Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes

Inhalt ISSN 0011-9830 2/96 In eigener Sache Dank an und Thüringen 49 CHRISTOPH KÖHLER: Grußwort des Vorsitzenden des DAV-Landesverbandes Thüringen 50 BERNHARD VOGEL: Grußwort des Thüringer Ministerpräsidenten 52 FRIEDRICH MAIER: Zukunft braucht Herkunft - Bildungserwartungen an das Gymnasium und die Alten Sprachen 55 JOSEF SIEGERS: Die Anforderungen der modernen Arbeitswelt an die gymnasiale Bildung 60 ALFRED SELMAIER: Bericht über den DAV-Kongreß Jena 74 LUDWIG OERTEL: Die Officina Latina in Schulpforta 90 GUNTER SCHEDA / THOMAS BRÜCKNER: Zur Lage des altsprachlichen Unterrichts 92 Zeitschriftenschau 96 Besprechungen 100 Varia 110

C. C. BUCHNERS VERLAG · BAMBERG In eigener Sache

Das vorliegende Heft ist fast ganz dem Kongreß Arbeitgeberverbände vortrug. Neben dem in Jena gewidmet. Es enthält neben einem de- „Dank an Jena und Thüringen“, wie ihn Fried- taillierten Bericht von Alfred Selmaier u. a. die rich Maier auf der ersten Seite dieses Heftes inhaltsreichen und ermutigenden Grußworte des zum Ausdruck bringt, sei hier auch ihm selbst - Vorsitzenden des DAV-Landesverbandes Thü- sicher im Namen aller Mitwirkenden und Teil- ringen, Herrn Dr. Christoph Köhler, und des nehmer - noch einmal von Herzen Dank und Ministerpräsidenten von Thüringen, Herrn Dr. Anerkennung für die arbeitsreiche Vorbereitung Bernhard Vogel. Wie üblich werden die meisten und erfolgreiche Durchführung des Kongresses Fachvorträge des Kongresses demnächst in der ausgesprochen. Herzlicher Dank gilt auch allen Zeitschrift „Gymnasium“ veröffentlicht. Wir Kolleginnen und Kollegen, die seinem Aufruf freuen uns, bereits an dieser Stelle die pro- zur Teilnahme am Kongreß in so großer Zahl grammatische Eröffnungsrede unseres Bundes- gefolgt sind! Um der Aktualität willen wurde vorsitzenden Prof. Dr. Friedrich Maier abdruk- das vorliegende Heft um etwa die Hälfte der ken zu können sowie die diskussionswürdigen üblichen Seitenzahl erweitert. Thesen von Herrn Dr. Josef Siegers, die er aus ANDREAS FRITSCH der Sicht der Bundesvereinigung der Deutschen

Impressum ISSN 0011-9830 39. Jahrgang Herausgeber: Der Vorsitzende des Deutschen Altphilologenverbandes Univ.-Prof. Dr. Friedrich Maier, Humboldt-Universität zu , Institut für Klassische Philologie und Neogräzistik, Unter den Linden 6, 10117 Berlin. Schriftleitung: Univ.-Prof. Andreas Fritsch, Freie Universität Berlin, Zentralinstitut für Fachdidaktiken, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin. Das Mitteilungsblatt umfaßt drei Abteilungen mit drei Redaktionen: 1. Didaktik, Schulpolitik: StD Helmut Quack, Eritstraße 23, 25813 Husum. 2. Wissenschaftliche Informationen, Schulbücher: StD Dr. Hansjörg Wölke, Görresstraße 26, 12161 Berlin. 3. Zeitschriftenschau: Univ.-Prof. Dr. Eckart Mensching, Technische Universität Berlin, Klassische Philologie, Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin; StD Dr. Josef Rabl, Kühler Weg 6a, 14055 Berlin. Die mit Namen gekennzeichneten Artikel geben die Meinung des Verfassers, nicht unbedingt die des DAV- Vorstandes wieder. Bei unverlangt zugesandten Rezensionsexemplaren ist der Herausgeber nicht verpflichtet, Besprechungen zu veröffentlichen, Rücksendungen finden nicht statt. Für die Aufnahme von Anzeigen ist der Vorsitzende bzw. der Schriftleiter zuständig. Bezugsgebühr: Von den Mitgliedern des Deutschen Altphilologenverbandes wird eine Bezugsgebühr nicht erhoben, da diese durch den Mitgliedsbeitrag abgegolten ist. Für sonstige Bezieher beträgt das Jahresabon- nement DM 23,-; Einzelhefte werden zum Preis von DM 7,- geliefert. Die angegebenen Preise verstehen sich zuzüglich Porto. Abonnements verlängern sich jeweils um ein Jahr, wenn sie nicht spätestens zum 31.12. ge- kündigt werden. Erscheinungsweise: vierteljährlich. C. C. Buchners Verlag, Postfach 1269, 96003 Bamberg. Textgestaltung: StR z. A. Rüdiger Hobohm, Gaimersheimer Str. 13a, 85113 Böhmfeld. Anzeigenverwaltung: StR Michael Hotz, Xaver-Hamberger-Weg 23, 85614 Kirchseeon, Tel. (0 80 91) 29 18. Herstellung: BÖGL DRUCK GmbH, Hauptstraße 47, 84172 Buch a. Erlbach. Aktuelle Themen

Dank an Jena und Thüringen Der DAV-Kongreß 1996 in Jena war ein Erfolg. der Gastgeber. Die Ausstellungen der Hand- Und er war für alle Teilnehmer ein Erlebnis, das schriften aus der Universitätsbibiliothek und des ihnen in Erinnerung bleiben wird. Über 800 „Jenaer Malers“ waren mit Sorgfalt und dem Mitglieder des Verbandes, Lehrer, Forscher und Publikumsinteresse entsprechend gestaltet. Den Freunde der Antike waren der Einladung ge- Verlagen, die dankenswerterweise in sehr großer folgt: ein großartiges Zeichen der Solidarität, Zahl zugegen waren, stand im Foyer des Volks- das zu allererst den Kolleginnen und Kollegen hauses ein gut aufgeteilter Raum zur Präsentati- des Landesverbandes Thüringen galt, aber auch on ihres reichhaltigen Angebots zur Verfügung. denen der anderen Bundesländer. Viel Zuspruch fanden die Bilder und Collagen Das Ortskomitee, bestehend aus etwa 30 Perso- von Lateinschülerinnen und -schülern aus Thü- nen, hat sich wie eine verschworene Gemein- ringen. Die Glanzpunkte setzten am Anfang und schaft mit Liebe, Kompetenz und Organisati- Ende die musikalischen Darbietungen, vor allem onskraft, doch auch mit dem Wissen, daß nur die Erstaufführung von Jan Nováks „Aesopia“ der volle Einsatz das Anliegen der Alten Spra- mit pantomimischer Umsetzung; der langanhal- chen bei einer solchen Gelegenheit gebührend tende Beifall war verdient. zur Geltung bringt, über ein Jahr lang der Vor- Der Kongreß wurde, wie beabsichtigt, zu einer bereitung und Durchführung des Kongresses echten Demonstration für die Alten Sprachen an gewidmet. Der Landesverband und die Fried- Universität und Schule. Die Presse hat diese rich-Schiller-Universität arbeiteten in engster Intention aufgegriffen und nachhaltig herausge- Gemeinschaft zusammen. Es ist ihnen gelungen, stellt. Ganz sicher werden von Jena Impulse auf den Ministerpräsidenten des Freistaates, Dr. die anderen Bundesländer, besonders die neuen, Bernhard Vogel, als Schirmherr und Begrü- ausgehen. ßungsredner zu gewinnen und auch noch in der Deshalb ist es mir ein Bedürfnis, auch hier bildungspolitischen Diskussionsrunde Kultus- nochmals dem Landesverband Thüringen und minister Althaus zu präsentieren, dessen Mini- dem Institut für Altertumswissenschaft der sterium der zügige Wiederaufbau des altsprach- Friedrich-Schiller-Universität Jena den Dank lichen Unterrichts in Thüringen in erster Linie und die Anerkennung des Bundesvorstandes zu verdanken ist. und der Vertreterversammlung auszudrücken. Der Rektor der Universität begrüßte die Teil- Sie haben es erreicht, daß Jena und Thüringen nehmer in der Aula und im Volkshaus, der für alle eine Reise wert war. Oberbürgermeister der Stadt zeigte sich in sei- FRIEDRICH MAIER ner Begrüßungsrede gleichfalls als wohlwollen-

49 Grußwort des Vorsitzenden des DAV-Landesverbandes Thüringen Magnifizenz, stehenden partnerschaftlichen Beziehungen zum hochverehrter Herr Vorsitzender Prof. Maier, Institut für Altertumswissenschaften der Univer- verehrte Professores, sität Jena. Daß die Unzufriedenheit vieler Men- verehrte Kolleginnen und Kollegen, schen über die Defizite der Allgemeinbildung werte Gäste, meine Damen und Herren! bei den Jugendlichen besonders in den Berei- Im Namen des Thüringer Landesverbandes hei- chen Geschichte, Religion, Philosophie, My- ße ich Sie, die Sie von nah und fern der Einla- thologie und Fremdsprachen ständig wuchs, war dung zum Jenaer Kongreß gefolgt sind, in der jedem Hellhörigen bekannt. So machte zu Be- Saalestadt herzlich willkommen. Wir Thüringer ginn der 80er Jahre die Weimarer Schriftstelle- Altsprachenlehrerinnen und -lehrer schätzen uns rin Inge von Wangenheim, die, aus bürgerlicher glücklich und geehrt, daß wir als erstes neues Familie stammend, ansonsten mit der Gesell- Bundesland Gastgeber einer so bedeutsamen schaft der DDR eng verbunden war, auf diese Zusammenkunft sein dürfen. Wie andere deut- Übel öffentlich in ihrem Essay „Genosse Jeder- sche Regionen kann auch Thüringen in der Ver- mann und die Klassik“ aufmerksam. Der Auf- gangenheit auf bedeutende Traditionen in den satz erregte zwar Aufsehen, eine schulpolitische studia humaniora verweisen, klangvolle Namen Änderung bewirkte er nicht. Daß ab 1984 erst- von Gelehrten und Schulmännern wie Carl Ernst malig wieder Lateinlehrer an der Martin-Luther- Georges, Rudolph Ewald, Joachim Marquardt Universität Halle ausgebildet wurden, kann als stehen stellvertretend für eine Vielzahl bekann- Silberstreif am grauen Bildungshimmel der ter Persönlichkeiten. Doch an des Jahrhunderts DDR gewertet werden, die Strukturen jedoch ernstem Ende - das Plagiat an Friedrich Schiller blieben die gleichen. sei mir an diesem Ort gestattet - möchte ich vor Meine Damen und Herren, die politische Wende Ihnen eine kurze Retrospektive in die jüngste brachte uns die Chance der Erneuerung des Schulgeschichte unseres Landes geben. Schulwesens. Sie zu nutzen im Sinne unserer Die Schulreform 1945 in Ostdeutschland hatte Sache und im richtigen Zeitpunkt das Richtige trotz einschränkender Strukturen den alten Spra- zu tun, dazu fühlten sich die verbliebenen älte- chen an den Oberschulen noch einen festen ren Lehrer des Landes im Bunde mit wenigen, Platz im Ensemble der Fächer eingeräumt, und aber engagierten jungen herausgefordert. Zu nicht wenige Lehrer haben damals mit der Be- ihnen kamen praxiserfahrene Fremdsprachen- geisterung des Neubeginns bei vielen von uns kollegen, die sich für Latein qualifizierten und nunmehr Ergrauten die Liebe zu diesen Fächern für die Antike begeisterten. Als im Oktober geweckt. Doch in den sechziger Jahren kam die 1990 der Thüringer Landesverband gegründet Eiszeit für die Geisteswissenschaften im allge- wurde - den Geburtshelfern Herrn Selle, Herrn meinen und unsere Fächer im besonderen. Die Dr. Lohe und Prof. Maier sei an dieser Stelle rigide Beschneidung bzw. Eliminierung war herzlich gedankt - , sahen wir wie Sisyphus bitter, um so mehr sollte man das unermüdliche einen kaum zu überwindenden Berg vor uns, Wirken der Kolleginnen und Kollegen an den 9 doch Fortuna und Jupiter meinten es gut mit den Schulen anerkennend hervorheben, an denen Thüringer Schülern und Lehrern. Denn dank der noch altsprachlicher Unterricht erteilt werden Koinzidenz einer konservativen Landespolitik durfte. Für die drei Thüringer Bezirke wurde und einer von Herkunft und Profession aufge- altsprachlicher Unterricht an der Ernst-Abbe- schlossenen Kultusministerin - ihr Nachfolger EOS in Eisenach gegeben. Wenn auch die Zahl ist in gleicher Weise den studia humaniora zu- der Schülerinnen und Schüler gering und die getan - wurden in unserem Lande schulgesetzli- Aufnahmemodalitäten restriktiv waren, so sind che Entscheidungen getroffen, die die restitutio die Aktivitäten von Lehrenden und Lernenden Latinitatis an den Gymnasien beförderten. ebenso zu würdigen wie die seit dieser Zeit be-

50 Den gegebenen schulpolitischen Rahmen in- Tücken des Alltags; kritisches Denken und haltlich auszufüllen, war und ist uns eine Freu- Hartnäckigkeit gegenüber Widerständen und der de, die Stimmung des Aufbruchs beherrscht oft niederschmetternden stultitia vieler Unwis- unser aller Tun und setzt immer wieder Kräfte sender sind gefordert. Der Jenaer Kongreß 1996, frei. Es macht Spaß, in kürzester Zeit Lehrpläne bei dem sich die große Familie klassischer Phi- schreiben zu können, Prüfungsaufgaben für lologen aus dem In- und Ausland versammelt Zentralabitur und Latinum zu erstellen, einen hat, bei dem Spezialisten und Laien, Wissen- eigenen Landeswettbewerb Certamen Thurin- schaftler und Dilettanten - dies im besten Sinne giae ins Leben zu rufen und die Teilnehmer- des Wortes - unter gemeinsamem Ziel vereint zahlen und das Niveau der Arbeiten wachsen zu sind, möge die in ihn gesetzten Erwartungen sehen. Es beglückt, die Fortbildungsveranstal- erfüllen. Er möge kritische, aber optimistische tungen in Thüringen nicht nur als Ort der Quali- Botschaften und produktive Visionen aussen- fizierung, sondern auch als Forum des Zusam- den, uns allen Kraft und Zuversicht geben. menwachsens der Fachlehrer, Didaktiker und Meine Damen und Herren, 1996 steht zu Recht Spezialisten aus Ost und West zu erleben. Allen im Zeichen der Luther-Ehrung. Ein Zeitgenosse geistigen Aufbauhelfern aus Bayern, aus und Antipode des Reformators, Erasmus, dessen Rheinland-Pfalz und Berlin, aus Baden- Leistung wir zu seinem 460. Todestag gedenken Württemberg und Hessen sei an dieser Stelle sollten, legitimiert mich, mit einem Wort aus herzlich gedankt! Ohne ihren Einsatz, ihre An- seiner Schrift De ratione studii zu schließen: regungen und Ideen wäre uns vieles noch „Nihil autem facilius discitur quam quod rectum schwerer gefallen. Gedankt sei den unermüdli- ac verum est. At prava si semel inhaeserint in- chen Lehrern unseres Landes, die ihre Erfahrun- genio, dictu mirum quam non possint revelli.“ gen und Erkenntnisse andere lehrend und selbst Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. lernend zur Verfügung stellen. CHRISTOPH KÖHLER, Gotha Naive Euphorie über Erreichtes möge uns nicht die Augen verschließen vor Schwierigkeiten und

51 Grußwort des Thüringer Ministerpräsidenten Reverendissime praeses philologorum classi- Freude, daß man heute auf der Wartburg genau- corum Germaniae, professor Friderice Maier, so wie auf dem Hambacher Schloß sich treffen Spectatissime praetor Jenae urbis, mi doctor und frei seine Meinung sagen kann. Roehlinger, Der Freistaat Thüringen, das Land der Kultur Spectabilis Almae matris Jenensis, professor und Klassik, darf es sich als Ehre anrechnen, doctorque Machnik, et ultime nec minime, daß der Deutsche Altphilologenverband seine erste Jahrestagung in den jungen Ländern bei praeses societatis Mommsenianae, professor uns abhält. Hier in Jena, wo genau vor 75 Jahren Bernarde Seidensticker! die „Versammlung Deutscher Philologen und ύ ΘησÝως φιλï¯ντες γλµσσαν καM τLν Schulmänner“ stattfand. Und wenn 1996, im ^Ρωµýλïυ, eνδρες τε καM γυνα¦κες, τCµδ\ ™ν Lutherjahr, Thüringen Gastgeber dieses Sympo- eστει· ÷αßρετε. siums ist, dann darf man daran erinnern, daß der Qui Thesei linguam amatis nec minus Romuli, Reformator - vor allem mit seiner Bi-bel- urbe in splendente Jena ut vos video libens! übersetzung ins Deutsche - eine große philologi- Illustrissimi conventus sodales, salvete in re sche Tradition begründet hat. publica ! Übrigens: Der Name „Thoringia“ taucht erst- Optimo auspicio usi estis, ut mihi videtur, qui mals 380 n. Chr. in der „Mulomedicina“, der Jenam elegistis, qua in urbe conventus vester Tierheilkunde des Römers Flavius Vegetius agatur: nam Jenam ex aetatibus convenerunt Renatus auf. antiquitas et rerum novarum animus, vel id Diese Altphilologen-Tagung ist auch eine Reve- quod dicitur „traditio et modernitas“. renz an alle, die seit der Wende beachtliche Conventui vestro cum suprascripseritis „pro- Aufbauarbeit bei der Wiedereinrichtung der gressus indiget originibus“ („Zukunft braucht Alten Sprachen an Gymnasien und Hochschulen Herkunft“), nos quoque confidamus illi genio in den jungen Ländern leisten. An den 10 Jenaer loci! Quod cum suscipio, spes mihi non deest Gymnasien steht der wiedererstandene La- fore, ut oratiunculam meam intellegatis, si post- teinunterricht für die landesweite Renaissance hac non Romuli lingua uti audeo, sed sermone der humanistischen Bildung. Auch das macht classico illius nostri et vestri Wolfgangi Goethe; Mut. nam cum progressus indiget originibus, tum Alte Sprachen sind keine „toten“ Sprachen. Das vobis opus est oratore, cui effluant verba. beweist der große Zuspruch, den Latein als Jena ist nicht nur eine technologische Zukunfts- Fremdsprache an den Gymnasien bei uns in schmiede unseres Landes. Jena ist auch eine Thüringen erfährt. [Über 12.000 Schüler lernen Stadt mit großer humanistischer Tradition. Für heute wieder an Thüringer Gymnasien Latein. Goethe war Jena „eine Stapelstadt des Wissens Das sind fast 14 Prozent aller Gymnasiasten seit und der Wissenschaften“. Die 1558 (als Ersatz dem Schuljahr 1992/93. Über 200 Teilnehmer für Wittenberg) gegründete Universität Jena aus 28 Thüringer Gymnasien beteiligen sich in gehört zu den ältesten in Europa. Sie ist mit diesem Jahr an dem Thüringer Altsprachen- großen Namen verbunden: Fichte, Hegel und wettbewerb unter dem Motto „Certamen Thu- Schelling, Novalis und Schiller, auch wenn ringiae, ut studia Latina et Graeca in scholis Schiller den Studenten hier viel zu schwäbisch nostris semper augeantur.“] sprach und sie ihn deswegen für schwer ver- Hier in Thüringen verwundert das Aufblühen ständlich hielten. Von Jenas Urburschenschaft der humanistischen Bildung nicht. Schließlich ging bekanntlich auch das erste Wartburgfest waren Wilhelm von Humboldt, Goethe und 1817 aus, wo zum ersten Mal die schwarz-rot- Schiller eng befreundet. Und bekanntlich hat goldene Trikolore wehte. Wir haben Anlaß zur Wilhelm von Humboldt eine ebenso kluge wie

52 vermögende Thüringerin, Caroline von Dache- Geschichte viel Altes zusammenbricht, aber röden, geheiratet. Noch heute gehört der Brief- auch viel Neues entsteht. wechsel der Brautleute zu dem Schönsten, was Nach der Wende ist nicht nur eine Aufarbeitung in deutscher Sprache je geschrieben wurde. Wie der Vergangenheit, sondern auch eine Neuorien- wäre das heute, da wir nur noch Fax lesen? tierung vonnöten. Der Zusammenbruch des Al- Humboldt bezeichnet es als die glücklichste Zeit ten schafft noch keine neue Welt. Bis heute lie- seines Lebens, als er - frei von jeder beruflichen fert uns dafür das humanistische Menschenbild Bindung - vom Februar 1794 bis zum Sommer zeitlose, tragende Werte. Virtute et exemplo - 1797 mit Schiller hier in Jena zusammenwirkte. dieser Wahlspruch könnte als Motto Ihres Sym- Hier schrieb Humboldt seine berühmten „Ideen posiums dienen: durch Tugend und Beispiel zu einem Versuch, die Wirksamkeit des Staates Impulse für die Wertorientierung in einer Zeit zu bestimmen“ (1792). In dieser Jugendschrift fundamentalen Umbruchs zu liefern. Beim Auf- verteidigte Humboldt die Freiheit des Individu- bruch in eine neue Zeit brauchen wir Konstan- ums gegen die Allmacht des Staates. Vielleicht ten, haltgebende Geländer. können wir daraus auch lernen, wenn der Staat Viele haben vergessen, daß Wilhelm von Hum- schlanker werden soll. boldt als preußischer Kultusminister das Gym- Und schließlich waren es die protestantischen nasium um einen sprachlichen Kern herum, um Universitäten Mitteldeutschlands, von Göttingen Latein und Griechisch, aufgebaut hat! Und viele über Jena nach Halle und Leipzig, an denen haben vergessen, daß das Gymnasium von der Ende des 18. Jahrhunderts der Neuhumanismus Bildungsidee der Alten Sprachen her begründet entstanden ist. Von hier aus strahlte er auf Preu- worden ist, vom Bildungsbegriff der Antike ßen und Bayern, nach 1848 auch auf Österreich ausgeht, von Menschenbildung, Allgemeinbil- aus. dung, Geistesbildung und übrigens auch Elite- Sie, die Verwalter des antiken Erbes, haben in bildung. Es ist kein Zufall, daß der Schwund der der Tat den genius loci richtig gewählt. Ubi Lateinschülerzahlen in der alten Bundesrepublik bene, ibi patria. Im Land der deutschen Klassik, mit dem Ansturm aufs Gymnasium seit Mitte im Land des Neuhumanismus ist also die Antike der sechziger Jahre zusammenfällt. - übrigens in großen Plastiken im Goethehaus zu „Und was wird er davon haben, wenn er bei dir zu bewundern - gewiß keine terra inco- in die Lehre geht?“ - die klassische Sokrates- gnita. Und wenn die Altphilologen hier in den Frage - einen Schüler betreffend - an Protagoras jungen Ländern über „Zukunft braucht Her- läßt sich heute überzeugend für die alten Spra- kunft“ diskutieren, dann gewinnt dies eine be- chen beantworten: vor allem Humanitas. In sondere Bedeutung: denn hier können Sie die „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ hat Goethe eine dialektische Spannung von einst und jetzt, von Bestimmung dessen gegeben, was Bildung sei: alt und neu vor Ort besser als anderswo studie- „Daß ich Dir’s in einem Wort sage, mich selbst, ren. Hier in den jungen Ländern, wo mit dem ganz wie ich da bin, auszubilden“. Latein und wohl einschneidendsten Strukturwandel der Griechisch - Kernfächer humanistischer Bil-

