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Drews, Berta: Mein Mann Heinrich fast allen vergleichbaren Lagern in der George. Mit einem Vorwort von Götz Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) be- George, einem Nachwort von Jan legt. Von der NKWD/MWD-Administra- George sowie dem Briefwechsel zwi- tion wurden sie gefördert und unterstützt. schen Berta Drews und Heinrich Die Hohenschönhausener Truppe gab bis George während seiner sowjetischen zum Verbot jeglicher Außenkontakte am Lagerhaft 1945/46 mit seinen Gedich- 26. November 1945 sogar „Gastspiele“ in ten. München: Langen Müller 2013, anderen sowjetischen Haftorten. 288 Seiten, 19,99 €. Im Vergleich mit den anderen Lagerin- Bei dem vorliegenden Band handelt es sassen wurden einigen Akteuren außer- sich um den Nachdruck des Lebensbe- gewöhnliche Privilegien zugestanden. In richts der Mimin Berta Drews, welcher den Briefen Georges fallen in diesem Zu- 1986 unter dem Titel Wohin des Wegs sammenhang immer wieder die Namen erschien. In der aktuellen Neuauflage des ursprünglich im Reichsministerium wurde der ursprüngliche Erinnerungsteil für Volksaufklärung und Propaganda tä- um etwa die Hälfte reduziert. Laut edito- tigen Bulgaren Bebel Madjarow und des rischem Vermerk konzentriert sich die in Odessa geborenen rußlanddeutschen Publikation nun auf den „entscheidenden Schauspielers Ernst Konstantin, welcher Abschnitt im Leben des Ehepaares Berta während des Krieges beim Oberkom- Drews/Heinrich George“, wodurch auch mando der angestellt war. eine Änderung des ursprünglichen Titels George selbst partizipierte ebenfalls an gerechtfertigt sei. der besseren Verpflegung und Unterkunft Eine wesentliche Ergänzung erfuhr die sowie an anderen gewährten Vergünsti- Veröffentlichung unter anderem durch gungen. Seine Theaterkollegen, die über die Aufnahme von 21 Briefen, die Berta russische Sprachkenntnisse verfügten, Drews mit ihrem Mann während dessen organisierten auch die persönlichen Kon- Gefangenschaft im sowjetischen Internie- takte und die beschriebenen Austausch- rungslager in -Hohenschönhausen beziehungen mit der Außenwelt. zwischen Juli 1945 und Februar 1946 Was die Kommentierung der editierten wechseln konnte. Briefe angeht, weist der Fußnotenapparat Diese Texte sind insbesondere durch ihre eine Reihe von Mängeln auf. Hier wäre Authentizität einmalige historische Quel- mehr Sorgfalt angebracht gewesen. Bei len. Von Verzerrungen weitestgehend dem auf Seite 228 erwähnten „Prof. frei, geben sie schlaglichtartig Auskunft Kock“ dürfte es sich zum Beispiel um über die Nöte, Ängste und Gefühlswelt den Internisten der Charité Prof. Dr. des Schauspielerehepaars im besetzten Friedrich Koch handeln. „Swertkow“ der Berlin der Nachkriegszeit. Außerdem „Dirigent des Bojarenchors“ (S. 228, erhält der aufmerksame Leser aus den 234) heißt richtig Oleg Swerkow. Irritie- sehr persönlich gehaltenen Zeilen viele rend ist des weiteren die Erläuterung be- Detailinformationen über das Spezialla- züglich der „Braut von K.[onstantin]“ ger Nr. 3 und die Situation der dorthin „Frl. Tamara“, die Berta Drews im Auf- verschleppten Zivilpersonen. trag von George kontaktieren sollte (S. 237). In der entsprechenden Fußnote Im Zentrum der Korrespondenz steht das wird ihr der Familienname „Klein“ zuge- dort von Heinrich George maßgeblich ordnet. Den Nachnamen „Klein“ trug mitgetragene Theaterprojekt. Ähnliche allerdings auch die Ex-Ehefrau von Kon- Gruppenaktivitäten von internierten Lai- en, Schauspielern und Künstlern sind in 168 ZdF 35/2014 stantin Tatjana, welche selbst im Lager diesem „in die erste Schutzpolizeitruppe Hohenschönhausen interniert war. aufgenommen“ wurde. In diesem Brief Leider fehlt auch ein Vermerk über die heißt es: „Als mein Vater hörte, dass Ihr Vollständigkeit der abgedruckten Lager- Vater im Polizeipräsidium am Alexan- korrespondenz. derplatz eingeliefert worden war, wandte er sich sofo rt an Bersarin.“ So vermißt der Rezensent die kurzen Zei- len, die Jan George an seinen Vater rich- Nikolai Bersarin hatte allerdings am tete. Sie befinden sich auf der Rückseite 16. Juni 1945 bei einem Motorradunfall des „Weihnachtsbriefes“ von Berta tödliche Verletzungen erlitten. Als der Drews (S. 230) und sind von gemalten NKWD Heinrich George am 22. Juni Tannenzweigen umrahmt: 1945 verhaftete, weilte er längst nicht mehr unter den Lebenden. Darüber hin- „1945 aus verwechselte der Verfasser des Brie- Lieber Pamßo! fes das Polizeipräsidium offensichtlich Ich wünsche dir zum ersten Friedens- mit dem Dienstobjekt der Schutzpolizei weihnachten 1945 alles gute. in der Kleinen Alexanderstraße. Das da- Es ist wohl das erste mal dass wir ohne malige Polizeipräsidium befand sich da- dich Weihnachten begehen. gegen vom 20. Mai 1945 bis Anfang Ju- li 1948 in der Linienstraße 83 –85. Das Es wird auch sonst ein recht trauriges Gebäude, das als NKWD-Gefängnis Fest werden, nach dem verlorenen Krieg. diente und in dem George einige Wochen Wenn man bedenkt wie schön es im vori- inhaftiert war, lag unmittelbar daneben, gen Jahr war, sei also recht herzlich ge- der Zugang befand sich aber in Richtung grüßt und geküsst von deinen Söhnen Jan der Elsässer Straße (heute Torstraße). und Götz“ Was den „Tatort“ des laut Jan George (Die Passage „nach dem verlorenen „inszenierten Unfalls“ Bersar ins betrifft, Krieg“ wurde im Original wieder gestri- lag dieser nicht an der „Ecke Massower chen.) Straße/Ecke Schloßstraße“, sondern an In einem recht einseitigen mit „Gedanken der Ecke Schloßstraße/Ecke Wil- zu einem zu frühen Tod“ betitelten helmstraße (heute Am Tierpark/Ecke Alf- Nachwort versucht sich Jan, der ältere der red-Kowalke-Straße). Georgesöhne, als historisierender Essay- Warum Elmar Bantz im Nachwort als ist. Sein Blick auf den Vater