zur Facharbeit und wachsen Strukturen, die belastbar gewinnt ihre Lehrerkollegen durch sind. Die niedersächsischen Leseför- einen Fortbildungskurs dafür, ihre der-Netzwerke können so vielleicht Schüler ebenso für die Recherche zu ein Erfolgsmodell für andere kultur- trainieren. Auf diese Weise entstehen politische Bewegungen sein, die sich und festigen sich Kontakte zwischen in schweren Zeiten neu aufstellen Personen und Institutionen, und mit müssen. den Erfahrungen wächst Vertrauen in Der Verfasser ist Mitarbeiter der sich und andere. Es entstehen hierar- Akademie für Leseförderung der chiefreie Strukturen der Zusammen- Stiftung Lesen an der Gottfried arbeit: die Lesenetzwerke. Wilhelm Leibniz Jetzt ist es in Niedersachsen Jungs lesen in der Bibliothek“ Foto: Andreas Müller Bibliothek erstmals gelungen, die Netzwerkidee für die Leseförderung auf Landes- ebene sichtbar zu verankern und ihr damit langfristige Perspektiven zu verschaffen. Die Akademie für Durch Kultur mitten im Leben Leseförderung der Stiftung Lesen Die Kulturloge Berlin stellt sich vor • Von Angela Meyenburg an der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek hatte schon im vergan- Was passiert mit unbelegten The- quent auf den Kulturbetrieb. Danach der Veranstaltung können die Gäste Gewinn versprechen, aber neue Per- genen Jahr in der Broschüre „Lese- aterplätzen? Was bedeuten leere werden statt Blumenkohl und Brot zur Kasse gehen und einfach ihren spektiven und Bewertungsmaßstäbe land Niedersachsen 2009“ aus der Ausstellungsräume in Museen? Kann freie Theater- und Konzertplätze der Namen nennen. Es ist ein Leitprinzip in den Kulturbetrieb einführen. Die Schriftenreihe der Stiftung Lesen 22 man als Kulturveranstalter diese Kulturloge zur Verfügung gestellt. Die der Kulturloge Berlin, dass jeder Gast, Zielgruppe der Kulturloge erdet Kul- örtliche Lesenetzwerke und Lese- Probleme lösen und sich gleichzeitig Kulturveranstalter sind eingeladen, der der auf der Gästeliste der Kulturloge turinstitutionen. Sie sorgt für gesell- förderinitiativen von A wie Aurich für Bildung, Integration und Ehrenamt Kulturloge Berlin, das zu geben, was sie steht, seinen Einkommensstatus an schaftliche Verankerung und sichert bis W wie Wolfsburg anschaulich engagieren? Können sich kulturelle nicht mehr verkaufen können. der Theater- oder Konzertkasse nicht die gesellschaftliche Relevanz, die ein und mit konkreten Projektbeispielen Einrichtungen aktiv in aktuelle Bil- Im persönlichen Telefongespräch mehr offenlegen muss. Dort dürfen die Kulturbetrieb von Wenigen für Wenige vorgestellt. dungsdebatten einbringen? vermittelt das Team der Kulturloge Ber- finanziellen Verhältnisse der Besucher langfristig nicht halten kann. Dabei Dieser gedruckten Beispielsamm- lin Veranstaltungen mit freien Plätzen keine Rolle mehr spielen. ist im kulturellen Kontext das Geben lung wurde im April 2010 pünktlich uf diese Fragen gibt die Kultur- an seine Gäste, welche sich zuvor über Die Kulturloge Berlin will Men- und Nehmen keine Einbahnstraße, zum Welttag des Buches eine profes- A loge Berlin eine Antwort: Kultur soziale Partnereinrichtungen schrift- schen persönlich dazu einladen, die Gäste der Kulturloge und die Kul- sionell gestaltete Wanderausstellung gibt kreativ! Die Kulturloge Berlin lich angemeldet haben. Gast kann wieder am gesellschaftlichen Leben turanbieter gehen eine Verbindung als mobiles Werbemittel zur Seite ge- ermöglicht Menschen mit geringem jeder werden, der als Einzelperson we- zu partizipieren. Gäste erobern sich ein, die langfristig und generationsü- stellt. Im Mittelpunkt der einheitlich Einkommen den kostenfreien Zugang niger als 900 Euro brutto im Monat zur durch die Teilhabe am kulturellen bergreifend ist. gestalteten Plakate stehen jeweils zu Kulturveranstaltungen. Theater, Verfügung hat. Wie sich dieser Betrag Leben ihrer Stadt neue Handlungs- Durch die Kulturloge haben die konkrete Projekte der Netzwerke, wo- Konzerte, Kabarett, Ausstellungen, zusammensetzt, spielt für die Initiative spielräume, erweitern Horizonte Kultureinrichtungen eine Möglichkeit, durch die Ausstellung zugleich eine Kinderprogramme und viele weitere keine Rolle. Die Gäste geben bei der und eröffnen sich Möglichkeiten, mit sich als Bildungseinrichtung bürger- Sammlung von Anregungen für die Kulturangebote haben im Programm Anmeldung ihre kulturellen Vorlieben anderen ins Gespräch zu kommen. nah in die Bildungsdebatte einzubrin- anderen Netzwerke im zweitgrößten der Kulturloge Berlin ihren festen an und hinterlassen ihre Telefonnum- So kann die Kulturloge Berlin einen gen, ohne dabei betriebswirtschaft- deutschen Flächenland ist. Platz. mer. Gehen Karten für entsprechende Beitrag dazu leisten, dass durch kul- liche Regeln zu missachten. Denn Nach der Eröffnung der Ausstel- Die Vorgehensweise der Kulturloge Veranstaltungen bei der Kulturloge turelle Erlebnisse Kommunikation und gerade dieser Blick ist für die Initiative lung im großen Rahmen des Nieder- Berlin ist simpel und orientiert sich ein, werden sie von den Vermittlern gesellschaftlicher Austausch unabhän- von großer Bedeutung. Sie möchte die sächsischen Landtags gehen die 26 am Prinzip der bundesweit ersten angerufen und können sich einen Platz gig von individueller und finanzieller Kulturbetreiber einladen, ihre leeren Plakate der Ausstellung jetzt auf die Kulturloge in Marburg: Die Initiative auf der Gästeliste reservieren lassen. Leistungsfähigkeit gefördert werden. Plätze nicht als wertlose Ware anzuse- Walz durchs Land. Bis zum Jahres- betrachtet kulturelle Angebote als Sobald das Kontingent erschöpft ist, Die Kulturbetriebe erreichen neue ende ist die Ausstellung fast ausge- geistige Nahrung und überträgt das be- wird die Gästeliste an den Kulturver- zusätzliche Zielgruppen, die zwar Weiter auf Seite 25 bucht, weitere Interessenten stehen kannte Prinzip der Essenstafeln konse- anstalter weitergeleitet. Am Abend vordergründig keinen wirtschaftlichen kulturelle bildung politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 25

Gleichzeitig konnten mehr als 250 freie Kindern fallen weg, wenn diese wieder werden. Diese quantitativen Dimensi- finden und das beitragen, was er oder Fortsetzung von Seite 24 Veranstaltungsplätze vermittelt wer- nach Hause fahren müssen, ohne die onen und der mediale Fokus auf den seine Einrichtung geben kann. Ähn- den. Die persönliche Ansprache über Veranstaltung gesehen zu haben. Das Kreativ- und Kulturstandort Berlin lich wie Nahrung verbindet Kultur die hen, sondern daraus einen Mehrwert das Telefon und der Verzicht auf die Fahrgeld spart man außerdem. machen die Kulturloge Berlin zu einem Menschen und zeigt, dass die Teilhabe zu schaffen, der ihnen die Möglichkeit Darlegung des Einkommensstatus an Die Initiative befindet sich in der Pilotprojekt, das mit bundesweiter an Kultur und Bildung ein von der gibt, nachhaltig und nach außen hin der Kasse sind wichtige Punkte für den Probephase und wird sich in den kom- Strahlkraft in weiteren Städten zu Initi- Gesellschaft gefordertes Grundrecht sichtbar zu wirtschaften. Erfolg. Das Telefon ist ein Medium, das menden Monaten einer logistischen alzündungen führen wird. Das Prinzip ist. Nicht zuletzt sehen die Zuhörer Die ersten Erfahrungen zeigen, gerade für ältere Menschen praktikab- Herausforderung stellen. 500.000 der Kulturloge Berlin kann als heraus- im Publikumsraum für einen Chor dass die Kulturloge Berlin die Men- ler ist als das Internet. Aber auch die Geringverdienern in Berlin (2009) ragendes Beispiel für das Zusammen- oder ein Orchester alle gleich aus und schen erreichen und dabei individuelle Planbarkeit für Familien und Allein- stehen 3.000.000 statistisch erfasste führen von Sektoren gelten, die bisher es singt und spielt sich einfach besser, Wünsche erfüllen kann. Die Freude erziehende stellt einen großen Gewinn Plätze in Kulturveranstaltungen (2008) Annäherungsschwierigkeiten hatten. wenn man auf Menschen schaut und bei den Gästen ist sehr groß und die dar. Eltern müssen sich nicht mehr auf mit einer nicht validierbaren aber Neben dem kulturellen und sozialen nicht auf leere Plätze. Weitere Infos Resonanz der Kulturbetreiber positiv. gut Glück auf den Weg machen und plausiblen Auslastung von 50 Prozent wird auch der wirtschaftliche Sektor unter: www.kulturloge-berlin.de In den ersten zwei Wochen haben darauf hoffen, dass an der Abendkas- gegenüber. In den ersten 12 Monaten und die Kirche als Partner in die Arbeit sich bereits mehr als 300 Gäste bei se noch Karten für sie übrig sind. Die sollen 5.000 Gäste erreicht und 20.000 der Kulturloge miteinbezogen. Jeder Die Verfasserin ist Initiatorin der der Kulturloge Berlin angemeldet. traurigen Erklärungen gegenüber den Plätze bei 100 Veranstaltern vermittelt kann seinen Platz in der Kulturloge Kulturloge Berlin Vielfalt ist deutsche Realität Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration stellt seinen ersten Bericht vor • Von Kristin Bäßler In den vergangenen Jahren sind eine Allerdings, so der Sachverständigen- rerbevölkerung an, überwiegend Land erlebten Vergangenheit. Auf lernen wird damit zur Hauptaufgabe Vielzahl an Berichten und Artikeln rat, sollte dem Förderungskriterium positive persönliche Erfahrungen mit der anderen Seite stehen diejenigen, der Sozialisation in der Einwande- zum Thema Integration und Mig- „Migrationshintergrund“ so lange ethnischer Heterogenität in den Insti- die mit eigener Migrationserfahrung rungsgesellschaft.“ ration in Deutschland erschienen. Raum gegeben werden, bis es end- tutionen des Bildungssystems zu ma- von außen gekommen sind oder mit Einher gegangen sind diese oft gültig hinter milieuspezifische Be- chen. Trotzdem gebe es aber eine eher familiärem Migrationshintergrund in Was sagt uns der mit aufgeheizten Medienberichten darfskriterien zurücktreten kann. negative Einschätzung gegenüber den Deutschland leben. Sie erleben die so- über Konfliktherde, Parallelgesell- · Deutschland sollte eingewanderte Leistungspotentialen von Schulen in zialen und kulturellen Veränderungen Integrationsbericht? schaften, Transferleistungen und Ausländer stärker für die deutsche multikulturellen Stadtteilen. Die Folge entweder im Vergleich zur eigenen Vielfalt, vor allem die kulturelle Viel- Schulabbrechern. Nun, im Jahr Staatsangehörigkeit gewinnen. ist, dass viele Familien ihre Kinder Vergangenheit in der Herkunftsgesell- falt in Deutschland sind erwünscht 2010, ist wieder ein Bericht vor- · Zugleich sollte Zuwanderern aus lieber in Schulen einschulen, in denen schaft oder im Spiegel von dazu in der und gewollt. So lehnen es sowohl gelegt worden. Doch kommt dieser Drittstaaten, die bereits seit mehre- die überwiegende Zahl der Schüler Familie überkommenen Berichten. 65,3 Prozent der befragten Personen eher auf leisen Sohlen daher: keine ren Jahrzehnten in Deutschland le- keinen Migrationshintergrund hat. Sie haben deshalb als Zuwanderer der ohne Migrationshintergrund als Schlagzeile von gescheiterter Inte- ben, für eine Übergangszeit von fünf Eine Möglichkeit, wie dieses Para- ersten, der zweiten oder auch schon auch 68,1 Prozent der Personen mit gration oder rebellierenden Zuwan- Jahren die doppelte Staatsangehö- dox aufgelöst werden könnte, sei, so der dritten Generation die deutsche Zuwanderungsgeschichte ab, dass derungsgruppen. Nein, der erste rigkeit angeboten werden, so lange Yasemin Karakaşoğlu, Professorin Geschichte mitunter durchaus anders die religiösen und kulturellen Le- Integrationsbericht des vor zwei bis neue Regelungen gefunden wer- für Interkulturelle Bildung an der erlebt als die Mehrheitsbevölkerung. bensweise der Zuwanderern teilweise Jahren gegründeten Sachverstän- den, die den Wanderungsrealitäten Universität Bremen und Mitglied des Deshalb haben sie oft eine deutlich aufgegeben werden sollten. Dem ge- digenrates deutscher Stiftungen für vieler Menschen entspricht. Sachverständigenrates, eine stärkere anders geprägte Erinnerungskultur als genübergestellt erwarten 66 Prozent Integration und Migration beschreibt Soviel in Kürze zu den allgemei- Profilierung der Schulen u. a. in den Grundlage für Gegenwartseinschät- der Mehrheitsgesellschaft als auch erfrischend sachlich die gesell- nen Handlungsempfehlungen, die Bereichen Kultur und Wissenschaft, zung und Zukunftserwartung.“ 72,5 Prozent der Zuwanderer, dass die schaftliche Realität in Deutschland: das gesellschaftliche Klima und die die die Attraktivität für Schüler und Der Integrationsbericht 2010 geht Mehrheitsbevölkerung die religiösen „Deutschland ist ein Migration- und sich daraus resultierenden Notwen- damit auch für die Familien erhöht. nicht primär von der ethnischen und kulturellen Lebensweisen der ein Einwanderungsland, das sich digkeiten beschreiben. Angebote wie Schulorchester oder Herkunft aus, sondern von den un- Zuwanderer respektieren soll. Zudem mit der dadurch entstehenden Viel- die Teilnahme an Wettbewerben terschiedlichen Erfahrungen und erklären 64,5 Prozent der Personen falt auseinandersetzen muss.“ Und Schlüsselthema „Bildung“ können sowohl das Ansehen als auch Perspektiven und lässt das Merk- ohne Migrationshintergrund, dass konkret zum Integrationsklima in das Schulklima wesentlich verbes- mal „Zuwanderungsgeschichte“ im die Mehrheitsbevölkerung Interesse Deutschland heißt es: „Im internati- Während das allgemeine Integrations­ sern. Grundsätzlich sei es aber von politischen Diskurs als Potential an anderen Kulturen zeigen sollte. onalen Vergleich ist ‚die Integration‘ klima weitgehend als gut befunden Nöten, so Karakaşoğlu weiter, dass aufleuchten. Dies veranschaulicht 61,9 Prozent der Zuwanderer erwar- in Deutschland keineswegs ‚geschei- wird, wird der Bereich „Bildung“ von Lehrerinnen und Lehrer durch Di- auch das dem Integrationsbericht ten dies. tert‘. Sie ist vielmehr in vielen empi- dem Sachverständigenrat als „Integra- versity-Trainings verstärkt lernen, beiliegende Integrationsbarometer Jenseits der Integrationsgipfel und risch fassbaren Bereichen durchaus tionsbaustelle“ bezeichnet: Es könne mit der Vielfalt in den Klassenräumen 2010. Islamkonferenzen entwickelt sich zufriedenstellend oder sogar gut ge- nicht von gleichen Bildungschancen umzugehen. Dies müsse einher gehen demnach ein solides und größtenteils lungen. Zudem stehen beide Seiten oder gar Bildungserfolgen von Ju- mit einer grundsätzlichen Aufwertung Integrationsbarometer respektvolles Miteinander. Manchmal der Einwanderungsgesellschaft den gendlichen mit und ohne Migrations- des Lehrerberufs. erscheint es, dass die Politik und die Anforderungen von Zuwanderung hintergrund gesprochen werden. Der Doch all dies bleibt letztlich eine 2010 Medien diejenigen sind, die ihre Dis- und Integration pragmatisch und Befund des Sachverständigenrates: Vision, wenn die Schulen, die beson- Die Normalität des Alltags der Ein- kurse in einer Parallelgesellschaft füh- zuversichtlich gegenüber.“ „Zuwanderer sind schlechter positi- ders unterstützt werden müssten, wanderungsgesellschaft abzufra- ren. „In der konkreten Alltagswirklich- oniert und werden im Bildungssys- keine Mittel haben, um eine eigene gen, war das Ziel der Befragung von keit der Einwanderungsgesellschaft usgehend von diesen Fakten tem strukturell benachteiligt“. Dies „Schulkultur“ zu realisieren. So for- insgesamt 5.600 Personen mit und wirken publizistische Elitendiskurse A werden im Rahmen des Inte- sei eine Folge der Politik, die die dert der Sachverständigenrat, dass ohne Migrationshintergrund, deren über Krise und Scheitern von Inte- grationsberichts 2010 die Bereiche zunehmende gesellschaftliche Di- bei Schulen in sozial benachteiligten Einschätzungen das Integrationsba- gration einerseits, Marginalisierung Bildung, berufliche Aus- und Weiter- versität im Bildungssystem lange Zeit Stadtteilen mit starker Zuwanderer­ rometer bilden. Damit wird der Inte- und Exklusion der Zuwandererbevöl- bildung, Erwerbstätigkeit und soziale unzureichend zur Kenntnis genom- konzentration über eine bessere grationsbericht mit konkreten Daten kerung andererseits wie fernes Wet- Sicherung, politische Partizipation, men hat. Die Politik habe es, so der Ressourcenausstattung nachgedacht zur Einschätzung sowohl von der terleuchten am Horizont“, resümiert Wohnen und Nachbarschaft ebenso Sachverständigenrat, versäumt, „die werden sollte. Mehrheitsbevölkerung als auch der der Sachverständigenrat. wie die Teilhabe im Gesundheits- Rahmenbedingungen den sich verän- Zuwandererbevölkerung unterfüttert. und Medienbereich und die Betei- dernden gesellschaftlichen Realitäten Zwei Perspektiven – eine Abgefragt wurden die Einschätzung Zukunft „Partizipation und ligung an und Betroffenheit durch anzupassen“. Dieser vermeintliche nach dem Integrationswillen bzw. Kriminalität durchdekliniert. Aus Nebensatz beinhaltet eine stark ver- Gesellschaft der Integrationsbereitschaft, die Ein- Sichtbarmachung“ diesen Bereichen leitet der Sach- änderte Sicht auf die gesellschaftliche Nicht nur die konkreten Handlungs- schätzung der Integrationspolitik und Wie bei der Vorstellung der zentralen verständigenrat, dem neben dem Diversität in Deutschland. Hier geht empfehlungen sind ein Verdienst des -maßnahmen, die Zufriedenheit in Ergebnisse des Integrationsberichts Migrationsforscher Klaus Bade ein es eben nicht um die gescheiterte Sachverständigenrates, sondern auch Deutschland zu leben oder das Ver- 2010 in Berlin deutlich wurde, gibt fachwissenschaftliches Gremium Anpassung der Zuwanderer, sondern die Art und Weise, wie gesellschaftliche trauen in bestimmte Herkunftsgrup- es trotz der positiven Reaktionen auf von Experten aus Bildung, Migrati- um die Tatsache, dass Deutschland Realitäten benannt und beschrieben pen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich den Integrationsbericht ein Verlangen, on, Recht und Wirtschaft angehört, bereits durch die Anwerbung der werden. Zum ersten Mal erscheint die Einschätzungen von Menschen ein zentrales und griffiges „Integrati- konkrete Handlungsempfehlungen sogenannten „Gastarbeiter“ in den so etwas wie eine Beschreibung der mit und ohne Zuwanderungsge- onsthema“ für die kommenden Jahre ab, wie mit Vielfalt politisch, rechtlich 1950er und 1960er Jahren die Viel- Gesellschaft jenseits von „Wir“ und schichte gar nicht so sehr voneinander zu formulieren. Ein Wegweiser, der und gesellschaftlich so umgegangen falt in Deutschland forciert hat und „die Anderen“, wie sie teilweise immer unterscheiden. Als die wichtigsten erklärt, wo es nach den Erkenntnis- werden kann, dass eine gesellschaft- es von daher auch die Aufgabe der noch im politischen Diskurs verwen- politischen Integrationsmaßnahmen sen „Deutschland ist ein Einwande- liche Einheit in der Vielfalt erreicht Politik gewesen sei, das Schul- und det werden. Ein Beispiel für diesen werden von beiden Seiten sowohl rungsland“ und „Integration ist mehr wird. So heißt es: Bildungssystem darauf auszurichten. Perspektivwechsel des Integrations- die Senkung der Arbeitslosenzahlen, als Deutschlernen“ hingeht. Diese · Deutschland als Einwanderungs- Bereits Ende der 1970er-Jahre hatte berichtes 2010: „Einheimische“ und das vermehrte Angebot an Sprach- Vision enthält der Integrationsbericht land braucht ein Verständnis von der erste Integrationsbeauftragte „Migranten“ werden in diesem Bericht kursen als auch die Erhöhung der 2010 nicht. Ein Vorschlag kam aber Integration, das die chancengleiche Heinz Kühn auf diese Tatsache hin- zu zwei Gruppen von Zeitzeugen. „In Bildungschancen gesehen. während der Vorstellung in Berlin Teilhabe an den zentralen Bereichen gewiesen. dem umfassenden und tiefgreifenden Mit Blick auf die 2008 herausge- aus dem Publikum: Wie wäre es mit des gesellschaftlichen Lebens zum Möglichkeiten zur Verbesserung Kultur- und Sozialprozess, in dem gebene Sinus-Studie, die erstmals die Partizipation und Sichtbarmachung? Ziel hat. der Bildungs- und Teilhabechancen sich die Einwanderungsgesellschaft Zuwanderungsgruppen nicht entlang Das Einwanderungsland Deutschland · Deutschland muss aufgrund des von Kindern und Jugendlichen mit entfaltet und sich eigendynamisch von ethnischen oder herkunftsbezo- kennzeichnet sich nämlich nicht Demografischen Wandels neben Zuwanderungsgeschichte sieht der stets weiter ausdifferenziert, gibt es genen Kategorien, sondern von Mi- durch Parallelgesellschaften und einer Bildungs- und Qualifikati- Sachverständigenrat durch den Aus- vor allem zwei große Gruppen von lieus her untersuchte, wird deutlich, Ehrenmorde, das Einwanderungs- onsoffensive eine proaktive Zu- bau der Ganztagsschulen und der Zeitzeugen mit unterschiedlichen dass es diese „eine Zuwanderungs- land Deutschland kennzeichnet sich wanderungspolitik betreiben, um frühkindlichen Bildungsförderung. Ausgangs- und Perspektivpositionen: gruppe“ gar nicht gibt. Das daraus durch seine kulturelle Vielfalt und eine für qualifizierte Zuwanderung at- Dies seien wichtige Veränderungen, Auf der einen Seite stehen diejenigen, resultierende Fazit des Sachverstän- Vielzahl an Menschen, die versuchen, traktiver zu werden, aber auch, um um auch Kindern aus Zuwanderfa- deren Familien in Deutschland, soweit digenrates: „Der ethnonationale dieses Land politisch, gesellschaftlich die Abwanderung aus Deutschland milien frühere und umfassendere die gemeinsame Erinnerung reicht, Traum von der Rettung einer ohnehin und kulturell zu gestalten, egal wo abzumildern. Bildungs- und Teilhabechancen zu seit vielen Generationen scheinbar nur gefühlten Homogenität durch sie selber oder ihre Familien geboren · Mit Blick auf Förderungsbedarfe ist ermöglichen. Dennoch kommen die ganz ‚ohne Migrationshintergrund‘ strikte und einseitige Assimilation wurden. das Kriterium „Migrationshinter- Wissenschaftler zu dem Schluss, dass aufgewachsen sind. Sie erfahren und an eine statisch verstandene ‚Aufnah- grund“ nur eines unter vielen und in Deutschland ein Bildungsparadox bewerten deshalb Veränderungen megesellschaft‘ wird somit endgültig Die Verfasserin ist wissenschaftliche kann nicht auf ewig eine gesell- herrsche: Zwar geben sowohl die des Landes durch Zuwanderung zur Illusion. […] Heterogenität und Mitarbeiterin des Deutschen schaftliche Kategorisierung bleiben. Mehrheits- als auch die Zuwande- und Integration im Vergleich zur im Differenz als Normallage ertragen zu Kulturrates Kulturlandschaft deutschland politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 26