53 dung. Latein als Basissprache Europas - die Es ist nicht meine Aufgabe als Politiker, eine Schlüsselqualifikation zum Denken, zur Ge- oratio suasoria, eine defensio für die Antike zu dächtnisschulung. halten. Wenn wir heute das gemeinsame Europa voran- Consuetudo altera natura, gravissimum est im- treiben, dann dürfen wir daran erinnern: Die perium consuetudinis. Das ganze Deutschland lateinische Sprache hat Europa gebaut. Das La- ist im Wandel begriffen. Das Rad der Ge- teinische hielt über Jahrhunderte die gelehrte schichte läßt sich weder anhalten noch zurück- Gesellschaft dieses Kontinents zusammen. Noch drehen. Und dies will ernsthaft auch niemand. zur Zeit des jungen Goethe war jedes dritte Wir werden es aber nur nach vorn bewegen. Buch im deutschen Raum in lateinischer Spra- Und es wird uns gelingen, wenn wir nach dem che geschrieben. Ich bin zuversichtlich - dum Motto handeln: viribus unitis. Und nur dann, spiro spero - Europa gelingt. Zurück zu den wenn wir Plinius auch heute noch beherzigen: geistigen Wurzeln Europas, nur so können wir multum non multa, nur dann, wenn wir die Hu- das gemeinsame Haus bauen. maniora über die Materia, wenn wir die über- Das Latein verschafft uns im gemeinsamen Eu- zeitlichen Güter dem Gleichgültigen vorziehen. ropa leichten Zugang zu romanischen Töchtern Und nur dann, wenn wir nach Seneca nicht wie Italienisch, Französisch und Spanisch. Und gleich vor jedem Problem kapitulieren. Seneca Latein und Griechisch bauen Grundlagen, die hatte seinem Freund Lucilius nach Ägypten von Dauer sind: im sprachlichen und menschli- geschrieben, der damals eine schwierige Aufga- chen Bereich. Die Alten Sprachen, sie sind im be zu bewältigen hatte: non quia difficilia sunt, technischen Zeitalter aktueller denn je: Solar- non audemus, sed quia non audemus, difficilia kollektor, Katalysator, Gentechnologie. Die sunt (Seneca, Epistel 104, 26). Man könnte die- „geheimnisvolle, weltbewegende Macht des sen Satz vielen Deutschen heute ins Stammbuch Wortes in der menschlichen Geschichte“, von schreiben. Václav Havel in der Frankfurter Paulskirche Ich habe lateinisch begonnen und - respice fi- 1989 beschworen, begann mit Demosthenes und nem - ich will auch so schließen: Cicero. So wie Sie, die Altphilologen, uns Mut Gaudeo, quod hac quoque in Provincia non und Zuversicht in den jungen Ländern machen, solum litterae classicae Germanicae, sed etiam will ich es Ihnen zurückgeben. Verbunden mit antiquitatis vigent. Egomet - tutor et patronus - der Bitte: Bauen Sie weiter mutig an der Brücke opto, ut iste conventus Jenensis vobis bene eve- zwischen Vergangenheit und Zukunft. niat, ut genius loci linguis classicis faveat, ut Wie modern die Antike ist, mag ein Satz von humanitas ipsa novo impetu impellatur, novis Werner Heisenberg zeigen, Nobelpreisträger viribus imbuatur. und Absolvent des Humanistischen Maxgymna- Oriantur hac ex urbe elatio firma et impetus siums in München, wo mein Vater, mein Bruder diuturnus. Augeantur mores humanitasque pro- und ich Abitur gemacht haben: „Am Anfang der vinciarum recentium et iuvenilium! Congrega- abendländischen Kultur steht die enge Verbin- tioni autem vestrae, quae vulgo dicitur Deut- dung von prinzipieller Fragestellung und prakti- scher Altphilologenverband, isti ergo DAV idem schem Handeln, die von den Griechen geleistet succedat, quod omnes - spero - Provinciae no- worden ist. Auf dieser Verbindung beruht die strae Thuringiae optant: vivat, crescat, floreat. ganze Kraft unserer Kultur auch heute noch. Sit vobis hic bene! Tum Thuringia vobis patria Fast alle Fortschritte leiten sich aus ihr her. Und erit. Nam: ubi bene, ibi patria. Valete! in diesem Sinn ist ein Bekenntnis zur humanisti- BERNHARD VOGEL, Erfurt schen Bildung einfach ein Bekenntnis zum Abendland und seiner kulturbildenden Kraft.“

54 Zukunft braucht Herkunft Bildungserwartungen an das Gymnasium und die Alten Sprachen Zur Eröffnung des Kongresses des Deutschen Altphilologenverbandes in Jena

Für die Zukunft darf nicht Kassandra zuständig „Zukunft braucht Herkunft“, das Motto unseres sein. Delphi ist gefragt. „Kassandra galt nicht Kongresses, tritt uns hier in einer globalen und als klug und weise, sondern als hysterisch.“ Die existentiellen Dimension in scharfen Konturen Priester des Gottes Apoll hingegen besaßen und nicht ohne Dringlichkeit entgegen. Aus hohe Intelligenz, so daß von ihrer Orakelstätte, solch weitgefaßter Perspektive wollen wir unse- dem Nabel der antiken Welt, bewußte Impulse re Fächer Latein und Griechisch, die eben die zur Gestaltung der Zukunft ausgingen. Solches Antike der Gegenwart vermitteln, in den Blick ist zu lesen in einem der faszinierendsten Bü- nehmen. Wir tun dies in Jena, erstmals, also in cher unserer Zeit, die sich mit dem, was einmal einer Stadt eines neuen Bundeslandes, nämlich kommen wird, befassen: Der Delphi- Thüringens, in einer Stadt und in einem Land, in Report - Innovationen für unsere denen uns diese Gespanntheit zwischen Traditi- Zukunft (1990). Hier wird offengelegt: Wie on und Fortschritt schon im äußeren Erschei- einst die Priester von Delphi durch ihre von nungsbild markant und zeichenhaft ins Auge Legitimation, Kompetenz und Autorität getra- fällt. genen Prophezeiungen die Politik in den Jahr- Unser Kongreßmotto „Zukunft braucht Her- hunderten v. Chr. in bestimmte Richtungen kunft“ hat auch einen Untertitel: Bildungser- steuerten, so ließen sich heute durch ähnlich wartungen an das Gymnasium und die Alten legitimierte und qualifizierte Fachleute die zu- Sprachen. Diese Sichtweise - gewissermaßen künftigen Schwerpunkte der Forschung bestim- von außen nach innen - ist gewollt. Was soll men und über deren Verwirklichung in Umfang Schule als Bildungsinstitution heute für morgen und Termin annähernde Aussagen machen; so leisten? Und welche Rolle spielen darin sprach- könne man machtvoll in das Werden der zu- und kulturhistorische Fächer wie Latein und künftigen Welt eingreifen. „Es geht dabei“ - so Griechisch? Man liest vielerorts: Bildung als der Autor Hariolf Grupp - „tatsächlich um Vi- Vorgang vollziehe sich zu allererst als Vermitt- sionen, wie die Zukunft aussehen könnte und lung von Wissen, das den Menschen in die Lage was zu tun ist, um sie so zu gestalten, wie der versetzt, in der Zukunft auftretende Aufgaben Staat und die Bürger sie gerne hätten“, um über und Probleme zu meistern. Doch was ist das für die drängenden Existenzprobleme der Mensch- ein Wissen, das später einmal von Belang ist? heit durch Menschenhand Herr zu werden. Ja- „Was wir in der Zukunft wissen werden“, meint pan hat das „Delphi“ (gemeint ist das „Delphi- Karl Popper, „können wir nicht wissen, denn Programm“) gestartet, Europa zieht nach, Ame- sonst wüßten wir es ja.“ Dieser Vorbehalt rika wird folgen. zwingt zur Erkenntnis: Wenn Schule Wissen „Wahrhaftig beherzigenswerte Lehren aus dem vermitteln soll, dann unter dem Kalkül, daß es Altertum“, wie es heißt, werden zu wissen- einmal dazu brauchbar sein wird, mit seiner schaftstheoretischen Grundlagen der Zukunfts- Hilfe und auf seiner Grundlage - mit bestimm- gestaltung. Die Antike liefert das Modell zur ten Techniken - neues, nötiges Wissen zu schaf- Bewältigung zukünftiger Aufgaben. Der Fort- fen. Bildung sollte also mehr sein. Sie muß jun- schritt, der sich in Innovationen manifestiert und ge Menschen in die Lage versetzen, mit gelern- in aller Regel an Naturwissenschaft und Tech- tem Wissen flexibel, elastisch, kreativ, verände- nologie hängt, orientiert sich an einer Tradition, rungsfreudig, mit Innovationslust umzugehen. einem offensichtlich bewährten Muster der Ver- Und es muß noch Entscheidendes hinzukom- gangenheit. men.

55 Die Projektion heutigen Wissens auf die Zu- M. Edelman, in seinem 1992 erschienenen kunft, wie sie z. B. im Delphi-Report zum Pro- Buch „Göttliche Luft, vernichtendes Feuer“ aus. gramm erhoben wird, macht einem unwillkür- In bewußter Abkehr von Galilei und Descartes lich die Problematik aller zukunftsorientierten schafft der amerikanische Forscher eine, wie die Wissenschaften bewußt, die, wie wir sehen, Kritik schreibt, „brillante und fesselnde neue gerade in unserem Jahrhundert immer akuter Vision des menschlichen Geistes“, indem er von geworden ist: die Macht und Riskantheit den Naturwissenschaften, vor allem der Biolo- menschlichen Wissens. Die Formel ‚Wissen ist gie her versucht, dem auf die Spur zu kommen, Macht’ (scientia est potentia), mit der vor etwa was den Menschen zum Menschen macht, sei- 400 Jahren der Engländer Francis Bacon dem nem Bewußtsein, seinem Denkvermögen. einerseits von Kopernikus und Galilei freige- Edelmans Erkenntnisse sind revolutionierend setzten, andererseits von Descartes philoso- und zugleich beruhigend. Er, der für die Entste- phisch legitimierten Forschungsdrang in Rich- hung des Geistes im Gehirn eine wissenschaft- tung Natur eine ungeheure, bis heute nicht ge- lich plausible Erklärung vorlegt, weist dem brochene Dynamik verlieh, hat die bis dahin Menschen eine im Laufe der Evolution zuge- eine Einheit bildende Kultur der Menschen, also wachsene Form „des höheren Bewußtseins“ zu; ihr Bemühen, die Welt entsprechend ihren Be- und dieses sei bestimmt von Intentionalität, von dürfnissen zu gestalten, in zwei Teile zerrissen. Selbstheit, von Sprache, von Logik, von Wer- Man spricht deshalb von den „Zwei Kulturen“, tempfinden, von einem Gespür für Zeit, also für in denen man sich mit jeweils verschiedenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von der Ambitionen wissenschaftlich betätigt, von den subjektiven Erfahrung von Welt und Geschich- Naturwissenschaften und den Geisteswissen- te, schließlich von Sinnhaftigkeit. schaften. Die einen sind, so die verbreitete Mei- Da aber dieses Denken über das Denken, das nung, für die Zukunft zuständig, sie sind fort- Forschen des Geistes über den Geist den Natur- schrittsorientiert und, wie schon Bacon sagte, wissenschaftler ständig seine Abhängigkeit von auf Praxis bezogen, mit wenig Sinn für das Ver- der eigenen Subjektivität spüren, also die indi- gangene, die anderen hängen an der Vergangen- viduelle Begrenztheit seines Erkenntnisvermö- heit, ihre Vertreter stehen mit dem Rücken zur gens erfahren läßt - Edelman spricht geradezu Zukunft, sie sind für die Bewältigung von Zu- von einem „Eingekerkertsein“ -, erweist sich für kunftsaufgaben, da sie, wie Bacon ihnen vor- ihn die rein naturwissenschaftliche Erklärung wirft, „bei den Musen bleiben“, nutzlos und des Menschen als eines Geistwesens, auch wenn ineffektiv. Zwischen Zukunft und Herkunft sie zuverlässige, unverzichtbare Grundlagen des klafft ein starker Riß. Und dieser Riß zieht sich Wissens darüber liefert, letztlich als nicht aus- durch die Universitätsdisziplinen nicht weniger reichend. Andere Wissenschaften müssen, wie als durch die Schulfächer, mit der Folge gegen- Edelman selbst sagt, hinzukommen: die Psy- seitiger Ignoranz und zuweilen gar kalter Ab- chologie, die Linguistik, die Philosophie, die neigung voreinander. Kulturwissenschaften, auch die Theologie. Allerdings hat sich, wie die wissenschaftliche Wir sehen: Die Geisteswissenschaften sind hier Diskussion zeigt, der Trend längst zu wenden gefordert, freilich in einer ganz neuen, bisherige begonnen. Der Anstoß dazu ging erstaunli- Traditionen sprengenden Form. Man ist, wie es cherweise von der Naturwissenschaft aus. Ihr der amerikanische Forscher ausdrückt, „auf der Forschen ist, wie es scheint, an Grenzen gesto- Suche nach neuen Harmonien“. Sind solche ßen, so daß ihre Erkenntnisobjekte in den Sog Harmonien aber möglich? Baut man von der der ‚letzten Fragen’ des Menschen geraten anderen Seite her, der geisteswissenschaftlichen, sind. An diesen Grenzen schwindet der Gegen- an der noch offensichtlich nötigen Brücke über satz von Geist und Natur. „Der Geist kehrt den Jahrhunderte alten Graben mit? Edelman zurück zur Natur“, so lapidar drückt es der Medizin-Nobelpreisträger von 1972, Gerald

56 zitiert, um sein Forschungsvorhaben einzuord- derstellung, die ihm aufgrund seines Geistes nen, den großen französischen Philosophen und über die Natur zugewachsen ist. Mathematiker des 17. Jh. Blaise Pascal: „Der In das Denken des Mittelalters projiziert ge- über sich selbst nachdenkende Mensch ist das winnt das ambivalente griechische Wort δεινüν große Wunder der Natur.“ Dieses Wunder wie- eine dunkle Schattierung. Der Literat Lion derholt sich seit Beginn der Kulturgeschichte Feuchtwanger z. B. legt einem Abt des 14. Jh., der Menschen in permanenter Folge. Johann von Viktring, folgende Übersetzung des Schon in einem der ersten schriftlichen Zeugnis- „antiken Klassikers“ in den Mund: se der Menschheit stellt der Psalmist an Gott die Viel Furchtbares ist in der Welt, verwunderte Frage nach dem Grund, warum der doch nichts Furchtbareres als das menschliche Herz. Mensch aus der Natur herausgehoben ist: Für den mittelalterlichen Menschen muß Geist- Was ist der Mensch, daß du an ihn denkst, ... begabung mit den Mächten der Finsternis kolla- daß du ihn nur wenig geringer gemacht hast als borieren. Gott, daß du ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt In unserer Zeit herrscht eher der Stolz auf die hast? intellektuelle Leistungskraft des Menschen vor; In der theonomen Sicht des Alten Testaments die besondere Begabung begreift man als Aus- erweist sich Gott als Promotor des Selektions- zeichnung. Etwas davon spürt man beim Psy- prozesses, durch den der Mensch zu seiner chologen Erich Fromm, der den Menschen Stellung über die Natur, zum dominium terrae, vor allem in seinem individuellen Glücksbe- gekommen ist. Gewiß auch in religiöser Gebun- dürfnis, in seiner schwer begreifbaren Natur als denheit, aber sozusagen gelöster von der Zu- Einheit von Geist und Körper zu ergründen ver- ständigkeit einer waltenden Gottheit zeigt sich sucht; er übersetzt fast enthusiastisch: der über sich selbst nachdenkende Mensch im Der Wunder sind viele, alten Griechenland. Im „Hohen Lied auf die der Wunder größtes aber ist der Mensch. Geistbegabung des Menschen“, im Chorlied der sophokleischen Antigone, hat das Nachden- Dagegen setzt sich nun bewußt der Philosoph ken über die wundersame Größe des Menschen Hans Jonas ab; seine Deutung ist sehr viel seine klassische Formulierung erhalten. Die skeptischer und mit energischen Konsequenzen Eingangsverse dieses Textes sind, da oft zitiert, verbunden. Jonas macht das griechische Chor- bekannt: lied zum Ausgangspunkt seines grundstürzen- ΠïλλJ τJ δεινÜ, κïžδKν ˜ν- den Werkes über eine Zukunftsethik mit dem Titel „Das Prinzip Verantwortung“. Er übersetzt θρþπïυ δεινüτερïν πÝλει. die ersten Zeilen so: Vieles ist gewaltig, Ungeheuer ist viel, und nichts Nichts aber ist gewaltiger als der Mensch. ist ungeheurer als der Mensch. Damit beginnt ein Gedicht, in dem der griechi- Die Nuancierung des δεινüν erhält wieder einen sche Tragiker Sophokles über den Menschen starken Schlag ins Negative. Jonas erkennt in nachdenkt, über seinen Geist, seine Sprache, diesem Text, nicht ohne Vorgabe im griechi- τÝ÷νη seine Kunstfertigkeit ( ), also über Bega- schen Original, „die beklommene Huldigung an bungen, mit denen er Zivilisation schafft, Staat des Menschen beklemmende Macht“. Geist und und Gemeinschaft herstellt, Kultur stiftet, sich Macht: ihr Verhältnis provoziert den modernen dadurch aus der Natur heraushebt und über sie Philosophen, „Wissen ist Macht“, verkündete stellt. Die Übersetzung dieser beiden Verse ist Francis Bacon in der Morgenröte des techni- auf seiten der Geisteswissenschaften - wohlge- schen Zeitalters. „Macht ist nicht Einsicht“, merkt: außerhalb der Philologie - gewisserma- diagnostiziert Jonas und verurteilt „das Unheil ßen zum Indikator der Selbsteinschätzung des des Baconischen Ideals“. Indem er sich Sopho- Menschen geworden im Hinblick auf seine Son- kles’ ambivalentem Urteil, „der Mensch gehe in

57 seiner Geistbefähigung bald den guten, bald den Prinzip früherer Ethik sei diesem neuen An- schlechten Weg“, anschließt, schreibt er dem spruch an den Menschen gewachsen. Und doch Wissen selbst eine ethische Bedeutsamkeit zu, läßt sich - Jonas würde dem gewiß nicht wider- so daß es der kritischen Vernunft unterworfen sprechen - der Boden im Gewissen des Men- wird. Es geht ihm nicht so sehr um das Wunder schen für ethische Entscheidungen, für Moral des Menschen als Geistwesen im einzelnen, nur auflockern durch die Auseinandersetzung sondern um die Wirkung dieser Begabung für mit Mustern und Modellen von Ethik, wie sie das Ganze der Menschheit, er achtet darauf, uns seit alters die Menschheitsgeschichte zur „wie sich das Ungeheure menschlichen Tuns“ Verfügung stellt. Jonas selbst orientiert sich ja auf die ihn umgebende Welt, auf die Natur aus- laufend an herkömmlichen Leitbildern. wirkt. Jonas thematisiert die geistbedingte Son- Der Naturwissenschaftler Edelman und der Gei- derstellung des Menschen über die Natur, so daß steswissenschaftler Jonas kommen sich also er sich nun unmittelbar mit den Naturwissen- dort, wo sie die Grenzen markieren, sehr nahe; schaften auseinandersetzen muß. sie sehen sich offensichtlich aufeinander ange- Der Mensch wird nicht mehr nur in seiner wiesen. Die Brücke, die wir hier zwischen den Selbstwerdung betrachtet und beurteilt, er wird beiden hergestellt haben, ist nicht künstlich kon- in seiner Verantwortlichkeit für das Werden und struiert; solche Begegnungen über den Graben Leben nachfolgender Generationen gesehen. hinweg finden heute immer mehr, auf verschie- Damit gewinnt für ihn das Nachdenken des denen Ebenen und unmittelbar, statt. Nur ein Menschen über sein Denken, seinen Geist und Beweis dafür: In ein und demselben Buch „Gott über das Verhältnis von Geist und Natur eine und die Wissenschaft“ (Paris 1990) diskutieren zutiefst ethische Dimension, die weit über die der Philosoph und Theologe Jean Guitton und Zuständigkeit des Naturwissenschaftlers hinaus- die Physiker Igor und Grichke Bogdanow an reicht. „Die Naturwissenschaft sagt“ - nach Jo- den Grenzen physikalischer Erkenntnis über die nas’ Meinung - „nicht die ganze Wahrheit über ‚letzten Fragen’ des Menschen, mit der viel- die Natur aus.“ Die Frage, ob die Natur, ob die leicht tröstlichen Einsicht, daß Physik und Me- Schöpfung zu bewahren sei, so daß spätere Ge- taphysik, Fakten und Ideen, Materie und Be- nerationen darin noch leben können, daß also wußtsein ein und dasselbe, also Ausformungen der neue kategorische Imperativ: „Handle so, der einen Natur seien, daß also beide Betrach- daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich tungsweisen, die naturwissenschaftliche und die sind mit der Permanenz echten menschlichen geisteswissenschaftliche, ihre Berechtigung Lebens auf Erden“, ist nicht mit naturwissen- haben. Das läßt den Schluß zu: die Selbstwer- schaftlichen Argumenten zu beantworten, sie dung des Menschen, die sich stets von neuem fordert letztlich nach Jonas eine metaphysisch, vollzieht, bedarf allseitiger Unterstützung, von also religiös begründete Antwort. Vielleicht seiten des Fortschritts und von seiten der Tradi- liege nur darin ein verpflichtender Sinn, das tion, also von der Biologie, der Physik, der Leben auf Erden zu erhalten, daß der Mensch Chemie, der Psychologie, aber auch der sich als etwas Heiliges begreift, also sozusagen Sprachlehre, der Logik, von den Kulturwissen- in einem Axiom. schaften, von der Philosophie, der Theologie Homo homini res sacra. Es ließe sich dann fra- und eben auch von der Ethik, und zwar immer gen, ob etwa Senecas Maxime, daß der Mensch im Erfahrungsraum von Welt und Geschichte. dem Menschen etwas Heiliges sei, den Kernsatz Wir sehen: die Zukunft braucht die Herkunft. einer Zukunftsethik ausmache, eine Verpflich- Beides sind heute wieder kompatible Größen tung zur Rücksicht ausdrücke an die jeweils geworden. jetzige gegenüber der kommenden Generation. Der Satz „Zukunft braucht Herkunft“ ist also Hans Jonas freilich denkt anders. Für ihn ver- nicht bloß ein gern gehörter oder gelesener Slo- langt die Zukunftgerichtetheit menschlicher gan; er stellt eine anthropologische Wahrheit Verantwortung eine ganz neuartige Ethik: kein dar, die auch zu modernen wissenschaftlichen

58 Erkenntnissen nicht in Widerspruch steht. Diese Energie des Menschen bedarf, um etwa das Wahrheit gilt in zwei Hinsichten, zum einen heute noch unlösbare Existenzproblem essentiell-individuell, weil die Erfahrung von schlechthin, nämlich das des Ausgleichs der geschichtlich-kulturellen Situationen wesentlich Ansprüche von Ökonomie und Ökologie, erfolg- den Prozeß bestimmt, der den Menschen seiner reich anzugehen. Dem Gymnasium wächst hier selbst bewußt macht, ihm Sinn vermittelt und eine große pädagogische Aufgabe zu; es muß, ihn dadurch für die Zukunft aufschließt, zum so signalisieren es die Vordenker der gymnasi- anderen existentiell-universal, weil nur die ethi- alen Bildungstheorie und Bildungspolitik, die sche Bedeutsamkeit menschlichen Handelns, hohe Schule der Verantwortung werden. wie sie in Theorie und Praxis der Vergangenheit Vor diesem Hintergrund erhalten die Alten einsichtig wird, den Menschen in eine Disposi- Sprachen - also die Gymnasialfächer der Her- tion bringt, daß er seine Verantwortung für die kunft schlechthin - eine neugefestigte Position. Erhaltung der Art in der Zukunft erkennt und Wer Latein und Griechisch ablehnen wollte, mutig annimmt. Fächer, die Sprache und Logik, jene die Selbst- Es unterliegt keinem Zweifel: Nur im weiten werdung des Menschen tragenden Akte an mo- Horizont, wie er hier vor unseren Augen in dellhaften Fällen bewußt machen und trainieren, knappen Strichen gezeichnet wurde, erhalten Fächer sodann, die das Nachdenken des Men- alle Überlegungen zur Bildung in der Zukunft schen über den Menschen, über seine Geistbe- ihre tragende Bedeutung. Das Motto „Zukunft gabung und deren Folgen sowie die Konzentra- braucht Herkunft“ trifft gewiß auf das Gymna- tion aller Fragen auf ihre ethische Relevanz sium, auf die Höhere Schule als Ganzes zu. In exemplarisch vor Augen führen, Fächer weiter, den Visionen von Schule jenseits der Jahrtau- in denen Schüler lesen, wie das Verhältnis von sendwende, die in Vorträgen, Symposien, Pu- Wissen und Macht sofort und radikal unter der blikationen immer häufiger entworfen werden, Frage der individuellen und sozialen Verant- beherrschen die phantastischen Möglichkeiten wortlichkeit diskutiert wird, Fächer schließlich, der Multimedia die Szene. Zugleich aber ge- die mit mythischen, künstlerischen, philosophi- winnt, gewissermaßen komplementär dazu, das schen, wissenschaftlichen, politischen Entwür- Programm einer umfassenden, vertieften All- fen konfrontieren, die nicht bloß auf Papyros gemeinbildung wieder an Bedeutung. „Bildung oder Pergament geschrieben blieben, sondern und Wissen sind zu entscheidenden Standort- seit den Anfängen ihre Vitalität in Politik, Kul- faktoren geworden; eine möglichst breite All- tur und Geistesleben Europas dauerhaft zur gemeinbildung muß das vorrangige Ziel jeder Wirkung brachten bis zum heutigen Tag, wer schulischen Ausbildung sein.“ So zuletzt Bun- also solche Fächer - „Basisfächer“ oder despräsident Roman Herzog vor dem 15. Kon- „Wurzelfächer“ - an den Rand des Gymnasiums greß der Deutschen Gesellschaft für Erzie- drängen oder gar in seinen Keller stellen (im hungswissenschaft in Halle 1996. In solcher Westen) oder dort belassen (im Osten) wollte, Allgemeinbildung beanspruchen Elemente der der würde wenig bildungspolitischen Weitblick naturwissenschaftlichen und der geisteswissen- zeigen; sein Urteil bliebe extrem vordergründig. schaftlichen Fächer einen gleichberechtigten Er würde sich heute in Widerspruch setzen zu Rang, ja man fordert - auch hier „auf der Suche den Erwartungen an die Bildung von morgen. In nach neuen Harmonien“ - mit Nachdruck ihre seiner Ablehnung der nicht geringsten unter den Zusammenarbeit. Die Schlüsselprobleme der geisteswissenschaftlichen Fächern stieße er in Zukunft ließen sich, so liest man, nur angehen dasselbe Horn, wie einst Francis Bacon, der, wie mit Wissen, mit Kompetenz, mit dem Bewußt- wir hörten, die „bei den Musen bleibenden“ sein, daß das eigene Leben und das der anderen (man assoziiert heute „die musealen“) Diszipli- einen Sinn hat, daß die Erde als Existenzraum nen mitleidlos deklassierte (und dies in lateini- der Menschheit bewahrenswert ist, daß es scher Sprache). Müßte er sich nicht deshalb demnach aller intellektuellen und moralischen zusammen mit jenem Engländer sagen lassen,