ist denkbar einfacher Schauspieler bezeichnet wird, milde. Sein Umgang mit den zitierten kann man nur vermuten. Hätte ihn Jan Quellen und Dokumenten ist problema- George wahrheitsgemäß als Chefsprecher tisch. Mit der unsachgemäßen Einord- des Großdeutschen Rundfunks eingeord- nung, Datierung und Bewertung der Be- net, so wären einige Worte zu Bantz‘ Ar- lege aus der Literatur und aus Archiven beitskontakten mit Heinrich George uner- trägt Jan George leider nicht zur Aufhel- läßlich gewesen. lung der historischen Geschehnisse und Sachverhalte bei. Ins Auge fällt auch eine eigenwillige Umdatierung im wiedergegebenen Aus- Mit Eifer pflegt er die von seiner Mutter zug des Protokolls der konstituierenden in die Welt gesetzte Legende, daß Sitzung der Kammer der Kunstschaffen- Bersarin Georges Schutzpatron gewesen den vom 6. Juni 1945. Ein Treffen von sein soll. Um diese These zu untermau- Heinrich George mit Clemens Herzberg, ern, zitiert Jan George ausführlich aus der von Bersarin zum Beauftragten des einem Brief. In diesem Schreiben wird sowjetischen Militärkommandanten für ein namentlich nicht genannter Mann das Kunstschaffen ernannt worden war, erwähnt, der mit dem Stadtkommandan- verlegt Jan George vom 3. Mai auf den ten angeblich befreundet war und von Rezensionen 169

30. Mai 1945. Auf dieser Zusammen- periments der Bolschewiki konfrontiert. kunft bat Heinrich George um die Wie- Wie die teils euphorischen Schilderungen dereröffnung eines Theaters. Wenn Jan in ihren ersten beiden 1950 und 1954 George ein Indiz dafür hat, daß dieser veröffentlichten Erlebnisberichten es na- Termin im Sitzungsprotokoll eventuell helegen, sollten auch negative Erfahrun- falsch datiert worden ist, so sollte er die- gen und Prägungen sie nicht davon abhal- sen wichtigen Fakt erwähnen. Unabhän- ten, eine glühende Anhängerin des stali- gig davon, an welchen Tag das Gespräch nistischen Systems zu werden. nun stattfand, kollidieren beide Datums- Die Vorlagen für die meisten der 137 – in angaben – wie auch in anderen Fällen – vier Fällen zweifach – wiedergegebenen mit der Darstellung im fiktiven Tagebuch Fotos befinden sich im Nachlaß von Inge von Berta Drews (S. 157 ff.) Auch mit von Wangenheim im Thüringischen diesen Widersprüchlichkeiten läßt der Staatsarchiv . Insgesamt be- Autor des Nachworts die Leser allein. steht diese einmalige Fotosammlung aus Leider, so muß man nach der Lektüre 1 050 Negativen auf leicht entzündbaren seines Beitrags vermuten, geht es ihm Nitrofilmen. Weitere Bilder entstammen eher um eine Mythologisierung, als um einem Fotoalbum von Gustav von Wan- eine wissenschaftlich korrekte Darstel- genheim, welches im Archiv der Akade- lung seines Vaters und großen Schauspie- mie der Künste in Berlin aufbewahrt lers Heinrich George. wird. Leider enthält der Erläuterungstext Peter Erler der Herausgeberin, eine Enkelin der Schriftstellerin, keine weitergehenden Bemerkungen zu den thematischen Schwerpunkten des gesamten Fotobe- Wangenheim, Laura von: In den Fän- standes und zu ihrer Vorgehensweise bei gen der Geschichte. Inge von Wangen- der Bildauswahl. Auf den abgedruckten heim. Fotografien aus dem sowjeti- Schwarz-Weiß-Aufnahmen sind vorwie- schen Exil 1933 –1945. Berlin: Rotbuch gend Familienmitglieder, Alltagsszenen Verlag 2013, 112 Seiten. 25 €. in Moskau, im Datschenvorort Bolsche- Der schmale Band In den Fängen der wo und auf der Krim, Landschaften, Ge- Geschichte präsentiert eine kleine Aus- bäude, Autos und Episoden von den wahl von Fotos, die die in der DDR als Dreharbeiten zum Film Kämpfer zu se- Schriftstellerin bekanntgewordene Inge hen. Neben den Schnappschüssen von von Wangenheim in den 1930er Jahren in Johannes R. und Lilly Becher, Fritz Er- der Sowjetunion aufgenommen hat. Als penbeck, Alfred Kurella, Lotte Loebinger junge, in der Agitprop-Szene der KPD und Bruno Schmidtsdorf hatte der Rezen- engagierte Kommunistin mußte sie 1933 sent eigentlich die Aufnahmen von weite- aus Deutschland emigrieren und gelangte ren emigrierten Schriftstellern und mit ihrem Lebensgefährten, dem Schau- Schauspielern sowie deren Lebenspart- spieler und Regisseur Gustav von Wan- nern erwartet. genheim, und ihrer Mutter Hermine Die zumeist undatierten Fotos wurden im Franke über den Umweg Paris 1934 in Band auf fünf thematisch e „Kapitel“ auf- das Moskauer Exil. Dort war sie bis An- geteilt. Leider korrespondieren die an- fang November 1945 mit den wirtschaft- spruchsvollen Überschriften der Kom- lichen Erfolgen, der zeitspezifischen plexe häufig nicht mit den zugeordneten Technikbegeisterung, der Entwicklung Bildern und sind dadurch mißverständ- auf dem Gebiet der Bildung und Kultur, lich. Zum Beispiel enthält der Abschnitt aber auch mit der Demokratieferne und „Der Traum vom neuen Menschen“ nicht der menschenverschlingenden Radikalität ein Porträt eines Arbeiters oder Kolchos- des linksdiktatorischen Gesellschaftsex- bauern. Dagegen zeigt er sieben ver- 170 ZdF 35/2014 schiedene Strand-, Bade- und Erholungs- Mit der „Tschistka“ – der Mitglieder- szenen. Ähnlich verhält es sich mit dem überprüfung innerhalb der Kommunisti- Kapitel „Ein Land wird umgepflügt“. schen Partei der Sowjetunion von 1934 – Hier passen lediglich die Fotos von Ab- erlebte sie „die höchste Form der Demo- riß- und Bauaktivitäten in Moskau etwas kratie, die sich die Menschheit im Ver- zum Titel. laufe ihrer ganzen bisherigen Geschichte Ein Teil der Bildbeschriftungen wirkt erarbeitet hat“ (S. 264). unbeholfen. Sie lassen Fragen offen bzw. Dem Fotoband sind zwei einführende werfen neue auf. Bei der als Bungee- Texte vorangestellt. Der Philosoph Ewald Jumping -Anlage bezeichneten Konstruk- Böhlke äußert sich zur großstädtischen tion auf den Seiten 21 und 90 dürfte es Entwicklung, die in einigen Aufnahmen