CDU/CSU – 07. WP Fraktionssitzung: 21. 11. 1972

1.

21. November 1972: Fraktionssitzung

ACDP, 08-001-1030/2. Überschrift: »Fraktionsprotokoll der alten und neuen Fraktion«. Zeit: 15.07–15.50 Uhr. Vorsitz: Barzel. Protokollform: Transkription der Tonaufnahme in bearbeiteter Fassung.

Sitzungsverlauf: A. Bericht des Vorsitzenden Barzel (Terminplanung; Konstituierung der Fraktion am 5. Dezember 1972; Einsetzung von Kommissionen). B. Bericht des stellvertretenden Vorsitzenden Struve (Treffen der ausscheidenden Mitglieder der Fraktion). C. Bericht von Professor Kaltefleiter (Benennung der Gründe für das Wahlergebnis von CDU und CSU). D. Terminplanung (Besetzung der Ausschüsse, Einsetzung des Ausschusses zur Besetzung der Ausschüsse; Zeitpunkt für die Wahl des Fraktionsvorstands).

[A.] Barzel: Meine Damen und Herren! Ich eröffne die Sitzung der alten und der neuen CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wenngleich die Formulierung nicht ganz genau stimmt, denn die alte ist ja vor einiger Zeit schon untergegangen.1 Wir hatten alle ge- hofft, uns heute mit freudigeren Gesichtern und in einer fröhlicheren Stimmung hier zu treffen.2 Dies ist nicht eingetreten. Das erste, was ich Ihnen sagen möchte, ist deshalb: Wir dürfen den Auftrag unserer Wähler, wir dürfen unsere Wähler nicht im Stich las- sen, die uns den Auftrag gegeben haben, zu kämpfen gegen Sozialismus und für den freiheitlichen Rechtsstaat, meine Freunde. (Beifall.) Und nun würde ich gerne etwas mehr unter uns sein, wenn dies gar möglich zu machen ist. Meine Damen und Herren, ich begrüße die Kollegen der alten und der neuen Frak- tion in dieser Sitzung, die wir uns seit einer Reihe von Jahren angewöhnt haben zu hal- ten nach Wahlen. Ich begrüße die Kollegen, die hier neu anfangen, heiße sie herzlich willkommen und wünsche ihnen gute und erfolgreiche Arbeit. Und der Kollege Seiters, parlamentarischer Geschäftsführer der alten Fraktion, steht zur Verfügung für alle Fra- gen, die das Einleben der neuen Kollegen erleichtern sollen. Herr Kollege Seiters, der Ihnen ja bekannt ist. Mein Gruß gilt den Kollegen, die uns nun [verlassen], die nun ausscheiden. Und dies ist ein Gruß, den ich mit Dank und mit Wehmut gebe, und es ist gar nicht möglich, wie dies nicht möglich ist, alle Neuen hier namentlich zu nennen, alle die, die ausscheiden

1 Zur letzten Sitzung der CDU/CSU-Fraktion in der sechsten Wahlperiode am 22. September 1972 vgl. online. 2 Am 19. November 1972 fanden aufgrund der vorzeitigen Auflösung des Bundestages Neuwahlen statt. Die SPD erhielt 45,8 %, die CDU 35,2 %, die CSU 9,7 % und die FDP 8,4 % der abgegebenen Stimmen. Die SPD gewann im Vergleich zur Bundestagswahl im Jahre 1969 sechs Sitze hinzu und stellte mit 242 Abgeordneten die stärkste Fraktion, darunter 12 nicht stimmberechtigte Berliner Abgeordnete. Die CDU/CSU-Fraktion verlor 16 Sitze und zog mit 234 Abgeordneten in den ein, darunter neun aus Berlin (West). Die FDP gewann elf Sitze hinzu und stellte 42 Abgeordnete, darunter einen aus Berlin (West). Vgl. dazu EUROPA-ARCHIV 1972, Z 244.

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und uns hier verlassen, jetzt im einzelnen zu nennen. Und es wäre, glaub’ ich, auch nicht die Atmosphäre, und da sind wir auch in der Führung der Fraktion einig, heute zu versuchen, etwa durch einen Empfang diesem Abschied Ausdruck zu geben. Das, glaube ich, wäre der falsche Tag. Erlauben Sie uns, im Januar oder Februar uns zu mel- den und dann einen geeigneten Anlaß und eine geeignete Form zu sehen, um »danke schön« in aller Ruhe zu sagen und in etwas weniger Hektik und sicher auch in einer innerlichen und weniger verwundeten Situation, als das – natürlich, wie sollte es anders sein unter Menschen – im Augenblick möglich ist. Ich hoffe, den Kollegen nicht zu nahe zu treten, wenn ich einige der Ausscheidenden für Sie alle jetzt besonders nenne, und zwar solche, die entweder besonders lange Zeit oder besonders eng in der Führung dieser Fraktion und an anderer Stelle besonders tätig waren. Ich nenne Aenne Brauksiepe3, (Beifall bei allen.) ich nenne Detlef Struve4, Paul Lücke5, Kurt Schmücker6, Otto Schmidt7, Edeltraud Kuchtner8 und Maria Jacobi9, Gustav Stein10, Bernhard Winkelheide11, Thomas Ruf12, Walter Hallstein13, Felix von Eckardt14 und Hans Furler15. Meine Damen und Herren, alles andere wird nachzuholen sein. Meine Freunde, wir haben eine schwere Niederlage in einer historischen Frage und einer historischen Phase erlitten. Daran ist nichts zu beschönigen. Diese Niederlage traf uns unerwartet. Sie kam ohne Vorankündigung, sei es durch die Wahlkämpfer, sei es durch die Wahlredner, sei es durch die Demoskopie. Um so härter und um so unmittelbarer traf uns der Schlag von Sonntag abend. Es ist unsere Pflicht, meine Freunde, und ich spreche bewußt von Pflicht, nur an die Partei zu denken, an die Wähler zu denken, an unsere Freunde zu denken und hier vorbildlich an die Arbeit zu gehen und nicht den Eindruck zu erwecken, als seien wir ein verwirrter oder gar ein versprengter Haufen. Wir haben in diesem Wahlkampf wie nie zuvor Freunde gefunden, Mitbürger, engagierte Mitbürger mobilisiert. Wir müssen sie integrieren, bei uns behalten, ansprechen. Was wir in diesen Tagen und auch ich persönlich an Briefen, an Telegrammen, an Parteibeitritten bekommen, ist ein Zeichen, daß die Stimmung nicht nur Trotz ist: Nun erst recht! Sondern die Stimmung ist: Ihr müßt auf jeden Fall weitermachen. Ihr müßt kämpfen für die Sache, die Ihr hier den Wählern versprochen habt. Und es ist ja nichts von dem unrichtig, was wir im Wahlkampf gesagt haben. Wir sind besorgt, mit Recht besorgt, um unsere freiheitliche Ordnung. Die Themen, die wir im Wahlkampf hatten, stimmen ja alle. Selbst, wenn nicht alle dieser Themen mit genügen-