59 was schon 2000 Jahre vor diesem der griechi- Wer in seiner Jugend die Musen vernachlässigt, der sche Dichter Euripides gültig formuliert hat? hat die vergangene Zeit verloren und ist für die DÏστις νÝïς rν µïυσµν ˜µελε¦, Zukunft tot. τüν τε παρελθüντ\ ˜πüλωλε ÷ρüνïν FRIEDRICH MAIER καM τNν µÝλλïντα τÝθνηκεν. (Frg. 1028 Nauck)

Die Anforderungen der modernen Arbeitswelt an die gymnasiale Bildung

Meine sehr geehrten Damen und Herren, dungen zwischen Bildungssystem und Beschäf- über die Anforderungen der Arbeitswelt an die tigungssystem. Dies beginnt schon mit der ba- gymnasiale Bildung zu sprechen, heißt, über die nalen Tatsache, daß die Lebenslinie des einzel- Beziehungen zwischen Beschäftigungssystem nen Menschen im Regelfall beide Welten und Bildungssystem nachzudenken. durchläuft. Die Schnittstelle ist der oft beschwo- rene „Eintritt des Jungen Menschen in die Ar- Beschäftigung, Arbeit und Arbeitsmarkt sind beitswelt“, der häufig, vor allem bei unzulängli- Teilbereiche des großen Feldes der Wirtschaft. cher Antizipation der die Arbeitswelt beherr- Sie unterliegen den ökonomischen Gesetzmä- schenden Regeln und Zwänge, als Schock emp- ßigkeiten und Zwängen, z. B. dem unerbittli- funden wird. chen Prinzip von Angebot und Nachfrage, dem harten Test des Wettbewerbs sowie dem kon- Die wichtigste Bezugsschiene resultiert aber junkturellen Auf und Ab des Wirtschaftsgesche- daher, daß dem Bildungssystem zumindest auch hens. Sie werden wie die gesamte wirtschaftli- die Aufgabe zukommt, den jungen Menschen che Welt von den Prinzipien der Rationalität, auf seine Funktionen in der arbeitsteiligen Wirt- Zweckmäßigkeit und Effektivität beherrscht. schaft vorzubereiten. Bildung und Erziehung Der einzelne muß sich den großen Strömungen mögen durchaus vorrangig auf die Entfaltung anpassen, wenn er beruflichen Erfolg haben der im jungen Menschen liegenden Kräfte und will. Anlagen gerichtet sein. Am Ende muß dieser Prozeß - schon um der schieren Existenzsiche- Gymnasiale Bildung hingegen als Teil des Bil- rung willen - in einer gesellschaftlich akzep- dungssystems orientiert sich zuvörderst an der tierten Funktion münden. Auch Künstler, Philo- Persönlichkeit des einzelnen. Sie zielt auf die sophen und Schriftsteller bedürfen des Broter- zweckfreie, allgemeine Vervollkommnung des werbs. Unzählige Schülergenerationen haben heranwachsenden Menschen ab, will die in ihm sich deshalb den Satz vorhalten lassen müssen, liegenden Eigenschaften und Fähigkeiten - un- daß sie nicht für die Schule, sondern für das abhängig von seiner funktionalen Einbindung in Leben zu lernen hätten. Dabei wird diese Sen- die Arbeitswelt - um seiner selbst willen zur tenz, von Seneca im übrigen in ironischer Um- Entfaltung bringen. kehrung auf den Schulbetrieb seiner Zeit ge- Mit anderen Worten: Das Thema spricht zwei münzt, eher als Motivierungsinstrument gegen- völlig heterogene Lebensbereiche an. Die im über lernunwilligen Schülern eingesetzt, als daß Thema verborgene Aussage stellt aber zugleich man daraus substantielle Vorgaben für Gang auch schon eine Beziehung zwischen diesen und Inhalt des Bildungsgeschäftes abgeleitet beiden Welten her. In der Tat: Bei genauerem hätte. Hinsehen ergeben sich zahlreiche Querverbin-

60 Eine der wichtigsten Verklammerungen zwi- dem einige Postulate, Erwartungen und Anre- schen Beschäftigungssystem und Bildungssy- gungen an die gymnasiale Bildung herausdestil- stem besteht in der Beruflichkeit, der Professio- lieren möchte. nalität der Menschen. Innerhalb des Beschäfti- gungssystems wird sie repräsentiert durch den I. Strukturveränderungen in der modernen Beruf, also die Klassifizierung der Tätigkeit des Wirtschaft einzelnen in der arbeitsteiligen Wirtschaft. Sein Gegenstück in der Bildungswelt ist die berufli- Wirtschaftliches Geschehen in modernen Ge- che Bildung als die Vorbereitung auf die nach- sellschaften ist von jeher durch eine besondere folgende Berufstätigkeit. Damit bin ich auf die Dynamik gekennzeichnet. Der wissenschaftlich- klassische Binnendifferenzierung innerhalb des technische Fortschritt, der allgemeine Wettbe- Bildungssystems gestoßen, nämlich auf die Un- werb und das konjunkturelle Auf und Ab erzeu- terscheidung von beruflicher und allgemeiner gen einen ständigen Wandel. In den letzten Jah- Bildung, wie sie sich in besonders ausgeprägter ren sind jedoch einige besonders bedeutsame und ausgezeichneter Form im Gymnasium ab- Entwicklungslinien hinzugetreten, die diese spielt. Mag es immerhin noch gute Gründe für allgemeinen Veränderungsprozesse forcieren die Frage geben, welche Ziele, Inhalte und Pro- und prägen. zeduren die berufliche Bildung im Hinblick auf Da ist zunächst das Phänomen der Globalisie- den späteren beruflichen Einsatz zu erfüllen hat, rung der Wirtschaft: der Wandel nämlich von so erscheint es höchst problematisch, wenn der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft. Offene nicht gar völlig unzulässig, diese Frage auch auf Grenzen weltweit, Wegfall des Eisernen Vor- die zweckfreie und funktionsunabhängige all- hangs, Liberalisierung des Handels, rund um gemeine Bildung auszudehnen. Wenn ich die den Globus laufende Kapitalströme und ein Bildungsgeschichte der letzten 100 Jahre über- durch moderne Kommunikationstechniken er- blicke, dann dürfte es nicht ganz falsch sein möglichter weltweiter Informationsaustausch anzunehmen, daß ein Thema wie das unsrige um haben dazu geführt, daß die Produktion von 1900 oder auch noch in den 20er Jahren auf Gütern und die Erbringung von Dienstleistun- Unverständnis, wenn nicht gar auf Ablehnung gen heute fast beliebig an jedem Ort der Welt gestoßen wäre. stattfinden können, also auch ohne weiteres von Trotz der Sperre, die möglicherweise auch Sie hier nach dort verschoben werden können. Die der Funktionalisierung der gymnasialen Bildung früher geschlossene deutsche Volkswirtschaft, entgegensetzen werden, möchte ich den Versuch die nur über Export und Import mit der Wirt- unternehmen, Ihnen bestimmte Anforderungen schaft draußen verbunden war, ist heute ein und Erwartungen der Arbeitswelt an die gymna- Haus mit offenen Türen, durch die Menschen, siale Bildung zu vermitteln. Ich möchte dies um Waren, Kapital und Informationen frei aus- und so nachdrücklicher deswegen tun, weil meiner eingehen können. Wir sind auf dem Weg weg Meinung nach gerade das Gymnasium ganz von geschlossenen National-Ökonomien hin zu bestimmte Züge aufweist, die es als Propaideu- einer großen Geo-Ökonomie schon weit fortge- tikum für die moderne Berufswelt besonders schritten. geeignet erscheinen lassen. Großunternehmen wie z. B. Siemens, Bayer Ich werde den Gang meiner Überlegungen so oder Daimler Benz als deutsche Unternehmen organisieren, daß ich in einem ersten Kapitel zu bezeichnen, ist heute nur noch bedingt und über die Umwälzungen in der modernen Wirt- allenfalls im Hinblick darauf berechtigt, daß die schaft spreche, zweitens die daraus sich erge- Firmenzentralen noch in Deutschland ihren Sitz benden Änderungen in der Arbeitswelt be- haben. Die Wertschöpfung, also das, was ein schreibe, hieraus drittens die Qualifikationsan- Unternehmen eigentlich ausmacht, geschieht forderungen an den modernen Arbeitnehmer- Typus ableite und schließlich viertens aus all

61 immer mehr außerhalb der deutschen Grenzen. eines speziellen Vertriebsunternehmens bedient. Produkte „Made in Germany“ gibt es kaum Ein Beispiel: Ein computer-chip einer kleineren noch. Sie werden verdrängt durch Produkte US-amerikanischen Computer-Firma wird in „Made for Siemens usw.“. Die hohe deutsche Texas entwickelt, in London wird die Finanzie- Exportquote von 12 % des Welthandels täuscht rung geplant und abgesichert, auf den Philippi- also ein hohes nationales Fertigungsvolumen nen wird der chip produziert und in Japan in weitgehend nur noch vor. einen lap-top eingebaut. Fluide Unternehmen Diese globale Ausrichtung der modernen Groß- dieses Typs sind lockere, projektbezogene Zu- unternehmen verläuft einerseits so, daß in den sammenschlüsse von weltweit verteilten Einzel- ausländischen Zukunftsmärkten Töchter neu firmen oder Einzelkämpfern. Die einzelnen gegründet werden (globale Lokalisierung nannte Akteure stehen in einem schnell ablaufenden, der Sony-Chef Movita die Strategie) oder daß interaktiven und informellen Lernprozeß. Die dort bestehende Unternehmen gleichsam an individuellen Lernfähigkeiten werden kombi- Kindesstatt angenommen werden. Eine andere niert, so daß das Innovationsvermögen der Entwicklung führt zu einem wechselnden Be- Gruppe größer ist als die Summe der Einzelpo- ziehungsgeflecht von joint-ventures, Allianzen tenzen. Nach Abwicklung eines Projektes oder und Netzwerken größerer Unternehmen. Diese auch schon nebenher tun sich die Akteure mit Entwicklung hat folgenden Hintergrund. Die anderen Kooperationspartnern zusammen. Produktzyklen, also die Zeitspanne zwischen Diese Entwicklung geht einher mit dem, was die erster Produktidee, Entwicklung zur Serienreife Fachleute Tertiarisierung der Wirtschaft nennen. und Präsentation am Markt, werden immer kür- Nach klassischem Verständnis verteilen sich die zer. Schnelligkeit ist ein immer wichtiger wer- wirtschaftlichen Aktivitäten in einer Volkswirt- dendes operatives Ziel. Der Schweizer Manager schaft auf drei große Sektoren: Maucher: „In Zukunft fressen nicht mehr die · zunächst auf die sog. Urproduktion, wie Großen die Kleinen, sondern die Schnellen die Bergbau und Landwirtschaft, den sog. Pri- Langsamen.“ Gleichzeitig steigen die Entwick- märsektor, lungskosten wegen der Komplexität neuer Pro- · zweitens auf den Industrie- oder Produkti- dukte immer mehr an. Infolgedessen sind auch onsbereich, den man als sekundären Sektor Großunternehmen nicht mehr in der Lage, die bezeichnet, riesigen Kapitalinvestitionen und Forschungs- entwicklungen allein zu erbringen. Der Begriff · und schließlich auf den Dienstleistungssek- „strategische Allianz“ ist zur Zeit in allen Füh- tor, also den tertiären Bereich, der wiederum rungsetagen Tagesthema. mehrere unterschiedliche Teilregionen um- faßt. Neben den sog. Weltunternehmen, den Global Players, bringt diese Entwicklung noch einen Die Entwicklungsgeschichte der deutschen wie anderen neuen Typ von Unternehmen hervor: auch anderer moderner Volkswirtschaften zeigt das sog. virtuelle Unternehmen. Das klassische in der Regel folgenden Ablauf: Der früher do- Unternehmen, das an einem Ort lokalisiert mit minante primäre Sektor (1850 machte er in einer bestimmten Belegschaft ausgestattet, be- Deutschland noch 50 % der gesamten wirt- stimmte Produkte oder Dienstleistungen schafft, schaftlichen Aktivitäten aus) ist in seinen An- wird immer mehr durch Unternehmen ersetzt, teilen immer weiter zurückgegangen und heute die nur aus einer agenturähnlichen Zentrale be- zur Bedeutungslosigkeit geschrumpft. Der indu- stehen, die ihrerseits weltweit einzelne Elemente strielle Sektor, der mit seiner noch prägenden ihrer Produkte oder Dienstleistungen in Auftrag Bedeutung unserer Gesellschaft sogar den Na- gibt, einkauft, irgendwo die Synthese der Ein- men Industriegesellschaft verschafft hat, liegt zelelemente herbeiführt und dann ein bunt zu- heute, gemessen an der gesamten Beschäftigung sammengewürfeltes Ergebnis auf dem Welt- markt anbietet, sich vielleicht sogar noch dafür

62 und Wertschöpfung, bei etwa 38 %. Er wird in rer Gesellschaft. Wir Deutschen sind ein ster- den nächsten Jahren auf etwa ein Viertel zurück- bendes Volk. Seit 1970 sind jährlich mehr Ster- fallen. Infolgedessen und dementsprechend wird befälle als Geburten zu verzeichnen. Seit 1975 der Dienstleistungssektor immer mehr an Be- erreichen wir gerade etwa 70 % der nationalen deutung gewinnen. Die Mutation des Ruhrge- Reproduktionsrate. Die Folgen sind einschnei- bietes von einem durch Kohle und Stahl ge- dend, sie werden durch den millionenfachen prägten industriellen Schwerpunktgebiet zu Personenzuwachs im Westen nur verwischt. Ab einer modernen Büro- und Dienstleistungsland- dem Jahre 2000 ist von einem jährlichen Minus schaft ist hierfür ein sinnfälliges Beispiel. von 350.000 Erwerbs-Personen auszugehen, Ein dritter wichtiger Vorgang ist die zunehmen- wenn man die Zuwanderungen außer acht läßt. de Diffusion der modernen Informations- und Mit dieser demographischen Entwicklung einher Kommunikationstechniken. Sie ist nicht nur geht eine grundlegende Verschiebung der Alter- selbst ein wichtiger Produktions- und Dienstlei- spyramide. Noch 1955 war die Zahl der stungsbereich an sich, in dem die mediale Infra- 20jährigen doppelt so hoch wie die Zahl der struktur geschaffen, Produkte erstellt und zahl- über 60jährigen. Heute sind beide Gruppen un- reiche Dienstleistungen z. B. im Software- gefähr gleich stark. Der Anteil der aktiven bzw. Bereich erbracht werden. Vielmehr wird die im Erwerbsleben stehenden Personen gegenüber moderne Informations- und Kommunikations- den Rentnern verschiebt sich eindeutig zu Un- technologie mehr und mehr zu Basis, zum zen- gunsten der Aktiven. Standen 1960 einem Rent- tralen Nervensystem und Lebensprinzip moder- ner noch drei Aktive gegenüber, so waren es ner Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme 1994 nur noch zwei. Im Jahre 2025 wird das überhaupt. Verhältnis 1 : 1 betragen. Ohne funktionstüchtige, weltweit aktive Netz- werke zwischen Unternehmen, wissenschaftli- II. Auswirkungen auf die Arbeitswelt chen Einrichtungen, staatlichen Stellen und pro- Ich möchte nun versuchen, die Auswirkungen fessionellen Informationsanbietern wäre ein dieser allgemeinen Entwicklungen auf die Ar- reibungsloser Ablauf der wirtschaftlichen Akti- beitswelt darzustellen. vitäten nicht mehr denkbar. Ohne sog. inhouse- Netzwerke wären auch die Unternehmen selbst Das hervorstechendste Merkmal unserer gegen- nicht mehr in Betrieb zu halten. Die Erfindung, wärtigen Arbeitsmarktsituation ist das eklatante Entwicklung und Verbreitung dieser neuen Ungleichgewicht zwischen der Zahl der verfüg- Technologie ist deshalb nach Dampfmaschine baren Arbeitsplätze und der Nachfrage danach. und Elektrizität zu Recht als dritte industrielle Die hohe Arbeitslosigkeit, das Kardinalübel Revolution bezeichnet worden. Die Nutznießer unserer Gesellschaft, ist sicher auf vielerlei dieser digitalen Revolution versorgen sich aus tiefwurzelnde Ursachen zurückzuführen. Der unzähligen Datenbanken mit dem Rohstoff Wis- entscheidende Faktor ist jedoch, daß die Öff- sen oder betätigen sich am globalen geschäftli- nung unserer Volkswirtschaft die deutschen chen Geschehen. Bill Gates hat in seinem Buch Unternehmer dem scharfen internationalen „Der Weg nach vorn“ über viele Hunderte von Wettbewerb und die deutschen Arbeitnehmer Seiten beschrieben, welche phantastischen unmittelbar oder mittelbar der millionenfachen Möglichkeiten die künftige Multimediawelt für Konkurrenz billiger, gutqualifizierter und Unternehmen und Individuen bereithält. hochmotivierter Arbeitskräfte in aller Welt aus- gesetzt hat. Und dies auf einem international Schließlich muß ein Faktor erwähnt werden, der einmalig hohen Lohnkostenniveau bei gleich- unsere Gesellschaft und damit auch unserer zeitig spartanisch knapp bemessener Arbeitszeit. Wirtschaft in den nächsten Jahren und Jahr- Der deutsche Facharbeiter bei Grundig z. B. zehnten entscheidend prägen wird: nämlich die demographische Verschiebung innerhalb unse-

63 steht über die in den deutschen Markt drängen- Prozesse, die in den letzten Jahren nahezu alle den Hifi-Produkte aus Fernost mittelbar im Unternehmen erfaßt haben, Klein- und Mitte- Wettbewerb mit seinen koreanischen oder japa- lunternehmen ebenso wie große Unternehmen, nischen Kollegen. In jedem deutschen Produkt lauten: lean management, total quality mana- sind die hohen deutschen Gestehungskosten gement, kontinuierliche Verbesserungspro- repräsentiert, in jedem koreanischen Modell die gramme, reingeneering usw. All diesen Prozes- entsprechend niedrigeren fernöstlichen Werte. sen ist gemeinsam, daß sie die unternehmeri- Beide Arbeitnehmergruppen konkurrieren ferner schen Ziele, Abläufe und Ergebnisse einer uner- über den Produktwettbewerb auf dem Welt- bittlichen Effizienz- und Kostenkontrolle unter- markt überall dort, wo neben den teuren deut- ziehen, daß sie ferner eine Neuformulierung der schen Produkten die billigeren ausländischen unternehmerischen Ziele, insbesondere eine Produkte im Regal stehen. Der deutsche EDV- totale Orientierung am Kundeninteresse, bein- Spezialist steht in unmittelbarer Konkurrenz mit halten. Auf dieser Basis gelangen sie zu ganz dem über Online zeitnah zugänglichen Informa- neuen - eben schlanken - organisatorischen tiker in Indien oder Kiew. Der deutsche Bauar- Strukturen und Arbeitsformen. Die massiven beitnehmer befindet sich auf der deutschen Bau- Personalfreisetzungen der letzten vier Jahre, die stelle in direkter Konfrontation mit den weit zum Verlust von über einer Million vor allem billigeren Arbeitskräften aus Portugal, von der industrieller Arbeitsplätze geführt haben, haben illegalen Konkurrenz aus den Billiglohnländern dabei zum ersten Mal in größerem Umfange ganz abgesehen. Und immer mehr wird der auch von Akademikern besetzte Positionen er- deutsche Akademiker-Arbeitsmarkt von exzel- faßt. lenten Bewerbern aus den EG-Staaten oder aus Die neuen organisatorischen Strukturen äußern den USA bevölkert, sehr zum Nachteil der deut- sich z. B. in einer stark abgeflachten Hierarchie- schen Jungakademiker, die wegen struktureller Architektur. An die Stelle der klassischen Py- Nachteile schwer zu kämpfen haben. ramide im Unternehmensaufbau mit vielen Füh- Dieser gleichsam globale Druck auf den deut- rungsebenen ist das Bild eines Satellitenkranzes schen Arbeitsmarkt ist nicht zeitlich begrenzt. getreten, der sich um ein kleines Zentrum grup- Er wird eher noch zunehmen. Der Vorstands- piert. Dezentralisierung heißt das Zauberwort. vorsitzende der Siemens AG, von Pierer, sagt: Selbständige Einheiten mit klarer Sach- und „Der Wind von gestern ist heute zum Sturm Finanzverantwortung, sog. profit-centers und geworden. Morgen wird daraus ein Orkan wer- centers of excellence, haben die tycoonartigen den.“ Gebilde abgelöst. Die entscheidende Aufgabe für Wirtschaft, Po- Auf der unteren operativen Ebene breitet sich litik und Gesellschaft wird darin bestehen, die- mehr und mehr Gruppenarbeit aus. Es werden ses Zentralproblem unseres Zeitalters angemes- Teams von unterschiedlich qualifizierten Mitar- sen zu lösen. Hierzu sind viele Einzelschritte beitern gebildet, die autonom oder teilautonom erforderlich, die hier und jetzt zu behandeln zu auf relativ breiten Feldern der Produktion oder weit führen würde. Entscheidend ist aber festzu- Dienstleistung selbständig agieren. Der nach halten, daß auch im Zusammenhang mit dieser dem taylorschen Prinzip der Arbeitsteilung zum hier nur angedeuteten Beschäftigungs- und Ar- Einzelkämpfer degenerierte klassische Arbeit- beitsmarktpolitik die Entwicklung der nächsten nehmer wird zum Teamkollegen, der umfassen- Jahre zu gravierenden Veränderungen in der de, vielfältige Aufgaben zu erledigen hat, aber Arbeitslandschaft führen wird. auch völlig andere Kompetenzen aufweisen muß Eine unmittelbare Folge des immensen welt- als der traditionelle Industriearbeiter. Die Ar- weiten Konkurrenzdrucks ist eine ganze Welle beitsergebnisse dieser Gruppen liegen um 30 v. von tiefgreifenden Umstrukturierungen in den H. höher, die Arbeitskosten um 50 v. H. niedri- deutschen Unternehmen. Die Chiffren dieser ger als in traditionell operierenden Konkurren- zunternehmen.

