10.3726/92135_17

17

CHRISTIANE HOLM Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“

Seit Papier in Europa bekannt und im 13. Jahrhundert auch produziert wurde, war es vornehmlich als Träger von Schrift und somit als Objekt des Beschreibens, Be- druckens und Lesens im Gebrauch.1 Erst Mitte des 18. Jahrhunderts etablieren sich neben einem ausdifferenzierten Angebot an Text- und Bildmedien auch andere seriell gefer- tigte Papierprodukte und das Papier hält Einzug ins Interieur. In Form von Tapeten, Möbelausgestaltungen, Behältnissen und anderen Papierobjekten prägt es von nun an den Charakter der Innenräume und somit auch die Umgebung des Schreibens und Lesens. Das aktuelle literaturwissenschaftliche Interesse an Papier richtet sich auf die Mate- 2 rialität von Textträgern. Dabei interessiert insbesondere der Eigen- oder Nebensinn des Schreibmaterials, der sich durchaus widerständig oder kommentierend zu dem Ge- schriebenen verhalten kann.3 Gegenstand der folgenden Beobachtungen und Überlegun- gen sind hingegen solche Papierobjekte, die nicht zum Beschriften gedacht, aber durchaus in Schreibpraktiken eingebunden waren. Exemplarisch werden dafür die papiernen Ein-

1 In China, wo Papier seit dem 2. Jh. v. Chr. nachgewiesen ist, hatte sich längst eine differenzierte Papierkultur entwickelt, in der das Material z. B. auch für Inneneinrichtung und Bekleidung Verwendung fand. 2 Aktuelle literaturwissenschaftliche Forschungen zur Materialität von Textträgern entstehen meist im Kon- text der Institutionen, die sich seit jeher mit dem konkreten Objekt befassen: Editionsprojekte, Archive und Museen. Aus dieser Tradition heraus ist die – durchaus kritische – Auseinandersetzung mit dem „material turn“ in den Kulturwissenschaften besonders ergiebig, vgl. M. Schubert (Hrsg.): Materialität in der Edi- tionswissenschaft, Berlin 2010. Eine gute Übersicht bietet die problemorientierte Forschungsdiskussion: Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung. In: editio 22/2008, S. 22–46. Sowohl für Ausstellungskonzepte, die auf den epistemi- schen und ästhetischen Mehrwert der materiellen Seite von Texten zielen, als auch für deren methodische Reflexion sind vor allem die Arbeiten des Deutschen Literaturarchivs und des Literaturmuseums der Mo- derne in Marbach maßgeblich, vgl. Heike Gfrereis (Hrsg.): deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göt- tingen 2007. Der Frage, wie sich die materielle Dimension von Texten in literatur- und kulturwissenschaft- liche Fragestellungen einbeziehen lässt, widmete sich der im Februar 2011 von Cornelia Ortlieb und Birgit Erdle veranstaltete Workshop Papierobjekte, dem sich der vorliegende Beitrag verdankt, vgl. Frederik Bandel: Wie Max Horkheimer für Spirituosen warb. Künstlerbücher und Papierobjekte: Ein Workshop zur Materialität der Schrift. In: FAZ v. 23.2.2011, S. N3. 3 Ein besonderer Status kommt der Materialität des Textträgers in den Gattungen Brief und Tagebuch zu, da sie als Teil der Mitteilung konzipiert ist. Zu nennen sind hier zwei theoriegeleitete Ausstellungsprojekte, die eine entsprechend neu akzentuierte Gattungspoetik formulieren: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hrsg.): Der Brief. Ereignis und Objekt. Ausstellungskatalog des Freien Deutschen Hochstifts und Goethe- musem Frankfurt, Frankfurt a. M. 2008; Helmut Gold u. a. (Hrsg.): Absolut privat?! Vom Tagebuch zum Weblog. Ausstellungskatalog der Museen für Kommunikation Frankfurt, Berlin und Nürnberg, Heidelberg 2008. Neben solchen über den Zugang von der Objektseite bestimmten Forschungen sind literaturwissen- schaftliche Ansätze zu nennen, die die Diskursivierung der materiellen Dimension von Texten in der Lite- ratur analysieren. Hier sei stellvertretend auf eine der vielen Studien verwiesen, die aus der „Schreibszenen“- Forschung hervorgingen: Martin Stingelin (Hrsg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004. 18 Christiane Holm

richtungen aus Goethes Wohnhaus am Frauenplan in den Blick genommen und mit der prominent in artikulierten Diskursivierung des Papiergebrauchs um 1800 kontextualisiert, welche in der epochalen Selbstbeschreibung vom „papiernen Zeitalter“ Ausdruck findet.

I. Der Topos des „papiernen Zeitalters“. Die neuere kulturgeschichtliche Papierforschung hat für die vergangenen zwei Jahrhunderte den Begriff der „Papierzeit“ eingeführt.4 Dabei setzt sie die epochale Zäsur um 1800 an, weil seitdem der Papiergebrauch po- tentiell zunahm und der Stoff schließlich ab 1850 zu einer Massenware wurde. Die industrielle Herstellung von Papier machte die breitenwirksame Distribution von Lite- ratur und Bildkunst, mehr noch: den Prozess der Modernisierung in den Bereichen von Geldverkehr, Bürokratie oder Werbung nicht nur möglich, sondern formte diese Bereiche auch maßgeblich. Dieser Umbruch wurde bereits in einer Zeitdiagnose des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschrieben, die aus der professionellen Perspektive der

Papierindustrie formuliert wurde. Max Schubert, Dozent an der Technischen Hoch- schule in Dresden und zuvor in der Papierproduktion tätig, leitete sein 1898 in erster

Auflage erschienenes Handbuch Die Praxis der Papierfabrikation mit einer Technik- und Konsumgeschichte des Papiers ein:

In Webstoffen gekleidet hat sich der Mensch mehr oder weniger seit Jahrtausenden, Papier hat er auch seit mehr als tausend Jahren hervorgebracht, aber die allgemeine Benutzung begann

erst in diesem Jahrhundert [. . .]. Unser jetziges Zeitalter ist schon vor Jahren das eiserne ge- nannt worden, doch könnte man es mit gleichem Rechte als das papierne Zeitalter bezeich- nen, denn welche Industrie hat sich in den letzten Dezennien so ungeheuer entwickelt, als

gerade die Papierfabrikation. Noch unsere Väter wendeten jedes Briefcuvert um zur zweimaligen Benutzung und hoben sich jeden Streifen weissen Papiers auf; jetzt dagegen beachten auch die

Unbemittelten kaum diesen Artikel, der in überreichem Maasse vorhanden, unglaublich billig, überall erhältlich ist und in allen Kreisen geradezu als tägliches Bedürfnis auftritt. Gerade in

dieser scheinbaren Nichtbeachtung des Werthes des Papiers, darinnen, dass sein Vorhanden- sein als selbstverständlich angenommen wird, liegt die hohe Bedeutung dieses Industriezweiges, dem ich als Fachmann angehöre.5

Schubert bezieht sich konkret auf die Umstellung der Papierproduktion vom Rohstoff

Hadern, der vorwiegend aus der Wiederverwertung von Leinentextilien gewonnen wur- de, auf das Holz, das effizientere Herstellungsverfahren erlaubte. Jedoch begründet er die griffige Formel vom „papiernen Zeitalter“ nicht allein mit der Industrialisierung der Papierherstellung, sondern vor allem mit den Effekten, die der tägliche Konsum auf die kollektive Wahrnehmung des Materials hat. Denn, so die Pointe seiner Argu-

4 Johannes-Georg Oligmüller: Papierzeit. Ausstellungskatalog Papiermühle Alte Dombach, Essen 1997; ders., Sabine Schachtner: Papier – vom Handwerk zur Massenproduktion, Köln 2001. Ausgehend von dem Be- fund, dass der Papierverbrauch auch im ‚elektronischen Zeitalter‘ sukzessive wächst, positionieren sich beide Museumspublikationen mit der Definition des längst noch nicht abgeschlossenen „papiernen Zeitalters“ durch einen alltags- und konsumgeschichtlich profilierten Ansatz innerhalb der neueren Papierforschung. 5 Max Schubert: Die Praxis der Papierfabrikation. Mit besonderer Berücksichtigung der Stoffmischungen und deren Calculationen, Berlin 1898, Einleitung, S. 1 f. Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 19 mentation, gerade als es aufhörte, Gegenstand des Nachdenkens zu sein, konnte das Papier seine breiten- und tiefenwirksame kulturelle Prägekraft entfalten.

Vor der Folie dieser um 1900 formulierten Technik- und Konsumgeschichte ist es erstaunlich, dass sich bereits um 1800 die Rede vom „papiernen Zeitalter“ etablieren konnte, als dafür weder die maschinellen noch die ökonomischen Voraussetzungen bestan- den. Tatsächlich war Papier im ausgehenden 18. Jahrhundert zwar günstiger als viele an- dere Wertstoffe, jedoch alles andere als ein Massenprodukt. Und es blieb bis zur Mitte des

19. Jahrhunderts eine begrenzte und geschätzte Ressource. Wenn auch die Papierherstel- lung bereits Anfang des 18. Jahrhunderts durch die maschinelle Reißtechnik der Lum- pen mit dem so genannten Holländer entschieden verbessert werden konnte, so blieb es doch auf den begrenzten Hadern-Rohstoff angewiesen. Die steigende Nachfrage führte zwangsläufig zu Verteilungskämpfen, wie die Kriminalisierung des Lumpenhandels und entsprechende Regelungsversuche seitens der Obrigkeiten belegen. Die aus diesem Eng- pass heraus betriebenen Experimente mit Holz, Stroh und anderen problemlos verfüg- baren pflanzlichen Faserrohstoffen führten schließlich Mitte des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung des Holzschliffpapiers. Nun erst konnte Papier zu einer Massenware wer- den, dem eingangs skizzierten entscheidenden Kriterium für den Sprachgebrauch vom „papiernen Zeitalter“ um 1900, dessen erste, ein Jahrhundert zurückliegende Konjunktur offenkundig nicht mehr präsent war. Umso wichtiger ist zu klären, mit welchen Material- semantiken das Papier um 1800 belegt werden und sogar zum Leitmotiv der epochalen Selbstbeschreibung avancieren konnte, ohne auf einer vergleichbaren technikgeschicht- lichen Zäsur zu gründen. So formuliert Christoph Martin Wielands Sohn Ludwig 1803:

Es schreibt iezt wer kann, [. . .] es ist das papierne Zeitalter, wer irgendwo zu viel oder zu we-

nig hat, der hilft sich mit der Feder. Es ist eine Art geistiger Aderläße und Nothdurfts Ver- richtung.6

Diese Zeitdiagnose ist bereits ein Gemeinplatz und schreibt die in der Literatur des Sturm und Drang formulierte pejorative Einschätzung des literarisch-gelehrten Papier- gebrauchs fort. Zu erinnern ist hier an die eingängige Wendung vom „Tintenklecksen- de[n] Sekulum“ aus Schillers Räubern7 und die „Verdammung des Papiers als des Nich- 8 tigen schlechthin“ in Goethes Faust. Eine Tradition, die sich bis in den Sprachgebrauch unserer Tage halten konnte, denn Papier gilt als „Gegensatz alles Lebendigen“ und „,pa- pieren‘ ist im Deutschen ein Schimpfwort“.9

6 Ludwig Wieland an Charlotte Geßner, Ende März 1803. In: Eugen Wolff: Quellen für Heinrich von Kleist. In: Die Zeit, 9.1 (1914), S. 17–19, hier S. 18. 7 : Die Räuber. In: Friedrich Schillers Werke und Briefe, Bd. 2, Dramen I, hrsg. v. G. Kluge, Frankfurt a. M. 1988, S. 30. 8 Peter von Matt: Die Tumulte der Wissenschaft und die Ruhe der Bibliotheken. In: Sinn und Form 62 (2010), S. 160–168, hier S. 161. In seinem anregenden Essay nimmt von Matt Schillers und Goethes metaphorische Diskreditierung von Papier und Tinte zum Ausgangspunkt für die Analyse der heutigen Wissenschaftskultur. 9 Ebenda, S. 160. 20 Christiane Holm

In diesem pejorativen Deutungshorizont des kollektiven Papiergebrauchs, der sowohl auf die abnehmende Qualität als auch auf die zunehmende Quantität der schriftlichen

Mitteilung zielt, setzt einen Akzent auf Temporalisierungs- prozesse. So beginnt er 1798 die gemeinsam mit Carl August Böttiger verfasste Ankün- digung seiner neuen Zeitschrift London und Paris mit der Diagnose: „Nie ist das Neue so schnell alt, und das Alte aller Jahrhunderte so oft neu geworden, als in dem letzten Jahrzehend, seit Revolution die Losung des südwestlichen Europa ist.“10 Und Bertuch positioniert seine Neuerscheinung als Orientierungshilfe in einem unübersichtlich ge- wordenen Angebot zirkulierender Periodika, denn „[d]as papierne Zeitalter erstickt fast unter allen Journalen und Zeitungsblättern“11. Diese Zeitdiagnose setzt bei der physi- schen Masse des bedruckten Papiers an, welche die individuellen Rezeptionsmöglich- keiten in einer Weise übersteigt, dass das „papierne Zeitalter“ an seiner Überprodukti- on zu kollabieren droht. Noch 1834 nimmt Hermann Fürst von Pückler-Muskau die mit der Überproduktion von Handgeschriebenem und Gedrucktem belegte pejorative

Konnotation des Topos auf und erweitert ihn um die ökonomische Dimension. Wenn er feststellt, „dass unser in jeder Hinsicht papiernes Zeitalter so viel [. . .] zerstört hat“, bezieht er sich explizit auf den Abriss eines „herrliche[n] alte[n] Schloss[es]“ zur Einrich- 12 tung eines „Leipziger Messwaarenlager-Haus[es]“ und implizit auf den Aktienhandel. Ob mit Blick auf die schreib- und lesepsychologische, die informationspolitische oder die marktwirtschaftliche Konnotation, der Topos des „papiernen Zeitalters“ fokussiert das Papier in erster Linie als Schriftträger und beschreibt seine mediale Funktion aus einer kulturkritischen Perspektive. Und aus dieser Perspektive ist es nur konsequent, dass trotz der negativen Konnotation des Papiergebrauchs seine hygienisch äußerst heikle Herkunft aus Lumpen nicht einbezogen wird: Es geht weniger um den materiellen als um den funktionellen Aspekt des Textträgers. Doch neben dieser deutlich dominie- renden und folgenreichen Auffassung lässt sich ein zweiter Diskursstrang rekonstruie- ren, der die Materialität des Papiers in den Vordergrund stellt. Angesichts der Innovatio- nen nicht schriftgebundener Papierprodukte artikuliert sich eine neue Aufmerksamkeit auf den Objektcharakter von Papier.

In diesem Sinne kündigt Der Neue Teutsche Merkur 1805 die so genannten Chartyl-

Gemmen des Braunschweiger Inspektors Tiemann an, „Gemmenabdrücke auf gepressten Karton“ von verblüffender Plastizität, die zudem nicht nur deutlich preisgünstiger, son- dern auch robuster als die üblichen Abdrücke in Siegellack, Schwefelpaste oder Gips sein sollen.13 Der Redakteur mit dem Kürzel B., es dürfte sich um Böttiger handeln, schließt sich in einer kommentierenden Anmerkung der positiven Einschätzung des Rezensen- ten, einem ausgewiesenen Universitätsprofessor, an und lobt den Erfinder der Karton- Abdrücke ausdrücklich, „dass er sich vom Spotte über das papierne Zeitalter nicht abhal-

10 Friedrich Justin Bertuch: Plan und Ankündigung. In: London und Paris 1 (1798), S. 3–11, hier S. 1. Zum Hintergrunddiskurs der Temporalisierung um 1800 vgl. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005. 11 Ebenda. Vgl. Julia A. Schmidt-Funke: Auf dem Weg in die bürgerliche Gesellschaft, Köln 2005, S. 42–57. 12 Hermann von Pückler-Muskau: Andeutungen über Landschaftsgärtnerei, verbunden mit der Beschreibung ihrer praktischen Anwendung in Muskau, Stuttgart 1834, S. 44. 13 Ebenda. Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 21 ten ließ“, das „Möglichste“ zu leisten, „was aus diesem Stoffe gegeben werden kann“.14 Die auf mediale Fragen gerichtete Rede vom „papiernen Zeitalter“ hat das Material offensichtlich derartig diskreditiert, dass es als leistungsstarker Werkstoff kaum noch wahr- genommen wird. Gerade weil den Produkten des „papiernen Zeitalters“ unterstellt wird, bestenfalls temporär bedeutsam zu sein, muss das Papier als seriöser Werkstoff für ein auf Dauer gerichtetes Medium, wie es eine Daktyliothek darstellt, neu positioniert werden. Es ist bezeichnend, dass erst mit dem Interesse am satirischen Potenzial des „papier- nen Zeitalters“ seine Genese aus Lumpen und seine spezifische materielle Kultur in den Blick geraten, wie Jean Pauls Erzählung Schmelzles Reise nach Flätz von 1809 zeigt:

Unser Zeitalter – von einigen papiernes genannt, als sei es aus Lumpen eines besser Bekleideten gemacht – bessert sich schon halb, da es die Lumpen jetzt mehr zu Scharpien als zu Papieren zerzupft, wiewohl oder weil der Lumpenhacker (oder auch der Holländer) eben nicht ausruht; indes, wenn gelehrte Köpfe sich in Bücher verwandeln, so können sich auch gekrönte in Staats-

papiere verwandeln und ummünzen; – in Norwegen hat man nach dem Allg. Anzeiger sogar 15 Häuser von Papier [. . .].

Diese polemische Diagnose des Literaturbetriebes und der politischen Situation nach

1806 bezieht ihren Witz nicht zuletzt aus den materialen Referenzen, da die Transfor- mation von Gelehrten, Machthabern und Wohnstätten in Papier auf ein konkretes Warenangebot anspielt: Seit den 1770er Jahren wurde die herzogliche Ludwigsluster Carton-Fabrik bekannt, als sie eine opulente Innenraumgestaltung aus Pappmaché pro- duzierte: den Goldenen Saal in Schloss Ludwigsburg. Im Gefolge dieser Aufsehen er- regenden Papierarbeit wurde eine große Produktpalette entwickelt und über Kataloge vertrieben, so auch im Journal des Luxus und der Moden, in dem nicht nur Wandleuch- ter, Tapetenleisten, Konsolen und Uhrgehäuse, sondern ebenso Büsten von Christian

Fürchtegott Gellert oder vom König von Preußen sowie die Mediceische Venus oder der Apoll von Belvedere aus Pappmaché offeriert wurden. Solche Materialsurrogate stellten an sich kein Problem für die Zeitgenossen dar, vielmehr galt deren Faktur als besonders interessant.16 Dafür spricht auch, dass an den neuen Pappmachébüsten Ein- blicke in die Machart der Objekte nicht getilgt wurden, wie ein Beispiel aus dem Wei- marer Kunst-Fabrik zeigt, an dessen Rückseite handschriftlich beschriebene Papierstü- cke sichtbar bleiben (vgl. Abb. 1a, 1b).

14 J[ohann] J[oachim] Eschenburg: Neue Abdrücke von antiken geschnittenen Steinen. (Charthyl=Gemmen). In: C. M. Wieland (Hrsg.): Der Neue Teutsche Merkur vom Jahr 1805, Bd. 2, Weimar 1805, S. 226 f. 15 Jean Paul: Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz mit fortgehenden Noten. In: Sämtliche Werke, hrsg. v. N. Miller, Darmstadt 2000, Abt. I, Bd. 6, S. 7–76, hier Note 32, S. 22. 16 Vgl. dazu neuere Untersuchungen zu den durch Gips hergestellten Reproduktionen und Materialfiktionen: Antlitz des Schönen. Klassizistische Bildhauerkunst im Umkreis Goethes. Ausst.-Kat. Schloß Heidecksburg, Rudolstadt 2003; Charlotte Schreiter: Moulded on the Best Originals of Rome. 18th Century Production of Plaster Casts of Antique Sculpture and their Trade in Germany. In: E. Marchard, R. Frederiksen (Hrsg.): Plaster Casts: Making, collecting, and displaying from classical antiquity to the present, Berlin 2010, S. 121 bis 142. 6 622 Christiane Holm

Abb. 1a, 1b: : Antinoos, Pappmaché, um 1800.