3 , 1949–1972 MdB (CDU). 4 , 1949–1972 MdB (CDU). 5 Paul Lücke, 1949–1972 MdB (CDU). 6 Kurt Schmücker, 1949–1972 MdB (CDU). 7 Otto Schmidt, 1957–1972 MdB (CDU). 8 Edeltraud Kuchtner, 1953–1972 MdB (CSU). 9 Maria Jacobi, 1961–1972 MdB (CDU) . 10 Gustav Stein, 1961–1972 MdB (CDU). 11 , 1957–1972 MdB (CDU). 12 Thomas Ruf, 1953–1972 MdB (CDU). 13 , 1957–1972 MdB (CDU). 14 Felix von Eckardt, 1965–1972 MdB (CDU). 15 , 1953–1972 MdB (CDU).

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der Deutlichkeit von allen unten verstanden worden sind. Aber die Themen sind da, und wir werden hier kämpfen in der Richtung, die wir den Wählern versprachen. Es wird keins der Probleme durch den Wahlausgang etwa unter den Tisch gekehrt. Es ist sicher richtig, daß hier [ein Trend entstand], zu welchem Zeitpunkt wissen wir nicht, vielleicht [kann] Herr Kaltefleiter16, Prof. Kaltefleiter uns nachher etwas mehr dazu sagen, den ich gebeten habe, uns einen ersten Bericht zu geben. Vielleicht kann er uns mehr sagen, wann dieser Trend entstand, wo er entstand und wie er entstand, wie das regionale Gefälle dieses Ergebnisses zu erklären ist. Ganz sicher ist, daß unser Thema nicht voll unten angekommen ist, weil eben eine Besorgnis, die man empfindet, etwas anderes ist als eine Gefahr, die man auch im Gefühl schon erkannt hat und einmal hin- ter sich hat. Und es ist sicherlich gelungen, auf emotionale Weise abzulenken vom Thema, zunächst durch den Vorwurf der Korruption, dann durch den europäischen Gipfel und dann durch außenpolitische Hilfe vorwiegend aus dem Osten, aber lassen Sie’s mich sagen, vorwiegend aus dem Osten. Sie verstehen, wie ich das meine, meine Damen und Herren. (Beifall.) Das Programm, das wir als Opposition haben, ist klar und verbindlich. Wir haben un- sern Wählern gesagt, unser Regierungsprogramm17 ist unser Wahlprogramm, es gilt vor der Wahl, und es gilt nach der Wahl. Daran ist nichts zu deuteln. Es ist dies ein Programm und eine Richtung der Mitte und des Maßes, und wir werden uns davon auf gar keinen Fall abdrängen lassen dürfen, denn wir sehen ja, wie die große Mehrheit hier entschieden hat. Was wir zu diskutieren haben werden, ist die Strategie der Opposition. Das wird heute im einzelnen gar nicht möglich sein, es sei denn, daß dies gewünscht wird. Ich meine, nur folgendes heute anmerken zu sollen für diese Debatte, nämlich einmal, daß wir mittelfristig denken müssen und nicht kurzatmig. Daß wir grundsätz- lich handeln und grundsätzlich argumentieren müssen, daß wir wenige Initiativen er- greifen sollten, vor allen Dingen in der ersten Zeit, denn wir haben die Erfahrung ge- macht, daß [diese Initiativen,] z. B. denken Sie an unser Gesetzgebungsprogramm zur Inneren Sicherheit18, aber auch an andere wie die Rentenreform19, nicht voll von den

16 Werner Kaltefleiter, Leiter des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Konrad-Adenauer- Stiftung sowie Professor für Wissenschaft und Geschichte der Politik an der Universität Kiel. 17 Das Programm der CDU für den Bundestagswahlkampf wurde vom CDU-Vorsitzenden Barzel auf dem Parteitag in Wiesbaden am 9. Oktober 1972 unter dem Slogan »Wir bauen den Fortschritt auf Stabilität« vorgestellt. Vgl. dazu REGIERUNGS-PROGRAMM. Mit der Rede des Vorsitzenden der CDU vom Wiesbadener Parteitag 1972, Bonn 1972. 18 Vgl. dazu die Gesetzentwürfe der CDU/CSU-Fraktion vom 7. September 1971 sowie des Bundesrats vom 9. März 1972 zur Änderung der Strafprozessordnung; BT Drs. 06/2558 bzw. BT Drs. 06/3248. – Die Vorlagen zur inneren Sicherheit wurden in der Plenarsitzung am 22. Juni 1972 beraten bzw. verabschiedet. Vgl. dazu BT Plenarprotokoll 06/195. 19 Zum Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion vom 6. Mai 1971 über die Öffnung der Rentenversicherung für Selbstständige vgl. BT Drs. 06/2153. Zum Gesetzentwurf der CDU/CSU- Fraktion vom 21. September 1972 zur Verbesserung der Alterssicherung für Frauen und Kleinstrentner vgl. BT Drs. 06/2584. Zum Entwurf der Bundesregierung vom 8. Dezember 1971 für ein Gesetz zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversicherung vgl. BT Drs. 06/2916. Zum Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion vom 11. April 1972 zur Sicherung der bruttolohnbezogenen dynamischen Rente vgl. BT Drs. 06/3325. Zum Entwurf der CDU/CSU-Fraktion vom 21. September 1971 für ein Fünfzehntes Rentenanpassungsgesetz vgl. BT Drs. 06/2585. Zum Entwurf der Bundesregierung vom 19. Mai 1972 für ein Fünfzehntes Rentenanpassungsgesetz vgl. BT Drs. 06/3488. – Zur parlamentarischen Auseinandersetzung um die Rentenreform 1972 vgl. auch Hans Günter HOCKERTS: Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz: Die Rentenreform 1972, ein Lehrstück, in: Karl Dietrich Bracher et al. (Hrsg.): Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, S. 903–934.