64 Am Ende dieser Entwicklung steht der unter- Befristete abhängige Beschäftigungen werden nehmerisch denkende Mitarbeiter, gleichsam der sich abwechseln mit Phasen einer selbständigen Unternehmer im Unternehmen, der das ganze Betätigung, ABM-Beschäftigungen, mit be- Spektrum der Wertschöpfung oder Dienstlei- schäftigungsfreien Zeiten und Wiederauffri- stung überschaut und sich zumindest für die schungs- und Weiterbildungsphasen. Fragmen- partiellen Erfolge seines Arbeitsausschnitts ver- tarische Berufsverläufe werden sich mehr und antwortlich fühlt. mehr ausbreiten. Die Berufsanfänge vieler Jung- Eine weitere Folge des hohen Konkurrenz- und akademiker weisen heute schon derartige patch- Kostendrucks ist das Ausgliedern von unter- work-Beschäftigungsmuster auf. nehmerischen Teilfunktionen in abgespaltene Eine weitere fundamentale Änderung erfaßt die Jungunternehmen, das sog. out scourcing. Gan- Faktoren: Arbeitszeit und Arbeitsplatz. Die tra- ze Funktionsbereiche und Abteilungen, die als ditionelle Berufsarbeit kennt - ebenso wie das integrierte Unternehmenseinheiten dem externen klassische deutsche Drama - die Einheit von Ort Kostendruck nicht gewachsen sind, werden in und Zeit. Die feste regelmäßige Arbeitszeit von die Selbständigkeit entlassen, und zwar mit al- knapp 40 Stunden an 5 Werktagen außer Sams- len Risiken und Chancen. Wer gestern noch tag ist heute wohl noch vorherrschend, wird abhängig Beschäftigter mit den Annehmlich- aber mit Sicherheit künftig immer seltener das keiten und Sicherheiten eines mittleren oder Grundmuster des normalen Arbeitslebens dar- großen Unternehmens war, steht plötzlich auf stellen. Die vielfältigsten Formen der Arbeits- eigenen Füßen und muß neben der fachlichen zeitflexibilisierung: wie Teilzeit, Mobilzeit, Denk- und Arbeitsebene jetzt eine zusätzliche Gleitzeit, Wahlzeit, Blockzeiten, Schichtarbeit, mentale Kategorie aktivieren, nämlich unter- Freischichten, Arbeitszeitschwankungen haben nehmerisches Denken. die Arbeitszeit zu einem fluiden, modellierbaren Die betriebliche Personalpolitik wird unter dem Etwas werden lassen, das sich dem unterschied- Druck des Wettbewerbs zu einer am untersten lichen Auftrags- und Arbeitsanfall ebenso ge- Bedarf orientierten Rekrutierungslinie gezwun- schmeidig anpaßt, wie es den autonomen Zeit- gen. D. h.: eigenes Personal wird nur für das vorstellungen der Arbeitnehmer Raum läßt. Arbeitsvolumen eingestellt, das auf jeden Fall Die Nachrichten der letzten Wochen machen und sicher abgewickelt werden muß. Von der sichtbar, daß sich im Zuschnitt und in der Ver- Problematik der Überstunden einmal abgesehen, teilung der Arbeitszeit derzeit in den Unterneh- wird für Arbeitsüberlasten und Arbeitsspeziali- men eine kleine Revolution abspielt. täten man-power von außen eingekauft. Der Ähnliches erleben wir zunehmend in der Frage Einzelbetrieb lebt deshalb immer mehr davon, des Arbeitsplatzes. Die rasante Zunahme der daß zeitweise betriebsfremde Akteure im Unter- Arbeitsplätze, die überwiegend auf der moder- nehmen tätig werden, die Teilfunktionen oder nen Informations- und Kommunikationstech- Arbeitsspitzen übernehmen: z. B. Leiharbeit- nologie basieren, führen zur Auflösung des klas- nehmer, selbständige Dienstleistungsanbieter, sischen Arbeitsfeldes. Unabhängig vom allmor- Handwerker und Unternehmensberater, evtl. gendlichen Stau im Berufsverkehr findet künftig auch Kollegen im Austausch mit anderen Fir- Arbeit dann statt, wenn es dem einzelnen am men. Osmotische Personalpolitik könnte man so besten paßt. Zu Hause, unterwegs im Auto, im etwas nennen. Urlaub oder vielleicht doch gelegentlich auch Auf die Berufsverläufe der einzelnen Beschäf- im Büro. So gelten rd. 10 Millionen Amerikaner tigten wirkt sich diese Entwicklung in der Weise schon heute als Telearbeiter. Das Potential wird aus, daß anstelle geradliniger Karriereverläufe auf 20 bis 40 v. H. aller amerikanischen Ange- auf der Basis fester Anstellungsverhältnisse eine stellten geschätzt. Im alten Europa sind es weni- immer größere Buntheit, Lockerheit und For- ger als 2 Millionen Menschen, die zu Hause vor menvielfalt von Beschäftigungsmustern tritt.

65 dem Bildschirm oder unterwegs am Laptop ar- und in der Haushaltswirtschaft. Grundsätzlich beiten. Ihre Zahl wächst ständig. sind dieser Gruppe positive Beschäftigungspro- Die Folge dieser Entwicklung ist, daß der klas- gnosen zu stellen. Ihr Problem wird darin beste- sische Büroarbeitsplatz verschwindet. Das Ver- hen, daß sie sich wegen des naturgemäß be- triebsbüro von IBM in Cranford hat zwar 600 schränkten Umfangs der ersten Gruppe und der Mitarbeiter, aber nur 50 Arbeitsplätze. Dort zahlenmäßigen Schrumpfung der zweiten Grup- tauchen die Mitarbeiter gelegentlich auf, um die pe auf eine riesige Nachfrage nach Arbeit auf Post zu sichten, Kollegen zu treffen oder mit ihrem Tätigkeitsfeld wird einstellen müssen. Die Vorgesetzten und Kunden zu konferieren. Per Lohnmargen werden entsprechend niedrig sein. Computer wird ihnen für diese Zeit ein standar- Die Prognosen für die Bundesrepublik sehen disierter Arbeitsplatz zugewiesen, der nicht einen noch steigenden Bedarf an Spitzenkräften mehr bietet als Tisch, Stuhl, Telefon, Fax und vor allem akademischer Provenienz vor. Ange- einen Laptop-Anschluß. sichts des rapiden Verfalls der öffentlichen Be- Was schließlich die Inhalte der Arbeit angeht, so schäftigungsmöglichkeiten ist dies in meinen wird die eingangs beschriebene Tertiärisierung Augen eine höchst zweifelhafte Prognose. Fer- zu einer grundlegenden Umgestaltung der Er- ner läßt sich eine zumindest gleichbleibende werbstätigen-Struktur führen. In einem lesens- Nachfrage nach Fachkräften, also nach Absol- werten Buch mit dem Titel „Die neue Weltwirt- venten aus dem dualen System, voraussagen, schaft“ beschreibt der amerikanische Arbeitsmi- und schließlich ein dramatischer Schwund an nister Norbert Reich die sich abzeichnende Arbeitsplätzen für nicht formal Qualifizierte. Ab Strukturierung der US-amerikanischen Arbeits- dem Jahre 2008 etwa wird sich im übrigen die gesellschaft. Nach Norbert Reich wird es in demographisch bedingte Reduktion der aktiven Zukunft nur noch drei Großgruppen von Er- Erwerbsbevölkerung immer stärker bemerkbar werbstätigen geben. machen. Die erste Gruppe, von Reich als Systemanaly- tiker bezeichnet, umfaßt die vorwiegend aka- demischen Berufe der Informatiker, Finanz- III. Der Typ des modernen Erwerbstätigen und Unternehmensberater, Juristen, Konstruk- Wie sieht nun die Figur des modernen Arbeit- teure, Designer, Manager, Regisseure usw., die nehmers aus? Welche Eigenschaften, Einstel- weltweit ihre Dienste anbieten. Diese hochge- lungen und Qualifikationen muß er aufweisen, züchteten Professionals werden sich als stark um sich in der Arbeitswelt von morgen zurecht- und attraktiv genug erweisen, auch gegen die zufinden und zu bewähren? weltweite z. T. viel billigere Konkurrenz zu bestehen. Entsprechend interessant wird sich Zunächst: Den homogenen Einheitstyp wird es das Einkommen dieser Gruppe entwickeln. auch in Zukunft nicht geben. Viele Verrichtun- gen und Funktionen werden sich auch morgen Die zweite Gruppe, der klassische Industriear- in den traditionellen Formen wiederfinden. Für beiter, wird an Bedeutung immer mehr verlie- die entsprechenden Arbeitnehmer ergeben sich ren. Das im Weltmaßstab hohe amerikanische also keine veränderten Anforderungen. Dies gilt Lohnkostenniveau, das im übrigen um etwa 30 vor allem für die einfachen Dienstleistungen in v. H. unter dem deutschen liegt, wird dem Handel, Transport, Handwerk und für die Dien- weltweiten Konkurrenzdruck nicht standhalten ste am Menschen, also für die dritte Erwerbstä- können. Die Zahl entsprechender Arbeitsplätze tigengruppe im Strukturbild von Norbert Reich. wird ebenso abnehmen wie das Einkommen der Ebenso werden einige klassische Berufe im verbliebenen Industriearbeiter. oberen Drittel dieses Strukturbildes mehr oder Die letzte Gruppe bilden nach Norbert Reich die weniger ohne zusätzliche oder veränderte Quali- bodenständigen kleinen Dienstleistungen, z. B. im Handwerk, in den Pflegeberufen, im Handel

66 fikationsanforderungen auskommen, wie z. B. hohen Potentials, das in den Mitarbeitern steckt, Richter und Verwaltungsbeamte. und damit geradezu zu einer Renaissance der Was ich an zusätzlichen oder neuen Qualifikati- den ganzen Menschen mit all seinen Fähigkeiten onsanforderungen beschreiben werde, gilt also erfassenden Bildungsphilosophie geführt. vornehmlich für die Angehörigen der beiden Unter Fachleuten ist heute unstreitig, daß in der oberen Drittel der Erwerbstätigenstruktur, die Konzentration auf das humane Kapital die sich am privatwirtschaftlich organisierten Wett- größten Chancen liegen, nachdem das in Daten bewerb beteiligen. erfaßbare Wissenskapital überall verfügbar und Es dürfte inzwischen unstreitig geworden sein, das Finanzkapital weitgehend ausgereizt ist. daß der moderne Typus des Facharbeiters, Ma- Robert Watermann, einer der großen Manage- nagers und Unternehmensberaters usw. einige ment-Lehrer der Welt, sagt: „Wenn wir in Men- Qualifikationsmerkmale aufweisen muß, die in schen investieren, schaffen wir letztlich Reich- der Vergangenheit so klar nicht identifiziert und tum - das ist die neue Definition der Produkti- deswegen nur unscharf als essentielle Bestand- vität.“ teile einer modernen professionellen Ausstat- Unstreitig ist ferner, daß eine einseitige intel- tung gesehen worden sind. In der privatwirt- lektuelle Ausrichtung nicht genügt und ins Lee- schaftlichen Personal- und Bildungsarbeit wer- re geht. Die emotionalen und sozialen Facetten den heute drei Klassen von Qualifikationen un- des Menschseins müssen ausdrücklich mit um- terschieden: faßt sein. Das seit kurzem in Deutsch vorliegen- · Die erste Klasse, Methoden-Kompetenz ge- de Buch über die emotionale Intelligenz des nannt, umfaßt Eigenschaften und Fähigkeiten amerikanischen Autors Daniel Goleman, das in wie z. B. die Fähigkeit, Fachwissen zu nut- den USA seit zwei Jahren an der Spitze der zen, zu kombinieren und zu ergänzen. Ab- Bestsellerlisten steht, gibt hierfür eine Fülle straktionsfähigkeit, Lernbereitschaft, Sy- anschaulicher Beispiele und Begründungen. Das stemdenken, Planungsfähigkeit, Problemlö- Bild des Arbeitnehmers als eines gut funktionie- sungsfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit. renden Rädchens mit engstem Wirkungskreis muß ersetzt werden durch die Vorstellung eines · Die zweite Gruppe bezeichnet die klassische breit angesetzten, in größeren Zusammenhängen Fachkompetenz, das bisher überall im Vor- denkenden und agierenden, qualitätsorientierten dergrund stehende Fachwissen, allerdings mit und verantwortungsvollen Mitarbeiters. einer weiteren Dimension als der herkömmli- chen, insofern als fachübergreifendes Wis- Damit aber nicht genug. Immer mehr wird man sen, z. B. über die Produktionszusammen- von Mitarbeitern neuen Typs etwas verlangen, hänge, hinzutreten muß. was kurz als unternehmerisches Denken be- zeichnet werden kann. Damit ist einerseits das · Die dritte Klasse, die sog. Sozialkompetenz, selbständige, innengeleitete Agieren innerhalb betrifft Eigenschaften wie Team- und Koope- eines weitgehend selbst auszufüllenden Hand- rationsfähigkeit, Artikulationsfähigkeit, Kom- lungsrahmens gemeint, andererseits die Über- munikationsfähigkeit, Toleranz, Verantwor- nahme von Verantwortung, Risiko und Innova- tungsbewußtsein, Solidarität. tionsbewußtsein. Diese Geisteshaltung ist in Alle diese drei Kompetenzen müssen überwölbt einer von Angestelltenmentalität und Sekuri- und geprägt werden durch die Fähigkeit, mit tätsdenken geprägten Gesellschaft in den letzten Informationen umgehen zu können. Jahren und Jahrzehnten eher verkümmert. An dieser Stelle wird schon deutlich, daß es - Am Ende müssen noch ein hohes Maß an zeitli- insbesondere im Hinblick auf die sog. Sozial- cher Flexibilität, die Bereitschaft zu regionaler Kompetenz - um einen ganzheitlichen Ansatz Mobilität, eine hohe Internationalität, die geht. Die neueren Entwicklungen in der Wirt- Fremdsprachenvermögen und Kulturfähigkeit schaft haben zu einer Wiederentdeckung des gleichermaßen umfaßt, sowie eine hohe Sensi-

67 bilität für die ökologischen und sozialethischen schaft, braucht auch die Arbeitswelt diesen Ty- Bezüge der modernen Wirtschaft hinzukommen, pus, wenn sie nicht in Routine, Leerlauf und um den Idealtyp des modernen Berufsmenschen Mechanik erstarren sollen. zu vervollständigen. Sie sehen, meine Damen Die andere Gefahr liegt dort, wo eine derart und Herren, ein höchst komplexes und ehrgeizi- funktionale Persönlichkeit getragen wird von ges Idealbild und - daraus abgeleitet - ein unge- einem rigorosen Individualismus. Wer sich auf heuer anspruchsvolles Bildungsprogramm. Es seinem Arbeitsplatz ausschließlich um seines läßt sich zwar weitgehend in die klassische hu- persönlichen Ehrgeizes und Fortkommens wil- manistische Bildungstradition einordnen, weist len bemüht, verhält sich zwar rein äußerlich aber durchaus auch neue Züge auf. nach den Spielregeln der Wettbewerbsgesell- Ich will Ihnen gleichsam als Kondensat des schaft, verläßt nicht die Bahn, die ihm von dort bisher Gesagten ein Zitat aus einem Buch von her vorgegeben ist. Er vernachlässigt damit aber Herbert Henzler, dem Deutschland-Chef des die gesamtgesellschaftliche Verantwortung sei- amerikanischen Beratungsunternehmens Mc nes Tuns, er vergißt die Auswirkungen seiner Kinsey, vorstellen: Entscheidungen als Manager auf die soziale „Im Mittelpunkt steht ein Mensch, der selbstän- Welt seiner Mitarbeiter sowie auf die Umwelt dig ist und stark. Er nimmt sein Schicksal in insgesamt. Damit verfehlt er eine wichtige, eigene Hände und deshalb will er, daß ihn der langfristig ganz entscheidende Dimension seines Staat weitgehend in Ruhe läßt. Er ist mobil, Agierens, deren Mißachtung am Ende auch ihn fleißig, wißbegierig. Er ist auch effizient, d. h. selbst trifft. seine Ziele versucht er mit minimalem Aufwand Der dritte Negativ-Aspekt einer zu stark beton- zu erreichen. So hat er ständig ein Augenmerk ten Funktionalität liegt in der Gefahr begründet, auf die Kosten. Er scheut nicht Risiken, und er daß der moderne Funktionsträger menschlich ist alle Zeit auf der Suche nach Innovationen. verarmt, wenn er sein Heil einseitig und aus- Wettbewerb, zumal weltweiter, ist für diesen schließlich im beruflichen Engagement sieht. Menschen eine Herausforderung, die ihn noch Das burn-out-Syndrom vieler Leistungsträger ist stärker macht.“ ein bedeutsames Alarmzeichen. Wer sich ein- An dieser Stelle werden neben den Dimensionen seitig verbrennt, also keine Kompensation in und Chancen eines neuen von der Arbeitswelt anderen Lebensfeldern als dem beruflichen hat, her entwickelten Menschenbildes aber auch kein Widerlager im emotionalen, künstlerischen, Grenzen und Gefahren sichtbar. familiären Umfeld besitzt, nicht die Kunst des Rückzugs aus dem beruflichen Gedränge in die Ich sehe mindestens drei Punkte, in denen eine Ruhe und Muße der Selbstbesinnung kennt, hat derart idealtypische Vorstellung des modernen am Ende trotz vielleicht spektakulärer berufli- Teilhabers an der Arbeitswelt die Gefahr einer cher Erfolge nur einen Bruchteil seiner humanen Fehlentwicklung oder gar Pervertierung herauf- Chancen und Potentiale realisiert. beschwört. Zunächst ist die starke Überbetonung der Funk- tionalität und Effizienz leicht als Aussperrung alles nicht Funktionalen, alles nicht Glatten zu verstehen. Wo bleiben in einem solchen Vor- IV. Erwartungen an die gymnasiale Bildung stellungsbild die Querköpfe, die Widerborsti- und an den Altsprachenunterricht gen, die Lebenskünstler, Langsamdenker und Wenn ich nach allem nun in meinem letzten Spaßvögel? Dieser Menschenschlag wird nicht Kapitel den Versuch unternehme, einige Anfor- nur in der Gesellschaft und im Kulturbetrieb derungen und Erwartungen an das Bildungssy- gebraucht; sie sind nicht nur als Gegenwelt zur stem und speziell an die gymnasiale Bildung zu Berufssphäre bedeutsam, insofern sie das Leben bunt machen. Vielmehr braucht auch die Wirt-

68 formulieren, so räume ich ein, daß ich mich Dabei ist dem Aspekt der internationalen Be- damit auf ungewohntes Gebiet begebe. rufsmobilität sowie der dafür erforderlichen Als der u. a. für Schul- und Hochschulfragen Voraussetzungen ein hoher Rang beizumessen. zuständige Sprecher der Wirtschaft müßte ich Die Berufs- und Arbeitswelt kann aber nicht nur Ihnen zunächst - gewissermaßen regierungs- theoretisch vermittelt, sie muß auch praktisch amtlich - die wichtigsten Vorstellungen der erfahrbar gemacht werden. Dies bedeutet, daß Wirtschaft zur Reform der gymnasialen Ober- die theoretische Bildung im Gymnasium durch stufe und des Abiturs vortragen, die in einer praxisbezogenes Lernen zu ergänzen ist. Dieser gemeinsamen Stellungsnahme der großen Wirt- Praxisbezug vermittelt Anschaulichkeit und schaftsverbände kürzlich veröffentlicht worden Sinndeutung. Er bedeutet zugleich Anwendung sind. und Überprüfung des theoretisch Gelernten. Da diese Stellungnahme gedruckt vorliegt, möchte ich darauf verzichten, Ihnen den Inhalt en détail vorzutragen. Ich will nur darauf hin- These 2 weisen, daß in dieser Stellungnahme als Ziel gymnasialer Bildung ein Bildungsniveau postu- In unserer modernen, von Wirtschaft und Tech- liert wird, welches „sowohl eine tatsächliche nik geprägten Welt, braucht das Gymnasium ein Studierfähigkeit gewährleistet als auch die Vor- neues humanistisches Bildungsverständnis. aussetzungen für eine berufliche Ausbildung Die Widersprüche von Humanität und Technik, erfüllt“. von höherer humanistischer Bildung und pra- Über diese offizielle Stellungnahme hinaus er- xisbezogenem Lernen sind überholt. Wir brau- laube ich mir, gewissermaßen auf eigenes Risi- chen einen Breitband-Humanismus, eine huma- ko, noch folgende Anmerkungen, die ich the- nistische Bewegung auf der Grundlage eines senartig vortragen möchte. Gesellschaftsverständnisses, in dem Wirtschaft, Technik, Kultur und Bildung als ein einheitli- ches Ganzes, als ein zusammenwirkendes Be- ziehungsgefüge verstanden werden. Jedes ein- These 1 zelne Element ist unverzichtbar: ökonomisches Die moderne Wirtschafts- und Arbeitswelt muß Denken und Technikaufgeschlossenheit ebenso stärker als bisher in die Inhalte und Abläufe wie Teilhabe am kulturellen und geistigen Le- gymnasialer Bildung aufgenommen werden. ben. Die Bewältigung der wirtschaftlichen, techni- Wirtschaft, Technik, Kultur und Bildung sind schen und sozialen Probleme verlangt ein um- als Grundvoraussetzung für unser persönliches fassendes Wissen in den Bereichen Technik, und gesellschaftliches Leben zu begreifen. Zum Arbeit, Wirtschaft und Sozialpolitik. Ökonomi- neuen humanistischen Bildungsverständnis ge- sche und technische Bildungselemente gehören hört auch, den Dualismus von Natur- und Gei- deshalb in einer modernen Industrie- und steswissenschaften, d. h. die innere Spannung Dienstleistungsgesellschaft in gleicher Weise zwischen beiden Kulturbereichen, zu überwin- zum Bildungsauftrag des Gymnasiums wie die den. naturwissenschaftliche, sprachliche und poli- tisch-historische Bildung. Dies bedeutet, daß die ökonomische und technische Bildung einen These 3 angemessenen Platz in dem aus der Tradition erwachsenen Kanon der sprachlichen, mathe- Das Gymnasium muß seine Fähigkeit, histori- matischen, natur- und geisteswissenschaftlichen sche Prozesse und Wertbezüge zu erhellen, noch Bildung finden muß. Dazu gehört auch die Auf- stärker dazu nutzen, den jungen Menschen die gabe der Studien- und Berufswahlorientierung. zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben notwen-

69 dige ethische und traditionsorientierte Geistes- die originären Sprachen, also auch über die da- haltung zu vermitteln. maligen Weltsprachen Griechisch und Latein, Bei aller Notwendigkeit einer an den Anforde- besser verstehbar. Sprache ist nicht nur ein rungen der Arbeits- und Wirtschaftswelt orien- wichtiges Kommunikationsmittel, sondern sie tierten gymnasialen Bildung will ich nicht einen schafft auch Verständnis für historische Prozes- geschichtslosen und wertfreien Modernismus se und Epochen. „Zurück zu den Quellen!“ Dies einer ausschließlich für Beschäftigung instru- könnte in einer Zeit, die für historische Rückbe- mentalisierten Bildung propagieren. Eine rein sinnung und Rückbeziehung durchaus offen ist, traditionslose, mechanische Abrichtung junger ein geeignetes Motto sein, mit dessen Hilfe ein Menschen für spätere Funktionen, ein pures wirksames Marketing zugunsten der alten Spra- intellektuelles Konditionstraining ohne Wertbe- chen entwickelt wird. züge wäre geradezu ein Zerrbild richtig verstan- dener Bildung. Mir ist bei meinen Überlegungen sehr wohl These 4 bewußt, daß sich gesellschaftliche Wandlungs- Das Gymnasium muß seinen großen komparati- prozesse in gleicher Weise wie der Erziehungs- ven Vorteil, besser als alle anderen Bildungsein- und Bildungsprozeß zwischen Tradition und richtungen Sprachlichkeit vermitteln zu können, Fortschritt, also in permanenter Auseinanderset- noch stärker ins Spiel bringen und ausbauen. zung zwischen Altem und Neuem vollzieht. Sprache gehört zum Wesen des Menschen. Sie Zukunftsorientiertes Handeln in der Gegenwart, ist - wie gesagt - nicht nur Kommunikations- ob in Politik oder Wirtschaft, kann sich nur aus mittel und Schlüssel zum Verständnis histori- der historischen Erfahrung heraus vollziehen. scher Entwicklungslinien und Kulturtraditionen. Wirtschaftliches, soziales und politisches Han- Sprachvermögen ist mehr denn je unabdingbare deln vollziehen sich immer zwischen Vergan- Voraussetzung zur Bewältigung der vor uns genheit, Gegenwart und Zukunft. Wenn wir das liegenden Aufgaben. wirtschaftliche und soziale Wohlstandsniveau unserer Gesellschaft, aber auch unsere derzeiti- Dieser Satz muß in mehreren Dimensionen ent- gen Standortprobleme in Augenschein nehmen, faltet werden. lassen sich die Wurzeln falscher und richtiger Sprache ist zunächst Instrument der Weltdurch- Entscheidungen in der Vergangenheit ausma- dringung, der logischen Ordnung verwickelter chen. Unsere Wohlstandsgesellschaft ist wie Zusammenhänge. In einer technisierten, öko- unsere Kultur- und Wertegemeinschaft aus der nomisierten Welt, die durch eine ständig zu- Vergangenheit geprägt. Sich der Geschichte nehmende Komplexität gekennzeichnet ist, ist bewußt zu werden, aus der Geschichte zu lernen die Fähigkeit, diese Komplexität der Fakten und und mit der Geschichte zu leben, sich aus der Entwicklungen in nachvollziehbare Aussagen zu Geschichte im positiven Sinne zu befreien und übertragen, unverzichtbar. Ihr vorausgehen muß Systeme anspruchsgerecht weiterzuentwickeln, die Fähigkeit, die verwickelten Dinge logisch zu hierfür die geistigen Voraussetzungen zu schaf- ordnen. Der von mir stark betonte Trend zur fen, ist eine ebenso wichtige Aufgabe gymnasi- Gruppenarbeit hat zur zwingenden Vorausset- aler Bildung und Erziehung wie beispielsweise zung ein hohes Abstraktionsvermögen der Ak- die mathematisch-naturwissenschaftliche Bil- teure. Probleme identifizieren und fachsprachli- dung. che Barrieren überspringen zu können, grup- Die alten Sprachen eröffnen dabei einen wichti- pendynamische Prozesse zur Lösung von Pro- gen Zugang zum besseren Verständnis unserer blemen in Gang setzen zu können: dies alles ist abendländischen Kulturtradition. Revolutionäre nur möglich, wenn eine hohe Sprachsensibilität Veränderungen, politische und wirtschaftliche entwickelt worden ist. Strukturen in der Vergangenheit, werden über