Kreative Impulse und lebendige Tradition Kultur in Westfalen • Von Barbara Rüschoff-Thale Der Landschaftsverband Westfalen- gearbeitet hatte. Die Empfehlungen den Ausbau als bedeutender Kultur- Lippe (LWL) hat ein ganz Westfalen sollten „Stärken und Schwächen der standort für die Stadt Hattingen, den umspannendes kulturelles Netzwerk Kultur und der Kulturförderung in Ennepe-Ruhr-Kreis, für Westfalen und mit 17 Landesmuseen, sechs Fach- Nordrhein-Westfalen analysieren, auf das Ruhrgebiet, sowie für ganz NRW zu ämtern, sechs wissenschaftlichen ihre nationale und internationale Po- fördern. Zum Beispiel wird zurzeit die Kommissionen und einem Institut sitionierung überprüfen, sowie bisher historische Gebläsehalle mit Mitteln für westfälische Regionalgeschichte brachliegende Potenziale aufzeigen. vom Land NRW und vom LWL saniert aufgebaut. Mit diesem Netzwerk be- Erwünscht waren fundierte Vorschläge und restauriert. Der Ennepe-Ruhr- dient er die kulturellen Belange der zu der Frage, mit welchen kulturpoli- Kreis und die Stadt Hattingen fördern, Region, zum Beispiel durch die För- tischen Maßnahmen Nordrhein-West- unterstützen und nutzen den Standort. derung von Initiativen der regionalen falen deutlicher als bisher seinen Platz Für die Instandsetzung der Außenanla- Kulturarbeit und durch die Vergabe im nationalen und internationalen gen konnten sogar Hattinger Betriebe von Preisen in der Baukultur, Male- Ranking einnehmen kann“ (Kunst und Unternehmen gewonnen werden, rei, Musik und Literatur, und setzt NRW, Präambel, S. 9). Die Auswertung die aktiv in den Umbauprozess einge- somit kulturelle Schwerpunkte. Ziel der Ergebnisse regte in Westfalen ein bunden wurden. der LWL-Kultur ist es, das kulturelle verstärktes Nachdenken über dessen Zeichen des Strukturwandels, Erbe Westfalen-Lippes zu bewahren, Außendarstellung sowie die Stärken symptomatisch für das gesamte zu erforschen und der Öffentlichkeit und Schwächen an. Ruhrgebiet und im Fall der Hattinger zugänglich zu machen. Neben den Ergebnis eines ersten großen Henrichshütte als gelungen zu be- eigenen Museen und Ämtern, die Workshops im Frühjahr 2009, unter zeichnen, ist auch die Ansiedlung der LWL unterhält, sieht der Verband Teilnahme von Kulturschaffenden, mittelständischer Unternehmen und sich als fachlicher sowie finanzieller Kulturpolitikern und Kulturverant- Freizeitanbieter im neuen, den Indus- Unterstützer vorhandener oder neu wortlichen aus Westfalen, war die triemuseumskomplex umgebenden gegründeter kultureller Einrichtungen Formulierung konkreter Handlungs- HenrichsPark und die separat zu und Netzwerke in Westfalen-Lippe. empfehlungen, die eine Grundlage nutzende Gastronomie innerhalb Ziel ist dabei, die „Stärken zu stär- für Diskussionen im ganzen Land des Industriestandortes. Diese Ent- ken“. Bei der Stärkung der Kultur in bildeten. Zur Verbesserung der west- wicklungen zeigen deutlich das kul- ihren bereits vorhandenen Angeboten fälischen Gesamtdarstellung folgte die turelle und wirtschaftliche Potential, sieht sich der Verband dabei auch in Erstellung der Broschüre „Was dem gestärkt durch die funktionierende einer Vermittler- und Moderatoren- WESTFALEN seine KULTUR…Von Zusammenarbeit mit der Stadt und Funktion. kreativen Impulsen und lebendiger dem Ennepe-Ruhr-Kreis, sowie die Tradition“, die im April 2010 veröffent- hohe Identifikation der Bevölkerung ls Kommunalverband und Träger licht wurde. In einem ersten Aufschlag aus der gesamten Region mit diesem Aeiner Vielzahl von Einrichtungen werden in der Broschüre kulturelle traditionsreichen Standort. Sinnbilder wie beispielsweise Krankenhäusern Aspekte Westfalens zusammengefasst, dieser Identifikation der Menschen und Förderschulen, erfüllt er neben die zu weiterführenden Diskussionen mit ihrem Lebensumfeld findet das dem Handlungsfeld Kultur weitrei- anregen sollen. Zudem ist die Bro- Ausstellungsprojekt „Helden – Von der chende Aufgaben im sozialen Bereich, schüre als ein Auftakt des auf eine Sehnsucht nach dem Besonderen“ am in der Behinderten- und Jugendhilfe, Laufzeit von drei Jahren angelegten Standort Henrichshütte, eine Koopera- im Bereich Forensik und in der Psych- und ausschließlich aus Drittmitteln Die LWL-Industriemuseen sind durch zahlreiche Radwege erschlossen. tion aller acht LWL-Industriemuseen, iatrie. finanzierten Pilotprojektes „Kultur in Foto: M. Holtappels, LWL die durch ergänzende Ausstellungen An zwei Beispielen soll erläutert Westfalen“ gedacht. und Veranstaltungen von Stadt und werden, wie der LWL im Zusammen- Zu den maßgeblichen Zielen des mäßig stattfindenden Kulturkonferenz essen des LWL und der Kreise Hand in Kreis unterstützt wird. Der LWL rich- wirken mit den Städten und Landkrei- Projekts gehört neben der Stärkung sollen alle westfälischen Kulturthemen Hand gehen. Die Henrichshütte wurde tet die Aktivitäten seiner Kulturarbeit sen die kulturelle Grundversorgung in der Identifikation der Menschen mit aufgegriffen werden, um sie öffentlich nach Beendigung der Produktion und dahingehend aus, „Stärken zu stär- Westfalen stärkt und die Kulturaktivi- der Kultur in Westfalen insbesondere zur Diskussion zu stellen, die vorhan- ihrer offiziellen Schließung im Jahr ken“ und diese sichtbar zu machen. täten in Netzwerken bündelt. die strategische Verknüpfung der denen Stärken weiter zu stärken, und 1987 durch ein innovatives Nutzungs- Kulturelle Angebote mit Strahlkraft, Das erste Beispiel „Kultur in West- Akteure aus institutionalisierter und die Nachhaltigkeit des Prozesses durch konzept zu einem der acht Standorte Netzwerke im Bereich Kultur und falen“ verweist dabei auf die Entwick- freier Kultur. Dazu ist es erforderlich, die Förderung von Kooperationen zu des LWL-Industriemuseums umge- vor allem zukunftsweisende inno- lung in Westfalen insgesamt. Die Zu- eine gemeinsame Plattform für ein gewährleisten. Für die erste westfä- baut. Der Standort entwickelte sich in vative Kooperationsprojekte sollen sammenarbeit zwischen den Städten, gesamtwestfälisches Kultur-Netzwerk, lische Kulturkonferenz im Spätherbst der Region zum Kulturzentrum von vorangetrieben werden. Westfalen ist den Landkreisen und dem LWL wird unter anderem in der Vernetzung mit 2010 lautet ein Schwerpunktthema besonderer Bedeutung und ist heute im europäischen Gedächtnis durch anschließend beispielhaft am Ennepe- den Kreisen und Städten, zu schaffen, „Literaturland Westfalen“. Teil der Route der Industriekultur. den Westfälischen Frieden ein fester Ruhr-Kreis aufgezeigt. mit dem sich möglichst viele Kultur- Seit 2004 finden hier neben Sonder- Begriff. Ziel des LWL mit seinen weit- schaffende aus den vier Teilregionen Beispielhafte ausstellungen, Tagungen, Vorträgen, reichenden Aktivitäten ist es, auch Das Projekt „Kultur in West- Westfalens (Münsterland, Ostwestfa- Lesungen, Theateraufführungen und Leuchttürme und Lichterketten der len-Lippe, Südwestfalen und westfä- Zusammenarbeit klassischen Konzerten auch Veran- „Kultur in Westfalen“ im Bewusstsein falen“ lisches Ruhrgebiet) identifizieren und Ein wichtiger und bedeutender Stand- staltungen sehr unterschiedlicher Art der Menschen zu verankern. Mit dem Ziel, die kulturellen Angebote an der sie aktiv partizipieren können. ort der Industriekultur, das LWL- statt, wie beispielsweise Fußball-Live- in Westfalen sowohl über Regional- Die Bündelung der Interessen aller Industriemuseum Henrichshütte in übertragungen. Die Verfasserin ist Kulturdezernentin grenzen hinweg als auch europaweit Beteiligten macht es möglich, Kultur Hattingen (Ennepe-Ruhr-Kreis), ver- Das Museum ist ein Ort für zu- des Landschaftsverbands deutlicher wahrnehmbar zu machen, in und aus Westfalen künftig besser ko- deutlicht, wie gut die kulturellen Inter- kunftsweisende Investitionen, um Westfalen-Lippe reagiert der Landschaftsverband West- ordiniert nach außen zu präsentieren. falen-Lippe (LWL) zusammen mit den Das erste Treffen der Lenkungsgruppe drei westfälischen Bezirksregierungen des Projektes fand im April 2010 statt. Arnsberg, Detmold und Münster sowie Die Lenkungsgruppe, unter anderem der Stiftung Westfalen-Initiative auf bestehend aus Landräten westfälischer Internetplattform arTÜthek die im Sommer 2008 veröffentlichten Landkreise, sprach konkrete Empfeh- Landkreis Tübingen stärkt den Kunstmarkt • Von Wolfgang Sannwald Ergebnisse der Expertenkommission lungen zur weiteren Arbeit aus, die in KunstNRW, die im Auftrag der Staats- den kommenden Monaten umgesetzt Deutschlandweit vorbildlich ist das Anklicken der gewünschten Arbeit Kunst mietet. Dabei vertraut er dem kanzlei und der Kunststiftung NRW werden sollen. Im Rahmen einer regel- Kunstförderungs-Projekt „arTÜthek“, öffneten sich Dialogfelder für den künstlerischen Beirat der arTÜthek, zu dessen Betriebsaufnahme Joa- Kunstkauf oder die Kunstmiete. der die aufgenommenen Bilder hin- chim Walter, Landrat des baden- Landrat Walter ließ sich anhand des sichtlich ihrer künstlerischen Qualität württembergischen Landkreises Dialogs den Mietpreis für 3 Monate juriert hat. Diesem Beirat gehören Kulturlandschaft Deutschland Tübingen im März 2010 den Start- berechnen und bestätigte die Anfrage Mitglieder der im Kreisgebiet vor- Die Enquete-Kommission des Deut- und kultur deutlich. In sieben Ausga- Button drückte. Der Kunstmarkt im an den Künstler mit der Enter-Taste. handenen Künstlerbünde und –höfe schen Bundestags „Kultur in Deutsch- ben – von der Ausgabe Januar-Februar Landkreis Tübingen sei dadurch, so Die Form der Kunstmiete erlaubt es an: dem Künstlerbund Tübingen, land“ hat ihren Auftrag ernst genom- 2007 bis zur Ausgabe März-April 2008 Walter, „ein gutes Stück kunden- dem Chef der Kreisverwaltung fortan, dem Künstlerhof Rottenburg, dem men und eben nicht nur jene Bereiche – haben jeweils zwei der im Arbeitskreis freundlicher“ geworden. Bereits immer wieder neue Eindrücke und Verband Bildender Künstler und des kulturellen Lebens in den Blick ge- Kulturregionen zusammengeschlos- zum Start der Internet-Plattform Anregungen in sein Arbeitszimmer Künstlerinnen Württemberg und nommen, die jedem selbstverständlich senen Kulturregionen ihre Arbeitsweise „arTÜthek“ haben 15 zeitgenös- zu holen, in diesem Fall zum Min- dem „Kunstamt“. Auch der Land- sind, sondern hat eine umfassende sowie ausgewählte Projekte vorgestellt. sische Künstlerinnen und Künstler destmietpreis von insgesamt 50 Euro. kreis Tübingen als Initiator und Bestandsaufnahme des Kulturlebens Die Unterschiedlichkeit dieser Projekte Fotos ihrer Arbeiten elektronisch Das Angebot richtet sich bewusst Mitentwickler des Projekts und das in Deutschland vorgelegt. bot einen Einblick in die Vielfalt des eingestellt. Deren Zahl steigt weiter. auch an Arztpraxen, Rechtsanwalts- Kulturnetz Tübingen e.V. als enger In diesem Zusammenhang hat die En- kulturellen Lebens in Deutschland, sie Interessenten können nun über den kanzleien, andere Behörden und Kooperationspartner und Betreiber quete-Kommission „blinde Flecken“ in zeigte den Ideenreichtum der Akteure Internetauftritt www.kreis-tuebin- Firmen oder Privatpersonen, die mit sind im Beirat vertreten. der Kulturlandschaft und Kulturpolitik vor Ort und machte deutlich, dass inter- gen.de online Kunstwerke recher- geringem Aufwand immer wieder Die Plattform eignet sich vor Deutschlands untersucht, so u.a. auch essante kulturelle Vorhaben überall in chieren, kaufen oder mieten. neue Originale in ihre Warte- und Er- allem für Künstlerinnen und Künst- die Kultur im ländlichen Raum. Obwohl Deutschland zu finden. Seit der Ausga- schließungsbereiche holen möchten. ler, die sich selbst auch als selb- die Mehrzahl der Bundesbürger nicht be 4/2008 wird aus unterschiedlichen andrat Walter mietete sich zum Der Tübinger Künstler Peter Krullis ständige Unternehmer verstehen. in Großstädten, sondern vielmehr in Landkreisen von der Kulturarbeit vor L Auftakt ein Bild des Tübinger konnte das Kunstwerk dem Mieter Der Landkreis Tübingen fördert im Mittelstädten oder Dörfern lebt, spielt Ort berichtet. Malers Peter Krullis. Dazu durch- beruhigt anvertrauen, nicht nur weil Rahmen seiner Kulturkonzeption die Kultur in den Regionen zumeist In dieser Ausgabe stellt Barbara suchte er zunächst assoziativ den er Landrat ist, sondern auch weil Kunst nämlich nicht im Sinne einer eine untergeordnete Rolle. Kultur in Rüsch-Thalhoff die Kulturarbeit des derzeitigen Bestand von 200 abge- dank einer Kooperation mit der Kreis- Alimentierung, sondern durch den der Provinz wird oftmals gleichgesetzt Landeschaftsverbands Westfalen- bildeten Kunstwerken. Er hätte auch sparkasse Tübingen die vermieteten Ausbau von Infrastrukturen zur mit provinziell. Lippe vor und Wolfgang Sannwald die gezielt nach dem Künstler oder nach Arbeiten versichert sind. Stärkung des Marktes, ähnlich wie in Dass dem so nicht aus, wurde bereits Aktivitäten im Landkreis Tübingen. inhaltlichen oder formalen Kriterien, In künstlerischer Hinsicht kann in der Reihe „Kulturregionen“ in politik Die Redaktion etwa auch dem Format der Arbeiten, sich Landrat Walter darauf verlas- Weiter auf Seite 27 recherchieren können. Nach dem sen, dass er qualitativ hochwertige luther 2017 politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 27