Bezeichnenderweise verwendeten Bertuch und sein Autorenteam den Passus vom „pa- piernen Zeitalter“ zuerst im Journal des Luxus und der Moden und zwar nicht mit Rekurs

auf Textmedien, sondern auf die Innenraumgestaltung. Als er hier 1795 die Papiertape-

ten als zeitgemäße Alternative zu den überholten und aufwändigen Stoffbespannungen

vorstellt, begründet er die Überlegenheit dieser neuen Wandgestaltungen damit, dass sie

sich „so treflich für unser papiernes Zeitalter schicken, wo man Veränderungen und 17 Wechsel so sehr [. . .] liebt“. Diese Betonung der Zeitlichkeit hat zwei Ebenen: Einerseits

geht es um den sprichwörtlich gewordenen Tapetenwechsel, der individuelle und kol-

lektive Zeitläufte in der unmittelbaren Raumumgebung abbildet. Andererseits wird das

„papierne Zeitalter“ generell als Erfahrung von Temporalisierung profiliert, womit Ber- tuch zugleich auf dessen mediale Charakteristik rekurriert, diese jedoch der üblichen

pejorativen Konnotation enthebt. Es ist kein Zufall, dass die Wertschätzung von Papier im Konsumjournalismus formuliert wird.

Papier wird als Material des guten Stils gehandelt, papierne Tapeten sind für das „bür-

gerliche Ameublement“ geschaffen, sie eignen sich nicht für „Paläste und Schlösser, wo Pracht und Etiquette“ andere Materialien fordern.18 Dabei fungiert die Papiertapete keinesfalls als Materialsurrogat wie etwa die Pappmachédekoration, sie „muß simpel und

17 Briefe an eine Dame über die Kunde verschiedener Waaren des Luxus und unserer modischen Bedürfnisse. Zehnter Brief. Tapezereyen. Beschluß. In: Journal des Luxus und der Moden, Bd. 10, Weimar, Januar 1795, S. 12–17, hier S. 16 (fortan zitiert: JLM). 18 Ueber Zimmer= Tapezirung, im Style eines bürgerlichen Ameublements. In: JLM, Bd. 8, August 1787, S. 275–283, hier S. 276.

Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 23 nicht kostbar seyn; guter Geschmack aber ist ihr Hauptcharakter und Reinlichkeit ihr Verdienst“.19 So bleibt die hygienisch prekäre Herkunft des Rohstoffs nach wie vor ausgeblendet, wenn das Papier vom instrumentalisierten Schriftträger zum reinen Be- deutungsträger wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Rede vom „papiernen Zeitalter“ um 1800 dessen zentralen Gegenstand maßgeblich erstens vom intensivierten Gebrauch und dabei zweitens von dessen medialer Funktion als Textträger ableitet. Wenn dieser Deu- tungszugriff angesichts von Papierobjekten ohne Schriftfunktion zurücktritt, werden verstärkt materialsemantische Aspekte artikuliert. Entsprechend der ökonomischen Si- tuation wird das Papier nicht – wie im 19. Jahrhundert – als billiges Massen- und Er- satzprodukt charakterisiert, sondern als geschmackvolles, innovatives und keineswegs selbstverständliches Material wertgeschätzt.

II. Papiersachen in Goethes Selbsteinrichtungen. „Meine Existenz erfordert Papier mehr als jemals.“20 Dieses lakonische Resümee im Zeichen der Symptomatik des „papiernen Zeitalters“ steht durchaus im Kontext einer schwierigen biographischen Situation des 74-jährigen Dichters als Schreibender und Liebender, jedoch beschließt es bezeichnen- derweise nicht eine ästhetisch überformte Selbstbeschreibung, sondern eine Bestellung von „Concept- und Mittelpapier“21. Mit dieser Bitte wie auch in zahlreichen vergleich- baren Briefen an seine Familie und seine Mitarbeiter lässt sich Goethe Arbeitsmateria- lien an andere Aufenthaltsorte nachsenden. Hier geht es konkret um Schreibpapier aus der an anderer Stelle als „Papierschublade an meinem Schreibtische rechts“22 ausge- wiesenen Vorratshaltung unterschiedlicher Papiersorten im Arbeitszimmer. Allein diese

Gewohnheit belegt, dass Goethe eine sehr genaue Vorstellung von seinem Schreibma- terial hatte, so dass er nicht auf das jeweils lokale Angebot zurückzugreifen bereit war, sofern ihm das heimische geeigneter erschien. Zudem zeigt die eingangs zitierte Be- stellung, dass es ihm dabei keinesfalls generell um hochwertiges Papier, sondern um verschiedene Materialqualitäten ging. So profiliert er im autobiographischen Rückblick seine ästhetische Selbstbildung dadurch, dass er nicht durchweg auf „gutes, weißes, völ- lig reines Papier“ zeichnete, sondern je nach Arbeitssituation auch gezielt auf „graue, veraltete, ja schon von einer Seite beschriebene Blätter“ zurückgriff, um sich dem Druck technischer Perfektion zu entziehen zugunsten der freien Ideenentwicklung.23 Derartige papierne Selbsteinrichtungen von Arbeitssituationen finden sich genauso in den spä- ten Jahren, wie die Überarbeitung der Wanderjahre zeigt:

Das Gedruckte der ,Wanderjahre‘ ist nun ganz abgeschrieben; die Stellen, die ich noch neu zu

machen habe, sind mit blauem Papier ausgefüllt, so daß ich sinnlich vor Augen habe, was noch zu

19 Ebenda. 20 Johann Wolfgang an August von Goethe am 7.8.1828. In: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. IV, Bd. 44, Weimar 1909, S. 246 (fortan zitiert WA). Vgl. demnächst auch das Lemma „Papier“ im Goethe-Wörter- buch (vor. 2013). 21 Ebenda. 22 Johann Wolfgang an August von Goethe am 6.8.1816. In: WA Abt. IV, Bd. 27 (1903), S. 134. 23 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Zweiter Theil. In: WA, Abt. I, Bd. 27 (1889), S. 18. 24 Christiane Holm

tun ist. Sowie ich nun vorrücke, verschwinden die blauen Stellen immer mehr, und ich habe dar- an meine Freude.24

Solche ideenreichen Formen der Selbstorganisation im Schreibprozess zeigen, dass das

Papier nicht als neutraler Textträger aufgefasst wird, sondern dass ihm gerade über die sinnliche Perzeption eine Teilhabe am Schreibprozess selbst zugesprochen wird, wobei es sowohl inspirierend als auch ordnend wirken kann. Im Folgenden geht es jedoch weniger um die Organisation des literarischen Schreibens und deren literarische Effekte und 25 Reflexionen, sondern um die papiernen Einrichtungen des Interieurs und deren Verhältnis zu jeglicher Art von Schreibarbeiten. Daran, dies sei an dieser Stelle vorweggenommen, lässt sich insbesondere die für Weimar typische Verschränkung des Schreibens mit an- 26 deren Kulturpraktiken, vor allem mit denen des Wohnens und Sammelns, nachvollziehen.

II.1. Tapeten. Mit dem Einzug von Papieren ins Interieur wird die Wanddekoration nicht nur dem schnelleren Takt der Mode unterworfen, sondern auch vermehrt zum Gestaltungsbereich für individuelle Lösungen. So kamen in England die so genannten Printrooms auf, in denen einzelne Kupferstiche mit seriell erstellten Rahmen- und Dekor- elementen direkt auf die Wände geklebt wurden. Die Dekorationsmode wurde auch in 27 Wörlitz und Weimar rezipiert. Während diese Gestaltungsform auf die klare optische

Gliederung der Wände zielte, setzte sich die in Frankreich seit dem Rokoko praktizierte höfische Mode durch, im Quodlibetstil zunächst kleinere Dekorationsobjekte und Ofen- schirme, schließlich auch ganze Möbel und Wände flächendeckend mit ausgeschnittenen 28 Kupferstichen zu bekleben, die in speziellen Ausschneidebüchern erhältlich waren. In 29 Weimar konnte sich ein spätes Beispiel dieser Einrichtungsmode erhalten (vgl. Abb. 2).

24 Johann Peter Eckermann über ein Gespräch mit Goethe, notiert am 15.1.1827. In: Ders.: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hrsg. v. F. Begemann, Bd. 1, Baden Baden 1981, S. 185 (fortan zitiert: GGE). 25 Solche literarischen und poetologischen Verhältnisse zwischen Schreibprozessen, Schriftstücken und literari- schen Texten untersucht Sebastian Böhmer in seiner entstehenden Studie Schrift und Szenen des Schreibens in der Weimarer Klassik. Für den produktiven Austausch in Hinblick auf den vorliegenden Aufsatz danke ich ihm besonders. 26 Dieser Ansatz wurde für die derzeit in Vorbereitung befindliche Ausstellung Weimarer Klassik. Kultur des Sinnlichen entwickelt, die vom 16.3.–10.6.2012 im Schiller-Museum in Weimar gezeigt werden wird. Das Konzept entstand im Rahmen des vom Bundesministerium für Forschung und Bildung geförderten Projek- tes Sinnlichkeit, Materialität, Anschauung. Ästhetische Dimensionen kultureller Übersetzungsprozesse in der Weimarer Klassik. 27 Das Gestaltungsprinzip der Printrooms ist vermutlich bereits in den 1760ern von dem anglophilen Fürst Franz von Anhalt-Dessau und seinem Bau- und Einrichtungsleiter Friedrich von Erdmannsdorff importiert worden und findet sich noch in Schloß Wörlitz. Im Journal des Luxus und der Moden wurde diese Form der Wanddekoration 1790 vorgestellt und von vor Ort vertrieben. Aus dessen Sortiment stammen die 1794 montierten und bis heute erhaltenen Kupferstichdekorationen im Kaminzimmer von Schloß Tiefurt, vgl. Jürgen Beyer: Historische Papiertapeten in Weimar, Bad Homburg u. a. 1993, S. 13, 18. 28 Sigrid Metken: Geschnittenes Papier. Eine Geschichte des Ausschneidens in Europa von 1500 bis heute, Mün- chen 1978, S. 101–128. Ein schönes Beispiel dieses höfischen Zeitvertreibs hat sich in einem im Umkreis von Friedrich Wilhelm IV. von Preußen entstandenen Paravent erhalten. Vgl. Jörg Meiner: Möbel des Spät- biedermeier und der Historismus, Berlin 2008, S. 210. 29 Beyer (wie Anm. 27), S. 20 f. 8

Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 25

Abb. 2: Quodlibet aus Kupferstichen im Kabinett

am Göchhausenzimmer in Schloß Tiefurt, 1826.

