Goethes Papiersachen Und Andere Dinge Des „Papiernen Zeitalters“
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10.3726/92135_17 17 CHRISTIANE HOLM Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ Seit Papier in Europa bekannt und im 13. Jahrhundert auch produziert wurde, war es vornehmlich als Träger von Schrift und somit als Objekt des Beschreibens, Be- druckens und Lesens im Gebrauch.1 Erst Mitte des 18. Jahrhunderts etablieren sich neben einem ausdifferenzierten Angebot an Text- und Bildmedien auch andere seriell gefer- tigte Papierprodukte und das Papier hält Einzug ins Interieur. In Form von Tapeten, Möbelausgestaltungen, Behältnissen und anderen Papierobjekten prägt es von nun an den Charakter der Innenräume und somit auch die Umgebung des Schreibens und Lesens. Das aktuelle literaturwissenschaftliche Interesse an Papier richtet sich auf die Mate- 2 rialität von Textträgern. Dabei interessiert insbesondere der Eigen- oder Nebensinn des Schreibmaterials, der sich durchaus widerständig oder kommentierend zu dem Ge- schriebenen verhalten kann.3 Gegenstand der folgenden Beobachtungen und Überlegun- gen sind hingegen solche Papierobjekte, die nicht zum Beschriften gedacht, aber durchaus in Schreibpraktiken eingebunden waren. Exemplarisch werden dafür die papiernen Ein- 1 In China, wo Papier seit dem 2. Jh. v. Chr. nachgewiesen ist, hatte sich längst eine differenzierte Papierkultur entwickelt, in der das Material z. B. auch für Inneneinrichtung und Bekleidung Verwendung fand. 2 Aktuelle literaturwissenschaftliche Forschungen zur Materialität von Textträgern entstehen meist im Kon- text der Institutionen, die sich seit jeher mit dem konkreten Objekt befassen: Editionsprojekte, Archive und Museen. Aus dieser Tradition heraus ist die – durchaus kritische – Auseinandersetzung mit dem „material turn“ in den Kulturwissenschaften besonders ergiebig, vgl. M. Schubert (Hrsg.): Materialität in der Edi- tionswissenschaft, Berlin 2010. Eine gute Übersicht bietet die problemorientierte Forschungsdiskussion: Per Röcken: Was ist – aus editorischer Sicht – Materialität? Versuch einer Explikation des Ausdrucks und einer sachlichen Klärung. In: editio 22/2008, S. 22–46. Sowohl für Ausstellungskonzepte, die auf den epistemi- schen und ästhetischen Mehrwert der materiellen Seite von Texten zielen, als auch für deren methodische Reflexion sind vor allem die Arbeiten des Deutschen Literaturarchivs und des Literaturmuseums der Mo- derne in Marbach maßgeblich, vgl. Heike Gfrereis (Hrsg.): deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göt- tingen 2007. Der Frage, wie sich die materielle Dimension von Texten in literatur- und kulturwissenschaft- liche Fragestellungen einbeziehen lässt, widmete sich der im Februar 2011 von Cornelia Ortlieb und Birgit Erdle veranstaltete Workshop Papierobjekte, dem sich der vorliegende Beitrag verdankt, vgl. Frederik Bandel: Wie Max Horkheimer für Spirituosen warb. Künstlerbücher und Papierobjekte: Ein Workshop zur Materialität der Schrift. In: FAZ v. 23.2.2011, S. N3. 3 Ein besonderer Status kommt der Materialität des Textträgers in den Gattungen Brief und Tagebuch zu, da sie als Teil der Mitteilung konzipiert ist. Zu nennen sind hier zwei theoriegeleitete Ausstellungsprojekte, die eine entsprechend neu akzentuierte Gattungspoetik formulieren: Anne Bohnenkamp, Waltraud Wiethölter (Hrsg.): Der Brief. Ereignis und Objekt. Ausstellungskatalog des Freien Deutschen Hochstifts und Goethe- musem Frankfurt, Frankfurt a. M. 2008; Helmut Gold u. a. (Hrsg.): Absolut privat?! Vom Tagebuch zum Weblog. Ausstellungskatalog der Museen für Kommunikation Frankfurt, Berlin und Nürnberg, Heidelberg 2008. Neben solchen über den Zugang von der Objektseite bestimmten Forschungen sind literaturwissen- schaftliche Ansätze zu nennen, die die Diskursivierung der materiellen Dimension von Texten in der Lite- ratur analysieren. Hier sei stellvertretend auf eine der vielen Studien verwiesen, die aus der „Schreibszenen“- Forschung hervorgingen: Martin Stingelin (Hrsg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004. 18 Christiane Holm richtungen aus Goethes Wohnhaus am Frauenplan in den Blick genommen und mit der prominent in Weimar artikulierten Diskursivierung des Papiergebrauchs um 1800 kontextualisiert, welche in der epochalen Selbstbeschreibung vom „papiernen Zeitalter“ Ausdruck findet. I. Der Topos des „papiernen Zeitalters“. Die neuere kulturgeschichtliche Papierforschung hat für die vergangenen zwei Jahrhunderte den Begriff der „Papierzeit“ eingeführt.4 Dabei setzt sie die epochale Zäsur um 1800 an, weil seitdem der Papiergebrauch po- tentiell zunahm und der Stoff schließlich ab 1850 zu einer Massenware wurde. Die industrielle Herstellung von Papier machte die breitenwirksame Distribution von Lite- ratur und Bildkunst, mehr noch: den Prozess der