seines Kreisverwaltungsgebäudes Fischer vom Netzwerk neue Musik Auf- der Glashalle präsent waren. Gerade rung des Kunstmarktes sehr begrenzt. Fortsetzung von Seite 26 2006 mit für die Stärkung des Kunst- führungen der Tübinger Musikschule jene, die in ihrem Atelier nur begrenzt Schwerer wogen die „weichen“ In- marktes. Hier unterstützt er seitdem unter dem Titel „Grafik in der Musik“ Platz zur Verfügung haben, können vestitionen: Über drei Jahre zogen Internetplattform ArTÜthek mit seinem repräsentativen öffent- oder „Monochrom“ arrangiert. ihren Kunden hier ihre Werke zeigen sich Konzeption, Verhandlungen lichen Raum und seinem Renommee Der gute Zuspruch bei diesen und Verkaufsgespräche führen. Dabei und Umsetzung der „arTÜthek“ hin, anderen Bereichen des Wirtschafts- hiesige Künstlerinnen und Künstler. Kunstsalons, das Medienecho und hängen sie in bester Gesellschaft, denn wobei ein Team von Künstlerinnen lebens. Der Landkreis Tübingen mit In der 500 Quadratmeter großen mehr noch der Umstand, dass den diese „Galerie regionale Kunst“ zeigt und Künstlern sich in erheblichem seinen 210.000 Einwohnern verfügt „Glashalle“ waren von Herbst 2006 bis zentralen, architektonisch hochwer- mittlerweile mit das Beste aus der Maß ehrenamtlich engagierte. Damit allerdings traditionell nur über einen Ende 2009 36 Ausstellungen Bildender tigen Erschließungsbereich „Glashal- Region. Das Landratsamt seinerseits das Kulturnetz seine Kosten für den sehr begrenzten Kulturetat. Dies hängt Künstlerinnen und Künstler zu Gast. le“ des Landratsamts täglich an die profitiert davon, dass es zum attrak- laufenden Betrieb decken kann, wird auch mit der kulturellen Stärke seiner Die Ausstellungen werden im Rah- 500 Besucher begehen, verleihen der tiven Ausstellungsort wurde, an dem für die gelungene Vermittlung von Städte Tübingen und Rottenburg men von „Kunst-Salons“ präsentiert: hier ausgestellten Kunst eine hohe Interessenten spannende Einblicke Kunstwerken eine Provision erhoben. zusammen, in denen alleine fast zwei In Salongesprächen geht es um die öffentliche Aufmerksamkeit. in die Vielfalt zeitgenössischen künst- Beim Verkauf beträgt diese zehn Pro- Drittel der Kreisbevölkerung leben. Künstlerinnen und Künstler und ihre Hinzu tritt in den Korridoren lerischen Arbeitens in der Region ge- zent vom Verkaufserlös. Die weit überwiegenden Kulturausga- Spezialitäten. des Verwaltungsgebäudes dank des winnen können. Die „Galerie regionale Zugänglich ist die Plattform „ar- ben des Landkreises sind gebundene Seit 2010 ist in diese Kunst-Sa- vorsorglichen Einbaus von Galerie- Kunst“ ist zudem mit der „arTÜthek“ TÜthek“ als i-frame über den Inter- Zuschüsse an die hiesigen Theater, lons eine Konzertreihe „neue Musik“ schienen eine Hängefläche von 2000 vernetzt, da viele der auf der Plattform net-Auftritt des Landkreises Tübingen Musik- und Volkshochschulen. Das eingebettet. In Zusammenarbeit mit laufenden Metern. Mit geringem recherchierbaren Werke im Original in www.kreis-tuebingen.de, über die Kulturkonzept des Landkreises zielt dem Netzwerk Neue Musik, einem finanziellen Aufwand konnte hier im den Korridorgalerien ausgestellt sind. Internetadresse www.artuethek.de deshalb vor allem auf jene Bereiche, Förderprojekt der Kulturstiftung des Zuge des Neubaus nebenbei die größte Mit einmaligen Kosten von knapp oder direkt über die Homepage des wo es um Vernetzung und effiziente Bundes, und den Musikschulen im Galeriefläche der Region geschaf- 1500.- €, für die die Tübinger Firma Kulturnetz Tübingen www.kulturnetz- Nebennutzungen geht. Landkreis kommen Werke neuer Mu- fen werden. In dieser permanenten my3so die Funktionalität der „ar- tuebingen.de. Der Landkreis Tübingen nutzte sik zur Aufführung. Angestrebt ist, dass Verkaufsausstellung finden sich jetzt TÜthek“-Seiten in die Plattform des beispielsweise im Rahmen seines die beiden Künste miteinander in den ausgewählte Bilder jener Künstler­ Kulturnetz programmierte, blieb der Der Verfasser ist Kreisarchivar des Kulturkonzepts auch den Neubau Dialog treten, etwa indem Christine innen und Künstler, die bereits in finanzielle Aufwand für diese Förde- Landkreises Tübingen LUTHER2017 Gegenwartsbedeutung der Losungen Zum 250. Todestag Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs • Von Hermann Gröhe Das Jahr 2010 ist evangelischer- worten auf die Fragen und Herausfor- seits durch zwei bedeutsame Ereig- derungen der Zeit zu geben vermag, nisse geprägt: Zum einen durch den sondern auch auf emotionale Weise gerade zurückliegenden 2. Ökume- Orientierung zu schenken und hoff- nischen Kirchentag in München, der nungsvolle Lebensbezüge zu stiften auf beeindruckende Weise wieder imstande ist. Der christliche Glaube weit über 100 000 Christinnen und ist immer dann besonders attraktiv Christen aller Konfessionen zum ge- und anziehend, wenn er das Wort meinsamen Feiern, Diskutieren und der Schrift lebendig und anschau- Beten versammelt hat. Zum ande- lich werden lässt und sich mitten in ren durch die Gedenkfeierlichkeiten die Verantwortlichkeiten dieser Welt anlässlich des 450. Todestages von zu stellen bereit ist. Oder mit den Philipp Melanchthon, dem großen eigenen Worten Zinzendorfs: „Wir Theologen, Wegbegleiter Luthers wollen uns gerne wagen, in unseren und „Praeceptor Germaniae“. Tagen der Ruhe abzusagen, die´s Tun vergisst. Wir wolln nach Arbeit fragen, eben diesen beiden Großer- wo welche ist, nicht an dem Amt N eignissen droht ein weiteres verzagen, uns fröhlich plagen und wichtiges Jubiläum fast ein wenig unsre Steine tragen aufs Baugerüst.“ in Vergessenheit zu geraten, näm- (EG 254,1) lich der 250. Todestag Nikolaus Die Wartburg in Eisenach Es dürfte kein Zufall sein, dass Ludwig Graf von Zinzendorfs (9. Foto: Thüringer Tourismus GmbH/Bildarchiv, Toma Babovic kein anderer als der bereits erwähnte Mai). Der Name Zinzendorf ist eng Dietrich Bonhoeffer viele dieser verbunden mit der Geschichte des und Sprachmetaphern der frühen eines jeden einzigartigen Tages im theologischen Impulse Zinzendorfs Pietismus. Während viele andere Brüdergemeine. Lichte der Verheißungen Gottes sehen in seiner Tegeler Haft auf vielfältige Vertreter des klassischen Pietismus Doch die Wirkungsgeschichte zu können, dazu wollen die Losungen und intensive Weise reflektiert und eine ganz verinnerlichte Form der spricht eindeutig für Zinzendorf. Sein unsere Augen öffnen. geistlich aufgegriffen hat. An einer Frömmigkeit pflegten und sich in Werk lebt bis heute fort, und zwar Ziel bei allen Bemühungen Zin- Stelle in „Widerstand und Ergebung“ abgesonderten Zirkeln aus der für in Form der Herrenhuter Brüder- zendorfs war stets die Sorge um die bemerkt er prophetisch: „Es ist nicht sie als gänzlich verdorben befun- gemeine und der mittlerweile welt- wahre Gotteskindschaft im Glauben, unsere Sache, den Tag vorauszusa- denen Welt zurückzogen, stand bekannten Herrenhuter Losungen. der im Wort Gottes der Heiligen gen – aber der Tag wird kommen –, für ihn und seine Anhänger das Die Losungen gehören für unzählige Schrift gründet und in die konse- an dem wieder Menschen berufen

sogenannte aktive „Streitertum“ Christinen und Christen auf der quente Nachfolge ruft. Peter Zimme- werden, das Wort Gottes so auszu- L für das Evangelium im Mittelpunkt: ganzen Welt zur täglichen, geistlichen ling hat es in seinem neuen Buch über sprechen, dass sich die Welt dar- Aus der tiefen persönlichen Ver- Besinnung und Andacht dazu. Auch Zinzendorf wie folgt ausgedrückt: unter verändert und erneuert.“ Die bundenheit mit dem Heiland Jesus auf meinem Schreibtisch liegt das Lo- „Die Bibel ist für ihn nicht primär Herrenhuter Losungen begleiteten uther Christus entsprang für ihn ganz sungsbüchlein stets griffbereit. Doch Quelle von dogmatischen Aussagen. und trugen Dietrich Bonhoeffer in notwendigerweise der Ruf in das ich empfange die segensvollen Worte Vielmehr steht bei seinem Bibelge- den schwersten Stunden am Ende Hinausgehen in die Welt zum mis- der Bibel, dank modernster Technik, brauch die existentielle Erfahrung im seines Lebens. Die Losungen offen- sionarischen Zeugnisdienst. Zeit mittlerweile auch regelmäßig auf Zentrum, dass die Bibel Anrede Jesu barten in der Zeit der Bekennenden seines Lebens war er überdies früh- meinem Handy. Christi ist. (…) Dadurch, dass der auf- Kirche und in der dunkelsten Phase zeitig vom Gedanken der die Kon- Was für eine atemberaubende erstandene Jesus Christus noch heute der deutschen Geschichte auch ihre fessionen verbindenden Ökumene Erfolgsgeschichte! Die Losungstexte, durch die Schrift redet, gerät sie in politische Bedeutsamkeit, und viel- motiviert und getragen. Glühende die es heutzutage in 46 Sprachen und eine unerhörte, beinahe bedrohliche leicht kann man sogar sagen: ihre Herzensfrömmigkeit und verant- einer weltweiten Auflage von 1,75 Gleichzeitigkeit zu ihren Leserinnen regelrechte politische Sprengkraft. wortliches, christliches Zeugnis Millionen Exemplaren gibt, sind von und Lesern (…). Im Wort der Schrift Bonhoeffers zahlreiche Auslegungen für diese Welt waren ihm zwei Sei- einer gleichermaßen einfachen wie ist uns Jesus Christus genauso nahe, der Losungstexte in seinen letzten ten ein- und derselben Medaille. genialen Grundidee getragen: Jeder wie es der irdische Jesus seinen Jün- Briefen legen dafür ein bleibend Zinzendorf, der Laientheologe aus Tag unseres Lebens soll bewusst gern war .“ (Ders., Ein Leben für die gültiges Zeugnis ab. Am letzten Tag angesehenem Adelsgeschlecht, war unter ein bestimmtes Wort Gottes Kirche – Zinzendorf als Praktischer seines Lebens legte er seinen Mit- ein kreativer und eigenständiger gestellt werden. Damit kommt ein Theologe, Vandenhoeck & Ruprecht, häftlingen noch die Tageslosung aus. Geist und kirchlicher Grenzgänger. zentrales theologisches Anliegen Göttingen 2010, S. 203) Diese Er- Es handelt sich um einen Text aus Letzteres brachte ihn beispielswei- Zinzendorfs zum Ausdruck, nämlich kenntnis ist, wie ich finde, gerade in dem ersten Petrusbrief, aus dem- se in so manche Konflikte mit Ver- die Nähe und Unmittelbarkeit Christi einer Zeit wie der unserigen, in der selben Brief, aus dem auch das Motto tretern der Amtskirche seiner Zeit. gerade auch im Alltag und Diesseits auch im Protestantismus die Ver- des diesjährigen 2. Ökumenischen Er verband die klare Orientierung unserer Tage und in der Mitte unseres trautheit mit dem Wortlaut der Bibel Kirchentages entnommen war. Der 2017 an Luther und der Bibel durchaus Lebens zu erfahren und zu bekennen. mehr und mehr zu schwinden droht, Text aus 1. Petr 1,3 lautete: „Gelobt sei mit der Offenheit für spiritualisti- Dietrich Bonhoeffer wird einmal, höchst bedeutsam und aktuell. Gott und der Vater unseres Herrn Jesu sche, ekstatische und mystisch ge- knapp zweihundert Jahre später Bis heute schätzen wir die wun- Christi, der uns nach seiner großen prägte Frömmigkeitsformen. Vieles und wenige Monate vor seinem Tod, derschönen Lieder Zinzendorfs in Barmherzigkeit wiedergeboren hat davon war sicherlich nicht nur für sagen: „Nicht die platte und banale unserem Evangelischen Gesangbuch zu einer lebendigen Hoffnung…“. seine damaligen Zeitgenossen, Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der wie z.B. „Jesu, geh voran“ (EG 391) Kann es für uns ein größeres Zeugnis sondern ist auch für uns immer Betriebsamen, der Bequemen oder oder „Herz und Herz vereint zusam- für die bleibende Bedeutsamkeit der noch befremdlich: Hierzu gehören der Lasziven, sondern die tiefe Dies- men“ (EG 251). Und wir entdecken Herrenhuter Losungen geben? beispielsweise seine „Blut- und seitigkeit, die voller Zucht ist, und gerade wieder aufs Neue, in einer Wundenfrömmigkeit“ mit ihren in der Erkenntnis des Todes und der Gegenwart, die von so vielen Ver- Der Verfasser ist Generalsekretär der drastischen Ausmalungen der Pas- Auferstehung immer gegenwärtig ist, unsicherungen und so zahlreichen Christlich-Demokratischen-Union sion Christi, sein eigentümliches meine ich. (…) Später erfuhr ich und Sehnsüchten geprägt ist, wie wichtig Deutschlands und war von 1997 bis Verständnis der christlichen Ehe als ich erfahre es bis zur Stunde, dass ein lebendiger christlicher Glaube ist, 2009 Mitglied des Rates der Evan- asketische „Streiterehe“ oder die oft man erst in der vollen Diesseitigkeit der den Menschen nicht nur einfach gelischen Kirche in Deutschland überspannt erscheinenden Bilder des Lebens glauben lernt.“ Die Tiefe intellektuell nachvollziehbare Ant- (EKD). kultur und kirche politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 28

Das kulturpolitische Schweigen der Kirchen oder: ein kulturpolitisches Wort der Kirchen wäre an der Zeit • Von Olaf Zimmermann Kann es ein kulturpolitisches Wort der Kirchen, der ehemalige Ratsvor- gehen und auch weltliche Belange der Kirchen geben? So lautete, sitzende der EKD Bischof Huber und mit in den Blick nehmen. Ich möchte mit einem dicken Fragezeichen der ehemalige Vorsitzende der Deut- dieses an einem Beispiel verdeut- versehen, die Unterüberschrift zu schen Bischofskonferenz Kardinal lichen: Im Herbst 2008 wurde die einer Diskussionsrunde beim 2. Lehmann haben in ihren jeweiligen Künstlersozialkasse durch einen Ökumenischen Kirchentag im Mai Amtszeiten die Debatte um Kultur Antrag des Landes Baden-Württem- diesen Jahres in München. Nach und Kirche stark befördert. berg im Bundesrat massiv bedroht. dieser Diskussionsrunde bin ich Trotzdem, zehn Jahre sind die Versteckt in einem Artikelgesetz, in mehr denn je der Meinung, dass kulturpolitischen Positionen der dem es eigentlich um ganz andere es ein kulturpolitisches Wort der beiden Kirchen bereits alt. Seither Sachverhalte ging, stand, dass die Kirchen nicht nur geben kann, son- gab es weder von evangelischer Künstlersozialkasse abgeschafft wer- dern geben sollte und hoffe, dass noch von katholischer Seite einen den sollte. Die Künstlersozialkasse, der 2. Ökumenische Kirchentag (13. neuen Anlauf und ein gemein- die wichtigste Errungenschaft zur bis 16.05.2010) dazu einen Impuls sames kulturpolitisches Wort gab sozialen Absicherung der Künstler gegeben hat. es noch gar nicht. Ich bin daher der in Deutschland, ermöglicht, dass Meinung, dass es Zeit ist für ein (ge- trotz niedriger Einkommen Künstler n der Enquete-Kommission des meinsames) kulturpolitisches Wort in der gesetzlichen Kranken-, Pflege- I Deutschen Bundestags „Kultur in der Kirchen. und Rentenversicherung abgesichert Deutschland“ war es der Sachver- Ein kulturpolitisches Wort der sind. ständige Thomas Sternberg, der wie Kirchen muss meiner Meinung Viele Akteure haben sich zum ich dieser Enquete-Kommission an- nach zuerst die Künstler in den Erhalt der Künstlersozialkasse posi- gehörte, der das Mantra geprägt hat: Blick nehmen. Die Kirche hat eine tioniert und damit einen wichtigen Vergesst die Kirchen nicht! Immer Verantwortung für die Künstler, Beitrag dazu geleistet, dass der ba- wieder erinnerte er an die Bedeutung die bei ihnen und für sie tätig sind. den-württembergische Antrag nicht der Kirchen für die Kultur. Und die Ich denke dabei u.a. auch an die erfolgreich war. Auch die Kirchen Enquete-Kommission selbst hat ei- Kirchenmusik, bei der es eine Reihe wurden gebeten, sich zu positionie- nen wesentlichen Beitrag dazu geleis- von Problemen gibt. Ein kulturpo- ren. Sie haben geschwiegen. Das ist tet, dass das kulturelle Engagement litisches Wort muss aber auch die schade, denn gerade hier wäre eine der Kirchen deutlich wurde. Sie hat Kulturvermittlung in den Kirchen in klare Stimme der Kirchen für die unter anderem ein Gutachten zum den Blick nehmen, das gilt für den Kultur wichtig gewesen „Beitrag der Kirchen und Religionsge- hauptamtlichen, wie den ehrenamt- Kulturpolitik ist mehr als die Förderung meinschaften zur Kultur in Deutsch- lich Bereich gleichermaßen. Und von Kunst und Kultur. Kulturpolitik ist land“ in Auftrag gegeben. In diesem last but not least haben die Kirchen vor allem die Gestaltung der Rahmen- Gutachten wurde beschrieben wie auch eine Verantwortung für die Ge- bedingungen. Es ist meines Erachtens vielfältig die kulturellen Aufgaben staltung der Kirchenräume. Gerade auch Aufgabe der Kirchen an der sind, die die Kirchen übernehmen in evangelischen Kirchen herrscht Gestaltung der Rahmenbedingungen und es wurde beziffert, wie viel Geld teilweise eine „Yukkaplamen-Äs- mitzuwirken. Ich würde mir daher sie dafür ausgeben. Gut 20% der thetik“, die einen grausen lässt. Mit wünschen, dass vom 2. Ökumenischen Kirchensteuern, Zuwendungen und ihren Kirchengebäuden legen die Kirchentag ein Impuls zu einem ge- Vermögenserlöse werden von den Kirchen tagtäglich ein Zeugnis dar- meinsamen kulturpolitischen Wort der Kirchen für Kultur ausgegeben (ca. über ab, wie wichtig bzw. unwichtig Kirchen ausgeht. 3,5 bis 4,8 Mrd. Euro). ihnen Kultur ist. Aber auch der Deutsche Kulturrat Ein kulturpolitisches Wort der Der Verfasser ist Geschäftsführer des Ökumenischer Kirchentag München: Der Figuralchor Köln spielt auf der Büh- hat sich intensiv mit dem Thema Kirchen muss aber darüber hinaus- Deutschen Kulturrates ne am Odeonsplatz Foto: Tristan Vankann befasst. In der Ausgabe September – Oktober 2006 unserer Zeitung politik und kultur haben wir einen Schwerpunkt Kultur und Kirche veröffentlicht und in diesem Schwer- Kirche. Macht. Kultur punkt die Breite der kirchlichen Ak- Eine kulturpolitische Diskussion auf dem Ökumenischen Kirchentag in München • Von Hannes Langbein tivitäten im Kulturbereich aufgezeigt und zur Diskussion gestellt. „Kirche. Macht. Kultur – Kann es ein ihrem kulturellen Engagement in Distanz zwischen Kirche und Kultur von Welck – seien als Plattformen für Dieser Schwerpunkt hat eine ‚kulturpolitisches Wort‘ der Kirchen Gottesdienst, Denkmalschutz, Re- „Lobby für die Kultur“ sein sollten diesen Dialog von Kirche und Politik Debatte ausgelöst, die mich wegen geben?“ – so lautete der Titel des ligionsunterricht, musischer und und es in vieler Hinsicht bereits sind, mit der Basis für derartige Impulse ihrer Heftigkeit überrascht hat. Es ersten kulturpolitischen Podiums auf literarischer Bildung und vielem fand in diesem Sinne breite Zustim- der geeignete Ort. wurde zum Beispiel sehr emotional einem Ökumenischen Kirchentag, anderen mehr zu den maßgeblichen mung. Doch sollte es darüber hinaus Deshalb sei – so regte Thomas die Frage aufgeworfen, ob die Kirchen zu der das Kulturbüro der Evan- Kulturträgerinnen des Landes gehö- ein gemeinsames „kulturpolitisches Sternberg an – der Ökumenische in der Kultur denn überhaupt eine gelischen Kirche in Deutschland ren und dass die Kirchen als solche Wort“ der Kirchen geben? Kirchentag auch der richtige Ort, um so große Rolle spielen sollten, ob die (EKD) und der Deutsche Kulturrat – insbesondere angesichts des dro- Die Hamburger Kultursenatorin einen gemeinsamen Weg ins Auge Freiheit der Kunst dadurch nicht in Kulturpolitikerinnen, Kirchenvertre- henden Kulturkahlschlags in Zeiten und Präsidentin des Deutschen zu fassen. Dieser könne mit einer Gefahr kommen könnte? Viele waren ter und die Kulturbeauftragte der von Sparklausuren und Streichkon- Evangelischen Kirchentags in Bre- gemeinsamen Stellungnahme der auch sehr erstaunt wie umfangreich Dienstleistungsgewerkschaft ver. zerten – auch in kulturpolitischer men (2009), Karin von Welck, wies beiden Kirchen zur staatlichen Kul- das Engagement der Kirchen in der di in die Kulturkirche des Ökume- Verantwortung für andere Kultur- mit Blick auf das wünschenswerte turfinanzierung angesichts aktueller Kultur wirklich ist. Es erschienen in nischen Kirchentags nach München träger des Landes stehen, war zwi- Gelingen eines solchen Unterneh- Sparzwänge in den Kommunen be- der Nachfolge der Schwerpunktaus- geladen hatten. Die Kirchen als schen Kulturpolitik, Gewerkschaft mens auch auf Schwierigkeiten ginnen und von dort aus in Richtung gabe noch eine Reihe von Beiträgen, kulturpolitisch relevante Instituti- und Kirchen unstreitig. Immerhin hin: Denn jedes kirchenamtliche einer gemeinsamen Verständigung die schließlich in dem Buch „Die onen und diese wiederum ökume- organisierten die Kirchen – so der „Wort“ der Kirchen bleibe solange über grundsätzliche kulturpolitische Kirchen, die unbekannte kulturpoli- nisch geeint in einem gemeinsamen Referent der Kulturbeauftragten des folgenlos, solange es ein „Wort“ von Positionen der beiden Kirchen füh­ tische Macht“ (http://www.kulturrat. Wort? Ersteres hatte der Deutsche Rates der EKD Klaus-Martin Bresgott Institution zu Person bleibe und es ren. Der Ausgangspunkt dieses Weges de/dokumente/kirchen.pdf) zusam- Kulturrat bereits 2006 mit seinem – in großer Selbstverständlichkeit in Kirche und Politik nicht auf allen läge dann entsprechend nicht sofort mengefasst wurden. Ein weiteres „Kultur und Kirche“-Schwerpunkt weite Teile des kulturellen Lebens in Ebenen ein ausgeprägtes Bewusst- in einem „großen kulturpolitischen Ergebnis der Debatten im Deutschen in politik und kultur und 2007 mit Stadt und Land und trügen darüber sein dafür gebe, dass Kulturarbeit Haus“, sondern in konkreten ge- Kulturrat war auch die Frage nach der seinem Buch „Die Kirchen – Die hinaus – so die Kulturbeaufragte zu den Grundfesten gesellschafts- meinsamen Äußerungen zu aktu- kulturpolitischen Verantwortung, die unbekannte kulturpolitische Macht“ der ver.di Regine Möbius – dazu politischer wie kirchlicher Arbeit ellen kulturpolitischen Problem- sich aus der wBedeutung der Kirchen formuliert und letzteres forderte bei, dass sich insbesondere im Os- gehört. Deshalb müsse sich ein lagen. Einen solchen doppelten für das kulturelle Leben ergibt. nun sein Geschäftsführer, Olaf Zim­ ten Deutschlands der schleichende kulturpolitisches „Wort“ der Kirchen Weg, der einerseits – entsprechend Die Evangelische Kirche in mermann, in seinem Eingangss- Kontaktverlust zu den christlichen nicht primär institutionell „von Karin von Welck und Klaus-Martin Deutschland (EKD) hat von 1999 tatement zum Podium: Angesichts Quellen unseres kulturellen Ge- oben“, sondern vor allem als „Stär- Bresgott – die Basis einschließen, bis 2001 einen Konsultationsprozess wachsender Sparzwänge auf allen dächtnisses nicht beschleunige und kung der Basis von unten“ Stück für d.h. von „unten“ als „Wunsch der zum Verhältnis von Protestantismus Ebenen der Kultur in Deutschland dass christliche Werte unter jungen Stück entwickeln. Dazu gehöre bei Basis an die Amtskirchen“ heran- und Kultur durchgeführt. Der Konsul- und einer Beinahe-Abschaffung der Menschen und bis in die Politik hin- allen positiven Entwicklungen der getragen werden müsste, und an- tationsprozess mündete in der Veröf- Künstlersozialkasse im Jahr 2008, ein nicht zu Fremdwörtern würden. letzten Jahre in Politik und Kirchen dererseits – entsprechend Thomas fentlichung der Denkschrift „Räume brauche die Kultur des Landes mehr Indem die Kirchen mit dieser mehr- zum einen ein Lernprozess auf Sei- Sternberg – auf der „oberen“ Ebene der Begegnung. Religion und Kultur denn je die starke kulturpolitische dimensionalen Kulturarbeit gerade- ten der Politik, die die Kirchen – so vom Spezifischen ins Grundsätz- in evangelischer Perspektive“. Das Stimme der Kirchen – am besten zu einen „erweiterten Kulturbegriff“ Klaus-Martin Bresgott – in vielen liche führen könnte, würde dann Zentralkomitee der Katholiken hatte als gemeinsame Stimme mit ge- vorlebten, trügen die Kirchen – so Bereichen noch immer nicht auf laut Olaf Zimmermann auch der bereits im November 1999 eine kul- meinsamer Botschaft. Nicht „Kann die Vorsitzende des Ausschusses für allen Ebenen als gleichwertige kul- Deutsche Kulturrat unterstützen turpolitische Erklärung verabschiedet es ein ‚kulturpolitisches Wort‘ der Kultur und Medien des Bundestages, turpolitische Partner wahrnehme. – in der pfingstlichen Überzeugung „Kultur als Aufgabe für Staat und Kir- Kirchen geben?“ sei daher die Frage Monika Grütters – überdies dazu bei, Und dazu gehöre zum anderen – so – so abschließend der Moderator der che. Zur Förderung der dezentralen der Stunde, sondern der Apell: „Es ein dringend notwendiges Bewusst- Monika Grütters übereinstimmend Diskussion Theo Geißler – dass die und pluralen Kultur in Deutschland“. muss ein ‚kulturpolitisches Wort‘ der sein für die gesellschaftliche Bedeu- mit den Kirchenvertretern – auf unterschiedlichen Institutionen mit Und nicht zu vergessen, im Januar Kirchen geben!“ tung von Kultur als „Lebensmittel“ Seiten der Kirchen eine Weiterent- ihren unterschiedlichen Sprachen 2006 berief die EKD erstmals eine und nicht als „Luxusgut“ insgesamt wicklung der eigenen Wahrneh- und Strukturen eine gemeinsame Kulturbeauftragte. Die Deutsche Bi- em wollte in der Runde auch zu fördern. Dass die Kirchen also – mung für die kulturpolitischen und und vernehmbare Botschaft an die schofskonferenz führte im September D niemand widersprechen. Denn wie es der kulturpolitische Sprecher kulturellen Dimensionen kirchlicher Kulturpolitik entwickeln werden. 2006 erstmals einen Studientag zum dass die Kirchen – wie es der En- des Zentralkomitees der deutschen Arbeit – inklusive eines mutigeren Thema Kultur durch. quete-Bericht des Bundestages Katholiken Thomas Sternberg zu- Zugehens auf die zeitgenössischen Der Verfasser ist wissenschaftlicher Einiges ist also geschehen und „Kultur in Deutschland“ bereits sammenfassend formulierte – trotz Künste als die innovativen Kräfte der Referent im Büro der Kulturbeauf- gerade die beiden „Oberhäupter“ Ende 2007 herausgestellt hatte – mit manch historisch eingespielter Gesellschaft. Kirchentage – so Karin tragten der EKD kulturelles leben politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 29