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Wählern uns zugute geschrieben worden sind. Dies, glaub’ ich, ist sicher richtig. Wir werden hier weniger Initiativen ergreifen müssen. Freilich nicht darauf verzichten, da- mit wir nachher nicht in die Ecke von Nein-Sagern kommen. Und diese Initiativen ge- zielt auf die gesellschaftspolitische Nahtstelle der Koalition [lenken]. Wir werden weiter, so sehe ich das, uns der Erkenntnis voller noch zuwenden müssen, daß allein mit Siegen im Parlament, so schön die sind und so wichtig sie sind, weil dies die einzige Möglichkeit ist, noch einmal über den Bildschirm durchzustoßen, auch bei der unfreundlichen veröffentlichten Meinung, daß das allein nicht genügt. Wir müssen alle diese Debatten draußen im Lande nachvollziehen und sie draußen gewinnen. Also, mehr Zeit für die Abgeordnetenarbeit vor Ort oder an der Basis finden, meine Damen und Herren. (Beifall.) Wir werden die Parteiarbeit sicherlich neu zu durchdenken haben. Da muß von der Basis her vieles Neue bewirkt werden. Das gehört vielleicht nicht im Augenblick hier- her. Und das Wichtige scheint mir zu sein, daß wir uns beschränken in der Kontroverse auf wenige, deutliche Fragen und nicht der Gefahr erliegen mit multum20! Meine Damen und meine Herren, wir hatten heute einen Fraktionsvorstand, der nach der Satzung21 noch im Amt ist. Natürlich sind wir alle ein bißchen gehemmt mit Emp- fehlungen, und deshalb sehen wir auch von großen Empfehlungen ab. Da der Vorsit- zende aber nach der Satzung voll im Amt ist, möchte ich also folgendes vorschlagen, und das hat also auch die Zustimmung in dem Vorstand gefunden. Wir schlagen Ihnen vor, daß wir heute in 14 Tagen, am 5. Dezember, um 15 Uhr die erste Sitzung dieser neuen Fraktion abhalten. Tagesordnung: Konstituierung durch Wahl des neuen Vorsit- zenden. Zweitens, da vorher einige Dinge zu tun sind, die etwas wenig Zeit [lassen], die keinen Zeitaufschub erlauben, habe ich von mir aus – und ich hoffe, daß ich nicht Ihren Widerspruch finde, mehr kann es heute gar nicht sein in dieser gemeinsamen Sitzung – zwei Kommissionen beauftragt, zwei Sachen etwas vorzubereiten, wo wir eilig werden handeln müssen noch vor Weihnachten, nämlich eine Kommission Grundvertrag und eine Kommission Haushalt. Nun bin ich da in der unangenehmen Lage, daß ich die Interessenlage der neu hinzugekommenen Kollegen noch nicht kenne. Und deshalb mußte ich für diese beiden Kommissionen nur auf Kollegen zurückgreifen, die bisher in diesen Arbeiten tätig waren. Ich bitte aber besonders interessierte Kollegen, sich ent- weder an mich oder an die Vorsitzenden dieser Kommissionen zu wenden. Sie dürfen freilich nicht zu groß werden. Sonst werden wir hier nicht fertig. Also Kommission Grundvertrag: die Kollegen, die das bisher gemacht haben unter dem Vorsitz von Herrn Marx, also Herr Gradl, Herr v. Weizsäcker, Herr Windelen, Herr Jaeger, Herr Birrenbach, Herr Kliesing, Herr Reddemann, Herr Schröder, Herr Wittmann – ich ha- be einen vergessen, höre ich eben, Heck und Abelein! Entschuldigung! Und Czaja, entschuldigt, das trifft ja alle. Ich hab’ gesagt: wie bisher. Zweitens Haushalt: Da sitzt vor der Kollege Leicht, die Kollegen Höcherl, Althammer, Jenninger, Röhner, Häfele, und ich glaub’, wir bevollmächtigen Herrn Leicht, von sich aus zu sehen, wer aus der Haushaltsgruppe noch dazutreten kann. Es geht bei dem Haushalt möglicherweise darum, wir wissen dies nicht, lesen es aus den Zeitungen, daß die Regierung versuchen wird, noch im Dezember hier mit […]22 dem Haushalt ’72

20 Vom Bearbeiter korrigiert aus: »nultum«. 21 Für die Arbeitsordnung der CDU/CSU-Fraktion vom 4. Mai 1971 (Fassung vom 12. Oktober 1971) vgl. online. 22 Vom Bearbeiter gestrichen: »zu«.