70 Ebenso wichtig ist Sprache, dies ist mein zwei- ihr Niedergang in den absolutistischen Jahrhun- ter Punkt, im innerbetrieblichen Informations- derten sicher verständlich. Lediglich in der Pre- fluß. Mitarbeiterinformationen, Führungsge- digerschulung der beiden Kirchen hat sie eine spräche, Kundengespräche prägen zunehmend reduzierte, über diese Zeit hinweg verborgene den Alltag vor allem der Leistungsträger. Ein Existenz weiterführen können. führender Manager hat auf die Frage, worin sein Spätestens seit der Mitte dieses Jahrhunderts Alltag besteht, geäußert: „Sprechen, überzeu- hätte sie eine kraftvolle Wiederauferstehung gen, motivieren und zu einem geringen Teil verdient. Sie könnte nicht nur ein Humus für nachdenken, lesen, meditieren.“ demokratische Gesinnung und Praxis sein, nicht Ganz entscheidend wird schließlich bei der zu- nur geeignete Ausdrucksformen zur Artikulation nehmenden Internationalisierung der Wirtschaft eines sich immer mehr ausbreitenden Mitwir- die Fähigkeit sein, in mehreren Sprachen agie- kungswillens in Gesellschaft, Unternehmen und ren zu können. Für das Zusammenwachsen Eu- Schule zur Verfügung stellen, sondern könnte ropas und für die weltwirtschaftliche Wettbe- auch ein wirksames Heilmittel gegen die Ver- werbssicherung ist das Erlernen von zwei oder flachung des Sprechens und Denkens in der drei Fremdsprachen und die multikulturelle multimedialen Informationsflut bilden. Könnte Bildung der Schüler von immer größerer Be- es nicht eine große Herausforderung an die deutung. Internationale Kommunikation setzt Vertreter der klassischen Sprachen sein, diese Sprachkompetenz und Verständnis für andere untergegangene kulturelle Errungenschaft wie- Kulturen voraus. Sicher bedeutet dies zunächst, der zu beleben? Wo ist der Ordinarius der alten daß die modernen Sprachen ein immer größeres oder romanischen Sprachen, der Rhetorik nicht Gewicht bekommen. Dabei haben die alten nur als literatur-historische Gattung, sondern als Sprachen einen entscheidenden Beitrag zu lei- lebendige, praktische Disziplin anbietet? Bei- sten. Einmal als Basis für die modernen Spra- seite gesagt: Hier winken beträchtliche Dritt- chen. Ich brauche ein diesem Kreis kein Wort mittel. Dabei denke ich nicht an ein bloßes for- über die - im wahrsten Sinne des Wortes - fun- males Training, wie es heute in vielen Manage- damentale Bedeutung der lateinischen Sprache ment-Kursen angeboten wird, sondern an die für die modernen europäischen Sprachen zu klassische Rhetorik, die immer auch Allgemein- verlieren. bildung und Charakterschulung war. Die Defi- Darüber hinaus ist aber gerade das Erlernen der nition Quintilians vom Rhetor als einem „vir alten Sprachen das beste Grundlagentraining zur bonus dicendi peritus“ weist hierbei den richti- Erlernung von Fremdsprachen. Im allerletzten gen Weg. Notfall kann Latein auch heute noch unter Ab- solventen einer altsprachlichen Bildungsein- richtung - als lingua franca - fungieren. These 5 An dieser Stelle liegt mir sehr daran, auf einen Das Gymnasium muß - wie alle anderen Schu- besonderen Unglücksfall der europäischen Gei- len auch - akzeptieren, daß es den zunehmenden stesgeschichte hinzuweisen: Auf den Verlust der Ausfall der anderen Erziehungs- und Wertver- Rhetorik als Element des klassischen Bildungs- mittlungsinstitutionen kompensieren muß. kanons. Nicht nur als praktizierte Fertigkeit, sondern auch als theoretische Disziplin hat sie Die klassischen Institutionen, denen in unserer während vieler Jahrhunderte der griechisch- Gesellschaft die Vermittlung von Tradition, römischen klassischen Zeit hohe soziale und Wertvorstellungen, Kulturtechniken usw., kurz politische Anerkennung gefunden. die Enkulturation der nachwachsenden Genera- tionen, anvertraut war, verzeichnen einen immer Da die Rhetorik - als legitime Tochter demo- größeren Substanz- und Funktionsverlust. Dies kratischer Staatsverfassungen - auf ein entspre- gilt für die Familien ebenso wie für die Kirchen, chendes politisches Umfeld angewiesen ist, ist

71 Traditionsvereine, Gewerkschaften usw. Unsere zum pädagogisch-didaktischen Ziel der allge- Zeit bedarf angesichts der wachsenden Unüber- meinen Bildung, insbesondere der gymnasialen sichtlichkeit der Welt mehr als frühere Jahr- Bildung erklärt werden. zehnte der Zielorientierung, Sinnstiftung und Die Signale der Arbeitswelt an das Bildungssy- ethischen Richtungsangabe. Überall drängen stem, die mit dem Begriff Schlüsselqualifikatio- sich neue ethische Fragestellungen auf: In den nen umschrieben werden, sind dort bislang noch Medien, in der Forschung, in der Medizin, in zu wenig aufgenommen worden. Es geht bei der der Verteilung der Güter dieser Welt, im Um- dahinterstehenden Definition der Anforderun- gang mit den Ressourcen dieser Erde. In einer gen, die heute an den modernen idealtypischen Zeit der Werterelativierung steht den Schulen, Arbeitnehmer zu stellen sind, nicht um irgend- allen voran dem Gymnasium, immerhin der welche Beliebigkeiten oder harmlose Wunsch- ganze Schatz der humanistisch-christlichen Tra- vorstellungen, sondern um einen existentiellen dition zur Verfügung. Hier wächst den Gymna- Kampf, wie ich durch die wiederholten Hinwei- sien eine verstärkte Verantwortung zu. se auf die Dynamik des globalen Wettbewerbs Zum Kanon der vermittlungsbedürftigen ethi- glaube deutlich gemacht zu haben. schen Einstellungen gehört eine ganze Reihe Dies ist eine grundlegende Erkenntnis aller Geo- von modernen, der Zeit angemessenen und zu- Ökonomen: Am Ende werden nur diejenigen gewandten Tugenden, die aber bei genauerem aus dem Kreis der Schwellenländer oder klassi- Zusehen wiederum alte klassische Lebensein- schen Industrieländer mithalten können, die stellungen darstellen. ausreichende Investitionen in ihr Humankapital Ich meine z. B. tätigen, also alles daran setzen, die allgemeine · den verantwortlichen Umgang mit Risiken, und berufliche Qualifikation ihrer Staatsbürger zu steigern. Wir können an vielen Kennziffern · die Bereitschaft, Neues zu wagen, ablesen: Unser Qualifizierungsvorsprung von · die Einsicht, daß jeder Einzelne zunächst für Gestern schrumpft immer mehr. Dabei haben sich selbst verantwortlich ist und nicht nur wir Deutschen zusätzlich mit einem strukturel- Forderungen an die Gemeinschaft stellen len Defizit zu tun: Unsere gesellschaftliche darf, Trägheit im Vergleich zu den jungen aufbre- · die Fürsorge für die Dritte Welt und Umwelt, chenden Völkern rings um die Welt. Wenn man · die Bereitschaft zum Aufbau selbständiger etwa ökonomische Werte, wie Wochenarbeits- Existenzen, an denen es dieser Gesellschaft zeit, Lebensarbeitszeit, Produktivitätszuwachs so sehr gebricht. der miteinander konkurrierenden Länder ver- gleicht, dann stellt man fest: unser hohes Le- Ganz entscheidend ist dabei auch das Vorbild bens- und Wohlfahrtsniveau, das wir alle be- der Lehrer. Junge Menschen haben ein untrügli- wußt genießen und nicht preisgeben wollen, ches Gefühl für die Echtheit pädagogischer Si- belastet unsere Wettbewerbsfähigkeit auf Dauer gnale. sehr. Ein japanischer Ingenieur z. B. arbeitet bei Dieser Überlegung endet in der unausweichli- 2.000 Stunden Jahresarbeitszeit um etwa 400 chen, wenn auch nicht gerade neuen Anforde- Stunden länger als ein deutscher Ingenieur. Das rung, daß das Gymnasium neben dem Bildungs- sind bei einer 40 Stundenwoche 10 Arbeitswo- auftrag in beträchtlichem Umfang auch erziehe- chen. Einen indischen oder koreanischen Inge- rische Aufgaben zu tragen hat. nieur will ich erst gar nicht in diesen Vergleich einbeziehen. Ähnlich schlecht schneidet These 6 Deutschland ab, wenn man die finanziellen Aufwendungen für das gesamte Bildungssystem Die vielbeschworenen Schlüsselqualifikationen, - gemessen in Prozentanteilen am Bruttosozial- gemeint sind insbesondere die Methoden- und produkt - mit den entsprechenden Werten ande- die Sozialkompetenz, müssen stärker als bisher

72 rer Länder in Vergleich setzt. Deutschland ist der hier lebenden Menschen besteht. Noch ha- hier auf einen der unteren Plätze zurückgefallen. ben wir im Vergleich zu den überall aufbre- Hinzu kommt die deutliche Überlegenheit der chenden, aus ihren traditionellen Bindungen Konkurrenzländer in den schwer zu fassenden heraustretenden Völkern, die ihren Anteil an der Kategorien von Motivation, Leistungswillen, globalen Wertschöpfung und am Weltreichtum Zielorientierung, kurz: Vitalität und Dynamik. einfordern, einen gewissen Vorsprung. Diesen Vorsprung werden wir angesichts der Dynamik Also: Wir müssen alle Möglichkeiten nutzen, der Wettbewerber auf Dauer kaum halten kön- schon während der Schulzeit die später notwen- nen. Entscheidend ist, daß unser Wohlstandsni- digen Arbeitswelt-Kompetenzen zu trainieren. veau nicht radikal absinkt. Es gibt gute Chan- Mein Eindruck ist, daß zur Einlösung dieser cen, daß bei richtiger Vorgehensweise alle ihren Forderung noch viel getan werden muß. Es geht Vorteil aus dem globalen Wettbewerb ziehen darum, taugliche Formen der Kooperation und können, daß also die einen dazugewinnen, die Kreativität, geeignete Methoden des Argumen- anderen jedoch nicht verlieren. Ihnen ist die tierens und Kombinierens verschiedener fachli- schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe cher Ansätze zu erproben. Planspiele, selbstge- anvertraut, die nachwachsenden Jahrgänge, vor steuertes Lernen, Projektarbeit, Diskussionstrai- allem auch die Eliten unserer Gesellschaft, auf ning, fachübergreifendes Lernen, Rollenspiele, diesen schwierigen Weg vorzubereiten. Sie Exkursionen usw. könnten geeignete Stichworte verwalten das kulturelle Erbe unserer humani- sein. Warum sollte nicht auch am Gymnasium stisch-abendländischen Gesellschaft, Sie haben die klassische Rhetorik gelehrt und geübt wer- Zugang zu den Schatzkammern des Geistes und den? Warum laden die Gymnasien nicht die - als Altphilologen, d. h. als Freunde der alten Personalchefs und Bildungsverantwortlichen der Sprachen - zu den Weisheiten und Erfahrungs- regionalen Unternehmen in die Schulen ein, um schätzen der Antike. Ich bin mir sicher, daß dort mit ihnen über die Anforderungen der Arbeits- überall genug Rüstzeug und Hilfsmittel zur Ver- welt und die heute schon in der Wirtschaft fügung stehen, um junge Menschen für die An- praktizierten Trainingsmethoden zu diskutieren? forderungen der modernen Arbeitswelt ange- Eine solche Öffnung gegenüber der Arbeitswelt messen auszustatten. müßte auch von den Professoren der Didaktik und Methodik sowie von der Ministerialbüro- JOSEF SIEGERS kratie, den Herren der Lehrpläne, als Herausfor- derung verstanden werden. (Dr. Siegers wurde im Kongreß-Begleiter, S. 36, ausführlich vorgestellt. Er ist u. a. Mitglied des Meine sehr geehrten Damen und Herren, Vorstandes der Bundesanstalt für Arbeit und Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bun- ich zögere nicht, am Ende noch einmal auf die desvereinigung der Deutschen Arbeitgeberver- fundamentale Tatsache hinzuweisen, daß der bände, dort zuständig für Fragen der Arbeits- wichtigste, wenn nicht einzige Reichtum unse- markt- und Bildungspolitik.) res ressourcenarmen, durch kostspielige Sozial- standards geprägten Landes in der Kompetenz

73 Jena um 1700. Stich von Gabriel Bodenehr d. Ä. nach einer Vorlage von Matthäus Merian d. Ä. (um 1650)

Bericht über den Kongreß des Deutschen Altphilologenverbandes vom 9. - 13. April 1996 in Jena Jena sungen zur Naturphilosophie glühende Anhän- Die nichtssagende Autobahn führt fast bis ins ger. Zentrum der berühmten Stadt, die einst als Eingebettet zwischen die sanften Hügel im Siedlung Jani wenige Jahre nach Karl dem Gro- Saaletal, mußte die wohlhabende Stadt die grau- ßen im Zehntregister des Klosters Hersfeld Er- sigen Plünderungen des Dreißigjährigen Krieges wähnung findet. Luther predigte in der hiesigen aushalten und den spürbaren Rückgang des Stadtkirche mit zornigen Worten gegen das ri- Weinbaus verkraften, von eben diesen Hügeln gorose Tun der Bilderstürmer, Goethe schrieb aus vernichtete schließlich der große Napoleon hier nicht nur am ‚Faust’, sondern freute sich die preußischen Truppen. Und auch am Ende geradezu kindlich in seinem ‚närrischen Nest’ des Zweiten Weltkriegs gehörte Jena zu den am über seine Entdeckung des Os intermaxillare. stärksten zerstörten Städten. Fragwürdigen Neu- Schiller begann hier seine immense Arbeit am bauten des DDR-Sozialismus fielen dann noch ‚Wallenstein’, hielt aber auch die berühmteste unersetzbare Teile der historischen Altstadt zum Antrittsvorlesung aller Historiker vor 400 begei- Opfer. Vieles verwahrloste in den grauen Jahr- sterten Jenaer Studenten. Die vornehmen Hum- zehnten der Diktatur. boldtbrüder schlossen hier an der Saale Freund- Und jetzt? Aufgerissene Straßen, gestapelte schaft mit den Großen, die Schlegelbrüder be- Baumaterialien, gesperrte Zufahrten zeugen von gründeten in diesem anziehenden Städtchen ihre der Wende, vom Aufbruch, von der Neugestal- romantische Schule. Professor Fichte bekam am tung. Es entstehen wieder ansehnliche Ensem- Ende des Atheismus-Streites seine Entlassung bles eines schmucken, wohnlichen, menschli- von der hiesigen Universität, der 23jährige chen Städtchens: mit einem mittelalterlichen Schelling fand mit seinen geistreichen Vorle- Pulverturm, mit den mächtigen Bronzedenkmä-

74 lern und der wuchtigen Stadtkirche mit ihren - die Geisteswissenschaften (vergangenheits- prächtigen Portalen; mit den spätgotischen Bür- bezogen, scheinbar nutzlos und ineffektiv). gerhäusern und den einladenden Traditions- Nach Maiers Überzeugung beginnt sich der Riß, wirtshäusern der Studenten, und dazwischen der zwischen beiden über Jahrhunderte klaffte, immer wieder die klaren Linien der Universi- in jüngster Zeit wieder zu schließen. Denn - tätsbauten. de die Naturwissenschaften deuten eine Rück- Ein erfolgreiches Bemühen wird allerorten kehr des Geistes zur Natur an, indem sie das spürbar: die eigene Vergangenheit, die Her- Wesen des Menschen in der Entwicklung seines kunft, in der Gegenwart wieder sichtbar und Bewußtseins und Denkvermögens erkennen, das lebendig werden zu lassen für eine lebenswerte von den Aspekten Intentionalität, Sprache, Lo- Zukunft. gik, Wertempfinden und Sinnhaftigkeit geprägt sei. Diese naturwissenschaftliche Erkenntnis des Menschen als eines Geistwesens sucht - wie der 1. Zukunft braucht Herkunft Biologe und Nobelpreisträger Gerald M. Edel- 1.1 Gestaltung und Bewältigung seiner Zukunft man fordert - nach einer Ergänzung in den Gei- lassen den Menschen zu allen Zeiten Visionen steswissenschaften, in der Psychologie, Lingui- entwickeln, um so mehr, als ihn existentielle stik, Philosophie und Theologie. Probleme bedrohen. Dabei sind Intelligenz, Aber bereits im l7. Jahrhundert sah Pascal in Kompetenz und Autorität verläßliche Instru- dem über sich selbst nachdenkenden Menschen mente, die Impulse aussenden und den Fort- das große Wunder der Natur, ebenso erkennt der schritt steuern, um der Anforderungen Herr zu Psalmist schon die herausgehobene Stellung des werden. Menschen in der Natur. Die klassische Formu- In seinem einführenden Vortrag zum Kongreß- lierung dieser Sonderstellung findet sich im thema ‚Zukunft braucht Herkunft’ (Bildungs- Chorlied der ‚Antigone’ des Sophokles, wo erwartungen an die Alten Sprachen) legte der nicht nur die Zivilisationsfähigkeit des Men- Vorsitzende des Deutschen Altphilologenver- schen aufleuchtet, sondern seine alles überra- bandes, Prof. Dr. FRIEDRICH MAIER (Berlin), gende Stellung und Selbsteinschätzung. Dies vor über achthundert Kongreßteilnehmern über- wird besonders augenscheinlich in der Ambiva- zeugend dar, daß die Antike als vielschichtiges lenz des griechischen Wortes δεινüν beim Tra- Modell zur Bewältigung der Zukunftsaufgaben giker, das in späteren unterschiedlichen Deutun- auch und gerade heute wieder Beachtung findet. gen sowohl enthusiastisch positive (Erich So erkennt etwa Hariolf Grupp in seinem Fromm) wie auch abgründig negative Nuancie- ‚Delphi-Report - Innovationen für unsere Zu- rungen (Hans Jonas) erhält. Letzterer erkennt in kunft’ in dem bewährten Muster der Vergan- der Geistbefähigung des Menschen und in sei- genheit eine tragfähige Orientierungsbasis für nem Selbstwerdungsprozeß den Ausgangspunkt Zukunft und Fortschritt in einer globalen Di- für den Begriff der Verantwortlichkeit für die mension. Zukunft. So fordert das Problem der Bewahrung Die Aufgabe, welche dabei der Bildungsinstitu- der Natur in der Schöpfung nach Jonas eine tion Schule zufällt, sieht Maier in der Vermitt- metaphysisch begründete Antwort, reicht also lung von Wissen und im flexiblen und kreativen weit über die Naturwissenschaften hinaus. Zu- Umgang mit ihm, um durch dessen Projektion kunftsverantwortung und -ethik speisen sich künftigen Aufgaben sich erfolgreich zu stellen, auch durch die Auseinandersetzung mit tradier- bei aller Riskantheit menschlichen Wissens. In ten Mustern und Modellen. Nach den Worten diesem Prozeß haben sich seit Francis Bacon Maiers kommen sich Naturwissenschaft ‚zwei Kulturen’ entwickelt: (Edelman) und Geisteswissenschaft (Jonas) sehr - die Naturwissenschaften (praxisnah, zu- nahe, wo sie Grenzen markieren. Physik und kunftsorientiert) und Metaphysik, Fakten und Ideen, Materie und Bewußtsein sind eines, nämlich Ausformungen

75 der Natur. Daraus ist zu folgern, daß der Prozeß zu neuen Ufern, der sich wieder an Werten ori- der Selbstwerdung des Menschen der Unterstüt- entiert. zung von seiten des Fortschritts wie auch der Der Ministerpräsident erkennt im humanisti- Tradition bedarf: Zukunft braucht Herkunft - schen Menschenbild ein Modell überzeitlich eine essentiell-individuelle Wahrheit (Erfahrun- gültiger Wertvorstellungen. In diesem Zusam- gen von geschichtlich-kulturellen Situationen) menhang erinnert er an die Rückkehr zu den und auch eine existentiell-universale Wahrheit gemeinsamen Wurzeln der kulturbildenden (ethische Einsichten in die Vergangenheit für Kraft des Abendlandes, an dessen Anfang Theo- die Zukunft und die Erhaltung der Art). rie und Praxis stehen (Heisenberg). Nach Vogels Für das Gymnasium jenseits der Jahrtau- Überzeugung sind die Altphilologen sendwende bedeuten diese Feststellungen, daß ‚Brückenbauer’. angesichts unvorstellbarer Möglichkeiten der Eindrucksvolle Zahlen belegen die neuen An- Multimedia - trotzdem oder gerade deshalb - das strengungen und den gelingenden Aufbruch zu Programm einer vertieften allgemeinen Bildung den intendierten Zielen in Thüringen: 12.000 einen entscheidenden Stellenwert einnehmen Schüler lernen wieder Latein, in der Stadt Jena wird. Dabei haben geisteswissenschaftliche wie allein an zehn Gymnasien; 200 Teilnehmer von auch naturwissenschaftliche Fächer den glei- 28 thüringischen Gymnasien an einem alt- chen Rang, auf der Suche nach neuen Harmoni- sprachlichen Wettbewerb. Vogel schließt dar- en. Alle Kraft muß eingesetzt werden, die anste- aus, daß die Bedeutung der Humanitas in sei- henden Existenzprobleme, etwa die Versöhnung nem Bundesland nach zwei Diktaturen sehr von Ökonomie und Ökologie, erfolgreich anzu- bewußt erkannt worden ist. gehen. Somit steht auch das Gymnasium in der Unter dem Motto ‚virtute et exemplo’ hielt der Verantwortung, es muß eine Schule der Verant- Ministerpräsident große Teile seines Grußwor- wortung werden. Alle geisteswissenschaftlichen tes zum Erstaunen der Fachleute in lateinischer Fächer (Fächer der Herkunft, Basisfächer, Wur- Sprache. Er schloß mit einem Wort Senecas, daß zelfächer) haben grundlegende Bedeutung in der nämlich Schwierigkeiten oft nur daher rührten, gymnasialen Bildungstheorie. weil Mut fehle, Aufgaben energisch anzugehen. Moderner und realistischer als Francis Bacon, Allen, die es hören wollten, ins Stammbuch der die Geisteswissenschaften als ‚museale Dis- geschrieben! ziplinen’ abqualifizierte, erscheint nach Maiers Überzeugung das tiefsinnige Wort des Euripi- des: „Wer in seiner Jugend die Musen vernach- 1.3 Humanismus gilt als geistesgeschichtliche lässigt, der hat die vergangene Zeit verloren und Bewegung mit dem Ideal edler, allseitig ausge- ist für die Zukunft tot.“ bildeter Menschlichkeit. In der historischen Realität bekommt der Begriff recht unterschied- liche Ausformungen: in der römischen Kultur, 1.2 ‚Zukunft braucht Herkunft’ - dieses Motto in der Renaissance, im Humanitätsideal der gewinnt, so formulierte es der Ministerpräsident deutschen Klassik, schließlich auch bei Marx des Freistaates Thüringen, Dr. BERNHARD und Sartre. VOGEL, in seinem Grußwort an die Kongreßteil- nehmer gerade für die neuen Bundesländer eine Der Berliner Journalist Dr. JÜRGEN BUSCHE ganz besondere Bedeutung. Denn weithin griff in seinem kritischen Vortrag „Klassische herrscht die Überzeugung, daß nach der politi- Philologie nach dem Ende des ‚Silbernen’ Hu- schen Wende die Zukunft einer Neuorientierung manismus“ eine Epoche deutscher Philologen bedürfe, nicht nur einer Aufarbeitung der Ver- auf und an, die in den Jahren 1910 - 1970 von gangenheit. Vogel sieht in dem für den Kongreß Werner Jaeger bis Wolfgang Schadewaldt in Jena gewählten Motto die Spannung zwi- reicht, um die politische Haltung großer deut- schen alt und neu, einst und jetzt, den Aufbruch scher Fachwissenschaftler im Zusammenhang