Die Freizeitrevoluzzer Über Arbeit und Arbeitslosigkeit in der utopischen Literatur • Von Georg Ruppelt Die Vertreibung aus dem Fülle sogenannter Robinsonaden. Paradies Eine der am meisten gelesenen deut- schen Robinsonaden verfasste Jo- Die Arbeit steht bereits am Anfang hann Gottfried Schnabel mit seiner des größten literarischen Werkes an „Insel Felsenburg“ (1731–1743). Die- zentraler Stelle, nämlich in der Ge- ser Roman wie viele andere spiegelt nesis der Bibel. Der Mensch im von die zunehmende Macht, den Aufstieg Gott geschaffenen Paradies kannte des Bürgertums wieder, das im Ge- noch keine Arbeit im Sinne von gensatz zum Adel in protestantischer, Mühsal und Plage. Aber der Mensch vor allem calvinistischer Tradition musste ja unbedingt sündigen, und der Arbeit einen hohen, ja nach dem das hatte er nun davon: Glauben an Gott die höchste Stelle im Wertekanon der Zeit zuwies. u Adam sprach ER: Weil du auf In Edward Bellamys sozialistischer Z deine Frau gehört und von dem Utopie von 1887 Rückblick aus dem Baum gegessen hast, von dem zu Jahr 2000, in der ein vollkommenes essen ich dir verboten hatte: Gemeinwesen zu Anfang des 21. Jahr- So ist verflucht der Ackerboden hunderts entworfen wird, unterhält deinetwegen. Unter Mühsal wirst der Staat, der auch der einzige Kapi- du von ihm essen alle Tage deines talist ist, einen Arbeitsdienst für alle Lebens. Dornen und Disteln lässt er Menschen zwischen 21 und 45. Dieser dir wachsen, und die Pflanzen des Arbeitsdienst ist kein Zwang, wie der Feldes musst du essen. Fremdenführer durch den sozialisti- Im Schweiße deines Angesichts schen Staat, Dr. Leete, dem Besucher sollst du dein Brot essen, [...]“ (Ge- Julian West erläutert: „Man würde die nesis 3,17 und 3,19). Person für unglaublich verächtlich Wie nun konnte der vertriebene halten, die in einem solchen Falle des Mensch dieser Verdammung zu Zwanges bedürfte. Nichtsdestoweni- lebenslänglicher Arbeit aber ent- ger würde, vom [Arbeits-]Dienste als Hausbuch deutscher Lyrik. Gesammelt von Ferdinand Avenarius. Mit Zeichnungen von Fritz Phil. Schmidt. München: Call- rinnen? Denn dies, soviel ist sicher, von einer Zwangspflicht zu reden, ein wey 1904. Reproduktion: Georg Ruppelt war sofort sein Begehr. Zurück ins nur schwacher Ausdruck für dessen Paradies durfte er nicht. Also sann er absolute Unvermeintlichkeit sein. als der Mensch, macht sie Hunderte zu Almosenempfängern geworden.“ ley, werden künstlich mehrfach iden- auf Abhilfe, und schon wenige Verse Unsere ganze Gesellschaftsordnung und Tausende Menschen arbeits- (Übers. Wulf H. Bergner) tische „Untermenschen“ hergestellt, später (5,28/29) berichtet die Genesis: ist so völlig darauf gegründet und dar- los. Weil der Mensch aber arbeiten, die in vitro, also in Flaschen, erzeugt „Lamech war hundertzweiundacht- aus abgeleitet, dass, wenn es denkbar seinen Lebensunterhalt verdienen Menschenartige Arbeiter und bereits pränatal mit Alkohol und zig Jahre alt, da zeugte er einen Sohn wäre, dass ein Mensch sich ihr entzö- will und weil er diese Arbeit, wie wir anderen Proteingiften behandelt und nannte ihn Noach (Ruhe). Dabei ge, ihm kein Mittel bleiben würde, für später noch sehen werden, auch zur Ähnlich rasch und spektakulär wie werden. Sie treten als Arbeiter der sagte er: Er wird uns aufatmen lassen seinen Unterhalt zu sorgen, er würde Selbstdefinition braucht, versucht sich Roboter und Elektronik in zu- untersten Stufen auf die Bühne dieser von unserer Arbeit und von der Mühe sich aus der Welt ausgeschlossen, von er, sich von diesen bedrohlichen nehmendem Maße als Arbeit ver- schönen neuen Welt. unserer Hände um den Ackerboden, seinesgleichen abgeschnitten, mit Maschinen zu befreien. In Butlers richtende Hilfsmittel und Werkzeuge Die Entschlüsselung des mensch- den der Herr verflucht hat.“ einem Worte, Selbstmord begangen utopischem Staat kommt es zum Auf- etablierten, entwickelte sich auch lichen Bauplanes und der Fortschritt Die Sehnsucht nach dem verlo- haben.“ stand gegen die Maschinen, und alle die Biotechnik. Das Erscheinen des der Biotechnik im Herstellen von renen, dem „arbeit-losen“ Paradies, Maschinen werden zerstört. Diese Romans Die Insel des Doktor Mo- geklonten Lebewesen löste im letzten die Sehnsucht nach einer Mensch- Maschinenhelfer Thematik wird ein Topos in der uto- reau von Herbert George Wells im Drittel des 20. Jahrhunderts einen heit im Kindheitsstatus bleibt in der pischen Literatur. Der Mensch baut Jahre 1896 löste einen Skandal aus; Boom von Science Fiction-Texten Literatur zu allen Zeiten gegenwärtig. Schon immer haben Menschen ver- immer kompliziertere Maschinen, die dennoch oder gerade deswegen war aus, die sich mit dieser Möglichkeit Bereits in der Antike träumt sich die sucht, sich durch sinnreiche Vorrich- ihn von der Arbeit entlasten. Doch di- er außerordentlich erfolgreich. Auf beschäftigten. Literatur ein Schlaraffenland, ein tungen, also Maschinen jeglicher Art, ese Maschinen werden immer besser, einer einsamen Insel führt in Wells’ Arkadien. Hier das Schlaraffenland die Arbeit zu erleichtern. Doch erst im entwickeln schließlich eine eigene Roman der wegen Vivisektion aus Arbeitsethos und Freizeit nach Ludwig Bechsteins Märchen 19. Jahrhundert nach Erfindung der Intelligenz und bedrohen den Men- England vertriebene Dr. Moreau un- (1857): „Wer nichts kann, als schlafen, Dampfmaschine und der Nutzung schen – der Diener des Menschen barmherzige Tierexperimente durch. Während in der Mehrzahl der uto- essen, trinken, tanzen und spielen, der Elektrizität, kurz gesagt als Folge wird zum Herrn. Ein Schiffbrüchiger erkennt bald, pischen Texte die Thematik „Wen der wird zum Grafen ernannt. Dem der Industriellen Revolution, können Seit den zwanziger Jahren des dass Moreau Tiere in menschenartige oder was kann ich einsetzen, der oder aber, welchen das allgemeine Stimm- Maschinen dem Menschen Arbeit in 20. Jahrhunderts bekamen die men- Wesen durch grausame Operationen, das mir die Arbeit abnimmt?“ Gegen- recht als den faulsten und zu allem großem Umfange abnehmen. Freilich schenähnlichen Maschinen einen strengste sklavenhalterische Zucht stand des Interesses war, spielt Arbeit Guten untauglichsten erkannt, der schaffen Maschinen auch neue Ar- neuen Namen, der sich in allen Spra- und Gebote umwandelt, die eine als Lebensinhalt, als Sinn des Lebens wird König über das ganze Land, und beit, dadurch nämlich, dass Personal chen durchsetzte: Roboter. Der Name Travestie auf die biblischen zehn in Romanen seit dem 20. Jahrhundert hat ein großes Einkommen.“ Aber wo benötigt wird, um sie zu bedienen. geht zurück auf das Drama von Karel Gebote darstellen. Moreau kennt kein eine immer größere Rolle. Ja, der liegt dieses Land? Es liegt auf einer In- Aber sie werden auch eine Be- ^Capek aus dem Jahr 1920 R. U. R Mitleid, weder mit den Tieren noch Begriff Arbeit erhält gelegentlich gar sel, die nur schwer zu erreichen ist. drohung für die Arbeiter insofern (Rossums Universal Robots.) Rossum mit den Menschen. Er gewinnt so eine transzendentale Konnotation! nämlich, als sie mit je höherem ist angelehnt an das slawische rozum, eine halb-menschliche Mischrasse, So heißt es etwa in einem Ingenieur- Utopia etc. Entwicklungsgrad zunehmend auf was Verstand bedeutet, Robot klingt die er für verschiedene Arbeiten und Roman von 1936: „Und weil das We- die Bedienung durch menschliches nach slawisch robota, was Zwangs- Hilfstätigkeiten einsetzen kann. sen der Arbeit etwas so Heiliges war, Mit seiner einer ganzen literarischen Personal verzichten können. Die arbeit, Fron heißt. In diesem Drama 1920 entwarf der deutsche Au- durfte sie keinem willigen Menschen Gattung den Namen gebenden Schrift Maschine wird zum Feind des Men- sind bereits die später in unzähligen tor Konrad Loele mit seinem Ro- fehlen.“ Utopia führt Thomas Morus 1515 schen, denn sie nimmt ihm nicht Romanen und Erzählungen immer man Züllinger und seine Zucht ein Ein fanatischer, besessener Ar- wird die Frage nach der gerechten nur die harte mühselige Arbeit ab, wiederkehrenden Motive zu finden. Szenario für das Deutschland der beiter ist auch der Ingenieur Mac Verteilung von Arbeit in die Literatur sondern sie kann diese Arbeit viel Die Roboter werden erfunden und fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Allan in dem Klassiker Der Tunnel ein. Es ist eine Frage, die später in besser verrichten als der Mensch. produziert, um die Menschen von Deutschland wird in diesem Roman von Bernhard Kellermann aus dem den politischen und wirtschaftlichen Schon 1789 warnte Jean Paul vor schwerer Arbeit zu befreien; sie ver- von einer faschistischen Herrenrasse Jahr 1913. Mac Allan ist unermüdlich, Theorien von zentraler Bedeutung den Gefahren, die durch Maschinen drängen die Menschen schließlich regiert, welche die arbeitende Be- kein Unglück, kein beruflicher oder werden wird. Im Staate Utopia ar- entstünden: „Schon von ieher brachte von ihren Arbeitsplätzen und werden völkerung erbarmungslos knechtet. privater Schicksalsschlag kann ihn beiten alle sechs Stunden am Tag. man Maschinen zu Markt, welche die gar zu ihren Herrn. Der Chemiker Züllinger erhält den von seiner Idee und ihrer Durchfüh- „Ein einziges Gewerbe üben alle Menschen außer Nahrung setzten, Und schließlich der Computer! Zu Auftrag, Kunstmenschen herzustellen rung abbringen, einen Tunnel unter Männer und Frauen gemeinsam aus: indem sie die Arbeiten derselben bes- einer Zeit, als die ersten Computer und diese viel schneller als normale dem Atlantik zwischen Amerika und den Ackerbau. [...] Von den anderen ser und schneller ausführten. Denn entstanden, groß wie Einfamilien- Menschen reifen zu lassen, da die Europa zu bauen. Nach einer großen Handwerken aber lernt jeder eins, zum Unglück machen die Maschinen häuser und mit einer Rechenleistung, versklavten Arbeiter immer weniger Katastrophe schreit er den Arbeitern, und zwar nicht nur die Männer, allezeit recht gute Arbeit und laufen die ein Minimum unserer heutigen Nachwuchs bekommen. Dies ge- die sich weigern ihre Arbeit wieder sondern auch die Frauen; diese be- den Menschen weit vor.“ Taschenrechner ausmachte, schrieb schieht unter anderem durch Or- aufzunehmen, sein Glaubensbe- treiben jedoch als die schwächeren In Samuel Butlers Zukunfts- Kurt Vonnegut 1952 mit seinem ganentnahme aus den Körpern von kenntnis entgegen: „Ich selbst bin ein nur leichtere Gewerbe: gewöhnlich staat Erewhon (ein Anagramm aus Player-Piano bereits einen kritischen Arbeitern. Um zu vermeiden, dass Arbeiter, Tunnelmen! [...] Die Arbeit spinnen sie Wolle und weben Leinen; Nowhere) heißt es 1872: „Unsere Re- Roman, der sich mit den Folgen der diese Kunstmenschen die Herren- ist nicht ein bloßes Mittel, satt zu wer- den Männern werden die übrigen chenmaschinen lassen nie eine Zahl damals kaum absehbaren elektro- rasse überflügeln, werden sie regel- den! Die Arbeit ist ein Ideal. Die Arbeit mühsameren Tätigkeiten überlassen. fallen, noch unsere Webstühle eine nischen Revolution, wie sie einige mäßig mit „Verblödungsflüssigkeit“ ist die Religion unserer Zeit.“ [...] Die wichtigste und fast einzige Masche; die Maschine ist immer noch Jahrzehnte später Wahrheit werden gespritzt. Die Arbeit als Religion, so weit Aufgabe der Syphogranten [Famili- frisch und kregel, wenn der Mensch sollte, auseinandersetzte. „Früher Das Motiv künstlich hergestellter werden sich im wirklichen Leben enältesten] ist, dafür zu sorgen und ermüdet; sie ist nüchtern und gefasst, hatte jedermann irgendeine Fertig- Sklaven oder auch menschenähn- wohl nur wenige versteigen. Die Tat- darüber zu wachen, dass keiner mü- wenn der Mensch sich abstumpft; keit oder genügend Arbeitswillen licher Wesen, die in der Lage sind sache aber, dass der Besitz von Arbeit ßig herumsitzt, sondern jeder fleißig sie braucht keinen Schlaf, wenn der oder etwas anderes, wofür er Geld bestimmte routinemäßigen oder ge- ein hohes Gut ist, den Einzelnen ein- sein Gewerbe betreibt, ohne sich Mensch sich hinlegen muss, um nicht bekam, mit dem er sich etwas kaufen fährlichen Verrichtungen effizienter ordnet in gesellschaftliche Systeme, jedoch vom frühen Morgen bis tief umzufallen; immer auf dem Posten, konnte, was ihm Spaß machte. Jetzt preiswerter und meistens besser wird wohl allgemein anerkannt. Es in die Nacht hinein ununterbrochen immer bereit zur Arbeit, läßt ihre herrschen überall Maschinen, und auszuführen als Menschen, gehört im wird besonders im negativen Kontext wie ein Lasttier abzumühen.“ Für die Munterkeit nie nach, und nie geht man muss schon ganz außergewöhn- 20. Jahrhundert zu den Standardthe- wahrgenommen dann, wenn es zur wirklich mühsame, eintönige Arbeit ihr die Geduld aus; ihre Gewalt ist lich begabt sein, wenn man noch menkreisen der utopischen Literatur Arbeitslosigkeit kommt: in der Regel aller Art, werden auch in Utopia das Hundertfache der unseren und etwas anzubieten haben will. Die bzw. der Science Fiction. In einem eine Katastrophe für die Betroffenen, Sklaven eingesetzt, die allerdings geschwinder als Vogelflug.“ (Übers. meisten Leute können heutzutage der wohl nach wie vor berühmtesten die häufig nicht nur ihre Existenz, menschlich behandelt werden. Fritz Güttinger) nur noch darauf hoffen, dass man und bekanntesten Roman dieser Li- In der Nachfolge von Daniel De- Und weil die Maschine so gut ist, ihnen etwas geben wird – sie arbeiten teraturgattung, in Brave New World Weiter auf Seite 30 foes Robinson Crusoe entstand eine ja hundert und tausendmal effektiver nicht mehr für ihr Geld, sondern sind – Schöne neue Welt von Aldous Hux- zur diskussion gestellt politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 30