Das Phänomen der beklebten Räume zeigt auf eindrückliche Weise, dass der Umgang mit Papier sich veränderte, als die Bögen aus Büchern und Mappen herausgelöst, zer- schnitten und auf Tapeten fixiert wurden, als das, was man bislang auf dem Tisch be- 30 trachtet hatte, nun an die Wände gebracht wurde. Auch Goethe schätzte den geselligen Zeitvertreib von Papierklebearbeiten,31 doch an seine Wände klebte er keine Bilder. Sehr wohl aber tapezierte er seine Arbeitszim- mer mit Texten, ein Verfahren, das auch bei anderen Zeitgenossen belegt ist. Kultur- geschichtlich ist einzubeziehen, dass in dem Arbeitsgang vor dem Bekleben der Wand mit einer Papiertapete üblicherweise ein ‚Quodlibet‘ aus ausrangierten Hand- und Druckschriftenbögen als Makulatur-Unterlage angelegt wurde – insofern war dies ein vertrauter Anblick bei der Zimmereinrichtung um 1800. In Schillers Wohnhaus fand

30 Zur Kulturgeschichte und Poetik des Albums erscheint in Kürze der Band: Annegret Pelz (Hrsg.): Album. Organisationsform narrativer Kohärenz, Wien (im Druck). 31 Johanna von Schopenhauer berichtet ihrem Sohn Arthur im Winter 1806/07 von den Papierschneidearbeiten mit Transparent- und Buntpapier sowie Schablonen, die sie mit Goethe und wäh- rend ihrer Abendgesellschaften fertigte. Die florale Gestaltung eines Ofenschirms ging einher mit dem brief- lichen Austausch mit Otto Philipp Runge und der intensiven Auseinandersetzung mit dessen neuesten Arbeiten, vgl. Goethes Gespräche. Biedermannsche Ausgabe, München 1998, Bd. 2, Nr. 2339, 2350, 2356, 2380, 2393, 2409, S. 167 f., 172, 176, 186 f., 191 f., 198 f. (fortan zitiert: GG).

9

26 Christiane Holm

sich etwa eine Makulatur aus seinen Horen. Auch ist belegt, dass Papiertapeten an der Wand zum Beschriften anregten. Erhalten haben sich wenige Fragmente aus Ludwig Gleims so genanntem Hüttchen, einem Gartenhäuschen am Rande von Halberstadt, in das er seine vertrauten Gäste einlud. Hier nutzte der Gastgeber die Tapete als Stamm- 32 buch, in das sich die Dichterfreunde mit casualpoetischen Zeilen eintrugen (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Tapetenfragment aus Ludwig Wilhelm Gleims Gartenhaus in Halberstadt mit handschriftlichen Eintragungen von Franz Michael Leuchsenring v. 12.5.1780 und Friedrich Heinrich Jacobi v. 14.8.1780.

Doch nicht nur im literarisch-geselligen, auch im epistemischen Kontext wurden Wände mit Texten beklebt, um komplexe Wissensbestände räumlich anzuordnen. So beklebte Carl von Linné sein Sommerhaus in Hammarby mit den gedruckten Bildtafeln seiner 33 Botanik. Von Schiller wurde durch Goethe berichtet, dass er sich während der Ar- beit am Wilhelm Tell „alle Wände seines Zimmers mit soviel Spezialkarten der Schweiz 34 [. . .] bekleben [ließ], als er auftreiben konnte“. Auch Goethe nutzte diese Form der individuellen Raumgestaltung, um sich botanische und historiographische Wissensbe- stände anzueignen und gegenwärtig zu halten. Dabei favorisierte er, wie Frédéric Soret notierte, die visuelle Aufbereitung durch Tabellen, die den Stoff in einer komprimier- ten und graphisch strukturierten Form präsentieren:

32 Doris Schumacher: Lob des Landlebens – Park und Gärten in den Sammlungen des Gleimhauses. In: C. Juranek (Hrsg.): Gärtnerische Wäldchen. Museen und Gartenkunst des 18. Jahrhunderts in Sachsen- Anhalt, Dößel 2006, S. 133–148, hier S. 134 f. Dazu erscheint in Kürze: Ute Pott: Das Tapeten-Album im Gleimhaus. In: Pelz (wie Anm. 30). 33 Diesen Hinweis verdanke ich Sabine Schachtner vom LVR Industriemuseum, Papiermühle Alte Dombach in Bergisch Gladbach. 34 Carl Friedrich von Conta über ein Gespräch mit Goethe im Mai 1820. In: GG, Bd. 5, Nr. 4782, S. 174 f., hier S. 175.

Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 27

Er zeigte mir botanische Tabellen [. . .]; früher war eins seiner Zimmer ganz damit tapeziert,

und so lernte er nun auswendig, indem er immer an den Wänden entlang ging; er bedauer-

te, daß er das Zimmer später hat weißen lassen, ebenso wie ein anderes, dessen Tapete aus

chronologischen Tabellen seiner Arbeiten durch eine ganze Reihe von Jahren hin bestand. Er

braucht solche Tabellen wie ehemals in seiner Jugend noch heute als wirksame Hilfsmittel zum Lernen.35

Gemeinsam ist allen herangezogenen Fallbeispielen der Selbsteinrichtung, dass sie auf das Arbeitsumfeld professioneller Autoren zielen, jedoch dabei ganz verschiedene Funk- tionen übernehmen. Gleim entwarf eine räumliche Versuchsanordnung entsprechend seines geselligen Literaturverständnisses, welche die performative Rahmung seiner ana- kreontischen Inspirations- und Schreibpraktiken sichtbar machte. Schiller legte sein geo- graphisch tapeziertes Zimmer als poetischen Inspirationsraum an, der ihm half, tempo- rär in die Welt seines Textes überzusiedeln. Linné und Goethe folgten eher dem Modell des Denkraums, um eine Wissensordnung zu vergegenwärtigen und weiterzuentwickeln, wobei Goethe besonders den mnemotechnischen Aspekt einer didaktisch motivierten Aneignung betonte.

Goethe interessierte nicht nur der Sonderfall der epistemischen Wandgestaltung durch Texte und Grafiken, sondern auch die unterschwelligen wahrnehmungspsychologischen 36 Effekte der Optik einer Tapete. Im kulturkritischen Gestus des Sturm und Drang verurteilte er zunächst die Papiertapete als Inbegriff des Bürgerlichen und, so will es eine von Carl August Böttiger überlieferte Anekdote, unternahm sogar gemeinsam mit 37 Carl August ikonoklastische Übergriffe auf Bertuchs Wandgestaltungen. Spätestens bei der Neueinrichtung seines Hauses am Frauenplan von 1792–1795 jedoch schloss

Goethe sich der klassizistischen Auffassung des Journals des Luxus und der Moden an, nach der die von Musterrapporten gegliederten durch einfarbige Tapeten abgelöst wur- den, welche durch Ornamentbordüren und Marmorpapiere eine sparsame Gliederung in einzelne Felder bzw. Zonen erhielten.38 In dieser Einrichtungsphase reflektierte er intensiv über die Wahl des Farbtons und nutzte dafür konkrete Materialproben, wie ein Brief an Johann Heinrich Meyer von 1795 belegt, in den zwei Tapetenstücke ein- geklebt sind (vgl. Abb. 4, 5).

35 Frédéric Soret: Notiz v. 13.10.1830. In: Ders.: Zehn Jahre bei Goethe. Erinnerungen an klassische Zeit 1822–1832, hrsg. u. übers. v. H. H. Houben, Leipzig 1929, S. 471. 36 In seinen farbpsychologischen Reflexionen schließt Goethe durchaus an zeitgenössische Ratgeberliteratur zu Einrichtungsfragen an. Vgl. dazu Sabine Thümmler: Die Geschichte der Tapete. Raumkunst aus Papier, Eurasburg 1998, S. 90 f. 37 Andreas Beyer: Weimarer Kulissen. In: C. Hölz (Hrsg.): Interieurs der Goethezeit. Klassizismus, Empire, Bie- dermeier, Augsburg 1999, S. 18–49, hier S. 30 ff. 38 Meinolf Siemer: Tapeten. In: Hölz (wie Anm. 37), S. 114–133, hier S. 128 f., vgl. auch Sabine Houquél- Schneider: Raumgestaltung um 1800. Die ästhetischen Wirkungsmittel bei der Gestaltung profaner Interieure in Weimar, Diss. Halle (S.) 1987, Bd. 1, S. 65–73. 1111

28 Christiane Holm

Abb. 4: Goethe an Johann Heinrich Meyer am 15.5.1794 mit einer blauen

und einer violetten Tapetenprobe.

Abb. 5: Goethes Sammlung von einfarbigen Tapetenmustern.