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fertig zu werden. Wir erwarten auf der Seite der Regierung einen Terminplan so, am 8. Dezember will Brandt in Ostberlin unterschreiben23, am 13. soll der Bundestag sich konstituieren, am 14. der Kanzler gewählt werden, und in den Tagen darauf bis zum 20. – so sei, hören wir, die Planung der Regierung – soll dann also auf der Regierungsseite der Plan [eingebracht werden]. Wir müssen dazu zu beiden Dingen in der 1. Sitzung ein bißchen uns verdichten, so daß unsere Tagesordnung nicht nur sein kann, Wahl des Vorsitzenden und Diskussion über eine Oppositionsstrategie, sondern auch zu diesen beiden Fragen das Notwendige gesagt werden muß. Meine Freunde, dies ist seit Sonntag und sicherlich bis heute – so was geht nicht so schnell aus den Knochen, das kann auch gar nicht anders sein – eine schwere und eine bittere Stunde für uns alle. Es wird darauf ankommen, daß wir uns aneinander und mit- einander bewähren. Dies ist das Allerentscheidende. Zu Resignation ist hier kein Platz. Die Parole heißt hier, seine Pflicht zu tun und kämpfen. Ich meine, wir werden kämp- fen, und ich sage Ihnen, ich werde kämpfen, weil ich glaube, daß dies notwendig ist. Ich danke Ihnen allen (Beifall.) für Ihren Einsatz in diesem Wahlkampf, ich danke insbesondere meinen Kollegen Strauß, Schröder und Katzer, die zusammen die größte Last getragen haben, neben den beiden Ehrenvorsitzenden Erhard und Kiesinger. Ich danke allen Kollegen, meine Da- men und Herren. Wir haben den Wählern gedankt, wir haben den Mitarbeitern gedankt und den Kollegen, die es diesmal nicht geschafft haben, auch. Ich danke Ihnen, daß Sie mich dies jetzt erst mal in Ruhe sagen ließen. Ich würde es für richtig halten, wenn jetzt Kollege Strauß aus seiner Sicht, da wir ja noch eine gemeinsame Fraktion erst wieder konstituieren müssen, nach den Übungen, die wir hier haben, diesen Bericht ergänzt oder selbst einen gibt, wie immer er mag. Daß wir dann Herrn Kaltefleiter hören und dann sehen, wie wir heute weiterkommen. Das Wort hat Franz Josef Strauß. (Beifall.) Strauß: Ich kann’s ganz kurz machen, ich werde mich zu Wort melden, wenn Kal- tefleiter seinen Bericht erstattet hat. Barzel: Dann zunächst Herr Struve! [B.] Struve: Herr Vorsitzender, meine sehr verehrten Damen und Herren! Einer der ersten Sätze unseres verehrten Vorsitzenden beinhaltete den Dank an die ausscheidenden Mit- glieder dieser Fraktion. Einer alten Regelung entsprechend, war es und wird es wohl auch so bleiben, daß in einer 1. Sitzung nach einer Wahl wir noch einmal in diesem Ar- beits-, in diesem Fraktionszimmer zusammenkommen.24 In einer Aufstellung, die hier von unserer Fraktion ausgefertigt wurde, scheiden diesmal 88 Kolleginnen und Kolle- gen aus der alten Fraktion aus.25 Es ist eine ungewöhnlich große Anzahl. Und ich glau- be, ein großer Teil derer, die ausscheiden, ist eigentlich seit längerer Zeit auf diesen Schlußpunkt parlamentarischer Arbeit eingestellt. Sie hatten eine kleine Gruppe na- mentlich ausgewählt, und wenn ich richtig folgte, sind es wohl vor allen Dingen Kolle-

23 Gemeint ist der Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR. 24 Nach der Bundestagswahl am 28. September 1969 trafen sich die alte und die neue CDU/CSU- Fraktion am 2. Oktober 1969 zur ersten Sitzung der 6. Wahlperiode. Vgl. dazu online. 25 Dem Protokoll nicht beigefügt.

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gen, die 19 oder auch 23 Jahre die Ehre hatten, in dieser Fraktion für unsere Partei, für unser Volk zu arbeiten. Weil ich auch zu dieser Gruppe gehöre, bitte ich auch um Verständnis, wenn ich von mir aus sage, es wird vielleicht hingenommen, so gesehen, daß ich auch im Namen aller 88 sprechen darf. Ein Teil davon ist ohne Zweifel nicht mit der Absicht, auszuscheiden, in den Wahlkampf eingetreten. Aber der Wähler hatte und hat das letzte Wort, und er hat so entschieden. Und ich meine, nichts wäre schlimmer und gefährlicher für uns, als Parlamentarier, die wir ausscheiden, die wir es waren oder die es nun aktiv werden, wenn [durch uns]26 irgendwie und irgendwo sich Risse in der Fraktion zeigen würden. Mit Lauen und Schwachen ist nichts zu gewinnen. So gesehen freue ich mich [über das mutige]27 Wort unseres Herrn Vorsitzenden und füge hinzu: Wir können stolz sein als Fraktion, die da jetzt auseinandergeht, [daß] die alte Fraktion, unter der Führung von Dr. Barzel und Stücklen, immer wieder auch nach harten Auseinandersetzungen zu einer Einheit zusammenkam. (Beifall.) Zudem möchte ich, unbekümmert um die nie zu entbehrende Arbeit in der Gesamt- fraktion, in den Arbeitskreisen, in den Diskussionskreisen, in den Ausschüssen, noch hinzufügen, daß an dieser Stelle ich auch die Meinung des letzten der 88 wiedergebe, wenn ich unserm verehrten Vorsitzenden Dr. Barzel insbesondere sehr, sehr herzlich und aufrichtig danke für seine Arbeit, die er in diesen drei Jahren hinter sich gebracht hat. (Starker Beifall). Dr. Barzel, eben beim Runtergehen machte ich mir ein paar Notizen, und einen Ge- danken habe ich eben auch in Ihrer Ansprache gefunden: Sie sprachen die zukünftige Fraktion an und sprachen von der Arbeit an der Basis und von den Arbeiten […]28, die Sie in Beziehung zur Arbeit im Parlament [brachten]. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn es uns gelungen wär’, die Arbeit der Fraktion, die Sie hier vorbereitet und im Parlament vorgetragen haben, wenn es uns gelungen wär’, mit den Gremien der CDU/CSU dieses dem Wähler klarzumachen, dann wär’ ohne Zweifel ein anderes Wahlergebnis erzielt [worden]. Das Gefühl hat hier – ich sag’ es hart – über den Ver- stand gesiegt. (Beifall.) Und daraus müssen wir natürlich auch Lehren ziehen und als Partei in Zusammenarbeit mit der Fraktion erreichen, daß die Parlamentsarbeit draußen noch sehr viel stärker von dem letzten Mitglied im Ortsverband mitgetragen und verbreitet wird. Das ist eine Sa- che, die nach meiner Überzeugung in dem letzten Wahlkampf ganz klargeworden ist. Und nun, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich eigentlich zum Schluß auch noch eine Bitte äußern. Diese Bitte richtet sich einmal an die 88 Kolleginnen und Kollegen, die ausscheiden: Laßt uns bitte nicht mit dem Ausscheiden aus der aktiven parlamentarischen Arbeit auch ausscheiden aus der Arbeit, die wir in unserer Partei und deren Gremien für unser Volk leisten müssen. (Beifall.)