Revoluzzer auf eine besondere Weise und des Buddhismus unter die Leute seinen Arbeitsplatz berappen, und so Kurt Tucholsky, der gelegentlich auch Fortsetzung von Seite 29 beantwortet. zu bringen. Mit einem Frontalangriff weiter. Wir brauchen nur eine Art um- Utopisches geschrieben hat: „Denn Ein Institut wird mit der Aufgabe auf die protestantische Arbeitse- gekehrter Lohnskala auszuarbeiten, für die Arbeit ist der Mensch auf der sondern auch ihr soziales Ansehen betraut, Vorfälle von Vandalismus thik wirbt man für das Motto, dass das ist alles. Es ist nichts dabei. Leute Welt, für die ernste Arbeit, die wo den und die Möglichkeit verlieren, sich aufzuklären. Die Zerstörungswut meditieren besser sei als arbeiten. wie ich, die arbeiten müssen, wenn ganzen Mann ausfüllt. Ob sie einen ihren Fähigkeiten und Kenntnissen richtet sich gegen Theater und Kon- Doch der Erfolg bleibt aus. Auch ein sie nicht durchdrehen wollen, werden Sinn hat, ob sie schadet oder nützt, entsprechend zu betätigen. zerte, Freizeiteinrichtungen und aufwendiges „Fest der Langenweile“ sich eben die Jobs kaufen, die sie brau- ob sie Vergnügen macht (‚Arbeet soll Die Frage nach der Freizeitbe- -veranstaltungen. Die Denkfabrik wird ein Misserfolg. chen.“ (Übers. Walter Brumm) Vajniejen machen? Ihnen piekt er schäftigung in einer fortgeschrittenen ermittelt bald, wer hinter den An- Der neue Chef des Instituts Was für ein Wandel! Von der Ar- woll?’) –: das ist alles ganz gleich. Es technisierten Gesellschaft wurde An- schlägen steckt. Es sind Arbeitslose kommt zum Schluss „Darum sollte beit, die man möglichst anderen muss eine Arbeit sein. Und man muss fang der siebziger Jahre von dem ka- oder Frührentner, die im sozialen man, statt sie für ihre Arbeit zu bezah- Menschen oder Maschinen aufbür- morgens hingehen können. Sonst hat nadischen Autor Eric Koch in einem Netz gut aufgefangen sind, die sich len, für ihre Arbeit bezahlen lassen! den möchte, um mehr Freizeit zu das Leben keinen Zweck.“ der witzigsten gesellschaftskritischen aber entsetzlich langweilen. Die begehrtesten Jobs werden natür- haben, nun zur Arbeit als hohem, Science Fiction-Romane überhaupt Man versucht durch gezielte Wer- lich am meisten kosten. Je älter der wenn nicht höchstem Gut! Schließen Der Verfasser ist Vizepräsident des mit dem deutschen Titel Die Freizeit- bekampagnen, Werte des Hinduismus Beschäftigte, desto mehr muss er für wir diesen Essay mit dem satirischen Deutschen Kulturrates Der Wert der Wahl im Medienzeitalter Der Staat und seine desinteressierte Gesellschaft • Von Volkmar Klein Es ist bemerkenswert: „Postde- Stimmenabgabe per sms) vor den mokratie“ (Oxford 2004) von Colin Bildschirm. Dabei verdeutlichte sich, Crouch ist zu einem der meist gele- dass gerade der mediale Politikkla- senen politischen Essays der letzten mauk dieses Fernsehsenders mit Jahre geworden. Darin beschreibt dem Blick auf jüngere Wählerinnen der britische Politikwissenschaftler und Wähler viel breiteres Interesse zu eine uns allen drohende, gleichsam finden schien als der sachbezogene erstarrte Staatsform, in der die Streit der eingeladenen Spitzenpoli- aufwendige mediale Inszenierung tiker aller im Deutschen des politischen Geschehens (ins- vertretenen Parteien. Im Vordergrund besondere durch scheinbar harten der ausgestrahlten Sendung stan- Wahlkampf) die sachbezogenen In- den „bunte Unterhaltung“ und „ein teressen der Bürgerinnen und Bürger großes Bespaßungsprogramm unter gänzlich verdrängt hat. In dem von dem Deckmantel des politischen Colin Crouch beschriebenen post- Mitbestimmungsrechts“, wie ein kri- demokratischen Utopia herrschen tischer Kolumnist der Süddeutschen private Medien und wirtschaftliche Zeitung bereits wenige Stunden Lobbyisten über eine frustrierte nach der Sendung online zu Recht Menschenmasse, die sich von der bemerkte, um zugleich jedoch fest- ermüdenden Wahlkampfrhetorik in zustellen: „Auf dieser Plattform des der Politik desillusioniert abgewandt Politainments setzten die Politiker hat: Damit hat dieses pessimistische [...] mehr auf Telegenität als auf Buch für viele Leserinnen und Leser Faktenvermittlung. Ihre Argumente einen „kultigen“ Status erreicht. gingen teilweise im Gejohle ihres Anhangs unter – sie selbst lächelten s ließe sich eine umfassende Dis- aber unentwegt im Wissen um die E kussion über die verschiedenen Wirkung des Auftritts.“ emotionalen Thesen führen, mit de- Man mag von dem Stimmenge- nen Colin Crouch auch die politische wirr der meistgesehenen politischen Streitkultur in vielen demokratischen Talkshows halten, was man will: Staaten der gegenwärtigen Zeit analy- In jeder Ausgabe von „Anne Will“, Beunruhigend, wenn wie bei der Wahl zum Landtag von NRW, unter 60 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne gehen. siert hat. Postdemokratie ist vor allem von „Maybrit Illner“ und diverser Foto: Bernd Schälte nicht immer so originell, wie viele Le- vergleichbarer Sendungen steht die serinnen und Leser vermutet haben. In sachliche Debatte gegenüber der wahrgenommen haben, werden wirtschaftlichen Krisensituation er- Partei zu entscheiden und um der einem postdemokratischen Staat hat bloßen medialen Show deutlich im wissen, dass „an der Basis“ nicht schienen, die der Autor damals noch mitunter massiven Politikverdros- insbesondere das private Fernsehen Vordergrund. Insofern wird trotz aller selten mit dem Gedanken gespielt nicht en detail erkannt haben kann. senheit zu entgehen: Der Gang in einen ernsten Verfall aller politischen nachvollziehbaren Kritik bei Anne wird, für eine andere Partei als die ein Wahllokal wird viel leichter, wenn Auseinandersetzungen verursacht: Will, bei Maybrit Illner und durch eigene zu stimmen oder – schlimmer ..., und zuvor den Fernse- man den Fernseher einmal bewusst Mit dieser zentralen These z.B. folgt viele andere Moderatorinnen und noch – einer Wahl fernzubleiben. abschaltet. der Autor der einst von Neil Postman Moderatoren immerhin ein deutlich Aus der eigenen Partei schließlich her abschalten Im vergangenen Herbst war mit vorgetragenen scharfen Kritik am wertvollerer Gesprächsbeitrag zu auszutreten, ist offenbar für viele Insofern ist es erforderlich, die de- nur 70 Prozent die niedrigste Wahlbe- Fernsehen und seiner zunehmenden vielen politischen Diskussionen un- Menschen keine Entscheidung mokratische Staatsform, die in ganz teiligung bei einer Bundes-tagswahl Macht über viele Menschen. Zudem serer Zeit inszeniert als in der zuvor mehr, die besonders schwerfällt Deutschland seit dem Jahr 1990 im- seit dem Bestehen der Bundesrepub- scheint Colin Crouch in Postdemokra- beschriebenen, selbsternannten – einmal abgesehen davon, dass es mer als selbstverständlich betrachtet lik Deutschland zu verzeichnen, d. h.: tie mit spitzer Feder ein übertriebenes „größten Wahlumfrage“ zur Bundes- in allen Parteien viele Mitglieder wird, auch weiterhin nachhaltig zu seit etwas mehr als sechs Jahrzehnten. Bild in bewusst düsterer Farbe zu tagswahl 2009. gibt, die schon seit geraumer Zeit stabilisieren – als Politikerin oder Po- Dieses bedeutsame Wahlergebnis zeichnen. Denn man kann die gesell- Das Fernsehen beeinflusst auch in keine einzige Parteiveranstaltung litiker ebenso wie als Wählerin oder wiegt noch immer schwer für alle schaftliche Politikverdrossenheit, die Deutschland zunehmend die Ergeb- mehr besucht haben. Wähler. Gerade in unserer medial im Bundestag vertretenen Parteien er eindrucksvoll schildert, auch gleich- nisse von Bundestags- und von Land- Es gibt mehrere zentrale Aussagen, bestimmten Zeit ist es dabei nicht – und dass bei der letzten nordrhein- sam herbeischreiben, indem man sie tagswahlen: Es ist z. B. fraglich, ob die mit denen Politikerinnen und Politi- verkehrt, sich einmal bewusst von westfälischen Landtagswahl, der so als gegeben akzeptiert bzw. als einen Medien unserer Demokratie nicht ker und auch andere gesellschaftliche allen Bildschirmen abzuwenden. genannten „kleinen Bundestagswahl“ nicht mehr zu korrigierenden Fehler mehr geschadet als genutzt haben, Akteure sich gegen eine weiter sin- Noch einmal sei aus dem schon im Mai 2010, die Wahlbeteiligung hinnimmt: Wo kein Weg ist, ist auch als sie vor der Bundestagswahl 2002 kende Wahlbeteiligung aussprechen. besprochenen Kommentar in der sogar bei weniger als 60 Prozent lag, kein Wille. das erste „TV-Duell“ um die deutsche Die Stimme bei einem Wahltermin Süddeutschen Zeitung vor der letzten ist zutiefst beunruhigend. Gleichwohl ist es gerade der zu- Kanzlerschaft ausstrahlten. Aber dass abzugeben, sei „das mindeste Maß Bundestagswahl zitiert: „Wie viel Poli- Es mag viele Wählerinnen und vor beschriebene medienkritische dieses bedeutsame mediale Ereignis an politischer Verantwortung“, der tainment ist eigentlich erträglich?“ Wähler geben, denen es inzwischen Aspekt von Postdemokratie, der auch schließlich durch eine Erscheinung Bürgerinnen und Bürger nachzukom- Die oft beklagte Distanz zwischen schwerfällt, sich für eine der zur je- jeden gewählten Volksvertreter nach- wie das geschilderte „Politainment“ men hätten. „Demokratie lebt nicht Volk und Volksvertretern ist (übrigens weiligen Wahl angetretenen Parteien denklich stimmen sollte. Wahlen, so parodiert werden würde, war damals zuletzt von der Wahlbeteiligung“, wird nicht nur in einer entscheidenden zu entscheiden. Aber der erste Schritt schreibt Colin Crouch, sind in einem auch nicht absehbar. oft gesagt, und noch immer wird es Wahlkampfphase) bei einer per- auf dem Weg, der vom drohenden postdemokratischen Staatswesen auch in Deutschland zudem zahllose sönlichen Begegnung in den Bür- postdemokratischen Zustand unseres zu einem reinen Medienspektakel „Wählen gehen muss Eltern geben, die ihren Kindern bei gersprechstunden von Bundestags- stabilen demokratischen Gemein- verkommen – und gerade dieses aller zutreffenden Kritik an der Politik und Landtagsabgeordneten schnell wesens wegführt, ist nach wie vor charakteristische Merkmal des von man“, ... richtigerweise beibringen: „Wählen aufgehoben. Das direkte Gespräch die Stimmenabgabe zu jedem neuen ihm entworfenen Staates und seiner Wir erleben auch in unserer Heimat gehen muss man“ – und sei es nur, um mit Kandidatinnen und Kandidaten Wahltermin. desinteressierten Gesellschaft be- derzeit sehr wechselvolle politische den Einzug extremistischer Parteien und ihrem Wahlkampfteam an einem schreibt einen auch in Deutschland und wirtschaftliche Entwicklungen, in unsere Parlamente zu verhindern. Informationsstand der jeweiligen (Die aus der Süddeutschen Zeitung bereits beobachteten Zustand. angesichts derer selbst deutlichste – Das ist alles richtig. Gleichwohl Partei ist für viele Bürgerinnen und entnommenen Zitate entstammen Wahlsiege durch stark gesunkene darf konstatiert werden: Es gibt im- Bürger eine wertvollere Orientie- dem Kommentar „Ein Erdrutsch bei Wider das mediale bzw. immer weiter sinkende Wahl- mer mehr Wählerinnen und Wähler, rungshilfe als der mediale Streit um Stefan Raab“ von Andreas Thieme, beteiligungen entscheidend relati- die zwar noch eine Verpflichtung politische Sachverhalte und um eine der in der Onlineausgabe der SZ vom „Politainment“ viert werden. Selbst unter denen, die verspüren, bei jedem neuen Wahl- hohe Einschaltquote. Sehr viel hilf- 27. September 2009 morgens erschie- „Politainment“: Es ist dieses skur- einer politischen Partei angehören, termin ihre Stimme abzugeben, sich reicher als viele politische Talkshows nen ist.) rile Schlagwort, das bereits auf den sinkt vielfach die Identifikation mit zugleich aber nicht mehr viel davon ist oftmals die intensive Lektüre von letzten Bundestagswahlkampf einen dem eigenen Wahlprogramm und versprechen. Wahlprogrammen, um sich mit den Der Verfasser ist der direkt gewähl- sichtbaren Schatten geworfen hat. insbesondere mit dem in Berlin bzw. Zudem befinden wir uns inmitten grundlegenden Positionen aller Par- te Bundestagsabgeordnete für den Ein großer privater Fernsehsender in der jeweiligen Landeshauptstadt einer weltweiten Wirtschaftskrise, de- teien vertraut zu machen. – Es gibt Kreis Siegen-Wittgenstein (NRW) rief seine mehrheitlich jungen Zu- vertretenen Spitzenpersonal. Poli- ren langfristige Auswirkungen selbst nach wie vor also sehr zahlreiche sowie Landesvorsitzender des Evan- schauerinnen und Zuschauer am tikerinnen und Politiker, die derzeit auf die stabile Verfassung vieler de- Quellen, aus denen Wählerinnen und gelischen Arbeitskreises der CDU letzten Abend vor der Bundestags- und in den letzten Jahren die unzu- mokratischer Staaten jetzt noch nicht Wähler abseits aller medialen Unruhe Nordrhein-Westfalen innerhalb des wahl zur besten Sendezeit zu einer friedenen Stimmungen in manchem absehbar sind. Postdemokratie ist schöpfen können, um sich vor ihrer Evangelischen Arbeitskreises der hauseigenen „Bundestagswahl“ (mit Kreis- oder Ortsverband ihrer Partei mehrere Jahre vor der gegenwärtigen Stimmenabgabe überzeugt für eine CDU/CSU (EAK) portrait / Bundestagsdrucksachen politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 31