Modernisierung in den Bereichen von Geldverkehr, Bürokratie oder Werbung nicht nur möglich, sondern formte diese Bereiche auch maßgeblich. Dieser Umbruch wurde bereits in einer Zeitdiagnose des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschrieben, die aus der professionellen Perspektive der Papierindustrie formuliert wurde. Max Schubert, Dozent an der Technischen Hoch- schule in Dresden und zuvor in der Papierproduktion tätig, leitete sein 1898 in erster Auflage erschienenes Handbuch Die Praxis der Papierfabrikation mit einer Technik- und Konsumgeschichte des Papiers ein: In Webstoffen gekleidet hat sich der Mensch mehr oder weniger seit Jahrtausenden, Papier hat er auch seit mehr als tausend Jahren hervorgebracht, aber die allgemeine Benutzung begann erst in diesem Jahrhundert [. .]. Unser jetziges Zeitalter ist schon vor Jahren das eiserne ge- nannt worden, doch könnte man es mit gleichem Rechte als das papierne Zeitalter bezeich- nen, denn welche Industrie hat sich in den letzten Dezennien so ungeheuer entwickelt, als gerade die Papierfabrikation. Noch unsere Väter wendeten jedes Briefcuvert um zur zweimaligen Benutzung und hoben sich jeden Streifen weissen Papiers auf; jetzt dagegen beachten auch die Unbemittelten kaum diesen Artikel, der in überreichem Maasse vorhanden, unglaublich billig, überall erhältlich ist und in allen Kreisen geradezu als tägliches Bedürfnis auftritt. Gerade in dieser scheinbaren Nichtbeachtung des Werthes des Papiers, darinnen, dass sein Vorhanden- sein als selbstverständlich angenommen wird, liegt die hohe Bedeutung dieses Industriezweiges, dem ich als Fachmann angehöre.5 Schubert bezieht sich konkret auf die Umstellung der Papierproduktion vom Rohstoff Hadern, der vorwiegend aus der Wiederverwertung von Leinentextilien gewonnen wur- de, auf das Holz, das effizientere Herstellungsverfahren erlaubte. Jedoch begründet er die griffige Formel vom „papiernen Zeitalter“ nicht allein mit der Industrialisierung der Papierherstellung, sondern vor allem mit den Effekten, die der tägliche Konsum auf die kollektive Wahrnehmung des Materials hat. Denn, so die Pointe seiner Argu- 4 Johannes-Georg Oligmüller: Papierzeit. Ausstellungskatalog Papiermühle Alte Dombach, Essen 1997; ders., Sabine Schachtner: Papier – vom Handwerk zur Massenproduktion, Köln 2001. Ausgehend von dem Be- fund, dass der Papierverbrauch auch im ‚elektronischen Zeitalter‘ sukzessive wächst, positionieren sich beide Museumspublikationen mit der Definition des längst noch nicht abgeschlossenen „papiernen Zeitalters“ durch einen alltags- und konsumgeschichtlich profilierten Ansatz innerhalb der neueren Papierforschung. 5 Max Schubert: Die Praxis der Papierfabrikation. Mit besonderer Berücksichtigung der Stoffmischungen und deren Calculationen, Berlin 1898, Einleitung, S. 1 f. Goethes Papiersachen und andere Dinge des „papiernen Zeitalters“ 19 mentation, gerade als es aufhörte, Gegenstand des Nachdenkens zu sein, konnte das Papier seine breiten- und tiefenwirksame kulturelle Prägekraft entfalten. Vor der Folie dieser um 1900 formulierten Technik- und Konsumgeschichte ist es erstaunlich, dass sich bereits um 1800 die Rede vom „papiernen Zeitalter“ etablieren konnte, als dafür weder die maschinellen noch die ökonomischen Voraussetzungen bestan- den. Tatsächlich war Papier im ausgehenden 18. Jahrhundert zwar günstiger als viele an- dere Wertstoffe, jedoch alles andere als ein Massenprodukt. Und es blieb bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine begrenzte und geschätzte Ressource. Wenn auch die Papierherstel- lung bereits Anfang des 18. Jahrhunderts durch die maschinelle Reißtechnik der Lum- pen mit dem so genannten Holländer entschieden verbessert werden konnte, so blieb es doch auf den begrenzten Hadern-Rohstoff angewiesen. Die steigende Nachfrage führte zwangsläufig zu Verteilungskämpfen, wie die Kriminalisierung des Lumpenhandels und entsprechende Regelungsversuche seitens der Obrigkeiten belegen. Die aus diesem Eng- pass heraus betriebenen Experimente mit Holz, Stroh und anderen problemlos verfüg- baren pflanzlichen Faserrohstoffen führten schließlich Mitte des 19. Jahrhunderts zur Entwicklung des Holzschliffpapiers. Nun erst konnte Papier zu einer Massenware wer- den, dem eingangs skizzierten entscheidenden Kriterium für den Sprachgebrauch vom „papiernen Zeitalter“ um 1900, dessen erste, ein Jahrhundert zurückliegende Konjunktur offenkundig nicht mehr präsent war. Umso wichtiger ist zu klären, mit welchen Material- semantiken das Papier um 1800 belegt werden und sogar zum Leitmotiv der epochalen Selbstbeschreibung avancieren konnte, ohne auf einer vergleichbaren technikgeschicht- lichen Zäsur zu gründen. So formuliert Christoph Martin Wielands Sohn Ludwig 1803: Es schreibt iezt wer kann, [. .] es ist das papierne Zeitalter, wer irgendwo zu viel oder zu we- nig