26 Vom Bearbeiter eingefügt. Dafür gestrichen: »wir«. 27 Vom Bearbeiter eingefügt. Dafür gestrichen: »zu dem mutigen«. 28 Vom Bearbeiter gestrichen: »brachten«.

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Und eine zweite Bitte an den noch amtierenden Fraktionsvorstand und an den neuen, daß er zusammen mit der Parteiführung der CDU und zusammen mit der Parteifüh- rung der CSU uns und damit die Gesamt-CDU/CSU stützt, damit wir nicht resignie- ren, sondern damit wir diesen für die CDU harten Schlag, den wir in unserer politi- schen Arbeit bekommen haben, zum Anlaß nehmen, um mit neuer Kraft noch aktiver, noch nachhaltiger uns einzusetzen, weil wir diesen Dienst unserm Volke schuldig sind. (Starker Beifall.) Barzel: Lieber Detlef Struve, ich glaube, ich darf für alle hier Ihnen danken für diese guten Worte, für Ihre Arbeit hier, die Sie seit dem Frankfurter Wirtschaftsrat29 in der Führung der Fraktion und in der Spitze geleistet haben. Wir holen dies alles nach, wenn wir diese Zusammenkunft haben werden, von der ich sprach, und ich glaube, es ist wichtig, auch eine organisatorische Form der Zusammenarbeit mit den ausgeschiedenen Kollegen zu finden, um Informationen herzustellen, weiterzugeben, damit wir diese Kräfte nützen können, denn wir brauchen jetzt wirklich jede Frau und jeden Mann. Vielen herzlichen Dank, lieber Detlef Struve. Darf ich Herrn Professor Kaltefleiter bitten? [C.] Kaltefleiter: Recht schönen Dank, Herr Dr. Barzel! Die meisten von Ihnen werden mit Recht den Eindruck haben, daß es heute zu früh ist, um eine Analyse dieses Wahler- gebnisses vom letzten Sonntag geben zu können. Das möcht’ ich nachhaltig unterstrei- chen. Was ich Ihnen heute vortragen kann, sind vielleicht erste Beobachtungen oder einige Tendenzen. Aber ich möchte mich dagegen verwahren, hier das Wort Analyse anzuwenden. Lassen Sie mich vielleicht 3 Thesen vortragen. Die erste betrifft das Aus- maß dieses Verlustes vom letzten Sonntag. Es tut mir leid, wenn ich hier vielleicht noch in einer Wunde das Messer herumdrehen muß, aber das erste Gebot scheint mir Illusi- onslosigkeit zu sein. Und das bedeutet, daß wir gegenüber 1969 nicht etwa 1 % verloren haben, sondern wir haben de facto etwa 3½ bis 4 % verloren. Im Jahre 1969 gab es einen NPD-Anteil von 4,3 %. Die Schätzungen über den Anteil der CDU an diesem Aufsau- gen der NPD schwanken zwischen 60 und 70 %. Immer, welche Schätzung Sie sich zu eigen machen wollen, es kommt dabei heraus noch einmal ein Anteil von etwa 2½ %, der zu den 1 % [hinzukommt], der in den Wahlstatistiken deutlich wird, [das] macht den vollen Verlust aus. Fragen wir, wie ist dieses Wahlergebnis zustande gekommen? Da müssen wir zunächst sehen, daß wir eigentlich, von Ausnahmen abgesehen – und das sind insbesondere Hamburg und Hessen –, trendförmige Gewinne der SPD über das ganze Bundesgebiet haben. Es gibt keinen Hinweis deutlicher Art nach Kriterien der Sozialstatistik, also Konfession, Beruf oder was weiß ich man sonst nehmen kann, in denen diese Tendenz deutlich abweicht. Wir können vielleicht zwei Dinge sagen, nämlich, daß die Gewinne der SPD in folgenden Gruppen überdurchschnittlich stark waren: Im Bereich der Ar- beiterschaft, wo sie schon immer ihren Schwerpunkt hatte, hat sie diesen Schwerpunkt ausbauen können. Ihr ist ein Einbruch gelungen in den Bereich der katholischen Wäh- lerschaft, die bislang zur Stammwählerschaft der CDU gehörte. Und interessanterweise auch in den ländlich-katholischen Gebieten ist der SPD teilweise ein Durchbruch ge- lungen.

29 Abg. Struve gehörte dem Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebiets bzw. dem Wirtschaftsrat der Bizone von 1947 bis 1949 an.

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Das Ergebnis unter den Jungwählern übertrifft die schlechtesten Voraussagen. Vorsich- tige Schätzungen müssen annehmen, daß etwa zwei Drittel der Jungwähler zugunsten der SPD gestimmt haben. Und schließlich gibt es den letzten Bereich, nämlich die städ- tischen Mittelschichten, in denen 1969 erstmalig ein Einbruch der SPD gelungen war, daß dieser Einbruch sich dort auf Seiten der Koalition insgesamt, nicht nur auf Seiten der SPD fortgesetzt hat. Demgegenüber stehen die Verluste der CDU genau in den genannten Gebieten. Die Verluste der CDU verlaufen praktisch spiegelgleich zu den Gewinnen der SPD. Sie sind aber noch ausgeprägter, als es bei den Gewinnen der SPD zum Tragen kommt, in den städtischen Mittelschichten. Und damit sind wir im Grunde genommen bei dem Gebiet, bei dem wir zur FDP ein Wort sagen müssen.