sich zum Beispiel um einen Fallschirm- zum Ausdruck kommt, und gibt Erläute- sprungturm der Freiwilligen Gesellschaft rungen zu abgebildeten Personenautos zur Unterstützung der Armee, der Luft- und Lastkraftwagen. Sehr persönlich ist streitkräfte und der Flotte (DOSAAF) das Essay von Laura von Wangenheim handeln. Er gehörte zur Standardausstat- gehalten, in welchem sie versucht, den tung der städtischen Sport- und Erho- Geheimnissen ihrer Großmutter auf die lungsanlagen in der damaligen Sowjet- Spur zu kommen. Dabei konnte sie sich union, aber nicht, wie die Herausgeberin neben den Fotos unter anderem auf das meint, auf einen Kinderspielplatz. Be- eigene Erleben, die Erzählungen der Mut- sonders „interessant“ in dem angemerk- ter sowie auf Archivstudien in Ru- ten Kontext ist der Bildtitel „Die kasachi- dolstadt, Berlin und Moskau stützen. sche Schwägerin von Gustav von Wan- Auch das zitierte ambivalente Frühwerk genheim“ auf Seite 41. Wer war diese der Schriftstellerin zog sie zu Rate. Seine Frau, und mit welchem Mitglied der Fa- Lektüre hat wohl die Auswahl verschie- milie Wangenheim oder Winterstein war dener Fotos, wie zum Beispiel auch das sie verheiratet? Porträt des von Inge von Wangenheim Zu einzelnen Nahaufnahmen von Perso- verehrten Leningrader Parteichefs Sergej nen, zum Beispiel auf Seite 40 und 51, Kirow (S. 29), und die Formulierung von gibt es gleich gar keine Erläuterungen. Bildunterschriften beeinflußt. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil es In ihrem gut recherchierten Text bietet sich bei den so fotografisch Porträtierten die Enkelin weitere Informationen zur um gute Bekannte oder Freunde der Fa- Familiengeschichte. Allerdings irrt sie, milie handeln dürfte, deren Namen der wenn sie , wel- Betrachter gern erfahren hätte. cher am 15. Juni 1945 nach Deutschland Viele der publizierten Fotos illustrieren zurückkehrte, der zu diesem Zeitpunkt nachträglich den 1954 im Ost-Berliner schon nicht mehr existenten „sogenann- Henschelverlag erschienenen Erinne- ten Gruppe Ulbricht“ ( S. 20) zuordnet. rungsband Auf weitem Feld. In diesem Peter Erler mit dem historischen Wissen von heute nur schwer „verdaubaren“ Buch be- schreibt Inge von Wangenheim ein Jahr nach Stalins Tod enthusiastisch verklärt und mit großer Distanz zur Wahrheit den Aufbau des Kommunismus in der So- wjetunion. In dem Propagandawerk kann man nachlesen, daß die Autorin den als „kämpfenden Humanisten“ bezeichneten „Stalin und seine Partei sofort und bedin- gungslos geliebt habe“ (S. 210 und 234). Rezensionen 171

Pingel-Schliemann, Sandra: „Ihr war“ „fern“ sei. Die abschließende Dank- könnt doch nicht auf mich schießen!“ sagung weist darüber hinaus auch jede Die Grenze zwischen Lübecker Bucht Zeitzeugenschaft zurück: „Ich […] habe und Elbe 1945 bis 1989. Schwerin: die Grenze nie gesehen.“ Über die Rah- Landeszentrale für politische Bildung menerzählung der zerstörten Dömitzer Mecklenburg-Vorpommern 2013, 268 Eisenbahnbrücke stellt Pingel- Seiten, 6, – €. Schliemann einen aktuellen Bezug zum Der Titel von Sandra Pingel-Schliemanns Thema ihres Buches her. Eingangs schil- Buch „Ihr könnt doch nicht auf mich dert die Verfasserin die Ruinen, die für schießen!“ Die Grenze zwischen Lübek- „die Trennung ehemaliger Zusammenge- ker Bucht und Elbe 1945 bis 1989 ver- hörigkeit“ stehen. Geschlossen wird die weist auf den gescheiterten Fluchtversuch historiographische Darstellung mit einem des 21jährigen Hans-Georg Lemme am unter Verweis auf einen Artikel der taz 19. August 1974. Der Wehrdienstleisten- nur vorgestellten Blick vom Brückenkopf de wollte die Elbe durchschwimmend in auf „eine Landschaft […], die einst ge- die Bundesrepublik gelangen. Doch er teilt war.“ Diese Rahmung ist für das wurde entdeckt. Grenzsoldaten schossen Verständnis der Herangehensweise auf- auf ihn, die Besatzung eines Grenzsiche- schlußreich. Zum einen begründet der rungsbootes versuchte ihn an Bord zu zeitliche und biographische Abstand die zwingen. Aus der Überlieferung ergibt Absicht und Möglichkeit einer „systema- sich ein zwiespältiges Bild: Wurde tischen Analyse“ regionaler Aspekte des Lemme das Opfer eines Unfalls, weil das Grenzregimes. Der Blick vom als „Sym- Boot nicht schnell genug abbremsen bol der deutschen Teilung“ bezeichneten konnte, oder gab es den Befehl, den westlichen Brückenkopf auf die östliche Flüchtling zu überfahren? Seine Leiche Auenlandschaft, die im historiographi- barg man erst nach mehr als drei Wochen schen Teil die Attribute „einmalig“ bzw. aus dem Wasser. „außergewöhnlich“ erhält, nun aber durch Metaphorik des „einst [G]eteilt[en]“ mit Wie wird man einem Geschehen gerecht, dem „kulturellen und wirtschaftlichen in dem die Übergänge zwischen Gleich- Zusammenhalt einer Nation“ assoziativ gültigkeit, Brutalität und dem Absonder- verbunden wird, markiert die Tendenz lichen, Banalen brüchig werden? Die dieser Untersuchung. Die als natürlich bloße Darstellung der Institution Grenz- konnotierte Gegenwart der Wiederverei- regime in seiner Genese und Struktur nigung als Fluchtpunkt der Geschichte trifft auf die verstörenden oder schmerz- erhält ihre Bedeutung aus den Schrecken lichen Erinnerungen jener Menschen, die der Teilung. Im erwähnten taz -Artikel auf unterschiedlichste Art und Weise per- wird die Dömitzer Brückenruine jedoch sönliche Erfahrungen mit der Grenze ma- „Mahnmal der Deutschen Teilu ng und chen mußten. Angesichts verschieden des Zweiten Weltkrieges“ genannt. intendierter geschichts- und erinnerungs- (Reimar, Paul: Denkmal unter dem kultureller Zugänge steht jede Autorin, Hammer. In: taz Nord , 24.03.2010) Die- jeder Autor vor der Notwendigkeit, die sen zweiten, für das Verständnis der ge- eigene Perspektive zu benennen und in- trennten Entwicklung beider deutscher tersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Staaten unabdingbaren Aspekt schneidet Sandra Pingel-Schliemann formuliert die Autorin lediglich an, etwa wenn sie ihren Standpunkt in den Rahmenkapiteln die Zerstörung der Brücke „von amerika- ihrer Darstellung als zeitliche und bio- nischen Flugzeugen“ erwähnt oder ab- graphische Distanzierung und politische strakt die „Überwachungs - und Spitzel- Aktualisierung zugleich. In der Einlei- dichte“ in „totalitären Diktatur[en]“ ver- tung betont sie, daß „diese Zeit, in der gleicht. Deutschland durch eine Grenze geteilt 172 ZdF 35/2014