Intelligentes Sparen als Rettung vor dem Rasenmäher Siegmund Ehrmann, kulturpolitischer Sprecher der SPD – ein Portrait von Andreas Kolb Ein Bundestagsabgeordneter, der Funktion als städtischer Kulturer- hörde, Hohenschönhausen usw.“ In aus Moers kommt, muss einfach möglicher: Im Laufe der Jahre erwarb Zeiten einer Kulturpolitik unter dem Jazzliebhaber sein. Schließlich be- er sich eine breite dienstliche Sicht größten Sparpaket seit Bestehen der zieht die Stadt am Niederrhein einen auf kommunales Kulturmanagement. Bundesrepublik Deutschland plädiert großen Teil ihres Kultur-Images aus „Ich habe mit tollen Leuten in den Ehrmann für einen Rettungsschirm dem inzwischen 38 Jahre alten Tradi- jeweiligen Institutionen zusammen- für in Not geratene Kommunen, der tionsfestival des modernen Jazz, dem gearbeitet“, erinnert er sich, „obwohl auch der Kultur hilft. „Dies ist nicht Moers Festival. Siegmund Ehrmann, nicht alles Freude war: 1994-96 stand die erste Finanzkrise der Kommu- 1952 in Moers geboren, wurde erst- das Jazzfestival Moers auf der Kippe, nen; aber das, was jetzt passiert, ist mals 2002 aus einem damals neu das Theater war bedroht, auch die bedrohlich für die kulturelle Infra- gebildeten Wahlkreis, bestehend aus Musikschule war existenziell gefähr- struktur der Kommunen. Wir Sozial- dem Norden der Stadt , sowie det.“ Für Ehrmann galt es, den großen demokraten ringen sehr darum, die den Städten Moers und Neukirchen- Kahlschlag zu verhindern. „Es ging Infrastruktur in den Städten in der Vluyn, in den Bundestag gewählt. darum, eigene Konzepte für Moers Breite zu erhalten. Das heißt, es geht Bis dahin war er viele Jahre als Kul- zu entwickeln, diese in die Politik zu uns nicht nur um Kultur, sondern turdezernent mitverantwortlich für tragen und durchzusetzen. Natürlich auch um Sport und Bildung. Neben das Moers Festival und so wundert wurden die Einsparvorgaben nicht der Wahrung des kulturellen Erbes es nicht, wenn Jazz in den aktuellen zu 100 Prozent substituiert, aber die muss sich weiterhin das Neue ent- Pressemitteilungen von Ehrmann Inhalte zählten weiterhin und nicht wickeln können. Kommunen sind einen breiteren Raum einnimmt als das Prinzip Rasenmäher. Ich spreche häufig nicht mehr in der Lage, aus bei anderen SPD-Bundestagsab- in diesem Zusammenhang gerne vom ihren Mitteln kulturfördernd tätig zu geordneten: „Siegmund Ehrmann intelligenten Sparen.“ werden. Für solche Projekte, die eine sponsert Jazz Konzert in Krefeld“, Ehrmanns letzte Amtshandlung geringere Eigenbedarfsfinanzierung „Wir begrüßen die erste Verleihung im Jahr 2002 war es, das Auswahlver- haben, wäre ein deutliche Aufsto- des „Echo Jazz“ in Bochum sehr, fahren zu organisieren, in dem Ulrich ckung der Mittel für die Förderfonds weil Jazzmusiker damit eine stär- Greb schließlich einstimmig, vom der Bundeskulturstiftung hilfreich.“ kere Anerkennung auch von Seiten Stadtrat Moers zum Intendanten des „Bezogen auf die Kulturpolitik sehe der Musikindustrie erfahren“, „Jazz Schlosstheaters gewählt wurde. Greb Foto: Bernd Brundert ich neben dem verschobenen Bau- muss Thema von Exportförderung ist heute noch Moerser Intendant und beginn des Humboldt-Forums auch sein“ oder „Die Rundfunkanstalten leistet Beachtliches. Dann eine neue tion und stellvertretender Vorsitzender Solidarpakt ausläuft und nicht länger eine besondere Tücke des Sparplans in Ostdeutschland sollten erneut Herausforderung nach 33 Jahren in der Enquete-Kommission „Kultur Geld in die Weltkulturerbestätten, die in den globalen Minderausgaben Hier eine Big Band etablieren, um dem Verwaltungsarbeit: Ehrmann ließ sich in Deutschland“. Ehrmann erinnert sog. Kulturellen Leuchttürme und wird der Kulturetat einfach pauschal Nachwuchs und dem Jazz insgesamt für die SPD als Bundestagskandidat sich gerne an das parteiübergreifende andere herausragende Kulturstätten gekürzt. Deshalb ist nicht zu erkennen, neue Perspektiven zu eröffnen“. aufstellen, und die Wähler schickten Engagement innerhalb der Enquete- in den neuen Ländern fließt?“ Und er welche Projekte konkret betroffen sein Für Ehrmann, der selbst kein Jazzer ihn vom Niederrhein an die Spree. Arbeit, stellt aber ernüchtert fest, zieht 21 Jahre nach der Wiederverei- werden“, so Ehrmann in einer ersten ist, sondern aus der Zeit seiner Zwei Standbeine kristallisierten sich dass die meisten inhaltlichen Punkte nigung Vergleiche: „Was hatten wir Reaktion am Montag, den 7. Juni, auf kirchlichen Jugendarbeit beim CVJM für den neuen Bundestagsabgeord- immer noch unerledigt auf der Agen- denn in der alten Bundesrepublik 20 die Sparpläne der Bundesregierung „nur“ ein guter Liedbegleiter auf der neten heraus: Erstens die Kultur da der Kulturpolitiker stehen. Das Jahre nach 45 für eine Debatte? Eine zur Haushaltssanierung, die dem Staat Gitarre, ist die Leidenschaft für Musik – seit 2002 ist Ehrmann Mitglied des Urheberrecht sei nach wie vor eine erinnerungs- und geschichtspoli- 80 Milliarden Euro in vier Jahren ein- natürlich nur ein Teilbereich seiner Ausschusses für Kultur und Medien, Großbaustelle, die Resonanz auf Ebene tische Debatte! Damals bekam die bringen sollen. Vielleicht ein weiteres kulturpolitischen Aktivitäten. seit 2005 dessen Stellvertretender der Länder und Kommunen auf den Auseinandersetzung mit dem Nati- Argument dafür, das Staatsziel Kultur Vorsitzender und seit 2009 Sprecher mehr als 500-seitigen Bericht eher zu- onalsozialismus eine neue Qualität sichtbar in die Verfassung zu schrei- owohl Siegmund Ehrmanns Vater der SPD-Arbeitsgruppe Kultur und rückhaltend, bis nicht vorhanden. Heute, 20 Jahre nach dem Mauerfall, ben, wie Ehrmann es fordert: „Als S als auch sein Großvater waren der Medien. Das zweite Standbein sind Weitere drängende Punkte auf haben wir wieder die Debatten über Selbstverpflichtung und Abwägungs- Sozialdemokratie verpflichtet und in die Kontakte zu den Kirchen: Seit der Agenda des SPD-Kulturpolitikers Geschichte und Erinnerungspolitik gebot für den Staat, sich zu seiner Ver- der Gewerkschaftsarbeit tätig – ein 2009 ist Ehrmann Beauftragter der sind neben vielen anderen Themen – ich nenne nur einige Erinnerungs- antwortung zu bekennen, die Kultur politisch stark prägendes Umfeld. SPD-Bundestagsfraktion für Kirchen der Solidarpakt Ost, die öffentliche orte und Institutionen als Stichworte zu schützen und zu fördern.“ Mit 18 trat auch Ehrmann in die SPD und Religionsgemeinschaften. Kulturförderung in den Kommunen wie,zum Beispiel Holocaust-Mahn- ein, engagierte sich aber zunächst nur Zwischen 2003 und 2007 war er oder die Digitalisierung der Kultur. mal, Gedenkstätte Berliner Mauer, Der Verfasser ist Redakteur von in den Wahlkämpfen. Seine Leiden- Sprecher für die SPD-Bundestagsfrak- „Was passiert nach 2019, wenn der Topografie des Terrors, Birthler-Be- politik und kultur schaft galt der Jugendarbeit im CVJM, dem Christlichen Verein Junger Men- schen. Mit dem Älterwerden wurde Ehrmann auch deutlich politischer. Er nennt den Entwicklungshelfer und Bundestagsdrucksachen evangelischen Afrika-Missionar Willy Schneider als die Persönlichkeit, die m Folgenden wird auf Bundestags- der Gemeindefinanzkommission ihn in jungen Jahren stark beein- drucksachen mit kulturpolitischer Antwort der Bundesregierung (Druck- flusste. Damals wurden in Ehrmanns Relevanz hingewiesen. Berücksichtigt sache 17/1728) CVJM-Gruppe grundlegende Fragen werden Kleine und Große Anfragen, auf die Kleine Anfrage der Fraktion diskutiert: Wie ist das eigentlich mit Anträge, Entschließungsanträge, Die Linke (Drucksache 17/1508) der Gerechtigkeit in der Einen Welt? Beschlussvorlagen, Schriftliche Fra- Zukunft der Kommunalfinanzen und Wie hängt das alles zusammen: Ent- gen, Mündliche Fragen sowie Bun- der Gemeindefinanzkommission wicklungspolitik und die Fragen der destagsprotokolle. Alle Drucksachen Ökologie und des Friedens? können unter folgender Adresse aus Antwort der Bundesregierung (Druck- Als Ende der 70er-, Anfang der dem Internet heruntergeladen wer- sache 17/1871) 80er-Jahre auch innerhalb der SPD den: http://dip/bundestag.de/par- auf die Kleine Anfrage der Fraktion die Debatten zu Friedens- und Um- fors/parfors.htm. Bündnis 90/Die Grünen (Drucksache weltfragen begannen, da wuchs Berücksichtigt werden Drucksachen 17/1687) Ehrmann stärker in die Parteiarbeit zu folgenden Themen: Zukunft der Rundfunk Orchester hinein. Und sein Engagement wurde · Auswärtige Kulturpolitik, und Chöre GmbH Berlin und der bald bemerkt, denn er hatte ganz · Bildung, vier Rundfunk Orchester und Chöre offensichtlich ein paar Talente, die · Bürgerschaftliches Engagement, Berlins Politiker gut gebrauchen können. · Daseinsvorsorge, Seine ersten Erfahrungen mit der · Erinnern und Gedenken, Deutscher Bundestag im Reichstagsgebäude Foto: Deutscher Bundestag Ausschussarbeit machte er als „Sach- · Europa, Kulturpolitik allgemein kundiger Bürger“ im Jugend und · Föderalismusreform Gesetzentwurf Antwort der Bundesregierung (Druck- Prof. Walter Womacka in Berlin Sportausschuss von Neukirchen- · Informationsgesellschaft, der Fraktionen CDU/CSU und FDP sache 17/1538) Vluyn, danach war er sechs Jahre lang · Internationale Abkommen mit kul- (Drucksache 17/1400) auf die Kleine Anfrage der Fraktion Ratsmitglied. Neben der Parteikarrie- tureller Relevanz, Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Die Linke (Drucksache 17/1379) Film- und Medienpolitik re verfolgte Ehrmann zielstrebig seine · Kulturelle Bildung, Änderung des Gesetzes zur Errich- Musikveranstaltungen der extremen Gesetzentwurf der Bundesregierung berufliche Laufbahn: Bereits mit 16 · Kulturfinanzierung, tung einer Stiftung „Deutsches His- Rechten im ersten Quartal 2010 (Drucksache 17/1292) ging er in den Beruf und lernte die · Kulturförderung nach § 96 Bundes- torisches Museum“ Entwurf eines Sechsten Gesetzes Kommunalverwaltung von der Pike vertriebenengesetz, Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke zur Änderung des Filmförderungs- auf kennen. · Kulturpolitik allgemein, Beschlussempfehlung und Bericht (Drucksache 17/1272) gesetzes Das heißt, Ehrmann war von 1968 · Kulturwirtschaft, des Ausschusses für Kultur und Me- Debatten zur Stiftung „Flucht, Ver- an Beamter der Stadt Moers, wurde · Künstlersozialversicherungsgesetz, dien (Drucksache 17/1751) treibung, Versöhnung“ Antwort der Bundesregierung (Druck- 1988 Leiter des Personalamtes und · Medien, zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen sache 17/1307) führte schließlich von 1994 bis 2002 · Soziale Sicherung, CDU/CSU und FDP (Drucksache Antwort der Bundesregierung (Druck- auf die Kleine Anfrage der Fraktion als Städt. Leitender Verwaltungs- · Steuerrecht mit kultureller Rele- 17/1400) Entwurf eines Ersten Ge- sache 17/1356) Die Linke (Drucksache 17/944) direktor das Personal-, Organisa- vanz, setzes zur Änderung des Gesetzes zur auf die Kleine Anfrage der Fraktion Zukunft der Filmförderung und Di- tions- und Kulturdezernat der Stadt · Stiftungsrecht, Errichtung einer Stiftung „Deutsches Die Linke (Drucksache 17/1272) gitalisierung der Kinos Moers. Während der Kulturdezernent · Urheberrecht. Historisches Museum“ Debatten zur Stiftung „Flucht, Ver- normalerweise Wahlbeamter ist, war treibung, Versöhnung“ Ehrmann als Laufbahnbeamter nicht Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke Auswärtige Kulturpolitik gewählt, sondern bestellt worden. Kulturfinanzierung (Drucksache 17/1379) Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke Unterrichtung durch die Deutsche Ein Verwaltungsfachmann und Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke Musikveranstaltungen der (Drucksache 17/1243) Welle (17/1290) die Künste – wo kreuzen sich da die (Drucksache 17/1508) extremen Rechten im ersten Bergung und Sicherung der Wand- Evaluationsbericht 2010 der Deut- Linien? Mit Sicherheit in Ehrmanns Zukunft der Kommunalfinanzen und Quartal 2010 bilder von Prof. Ronald Paris und schen Welle das Letzte politik und kultur · Juli – August 2010 · Seite 32

Karikatur: Thomas Plaßmann Kurz-Schluss Wie ich einmal beim Zukunftsgipfel der Kanzlerin einen Blick in die Zukunft werfen durfte Impressum eit es mit meinem Schreiberlings- flüssigen dreißig Millionen Schwei- wie „Renditeoptimierung dank se- S Job nicht mehr so richtig klappt, negrippen-Impfdosen (ein geringer diertem Personal“, „doof schafft gut“ nehme ich zur Anreicherung meines Aufpreis floss...) bei den Produzenten oder „der Betriebsfrieden geht uns Lebensunterhaltes schon mal Aus- gegen ein frisch entwickeltes Hirn- doch über alles...“. Und der desolate hilfstätigkeiten an. Nun weiß ich nicht: putz-Mittel austauschen lassen. Eine Zustand unserer Gewerkschaften War es Glück – oder doch noch die Art Rohrfrei für Synapsen und Ner- dokumentierte sich eindrucksvoll in schützende Hand meines Ex-Arbeit- venbahnen, gewonnen aus edlen Roh- eher gemurmelten Kommentaren Zeitung des Deutschen Kulturrats gebers Wolfgang Schäuble, dem ich ja stoff-Derivaten im untersten Schacht Michael Sommers: „Was ist denn hier als „Embedded-Journalist“ fünf harte des Endlagers Asse. los, ich hab den Witz nicht verstan- Deutscher Kulturrat e.V. Jahre treu gedient hatte? Jedenfalls Wer nun glaubt, dass sich unter den...wann gibt’s denn endlich was Bundesgeschäftsstelle kam mir angesichts meiner aktuellen den Teilnehmerinnen und Teilneh- zu essen, kann ich noch ´n Schluck Chausseestraße 103, 10115 Berlin materiellen Situation die Einladung mern des Zukunftsgipfels Schreck Wasser haben...?“ Tel: 030/24 72 80 14, Fax: 030/24 72 12 45 ins brandenburgische Schloss Mese- und Entsetzen breitgemacht hätten, Es war der Kanzlerin höchst- Internet: www.kulturrat.de, E-Mail: [email protected] berg zum sogenannten „Zukunftsgip- sieht sich gründlich getäuscht. Zu- selbst vorbehalten, wieder Ruhe und Herausgeber fel“ der Bundesregierung sehr zupass. nächst wurde Guido Westerwelle von Ordnung in die schier rauschhaft Olaf Zimmermann und Theo Geißler Nein, nicht etwa als Gast – sondern einem Lachkrampf geschüttelt. Unter euphorisierte Runde einkehren zu Redaktion als Putzhilfe, pauschal hundert Euro permanentem Glucksen wiederholte lassen. Mit ihrer unnachahmlichen Olaf Zimmermann (Chefredakteur v.i.S.d.P), Gabriele Schulz (Stv. Chefredak- auf die Hand, zuzüglich Reste-Essen er ständig: „Wie gut, dass ich kein Schneeglöckchen-Stimme, unter teurin), Kristin Bäßler, Barbara Haack, Andreas Kolb und kostenloser Übernachtung im Wasser trink“ - griff zum I-Phone um leicht-charmanter Verknödelung der Redaktionsassistenz Dienstboten-Zelt. wenig später zu verkünden, dass die Gaumen-Laute, sprach sie schlicht Verena Kurz Weil wahrscheinlich durch ein Umfragewerte der FDP soeben um Sinnhaftes, nachdem sie auch Guido Anzeigenredaktion technisches Versehen trotz engster vier Prozentpunkte gestiegen seien. Westerwelle mithilfe des Gürtels ihres Martina Wagner, Tel: 0941/945 93 35, Fax: 0941/945 93 50 Beschränkung des Teilnehmerkreises Peter Ramsauer (CSU) bestellte sich Versace-Kostüms zum Schweigen E-Mail: [email protected] und branchenüblicher Heimlichtuerei nach einem Telefonat mit seiner Mün- gebracht hatte: Verlag die Keynotes der Zukunftswissen- chener Weißbierbrauerei, bei dem ihm „Liebe Gäste, liebe Kolleginnen ConBrio Verlagsgesellschaft mbH schaftler samt Politiker-Kommentaren die Existenz eines eigenen Brunnens und Kollegen, mir scheint, wir sind Brunnstraße 23, 93053 Regensburg, E-Mail: [email protected] ausgerechnet in die Herrentoilette glaubwürdig versichert worden war, an einem Wendepunkt der Geschichte Herstellung übertragen wurden, die ich zunächst eine dritte Halbe. Ein namhafter unseres Landes angelangt – und ich Petra Pfaffenheuser, ConBrio Verlagsgesellschaft pfleglich zu behandeln hatte, kam ich Professor der Freien Universität Ber- sage bewusst – an einem wichtigen. in den Genuss krausester Spekulati- lin rief immer wieder: „Schluss mit Stets habe ich betont, dass eine gute Druck Gießener Anzeiger Verlags GmbH und Co KG, Gießen onen und Informationen. Ich will Sie, überfüllten Hörsälen! Platz geschaffen Bildungslandschaft die Voraussetzung geneigte Leserinnen und Leser, jetzt für deutsche Eliten“! Die Vertreter der für alles ist. Jetzt bekommen diese Erscheinungsweise nicht mit primitiver demographischer Wirtschaft verfielen in ein regelrechtes Worte einen zusätzlichen Sinn im Rah- 6 Ausgaben im Jahr Spökenkiekerei, mit aberwitzigen Indianer-Geheul. Dem Tohuwabohu men der soeben bekannt gewordenen Preis/Abonnement Hochrechnungen über die Schädlich- waren nur Wortfetzen zu entnehmen Chemie-Krise. Sie werden zur echten 3,00 Euro, im Abonnement 18,00 Euro, inkl. Porto im Jahr keit des Nasenspray-Missbrauches Aufgabe. Die soziale Marktwirtschaft Aboverwaltung/Bestellmöglichkeit: bei Über-Sechzigjährigen oder über hat sich bewährt, deshalb ist es an uns, Deutscher Kulturrat e.V., Chausseestraße 103, 10115 Berlin, die Funktionsweise des Job-Motors krisenhafte Defizite durch Bildungs- Fax: 030/24 72 12 45, E-Mail: [email protected] unter besonderer Berücksichtigung maßnahmen mit aller Energie zu puk ist im Abonnement, in Bahnhofsbuchhandlungen, großen Kiosken des neoliberalen Solidaritätsbegriffes kompensieren. Ich werde deshalb die sowie an Flughäfen erhältlich. langweilen. Einnahmen aus der Brennelement- Alle Ausgaben von politik und kultur können von der Homepage des Deutschen Aber eine Plotte möchte ich Ihnen Steuer ausgewogen auf Volkshoch- Kulturrates (http://www.kulturrat.de) heruntergeladen werden. doch nicht vorenthalten: Da vermel- schulen und engagierte Privatsender Ebenso kann der kostenlose Newsletter des Deutschen Kulturrates dete ein geladener Pharmakologe, verteilen. Das Buffet ist eröffnet“. (2-3mal die Woche) unter http://www.kulturrat.de abonniert werden. dass die kürzlich erfolgte Versetzung Den aufbrandenden Beifall nutzte Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Fotos übernehmen wir keine des bundesrepublikanischen Trink- ich, um mich flink vom Toilettenkittel Haftung. Alle veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Na- wassers mit einem Anti-Demenz- zu befreien und in die Saaldiener-Liv- mentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Mittel gründlich schiefgelaufen sei. ree zu werfen. Hundert Euro wollen Deutschen Kulturrates e.V. wieder. Nach anfänglich positiver Wirkung erarbeitet sein. Rasch das Silberschäu- politik und kultur bemüht sich intensiv um die Nennung der Bildautoren. Nicht beschleunige das Medikament jedwe- felchen geschnappt und die Roßhaar- in allen Fällen gelingt es uns, die Bildautoren ausfindig zu machen. Wir freuen de Verkalkung der vorderen Zerebral- bürste – schließlich sollen sich die uns daher über jeden Hinweis und werden nicht aufgeführte Bildautoren in der Lappen und sorge für einer flotten Gestalter unserer gesellschaftlicher nächsten erreichbaren Ausgabe von politik und kultur nennen. Schwund der grauen Zellen. Höchst Zukunft proper und wohl fühlen auf Gefördert aus Mitteln des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und überrascht erfuhr ich so von einem Theo Geißler, Herausgeber von Schloss Meseberg. Schnell noch einen Medien auf Beschluss des Deutschen Bundestages spektakulären Deal: Das Bundes-Ge- politik und kultur und Moderator von kräftigen Schluck Wasser... sundheitsministerium hatte die über- „taktlos“ Foto: C. Oswald Theo Geißler inter kulturISSN 1867-5557

Juli – August 2010 Regelmäßige Beilage zu politik & kultur Ausgabe 9 Vielfalt als Reichtum? Über den Zusammenhang von Vielfalt, Migration und Integration / Von Max Fuchs

„Vielfalt ist Reichtum“, so lautet ein be- kannter Slogan im UNESCO-Kontext. Und weil dies so ist, lautet eine weitere Auffor- derung: Celebrate the Diversity! Vielfalt wäre also eigentlich ein Grund der Freude. Doch wie in allen Sätzen, in denen das Wort „eigentlich“ auftaucht, ist der Sach- verhalt ein anderer. Einen ersten Hinweis darauf, dass so recht keine Freude über die Vielfalt aufkommen will, kann man daran erkennen, dass man sich zwar politisch sehr um Vielfalt kümmert, diese aber meist sor- genvoll in Kontexten diskutiert, in denen man sich mit Migration und Integration befasst. So gibt es auch keine Minister, die ihre Zuständigkeit für Vielfalt im Namen tragen, sondern es gibt Integrationsminister und -beauftragte. Ein kurzer Blick in die entsprechenden Debatten zeigt dann auch, dass es scheinbar einen unbezweifelbaren Zusammenhang gibt zwischen Migration, vor allem der Arbeitsmigration, die sich seit den 1960er Jahren verstärkt hat, einer daraus entstehenden ethnischen und kul- turellen Vielfalt in Deutschland und einer großen Sorge um den sozialen Zusammen- halt, eine möglicherweise misslingende Integration.