Die FDP hat etwa 4 % der Stimmen, 3½ bis 4 % der Stimmen hinzugewonnen. Aller- dings darf man dieses Ergebnis nicht ohne weiteres interpretieren, wie das z. B. vom Infas-Institut, glaub’ ich, gestern abend im »Panorama« geschah, als eine langfristige Stabilisierung der Partei. Ich bitte Sie, zu diesem Zwecke einen Blick auf die Erststim- men-Ergebnisse zu werfen, in denen die FDP bei 4 % stehengeblieben ist. Nur 1,4 Mio. Wähler, die mit der Erststimme SPD und mit der Zweitstimme FDP gewählt haben, haben die FDP in dieser Größenordnung hineingebracht. Nun wäre es sicher verkehrt, [anzunehmen,] daß all diejenigen, die ihre Stimme gesplit- tet haben zugunsten der FDP, eigentliche SPD-Wähler wären. Aber daß sie zum über- wiegenden Teil SPD-Wähler sind, kann man ohne Schwierigkeit annehmen. Und das bedeutet, daß der eigentliche Anteil der FDP kaum größer ist, als er 1969 war. Was darüber hinausgeht, sind Koalitionswähler, die, aus welchen Gründen auch immer, lo- kaler Art, regionaler Art und teilweise auch persönlicher Art, Fragen, die z. T. in der Parteistruktur der SPD begründet sind, diesmal für die FDP tendierten. Die Frage wird sein, wie stabil dieses Potential der FDP sich erweisen wird. Ich neige ein wenig der These zu, daß wir, wie in vielen anderen Punkten, dieses Mal eine Wiederholung der Wahl von 1961 haben, nämlich daß die FDP einen Höhepunkt in ihrer Konjunktur ausnutzen konnte und daß dieser Höhepunkt nach dem Wahltag relativ rasch abbrök- keln wird. Wenn wir das als die trendförmigen ersten Ergebnisse skizzieren können, haben wir die 2. Frage zu stellen, woran es lag. Und hier, glaube ich, sollten wir die 1. Lehre aus der Tatsache ziehen, daß es kaum spezifische Faktoren im Bereich der Sozialstatistik gibt, die dieses Wahlergebnis erklären, sondern andere, nennen wir es kurz: politischere Fak- toren. Und hier möchte ich zwei Argumente nennen. Die Damen und Herren von Ih- nen, die im letzten Dezember in Berlin dabei waren in der alten Fraktion30 – wie das heute so schön heißt – und die Ausgangssituation zu dieser Bundestagswahl diskutier- ten, werden sich erinnern, mit welcher Intensität wir damals gestritten haben, daß die Leistungsfähigkeit der CDU/CSU in den Augen der Wählerschaft im gesamten Bereich der Gesellschaftspolitik – ich benutze diesen Begriff bewußt, um einen sehr umfassen- den Begriff zu finden – nicht hoch eingeschätzt wird – um es sehr vorsichtig zu sagen. Sie erinnern sich an die Ausführungen, die ich Ihnen damals darlegte und woraus her- vorging, daß im Grunde genommen nur im Bereich der Preisstabilität und der Verbre- chensbekämpfung ein Übergewicht der CDU/CSU gegenüber der SPD zu beobachten war. Ich kann im Grunde genommen all das, was ich vor einem Jahr in Berlin damals ausführte, heute wiederholen, möchte Sie damit aber nicht langweilen. Das ist das Strukturproblem, mit dem wir es heute zu tun haben und was dieses Wahlergebnis in

30 Vgl. dazu die Fraktionssitzungen am 6./7. Dezember 1971 in Berlin (West), online.

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erster Linie kennzeichnet, nämlich daß in dem gesamten breiten Bereich der politischen Aufgaben die CDU/CSU als weniger leistungsfähig betrachtet wird als die SPD. Das, meine Damen und Herren, ist eine Situation, die wir im Jahre 1969 nicht wesent- lich anders hatten. Allerdings bestand zwischen 1969 und 1972 ein entscheidender Un- terschied. [Nachdem]31 im Jahre 1969 diese nicht günstige Ausgangssituation – um vor- sichtig zu sein – für die CDU/CSU kompensiert wurde dadurch, daß wir den populä- ren Kanzler im Amte stellten, wirkte dieser Faktor, der populäre Kanzler im Amt, diesmal für die SPD. [Und]32 die Kombination dieser beiden Faktoren – Amtsbonus und populärer Kanzler auf der einen Seite gegenüber einem Image der bedingten Lei- stungsfähigkeit auf Seiten der Opposition – scheint mir dieses Wahlergebnis in seinen Grundstrukturen zu erklären. Vor dieser Ausgangssituation stand die CDU/CSU bereits vor einem Jahr. Das hat sich auch bis zum Frühjahr wenig verändert. Und trotzdem kam ein weiterer Faktor hinzu. Die Entwicklung von 1969 bis zum Frühjahr 1972, insbesondere vom Frühjahr 1970 bis zum Frühjahr 1972 stand im Zeichen negativer Beurteilung der wirtschaftlichen Situa- tion. Alle Landtagswahlen, in denen die Opposition erfolgreich war, waren dadurch geprägt, daß die wirtschaftliche Situation negativ beurteilt wurde, und die Opposition – auch dort, wo sie Landesregierungen stellte – lebte zum großen Teil von diesem Bonus, der aus dieser negativen Einschätzung der wirtschaftlichen Situation entstand. Diese Ausgangssituation, gepaart mit der Tatsache, daß die Opposition [als] leistungsfähiger galt im Bereich der wirtschaftlichen Stabilität, bot die Möglichkeiten für die Wahlkam- pagne, wie sie tatsächlich geführt wurde. Allerdings konnten diese Wahlkampagnen nicht zu dem Erfolg führen, der erhofft wurde und der auch teilweise möglich erschien, weil es der Regierung gelungen ist, aus welchen Gründen auch immer, bis zum Wahltag das Klima der Beurteilung der wirtschaftlichen Situation grundlegend zu ändern – ist vielleicht eine Übertreibung, aber wesentlich zu ändern. Da hatten wir doch im Früh- jahr eine deutlich negative Beurteilung der Situation – am Wahltag aber war sie minde- stens ambivalent, wenn nicht leicht positiv. Und damit entfiel diese zentrale Vorausset- zung für einen Erfolg der Opposition, wie er allein möglich war in der Kombination der Ausgangssituation. Herr Dr. Barzel, Sie haben die Frage gestellt: Wann ist dieser Trend etwa umgekippt? Nun, ich möchte mir jetzt nicht anmaßen, Daten zu nennen, aber man kann, glaub’ ich, zwei Entwicklungen deutlich sehen. Die Veränderung der wirtschaftlichen Situation bahnte sich im Frühjahr an, und sie war dann zunächst rückläufig im Sommer – sicher- lich ausgelöst durch den Rücktritt von Schiller33 im Sommer dieses Jahres34 –, so daß zu Beginn dieses Wahlkampfes im August/September die Situation, die Ausgangssitua- tion für die Opposition durchaus positiv war. Aber im Verlaufe des Wahlkampfes ist diese negative Einschätzung der wirtschaftlichen Situation deutlich rückläufig gewor- den, und vieles spricht dafür, daß die beiden Ereignisse, die in den letzten 14 Tagen den Wahlkampf prägten – nämlich auf der einen Seite der Grundvertrag und auf der ande- ren Seite jene Vielzahl von Wahlkampfaktivitäten –, die andere Themen in den Mittel- punkt stellten als das Thema des Wahlkampfs der Opposition, dazu beigetragen haben, daß im Mittelpunkt der Auseinandersetzung vom letzten Sonntag nicht die Frage der