Die Verfasserin untersucht in den ersten te, habe „sich niemand mehr sicher sein“ sechs Kapiteln ihrer Arbeit das Grenzre- können, „ob der Arbeitskollege, der Ver- gime im 231 Kilometer langen Bereich einsportkumpel, der Hausnachbar oder zwischen Pötenitz im Kreis Grevesmüh- Freund und Ehepartner einen aushorch- len und Lütkenwisch im Kreis Ludwigs- ten.“ Die vielfältigen Formen und Akteu- lust unter politik-, militär-, institutionen- re der Kontrolle sollten mutmaßliche und alltagsgeschichtlichen Aspekten. Be- Grenzverletzer schon im Vorfeld ermit- reits in der gesamten historiographischen teln und an ihrem Vorhaben hindern. Darstellung, explizit jedoch in den ab- Wie es den meist jungen Menschen er- schließenden Kapiteln „Die Fluchten“ gangen ist, die Fluchtversuche unternah- und „Die Grenztoten“, nutzt sie konkrete men, schildert der zweite inhaltliche Fälle, um die Auswirkungen des Grenz- Schwerpunkt des Buches. Das Kapitel regimes auf die Menschen „besonders „Die Fluchten“ beleuchtet Methoden, anschaulich“ vermitteln zu können. Vorgehensweisen und Motive jener, die Als Ursache für die deutsche Teilung nicht die Möglichkeit zu Reisen ins west- nennt die Verfasserin im thematischen liche Ausland gehabt hä tten, die „ledig- Einstiegskapitel die Einrichtung von vier lich das Privileg der Staatstreuen“ gewe- Besatzungszonen durch die Alliierten. sen sei. Pingel-Schliemann arbeitet zwölf Der sich 1952 verschärfende Konflikt Fluchtfälle aus dem Zeitraum von 1965 unter den Besatzungsmächten, der mit bis 1989 auf, die zur Hälfte gelangen, zur deren „unterschiedliche[n] Philosophien, Hälfte verhindert wurden, und dokumen- Ideologien und Wirtschaftssysteme[n]“ tiert Materialien aus den MfS- begründet wird, sei Walter Ulbricht gele- Untersuchungsakten. Viele Flüchtlinge gen gekommen, weil dieser, so jedenfalls konnten nicht wissen, welche Sperranla- die Behauptung de r Autorin, die „DDR gen sie an der Grenze erwarteten und als souveränen Staat führen wollte“. Aus- welchen Gefahren sie sich bei ihrem führlich würdigt Pingel-Schliemann die Vorhaben aussetzten. Die für das sich von Willy Brandt und Egon Bahr auf den anschließende Kapitel „Die Grenztoten“ Weg gebrachte Entspannungspolitik, in ermittelten 23 Fälle, in denen 24 Men- deren „Kontinuität“ die Politik von Hel- schen im Grenzabschnitt zwischen Pöte- mut Schmidt und Helmut Kohl dazu bei- nitz und Lütkenwisch ums Leben ge- getra gen habe, „dass die deutsche Tei- kommen sind, stellen, so die Verfasserin, lung am 3. Oktober 1990 überwunden „zweifellos die Spitze des an der Grenze werden konnte.“ Für die DDR - geschehenen Unrechts dar“. Erstmals Bevölkerung wären „Mauer und Stachel- weist sie auf vier bislang unbekannte To- draht“ dagegen „zu einer ‚unabänderli- desopfer hin, die in den Grenzgewässern chen Realität‘“ geworden und hätten „bei ertranken. der Mehrheit der Bevölkerung eine weit- Die überwiegende Nutzung von Materia- gehende Neutralisierung und staatskon- lien des MfS, allein 20 der abgebildeten forme Haltung“ produziert. Eingebunden 25 Fotografien reproduzieren dessen in „Netzwerke der Überwachung und Blickregime, birgt die Gefahr der Über- Kontrolle“ – das Kapitel zu diesem The- nahme einer instrumentalisierenden ma stellt mit 46 Seiten den ersten Überwachungsperspektive in der eigenen Schwerpunkt des Buches dar – sei die Darstellung, der die Verfasserin ver- Sicherung der Grenze von der Gesamtge- schiedentlich unterliegt. So löst sie Text- sellscha ft betrieben worden. „Sogar passagen aus der spezifischen - Kleingartenvereine ließen sich in das Sy- Kommunikationssituation der MfS- stem involvieren“, schreibt Pingel - Verhörprotokolle heraus, um diese als Schliemann. Da das MfS sein Netzwerk Selbstaussagen von Flüchtlingen zu ver- in nahezu allen Lebensbereichen errichte- mitteln. Zuschreibungen von Identitäten, Rezensionen 173 wie „Überzeugungstäter“ oder „staat- Pingel-Schliemann mit dem sachlich fal- streu“, operieren mit normativen Katego- schen Verweis auf die „enge Begriffsde- rien der Kontrolle abweichenden Verhal- finition“ des Grenztoten in Die Todesop- tens. Überformt sie die Konstruktion von fer der Berliner Mauer (Hertle/Nooke Täterschaft für eine Geschichtsschrei- 2009) Grenzsicherungskräfte, die von bung über Akteure, hier der Flüchtenden, Flüchtlingen erschossen wurden, explizit so werden männlich dominierte Sichtwei- aus ihrer Untersuchung aus. Letzten En- sen bis in die Überschriften hinein tra- des operiert die Verfasserin mit einer un- diert: „Flucht mit Frau, Kind und Dak- terschiedlichen Dignität der Opfer, die in kel“. Die hinterlassenen Daten des MfS Spannung zu dem im Vorwort festgehal- scheinen das Muster zu bestätigen, in tenen Anspruch aufzuklären und begreif- dessen Rahmen sie einst erhoben wurden. bar zu machen steht. Hat aber tatsächlich „niemand“ in der Die Arbeit an „Ihr könnt doch nicht auf DDR nicht einmal seinem Ehepartner mich schießen!