s gibt also nicht bloß keine offen gezeigte E Freude über die Vielfalt, schon gar keine Feier, wie es die UNESCO empfiehlt, sondern vielmehr Sorgen und Problemlagen. Und dies ist inzwischen so selbstverständlich im Alltag angekommen, dass man sich überhaupt nicht mehr fragt, ob die Begriffsverbindung Migration – Vielfalt – Integration so zwingend ist. Um es gleich vorweg zu sagen: Diese Verbindung ist überhaupt nicht zwingend. Man kann vielmehr zeigen, dass das Problem mit einer möglicherwei- se misslingenden Integration so alt ist wie die ka- pitalistisch organisierte Industriegesellschaft und Sonia Elizabeth Barretts Obama: Black Europeans Respond. Foto: Bruno Weiss. © Sonia Elizabeth Barrett/www.sebarrett.com/YesWeCan.html überhaupt nichts mit Italienern und Griechen, mit Spaniern, Portugiesen und Türken zu tun Stelle dingend bräuchte. Daher einige Hinweise drucksvoll im ersten Buch des Kapitals unter der Dies zeigt auch der neue Begriff, den man für die hat, die man seinerzeit als Arbeitskräfte dringend für den Beleg der Behauptung. Überschrift: „Ursprüngliche Akkumulation“. Die Beschreibung dieses Sachverhalts erfand: „Inte- gebraucht hat und die heute einigen Menschen Die Industrialisierung, die mit der massenhaften zahlreichen Arbeiter erhielt man aus der Gruppe gration“. Die lateinische Wurzel suggeriert zwar, in Deutschland Unbehagen verursachen. Wenn Nutzung der Dampfmaschine rund um die Jahr- der Bauern, bei denen man mit nicht sehr sanften dass es ein alter Begriff ist. Dies ist nicht der Fall. dies aber so ist, dann läuft offenbar Einiges in hundertwende 1800 begann, brauchte riesige Mitteln dafür sorgte, dass sie ihre Dörfer und „Integrare“ als (Wieder-)Herstellung von Ganzheit der politischen Diskussion schief. Dann tritt auch Mengen an Eingangskapital und noch größere Höfe verließen. Wie groß der kulturelle Wandel oder „integer“ im Sinne von unversehrt weisen die Relevanz der Frage zurück, ob das Problem Mengen an Arbeitskräften für die neu entste- von einer Lebensweise, die sich an Jahreszeiten darauf hin, dass eine starke Sehnsucht nach einem mit „Interkultur“ oder mit „Transkultur“ richtig henden Fabriken. Ersteres erwarb man durch und Sonnenständen orientierte, hin zu einer verloren gegangenen Dorfidyll dahintersteckt, das erfasst wird – ein Nebenkriegsschauplatz, der die flächendeckende Ausplünderung von großen gnadenlos ausbeutenden Fabrikarbeit in schnell natürlich nie in dieser Weise existiert hat. Denn geistige Energien bindet, die man an anderer Teilen der Welt, Karl Marx beschreibt sie ein- zusammengeschusterten neuen Stadtteilen war, das gemeinsame Einstehen füreinander in Notla- kann man sich kaum ausmalen. Es geht die Re- gen, etwa bei Bränden, hatte als andere Seite der dewendung, dass fromme Katholiken ihre Dörfer Medaille eines Lebens im Dorf eine große soziale verließen und Heiden in der Stadt ankamen. Kontrolle. Die zivilisatorische Errungenschaft Zu den Bildern dieser Ausgabe Alles, woran man früher glaubte, die politische der Stadt war daher genau die: Gewaltfrei mit Ordnung, die Kirche, die einem sagte, was man Fremden umzugehen. Das musste so sein, denn Das Thema kulturelle Identität, grenzüber- ist, dass die vielfältigen Möglichkeiten des In- zu tun und zu lassen hatte, all dies war von einem die Städte lebten von den Fremden, die auf die schreitende Mobilität und kreative Selbstver- ternets (d.h. Bilder, Texte, Audio, Video, Musik, Tag auf den anderen wertlos. Gleichzeitig begann Märkte kamen, ihre Geschäfte machten oder die ortung sind seit jeher ein Sujet künstlerischer etc.) aktiv genutzt werden können und so ein eine neue Art der Selbstorganisation der Arbei- Städte als Verkehrsknotenpunkte benutzten – also Ausdrucksformen. Im Hinblick auf die weltwei- ortsunabhängiger künstlerischer Austausch ter. Grund genug für die Inhaber der politischen auch alles Aspekte von Migration. Hier war es ten Migrationsbewegungen gewinnen diese As- stattfinden kann. So will die Plattform selbst Macht, sich Sorgen darüber zu machen, ob das die Gesellschaft und nicht die Gemeinschaft, die pekte noch einmal eine ganz neue Bedeutung. ein „Zwischenraum für transitorische Um- alles gut gehen kann. Dies ist die Entstehung des funktionieren musste. In der Praxis funktionierte Wie gehen Künstler mit ihren Mobilitätser- deutungen von Innen und Außen, Eigen und Problems mit der Integration. Es hat zwar auch dies auch, die Ideologen und Theoretiker taten sich fahrungen um, die sie persönlich machen und Fremd in der Sprache von Malerei, Photografie seine Ursache in der Migration, aber es war eine aber schwer damit. Immer musste es mehr sein als die inhärenter Bestandteil der internationalen und Literatur“ sein. Zudem sollen, so die Idee inländische Arbeitsmigration, die ihre Ursache im eine bloße friedliche Koexistenz, die den Anderen Künstlerszene sind? der Initiatoren der Böll-Stiftung, „die vielfäl- Wandel der Gesellschaft und ihrer Wirtschaftwei- respektierte, so wie er war. Man kann mit vielen tigen Stimmen, die in anderen künstlerischen se hatte. Es entstand sogar eine komplett neue Ethnien gut zusammen leben, so meine These, Auf der Internetseite der Heinrich-Böll-Stif- und literarischen Kontexten kein oder nur Wissenschaftsdisziplin, die Soziologie, die sich wenn die Integrationserwartungen an diese nicht tung (http://www.migration-boell.de) können selten Gehör finden, zu Wort kommen“. um die „soziale Frage“ kümmerte. Diese soziale so hoch gesteckt werden. Das Römische Reich Künstler ihre bildende und schreibende Kunst Frage betraf aber weniger die beklagenswerte existierte z. B. auch deshalb als Vielvölkerstaat so vorstellen und zeigen, wie sie sich mit ihrer Die Beilage INTERKULTUR zeigt in dieser Aus- Lage der Menschen, sondern vielmehr die Frage untypisch lange, weil von den eroberten Staaten kulturelle Identität, grenzüberschreitender gabe Werke einige der Künstler, die in der „di- der Erhaltung der Massenloyalität. Die zentralen lediglich verlangt wurde, dass sie Steuern zahlen. Mobilität und damit ihrer kreativen Selbstver- gitalen“ Galerie der Heinrich- Böll-Stiftung zu Stichwörter der großen Soziologen waren daher Politisch Strukturen und religiöse Bekenntnisse ortung auseinandersetzen. Der „Zwischenraum sehen sind. Darunter Sonia Elizabeth Barretts „Gemeinschaft“ (als emotional verbundenem ließ man unangetastet. für Kunst und Migration“, den Olga Drossou, „Obama: Black Europeans Respond“, Christina sozialen Zusammenhang), „Anomie“ (als das Und heute? Die Sorge um den Zusammenhalt ist Heinrich-Böll-Stiftung, auf Seite 3 dieser Beila- Kratzenbergs Fotografie „Schöngartenstraße Fehlen von Regeln) und Selbstmord. Von der nach wie vor groß: Als Wilhelm Heitmeyer vor ei- ge ausführlich vorstellen wird, bietet Künstlern – Asylsuchende in Deutschland“, Cristina de Bismarckschen Sozialgesetzgebung bis zur Ein- nigen Jahren zwei Bände darüber veröffentlichte,

die Möglichkeit, Arbeiten zu präsentieren, Santanas „SELF PORTRAIT“, sowie Farida führung eines flächendeckenden Schulsystems, was die Gesellschaft zusammenhält bzw. was sie

die sich mit den Kernthemen Diversität und Heucks „Global Immigration Service Berlin“. dessen zentraler Inhalt christlich-patriotische auseinander treibt, nahmen die Ausführungen Migration in ihren Facetten von kultureller Werteerziehung war, lassen sich die meisten ge-  Identität auseinandersetzen. Interessant dabei Die Redaktion sellschaftlichen Entwicklungen auf die Sorge um Seite 2 den Zusammenhalt/Machterhalt zurückführen. inter kultur politik und kultur • Juli – August 2010 • Seite 

• • • • • • • •  Zugewanderten zu tun hat, sondern strukturell schon stattfindenden kulturellen Wandel, man vielfältiger dynamischer Mischungsprozesse Fortsetzung von Seite 1 zu unserer modernen Gesellschaft gehört – die ignoriert den immer schon vorhandenen kultu- ist – gleichgültig, ob man diesen dynamischen Schuldfrage schnell und leichtfertig geklärt: Die rellen Austausch, die immer schon vorhandenen Vorgang mit „Interkultur“ oder „Transkultur“ Vielfalt als Reichtum? Ausländer sind schuld. Die Politik reagiert darauf Wanderbewegungen, die sich bis in die Steinzeit bezeichnet: In der Mischung liegt die Kraft, nicht immer wieder eindeutig falsch. Und hier spielt die belegen lassen: Migration ist keine Gefährdung in der (ohnehin vergeblichen) Reinhaltung. Die zur Des-Integration mehr als zwei Drittel des Debatte über eine deutsche Leitkultur eine fatale der „Kultur“, sondern die Quelle von kultureller Gefährdung der Gesellschaft existiert allerdings Gesamtumfangs ein. Wir leben offenbar in einer Rolle. Ursprünglich von Bassam Tibi als „euro- Entwicklung. auch. Sie geht aber nicht von Kopftüchern aus, Gesellschaft, die es gar nicht geben dürfte, weil päische Leitkultur“ ins Gespräch gebracht, die Vielfalt, so wie sie auch durch Migration ent- sondern sie ist der modernen, kapitalistisch or- die Sprengkräfte um vieles größer sind als die sich auf die Menschenrechte bezog, bekam der steht, ist also tatsächlich ein Reichtum. Es wäre ganisierten Massengesellschaft strukturell in die Kräfte des Zusammenhalts. Begriff schnell eine „patriotische“ und nationale schon viel gewonnen, wenn aus der Debatte die Wiege gelegt. Heute wird – entgegen der historischen Ent- Wendung. Und so schraubt man mit unsinnigen Betonung des Problembeladenen herausgenom- wicklung und entgegen der Erkenntnis, dass die Vorstellungen die Messlatte für „gelingende Inte- men werden würde und man erkennen könnte, Der Verfasser ist Präsident des Gefährdung des Zusammenhalts wenig mit den gration“ immer höher. Man ignoriert den immer dass die noch so „teutonische“ Kultur Ergebnis Deutschen Kulturrates

Popkultur und ihre Diversifikation Chancen und Risiken für Künstler und Newcomer / Von Udo Dahmen

Nachdem Popkultur seit nunmehr sechzig Jahren Bestandteil der Gesellschaft ist, be- finden wir uns heute an einem Punkt, den man als Weichenstellung betrachten kann. Die Popkultur, ehemals eine auf soziale Rand- und Protestgruppen eingrenzbare musikalische Bewegung, hat sich aus der Szene der Halbstarken und des Rock’n’Roll und über die Erlangung poltischer Rele- vanz im Sinne der Antihaltung gegenüber globalen Ungerechtigkeiten, Reizthemen wie Vietnam, Rassismus in den USA und Kalter Krieg sowie als akustischer Begleit- rahmen der sexuellen Revolution und der Friedensbewegung hinein entwickelt in einen Dschungel der Möglichkeiten, in ein gigantisches multikulturelles Spiel an Klang, Sprache und Farben.

ie kaum noch katalogisierbare Vielfalt an D Genres und Subgenres in Mainstream und Subkulturen schlägt einen Rahmen, der nichts anderes ist, als eine symmetrisch zur gesamtge- sellschaftlichen Individualisierung aufgestellter Spiegel. Pop hat längst die Szene der kulturellen Rebellion verlassen, zeigt aber über den Weg des Imitats alltäglicher Normalität eben das Abbild auf, das wir im Allgemeinen als „Gesellschaft“ bezeichnen. Die damit einhergehende und sich immer komplexer auffächernde Diversifikation und Vielfalt an Möglichkeiten, wie wir sie derzeit im Großen, in der globalisierten Gesellschaft erleben, findet auch in der Popkultur statt. Pop- musik in der Gegenwart stellt sich nicht mehr als monolithischer Block dar. Die großeUnbekannte, das faszinierende und zugleich irritierende am Pop existiert als solches nicht länger. Pop ist begreifbar, weil Pop in jeder Nische angekom- men ist. Selbst radikale politische oder religiöse Ansichten werden seitens der Popkultur bspw. durch Mode oder Streetart aufgegriffen, stilistisch kommentiert und dadurch ikonisiert. Dies gilt auch für ehemals exotische, subkulturelle Genres der Popularmusik. Was gestern im Underground blühte, wuchert heute im Mainstream und ist morgen schon digital archivierte Popgeschichte. Zugleich gibt es jedoch keine Verknüpfungen mehr zwischen den verschiedenen Spielarten. Seitens der Künstler sind klare Trennungen erwünscht, was den Markt vergleichsweise un- problematisch in klar gruppierte Konsumenten und deren Gewohnheiten aufteilt. Für die nachwachsende Generation an Musikern, die sogenannten „Newcomer“, die hinsichtlich ihrer Geburtenjahrgänge und ihrer kulturellen Christina Kratzenbergs FotografieSchöngartenstraße – Asylsuchende in Deutschland. Foto: Christina Kratzenberg/www.christina-kratzenberg.de und technischen Sozialisation auch sogenannte „Digital Natives“ sind, bedeutet dies zweierlei: scheide ich mich? Was nehme ich wahr und was besteht Nachholbedarf. Unter dem Druck der Ge- Entwicklungen der projektbeteiligten Schüler be- Zum Einen ist der Kampf um die lukrativen Jobs nehme ich an? Welches sind meine kulturellen sellschaft sollten kulturpolitische Entscheidungen obachten zu können, bleiben die Schülerbezugs- und Verträge ungemein härter geworden, denn Bestandteile? Diese Fragestellungen werden in in Richtung interkultureller Ausrichtungen, gruppen über die gesamte Projektdauer hinweg nach wie vor laboriert die Musikbranche daran, den kommenden Jahren zunehmen. Übertragen Integrationsbestrebungen und der Tatsache gleich. Im Sinne einer positiven und nachhaltigen den Entwicklungen des digitalen Zeitalters nicht auf die Problematik des Popmusikers bedeutet gestaltet werden, dass uns bereits heute breite Projektentwicklung ist darüber hinaus die Ein- früh genug mit für alle Beteiligten wirtschaftlich dies letztlich die Entscheidung, in welchem Gesellschaftsschichten verloren gehen oder schon beziehung der Eltern ein wichtiger Aspekt. Das funktionierenden Modellen Rechnung getragen Umfeld er sich und seine Projekte verwirklichen gar nicht mehr erreichbar sind. Projekt wird über den gesamten Zeitraum von zu haben. Zum Anderen eröffnet sich dem heu- möchte und ob ihm dies auch über internationale Migranten der zweiten und dritten Generation drei Jahren wissenschaftlich begleitet und eva- tigen Künstlernachwuchs eine riesige Chance und damit kulturelle Grenzen, aber auch über können wir jedoch in ihren Lebenswelten be- luiert. Seit Oktober 2009 arbeiten wir mit InPop zum wirklich freien, von der Industrie nicht mehr Sprachbarrieren hinweg gelingen kann. gegnen und sie an den neuralgischen Punkten an fünf ausgewählten Mannheimer Schulen. Wir bevormundeten Kreativprozess, an dessen Ende Gelingt es, wenn ein Kulturvermittler den Mig- ihrer kulturellen Handlungsfelder abholen und sind sehr dankbar, dass dieses Pilotprojekt mit ein individuelles Werk und damit die Selbstver- ranten Mozart oder andere dem klassischen Mu- den Dialog mit ihnen suchen. Populäre Musik in bundesweitem Modellcharakter mutige Förderer wirklichung stehen können. Außerdem bietet die sikunterricht in der Schule entnommene Inhalte all ihrer Diversifikation als sozialer Motor und gefunden hat und vom Bundesministerium für Diversifikation neben ihren gerade durch neue nahebringt? Ein solches Vorgehen kann meines integrierendes Medium im Lebensalltag junger Bildung und Forschung, dem Ministerium für Medien und das Web 2.0 regelrecht befeuerten Erachtens nur schwer der richtige Schlüssel sein. Migranten, dies war auch der grundsätzliche Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg Dialogmöglichkeiten auch die einzigartige Mög- Die Popmusik als international verständlicher Ausgangspunkt für InPop (Integration, Popmu- und der Stadt Mannheim unterstützt wird. lichkeit, Zielgruppen, wie sie unterschiedlicher Code, das Medium Musik als solches, kann an sik, Schule), das Integrationsprojekt der Pop- Schon nach dem ersten halben Jahr wird deut- nicht sein könnten, vergleichsweise einfach zu- dieser Stelle einen entscheidenden Beitrag leis- akademie Baden-Württemberg. Dozenten und lich, dass die soziale Kulturarbeit, die hier seitens sammen zu führen – und zu integrieren! ten. Rap und HipHop bspw. können hier neue Studierende der Popakademie bieten im Rahmen unserer Institution geleistet wird, im Zusammen- Wege aufzeigen und holen die Jugendlichen von InPop rund 200 Kindern und Jugendlichen spiel mit den Kindern und Jugendlichen wirkt. Interkulturelles Wirken und das Beispiel mit Migrationshintergrund dort ab, wo sie sich der zweiten und dritten Migrantengeneration Erste Verbesserungen im sprachlichen Umgang

InPop / Neue Wirkungsfelder für Künstler aufhalten und entwickeln zusammen mit den wöchentlich stattfindenden Musikunterricht in der jungen Menschen untereinander sind eben- im Bereich Populäre Musik Betroffenen eine neue, universelle Sprache. Die den Schulen an. Ziel ist die Verbesserung der so zu bemerken, wie ein allgemeines und stetig Internationalität findet heute bereits vor der eige- Sprache der Popmusik und ihrer Popkultur. Integration der Kinder und Jugendlichen, ins-  nen Haustüre an. Dies wirft Fragen – auch für die An der Schnittstelle der an popkulturellen Anker- besondere durch Förderung ihrer sprachlichen, Seite 3 Popkultur – auf: Wer bin ich selbst? Wofür ent- punkten andockenden sozialen Erlebniswelten sozialen und kreativen Kompetenzen. Um die inter kultur politik und kultur • Juli – August 2010 • Seite 

• • • • • • • •  so wird die Ausweitung der Weiterbildung der in den Städten und damit in den kulturellen Arbeit mit Integration und Populärer Musik als Fortsetzung von Seite 2 Lehrer sowohl im Personenkreis als auch in der Ballungsräumen. Dort wo die popkulturelle wichtigen Bestandteil der Ausbildung begreifen. Tiefe angestrebt. Nach Projektabschluss sollen die Diversifikation am stärksten auf eine multikul- An dieser Stelle eröffnet sich für den Künstler wachsendes Interesse am kreativen Arbeiten in Erkenntnisse allen Bundesländern als Grundlage turell aufgebaute Bevölkerungsstruktur trifft, und Musikschaffenden ein neues Wirkungsfeld. der Gruppengemeinschaft, also bspw. der Band zur Übertragung der Initiative über Baden-Würt- sind kompetente Vermittler gefragt, welche die Nicht nur, dass ihm sein Einsatz im Rahmen – und damit im Team. Unsere ins Projekt invol- temberg hinaus zur Verfügung gestellt werden. unzähligen Botschaften der Populären Musik solcher Coachingmodelle die Möglichkeit zu ei- vierten Studierenden und Dozenten erhalten Dies bestätigt uns in unserer Annahme, dass im entsprechend empfangen und entschlüsseln ner Erweiterung seiner Verdienstmöglichkeiten viel positives Feedback auf ihre Coachings und pädagogischen Kontext angewandte Populäre können. Sensibilität und Verständnis sind hierfür bietet. Vielmehr ist sein Gespür für die Trends machen die Erfahrung, dass die Kinder und Musik für eine Optimierung des interkulturellen zwingende Grundvoraussetzungen, ohne die der und Codes innerhalb der Populären Musik der Jugendlichen am liebsten über die einzelnen Austauschs innerhalb der Gesellschaft und ihrer gemeinsame und kreativ gesteuerte Lernprozess Taktgeber für den Dialog mit der Zielgruppe der Einheiten hinaus weiter miteinander musizieren Gruppen wirkt. Insbesondere die Implementie- bei den Adressaten nicht angestoßen werden zu integrierenden gesellschaftlichen Gruppen. würden. Das Projekt InPop soll bereits während rung solcher Ansätze in den schulischen Alltag kann. In der Popakademie Baden- Württemberg des Projektverlaufes in die Fläche, explizit auf auf der Basis kreativen und musikalischen Ar- wird im zukünftigen, neuen Masterstudiengang Der Verfasser ist Künstlerischer Direk- ausgesuchte Schulen in Baden-Württemberg beitens könnte der Schlüssel sein zu einer besser Populäre Musik ab dem Wintersemester 2011/12 tor und Geschäftsführer der Popaka- und Rheinland-Pfalz ausgedehnt werden. Eben- gelingenden Integration junger Migranten, gerade der Studienschwerpunkt „Musikvermittlung“ die demie Baden-Württemberg

Zwischenraum für Kunst & Migration Ein Online-Projekt der Heinrich-Böll-Stiftung / Von Olga Drossou

