Les Mâitres Des Vielles, Booklet Text by Jean Christophe Maillard Die Geschichte Der Vielle À Roue (Drehleier Oder Radleier) I
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Les mâitres des vielles, booklet text by Jean Christophe Maillard Die Geschichte der vielle à roue (Drehleier oder Radleier) im Frankreich des 18. Jahrhundert ist recht seltsam. Am Anfang ist sie ein verachtetes Intrument, gerade gut genug für musizierende Bettler. Blinde pflegten darauf auf den Straßen der großen Städte zu spielen, um das Mitleid der Passanten zu wecken. Sie war ein düsteres, monotones Instrument, das von armen und bedauernswerten Musikern gespielt wurde, und so entstand ein trauriges Bild, nachdem die Drehleier im 15. und 16. Jahrhundert noch von den Engeln gespielt wurde, die Kirchenfenster und -portale zierten. Im 17. Jahrhundert kam die vielle rasch in die Hände jener Bettler, die das Modell für Jacques Callot oder Georges de La Tour abgaben. 1636 bedauert Pater Mersenne in seiner Harmonie Universelle ganz offensichtlich, daß das Instrument so verkommen war; andere hingegen machten daraus einen Gegenstand der Verachtung, wobei sie eher die Musiker, die sich der vielle bedienten, als das Instrument selbst im Auge hatten. Lully hat den anstößigen, dafür aber desto pittoreskeren Gegenstand ein oder zweimal in seinen frühen Balletten eingesetzt, das allerdings vor allem, um den anekdotischen Effekt verschiedener seltsamer Szenen durch den unerwarteten Bühnenauftritt des Instruments noch zu verstärken. In den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts kam es nach und nach zu einigen Veränderungen. Gewiß, die Drehleier blieb ein volkstümliches Instrument, doch daneben sah man sie sich in die Fêtes galantes eines Watteau oder Lancret hineinstehlen, wo sie von irgendwelchen Landleuten bedient wird, die offensichtlich von den Tänzern eingeladen wurden. Zur selben Zeit lieferten die beiden guten Musiker Jeannot und La Roze die ersten Unterhaltungen für die gehobene Klasse, indem sie neben den üblichen kleinen Tänzen auch komplexere Stücke auf der Drehleier spielten ... und ihren Instrumenten vor allem angenehmere Töne zu entlocken wußten als es bis dahin die erbärmlichen Gaukler und Bettler gekonnt hatten. Das war der Anfang eines blitzartigen Aufstiegs. Tatsächlich gab es im französischen Instrumentenbau seit etwa 1650 eine kontinuierliche Entwicklung. Die Violine, die zunächst ein reines Tanzinstrument gewesen war, hatte zweifellos ihren Adelsbrief erhalten; die unterschiedlichen Klangfarben der Flöten, Oboen, Trompeten und Fagotte wurden von jetzt an in das präzise und runde Tutti eines homogenen Orchesters integriert. Selbst die cornemuse (Sackpfeife) stand in ihrer eleganten und kunstvollen Variante als musette à soufflet am Anfang einer ruhmreichen Phase. Die Fabrikanten untersuchten fast alle Instrumente unter dem Gesichtspunkt, ob sich das, was bislang nur in die Hände des Volkes gehört hatte, nicht in raffinierte, für die Musik der Elite bestimmte Gegenstände verwandeln ließe. Im Fahrwasser des Erfolgs, den Jeannot und La Roze erringen konnten, segelten viele Nachahmer - darunter beispielsweise Henri Bâton, ein Lautenist aus Versailles, der es in den 1720er Jahren unternahm, der Drehleier das Aussehen eines Luxusinstruments zu verleihen, das das Gegenstück zu den prächtigen Musetten aus Elfenbein und Silber sein und gleichermaßen auf der Opernbühne erscheinen sollte, dabei aber - wie das andere Instrument - auf Continuo und Bourdoni beschränkt blieb. Bâton riskierte anfangs wundersame Kombinationen, als er die schwere Mechanik einer Drehleiertastatur auf das Corpus einer Laute montierte. Das Resultat war allerdings beweiskräftig: Der Klang war mild und geschmeidig, die Tasten reagierten mit großer Präzision, waren leichtgängiger und weniger lärmend, die Bourdons weich - und alles unter Berücksichtigung der rythmischen Möglichkeiten, die die besondere Technik des coup de poignetii bietet. Die barocke Drehleier hatte das Licht der Welt erblickt. Wenig später erschienen schon die ersten Publikationen (namentlich für Musette), in denen die Verwendungsmöglichkeiten dieser neuen vielle à roue erwähnt wurden. Charles Bâton, der Sohn unseres Lautenisten, wurde selbst zu einem Virtuosen auf dem Instrument und veröffentlichte mehrere Sammlungen, deren Schwierigkeitsgrade vom Repertoire des Anfängers bis hin zur reinen Virtuosenliteratur gestaffelt waren. Die Geschichte der barocken Drehleier spielte sich innerhalb weniger Jahrzehnte ab - von etwa 1720 bis 1760. Gleichwohl wurde das Instrument bis zum Ende des Jahrhunderts gespielt, wie das Lehrbuch Belle Vielleuse beweist, das Michel Corrette 1783 herausbrachte und das auch dann noch mehrfach aufgelegt wurde, als kaum noch neue Literatur für das Instrument erschien. Die vielle war weit verbreitet. Die Damen der Aristokratie und des Großbürgertums nahmen sich