31 Vom Bearbeiter korrigiert aus: »Als«. 32 Vom Bearbeiter korrigiert aus: »Um«. 33 , 1966–1972 Bundesminister für Wirtschaft. 34 Bundesminister Schiller trat am 7. Juli 1972 als Bundesminister für Wirtschaft und Finanzen zurück.

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wirtschaftlichen Stabilität, sondern andere Fragen standen und die entsprechend nicht [zu einem Ergebnis] zugunsten der Opposition führen konnten. Man wird diese Überlegungen zweifellos intensivieren müssen und sich vor allem das Ergebnis in den Details näher anschauen müssen. Aber das scheinen mir im Moment zwei, drei große Trends zu sein, die deutlich sind. Was folgt daraus? Meine Damen und Herren! Ich möchte daraus drei Schlußfolgerun- gen ziehen. Die erste Schlußfolgerung dürfte darin bestehen, daß es die entscheidende Strukturaufgabe zu Beginn der Oppositionsperiode ist, in dem Breitenbereich der Ge- sellschaftspolitik die Leistungsfähigkeit der Opposition überzeugend im Bereich der Wählerschaft wiederherzustellen. (Beifall.) Ich bin mir natürlich darüber im klaren, daß das ein Spruch ist, den zu konkretisieren die Aufgabe ist. Aber das kann nicht Gegenstand einer ersten Analyse sein. Aber darin liegt das Strukturproblem. Darauf möchte ich Sie hinweisen. Und wenn es nicht ge- lingt, das zu überwinden, werden die nächsten Wahlen, wenn sie nicht konjunkturbe- dingt günstig für die Opposition laufen, der CDU/CSU Schwierigkeiten machen. Wir sollten aber auch ein Positives sehen, und das ist das nächste, was ich unterstrei- chen möchte, aus dem letzten Wahlkampf. Es ist vorhin schon darauf hingewiesen worden, daß es noch nie gelungen ist, einen derart großen Teil von Menschen, die auch nicht formal Mitglieder der Partei sind, sondern – sagen wir mal – in der näheren Um- gebung der Partei stehen, zu mobilisieren. Insbesondere ist dies gelungen, Meinungs- führer im sozialen Bereich in größerem Umfange anzusprechen. Und wenn es gelingen sollte, das Image der CDU im innenpolitischen Bereich, im gesellschaftspolitischen Bereich wesentlich aufzubessern, wesentlich zu verändern, dann erscheint mir die Exi- stenz von Meinungsführern in den verschiedenen sozialen Gruppen dafür eine zentrale Bedeutung zu haben. Mir scheint, die Lehre, die zu ziehen ist aus dieser Entwicklung, [ist,] daß diese Gruppen aktiviert werden müssen in der Zwischenperiode und nicht in Form von Wählerinitiativen in den letzten 14 Tagen. (Beifall.) Sie haben sich in dieser Form der Wählerinitiativen in den letzten 14 Tagen zu erken- nen gegeben, und es dürfte unsere Aufgabe sein, sie jetzt anzusprechen und als Multi- plikatoren zu nutzen, um die Leistungsfähigkeit der Opposition auf diesem weiten Ge- biet darzustellen. Das sind die beiden wesentlichen Schlußfolgerungen, die man an die- ser Stelle ziehen müßte. Ich wiederhole noch einmal: Wir werden uns sehr ausführlich darüber Gedanken machen. Aber dafür ist es zwei Tage nach der Wahl noch zu früh. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit! (Beifall.) Barzel: Vielen Dank, Professor Kaltefleiter! Wir erwarten für Mitte Januar von Herrn Kaltefleiter und von anderen sorgfältige Analysen, die wir dann auch in einer Klausur- tagung erörtern wollen. Herr Kollege Strauß. Strauß: Kein Grund zur Stellungnahme. [D.] Barzel: Ja, meine Damen und Herren, wird das Wort gewünscht? Franz Josef Strauß hat gesagt, er hat keinen Grund zur Stellungnahme aufgrund dieses Vortrages. Dann zunächst der Kollege Wagner. Wagner [Günzburg]: Meine Damen und Herren! Zunächst nur ein paar Bemerkungen für die nächsten Wochen. Ein Termin ist Ihnen bereits bekannt, daß am 4. Dezember