76 mit der Machtpolitik der damaligen Verhältnisse fen, wo man sich behaupten und durchsetzen offenzulegen und um daraus für die kommenden mußte; nicht also primär als Hort gültiger Wer- Generationen Schlüsse zu ziehen. te, deren Geschichtlichkeit freilich es stets aufs In Abkehr zum Humanismus der Goethezeit, der neue zu bedenken gilt. Nicht Akklamation, son- Formung des Menschen durch eine Idealwelt dern Skepsis ist die Urtugend, die zum Guten und der Entfaltung seines höchsten Wertes, ver- führt. fällt gegen Ende des l9. Jahrhunderts die deut- sche Klassische Philologie völlig dem Positi- 2. Herkunft vismus. Die Kritik Busches gilt den Gelehrten 2.1 Was bedeutet Europa? Dieses Stichwort fällt des ‚Silbernen Humanismus’ - besonders Jaeger heute nicht nur täglich beim Bemühen der Poli- und Harder -, die Probleme bekommen mit der tik, die EU künftig als funktionierende Gemein- Wirklichkeit des Jahres 1933, indem sie dem schaft in mehreren Etappen aufzubauen. Auch Nationalsozialismus nicht nur nichts entgegen- Bildungspolitiker, allen voran aber die Altphi- gesetzt, sondern sogar zugearbeitet haben. Bu- lologen, erkennen hier ein Fundament, den gei- sche zeigt am Beispiel Werner Jaegers, daß die- stigen Standort, ihre Herkunft. se Behauptung zutrifft, etwa in dessen These, daß der einzelne das Ethos seiner Existenz durch Prof. Dr. CHRISTIAN MEIER (München) sieht in den Geist des Staates empfange, in den er seinem Vortrag „Glanz und Elend Europas. Zu „durch Erziehung hineingepflanzt“ werde. Im den antiken Anfängen eines Sonderweges“ in gleichen Sinne schreibt kurz darauf Jaegers der Entwicklung dieses Phänomens eine Viel- Schüler Richard Harder, das Individuum sei zahl von Möglichkeiten, im Positiven wie im gänzlich „in die Hand des Staates gegeben“. Negativen. Am Anfang steht die ‚abenteuerlich’ Man redet vom Staat, meint aber die Politik. Ein anmutende Trennung Europas und seine Benen- Bekenntnis zum Politischen liegt ganz eindeutig nung als Erdteil, Geographen sehen den Kauka- in den Worten Richard Harders, der vor der sus als Trennmauer Asiens und Europas, Araber Gefährdung des Staates warnt und - ebenso wie teilen die Welt in Klimazonen ein. Dagegen Joseph Vogt - ein Plädoyer für den starken erkennen die Griechen den Gegensatz Perser - Staatsmann abgibt, den er auch im Altertum als Hellenen, man hat bald eine gottgewollte Ideo- staatserhaltendes Element erkennt. logie. Sie werden sich rasch ihrer eigenen Art bewußt: mit ihnen beginnt der „europäische Aus der Sorge um den Staat erwächst die Ver- Sonderweg“. Die Gemeinsamkeit Europas ist götterung des Machtstaates. Bei dem großen nicht eine gemeinsame politische Geschichte, Humanisten Harder liegt dieser Bewertung ein Konflikte und Kriege reihen sich zu einer nicht überhöhtes, höchst fragwürdiges Selbstbewußt- endenden Kette. Offensichtlich sind es Erschei- sein zugrunde, wenn er von einem spezifischen nungen wie Zivilisation, Kultur, Wissenschaft, deutschen Verhältnis zum griechischen Denken Demokratie, welche die Eigenart konstituieren. ausgeht. „Außer in der griechischen könne man Von hier aus beginnt die Besiedlung und Be- nur noch in der deutschen Sprache richtig den- herrschung der Welt und nehmen die Entwick- ken“, meint schließlich auch Heidegger. Das lung von bestimmten Gesetzen des Handelns Staatsdenken Platos wird im Begriff des deut- und die Verbreitung gewisser Ideale ihren An- schen Volkstums vergewaltigt. fang. Die europäische Geschichte prägt seit dem Ahnungslosigkeit gegenüber politischer Wirk- l8. Jh. die Geschichte des Westens, und es ist zu lichkeit, so schließt Busche, muß als Schuld fragen, was Europa so überlegen macht. Weimar gewertet werden. Nötig ist es, Standpunkte in und Auschwitz stehen symbolisch für den Glanz der Öffentlichkeit zu behaupten (vgl. Sophistik). und das Elend Europas. Deshalb sei es die Aufgabe gegenwärtiger Al- tertumskunde, die Antike als Ort politischer Diskussion und Überzeugungsarbeit zu begrei-

77 Den Sonderweg Europas sieht Meier eindeutig ging von der widersprüchlichen Situation aus, bei den Griechen beginnen. Während alle frühen daß das Interesse an der römischen Kultur au- Völker durch monarchische Strukturen und ßerhalb der Schule ganz erstaunlich sei, Motive Zentren geprägt sind, ist diese Erscheinung bei würden sogar durch die moderne Produktwer- den Griechen die Ausnahme oder nur Vorform bung aufgegriffen, während in der Schulpraxis für die charakteristische Polis-Gesellschaft, in immer noch Materialien weitgehend fehlen und der die Bürgerschaft ihre Affekte kontrolliert, auch didaktische Konzepte kaum sichtbar sind. mitdenkt und durch Herstellung von Konsens Ziel der unterrichtlichen Behandlung ist nicht ohne monarchische Führung das Staatswesen die Förderung archäologischer Kenntnisse, son- aufzubauen sich bemüht. Notwendige Folge ist dern die Einsicht, daß das Vergangene im Ge- das Entstehen von Verantwortung der Bürger genwärtigen enthalten ist: die Gegenwärtigkeit für die politische Ordnung, in der der Bürger- der Geschichte, die Kontinuität der Tradition. schaft als politische Kraft durch permanentes Gerade die Stadt Rom bietet ein ideales an- Ändern der politischen Zustände bald schauliches Modell für urbanes Leben im Fort- ‚Verfassungsdenken’ nicht mehr fremd ist. Die leben der antiken Stadt. Dadurch kann nach politische Praxis wird abgestützt durch das phi- Waiblingers Ansicht der Lateinunterricht einen losophische Nachdenken über das Wesen und wertvollen Beitrag leisten für interkulturelles Funktionieren der Ordnung. Das Gemeinwesen Lernen und für das bessere Verständnis der Kri- ist die Bürgerschaft, deren Mitglieder als Indi- se der modernen Städte. Er zeigte überzeugend viduen zwar nach Autarkie streben, in der aber an Hand von Abbildungen aber auch Texten in der einzelne integrativer Teil eines Ganzen vier Aspekten die Stadt Rom als Modell für bleibt. Jeder Bürger ist betroffen, gefragt und urbane Strukturen. verantwortlich (horizontale Solidarität), alle Deutlich wurden zunächst die Probleme des sind herausgefordert. Die griechische Philoso- Großstadtverkehrs am antiken Rom entwickelt, phie wie auch die Tragödie legen die grundsätz- die bis heute unvermindert anhalten. Aufschluß- lichen Fragen offen: das Wesen des Menschen, reich war auch Caesars Versuch, durch die Lex mit seinen Fähigkeiten und seinen Möglichkei- Iulia municipalis Rom tagsüber in eine Fußgän- ten im Positiven und Negativen. Griechisch und gerzone zu verwandeln, eine rigorose Verfü- damit europäisch ist es nach Meiers Überzeu- gung, die heute politisch nicht mehr durchsetz- gung, sich den Schwierigkeiten jeweils zu stel- bar wäre. Welche Gefährdung vom Großstadt- len, mit Rationalität nach Lösungen zu suchen, verkehr schon zur Kaiserzeit ausging, zeigt Ju- um sich in der Welt selbstbewußt zu behaupten, venal in einer Satire. Mit Hilfe einer Reihe von nach Gerechtigkeit unablässig zu suchen, die Texten konnte der Referent nachweisen, wie Frage nach dem Sinn immer wieder zu stellen sich nach gravierenden Veränderungen im Mit- und damit Kultur zu schaffen. telalter (verkehrsbehindernde Bauten), in der Der Zuhörer, der den nachdenklichen, weisen Renaissance (Verbindung der Pilgerkirchen), Einsichten des Vortragenden folgte, brauchte durch Nationalstaatbildung (Nationaldenkmal) die Frage nach dem Sinn und der Notwenigkeit und Faschismus (Aufmarschstraßen) heute in des Griechischunterrichtes am Ende nicht mehr der modernen Konzeption wieder das antike zu stellen. Konzept des radialen Straßensystems ablesen 2.2 Sprache ohne Welt ist nicht vermittelbar. läßt. Die politische und gesellschaftliche Wirklich- Als zweiter Aspekt wurde das Infrastrukturpro- keit, die sich in den Denkmälern der Hauptstadt blem der Wasserversorgung einer Großstadt des Imperium Romanum vornehmlich manife- vorgestellt. Die Einzigartigkeit dieser römischen stiert, war Gegenstand eines sehr anregenden Leistung erwähnt bereits ein Text des Plinius Vortrags von Dr. FRANZ PETER WAIBLINGER voller Stolz, den praktischen Nutzen machen die (Universität München) zum Thema: „Urbs ae- Ausführungen von Frontinus deutlich, Cassio- terna. Die Stadt Rom im Lateinunterricht“. Er

78 dor sieht in der Kombination von Schönheit und Gegen Ende der Republik ließen Massenzu- Nutzen das Charakteristikum des römischen wanderung durch Sklavenhandel und militäri- Wasserversorgungsmodells. Genauso enthusia- sche Operationen die Einwohnerzahl der stisch preist Plinius die Lösung der Abwässer- Hauptstadt auf eine Million hochschnellen. entsorgung durch das Cloakennetz der Haupt- Eine durch die Provinzen durchmischte Gesell- stadt, eine große technische Leistung, die auch schaft ergab ein Bild von Multinationalität, für andere Städte vorbildlich wurde. von der Seneca berichtet (dial. l2,6,2-4). Diese Hinsichtlich des Aspektes der Massenunterhal- unübersehbare Überfremdung erzeugte Dispo- tung ergeben sich zahlreiche Parallelen von sitionen der Fremdenangst und des Fremden- einst und heute. Tacitus und Ammianus berich- hasses, sogar Cicero spricht von barbarischen ten von der schrillen Begeisterung der Massen Massen. Der Integrationsprozeß war rasch und für die Spectacula. In der Kaiserzeit verbinden problemlos, denn Freigelassenenkinder galten die Herrscher politische Absichten mit der Ver- bereits als ingenui, vom Handwerker bis zum anstaltung von Spielen. Dabei wird die unter- Privatsekretär gliederten sie sich in die römi- schiedliche Funktion dieser Spiele gegenüber sche Gesellschaft in großer Zahl ein. Diese reinen Sportveranstaltungen von heute deutlich. Entwicklung verstärkten gegen Ende der Re- Aber bereits die Briefe Senecas artikulieren publik die Möglichkeit des Freikaufs und Mas- Kritik an solchen Entertainments, Prudentius senfreilassungen, so daß schon Augustus die schließlich lehnt Gewaltverherrlichung dieser Freilassungspraxis einschränken muß. Negati- Art nur noch ab. ve Stimmen zu dieser gesellschaftlichen Ver- änderung, besonders konservativ denkender Die heutzutage weit verbreitete Unart des Be- Römer, wurden lauter (Juvenal 3,60-74), so- sprühens von Wänden findet ihre Ursprünge in ziale Spannungen wurden artikuliert. Gerade den lateinischen Graffiti römischer Hausmauern. die römische Aristokratie wurde von der Angst Sie dienten bereits in der Kaiserzeit als Mög- vor dem politischen Aufstieg der Fremden lichkeit, anonyme Kritik und witzige Äußerun- umgetrieben, die am Beispiel von Caesars Per- gen anzubringen, ein durchaus geistreicher, oft sonalpolitik hinsichtlich der Überfremdung des konstruktiver Kommunikationsvorgang, im Senats augenscheinlich wurde (Cic. Phil. Gegensatz zum modernen autistischen bzw. 11,12). aggressiven Sprayer-Produkt. Ausführlich widmete sich Christes dem Ver- So vermittelt der Lateinunterricht nicht nur hältnis der Römer zu den Griechen. Der seit Sprache und Literatur, sondern auch einen Ein- Jahrhunderten schon virulente Einfluß aus dem blick in die Welt des Römers und in die Ge- Osten nahm ab dem 2. Jahrhundert stärkere schichte als Kontinuum. Ausmaße an durch den römischen Kontakt mit der griechisch-hellenistischen Kultur, als neue 2.3. Wie am Beispiel der Massenmetropole Lebensgewohnheiten bei der Rückkehr nach Rom modellhaft moderne Probleme der Infra- Rom mitgebracht wurden. Zudem verstärkte struktur, des Denkmalschutzes oder der Ver- sich die Flut der Fremden aus dem hellenisti- kehrssteuerung diskutiert wurden, so erörterte schen Raum, deren Qualifikation und Intelligenz Prof. JOHANNES CHRISTES (Berlin) unter dem unübersehbar waren. Xenophobe Warnungen, Thema „Rom und die Fremden“ bildungsge- wie die Catos vor den griechischen Ärzten (Plin. schichtliche Aspekte der Akkulturation. Seine nat. 29,7,14) sind wohl zu verstehen als Kom- Überlegungen waren sehr geeignet, die heutige pensationsversuche der eigenen Unterlegenheit. multikulturelle Gesellschaft nachdenklich zu Diese Abwehrhaltung gegenüber den Griechen machen, welchen Umgang sie mit ihren Frem- und ihre vorurteilsbeladene Abqualifizierung als den haben will. gesinnungslose Müßiggänger und Schwätzer wird auch bei Cicero deutlich, dem Hauptzeu-

79 gen des negativen Griechenbildes (ad Q. fr. derauflebens in der Zeit beginnender Auflösung: 1,1,16 und 1,1,27). die nomadisierenden Vandalen brechen ein, die Doch auch Cicero konnte durch seinen Wider- Westgoten erobern Rom. Große Geschichte gibt stand das Eindringen des Griechischen nicht es nicht mehr: Klio schweigt. Als neue litera- verhindern (Sall. Iug. 85,32), ebenso wenig wie risch tragfähige Gattungen erscheinen Chronik der Hüter des mos maiorum: Cato. In zuneh- und Heiligenlegende, die Einzelschicksale mender Akzeptanz kommt es zu einer fruchtba- schildern: Vertreibung, Verarmung, Rechtsunsi- ren Begegnung der beiden Kulturen (Polybios, cherheit - Bilder schwerer Störung menschli- Panaitios), so daß es um die Mitte des 2. Jahr- chen Zusammenlebens und Fratzen einer unter- hunderts vor Chr. zur vollen Anerkennung der gehenden Kultur (bei: Paulinus v. Pella und griechischen Bildung bei der römischen Nobili- Eugippius). Der Sinn für die große Vergangen- tät kommt: Cicero bekennt, von den Griechen heit war verlorengegangen, über der Zukunft lag gelernt zu haben (Tusc. l,1 und 2,5). So initiiert schweres Dunkel, die Existenz des Individuums die Entstehung der hellenistisch-römischen war auf das Gegenwärtige reduziert. Innere und Kultur einen folgenreichen Akkulturationspro- äußere Auflösung lassen erkennen, daß sich die zeß Europas: die Verbindung von Utilitarismus Römer selbst aufgegeben haben. Die Kirche und Konservativismus mit dem Musischen und wird Fluchtburg der geistigen Überlieferung in kreativer Innovationskraft. Eine geglückte Be- den Chroniken und Hagiographien. Im Strudel gegnung mit Fremdem. der Völkerwanderung lösen sich viele von der irdischen Staatlichkeit. Nach dem Untergang des heidnischen Rom wird das christliche ent- 2.4 Wer von der Vergangenheit spricht, hat deckt (Prosper von Aquitanien; Gregor der Gro- möglicherweise die Gegenwart vor Augen oder ße). An die Stelle der Weite der Reichshistorie denkt schon an die Zukunft. Völkerwanderung - tritt der schmale Horizont der eigenen Region: ein sich wiederholender Vorgang in der Ge- Gregor von Tours beschränkt sich auf Gallien, schichte; die Spätantike - eine Allegorie auf die seine Intention ist die Darstellung der Ge- Jetztzeit? Mit diesem Gedanken der Repetitio schichte seiner Zeit als bunte Episodenreihe in und des Kontinuums von Geschichte eröffnete die christliche Heilsgeschichte eingebunden. Prof. Dr. MANFRED FUHRMANN (Konstanz) sei- Nach diesem Aufflackern großer Historiogra- nen Vortrag zum Thema: „Klio schweigt. Zu- phie zerrütten sich die Verhältnisse nach Gre- kunfts- und Herkunftslosigkeit im Chaos der gors Tod völlig: Italien verwüstet, Gallien zer- Völkerwanderung“. fallen, geistige Öde allerorten. Stoff und Gehalt römischer Geschichtsschrei- Die Wende kommt vom Rande (Iren und Angel- bung ist der Staatsgedanke (Horaz, c. 11,12). sachsen). Erst Einhard (um 770-840) zeichnet in Die Tradition des Staatsethos führt zu einem nüchterner Klarheit im Bild Karls des Großen stabilen Sinngefüge der römischen Gesellschaft. wieder das Ideal des starken Herrschers, der Historiographisch erfaßt werden Vergangenheit seinem Imperium Christianum Sicherheit und und Zeitgeschichte, die Gegenwart wird freilich Dauer gibt. Sein Blick und Rückgriff auf Sue- der Panegyrik unterworfen. tons Kaiserviten ist unverkennbar. Zivilisation Noch Ammianus Marcellinus (etwa 330-395) lebt wieder auf, der Staat regeneriert in Karls pflegte den zivilisatorischen Rompreis in einem Reformpolitik. Klio spricht wieder. Orientierung Geschichtswerk, die Motive der Einheit, des ist wieder möglich. Friedens, der Rechtsgleichheit, des starken Hee- res, des fürsorglichen Kaisers und der Prosperi- tät werden panegyrisch herausgestellt. Noch Claudian hing am Gedanken der Ewigkeit römi- scher Macht zu Beginn des Abstiegs um 400 nach Chr. und nährte die Hoffnung ihres Wie-

80 3. Zukunft auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt mit sich 3.1 Die meisten Vorträge des Kongresses krei- verstärkender Tendenz. Diese Tatsache hat un- sten um die Bildungserwartungen an die Alten ausweichliche Folgen, zunächst in der Um- Sprachen, denen ein hoher Stellenwert für die strukturierung deutscher Unternehmen im Hin- europäische Identität junger Menschen zu- blick auf Effizienz, Kostenkontrolle und neue kommt. Daß gerade dieser Geist der Antike für Arbeitsformen. Die neue organisatorische die moderne technisch-wissenschaftliche Welt Struktur ersetzt Hierarchie durch Dezentralisie- unverzichtbar sei, unterstrich der Vertreter der rung, Teamwork mit vielfältiger Kompetenzde- Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeber legierung verstärkt sich, am Ende der Entwick- Dr. JOSEF SIEGERS in der öffentlichen Veran- lung steht als Zielvorstellung der staltung, in der er zum Thema: „Die Anforde- „unternehmerisch denkende Mitarbeiter“. Wei- rungen der Arbeitswelt an die Gymnasialbil- tere Folgen sind unter dem Druck des Wettbe- dung“ sprach. werbs die Ausgliederung von Teilunternehmen, eine osmotische Personalpolitik befristeter Ab- Heterogene Lebensbereiche stehen sich in der hängiger und die Notwendigkeit permanenter Welt der Wirtschaft, die sich an Rationalität und Fortbildungsbereitschaft. Standardisierte Ar- Effektivität orientiere, und der Bildungswelt des beitszeiten und feste Arbeitsplätze verschwin- Gymnasiums gegenüber, das die zweckfreie den zunehmend, Mobilität und Flexibilität sind Entfaltung des Individuums intendiere. Quer- gefragt. Siegers zeichnet ein genaues Bild des verbindungen liegen freilich in der Lebenslinie ‚modernen Arbeitnehmers’: Methodenkompe- wie auch der Professionalität des Menschen. tenz (Kombinieren, Systemdenken, Abstrahie- Ausgangspunkt aller Überlegungen ist für Sie- ren, Entscheiden), Fachkompetenz gers die im Augenblick sich vollziehende enor- (fächerübergreifendes Wissen), Sozialkompe- me Umwälzung der modernen Wirtschaft. Die tenz (Teamwork, Toleranz, Verantwortung). Der Globalisierung aller Systeme löst die geschlos- moderne Berufsmensch kann mit Informationen sene Nationalökonomie ab. Die Entwicklung umgehen, agiert selbständig, kann Verantwor- von Produkten basiert in der strategischen Alli- tung übernehmen, ist zeitlich flexibel, ist nicht anz eines Netzwerkes, in dem Schnelligkeit der einseitig intellektuell, sondern genügt ganzheit- entscheidende Faktor ist. Projektbezogene Zu- lichen Anforderungen. sammenschlüsse konstituieren sog. virtuelle Siegers sieht freilich die Gefahren dieses beruf- Unternehmen mit agenturähnlicher Zentrale. Die lichen Musters in seiner Funktionalität (Wo Tertiärisierung der Wirtschaft, in welcher der bleiben die Spaßvögel?), in seinem rigorosen Dienstleistungssektor immer mehr an Bedeu- Individualismus und in der menschlichen Ver- tung gewinnt, nimmt unaufhaltsam zu. Voraus- armung durch das berufliche Engagement (Was setzung für die Mobilität der Unternehmen ist ist Muße? Wo ist die Familie?). die Vernetzung des Informationssektors. Die Multimedia-Welt ist das Ergebnis der dritten In klar umrissenen Thesen formulierte der Refe- industriellen Revolution. Auffallendes Indiz der rent für Bildungsfragen in der Bundesvereini- demographischen Entwicklung ist die Abnahme gung deutsche Arbeitgeber seine Erwartungen der aktiven Personen, so daß in wenigen Jahr- an das gymnasiale Bildungssystem. zehnten das Verhältnis 1 : 1 erwartet werden · Die moderne Wirtschafts- und Arbeitswelt ist muß. in die Bildungspläne aufzunehmen. Theoreti- Die Auswirkungen dieser fulminanten Ent- sche Vermittlung und praktische Anwendung wicklung auf die Arbeitswelt sind nach Siegers gehören zusammen. heute schon deutlich erkennbar. Jede europäi- · „Breitband-Humanismus“ wird gefordert, sche Volkswirtschaft spürt bereits die Konkur- Kultur und Ökonomie dürfen nicht als Ge- renz der Billigproduzenten im Elektronik-, Bau- gensatz verstanden werden. und EDV-Bereich. Dieser globale Druck lastet

81 · Erziehung ist nicht wertfrei, ist nicht traditi- den die wesentlichen Thesen zur Leistungsmes- onslos, ist ethisch orientiert. sung vorgestellt, wie sie das Thesenpapier für · Zukunftsorientiertes Handeln ist entschei- den Lateinunterricht der 9.-11. Jahrgangsstufe dendes Kriterium. Die Alten Sprachen schaf- anbietet. Im Vordergrund stand die Frage nach fen Zugang zum Verständnis der historischen der Anpassung des Leistungsniveaus an die Prozesse. ‚Realität’. Mehrfach wurde in der Diskussion vor der ständigen Absenkung des Anspruchs · Sprache ist Kommunikationsmittel und Vor- gewarnt. Diskutiert wurde die Frage nach der aussetzung zum Durchdringen der Komplex- Art der Aufgabenform. Schließlich war auf das heit von Prozessen. Verhältnis zwischen der mündlichen und der · Problemlösendes Denken ist nur möglich schriftlichen Leistung eingegangen worden. durch hohe Sprachsensibilität. Noch hilfreicher als das Ergebnis der diskutier- · Die Alten Sprachen sind der Beitrag zum ten Punkte ist vielleicht das umfangreiche, Grundlagentraining für die modernen Fremd- schön gegliederte Materialienheft, das die Teil- sprachen. nehmer ausgehändigt bekamen, in dem über- · Das Gymnasium muß den Ausfall der ande- sichtlich strukturiert in professionellem Layout ren Bildungsinstitutionen ersetzen (Zielrich- manche These und manch konkretes Aufgaben- tung, Sinngebung, ethische Fragestellung). beispiel nachträglich genauer studiert werden Deutschland ist ein ressourcenarmes Land, es kann. Es lebe der Computer! kennzeichnen höchstes Wohlstandsniveau und die Sicherheit eines starken sozialen Netzes. Nur 3.3. Zukunft erfährt die Prägung durch das Phä- die Kompetenz der Ausgebildeten und Gebilde- nomen Technik. In seinem Vortrag „Gymnasiale ten wird es erhalten. Bildung im Computerzeitalter“ versuchte Prof. Dr. LEONHARD FRIEDRICH (Jena) deutlich zu 3.2. Der von StD PETER PETERSEN (Kiel) gelei- machen, daß die elektronische Revolution ganz tete Arbeitskreis „Latein 2000. Ein Fach zwi- neuartige Technologien der Speicherung, Orga- schen Tradition und Wende?“ beschäftigte sich nisation und Erschließung von Wissen hervor- mit der „Leistung und ihrer Bewertung im La- gebracht hat, die die Wahrnehmungs- und teinunterricht“. Denkgewohnheiten verändern werden, auch die des Schülers, der diese faszinierende Technolo- Besprochen wurden Teile der Thesenpapiere, gie lernmotivatorisch nutzen könnte. die eine Strukturkommission WEST für die DAV-Tagung erarbeitet hatte. Eingegangen Als viel attraktiver erwiesen sich die Bilder, die wurde zunächst auf die veränderten Rahmenbe- vom Computer ausgesandt synchron zum Vor- dingungen von Schule und Unterricht. Ferner trag auf eine Leinwand projiziert wurden, wie wurden die neuen fachdidaktischen und im Abstand von Augenblicken aus einer Euro- fachmethodischen Ansätze (z. B. neue Überset- pakarte Campanien anvisiert wurde, Pompeji zungsmethoden und kulturkundliche Fragestel- dann auftauchte, die Struktur der Stadtanlage lungen) mit einbezogen. erschien, Wandmalereien auch im Ausschnitt vorgestellt wurden, schließlich der Pliniustext Es ging dabei um eine angemessene Umstellung abgerufen wurde. Der Computer als schnelles auf aktuelle Rahmenbedingungen, wie sie im Zugriffssystem auf Daten in globaler Vernet- Programm LATEIN 2000 unter den Stichwör- zung zum beliebigen Abruf - eine Attraktion. tern ‚Schlüsselqualifikationen’ und ‚Problem- felder’ aufgezeigt wurden. Andererseits ist es Aber wie in Zeiten schwacher Finanzen die Zielvorstellung, die fachliche Chancengleichheit Schule in der Praxis den Schüler multimedial zu erhöhen im Vergleich und in Konkurrenz zu vernetzen soll und wie damit dann didaktisch anderen Schulfächern. In der Hauptsache wur- umzugehen ist, diese Fragen blieben offen.