Die von Goethe angelegten Materialsammlungen von Tapetenstücken, die in Couverts verwahrt wurden, dokumentieren zudem sein Interesse an dem Einrichtungsthema als Anschauungsmaterial für die Farbenlehre.39 Der dort formulierte Grundsatz zur Farbe

39 Beyer (wie Anm. 27), S. 50 f.

Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 29

Grün konnte auf lange Selbstversuche zurückgreifen, denn diese Farbe hatte er bereits für viele Wandgestaltungen gewählt, insbesondere für seinen Arbeitsbereich:

Unser Auge findet in derselben eine reale Befriedigung. Wenn beide Mutterfarben sich in der Mischung genau das Gleichgewicht halten, dergestalt dass keine vor der andern bemerklich ist,

so ruht das Auge und das Gemüt auf diesem Gemischten wie auf einem Einfachen. Man will nicht weiter und man kann nicht weiter. Deswegen für Zimmer, in denen man sich immer 40 befindet, die grüne Farbe zur Tapete meist gewählt wird.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die grüne Einrichtung des Arbeitszimmers, eine Empfehlung, der auch Schiller folgte,41 mehr war als eine gestalterische Entschei- dung, da der papiernen Umgebung eine gewisse Mitwirkung auf die Arbeitsprozesse zugesprochen wurde. Die grüne Wandgestaltung der beiden zentralen Arbeitszimmer der Weimarer Klassik lassen sich mit der Farbenlehre als ein Schreibkonzept konturie- ren, nach dem der Dichter die Welt beim Schreiben nicht verlässt, sondern im Modus „reale[r] Befriedigung“ dort arbeitet. Dies unterscheidet sich von den Konzepten des

Genies oder des romantischen Dichters, die die prinzipielle Differenz zwischen der Welt der Textproduktion und der realen Erfahrungswelt, zwischen der Einbildungskraft und der sinnlichen Wahrnehmung betonen.

II.2. Papierne Ordnungshilfen in Goethes Sammlungsmöbeln. Goethes numerisch größte Sammlungsbereiche bestehen in der Mineralienkollektion, die zu seinem Lebensende rund 18.000 Objekte umfasste, in der 4.000 Stück zählenden Münz- und Medaillen- sowie der 6.000 Stück zählenden Gemmenabguss-Kollektion. Alle drei Bereiche wuchsen be- ständig an und bedurften spezieller Ordnungshilfen. In der Inneneinrichtung der Samm- lungsmöbel finden sich verschiedene, teilweise beschriftete Papp- und Papierelemente. Einige Etiketten wurden direkt auf und in die Möbel geklebt, wobei selbst die Eingerichte kostbarer Sammlungsmöbel nicht geschont wurden, wie zwei Mahagoni furnierte Münz- 42 schränke belegen, die vermutlich zeitweise in Goethes Gebrauch waren (vgl. Abb. 6, 7). In dem heute im Junozimmer befindlichen Exemplar sind Etiketten auf den Blen- den der flachen Schubladen aufgeklebt, die eine Ordnung nach lokalen Rubriken zei- gen. Die Etikettierung in den Binnenfächern der Laden eines anderen Münzschrankes hingegen folgt einem anderen Prinzip, indem die Papierklebungen, wie entsprechende Reste zeigen, unregelmäßig an einzelnen Positionen aufgebracht waren und somit be- sondere Einzelstücke markiert haben dürften.

40 Johann Wolfgang Goethe: Farbenlehre. In: WA, Abt. II, Bd. 1 (1890), S. 320. 41 Dass Goethe Schiller bei der Einrichtung des neuen Hauses an der Esplanade anhand einer Vorauswahl von Tapetenproben beriet, ist in den Briefen dokumentiert, vgl. den Brief v. Goethe an Schiller v. 23.1.1796. In: WA Abt. IV, Bd. 11 (1892), S. 12 f. 42 Es handelt sich um den heute im Junozimmer befindlichen Münzschrank (Inv.-Nr. GMo/00123) sowie ei- nen weiteren, der einer schriftlich beigelegten Provenienzbescheinigung nach aus Goethes Besitz stammt und erst zur Museumsgründung wieder in den Bestand zurück überführt wurde (Inv.-Nr. KMo, Identnr. 213482). Zum Schrank im Junozimmer vgl. Angelika Emmrich, Jochen Klauß: Münzschrank. In: Bestandhalten. Sech- zig Neuerwerbungen des Goethe-Nationalmuseums Weimar, München 1996, S. 66 f. Die Untersuchung der Schränke mit Blick auf Nutzungsspuren erfolgte gemeinsam mit Katharina Popov-Sellinat, Möbelrestaurato- rin an der Klassik Stiftung Weimar, der die Überlegungen zu den Sammlungsmöbeln viel verdanken. 1313

30 Christiane Holm

Abb. 6, 7: Eingerichte von Goethes Münzschränken mit Papierbeklebungen.

Für den Regelfall der in sich nicht gegliederten Laden verwendete Goethe andere pa- pierne Ordnungshilfen. So verfügte er über einen Vorrat von Pappen, „blau überzogen 43 mit runden Vertiefungen, worinn Münzen gelegt werden können“, in denen die Metallobjekte rutschfest in der Lade angeordnet werden konnten. Die Herstellung dieser Papierobjekte erfolgte nach Bedarf im eigenen Haus, wofür gelegentlich das ent- sprechende Werkzeug, ein „Meisel [. . .], womit wir die Löcher zu den Münzen aus- 44 schlagen“, vom Weimarer Graveur und Medailleur Friedrich Wilhelm Facius entlie- hen wurde. Goethes Sammlung von Gemmenabgüssen und -abdrücken war größtenteils in den seit Mitte des 18. Jahrhunderts üblichen handlichen Daktyliotheken organisiert. Dieses Format wurde von den Zeitgenossen als mediale Innovation gehandelt, die deshalb so folgenreich für die Archäologie wurde, weil sie, anders als die Abgusssammlungen von Plastiken, die auf Kanonisierung weniger hervorragender Stücke zielten, in erster Linie auf größtmögliche Stückzahl setzte.45 In der Katalogisierung überwog die thematische

Ordnung, die Trennung nach Stil- und Qualitätskriterien setzte sich erst im ausgehen- den 19. Jahrhundert durch. Für diese Sammlungsform wurden die rohen Gemmenab- güsse mit an den Kanten gestanzten und vergoldeten Papierbanderolen umwickelt, was

43 Brief v. Johann Wolfgang von Goethe an Christiane Vulpius v. 17.9.1799. In: WA, Abt. IV, Bd. 14 (1893), S. 182 f. 44 Ebenda, S. 183. 45 Daniel Graepler, Valentin Kockel (Hrsg.): Daktyliotheken. Götter & Caesaren aus der Schublade. Antike Gem- men in Abdrucksammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts, München 2006; Helge C. Knüppel: Daktyliothe- ken. Konzepte einer historischen Publikationsform, Ruhpolding 2009.

Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 31

nicht nur von dekorativem Wert ist, indem es die Schmuckfassungen der Gemmen aufnimmt, sondern auch eine ordnende Funktion hat: Die Banderolen bringen die Ab- 14 güsse auf eine einheitliche Höhe, sie erlauben die Fixierung auf einem in der Regel mit Papier kaschierten Tableau sowie die Beschriftung der Abgüsse. Diese besteht in der Regel in einem Nummernsystem, das mit dem zugehörigen Katalog korrespon- diert. Mit Blick auf diese auch bei den Weimarer Sammlern breit vertretene Form fällt ein kleines Weichholzschränkchen in Goethes Sammlung auf, das das Prinzip der Dak- tyliothek ganz augenscheinlich zerstörte, um eine flexiblere Betrachtungssituation zu schaffen: Hierin wurden nicht nur 505 lose Schwefelabgüsse, deren Nummerierung auf den Banderolen sowie die rückseitigen Abrisse noch auf die ursprüngliche Montage auf einem Papierträger verweisen, sondern auch 110 Briefsiegel verwahrt, die dafür aus den Couverts ausgeschnitten worden waren (vgl. Abb. 8a, 8b, 8c). Letzteres ist umso interessanter vor dem Hintergrund, dass der kommunikative Ein- bezug des jeweils verwendeten Siegelmotivs in Goethes Korrespondenz eine hohe Auf- merksamkeit erfuhr und viele amouröse und gelehrte Spielarten hervorbrachte.46 In- sofern hafteten den Siegeln nicht nur materialiter noch Reste der Schrift an, sondern ihre Wahrnehmung dürfte auch mit den jeweiligen Korrespondenzpartner(inne)n ver- bunden geblieben sein. In einer der Laden befinden sich Zettelchen von Goethes Hand, die sich als zer- schnittener Bogen der antiken Göttergenealogie rekonstruieren lassen. Durch die Frag- mentierung der herkömmlichen Montage der Abgüsse, deren Erweiterung durch lose Siegelabdrücke aus der Korrespondenz und die Hinzugabe eines Zettel-Kataloges ist eine vergleichsweise große Sammlung von Einzelstücken entstanden, die in immer wie- der neuen Varianten ausgelegt, betrachtet und erforscht werden konnte.

Abb. 8a, 8b, 8c: Schwefelabguss (Rückseite) und Siegelabdruck (Vorder- und Rückseite) aus Goethes Sammlung.

Für seine mineralogischen Sammlungsschränke erstellte Goethe ein anderes Beschrif- tungs- und Ordnungssystem als für die Münz- und Gemmenabguss-Kollektionen. Waren die Münzschränke den regelmäßigen Formaten des Sammlungsgegenstandes gemäß gut

46 Carina Weiss: „Köstliche Ringe besitze ich! Gegrabne fürtreffliche Steine. . .“. Zu Goethes Sammlung anti- ker und nachantiker Gemmen. In: JbFDH (2004), S. 116–151.

32 Christiane Holm

in kleinteilige, einheitlich hohe Binnenablagen zu gliedern, so war dieses Verfahren für die mineralogische Sammlung mit Stücken ganz unterschiedlicher Größe ungeeignet. 15 Hier entwickelte Goethe ein Ablagesystem von offenen Pappbehältnissen verschiedener Größen, in die die Steine eingeordnet werden konnten. So zeitlos sie wirken, solche Pappbehältnisse kamen erst Ende des 18. Jahrhunderts auf und wurden noch nicht se- riell produziert, sondern bei Bedarf maßgefertigt.47

Abb. 9: Schublade eines Mineralienschrankes aus Goethes Sammlung im Steinpavillon.