„Zwischenraum für Kunst & Migration“ ist um Sichtbarkeit und Anerkennung jenseits wir waren, haben wir nicht gemerkt, dass wir schwer zu überwindende Grenzen dessen ein Online-Projekt auf der Themenwebseite gesellschaftlicher Zuschreibungen ringen müs- ein neues Ghetto geschaffen haben. Erst im Kehrseite. Eine andere Perspektive auf den der Heinrich-Böll-Stiftung zu Migration, sen, aber auch für diejenigen, die dabei bereits Nachhinein hat sich das gezeigt.“ Kolonialismus nimmt das Panorama „Residents Integration und Diversity (www.migration- erfolgreicher waren. Ähnliche Entwicklung haben viele andere Schrift- only” von Sandrine Micosse ein. In Szenen von boell.de). Dieser virtuelle Raum ist als Open Das Projekt „Zwischenraum für Kunst & Migrati- steller durchlaufen. Auch der in den 1970er Jah- Badespaß der durch die globale Reiseindustrie Space für die Präsentation künstlerischer on“ lädt ein zur Erkundung der vielfältigen gesell- ren eingewanderte Zafer Senocak, der heute als in die Länder des Südens ausschwärmenden Arbeiten konzipiert, die sich mit den Kern- schaftlichen Praxen und Auseinandersetzungen, Repräsentant der neuen deutschen Literaturszene Touristen, montiert sie Bilder von Boatpeople themen Diversität und Migration in ihren die alle zur Veränderung der Alltagskultur, der durch die Welt tourt. Standen für ihn zu Beginn und erweitert das kollektive Gedächtnis um eine Facetten von (trans-)kultureller Identität Künste sowie des vorherrschenden Kulturver- seines Schaffens noch Bilder des Dazwischen im verstörende Perspektive. und grenzüberschreitender Mobilität aus- ständnisses im Einwanderungsland Deutschland Mittelpunkt, reflektiert seine Schreibposition Im multimedialen Projekt „The Border“ drückt der einandersetzen. Unterteilt in eine Galerie beitragen. Einige der möglichen Erkundungen heute beispielsweise zwischengeschlechtliche mazedonische Künstler Zoran Poposki das beklem- und eine Bibliothek, werden Werke und seien hier exemplarisch vorgestellt. Figuren, mit denen er „festgesetzte Grenzen mende Gefühl des Eingezäuntseins aus, das heute Selbstkommentare von Künstlern sowie aufzulösen, auch Gegensatzpaare wie Mehrheit von vielen, besonders jungen Menschen auf dem Leseproben und Interviews von Autoren Vom „Dazwischen“ zum „Zwischen- – Minderheit, Norm – Abnorm, männliche – weib- Balkan geteilt wird, die sich ohne Freizügigkeit präsentiert. In diesem Projekt in progress raum“ liche Identität zu verschieben“ sucht. von der Teilhabe an der Welt ausgeschlossen füh- werden jeden Monat jeweils ein Autor bzw. Seit über 40 Jahren suchen mittlerweile drei Ge- Dass Grenzen und Ausgrenzungen nicht vor- len. Ähnliche Erfahrung verarbeitet Otu Tetteh, eine Autorin und ein Künstler bzw. eine nerationen eingewanderter Autoren ihren Weg gegeben, sondern gesellschaftspolitische Kons- der sich in seinem Video „You are Welcome“ mit Künstlerin neu vorgestellt. in die deutsche Literatur. Es ist ein Weg von den truktionen sind, in denen sich Interessen und der verzweifelten Situation vieler in ihren Ländern Rändern ins Zentrum. Ihre langjährige Ausgren- Interessengegensätze ausdrücken, bringt der eingezäunter Afrikaner auseinandersetzt. Die Se- erner bieten Online-Dossiers zu verschie- zung und (Selbst-)Ghettoisierung scheint heute, hintersinnige Audio-Clip von Tigist Selam „Der lektivität und Widersprüchlichkeit der deutschen F denen interkulturellen Themen Hintergrund- auch im Kontext der Anerkennung Deutschlands Raum“ zum Ausdruck. Sie entwirft die Situation und europäischen Migrationspolitik setzt die In- informationen und vertiefende Analysen. Bereits als Einwanderungsland, weitgehend überwun- einer quasi polizeilichen Befragung der „Frem- stallation „Global Immigration Office“ von Farida erschienen sind die Dossiers „Migrationsliteratur den. „Eingezogen in die Sprache, angekommen den“ in einem Verhörzimmer, in der die Fragen Heuck ins Bild. – Eine neue deutsche Literatur?“ sowie „HipHop in der Literatur“ lautete das Motto, unter dem den Anschein harmloser Neugierde verlieren Ausgrenzung kann sich aber auch in Sprach- zwischen Mainstream und Jugendprotest“. 2008 die Deutsche Akademie für Sprache und und als unerträgliche Klischees und Stereotype losigkeit äußern. Wer keine Rechte hat, ist Dichtung ihre Herbsttagung über „Positionen des spürbar werden. sprachlos. Das ist ein mehrfach wiederkehrendes Denkanstöße Schreibens im Einwanderungsland“ abhielt. Andere Künstler verorten sich im Dritten Raum Motiv in der Galerie. So in den Video- und Eine solche Bewegung seiner Selbstverortung durch postkoloniale Strategien der Umdeutung Fotoarbeiten „Baba“ und „I love to you“ von Anregungen verdankt das Projekt der Nobelpreis- vom Rand zu einem zum Dritten Raum gewan- und Erweiterung des kollektiven Bildgedächt- Heimo Lattner, der sich mit der fragilen Situati- vorlesung von Heinrich Böll „Versuch über die delten Zentrum vollzieht beispielsweise Franco nisses. So zum Beispiel Raijkamal Kahlon mit on von entrechteten Wanderarbeitern irgendwo Vernunft der Poesie“ von 1973, in der er Kunst Biondi, einer der bekanntesten Autoren der ihren verstörenden „Dummy Boards”, dreidi- in einem arabischen Emirat auseinandersetzt. und Poesie als „Zwischenraum“ beschreibt – als ersten Arbeitsmigrantengeneration aus Italien. mensional gestaltete Bilder, die das kolonialisierte Sprachlosigkeit zu überwinden, ist das Anliegen lebendige und transitorische Alltagserfahrung Zunächst als Fabrikarbeiter tätig, prägte er in Subjekt nach dem Ende des Kolonialismus in den von Beldan Sezen. Ihre Serie von Holzkoh- unseres Grundbedürfnisses nach Spielen, Fliegen, den 1970er-Jahren den Begriff „Gastarbeiter- Raum des ehemaligen weißen Herren zurückholt lezeichnungen „Silence is death“, angelehnt Ungebundenheit und Widerstand gegen Zwänge literatur“. Heute sieht er darin eine Praxis der und ihn mit dieser anderen Erinnerungskultur an den Slogan der AIDS-Bewegung, will die und Zuschreibungen. Selbstmarginalisierung: „Uns hat es wütend konfrontiert hatten. Tabuisierung und Diskriminierung der gleichge- Weitere wichtige Anstöße verdankt es der Kon- gemacht, wie wir stigmatisiert wurden, wie wir schlechtlichen Sexualität – gerade auch in den zeption des „Dritten Raums“ des postkolonialen immer wieder in eine besondere Ecke gesteckt Grenz - und Exklusionserfahrungen Einwanderergemeinschaften – durchbrechen, Kulturtheoretikers Homi Bhabha. Mit der „Ver- wurden. Und wir waren so gutgläubig und Immer wieder bilden Grenz- und Exklusionser- indem sie sie aus dem verschwiegenen privaten ortung der Kultur“ – so sein bedeutendes Werk leichtsinnig und haben gedacht, wir könnten fahrungen das Sujet künstlerischer Installationen in den öffentlichen Raum der Auseinanderset- von 1994 – im Dritten Raum, dem transitorischen in der Lage sein, diesen Begriff ‚Gastarbeiter’, und Objekte. Während der Tourismus die glän- zung mit der Gleichheitsnorm versetzt.

Nicht-Ort einer „transnationalen Kultur“ – öffnet ‚Gastarbeiterliteratur’ ins Gegenteil zu wenden, zende Vorderseite eines Systems asymmetrisch er den Blick für neue Sichtweisen und ein ande- als Möglichkeit, die Gesellschaft anzugreifen gestalteter Grenzüberschreitungen zugunsten  res Verständnis von Identitätskonstruktionen und und zu zeigen ‚Wir sind da’. So blauäugig wie der Eigentümer von Geld und Visa ist, bilden Seite 4 kultureller Interaktion, das über die geläufigen dichotomischen und distanzierenden Gegensätze oder Zugehörigkeiten wie Ich – Anderer, Erste Welt – Dritte Welt, Hier – Dort, Eigen – Fremd weit hinausgeht. In der künstlerisch verarbeiteten Erfahrung von Migration in den vielfältigen kulturellen Bezie- hungen entstehen im Zwischenraum – im Transit zwischen dem Hier im Jetzt (dem Aufenthaltsort im historischen Kontext) und dem Dort der Her- kunft – neue kulturelle Mischformen aus Erinne- rungskultur und Zukunftsperspektiven, hybride Identitäten und neue gesellschaftliche Praxen. Im Zeitalter der Globalisierung und transnationaler Migrationsprozesse verarbeiten und gestalten die Kulturproduzenten aller Art aktiv ihre Lebens- welt und verändern sie dadurch.

Kulturelle Entwicklungen, Themen, Motive Im „Zwischenraum für Kunst und Migration“ werden unterschiedliche künstlerische Projekte und Selbstverortungen von Künstlern und Au- toren präsentiert. Entscheidend für die Auswahl ist dabei nicht ihre Herkunft, sondern ihr Werk, ihre besondere Gestaltung des „Zwischen“. Ge- meinsam ist ihnen, dass sie durch ihre dauerhafte oder transitorische Präsenz in Deutschland und ihren eigenen Ausdruck zur Weiterentwicklung und Bereicherung der deutschsprachigen Lite- ratur und Kunst beitragen. Hier wird ein Forum geboten für Autoren und Künstler unterschied- licher Generationen und Kunstrichtungen, die vor dem Hintergrund der Vermachtungs- und Marginalisierungstendenzen im Kulturbetrieb Cristina de Santanas SELF PORTRAIT. © Cristina de Santana/http://cristinadesantana.blogspot.com inter kultur politik und kultur • Juli – August 2010 • Seite 

• • • • • • • •  Transits bis hin zur Lebens- und Arbeitsweise tung“ vielleicht aus Angst vor Reduzierung ihrer tur- und Literaturräume, das die Erfahrung des Fortsetzung von Seite 3 der Übersetzung. Literatur auf die biografische Besonderheit der Scheiterns von Kommunikation und die Irritation Ironisch weist der aus Bosnien stammende Autor Autorin eher skeptisch gegenüber. Gleichwohl der Wahrnehmung in den Vordergrund rückt. Zwischenraum für Kunst & Saša Stanišic die existenziell bedrohliche Fremd- ziehen ihre Hauptfiguren von Roman zu Roman Es gibt viel zu entdecken im „Zwischenraum für Migration heitserfahrung zurück und erklärt sie zur Grund- von einer Metropole in die andere um. Kunst & Migration“. Man kann die Erfahrung lage seiner Produktivität: „Ja, Fremdheitsgefühle Übersetzung und Missverstehen sind wiederum machen, dass unsere kleine Welt selbstbezüglicher Leben in Metropolen – Leben im Transit habe ich. Ständig. Überall. In Frankreich, wenn ich für Ana Bilakov grundlegende Motive. „I spend Kulturdiskurse eingewoben ist in einen globalen – Leben in der Übersetzung die Karte nicht lesen kann, in Australien, wenn ich my time translating. From one to the other, to the Kontext. Migranten sind wir, fast überall. Städte, besonders die multikulturellen Metro- die Landschaft nicht verstehe, in Bosnien, wenn third, then back and again from the beginning. I polen sind Laboratorien, in denen neue Formen mir das Macho-Gehabe mal wieder unterkommt, am translating languages, pictures, thoughts, fee- Die Verfasserin ist Redakteurin von des Zusammenlebens erprobt und Trends für die in Deutschland, wenn ich den Debatten über den lings, ideas.” In ihrem Werkkomplex „Inventing www.migation-boell.de und Projekt- Zukunft entwickelt werden. Zahlreiche Arbeiten Kulturclash zuhöre. Ich bin eigentlich permanent a Space“ beschäftigt sie sich mit Fragen der Poetik leiterin bei der Heinrich-Böll-Stiftung. in der Bibliothek und Galerie setzen sich mit und überall fremd. Wäre ich das nicht, würde ich und Politik der Dislokalität. Auch für Yoko Tawa- Zum Projektteam gehören auch die den Erfahrungen in diesem Labor auseinander. sofort aufhören zu schreiben.“ da gehören Übersetzen, Leben und Schreiben in Literaturwissenschaftlerin Sibel Kara Die Motive reichen von der Globalisierung, der Während Stanišic sich eher im Überall verortet, mehreren Sprachen zu den Grunderfahrungen. und die Künstlerin und Kuratorin Fremdheitserfahrung über die Erfahrung des steht die Schriftstellerin Yade Kara einer „Veror- Sie favorisiert ein Schreiben im Transit der Kul- Sandrine Micosse.

Gleichberechtigte Partnerschaft Migrantenorganisationen als Träger von Freiwilligendiensten / Von Irene Krug

Jugendfreiwilligendienste in Deutschland Anteil von 18,6% an der Gesamtbevölkerung. Projektziele sind: · Organisatorische und verwaltungstechnische beschreiben eine Erfolgsgeschichte. Rund Davon sind 5,8 Millionen jünger als 25 Jahre, ihr Durchführung der Freiwilligendienstes. 500.000 junge Menschen haben seit den Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt 27,2%. · Gleichberechtigte Partizipation von jungen Migrantenorganisationen, die selbst Träger von Anfängen in den 1950er-Jahren des letz- Schätzungen gehen noch darüber hinaus. In Bal- Menschen mit Migrationshintergrund in den Jugendfreiwilligendiensten werden, schaffen ten Jahrhunderts daran teilgenommen, lungsräumen ist der Anteil heute schon höher. Jungendfreiwilligendiensten durch ihre Angebote gute Beispiele, vermitteln konnten Bildung und Orientierung erfah- Durch diesen Zahlenvergleich wird die dringende · Qualifizierung von Migrantenorganisationen jungen Migrantinnen und Migranten Wissen ren, Verantwortung für andere Menschen Notwendigkeit deutlich, mit geeigneten Maßnah- zu Trägern für das Freiwillige Soziale Jahr über die Freiwilligendienste, eröffnen Zugänge übernehmen und sich für die Gesellschaft men junge Menschen mit Migrationshintergrund durch Know-How Transfer und bauen Brücken für eine aktive Teilhabe an engagieren. Als besondere Form des Bür- besser in die Jugendfreiwilligendienste einzu- · Aufbau von Freiwilligendiensten in Träger- der Zivilgesellschaft. gerschaftlichen Engagements bieten vor binden. Gerade die Jugendfreiwilligendienste schaft von Migrantenorganisationen Durch eine kultursensible zielgruppenspezifische allem die Jugendfreiwilligendienste für die sind wegen ihrer informellen Bildungspotentiale · Unterstützung interkultureller Öffnungspro- Ansprache und die Nähe zu den Communities Freiwilligen die Möglichkeit des Auspro- besonders geeignet, die Engagement- sowie zesse auf individueller und institutioneller können die Freiwilligendienste ihre Angebote bierens und des Bewusstwerdens eigener die Bildungs- und Beschäftigungsfähigkeit der Ebene: gezielter auch an Menschen mit Migrations- Fähigkeiten. Sie fördern das Wissen um Freiwilligen und ihre soziale und berufliche - gleichberechtigte Teilhabe von jungen Freiwil- hintergrund herantragen. Teilnehmende im individuelle Stärken und Schwächen, so- Integration zu fördern. ligen mit und ohne Migrationshintergrund Freiwilligen Sozialen Jahr bei einer Migranten- wie die persönliche Eignung für berufliche Am 1. Dezember 2008 startete das vom Bundesmi- - Zusammenarbeit in Netzwerkstrukturen von organisation erwerben neben fachlichem Wissen Herausforderungen. Eine Teilnahme am nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jun- Migrantenorganisationen und traditionellen vorrangig auch interkulturelle und Diversity Jugendfreiwilligendienst bedeutet für die gend (BMFSFJ) und dem Land Berlin gemeinsam etablierten Trägern Kompetenzen, die als Schlüsselkompetenzen Freiwilligen in den verschiedenen sozialen, geförderte dreijährige Projekt „Migrantenorgani- auf dem Arbeitsmarkt gefragt sind. Potenziale kulturellen, sportlichen und ökologischen sationen als Träger von Freiwilligendiensten“. Es Akteure und Stärken von Menschen mit Migrations- Einsatzfeldern Kompetenzgewinn auf indi- ist einerseits eine Säule der Initiative ZivilEngage- hintergrund wie z.B. Mehrsprachigkeit und vidueller Ebene, im Bereich der Bildungs- ment des BMFSFJ und setzt andererseits unmittel- Hauptakteure sind zum einen das Institut für interkulturelle Vorerfahrungen bereichern die und Beschäftigungsfähigkeit, sowie im Feld bar die Selbstverpflichtung der Bundesregierung Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS), das Bildungsqualität von Freiwilligendiensten und sozialer Fähigkeiten. im Nationalen Integrationsplan sowie die Auffor- seine zu den Freiwilligendiensten gemachten prägen die Pädagogische Begleitung bei diesen derung des Bundestages an die Bundesregierung Erfahrungen und Potentiale einbringt und zum Trägern. Dies ist eine wichtige Ressource für ie Jugendfreiwilligendienste mit ihren posi- aus dem Entschließungsantrag zum Jugendfrei- anderen die in Berlin ansässige Türkische Ge- die Teilnehmenden, die Einsatzstellen und die D tiven Aspekten kommen gegenwärtig nicht willigendienststatusgesetz um, eine gleichberech- meinde in Deutschland (TGD), die die zahlen- Zivilgesellschaft. allen jungen Menschen gleichermaßen zu Gute. tigte Teilhabe von Migrantinnen und Migranten mäßig größte Migrantengruppe in Deutschland Wir leben in einer sich stetig verändernden und Auch heute gilt, die Mehrzahl der Teilnehmenden zu gewährleisten und Migrantenorganisationen vertritt und die erste Migrantenorganisation, die pluralistischen Gesellschaft, die von Vielfalt ge- sind junge Frauen, haben Gymnasial- bzw. Real­ dabei zu unterstützen, selbst Träger geförderter gleichzeitig anerkannte Trägerin des Freiwilligen prägt ist. Migrantenorganisationen als fester Be- schulabschluss und sind deutscher Herkunft. Maßnahmen zu werden. Gleichermaßen hat auch Sozialen Jahres ist. standteil dieser Gesellschaft, haben als Träger für Junge Menschen mit Migrationshintergrund das Land Berlin in seinem Integrationskonzept die Weitere Migrantenorganisationen, die gegen- Jugendfreiwilligendienste die besondere Chance sind nach wie vor in den traditionellen Jugend- Aktivierung und Teilhabe von Migrantinnen und wärtig die eigene Trägerschaft aufbauen und die der wirklichen Teilhabe und gleichberechtigten freiwilligendiensten nicht so vertreten, wie es Migranten als Grundsatz und Hauptanliegen zur Anerkennung anstreben sind: Partnerschaft und schließen eine Lücke bei den ihrem Anteil an der Bevölkerung in Deutschland Förderung des Bürgerschaftlichen Engagements · Club Dialog. Verein zur Förderung des geistig- Bildungsangeboten für junge Menschen mit entsprechen würde. von Migrantinnen und Migranten herausgestellt kulturellen Austauschs zwischen russischspra- Migrationshintergrund. Worin liegen die Ursachen? Zu vermuten ist eine und bietet besonders gute Voraussetzungen für chigen und deutschsprachigen Berlinerinnen noch vorhandene Hemmschwelle junger Migrant­ die Durchführung des Projekts. Auch die christ- und Berlinern und Menschen anderer natio- Die Verfasserin ist Leiterin des Pro- innen und Migranten klassischen Wohlfahrts- lich-liberale Koalition hat sich klar zur Förde- naler Herkunft sowie zur Unterstützung der jektes „Migrantenorganisationen als verbänden gegenüber. Darüber hinaus spielen rung des Bürgerschaftlichen Engagements von Integration von Einwanderinnen und Ein- Träger von Freiwilligendiensten“ beim sicherlich mangelnde und erschwerte Zugänge Migrantinnen und Migranten ausgesprochen. wanderer. Institut für Sozialarbeit und Sozial- der etablierten Träger zu Migrantengruppen und Im Koalitionsvertrag heißt es dazu: „Hierzu wird · südost Europa Kultur. Verein der Sozialarbeit pädagogik e.V. -organisationen eine Rolle. Auch wenn der Anteil der beabsichtigte qualitative und quantitative und Kultur, mit dem Ziel, Toleranz, Völkerver- von Freiwilligen mit Migrationshintergrund bei Ausbau der Jugendfreiwilligendienste beitragen. ständigung, Integration, Frieden und Demo- den traditionellen Trägern in den letzten Jahren Wir wollen sowohl die vermehrte Teilhabe von kratie zu fördern. zugenommen hat, ist gleichzeitig ihr Anteil an der Jugendlichen mit Migrationshintergrund an den · Das Qualifizierungsangebot des ISS richtet Impressum Gesamtbevölkerung gewachsen. Somit bleibt der Jugendfreiwilligendiensten erreichen, als auch das sich dabei in erster Linie an Migrantenorga- Fakt der Unterrepräsentanz bestehen. Mehr als Ziel der Einbindung des Freiwilligen Sozialen Jah- nisationen, die sich interkulturell öffnen, in- inter kultur 15 Millionen Menschen in Deutschland haben ei- res zur Forcierung der Belange der Integration.“ dem sie junge Menschen unterschiedlicher interkultur erscheint als regelmäßige Bei- nen Migrationshintergrund, das entspricht einem Herkunft und auch deutsche Jugendliche lage zur Zeitung politik und kultur, heraus- ansprechen und mit anderen Migrantenorga- gegeben von Olaf Zimmermann und Theo nisationen und den traditionellen deutschen Geißler. Trägern zusammen arbeiten. Eine Einbe- ISSN 1867-5557 ziehung weiterer Migrantenorganisationen, Deutscher Kulturrat e.V. auch aus anderen Bundesländern wird an- Chausseestraße 103, 10115 Berlin gestrebt. Tel: 030/24 72 80 14, Fax: 030/24 72 12 45 Qualifizierungsinhalte Internet: www.kulturrat.de E-Mail: [email protected] Die Qualifizierung und Unterstützung der Or- ganisationen umfasst in erster Linie folgende Schwerpunkte: Redaktion Olaf Zimmermann (verantwortlich), · Aufbau von Trägerstrukturen für Jugendfrei- Gabriele Schulz, Kristin Bäßler, willigendienste, Andreas Kolb · Multiethnische Ausrichtung von Organisati- onstruktur, Teilnehmendenwerbung und Päd- agogik, Verlag · Konzeptionelle Ausgestaltung des Freiwilligen ConBrio Verlagsgesellschaft mbH Sozialen Jahres durch Unterstützung bei der Brunnstraße 23, 93053 Regensburg Entwicklung einer Gesamtkonzeption sowie Internet: www.conbrio.de der pädagogischen Rahmenkonzeption, E-Mail: [email protected] · Gewinnung und Beratung von Einsatzstellen, Begleitung der fachlichen Anleitung der Teil- Herstellung, Layout nehmenden in den Einsatzstellen, ConBrio Verlagsgesellschaft · Ansprache, Akquise und vertragliche Sicher- Petra Pfaffenheuser stellung junger Freiwilliger, Gefördert vom Bundesministerium für · Pädagogische Begleitung und Durchführung Farida Heucks Global Immigration Service Berlin. Holz, Plexiglas, Lack, Eisen / 2 x 2,2 m und 5 m hoch, Kott- Bildung und Forschung busser Tor, Berlin, 2008. Unterstützt durch den Hauptstadtkulturfonds. © Farida Heuck/Foto: Farida Heuck der Bildungsseminare im Freiwilligen Sozialen / www.faridaheuck.net Jahr,