“ Die Grenze zwischen vertrauen können? Speziell zum Phäno- Lübecker Bucht und Elbe 1945 bis 1989 men der Reduzierung sozialer Interaktio- bezeichnet Sandra Pingel-Schliemann in nen und komplexer Aushandlungsprozes- ihrer Danksagung als „persönliche Berei- se auf die binären Logiken eines Sprach- cherung“. Hier wäre ei ne Vertiefung loh- gebrauchs, der von „Techniken katastro- nenswert. Warum sollte man sich heute phischer Imagination“ (Leon Hempel) mit dem Grenzregime der DDR beschäf- erst geschaffen wird, wäre ein Bezug zu tigen? Eine mögliche Antwort fand ich in den kulturwissenschaftlich orientierten einem Bericht über die Verhandlung ge- Surveillance Studies hilfreich. Doch de- gen den Führer des Grenzsicherungs- ren Ansatz, die totalitären Implikationen bootes, mit dem Hans-Georg Lemme liberaler Gesellschaften zu untersuchen, überfahren wurde. (Oschlies, Renate: verwirft die Verfasserin im vorhinein mit „Das könnt ihr doch nicht machen! Ich der laxen Bemerkung, die geschilderten bin doch einer von euch!“ . In: Berliner Handlungen der Flüchtlinge seien „in Zeitung , 13.08.1998) Der Grenzposten, Rechtsstaaten undenkbar“. der vom Ufer aus mit seinem Scheinwer- Die Haltung der Verfasserin zur DDR- fer den Flüchtling in der Elbe sichtbar Aufarbeitung ist nicht weniger problema- hielt, war im nachhinein zu der Einsicht tisch. Gegen den „juristischen Blickwin- gekommen, daß es in seiner konkreten kel“ auf die Schuld der „Führungseliten Verantwortung gelegen hätte, das Licht der DDR“ in den „sogenannten Mauer- einfach abzustellen und Lemme so das schützenprozessen“ argumentiert sie mit westliche Ufer erreichen zu lassen. Mit dem „Fakt“ deren ausdrücklicher Forde- anderen Worten: Ungehorsam in men- rung, Flüchtlinge zu töten, und belegt schenverachtenden Strukturen ist ge- dies unter anderem mit einer undatierten, rechtfertigt und notwendig. Ein Schluß, tatsächlich erst nach Aufhebung des der Hoffnung macht. Schießbefehls gemachten, aus der Berli- Jan Kostka ner Morgenpost zitierten Aussage Erich Mielkes, die zusätzlich noch mit dem Foto zweier Maschinengewehre unterlegt ist. Die von ihr aufgeworfene Frage der moralischen Nachvollziehbarkeit von Rechtsprechung verfehlt dabei ihren Ge- genstand im Kern – verliert Rechtspre- chung doch die Grundlage von Rechts- staatlichkeit, wenn sie vom Gleichheits- grundsatz absieht. Zum anderen schließt 174 ZdF 35/2014

Klassik und Kalter Krieg – Musiker in des Films würde man sich über die ein- der DDR; Dokumentarfilm von geblendeten Bildzeugnisse hinausgehen- Thomas Zintl, Buch: Zintl, Thomas de erklärende Erläuterungen wünschen – und Wunderlich, Barbara; produziert beispielsweise zu solch einschneidenden von der Bernhard Fleischer Moving kulturpolitischen Richtungsänderungen Images GmbH und der Wunderlich der SED wie dem Kampf gegen den so- Medien GbR – Koproduktion mit rbb, genannten Formalismus, dem „Bitterfel- WDR und ORF in Zusammenarbeit der Weg “ oder der am Beginn der Ära mit ARTE; Halle (Saale): Arthaus Mu- Honecker einsetzenden Rehabilitierung sik 2012, DVD, 52 Min., 24,99 €. der Moderne. Dieser 2013 mit dem Echo-Klassik-Preis Wichtige Stationen in der im wesentli- ausgezeichnete Dokumentarfilm, der chen chronologisch aufgebauten The- schon mehrfach von verschiedenen Fern- menfolge des Films bilden unter anderem sehanstalten gesendet wurde, gibt allen der Wiederaufbau des Musiklebens nach an den Musikverhältnissen im Kalten dem Zweiten Weltkrieg (und die Rolle, Krieg und an Klassischer Musik Interes- die dabei die sowjetischen Kulturoffiziere sierten einen schnellen Überblick über spielten), die Ereignisse beim Wieder- wesentliche Parameter der Musikpolitik aufbau der Staatsoper Unter den Linden der SED. in Berlin (der Dirigent Erich Kleiber Die besondere Stärke des Films liegt in nahm seine Zusage, die künstlerische den vielen Zeitzeugeninterviews. Regis- Leitung des Ensembles nach der Wieder- seur Thomas Zintl und den Produzenten eröffnung des Stammhauses zu überneh- ist es gelungen, neben prominenten Inter- men, wieder zurück, nachdem die Porti- preten wie den Sängern Peter Schreier kusinschrift „Fridericus Rex Apollini et und Jochen Kowalski oder den Dirigen- Musis“ entfernt worden war, d ie Bedeu- ten Kurt Masur und Wolf-Dieter Hau- tung der ersten Nachkriegs-Intendanten schild auch einige der wichtigsten Orga- der Berliner Opernhäuser (Ernst Legal in nisatoren des DDR-Musiklebens für In- der Deutschen Staatsoper und Walter terviews zu gewinnen, etwa den einstigen Felsenstein in der Komischen Oper) und Stellvertreter des Kulturministers und die Sonderrolle der beiden berühmten Opernintendanten Hans Pischner, die Knabenchöre in Leipzig und Dresden beiden Verantwortlichen des Schallplat- (beiden Chören wurde gestattet, ihre tenlabels Eterna, Dieter-Gerhardt Worm christlichen Traditionen weiter zu pfle- und Reimar Bluth, sowie den langjähri- gen). gen Leiter der Künstleragentur der DDR, Besonders informativ ist der Einblick in Hermann Falk. In manchen Fällen scheint die Besonderheiten der Produktion von allerdings die Wahl der Interviewpartner Schallplatten mit Klassischer Musik unter nicht zuletzt unter Marketinggesichts- den Bedingungen des Kalten Krieges. So punkten getroffen worden zu sein. Ganz erfährt man, daß der VEB Deutsche offensichtlich wird dies beim Interview Schallplatten der gewinnbringendste Be- mit Altbundeskanzler Helmut Schmidt. trieb im DDR-Kulturleben überhaupt ge- Positiv ist anzumerken, daß die Aussagen wesen war und daß dieser Monopolist der Interviewten oftmals mit dokumenta- durch seine Koproduktionen mit west- rischem Material belegt werden. Zintl deutschen Firmen bei der Schallplatten- spielt die Stärken des Mediums Film voll produktion zu den wichtigsten Valuta- aus. Dennoch sind manche der von den Beschaffern der DDR gehörte. Aber auch Zeitzeugen erwähnten Ereignisse nur für die Westfirmen profitierten vom Koope- diejenigen Zuschauer verständlich, die rationsgeschäft, weil sie so hochkarätige über Grundkenntnisse der Kulturpolitik Orchester zu günstigen Preisen für sich der SED verfügen. An mehreren Stellen gewinnen konnten. Rezensionen 175