Seine heimischen „[d]rey Muster von Pappekästchen, von steigender Größe. Wie sie zum Zwecke unserer mineralogischen Sammlung nütze sind“, hatten sich offensicht- lich so gut bewährt, dass sich Goethe diese auch nach hinterherschicken ließ, wo er sich mit der Universitätssammlung befasste.48 Entsprechende Exemplare aus Goe- thes Gebrauch haben sich, größtenteils in den Schubladen der Mineralienschränke, er- halten (vgl. Abb. 9). Es handelt sich um rechteckige Behältnisse aus vier Millimeter starker Pappe, die innen mit weißem und außen mit schwarz gestrichenem Papier kaschiert sind.49 In diesen Untersetzern blieben die Steine an der ihnen zugewiesenen Position, kleinerer Materialabrieb verlor sich nicht in der Schublade, optisch erhielten die Ob- jekte einen dunkeln Rahmen und hoben sich gut vor dem hellen Hintergrund ab.

47 Als Verpackungsmaterial war um 1800 noch weniger die Papp-, sondern häufiger die Spanschachtel üblich, in der Kunstobjekte genauso wie Lebensmittel verwahrt und verschickt wurden, auch sie eignete sich zum Kaschieren mit Buntpapier sowie zum Bemalen und Beschriften. Zur Geschichte der Span- und Pappschachtel: „Packen wir’s ein!“ Von alten Schachteln und buntem Papier. Ausst.-Kat. Hessisches Landesmuseum Kassel, Kassel 2002, S. 8–43; Die schöne Hülle. Zur Geschichte und Ästhetik der Verpackung. Ausst.-Kat. Städti- sches Museum Göttingen, Göttingen 1982, S. 40–51; Lore Sporhan-Krempel: Vom Papier und seiner Vor- bereitung in alter Zeit, München, S. 45–52. 48 Brief v. Johann Wolfgang an August von Goethe v. 28.3.1817. In: WA Abt. IV, Bd. 28 (1903), S. 38. 49 Die Expertise der Kästchen unternahm Frank Sellinat, Buchrestaurator der Herzogin Anna Amalia Biblio- thek, dem zudem für die anregende wie kritische Diskussion materialsemantischer Aspekte gedankt sei.

16

16 Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 33

Die Beschriftung der Mineralien hingegen erfolgte weniger einheitlich. Einige selbst 16 gesammelte Stücke wurden direkt nach dem Fund mit beschrifteten Papieren beklebt.50

Diese Ablage wurde von Etiketten unterstützt, wobei hier mehrere Ansätze überliefert

sind, aber keiner sammlungsübergreifend ausgeführt wurde (vgl. Abb. 10a, 10b, 10c).

Abb. 10a.

Abb. 10b.

Abb. 10c. Abb. 10a–10c: Verschiedene Etikettensysteme aus Goethes mineralogischer Sammlung.

50 Solche Beklebungen sind vielfach auf den Objekten der mineralogischen Sammlung vorhanden. Vgl. etwa die Harzer Suite, die mit blauen, handschriftlich nummerierten Etiketten beklebt ist (wie Abb. 10a), abgebil- det in: Abenteuer – Natur – Spekulation. Goethe und der Harz. Ausst.-Kat. Schloß Wernigerode, Halle (S.) 1999, S. 122–132.

34 Christiane Holm

So finden sich vorbereitete Papierchen mit sorgfältig gestalteten Nummern, die mög- licherweise auf die Kästchen oder auch die Steine selbst aufgebracht werden sollten und im Zusammenhang mit einem entsprechenden Katalog zu verstehen sind. Daneben haben sich zahlreiche beschriebene Zettelchen verschiedener Hand erhalten, die kei- nem einheitlichen System folgen und sich jeweils auf ein konkretes Sammlungsstück beziehen. Hier handelt es sich nicht zuletzt um Zeugnisse des Austauschs von Fund- stücken mit anderen Sammlern. In großer Zahl finden sich gedruckte Etiketten ver- schiedener Größe, die den Formaten der Pappkästchen entsprechen und offenkundig für ein übergreifendes Ordnungssystem angelegt waren,51 das sich wie folgt rekonstruie- ren lässt: Der Eintrag in der Rubrik „Ordnung“ ist mit einer römischen Zahl zu leis- ten, die sich an die auf den Schränken angebrachte Nummerierung bezieht, so hier am Schrank „I. Klasse: Erd- und Steinarten“.52 In der Rubrik „Sippschaft des“ wird die

Familienbeziehung ausgewiesen: Das wäre nach dem Mineralogen Abraham Gottlieb

Werner z. B. „Sippschaft des Thons“, während unter „Gattung“ z. B. „Schieferthon“ zu 53 notieren wäre. Auf diese Weise bilden die Etiketten mit den drei Kriterien nicht nur die Einordnung des jeweiligen Objektes in die mineralogische Taxonomie ab – die Ordnung, die Sippschaft und die Gattung –, sondern auch die räumliche Ordnung der Sammlung mit dem Schrank, der Schublade und der Positionierung des Pappobjektes. Zudem wird durch die Rubrik „Fundort“ eine andere Ordnungslogik mitgeführt, die Goethe im Sinne der morphologischen Methode favorisierte. Hiernach wurden die Steine in Suiten geordnet, wobei die verschiedenen Steinproben eines Fundortes nach Schichtungen und Übergängen ausgelegt wurden.54 Die Ordnung in den Schränken erlaubte demnach, einzelne Objekte desselben Fundortes herauszunehmen und in Sui- ten zu organisieren. In diesem Falle diente das Pappbehältnis zugleich als Platzhalter, der anzeigte, dass ein Objekt zwischenzeitlich in einen anderen Kontext eingegliedert war. Resümierend ist festzuhalten, dass die Papierobjekte in Goethes Sammlungsmöbeln die Herstellung einer räumlich und schriftlich fixierbaren Ordnung ermöglichten und diese zugleich beweglich hielten. Die untersuchten Beispiele zeigen, dass die Organisa- tion der Sammlungen weniger auf eine kohärente Systematik oder eine einheitliche Präsentationsästhetik hin angelegt war, als vielmehr auf deren praktische Nutzung. In-

51 Mit der Ordnung der mineralogischen Sammlung war ab den 1820ern Goethes Sohn August betraut, der offensichtlich sein Vorhaben nicht abschließen konnte. Von dessen Hand ausgefüllte Etikettenvordrucke der- selben Machart (vgl. Abb. 10c) finden sich in der ebenfalls im Steinpavillon untergebrachten paläontologi- schen Sammlung. Diesen Hinweis verdanke ich Gisela Maul, Kustodin der naturwissenschaftlichen Samm- lung des Goethe-Nationalmuseums. 52 Die heute auf die Schubladenblenden geklebten Etiketten sind zwar nicht mehr goethezeitlich, jedoch handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine restauratorische Ersetzung nach dem Vorbild der ursprünglichen Bekle- bung, weil sich vereinzelt die zuvor angebrachten Pappetiketten mit derselben Beschriftung in der Sammlung erhalten haben. Zudem beurteilt Gisela Maul, Kustodin der naturwissenschaftlichen Sammlung des Goethe- Nationalmuseums, dieses Beschriftungssystem als schlüssig mit Blick auf die Goethe’sche Arbeitsweise. 53 Zu Werners mineralogischer Systematik im Kontext der Debatte um natürliche Systeme: Jonas Maatsch: „Naturgeschichte der Philosopheme“. Frühromantische Wissensordnungen im Kontext, Heidelberg 2008, S. 74–79. 54 Thomas Bach: Mineralogische Suiten als Weg von der Anschauung zur Erkenntnis. In: M. Bertsch, J. Grave (Hrsg.): Räume der Kunst. Blicke auf Goethes Sammlungen, Göttingen 2005, S. 289–312. Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 35 sofern können diese Ergebnisse neuere literatur- und kulturwissenschaftliche Forschun- gen unterstützen, die das Verfahren des vergleichenden Sehens und die Inszenierung der einsamen sowie der geselligen Betrachtung durch das Ein- und Auspacken, das Zei- gen und Verbergen von Sammlungsstücken in das Zentrum von Goethes Sammlungs- verständnis rücken.55

II.3. Möbelpapiere. Nicht nur die Außenhaut des Interieurs, auch seine verborgenen Innenseiten wurden im 18. Jahrhundert zunehmend mit Papieren ausstaffiert. Erst ab 1730 setzte sich die inwändige Beklebung von Schubladen, Schränken und anderen Behältnismöbeln mit Papier durch.56 Dafür verwendete man vor allem Buntpapiere, die in großer Vielfalt für die Buchgestaltung entwickelt worden waren und im Be- ziehen von Pappeinbänden sowie insbesondere als Vorsatzpapiere eingesetzt wurden.