ihrer mit Leidenschaft an, wie zahlreiche Portraits junger Schönheiten demonstrieren, die die Radleier mit äußerster Grazie bedienten. Königin Marie Leczinska höchstselbst und ihre Töchter benutzten sie als Zeitvertreib. Viele Meister der vielle schlugen den Weg ein, den die Herren Bâton bereitet hatten: Sie boten der Öffentlichkeit Werke, die den unterschiedlichsten technischen Fähigkeiten entsprachen. Bald nahm es das Repertoire quantitativ mit der Musik für Violine, Flöte, Musette und Cembalo auf, indessen die damaligen französischen Veröffentlichungen für Viola, Violoncello oder Oboe - wiederum rein quantitativ - hinter der Drehleier-Literatur zurückblieben. Das Programm, das Riccardo Delfino und Matthias Loibner hier vorstellen, bietet eine repräsentative Auswahl jener Formationen, denen man im französischen Drehleier-Repertoire des 18. Jahrhunderts am häufigsten begegnen konnte: Oberstimme und Baß, zwei gleiche Oberstimmen sowie zwei Oberstimmen mit Baß. Im wesentlichen richteten sich diese Kompositionen an ausgesprochen versierte Musiker; sie stellen also eine schöne Musterkollektion dar, die den Virtuosen der vielle vorbehalten war. Eine der delikatesten Aufgaben unserer Musiker war es, eine Interpretation zu finden, die dem Instrument in all seinen Möglichkeiten dient, dabei aber den verschiedenen, heute üblichen Techniken der Volkstradition den Rücken zu kehren. Dergestalt gehörte es zu den Hauptanliegen der Interpreten, sich nicht nur mit den rhythmischen Effekten des coup de poignet und der Kurbeltechnik auseinanderzusetzen, sondern auch den Begriff des ausdrucksvollen Spiels dahingehend umzuformen, daß er sich auf die meisten für die Drehleier ersonnenen Stücke anwenden ließ. Unter Verwendung aller Referenzen, die über die damaligen Methoden Aufschluß geben können, galt es dann den Versuch, die interpretatorischen Erfordernisse des barocken Repertoires mit den diversen Entdeckungen der heutigen Drehleierspieler zu versöhnen. Die instrumentalen Effekte, die Matthias Loibner und Riccardo Delfino nutzbar gemacht haben, sind nicht allesamt in Lehrbüchern niedergelegt. Das heißt, daß die besagten Methoden gewisse Aspekte oft sehr präzis behandeln, hinsichtlich anderer Punkte aber äußerst rätselhaft sind. Ihre Interpretation rechtfertigt ihre klanglichen Recherchen, denn sie wollen vor allem der Musik dienen und diese mit einer ähnlichen Sicherheit ausdrücken, wie es auf ihre Weise die Violine, die Flöte oder die Oboe tun können. Schließlich hinterließen die damaligen Meister der vielle eigene Hinweise auf die Aufführung ihrer Stücke, und in diesen gab es genügend Spielraum für persönliche Initiativen, damit der Ausführende selbst nach Lösungen suchte, die ihn die angemessensten und schönsten dünkten: “Das Rad der Leier ist wie der Bogen der Geige. Das ist es, was dem Instrument die Seele gibt und für Abwechslung sorgt: Ansonsten trüge keine Stimme; es gäbe keine Verzierungen; und kaum ein Stück würde gefallen (...) Das Rad ist es, das den Charakter eines Stückes bestimmt, die Stimmen unterscheidet, durch seine verschiedenen zur rechten Zeit gegebene Drehungen, was man coup de poignet nennt: kurzum, ohne seine Hilfe kann die vielle nicht brillieren, nicht gefallen, sich nicht behaupten”, versichert Jean-Baptiste Dupuits 1741 in seinen Principes pour toucher de la viele. Endlich stellte sich ein letztes Interpretationsproblem: Welchen Platz sollte man dem Bourdon in einer Musik zuweisen, die sich ganz auf Tonalität und Modulation gründet? Wie läßt sich beispielsweise ein Bourdon c-g-d spielen, der - wie es bisweilen geschieht - von einem Akkord d-fis-a begleitet wird? Nach der Lektüre der vier erhaltenen Drehleier-Lehrbücher und der Heranziehung der beiden bekannten méthodes für die Musette scheint die Antwort klar: Es ist nie daran gedacht, die Bourdons zu unterbrechen, weil die Artikulation durch die Tastatur darunter ebenso zu leiden hätte wie die große Pfeife der Musette. Diese Instrumente waren für klingende Bourdons gebaut, deren Zahl man allerdings begrenzen und deren Klangfarben man hier und da verändern kann; ausnahmsweise lassen sie sich sogar unterdrücken, um ganz besondere Effekte zu erzielen: Die vielle kann dann “en violon” spielen, wie man in der aktuellen Tradition Zentralfrankreichs sagt. Ansonsten ist stets die Tonika zu hören, doch wenn man sich an diese zunächst befremdliche Eigentümlichkeit gewöhnt hat, wird der Bourdon ganz einfach zu einem klanglichen Charaktermerkmal dieses Instruments, und das Ohr kommt dahin, den harmonischen Weg eines Stückes von der Grundtonart zu trennen, die schließlich in der Entwicklung des musikalischen Verlaufs immer wieder auftreten wird. Die beiden hier eingespielten Sonaten für Drehleier und basse continue stammen aus der Feder zweier Spezialisten. Charles Buterne stammte aus einer berühmten Musikerfamilie. Sein Vater, Jean-Baptiste Buterne, war von 1678