Weil die Prominenten und ehemaligen enthaltenen Aussage Peter Schreiers zu- Funktionäre unter den interviewten Zeit- folge hätte einst der Sänger Theo Adam zeugen ausführlicher zu Wort kommen die Funktionäre dahingehend erpreßt, daß als die anderen Beteiligten, bleiben aller- er damit drohte, auf Auftritte in der DDR dings auch manche Seiten des Musikle- zu verzichten, falls man ihn im Westen bens der DDR unterbelichtet. So wird das nicht auftreten ließe. Wie viel wirksamer paternalistische Verhältnis des Staates zu hätten solche Drohungen sein können – „seinen“ Künstlern ebensowenig themati- sollte es denn tatsächlich derartige Fälle siert wie der Umgang mit Abtrünnigen. gegeben haben –, wäre nicht jeder Auch gewinnt man den Eindruck, daß die Künstler bzw. jedes Ensemble im Kampf Rolle der Stasi im Musikleben lediglich mit der Kulturbürokratie isoliert geblie- darin bestanden hätte, „Republikfluch- ben? ten“ von Musikern zu verhindern. Hinzu Die eindrucksvollsten Zeitzeugenaussa- kommt, daß der Blick der Filmemacher gen des Films betreffen Begleiterschei- allzu sehr auf die Funktion des sogenann- nungen der musikalischen Festlichkeiten ten klassischen Erbes fixiert bleibt, so in Berlin und Dresden zum 40. Jahrestag daß Milieus wie die überaus interessante der Gründung der DDR. So schildert der Neue-Musik-Szene der DDR kaum be- Sänger Jochen Kowalski, der sich am leuchtet werden. Es hätte den Informati- 7. Oktober 1989 im Palast der Republik onsgehalt des Films wesentlich erhöht, aufhielt, um beim dort stattfindenden wenn Zintl sein Interesse für ostdeutsche Festakt aufzutreten, daß ihn damals beim Musiker nicht nur auf die „Reisekader“ Anblick der vor dem Palast versammel- unter ihnen gerichtet hätte. Er entging so ten Volksmassen „Existenzangst“ ge- nicht der Gefahr einer gewissen Verzer- packt habe, als er sich die Folgen einer rung der Perspektive. Denn diejenigen möglichen Erstürmung des Gebäudes Künstler, die regelmäßig im Westen auf- durch die protestierenden Menschen treten konnten, waren gegenüber ihren ausmalte. Und die Regisseurin Christine gewöhnlichen Berufskollegen in einem Mielitz erinnert sich an die von der Maße privilegiert, das heute nur noch Dresdner Staatsoper anläßlich des Repu- schwer vorstellbar ist. Zwangsläufig wa- blikjubiläums angesetzte Premiere von ren sie in einer solchen Position der Le- Beethovens Fidelio , während der das Pu- benswirklichkeit der Bevölkerungsmehr- blikum nach dem Ende des Gefangenen- heit in mehrfacher Weise entrückt. Sie chores minutenlang geschrien und ge- konnten nicht nur in Länder reisen, von weint habe. denen die meisten Bewohner des einge- mauerten Landes nur träumen konnten, Lars Klingberg sondern waren auch nicht mehr gezwun- gen, den Behörden dieses Landes wie Untertanen – man könnte auch sagen: wie DDR-Bürger – zu begegnen. War es doch der Staat, der auf die Westreisen seiner Künstler angewiesen war – weil er davon doppelt profitierte: in Form von Reputa- tion und in Form von Deviseneinnahmen. Angesichts dessen wundert man sich, daß diejenigen „Reisekader“, die die Kultur- funktionäre für unverzichtbar hielten, niemals auf die Idee kamen, sich zu ge- meinsamen solidarischen Aktionen zugunsten ihrer nichtprivilegierten Kol- legen zusammenzufinden. Einer im Film 176 ZdF 35/2014

Gorelik, Gennady: Andrej Sacharow. schen Akademie der Wissenschaften. Ein Leben für Wissenschaft und Frei- Sacharow wurde überschwenglich als heit. Heidelberg: Springer Ver- „der jüngste Akademiker “ gefeiert. Er lag 2013, 489 Seiten, 49,95 €. orientierte sich an Vorbildern wie Pjotr Neben der allgegenwärtigen Korruption Kapiza, Igor Kurtschatow, Lew Landau sowie einer Verwahrlosung der politi- oder Igor Tamm und beteiligte sich maß- schen Kultur werden im heutigen Ruß- geblich am Bau der sowjetischen Was- land auch zivilgesellschaftliche Defizite serstoffbombe. Allmählich begann der beklagt. Auf geradezu erstaunliche Weise bis dahin weitgehend unpolitische Physi- geben Leben und Werk des Atomphysi- ker die Last seiner Verantwortung zu kers Andrej Sacharow (1921 –1989) - spüren. Er wusste, wie viele Menschen- de in der heutigen Zeit Antworten auf leben Atomtestversuche bereits gekostet diese Herausforderungen. Bereits zu Zei- hatten. War es überhaupt möglich, diese ten der zwei Jahre nach seinem Tod auf- furchtbare Waffe zu kontrollieren? gelösten Sowjetunion hatte er sich immer Der gewaltsam niedergeschlagene wieder unermüdlich für die Einhaltung „Prager Frühling “ des Jahres 1968 bela- der Menschenrechte stark gemacht. Viele stete sein Verhältnis zu den Mächtigen. Menschen stellten sich die Frage, warum Lange bevor er sich für Menschenrechte ein mit Preisen und Anerkennungen einsetzte, wurde er in seiner Heimat Op- überhäufter, hochdekorierter Wissen- fer gehässiger antisemitischer Verleum- schaftler zu einem Abtrünnigen und ei- dungen. nem Dissidenten werden konnte. Für seinen unerschrockenen Einsatz für Gennady Gorelik konnte für seine Frieden und Menschenrechte bekam Sacharow-Biographie nicht nur schwer Sacharow im Dezember 1975 den Frie- zugängliche Archivmaterialien auswer- densnobelpreis, den er selbstverständlich ten. Er führte auch intensive Gespräche nicht persönlich entgegennehmen durfte. mit Freunden und Verwandten Im Januar 1980 wurde er nach seinem Sacharows. In 22 Kapiteln versucht der Protest gegen die sowjetische Invasion in Autor, sich Andrej Sacharow und seiner Afghanistan verhaftet und vom KGB aus außergewöhnlichen Persönlichkeit zu Moskau weggebracht. Mit seiner Ver- nähern. Gorelik legt ausführlich dar, wa- bannung nach Gorki, Hunderte Kilometer rum die Physik im Sowjetreich