So wurden in der Ausstattung der höfischen Röntgen-Möbel für Anna Amalia Herrn- huter Kleisterpapiere verwendet, die parallel als Bezugspapiere und Vorsätze in den Neu- anschaffungen für die Bibliothek zum Einsatz kamen.57 Insofern muss das Öffnen ei- ner solchen Schublade, den Sehgewohnheiten der Zeit entsprechend, mit dem zur Hand nehmen und Aufschlagen eines Buches konnotiert gewesen sein. Als mit Beginn der

Produktion von Papiertapeten auch diese für das Auskleiden von Möbeln Verwen- dung fanden, dürfte eine solcherart tapezierte Schublade über die entsprechende visu- elle Assoziation deren Sonderstatus als Raum im Raum unterstrichen haben. In Goethes Möbeln konnten sich in einigen Fällen noch die Originalpapiere erhal- ten.58 Nachvollziehbar ist, dass er für seine Sammlungsmöbel tendenziell Gebrauchs- papiere genutzt hat. So findet sich in einem seiner Münzschränke noch eine komplette Beklebung mit blauem Papier, an dessen grober Struktur man seine Herkunft aus der

Nachnutzung von Papierabfällen erkennt und das üblicherweise für Aktendeckel und Interimseinbände verwendet wurde. 59 In „[s]eine[m] großen Schreibtisch“ , dem Herzstück des Arbeitszimmers, hat sich die Erstbeklebung mit einem Buntpapier erhalten, das im Modeldruckverfahren mit roter

55 Johannes Grave: Goethes Kunstsammlungen und die künstlerische Ausstattung des Goethehauses. In: A. Beyer, E. Osterkamp (Hrsg.): Goethe-Handbuch. Supplemente, Bd. III: Kunst, Stuttgart 2011, S. 46–83; Matthias Buschmeier: Abgelegt und aufgeführt. Von Gemmen, Statuen und Medaillen oder der Transformation der Antike bei Goethe. In: R. Felfe, A. Lozar (Hrsg.): Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, Berlin 2006, S. 249–270; Carrie Asman: Kunstkammer als Kommunikationsspiel. Goethe inszeniert eine Samm- lung. In: J. W. Goethe: Der Sammler und die Seinigen, hrsg. v. ders., Berlin 1997, S. 119–200. 56 Albert Haemmerle: Buntpapier. Herkommen, Geschichte, Technik, Beziehungen zur Kunst, München 1961, S. 14; Angela Meincke, Christopher White: Dekorative und funktionale Verwendung von Papier auf Mö- beln und Holzobjekten. In: VDR-Beiträge zur Erhaltung von Kunst- und Kulturgut 2/2004, S. 94–103, hier S. 96. 57 Diesen Hinweis verdanke ich Matthias Hageböck, Buchrestaurator der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. 58 Alle im Folgenden ausgeführten Befunde gehen auf die Begutachtung durch Matthias Hageböck und Frank Sellinat, Buchrestauratoren der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, zurück. 59 Johann Wolfgang an Christiane von Goethe am 23.3.1810. In: WA, Abt. IV, Bd. 21 (1896), S. 212. Wächst die Zahl der Pulte und Schreibtische in Goethes Arbeitszimmer ständig, mit Ende seines Lebens sind es sieben, so spricht er im Rahmen der Nachsendebitten in der Regel von diesem zentralen Stück, dem gro- ßen, um einen Anbau erweiterten Schreibtisch an der Westwand, schlicht von „meinem Schreibtisch“, wäh- rend die anderen Stücke in ihrer Machart oder Raumposition beschrieben werden. 36 Christiane Holm 1919 Kleisterfarbe hergestellt wurde (vgl. Abb. 11). Das Schlangenlinienmuster war in feinerer

Ausführung auch bei Vorsatzpapieren im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beliebt und 60 findet sich in einigen Exemplaren der Herzogin Anna Amalia Bibliothek (vgl. Abb. 12).

Abb. 11: Schublade aus Goethes großem Schreibtisch mit Buntpapierausklebung.

Abb. 12: Vorsatzpapier eines Buches aus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, um 1780.

Die vergleichsweise großflächige Musterung sowie die etwas gröbere Machart des Pa- piers in Goethes Schreibtisch, das in einzelnen Bögen aufgebracht ist, lässt auf eine Ta- pete schließen. Dieses Papier ist nicht nur von dekorativem Wert, es stellt zudem eine rutschfeste Unterlage bereit und schafft einen Wahrnehmungsrahmen für die einliegen-

60 Diesen Hinweis verdanke ich Matthias Hageböck, Buchrestaurator der Herzogin Anna Amalia Bibliothek.

Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 37 den Objekte. Letzteres ist besonders deshalb interessant, weil alle Bereiche dieses Schreib- tischs, sowohl die Aufsatzschränkchen als auch die Schubladen, einzeln abgeschlossen werden konnten und Goethe den Schlüssel 1830 bei der Übergabe aller anderen Möbel- 61 schlüssel an seinen Sekretär und Kustos Friedrich Theodor Kräuter zurückbehielt.

Als seine engsten Mitarbeiter Kräuter, Friedrich Wilhelm Riemer, Johann Peter Ecker- mann, Christian Schuchardt und Friedrich von Müller den Schreibtisch wenige Tage nach seinem Tod öffneten, sahen sie vieles vermutlich zum ersten Mal. Ihre testamen- tarisch verfügte Aufgabe bestand in der Ergänzung der Ausgabe letzter Hand um die

Abteilung „Aus dem Nachlass“. Demnach bestand ihr Hauptanliegen darin, die Text- zeugnisse des Nachlasses aufzunehmen und den Zuständigkeitsbereichen entsprechend zu verteilen.62 Es handelt sich um einen kulturgeschichtlichen Glücksfall, dass diese Nachlassverwalter, noch bevor das Museumsformat des Dichterhauses erfunden und in- stitutionalisiert wurde, alle Gegenstände in und auf den Möbeln des Arbeitszimmers inventarisierten und nach anfänglichen summarischen Einträgen schließlich Schublade für Schublade aufnahmen.

Allen fünf Beteiligten war das Arbeitszimmer vertraut und insofern auch die eigen- artige Mischung von papiernen Arbeitsmaterialien wie Büchern, Karten, Reproduk- tionsgrafiken, Tabellen, die Goethe je nach aktuellem Arbeitszusammenhang auf den

Stehpulten und Tischen auslegte, und von solchen, nicht auf die konkrete Aufgabe ausgerichteten Einrichtungsstücken. Dazu zählten viele Papierobjekte, vor allem episte- mische Dinge wie der selbstgebastelte Tetraeder aus bemalter Pappe zu den Seelenver- 63 mögen und Erinnerungsgegenstände wie die aufgefädelten Visitenkarten der Besucher der vergangenen Monate. In den Innenräumen des großen Schreibtisches fand sich diese spannungsvolle Mischung von Arbeits- und Erinnerungsobjekten noch gesteigert: Dort befanden sich erwartungsgemäß die aktuellsten Arbeitspapiere wie ein Korrekturexem- plar der Ausgabe letzter Hand, Brieffaszikel der Zelter-Korrespondenz, die zur Edition 64 vorgesehen waren, aber auch wenige Tage vor Goethes Tod eingegangene Briefe.

Auch persönliche Akten wie Sparbücher und Ehrenurkunden von Kulturinstitutionen wurden aufgenommen. Diese Schriftstücke waren durchmischt mit Couverts, Pappkäst- chen u. a. Behältnissen mit Erinnerungsstücken: herzogliche und königlichen Briefe in einem gesonderten Lederportefeuille, als persönliche Gaben gekennzeichnete Papp- schachteln mit Gemmenabgüssen oder Steinen, die Goethes wissenschaftliche Interes- sen betrafen, aber eben nicht im Kontext der entsprechenden Sammlungen verwahrt wurden bis hin zu in Papier eingewickelten Locken, darunter eine „mit der Aufschrift:

61 Johann Wolfgang Goethe: Schlüssel zu meinen Sammlungen wie solche Herrn Bibliothek-Secretär Kraeuter übergeben worden, v. 5.10.1830. In: WA, Abt. IV, Bd. 48 (1909), S. 284. 62 Acta den pp. Von Goethe’schen Nachlaß betr. und zwar insbesondere die Verzeichnung der in dem Ar- beitszimmer, in dem Deckenzimmer und in dem Büstenzimmer vorgefundenen Gegenstände betr., 1832, Goethe Schiller Archiv Weimar, GS A 38, N1. Darin quittieren die Beteiligten die Übernahme einzelner Textkonvolute für die Weiterbearbeitung. 63 Goethes Farbenlehre, ausgewählt u. erläutert v. Rupprecht Matthaei, Ravensburg 21988, S. 188. 64 Zu Goethes Ordnungsstrategien des Briefeingangs: Sabine Schäfer: Zur Erschließung der Registratur der bei Goethe eingegangenen Briefe. Die Einbeziehung der Vorarbeiten zu Goethes „Tag- und Jahresheften“ in die Redaktion der ersten Bände der Regestausgabe „Briefe an Goethe“. In: K.-H. Hahn (Hrsg.): Im Vorfeld der Literatur, Weimar 1991, S. 85–107. 38 Christiane Holm

‚Charlotte‘“, das Karlsbader Andenkenglas mit zwei Briefen von Ulrike von Levetzow sowie vier handgearbeitete „Brieftaschen und Souvenirs“.65 Entscheidend ist, dass innerhalb des Schreibtisches, selbst innerhalb seiner Binnen- räume, die offenkundig intimen Erinnerungsstücke nicht von den Arbeitspapieren und sonstigen Dokumenten gesondert waren. Insofern sind diese der von Goethe einge- richteten Wahrnehmungssituation gemäß als Ensembles zu betrachten und zu unter- suchen. Es handelt sich nicht um eine Sammlung, sondern vielmehr um ein Sammel- surium von zeitlich nahen und entfernten, von all- und festtäglichen, von wertlosen und kostbaren, von literarischen, wissenschaftlichen, amtlichen und intimen Papieren und Objekten. Ein solches Sammelsurium unterscheidet sich dadurch von einer Samm- lung, dass es nicht intentional angelegt wird und zunächst als „Unordnung“ erscheint, in der sich jedoch eine „historisch gewordene Ordnung“ abbildet.66 Diese autobiogra- phische Form, konkret die so genannte Kramschublade, wird erst um 1900 theorie- fähig, als Sigmund Freud in seiner Psychopathologie des Alltagslebens solche zufällig und performativ generierten Dingensembles beschreibt und analysiert. Die entsprechende Erinnerungspraxis, das zeigt nicht zuletzt der 1832 inventarisierte Schreibtisch, ist si- cher deutlich älter. Jedoch stehen die Dinge aus Goethes Schubladen gleichermaßen im Zusammenhang mit dem literarischen Projekt Aus meinem Leben, das für die Aus- gabe letzter Hand sehr viel umfangreicher konzipiert war. Bekanntlich ließ Goethe Dich- tung und Wahrheit mit seiner Ankunft in Weimar enden, jedoch, das war bereits in der