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Parteigremien der CDU und der CSU tagen. Am 5. Dezember soll dann die nächste Sitzung der Fraktion sein. Ich weiß, daß die Westeuropäische Union hier Schwierigkei- ten hat, weil am 5. des XII. sie in Paris ihre Tagung hat. Aber auch der Termin der Fraktionssitzung läßt sich mit Rücksicht auf die vorhergehenden Entscheidungen in den Parteigremien nicht verändern. Ich bitte also, der Sitzung der Fraktion hier den Vorrang und den Vorzug zu geben. Zu der Frage, wie’s dann weitergeht. Uns ist bisher von der Koalition mitgeteilt, daß am 13. Dezember die Konstituierung des Bundestages beabsichtigt sei, am 14. Dezem- ber die Kanzlerwahl und anschließend Haushaltsplanberatung. Ich bitte Sie, daß Sie sich darauf einrichten, daß Sie also in der Zeit vom 12. Dezember bis zum 20. etwa, mit Ausnahme des einen Wochenendes, hier für die Arbeit im Bundestag zur Verfügung stehen. Die endgültigen Termine werde ich Ihnen sobald wie möglich mitteilen. Die ersten Gespräche auf der Ebene der Geschäftsführung finden noch in dieser Woche statt. Das zweite, es wird immer nur die Frage nach der Konstituierung der Ausschüsse gestellt. Meine Damen und Herren, es ist selbstverständlich, daß die Ausschüsse erst dann gebildet werden können, wenn Klarheit besteht, in welcher Organisation die Re- gierung ihre Arbeit zu leisten beabsichtigt. Das ist also erst im Dezember möglich. Die Ausschüsse werden somit erst im Januar konstituiert. Einzige Ausnahme wahrschein- lich der Haushaltsausschuß. Ich bitt’ Sie, Ihre Wünsche in dem Fragebogen anzugeben. Wir werden dann in einer eigenen Kommission versuchen, dies zu berücksichtigen. Das dritte, ich bitte Sie dringend, wenn nicht bereits geschehen, so rasch wie möglich auch nach der Mitteilung über die Wahl dem Wahlleiter35 die Annahme der Wahl mit- zuteilen. Das ist wieder Voraussetzung dafür, daß hier auch vom Bundestag aus die finanziellen Dinge rechtzeitig und so bald wie möglich geregelt werden. Für alle Rück- fragen, die Sie haben, steht Ihnen die Geschäftsführung selbstverständlich zur Verfü- gung. Eine letzte technische Mitteilung: Die westfälische Landesgruppe hat im Anschluß an die Fraktionssitzung hier im Vorstandszimmer ihre erste Zusammenkunft. – Bitte? – Danke. Barzel: Meine Damen und Herren, ich habe eins vergessen, fällt mir gerade auf: Wenn Sie Ihre Anmeldung für die Ausschüsse, wo wir nicht genau wissen, welche es geben wird, angeben, dann geben Sie das Hauptinteressengebiet an, weil wir nicht wissen, wie die Regierung sich organisieren wird, und sie wird möglicherweise dabei bleiben, pro Ministerium einen Ausschuß. Ich möchte unabhängig von der Konstituierung der Fraktion Ihr Einverständnis für folgendes haben, daß wir traditionsgemäß den Aus- schuß zur Besetzung der Ausschüsse einsetzen. Der besteht traditionsgemäß unter dem Vorsitz des Parlamentarischen Geschäftsführers und den Sprechern der einzelnen Lan- desverbände, Landesgruppen, wie immer sie hier genannt werden. Ich bitte also die Namen hier an Leo Wagner mitzuteilen. Herr Wolters. Köster: Ich möchte noch eine Anregung geben, daß ein neuer Fragebogen zugestellt wird, in dem alle von der Fraktion zu besetzenden Ämter und alle Benennungen bei Rundfunkräten, bei Aufsichtsräten, bei Verwaltungsräten enthalten sind. Mir scheint {(Unverständlich.)}36 ein Signal muß gesetzt werden {…} Leute hier in der Fraktion deutlich darzustellen. (Starker Beifall in die starke Unruhe hinein.)

35 Hildegard Bartels, Präsidentin des Statistischen Bundesamtes und Bundeswahlleiterin. 36 Technischer Hinweis in der Vorlage betr. die Aufnahme der Sitzung auf Tonband.

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Wagner [Günzburg]: Meine Damen und Herren, soweit diese Gremien nach dem Grundgesetz oder nach anderen Regelungen bekannt sind, werden wir Ihnen das selbstverständlich mitteilen. Ich bitte Sie, sich noch ein paar Tage zu gedulden, bis am Donnerstag das erste Gespräch mit den Geschäftsführern der andern Fraktionen statt- gefunden hat. Damit ich auch deren Absichten etwa kenne, damit wir nicht uns auf unsicherem Boden hier bewegen. Aber Sie haben bis Anfang der nächsten Woche diese Mitteilung in Händen. Barzel: Herr Becker! Becker [Mönchengladbach]: Am 5. Dezember wird der Fraktionsvorsitzende gewählt. Wann wird der Vorstand gewählt? Soll das noch im Dezember sein oder erst im Janu- ar? Barzel: Ich glaube, darüber werden wir Beschluß zu fassen haben, Herr Kollege Becker. Ich habe darüber noch keine Vorstellung – ehrlich gesagt – entwickelt. Ich persönlich neige dazu, in allen diesen Fragen einen zügigen Einstand vorzulegen aus vielen guten Gründen, damit wir also auch für die Öffentlichkeit und für unsere Freunde eine schnell handlungsfähige Opposition sind und weil es sicher der Wunsch der Fraktion ist, auch bald einen eigenen Vorstand zu wählen. Meine Damen und Herren, ich bin ein bißchen bestürzt, daß wir so schnell fertig wer- den. Aber wir dachten, wir würden heute was anderes tun. Dann darf ich diese Sitzung schließen und: Auf Wiedersehen heute in 14 Tagen. Ich danke Ihnen.

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