einen südöstlich von Moskau gelegen, spitzten Aufschwung nahm. Die Themenblöcke sich Sacharows Lebensumstände drama- „Von der Atombombe in Stalins Hand tisch zu. Die Stadt Gorki, die heute wie- zum Wasserstoffbombenprojekt im FI- der Nischnij Novgorod heißt, war wegen AN“ sowie „Im nuklearen Archipel“ be- ihrer Militärindustrie eine für Ausländer leuchten neben Sacharows Tätigkeit am gesperrte Stadt. Fast sieben Jahre seines sowjetischen Kernwaffenprogramm das Lebens mußte Sacharow gegen seinen vor der Öffentlichkeit verborgene Zu- Willen in dieser Stadt verbringen. Er sammenspiel zwischen inneren Macht- führte einen einsamen Kampf gegen den strukturen und geheimen Forschungspro- übermächtigen KGB. Wiederholt trat er jekten in der UdSSR. Ein abschließender in den Hungerstreik, um seine Situation Komplex „Physiker und Anwalt der zu verbessern. Während eines Arztbe- Menschenrechte“ beleuchtet Sacharows suchs entwendete der Geheimdienst zweiten Lebensabschnitt. Hunderte von Manuskriptseiten seiner Der 1921 geborene Andrej Sacharow Autobiographie. Der unwirtliche Aufent- wuchs im typischen Milieu der Moskauer halt in Gorki gipfelte in einem einzigarti- „Intelligenzja “ als Sohn eines Physikleh- gen byzantinischen Schauspiel: Eines rers auf. 1947 promovierte Sacharow am späten Abends im Dezember 1986 suchte Lebedew-Institut (FIAN) der Sowjeti- ein KGB-Beamter Andrej Sacharow mit Rezensionen 177 dem Hinweis auf, daß er sich am näch- sten Tag für ein Ferngespräch bereithal- ten solle. Zwei Elektriker legten sogleich einen Telefonanschluß. Am nächsten Tag klingelte es. Am Apparat war der neue Generalsekretär der KPdSU. Michail Sergejewitsch Gorbatschow forderte Sacharow zur Rückkehr nach Moskau auf. Leidenschaftlich engagierte sich die- ser fortan in einer von „Glasnost “ und „Perestroika “ bestimmten Zeit. Ausführlich setzt sich Gorelik in seiner Biographie mit Sacharows Gedanken zur „Wissenschaft“ und zur „Religiosi tät“ auseinander. 1989 wurde Sacharow als Vertreter der Akademie der Wissenschaf- ten in den Ersten Kongreß der Volksde- putierten der UdSSR gewählt. Die Zeiten waren turbulent, und Sacharows sanfte und besonnene Stimme war wichtiger denn je. Am Abend des 14. Dezember 1989 ver- traute Andrej Sacharow die überarbeite- ten biographischen Manuskripte seiner Frau Elena Bonner an. Als ob er geahnt hätte, daß die folgende Nacht seine letzte werden würde. Volker Strebel Rezensionen 179

sowjetischen T-34-Panzer. Solche Denkmäler gab es massenhaft in Osteu- ropa. Kneifels Panzer aber stand nicht irgendwo, sondern in Karl-Marx-Stadt, dem Wahlkreis Erich Honeckers. Man kann sich leicht denken, wie intensiv die Fahndung nach dem Täter lief. Kneifel kannte die Zuchthäuser der DDR schon von innen, weil er in den siebziger Jahren wegen Staatsverleumdung einige Monate gesessen hatte. Diese Haft emp- fand der gebürtige Schlesier als Demüti- gung. Ende 1977 begann er mit der Vor- bereitung des Anschlags. Unkrautvertil- gungsmittel, Staubzucker und Schwefel sowie Kneifels Entschlossenheit und sein Haß auf das Regime ergaben ein explosi- ves Gemisch, das am Abend des 9. März 1980 hochging. Der Anschlag war auch ein Protest gegen die ein Vierteljahr zu- rückliegende sowjetische Invasion in Af- ghanistan. Schüller, Johannes/Latz, Erik: Der Am 18. August 1980 wurden Josef Knei- Anschlag. Josef Kneifel. Der Weg eines fel und seine Ehefrau Irmgard in ihrem totalitären Helden (= BN-Anstoß, Bd. Wohnort Niederlichtenau verhaftet. Die III). Chemnitz: Verein Journalismus Schilderung der Haftbedingungen würde und Jugendkultur Chemnitz e.V. 2013, den Rahmen der Rezension sprengen, sie 100 Seiten, 8,50 €. wäre auch nichts für schwache Nerven. Kein anderer Häftling in den späten Jah- Im politischen Widerstand gegen Dikta- ren der DDR ist so systematisch gefoltert turen sind Sprengstoffanschläge eher die worden wie Josef Kneifel; aber auch Ausnahme. In der DDR hat es nur eine niemand hat sich so fantasievoll und kon- solche Aktion gegeben. Personen kamen sequent gewehrt wie er. Die an ihm ver- dabei zwar nicht zu Schaden und das übte Drangsalierung durch Isolation, Käl- Zielobjekt konnte schnell wieder herge- te, Zwangsernährung und andere körper- richtet werden, aber die Wirkung auf das liche Gewalt und seine Reaktionen darauf Regime war enorm und seine Rache erinnern an Zustände in sowjetischen Ge- fürchterlich. fängnissen. Bei der Staatssicherheit In einem Artikel über den Anschlag im meinte man, „daß uns ein Exitus nur Nachrichtenmagazin vom recht sein könnte, weil wir dann ein Pro- 28. September 1992 stand: „Einen Geg- blem weniger hätten.“ Kneifel überlebt ner wie Josef Kneifel hatte die DDR nur nur wegen des Kampfes seiner Ehefrau einmal.“ Das stimmt sowohl in Bezug auf um seine Freilassung und wegen Ho- seine Person als auch auf seine Tat. „Eine neckers Besuch in Bonn. Mit dem solche Provokation war den Staatsschüt- Dienstwagen des sächsischen Landesbi- zern der DDR noch nie untergekommen. schofs Johannes Hempel wurde das Ehe- Das Attentat traf ein geheiligtes Symbol.