Verlagsankündigung beworben worden, sollten ursprünglich auch die frühen Weima- rer Jahre eingeholt werden.67

Vor dem Hintergrund dieses Arbeitszusammenhangs ist der Schreibtisch mit den vie- len Andenken an die Weimarer Jahre nicht nur als Arbeitsinstrument, sondern zugleich als dinglich-räumliches autobiographisches Format zu verstehen, das im Status des „Zwi- schenspeichers“ verblieb.68 Dieser war optisch durch das Möbelpapier mit den intensi- ven Rottönen, die im Kontrast zur grünen Wandgestaltung des Zimmers standen, deut- lich abgehoben. Immer, wenn Goethe die Papiere seines Tagesgeschäftes dort ablegte, fiel sein Blick auch auf die Erinnerungsstücke mit den ihnen anhaftenden Narrativen.69 Insofern darf man in der Ensemblebildung eine Form von gelenktem Zufall vermuten, der in der entsprechend beiläufigen Betrachtungssituation belebend oder auch inspirie-

65 Acta (wie Anm. 62), Protokoll v. 1.4.1832, Bl. 5v–6v. 66 Die hier zugrunde gelegte Unterscheidung von intentionaler Sammlung und nicht-intentionalem Sammel- surium folgt Gisela Ecker, die sie mit Rekurs auf die psychoanalytische Entdeckung von Alltagsensembles profiliert: Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1904), zitiert n. Gisela Ecker: Literari- sche Kramschubladen. Portraits – Privatmuseen – Zwischenspeicher. In: A. Allkemper, N. O. Enke (Hrsg.): Das Gedächtnis der Literatur. Konstitutionsformen des Vergangenen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 19–31, hier S. 20. 67 Waltraud Hagen: Goethes autobiographische Schriften in der Inhaltsplanung der Ausgabe letzter Hand. In: GJb 90/1973, S. 168-185. 68 Ecker (wie Anm. 66), S. 25 f. 69 Vgl. dazu die Forschungen des Projektes Andenken und Eingedenken des Gießener SFB Erinnerungskulturen, z. B. Anna Ananieva, Christiane Holm: Phänomenologie des Intimen. Die Neuformulierung des Andenkens seit der Empfindsamkeit. In: Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken. Ausst.- Kat. Museum für Angewandte Kunst Frankfurt a. M. 2006, S. 156–187. Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 39

rend auf die Arbeit am Lebenswerk zurück wirken konnte. In diesem Sinne kann man eine späte Äußerung verstehen, die Eckermann überlieferte, nach der Goethe in sei- nem Arbeitszimmer durchaus ganz bewusst eine Form von Unordnung kultivierte:

Prächtige Gebäude und Zimmer sind für Fürsten und Reiche. Wenn man darin lebt, fühlt man

sich beruhigt . . . und will nichts weiter. [. . .] Geringe Wohnung dagegen, wie dieses schlechte Zimmer, worin wir sind, ein wenig unordentlich ordentlich, ein wenig zigeunerhaft, ist für mich das Rechte; es läßt meiner inneren Natur volle Freiheit, tätig zu sein und aus mir selber zu schaffen.70

Auch die Schubladen sind „ein wenig unordentlich ordentlich“ arrangiert, denn dass Goethe sich auch außer Haus darin bestens zurechtfand, belegen die oben zitierten

Briefe an seine Angehörigen und Mitarbeiter, in denen er sie präzise durch die Möbel navigierte, um sich bestimmte Papiere und Objekte nachsenden zu lassen. Und dass er sein Interieur in den Worten von Eckermann als zigeunerhaft kennzeichnete, entspricht, lässt man einmal die sozialen und poetischen Implikationen zur Seite, der Bewegung 71 der Dinge wie der dynamisierten Wahrnehmungssituation. Goethes Papiergebrauch, die Beklebung und teilweise Beschriftung von Räumen und Möbeln, die Fertigung von Pappbehältnissen und Etikettensystemen ist nicht ungewöhn- lich. Und die vorzügliche Überlieferung seines Nachlasses erlaubt einen Einblick in den nicht ausschließlich textbezogenen Umgang mit Papier einer Zeit, die sich insbe- sondere in Weimar als „papiernes Zeitalter“ verstand und verstanden wissen wollte. Ungewöhnlich ist jedoch die Konstellation des Fallbeispiels, da Goethes Papierge- brauch auf unterschiedlichen Ebenen aufs Engste mit seiner literarischen und wissen- schaftlichen Textproduktion verbunden war. Gerade weil er sich mit seinem Einzug in das Haus am Frauenplan weitgehend auf das Diktieren verlegte, darf man eine gesteigerte

Aufmerksamkeit auf die materiale Dimension des Papiers vermuten. Und diese zeigt sich in einem bewussten Umgang mit ganz unterschiedlichen Materialqualitäten nicht nur in den Manuskripten, Briefen und Druckwerken, sondern auch in der Innenaus- stattung. Der große Vorteil besteht in der Flexibilität der papiernen Selbsteinrichtungen, der Möglichkeit, gezielt bestimmte Wahrnehmungssituationen zu schaffen für ästheti- sche Erfahrungen, wissenschaftliche Erkenntnisse oder poetische Inspirationen.

70 Johann Peter Eckermann über ein Gespräch mit Goethe, notiert am 23.3.1829. In: GGE, S. 307 f. 71 Dass die veränderte Wahrnehmung des Interieurs um 1800 vor allem literarisch reflektiert wird, lässt sich gattungspoetisch nachvollziehen. Einerseits finden sich experimentelle Interieurdarstellungen gerade in den ‚niederen Gattungen‘ wie z. B. in der Idylle, andererseits entsteht die neue Gattung der Zimmerreise, die sich ausschließlich solchen autobiographischen Wahrnehmungseinrichtungen verschreibt, vgl. Günter Oes- terle: Poetische Interieurs des 18. Jahrhunderts. In: H. Dilly, C. Holm (Hrsg.): Innenseiten des Gartenreichs – Inside the Gardens. Die Wörlitzer Interieurs im englisch-deutschen Kulturvergleich, Halle (S.) (erscheint 2011); Bernd Stiegler: Rasender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte der Reisen im und um das Zimmer herum, Frankfurt a. M. 2010. 40 Christiane Holm

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1a, 1b: Martin Gottlieb Klauer: Antinoos, um 1800, Pappmaché, Höhe 49 cm, Bestand des ehe-

maligen Großherzoglichen Kunstkabinetts, Inv.-Nr. KPl/00982. © Klassik Stiftung Weimar.

Abb. 2: Quodlibet aus Kupferstichen im Kabinett am Göchhausenzimmer in Schloß Tiefurt, 1826,

aus: Beyer (wie Anm. 27), S. 21. © Klassik Stiftung Weimar.

Abb. 3: Tapetenfragment aus Ludwig Wilhelm Gleims Gartenhaus in Halberstadt mit handschrift- lichen Eintragungen von Franz Michael Leuchsenring v. 12.5.1780 und Friedrich Heinrich Ja- cobi v. 14.8.1780. © Gleimhaus Halberstadt.

Abb. 4: Goethe an Johann Heinrich Meyer am 15.5.1794 mit einer blauen und einer violetten Ta-

petenprobe, Goethe- und Schiller-Archiv, Sign. GSA 64/68. © Klassik Stiftung Weimar.

Abb. 5: Goethes Sammlung von einfarbigen Tapetenmustern, Naturwissenschaftliche Sammlung des

Goethe-Nationalmuseums, Inv.-Nr. GNF 0397. Aus: Beyer (wie Anm. 27), S. 50. © Klassik Stif-

tung Weimar. Abb. 6: Eingerichte eines Münzschranks, 1827, Eiche, Birke und Nadelholz, Furnier Pyramidenmagoni,

Höhe:147,5 cm, Breite: 86 cm, Tiefe: 46,5 cm, Standort im Junozimmer von Goethes Wohnhaus

am Frauenplan, Inv.-Nr. GMo/00123, Foto: C. Holm. © Klassik Stiftung Weimar.

Abb. 7: Eingerichte eines Münzschranks, Anf. 19. Jhdt., Birke, Nadelholz, Mahagonifurnier, grau-

grün überfasst, Höhe: 120 cm, Breite: 60 cm, Tiefe: 46 cm, aus dem Goethenachlass, Inv.-Nr. KMo

(Ident.-Nr. 213482), Foto: K. Popov-Sellinat. © Klassik Stiftung Weimar. Abb. 8a, 8b, 8c: Schwefelabguss (Rückseite) und Siegelabdruck (Vorder- und Rückseite) aus einem

Weichholzschränkchen in Goethes Abgusssammlung, Goethe-Nationalmuseum, Inv.-Nr. nach

Schuchardt II, Abt. II,3, S. 344, Nr. 271. Fotos: C. Holm. © Klassik Stiftung Weimar. Abb. 9: Schublade eines Sammlungsschrankes aus Goethes mineralogischer Sammlung im Steinpavil-

lon, Foto: G. Maul. © Klassik Stiftung Weimar.

Abb. 10a, 10b, 10c: Verschiedene Etikettensysteme aus den Schränken von Goethes mineralogischer

Sammlung im Steinpavillon, Fotos: C. Holm. © Klassik Stiftung Weimar.

Abb. 11: Schublade aus Goethes großem Schreibtisch an der Westwand des Arbeitszimmers mit Bunt- papierausklebung (Modeldruck mit Kleisterfarbe), 76,7 cm × 59 cm × 13,7 cm, Foto: C. Holm.

© Klassik Stiftung Weimar.

Abb. 12: Vorsatzpapier um 1780 (Modeldruck mit Kleisterfarbe), aus: Œuvres Completes De Vol- 0 taire, Tome III, [Kehl] 1785, 8 , Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Sign. Dd 6: 264 [p] [1] (3),

Foto: M. Hageböck. © Klassik Stiftung Weimar.

Anschrift der Verfasserin: Dr. Christiane Holm, Klassik Stiftung Weimar, Referat For- schung und Bildung, Burgplatz 4, D–99423 Weimar