82 Für vernetztes Arbeiten und ganzheitliches verweigerung heißt die Antwort des Schülers, Denken sei Latein das ideale Fach, behauptete auch das Abtauchen ist eine der gefährlichen die Verhaltenspsychologin PD Dr. GABRIELE Reaktionen. Andererseits ist diese Phase immer HAUG-SCHNABEL (Freiburg) in ihrem Arbeits- wieder auch produktiv im Sinne der Entwick- kreis zum Thema: „Latein, Lernen, Bildung und lung von Selbstwertgefühl, falls der Schüler die Humanität - diskutiert aus verhaltensbiologi- Möglichkeit erhält, durch eigenverantwortliche scher Sicht“. Sie charakterisiert das Fach als Beiträge seine individuellen Fähigkeiten zu durchaus ‚zukunftsfähig’, das mit seinen diffe- bestätigen und (etwa auch durch Gruppenarbeit) renzierten Anforderungen intellektuell hoch ermutigende Erfahrungen zu machen. eingeschätzt werde. Ursache des Scheiterns im Lateinunterricht bringt eine vergangene Welt an Lateinischen ist meist nicht die genetische den Tag. Gerade die Einbeziehung und die Aus- Grundlage: sondern fehlende Motivation und einandersetzung mit der Vergangenheit im Hin- mangelhafte Aktivierung und Förderung durch blick auf Fragen der Existenz in der Zukunft die Bildungsumwelt. Die allgemeine Denk- und zeichnen den Menschen aus, unterscheiden ihn Handlungsfertigkeit muß entwickelt werden, da vom Affen. sie für das spätere autonome Leben von größter Bedeutung ist: Lernbereitschaft, situationsbezo- gene Erfahrungsfähigkeit, Umstellungsfähigkeit, 3.4 Im Sinne des Kongreßmottos setzten sich Rationalität, Analysierfähigkeit, Problemlösefä- prominente Teilnehmer aus Wissenschaft und higkeit, Durchhaltevermögen. Diese Schlüssel- Bildungspolitik zur Podiumsdiskussion qualifikationen sind nach Überzeugung der Ver- zusammen, um aus ihrer Sicht die „Erwartungen haltenspsychologin „Schlüssel zu den Vorzim- an die Fächer Latein und Griechisch an Schule mern für die Verteilung der Beschäftigungen in und Universität“ darzustellen. Besonders in den der modernen Arbeitswelt“. Grundlegende Vor- einführenden Statements beschränkten sich die aussetzung ist unbezweifelt die allgemeine Bil- Redner nicht immer auf die gebotene Kürze dung in der Schule als Lebens- und Erfahrungs- beim Ablesen mitgebrachter Konzepte. raum, wo Gruppenbildung und Bereitschaft zur Kultusminister DIETER ALTHAUS (Thüringen) Auseinandersetzung stattfinden in der Entfal- sieht im Neuaufbau der Bildungspolitik seines tung der Theoriefähigkeit und der sozialen Landes eine einmalige Chance, aber auch Kompetenz. Schwierigkeiten beim Definieren der differen- Latein lernen heißt für Frau Haug-Schnabel am zierten Schullandschaft. In folgenden Thesen Latein lernen, sie sieht darin auch ein Modell legt er seine Vorstellungen auseinander: zur Auseinandersetzung mit Werten, und dieser 1. Barrieren sind aufzubrechen: Er fordert eine Vorgang führt zur allmählichen Bildung der Reform des Dienstrechtes im Öffentlichen Persönlichkeit. Latein gilt somit als Orientie- Dienst (mehr Durchlässigkeit und Flexibili- rungshilfe, als Trainingsfeld analytischen Den- tät). kens auf der Basis hochkomplexer Texte. Für 2. In der technischen Gesellschaft sind Bil- den Einstieg in diese Sprache sind drei Voraus- dungs- und Erziehungsziele wie -inhalte neu setzungen sinnvoll und grundlegend: eine posi- zu definieren. Dabei sei der Mut zur Leistung tive Lernmotivation, eine aufklärende Elternin- deutlich auszusprechen. In diesem Zusam- formation und eine moderne Schulpädagogik. menhang sieht Althaus in den Alten Sprachen Strategisch bedeutsam sind die Stärkung der einen wertvollen Beitrag. Eigeninitiative und Freiräume für eigene Erfah- rungen der Schüler. Besonderes Augenmerk schenkt die Verhaltens- psychologin der Entwicklungsphase der Puber- tät beim Erlernen der lateinischen Sprache. Ne- gativ bedeutet diese Zeit ein Risiko, Leistungs-

83 3. Lehrpläne sind grundsätzlich zu diskutieren. dersächsischen Landtags) stellt klare Forderun- Die Frage der Qualitätssicherung (besonders gen an das Bildungswesen, das dringend einer beim Abitur) ist auch auf der politischen Verbesserung bedarf: Ebene zu stellen. 1. Der Erziehungsgedanke muß wieder in den 4. Für die Alten Sprachen werden in Thüringen Vordergrund rücken. angemessene Rahmenbedingungen geschaf- 2. Elitebildung ist keine Schande. fen, damit sie nach dem Kahlschlag des So- 3. Qualitätssteigerung erfolgt auch durch Ausle- zialismus und den daraus entstehenden Start- se. problemen den ihnen gebührenden Platz er- halten. 4. Lernen ist lebensnotwendig und sinnvoll. 5. Gerade in einer Welt der Technik und Medi- 5. Administrative Maßnahmen dürfen nicht en sind Allgemeinbildung und lebenslange schädigen und behindern (Beispiel: Nieder- Lernfähigkeit zu fordern. In diesem Zusam- sachsen gegenüber den alten Sprachen). menhang sind nach Überzeugung des Mini- Prof. Dr. FRIEDRICH MAIER (Vorsitzender des sters die Alten Sprachen unverzichtbar. Deutschen Altphilologenverbandes) kritisiert OStDin JULITTA FLEISCHMANN (Deutscher Be- mit Recht die Diskussion des Podiums mit dem amtenbund: Expertenkommission für Schule, Vorwurf der Selbstbeweihräucherung. Das real Bildung und Wissenschaft) stellt die in den existierende Problem der Alten Sprachen ist Lehrplänen von Bayern grundgelegten Bil- schlechthin die Legitimationsschwierigkeit, dungserwartungen, besonders hinsichtlich der deren Ursache das Fehlen einer ‚Gymnasial- Alten Sprachen vor. Sie geht insbesondere auf theorie’ sei. Infolgedessen fordert er den Deut- die intellektuellen Fähigkeiten, die ethisch- schen Philologenverband auf, eine Kommission moralischen Wertvorstellungen und die soziale zur Definition der gymnasialen Bildungsziele Kompetenz ein. Sie ist der Meinung, daß die einzurichten (Theorie des Gymnasiums). Maier Ausgewogenheit der sprachlichen, naturwissen- ist überzeugt, daß im Anschluß daran eine sinn- schaftlichen und musischen Fächer wie auch volle Begründung der alten Sprachen wieder fächerübergreifende Bezüge zur Verwirklichung möglich sei. der Bildungs- und Erziehungsziele bedeutsam Prof. Dr. BERND SEIDENSTICKER (Vorsitzender sind, woraus sich konkrete Anforderungen an der Mommsen-Gesellschaft) vertritt die Position das Gymnasium stellen. Die wesentliche Rolle der Hochschule. Er geht von der Feststellung der Alten Sprachen, welche die gemeinsame aus, daß die Universität heute froh und dankbar Grundlage Europas vermitteln, erkennt sie in für jeden Schüler ist, der ‚Lust’ habe zu studie- vertiefter Allgemeinbildung, Stärkung vielseiti- ren: Die Hochschule sei heute gezwungen, auf ger Kompetenz und damit der Persönlichkeits- die verschiedensten Standards einzugehen. Auch bildung. Dr. PÖLING (Vertreter des Deutschen aus diesem Grunde erwartet die Universität ei- Philologenverbandes) hebt die Notwendigkeit nen intensiveren Dialog mit der Schule über die der Förderung sprachlicher Kompetenz hervor, wechselseitigen Erfahrungen. Tugenden, welche die sich seiner Überzeugung nach vorbildlich die Hochschule erwartet, sind auch heute noch: durch einen sinnvollen Lateinunterricht entwik- klares Denken, präzises Schreiben, sinnvolles keln lasse, in dem Literatur und Geschichte eine Diskutieren, Offenheit und Toleranz, auch die ebenso wertvolle Rolle spielen wie Ethik und Freude, Schwieriges anzupacken, und schließ- Philosophie. In einem modern strukturierten lich eine solide literarisch-historische Allge- Unterricht werden auch Teamfähigkeit und Ko- meinbildung. An die Alten Sprachen gerichtet, operation Haltungen fördern, die dann in der fordert Seidensticker über die reine Lektüre Arbeitswelt gefragt sind. hinaus das ergänzende Lesen mit Hilfe von HEIDEMARIE MUNDLOS (Vorsitzende des Deut- Übersetzungen, die stärkere Beachtung des schen Elternvereins und Abgeordnete des Nie- Fortwirkens der Antike bis in die Moderne und

84 schließlich arbeitsteilige und kooperative Unter- Thema seiner Aktionen ist das Zerreißen von richtsverfahren. Tieren, mit denen er den Konnex von Leiden, Das Plenum bereicherte die Diskussion mit Töten und Auferstehen verdeutlichen will. Die einer Reihe interessanter und engagierter Bei- eine Quelle der geistigen Herkunft des Aktions- träge, die vom Bedauern über das Schrumpfen künstlers sind die orgiastischen Kulte der grie- des Griechischunterrichts in Niedersachsen bis chischen Mysterien mit ihren Tieropfern zur Funktion des Europäischen Philologenver- (exzessive Momente des Dionysoskultes, vgl. bandes reichten. Mehrfach wurde zur Aufbauar- Euripides). Andererseits bemüht Nitsch in sei- beit in den neuen Bundesländern Stellung bezo- nem die Aktionen begleitenden theoretischen gen, ferner die Frage nach dem Profil des Gym- Werk Ritual und Symbolik des Christentums nasiums angesprochen. Besondere Aufmerk- (Nietzsches Dionysos, der Gekreuzigte). samkeit weckte der Vorschlag, am zeitgemäßen Schließlich greift er in seinen religionspsycho- Gymnasium statt Latein Japanisch lernen zu logischen und mythologischen Studien die psy- lassen. Heftiger Widerspruch von allen Seiten. choanalytische Theorie S. Freuds auf, indem er das rituelle Töten von Lebewesen als Abreakti- Prof. Maier meldete nochmals die Legitimati- on deutet, um die Zensur der Ich-Instanz, des onskrise an und forderte die Altphilologen auf, Bewußtseins, zu unterlaufen. Kunst ruft Phäno- sich zu artikulieren und zu aktualisieren: Ant- mene archetypischer Art aus dem Unbewußten worten auf die Fragen der Zeit sind zu suchen in das Bewußtsein. Dieser Triebverzicht fördert und zu finden. Die Vorsitzende des Deutschen die Entstehung und die Entwicklung von Kultur. Elternvereins schloß die Diskussion, die unter der Leitung von OStD Dr. PETER LOHE (Berlin) stattfand, mit dem Aufruf, die Politik für die 4.2. Umfang, Vielfalt und Qualität der literari- Sache der Schule zu gewinnen, mit der Bitte um schen Antikerezeption wurden in den zurücklie- eine intensivere Information der Eltern, beson- genden Kongressen des DAV durch Prof. Dr. ders im Hinblick auf die Alten Sprachen, in BERND SEIDENSTICKER (Berlin) mehrfach ein- denen sie ein sinnvolles Angebot auch für die drucksvoll vorgestellt. Diesmal befaßte er sich Schule der Zukunft sieht. unter dem Thema: ‚Die Flucht des Sisyphus’ mit der Antikerezeption in der bildenden Kunst der ehemaligen DDR, die nach seiner Feststel- 4. Rezeption der Antike lung im Westen kaum bekannt ist. 4.1 In einer Reihe von Vorträgen wurden Konti- Ideen, Ideale, Bilder, Themen und Mythen der nuum und Tradition der abendländischen Kultur Antike hatten besonders im 15. und l6. Jahrhun- auf der Basis der Griechen und Römer beschwo- dert die europäische Malerei befruchtet. Nach ren. Prof. Dr. EKKEHARD STÄRK (Leipzig) einem Rückgang im 18. und l9. Jahrhundert sprach zum Thema: „Antikebild und Psycho- tauchen wieder signifikante Beispiele der Re- analyse. Zur geistigen Herkunft des Aktions- zeption in den Künstlern Goya, Kokoschka, de künstlers Hermann Nitsch“. Er zeigte am Werk Chirico, Picasso und J. Beuys auf. dieses Wiener Aktionisten, wie seit den 60er Jahren einerseits die anarchisch erscheinenden Gemäß der These Lenins von der Aneignung Aktionen kunstgeschichtlich neue Tendenzen des Wertvollen waren auch in der ehemaligen entwickeln, andererseits besonders Nitsch auch DDR Arbeiten mit mythologischen Themen aus in seinen theoretischen Schriften auf antike der Antike entstanden. Dies lag zum einen an Phänomene zurückgreift. So werden Tafelbild der archetypischen Qualität der antiken Stoffe. und das vollendete Kunstwerk abgelehnt, dage- Andererseits konnten heikle Themen dadurch gen der Eigenwert des kreativen Prozesses be- kaschiert werden, wie auch unverfängliche Uto- tont. pien entwickelt wurden. Diese Bilder dienten der kritischen Reflexion der eigenen Gegenwart.

85 Seidensticker zeigte am Beispiel des Malers und Mattheuer als Sisyphus und Ikarus - was für Graphikers Wolfgang Mattheuer, welche Impul- eine Aussage des Künstlers, was für ein Beitrag se der antike Mythos im Schaffen des Künstlers des Wissenschaftlers! bedeutete, der schließlich, vom System desillu- sioniert und gegenüber der DDR-Politik distan- 4.3 In einer öffentlichen Veranstaltung unter ziert, aus der Partei ausgeschlossen wurde. dem Motto „Europa erinnert“ las DAGMAR Zwei mythologische Motive griff Mattheuer NICK, vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin wiederholt auf: Sisyphus - das archetypische aus München, neben Gedichten zum antiken Bild für die sinnentleerte, entfremdete Arbeit, Mythos und zur griechischen Landschaft aus und Ikarus, um das Streben und Scheitern des ihrem Werk „Medea, ein Monolog“ im dichtbe- Menschen zu verdeutlichen. Seidensticker ge- setzten Großen Saal des Volkshauses. lang es durch die Präsentation von Abbildungen Medea möchte den Weg, den sie einst mit Jason eindrucksvoll, in den Variationen des Darge- vom Schwarzen Meer nach Griechenland zu- stellten die jeweilig neue Nuance der Aussage rücklegte, noch einmal bewältigen, um der Fra- zu veranschaulichen: ge nach dem ewigen Leben und seinem eigentli- 1. Sisyphus befreit sich von der entfremdeten chen Wert nachzugehen. Zwei Gestalten stehen Arbeit durch Flucht. am Anfang und Ende ihres Weges, welche eine 2. Er stößt in übermütiger Verweigerung den fragwürdige Unsterblichkeit verkörpern: es sind Stein in die Tiefe. Prometheus, der am Kaukasus festgeschmiedet 3. Er bewegt sich sinnlos im Laufrad leidet, und der weise Kentaur Chiron, der mit (zusammen mit seinem Stein). seinem unheilbaren Leiden in Iolkos in einer Höhle vegetiert. Medea wird zum Bindeglied 4. Er unternimmt, verbrüdert mit der Masse, zweier Mythen und zweier Gestalten, die beide - einen Befreiungsversuch. in unterschiedlicher Weise - mit ihrer Unsterb- 5. Er versucht durch Behauen des Steins eine lichkeit geschlagen sind. Falls Prometheus - gezielte Veränderung der Welt. Symbol des Fortschritts - in Freiheit weiterleben 6. Er steht unbewegt am Stein (Resignation will, muß ein anderer seine Unsterblichkeit für oder Pause?). ihn opfern: es ist Chiron - Symbol der Weisheit Diese Bilder, in der Form der Karikatur, geben und Güte, ein als Kentaur urtümlich gezeichne- klare Antworten auf die gesellschaftlichen Fra- tes Wesen am Ende einer archaischen Zeit. gen im erstarrten politischen System. In der Die beschwörende Wirkung, welche der My- Figur des Ikarus sieht der Maler einen Men- thos, dieser Vorrat existentieller Fragen und schen, den kreative Phantasie beflügelt: Symbol Stoffe, auch auf den modernen Menschen aus- inspirativer Kraft. Im Motiv „Flug und Sturz“ übt, wie Prof. Maier in seinen einführenden wird die jugendliche Begeisterung deutlich, Worten bemerkte, verstärkte sich in der Lesung Wille und Mut zur Befreiung werden erkennbar: durch den betörenden Klang und Fluß der dich- Sinnbild der Moderne, des zivilisatorischen terischen Gestaltung. Rationale Legitimations- Höhenfluges mit der Gefährdung. anstrengungen zum Sinn und Wert der Antiken- Mattheuer will nicht nur ästhetisch schöne Bil- rezeption wurden beim Zuhören verdrängt und der produzieren, das permanente Experimentie- überflüssig. Die Antike lebt(e). ren mit diesen archetypischen Bildern von der menschlichen Existenz zeugt von dem Willen, politische Bezüge durch die Chiffre, durch die Metapher und durch die symbolische Gestaltung herzustellen.

86 4.4 Den Abschluß des diesjährigen Kongresses Prof. ANDREAS FRITSCH (Berlin) und OstR des DAV in Jena beildete die Aaufführung eines DIETMAR ALEXA (Werne) fuhren mit über 100 Werkes des tschechischen Komponisten und Teilnehmern zur Officina Latina nach Schul- Humanisten JAN NOVÁK (1921-1984). Bei star- pforte (vgl. hierzu den folgenden Bericht von kem Zuspruch des interessierten Publikums L.-L. Oertel), während gleichzeitig OSchR Dr. wurden die „Aesopia. Phaedri fabellae cantatae JOACHIM KLOWSKI (Hamburg) die Ergebnisse et saltatae“ aufgeführt. Es handelt sich um die der DAV-Kommission zum Thema „Alte Spra- Fabeln Lupus et agnus, Graeculus superbus et chen und der neue Schüler“ in einem Arbeits- pavo, Rana rupta et bos, Calvus et musca und kreis vorstellte und parallel dazu Dipl.-Phil. Asinus et leo venantes, eingerahmt von Introitus KRISTINE SCHULZ (Halle) die Ergebnisse zum und Exitus, die durch den Komponisten selber Arbeitsbereich „Latein in Osten: Aufbruch, in lateinischen Reimen verfaßt wurden. Aufschwung, Restriktion“ vorstellte. Prof. Dr. Die Ballettkantate ‚Aesopia’ wurde 1981 kom- WERNER SUERBAUM (München) zeichnete al- poniert und im selben Jahr konzertant aufge- ternative Geschichtsverläufe bei römischen Hi- führt. Den Klavierpart übernahm in der diesjäh- storikern unter dem Motto „Am Scheideweg zur rigen Aufführung das Weimarer Klavierduo Zukunft“ nach, Prof. Dr. MEINOLF VIELBERG Dagmar Brauns und Bettina Gruhn von der (Jena) wies in seinem Vortrag „Justus Lipsius Hochschule für Musik. Sie demonstrierten, wie und die Anfänge des Tacitismus in Jena“ auf wenig es sich in Nováks Musik um trockene eine folgenreiche Fehlrezeption hin. Frau Dr. Kontrapunktetüden handelt, sondern um sensi- MARIA AUSSENHOFER (Bozen) stellte Überle- ble, ernste, bisweilen auch sprühend vitale Mu- gungen zu einer schülergerechten Lektüre an, in sik aus dem Geist des Dialogs. Es spielten Mit- der Frage: „Braucht unsere Jugend noch Fa- glieder des Jenaer Madrigalkreises, es sang der beln?“ Über „Ovids Metamorphosen als Schul- Studentenchor der Friedrich-Schiller-Universität projekt“ berichtete Prof. Mag. ERNST SIGOT unter der straffen Führung und feinfühligen (Klagenfurt), während OStR Dr. NIKOLAUS Leitung von Jürgen Puschbeck. Vor der Auffüh- MANTEL (Essen) „Neue Methoden der Texter- rung hatte Prof. Dr. JÜRGEN LEONHARDT schließung im Für und Wider der aktuellen Dis- (Rostock) den Zuhörern den Zusammenhang kussion“ auseinanderlegte. Prof. Dr. HANS- von lateinischer Prosodie und musikalischer JOACHIM GLÜCKLICH (Mainz) ging unter dem Umsetzung bei Novák auseinandergesetzt. Der Kongreßmotto „Zukunft braucht Herkunft“ an Tänzer Harald Seime (Jena) umspielte facetten- Hand vorgelegter originaler Texte auf die Be- reich und voller Phantasie die Handlung als deutung des „Lateinunterrichts heute und mor- Pantomime. gen“ ein und endete mit der Textaufbereitung mit Hilfe der Makrofunktion des Computers. Jan Novák wäre in der Woche des Jenaer Kon- Neugriechisch - auch das hat Vergangenheit und gresses 75 Jahre alt geworden. Die Anwesenden Zukunft - lag StD HELMUT QUACK (Husum) am dankten ihm und applaudierten seiner Musik Herzen. Und schließlich zeigte Lt. RegSchDir und denen, die sie zu Gehör brachten, enthusia- GERHARD KNEIßLER (Arnsberg) didaktische stisch. Perspektiven für „Das Fach Griechisch - ein zeitgemäßes Angebot an die Jugend“ auf. 5. Varia 5. Viele Anregungen bot das Programm des 6. Ausstellungen diesjährigen Kongresses, die wegen der paral- 6.1 In Zusammenarbeit mit den Städtischen lelen Vorträge und Arbeitskreise von einem Museen Jena wurden als Begleitprogramm zur einzigen Teilnehmer gar nicht aufgenommen DAV-Tagung besondere Schätze der Universität werden konnten. in zwei Bereichen vorgestellt: 1. Die Ausstel- lung „Handschriften und alte Drucke: Texte

87 antiker Schulautoren. Kostbarkeiten des 12.-l8. Aufbau dieses Unterrichtszweiges belegen auch Jahrhunderts aus den Beständen der Thüringer die erfreulichen Zahlen (l2.000 Schüler, 150 Universitäts- und Landesbibliothek Jena“. Darin Lateinlehrer). Das hohe Niveau, das sich inner- wurde ein Überblick gegeben über verschiedene halb von nur sechs Jahren eingestellt hat, ma- Formen der Überlieferung und Rezeption klassi- chen auch die Certamina Thuringiae deutlich scher Texte. Werke, die noch heute zur Lektüre mit ihren hohen Teilnehmerzahlen. Die ausge- im Latein- und Griechischunterricht gehören stellten Projektarbeiten, die interdisziplinär mit (Sophokles, Platon, Xenophon, Terenz), begeg- dem Fach Kunsterziehung entstanden, legten nen ebenso in aufwendigen Prunkcodices wie in beredtes Zeugnis ab von dem Bemühen um ei- glossierten Gebrauchshandschriften (Vergil, nen Neuanfang nach der politischen Wende: Ovid), in denen zahlreiche Benutzer ihre Spuren Zukunft braucht auch hier Herkunft. hinterlassen haben. Frühe philologische Editio- nen stehen neben volkssprachlichen Überset- 6.3 Daß werbepsychologische Methoden beim zungen (Livius, Ovid), die für die weitere Ver- Verkaufen nötig und effektiv sind, ist nicht neu. breitung der Werke sorgten. Diese Tendenz Auch Altphilologen tun gut daran, ihren Blick in verfolgten auch Werke aus der Frühzeit des dieser Richtung zu öffnen. Dies versuchte StR Buchdrucks durch die Bebilderung der Ausga- DIETER FRIEDEL (Rosenheim) mit seiner kleinen ben mit Holzschnitten (Cicero, Curtius, Ovid). Ausstellung, die dokumentieren wollte, was in Die bibliophile Präsentation vermittelte einen den Bundesländern in den letzten Jahren auf subtilen Einblick in die europäische Bil- dem Gebiet der Öffentlichkeitsarbeit geleistet dungstradition. worden ist. Vorgestellt wurden Materialien, mit 2. Die Ausstellung „Der Jenaer Maler - Eine denen sich die alten Sprachen Eltern und Schü- Töpferwerkstatt im klassischen Athen“ zeigte lern präsentiert haben, um zu informieren und im gleichen Haus Trinkschalen aus der Samm- zu werben. Die Palette reichte vom Informati- lung Antiker Kleinkunst der Friedrich-Schiller- onsblatt bis zu den Plakaten, Postern, Broschü- Universität. Der „Jenaer Maler“ (etwa 400 v. ren und Aufklebern der Gegenwart. Zukunfts- Chr.) war der letzte bedeutende Vasenmaler weisend waren einige Entwürfe, die erstmals Athens. Die Schalenfragmente aus seiner Werk- unter Augenschein genommen werden konnten. statt wurden Mitte des vorigen Jahrhunderts als Wieviel gerade auf diesem Sektor noch geleistet geschlossener Komplex im antiken Töpfervier- werden müßte, machten die Gespräche vieler tel gefunden. Der gesamte Fund wurde kurz Besucher dieser Ausstellung deutlich. darauf von Carl W. Goettling für Jena erworben. Die Sammlung zeigte das Werk des auf Trink- schalen spezialisierten Hauptmeisters und seiner 6.4 Besonderes Interesse galt auch beim diesjäh- Gehilfen. Die Bilder sind mit ihren religiösen rigen Kongreß der deutschen Altphilologen den und politischen Themen aufschlußreiche Zeug- Präsentationen der zahlreichen Verlage, die nisse für die Bilderwelt des spätklassischen einschlägige Literatur veröffentlichen, von Athen. mehrbändigen wissenschaftlichen Neuveröf- fentlichungen über prachtvolle Bildbände zur Kunst bis zu den Lektüreheften für die Hand des 6.2 In einer recht farbigen Ausstellung im Je- Schülers. - Besonders wertvoll war der „Abend naer Volkshaus am Carl-Zeiss-Platz stellte sich der Verlage“, an dem eine ganze Reihe von der altsprachliche Unterricht in Thüringen 1990- Verlagen neuentwickelte Lateinlehrbücher und 1995 vor, indem Schüler die Antike präsentier- Studienausgaben vorstellten. Eindrucksvoll ten. Sie wollten damit anhand von Bild-, Gra- wurde auseinandergelegt, wie das neue Latein- phik- und Textbeiträgen die einschneidende buch - auch unter lernmotivatorischen Aspekten Entwicklung verdeutlichen, die das Fach Latein und in einem zeitgemäßen Outfit - aussehen seit der Wende genommen hat. Den gelungenen soll.