“ paar Kneifel am 6. August 1987 über die Zielobjekt war das zum 30. Jahrestag des innerdeutsche Grenze gebracht. Ange- Sieges über Nazi-Deutschland einge- kommen in der bundesdeutschen Gesell- weihte Denkmal mit einem original- schaft ist Josef Kneifel aber nicht. Er en- 180 ZdF 35/2014 gagierte sich für verfassungsfeindliche Sylvester, Heiner (Hrsg.): „Wir wollten Gruppierungen, wie die „Hilfsorganisati- nur anders leben“. Erinnerungen poli- on für nationale politische Gefangene tischer Gefangener im Zuchthaus und deren Angehörige“ und geriet auf die Cottbus. Cottbus: Eigenverlag Men- nostalgisch-nationalistische Schiene. schenrechtszentrum Cottbus e.V. 2013, Auch im Westen kämpfte er gegen das 415 Seiten, 15, – €. System, allerdings mit anderen Mitteln. In dem vorliegenden Buch sind 335 der Im Resümee des vorliegenden Buches 415 Seiten der Wiedergabe von Inter- steht: „Kneifels Schicksal ist ein Zeugnis views mit ehemaligen politischen Gefan- des Schreckens, zu welchen Taten ein genen der Strafvollzugseinrichtung Cott- Regime seine Gegner bringen konnte. bus gewidmet. Dieses Gefängnis gehörte Zugleich zeigt sein Leben, mit welcher lange zu den von der Forschung ignorier- Härte die DDR [...] ihre Gegner zu ver- ten Orten deutschen Haftwesens. Dabei folgen und zu zerstören bereit war. Das war es in der DDR nicht irgendein Knast Ausmaß des Widerstandes, den Kneifel von vielen, sondern für die Inhaftierung leistete, entsprach der Entwürdigung der politisch Andersdenkender besonders Haftzeit und der Brachialität der Diktatur. wichtig. Tausende seiner Insassen verlie- [...] Kneifel blieb Zeit seines Lebens al- ßen als von der Bundesregierung Freige- lein – ein vergessener Held. Der Panzer, kaufte die Stadt in der Lausitz über Karl- den er sprengen wollte, steht heute im Marx-Stadt Richtung Westen. Der Be- Armeemuseum Ingolstadt. [...] Eine ginn der Aufarbeitung der Geschichte des nachträgliche Rehabilitierung seines Ur- Strafvollzugs in Cottbus und die Errich- teils lehnten die Richter ab, weil er bei tung einer Gedenkstätte dort ist ähnlich seinem Anschlag Menschenleben gefähr- wie beim Kaßberg-Komplex in Chemnitz det hätte.“ Gegen seine ehemaligen Pei- einer Privatinitiative zu danken. niger konnte er nichts erreichen. Im Oktober 2007 gründete sich der Ver- Es ist das große Verdienst der Buchauto- ein „Menschenrechtszentrum Cottbus ren, auf diesen singulären Fall hinzuwei- e.V.“. Ihm gehören viele ehemalige poli- sen. Seltsamerweise hat die Forschung tische Gefangene der DDR an, die in den für die DDR einmaligen Akt des Wi- Cottbus inhaftiert gewesen waren. Nach derstandes bisher ignoriert. Eine wissen- den Worten von Sylvia Währing, der Ge- schaftliche Auswertung steht noch aus. schäftsführenden Vorsitzenden des Ver- Sie wäre sehr zu wünschen, denn einen eins und Leiterin der Gedenkstätte Gegner wie Josef Kneifel hatte die DDR Zuchthaus Cottbus, seien die Vereinsmit- nur einmal. glieder und ehemaligen politischen Ge- Enrico Seewald fangenen von Cottbus keine Ewiggestri- gen. Sie wollen nicht nur erinnern, son- dern auch mahnen, „damit besonders junge Menschen durch die Konfrontation mit begangenem Unrecht den Wert und die Schutzwürdigkeit der Demokratie erkennen.“ Wunsch der Häftlinge war es, „ihr“ Gefängnis zu einer Gedenkstätte auszubauen. Seit dem 2. Mai 2011 ist der Verein Eigentümer des Komplexes. In der Gedenkstättenlandschaft Deutsch- lands ist es wohl einmalig, daß ehemalige Häftlinge ihr eigenes Gefängnis kaufen. Ein Teil des Preises wurde aus Mitteln der SED und ihrer Organisationen be- Rezensionen 181 zahlt. Das hat bestimmt manchem ehema- tischen Unrechts aus der national- und ligen Gefangenen ein Gefühl von Genug- realsozialistischen Vergangenheit. In ei- tuung gegeben. Der Umbau zur Gedenk- ner Videoinstallation kommen ehemalige stätte war allerdings schwierig, weil das Gefangene der DDR zu Wort. Einige der Gefängnis bis 2002 seinem eigentlichen dort gezeigten Interviews sind in dem Zweck diente und viele Relikte aus DDR- vorliegenden Buch wiedergegeben; ange- Zeiten nach der Wende beseitigt worden fangen von Arno Drefke, der 1953 als waren. 19jähriger wegen Spionage auf militäri- Erfreulicherweise fand und findet das schem und wirtschaftlichem Gebiet zu Gedenkstättenprojekt viele Förderer in lebenslanger Haft verurteilt wurde, bis zu Bund, Land und Stadt. Oberbürgermei- Gerd Hetsch, der 1984 in Cottbus schwe- ster Frank Szymanski gehört selbst dem ren körperlichen Mißhandlungen ausge- Verein an. „Es ist allgemeiner Konsens in setzt war. Cottbus, daß die entstandene Gedenkstät- Die ganze Vielfalt kommunistischer Ver- te zur Stadt gehört. Sie ist in der neuen brechen an den Menschen in der DDR Zeit nicht, wie das alte Gefängnis, ein wird in diesem Buch konkret am Schick- Schandfleck, sondern ein Zeichen der sal der Opfer deutlich. Diese Erinne- Toleranz und auch der Mahnung.“ Kir- rungskultur ist ein wichtiger Teil der chen organisieren dort Andachten. Aufarbeitung. Das gilt für Cottbus, für „Mehrmals waren seit Beginn der Bau- den Kaßberg in Chemnitz, für Hoheneck maßnahmen Gruppen von jungen Men- in Stollberg und für alle anderen Gedenk- schen in der Gedenkstätte, halfen mit ih- stätten politischer Verfolgung wohl auch. rem körperlichen Einsatz bei der Sanie- Das vorliegende Buch ist ein gelungener rung und setzten sich dabei intensiv mit Beitrag zu dieser Kultur und kann bei der der Geschi chte dieses Ortes auseinander.“ Gestaltung anderer Gedenkstätten als Nach einjähriger Sanierung wurde die Vorbild dienen. Gedenkstätte am 4. September 2012 er- Enrico Seewald öffnet. Dabei hatte Wolf Biermann seinen ersten Auftritt in einem ehemaligen Ge- fängnis der DDR. Das war passend, weil dort auch viele Insassen wegen Verbrei- tung seiner Lieder inhaftiert gewesen wa- ren. „Die ehemalige Produktionshalle des VEB Pentacon, wo Tausende von Häft- lingen einst unter menschenunwürdigen Bedingungen und Zwang arbeiten muß- ten, wurde […] zur Kulturhalle umfunk- tioniert. […] Cottbuser Bür ger, Berliner, Dresdner, ehemalige Häftlinge oder ein- fach Bewunderer Biermanns, Jung und Alt, sie alle kamen, um dieses besondere und ergreifende Ereignis zu genießen.“ Kernstück der Gedenkstätte ist die Dau- erausstellung „Karierte Wolken – politi- sche Haft im Zuchthaus Cottbus 1933 – 1989“. Der Arbeitsgruppe für die Kon- zeption dieser Ausstellung gehören viele ehemalige Häftlinge und andere enga- gierte Mitglieder des Vereins an. Die Ausstellung zeigt typische Beispiele poli-