88 7. Exkursionen Jakobskirche, Schloßensemble, Park an der Ilm, Vier große Exkursionen in die Umgebung Jenas Fürstengruft. Besucht wurden auch Goethes führten aus den ehrwürdigen Gebäuden der Wohnhaus, die Anna-Amalia-Bibliothek und die Friedrich-Schiller-Universität und des Volks- Hochschule für Architektur und Bauwesen. hauses (trotz des spätwinterlichen Wetters) hin- Die überschaubare Residenzstadt des Herzog- aus. tums Sachsen-Weimar in Jenas unmittelbarer Eine Gruppe fuhr durch das malerische Tal der Nähe zog - auch außerhalb dieser Exkursion - Saale bis nach und weiter nach manchen Teilnehmer des DAV-Kongresses an. Großkochberg im Thüringer Wald, wo Schon zu Lebzeiten Goethes und Schillers hatte Charlotte von Stein ihren Landsitz hatte, den es zahlreiche Besucher, welche die Stadt der Goethe von Zeit zu Zeit aufgesucht hatte. Musen kennenlernen wollten. Der Philosoph Schloß und Theater konnten besichtigt werden. Joseph Rückert (1771-1813) schildert seine Am Nachmittag stand das Zisterzienserkloster Eindrücke so: „Diese Geisterstadt gehört zu den Paulinzella auf dem Programm. Schloß merkwürdigsten und anziehendsten Städten Schwarzburg lag auf dem Weg zurück über Bad Deutschlands. Sie bildet den Gipfel des deut- Blankenburg nach Jena. Jedem Teilnehmer schen Parnasses mit seinen obersten Göttern, die wurde so klar, daß er bei schönem Wetter wie- sich hier zu einem glänzenden Kreis versammelt derkommen wird. haben. Fast alle Musen wohnen an diesem schö- nen Ort einheimisch wie auf ihrem mütterlichen Eine zweite Exkursion führte nach Schul- Boden und haben sich und ihren Freunden hier pforte, dem bedeutenden Kloster Sanctae gegen die Barbarei der Zeit und ihrer Feinde Mariae ad Portam, von Mönchen im l2. Jahr- längst ein schützendes, jetzt vielbesuchtes Asyl hundert gegründet, seit 1543 Sitz der ruhmvol- erbaut.“ Goethe und Schiller suchten, enttäuscht len Fürsten- bzw. Landesschule. Ganz ehrfürch- vom Durchbruch der ‚tierischen Natur’ des tig still wurde es unter den Teilnehmern, als die Menschen nach dem Zerbrechen der Fesseln der Namen von einigen Zöglingen dieses Hauses bisherigen Ordnung, in der Kunst das Ideal, genannt wurden, wie Klopstock, Fichte, von durch Bildung des einzelnen zur Humanität die Ranke, Nietzsche, von Wilamowitz- Verhältnisse zu verbessern. Die durch den Zivi- Moellendorff. Naumburg mit seinem spä- lisationsprozeß zerstörte Einheit von Verstand tromanisch-frühgotischen Dom mit den Stifter- und Gefühl, von der Entfaltung des Individuums figuren Ekkehard und Uta war ein weiterer Hö- und seiner Einordnung in Gesellschaft und Na- hepunkt der Besichtigung. tur sollte in der Humanität wiederhergestellt Die Landeshauptstadt Erfurt war Ziel einer werden. dritten Gruppe von Teilnehmern. Im Jahre 742 als Bistum von Bonifatius gegründet, im Mittel- Nur allein der Mensch alter Umschlagplatz für den deutsch-slawischen Vermag das Unmögliche: Handel, war Erfurt im l5. Jahrhundert eine der Er unterscheidet, bedeutendsten deutschen Städte. Das Bild der Wählet und richtet; historischen Altstadt ist auch heute noch sehr Er kann dem Augenblick eindrucksvoll. Überaus freundlich auch der Dauer verleihen. Empfang im Rathaus durch den Oberbürgermei- ster. Und schließlich drängte es viele nach Wei- mar, in die Stadt der deutschen Klassik und künftige Kulturhauptstadt Europas (1999). Auf einem großen Stadtrundgang wurden die wich- tigsten Sehenswürdigkeiten gezeigt: Theater- platz, Schillerstraße, Frauenplan, Herderkirche,

89 Er allein darf Mit Recht verwies Friedrich Maier zu Beginn Den Guten lohnen, des Kongresses des DAV auf das provozierende Den Bösen strafen, Verhältnis von Geist und Macht, auf Hans Jo- Heilen und retten, nas’ Deutung des sophokleischen Wortes als Alles Irrende, Schweifende ‚beklommene Huldigung an des Menschen be- Nützlich verbinden. klemmende Macht’, wie sich das Ungeheuere (Goethe, Das Göttliche, 1783) menschlichen Tuns auf die ihn umgebende Welt Am nördlichen Rand dieser edlen Stadt der auswirkt. „Der Mensch unterscheidet, wählet deutschen Klassik erhebt sich der Ettersberg mit und richtet“ (Goethe). seinen schattigen Buchen: ein lauschiger Bu- „Klassisch zu leben und das Altertum prak- chenwald? Buchenwald - da durchzuckt es auch tisch in sich realisieren ist der Gipfel und das den beschaulichen Klassikschwärmer. So nah Ziel der Philologie. Sollte dies ohne allen Zy- die Brutalität der Humanität? Weimar war 1932 nismus möglich sein?“ ein Hort der Nationasozialisten geworden. Nur fragte Friedrich Schlegel im 147. Stück seiner fünf Jahre später begannen die ersten Häftlinge Athenäums-Fragmente. Jürgen Busche gab in das Konzentrationslager Buchenwald zu füllen, seinem kritischen historischen Rückblick der als Unmenschen gezeichnet, gequält und ent- Versammlung der über achthundert deutschen stellt. Fast sechzigtausend aus 32 Ländern erla- Altphilologen zu Jena 1996 die kurze, klare und gen bis Kriegsende den Mißhandlungen, dem in die Zukunft weisende Antwort mit auf den Hunger und der Kälte. - Was ist der Mensch? Weg: ΠïλλJ τJ δεινÜ, κïžδKν ˜ν- „Ich denke - ja. Aber nicht ohne Skepsis.“ θρþπïυ δεινüτερïν πÝλει. ALFRED SELMAIER, München (Sophokles, Antigone 332f.)

Zukunft braucht Herkunft - und Sprache braucht Stimme Latinitas viva auf dem DAV-Kongreß in Jena

Während und nach seiner Rede beim Festakt des lich?) ein akademischer Vortrag in lateinischer diesjährigen DAV-Kongresses in Jena erntete Sprache auf dem Programm stand: De urbibus Dr. Bernhard Vogel, der Ministerpräsident des Germaniae humanitate distinctis. Frau OStR’ i. Gastgeberlandes Thüringen, großen Beifall, und H. ULRIKE WAGNER, Didaktikerin an der Uni- das nicht nur, weil er mit seinen Gedanken den versität Erlangen und unermüdlicher praeco versammelten Altphilologen aus dem Herzen Latinitatis vivae in Bayern, fesselte die zahlrei- sprach, sondern sich auch in einigen Teilen sei- chen Zuhörer über eine Stunde durch ihr frei ner Rede souverän der lateinischen Sprache vorgetragenes, verständlich formuliertes und bediente. In Jena hatte man überhaupt den Ein- deutlich ausgesprochenes Latein und durch die druck, daß die Aufgeschlossenheit gegenüber Aktualität des Themas: so stellte sie Bamberg, dem Phänomen des gesprochenen Lateins spür- die Stadt der letzten DAV-Tagung, Jena gegen- bar gewachsen ist. über und beleuchtete mit ausgewählten lateini- So zeichnete sich dieser Kogreß dadurch aus, schen Texten, mit interessanten Folien und daß zum ersten Mal (seit wie langer Zeit eigent- weitgehend von ihr selbst aufgenommenen Dias die humanistische Glanzzeit der beiden Städte

90 mit ihren konfessionell unterschiedlich konzi- wurde auch in der Officina aktiv und legte eine pierten Universitäten. Da die Veranstaltung als Liste von locutiones scholasticae vor, die in Arbeitskreis deklariert war, bildeten die Teil- Anordnung und Inhalt vom Verlauf einer nehmer nach dem Vortrag, in den sie auch schon Grammatikstunde bestimmt sind - ein unver- mehrfach aktiv miteinbezogen worden waren, zichtbares Arbeitsinstrument für den Lehrer, der fünf Arbeitsgruppen, die jeweils einen Text auf mehr als nur ein paar lateinische Floskeln in unterschiedliche Fragen hin analysieren sollten. seinem Unterricht verwenden will. Eine Liste in Erstaunlich, wie witzig und wie beredt die Er- dieser Ausfertigung war - das zeigte auch der gebnisse von der internationalen Teilnehmer- Ansturm auf die vorhandenen Exemplare - schaft vorgetragen wurden - auf lateinisch, ver- schon lange ein Desiderat.2 steht sich. Engagiert, beredt und humorvoll berichtete dann Als eigentliche, offizielle Veranstaltung des OStR ROLAND GRÖGER aus Neustadt an der „Arbeitskreises Latinitas viva“ hat sich seit Waldnaab von seinen unkonventionellen Me- 1990 die Officina Latina einen festen Platz bei thoden im Lateinunterricht. Lateinische Lieder - den Kongressen des Deutschen Altphilologen- d. h. selbst verfaßte Texte gesungen zu bekann- verbandes erworben. Wie schon in Hamburg, ten, modernen Liedern - werden bei bestimmten Berlin und Bamberg stand diese „Werkstatt des Anlässen geradezu rituell verwendet; aufge- lebendigen, gesprochenen Lateins“ unter der zeichnete Fußballspiele werden lateinisch kom- Ägide von Prof. ANDREAS FRITSCH (Berlin), der mentiert, Nachrichtensendungen auf lateinisch bei der Vorbereitung und Durchführung von können im Unterricht über Video verfolgt wer- DIETMAR ALEXA, dem praeses des aktiven La- den; ein großer Teil der im Unterricht einge- teinsprech-Vereins L.V.P.A.1, als Co-Moderator setzten Texte ist auf das Leben in der unterstützt wurde. Die Officina wurde dieses Schulstadt, auf die aktuelle Situation und die Mal aber nicht in den Kongreßsälen aufgeschla- Befindlichkeit des Lehrers bezogen. Grammati- gen, sondern in einer Pflanzstätte humanisti- sche Phänomene werden spielerisch - und das scher Bildung, noch dazu in einer der berühmte- bedeutet schauspielerisch - verständlich ge- sten: Busse brachten die über hundert Teilneh- macht und eingeübt. So zeigte Herr Gröger am mer nach Schulpforta bei Naumburg, wo einst Beispiel des Futurs, wie der Lehrer durch düste- Fichte, Nietzsche und von Wilamowitz die re Prophezeiungen das Tempus der Zukunft den Schulbank gedrückt hatten. Schülern näherbringen kann. Nach besinnlicher musikalischer Einleitung Die für die Officina Latina kurz bemessene Zeit durch den beeindruckenden Schulchor infor- verbot eine ausführliche Demonstration der ein- mierte Karl Büchsenschütz, der rector Porten- zelnen Beispiele, und dieses galt auch für den sis, in seiner Begrüßungsansprache unter ande- Beitrag von OStR Dr. THORSTEN EGGERS aus rem darüber, daß die ehemalige Fürstenschule, Hamburg. Er zeigte am Beispiel von Petrons die als Landesschule mit Internat einen heraus- Cena Trimalchionis, wie auch Schüler mit eben gehobenen Status besitze, wieder eine propor- nicht gerade günstigen Voraussetzungen in der tional große Anzahl an Lateinschülern und sogar Oberstufe zu einem durchaus anspruchsvollen einen griechischen Leistungskurs vorweisen Sprachunterricht hingeführt werden können, kann. Die Lebendigkeit der humanistischen selbst dann, wenn das eigentliche Übersetzen, Fächer stellten Schüler der Klassenstufe 9 so- aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr gleich mit einem lateinischen Theaterstück, auf dem Programm steht. Aus dem großen Ka- einstudiert von Frau Ute Glüer, unter Beweis, in talog von Übungen, die letztlich auf einen ein- dem sie darstellten, quomodo Hercules stabula sprachigen Lektüreunterricht abzielen, konnten Augiae purgavisset. Im weiteren Verlauf der nur wenige vorgestellt werden. Das praxisorien- Officina wurden nun Anregungen gegeben und tierte und mit großer Sorgfalt ausgearbeitete Möglichkeiten aufgezeigt, gesprochenes Latein Konzept von Dr. Eggers scheint von grundle- in den Unterricht einzubringen: Frau Wagner gender Bedeutung für den Fragenkomplex

91 „Lektüreunterricht und Latinitas viva“ zu sein über die Aktivitäten in der lateinsprechenden Welt und verdient es, in weiteren Veranstaltungen zur einholen. Lehrerfortbildung einem größeren Publikum 2) In diesem Zusammenhang verwies Frau Wagner auf entsprechende Sammlungen von Andreas Fritsch, zugänglich gemacht zu werden. Lateinsprechen im Unterricht, Bamberg 1990 Musikalisch verabschiedet wurden die Teilneh- (Auxilia 22), und von Sigrid Albert, Cottidianum Vocabularium Scholare, Saarbrücken 1992 mer durch einen flotten Rap mit dem Titel Ista, (erhältlich über: Societas Latina, Universität des den eine Wilhelmshavener Schülergruppe unter Saarlandes, FR 6.3, Postfach 151 150, DE-66041 Leitung ihres Lehrers EDGAR BARWIG aus dem Saarbrücken). Als weitere Anregungen für den la- deutschen „Die da“ ins Lateinische übertragen teinsprechenden Lehrer empfahl Frau Wagner Hans Ørbergs Lateinlehrgang nach einsprachiger direkter hatte. An das Ende dieses Berichts über die für Methode (Pars I: Familia Romana, 2. Aufl. 1991, die Freunde des gesprochenen Lateins erfreuli- Klett 61441; Voc. 61414; Pars II: Roma aeterna, chen Tage von Jena kann der Hoffnung Aus- 1990; Exercitia Latina, 1985; Colloquia person- druck verliehen werden, daß manche der Anre- arum, 1994; Indices, 1991, erhältlich über: Museums Tusculanums Forlaag, Njalsgade 92, DK-2300 gungen Eingang in den Schulalltag finden und København S, Danmark) sowie Miscellanea ad lin- so zunehmend Schüler wie Lehrer für die Lati- guam latinam linguasque recentiores attinentia, nitas viva gewonnen werden. hrsg. von Sigrid Albert, Johannes Kramer, Wolfgang Schweickard in der Reihe Romania Occidentalis, Bd. 1) Die L.V.P.A. war im Volkshaus durch einen eigenen 26, Verlag A. Lehmann, Veitshöchheim bei Würz- Stand, betreut von Frau StD Inge Pessarra-Grimm, burg 1994. vertreten. Dort konnten sich interessierte Kongreß- teilnehmer einen guten Überblick über die Literatur HANS-LUDWIG OERTEL, Würzburg zur Latinitas viva verschaffen und Informationen

Zur Lage des altsprachlichen Unterrichts in der Bundesrepublik Deutschland (Schuljahr 1994/95) Bericht vor der Vertreterversammlung in Jena am 9. 4. 1996

1. Die Vorsitzenden der Landesverbände (Stand April 1996) Baden-Württemberg Hamburg Baden-Nord: OStD Werner Koch OSchR i. R. Dr. Joachim Klowski Andreas-Counis-Str. 29, 75173 Pforzheim, Windröschenweg 28, 22391 Hamburg Baden-Süd: OStD Dr. Hans Freimann Hessen Holzgasse 32, 79539 Lörrach StD a. D. Walter Weidner Württemberg: OStD Peter Mommsen Stoltze-Str. 49, 63073 Offenbach Deyleweg 11a, 70186 Stuttgart Mecklenburg-Vorpommern Bayern GL Gerhard Kunack StR Dieter Friedel Dr. Martin-Luther-King-Str. 56, 19061 Schwerin Albrecht-Dürer-Str. 10, 83026 Rosenheim Niedersachsen Berlinund Brandenburg OStD Dr. Kurt Gieseking OStD Dr. Peter Lohe Gymn. Andreanum, Hagentorwall 17, 31134 Hildesheim Badener Ring 42, 12101 Berlin Nordrhein-Westfalen Bremen StD Dr. Gunther Scheda OStR Volker Lütjens Ulmenweg 4, 41564 Kaarst Max-Planck-Str. 39, 28357 Bremen

92 Rheinland-Pfalz sind durch einen neuen Erlaß zu „Mindest- Prof. Dr. Hans-Joachim Glücklich gruppengrößen“ (8 Schüler). Ähnliche (restrik- Myliusstr. 25a, 60323 Frankfurt a. M. tive) Vorgaben existieren in anderen Bundes- Saarland StD Klaus-Wender Keßler ländern leider schon längere Zeit. Deshalb kön- Niederbexbacher Str. 49a, 66450 Bexbach nen mancherorts selbst traditionsreiche Gymna- Sachsen sien ihr Griechisch-Angebot nicht aufrechter- Univ.-Doz. Peter Witzmann halten. Hinweise auf eine (problematische) Ko- Nöthnitzer Str. 28, 01187 Dresden operation großstädtischer Gymnasien zur Ein- Sachsen-Anhalt richtung von wenigstens einem Griechisch-Kurs Dipl-Phil. Kristine Schulz in Klasse 9 enthalten die Berichte nicht. - In Schulstr. 4, 06198 Salzmünde Rheinland-Pfalz versucht man durch Vorverle- Schleswig-Holstein StD Peter Petersen gung des Griechischunterrichts in Klasse 8 ver- Alter Sportplatz 17, 24248 Mönkeberg lorenes Terrain wiederzugewinnen. Thüringen Dr. Christoph Köhler Waltershäuser Str. 17, 99867 Gotha 3. Lehrer In den meisten Bundesländern gibt es keine nach Fächern differenzierte Erfassung von Pen- 2. Schüler sionierungen und Neueinstellungen. Daher kön- Während die Zahlen der Schüler mit Latein als nen die Berichterstatter nur die vorliegenden 2. Fremdsprache gegenüber 1993/94 im allge- Altersstatistiken bei Pensionierungen auswerten. meinen unverändert sind, gibt es bei Latein I in Wenn beispielsweise Niedersachsen mitteilt, mehreren Bundesländern Einbrüche (Berlin, daß 85 Altsprachler den Jahrgängen 1930-1933 Hessen, NRW). Im Saarland ist sogar die Ab- angehören, kann man daraus schließen, daß eine schaffung dieses Lehrgangs geplant. In den neu- dementsprechend hohe Zahl aus dem Dienst en Bundesländern hat sich LI noch nicht dauer- ausgeschieden ist oder in kurzer Zeit ausschei- haft etablieren können. Ansätze gibt es nur in det. Dagegen liegen für einige Bundesländer einigen Großstädten (Rostock; je drei Gymnasi- exakte Zahlen zu Neueinstellungen im Fach en in Sachsen und Thüringen). Latein vor, z. B. Baden-Württemberg 18, Bay- Von dem Angebot, Latein als 3. Fremdsprache ern 30, Hessen 9, Rheinland-Pfalz 17. Nebenbei zu lernen, machen - trotz der lernpsychologi- werden lange Bewerber- bzw. Wartelisten er- schen und organisatorischen Probleme - er- wähnt: Baden-Württemberg 193, Hessen 240. staunlich viele Schüler Gebrauch (in Klammern Vermutlich gibt es diese Listen auch in den an- jeweils die LI-Wähler): Berlin 4300 (1200), deren (westdeutschen) Bundesländern, werden Hessen 2350 (1020), NRW 4900 (3550), aber aus durchsichtigen Gründen von den Kul- Rheinland-Pfalz 1900 (900), Sachsen-Anhalt tusverwaltungen unter Verschluß gehalten. Die 2080. In der Oberstufe scheint sich der schon im geringen Einstellungschancen der letzten Jahre Vorjahr beobachtete Trend fortzusetzen: einem dürften der Grund für allgemein rückläufige Rückgang im Leistungskursbereich steht eine Referendarzahlen sein. Einige Bundesländer (z. erfreuliche Stabiliserung bei den Teilnehmer- B. NRW) signalisieren für die nächsten Jahre zahlen der Grundkurse gegenüber. höhere Einstellungsquoten in Mangelfächern, d. Zum Fach Griechisch: Bayern meldet, daß in 65 h. auch in Latein. Der Grundsatz, daß jede pen- Gymnasien Griechisch-Gruppen in Klasse 9 mit sionierte Lehrkraft durch eine Neueinstellung insgesamt 1120 Schülern bestehen. Während ersetzt wird, soll schon ab 1996/97 gelten. Bis- auch in den großen Bundesländern die Zahl der her haben rechnerische Überhänge dies Griechisch-Wähler in Klasse 9 unter 500 abge- verhindert: sie gibt es offensichtlich immer noch sunken ist, meldet Baden-Württemberg geringe in ostdeutschen Bundesländern. Das Problem Zuwächse, die jedoch mittelfristig gefährdet der Überhangstellen, verbunden mit Lehrerman-

93 gel im Fach Latein, gibt es auch in Berlin: man gionen wird ein weitaus geringeres Interesse versucht durch ein fünfsemestriges Weiterbil- gemeldet. dungsangebot sowohl an der FU als auch an der Die Veranstalter der Tagungen berücksichtigen Humboldt-Universität denjenigen Kolleginnen zunehmend neue Formen des Unterrichts: ange- und Kollegen, die Lateinunterricht fachfremd boten werden Themen wie Gruppen- und Pro- erteilen, das nötige Rüstzeug für den Berufsall- jektarbeit, Fächerübergreifender Unterricht, tag zu vermitteln. Die Abbrecherquote ist leider Schülertheater. Dies sind freilich Ausnahmen: ziemlich hoch: von 35 Teilnehmern eines Kur- die Palette traditioneller Themen ist deutlich ses gaben 13 vor dem Examen auf. größer.

4. Fortbildung 5. Wettbewerbe Zu Beginn der 90er Jahre mußten wir angesichts Die im letzten Bericht genannten Bundesländer der einsetzenden Sparmaßnahmen befürchten, führen auch weiterhin (unter starker Beteiligung daß Landesinstitute für Lehrerfortbildung und der Landesverbände) die Wettbewerbe für Ober- andere Institutionen das Angebot stark reduzie- stufenschüler durch. Trotz des Rückgangs der ren würden. Erfreulicherweise ist diese Ent- Zahl von Leistungskursen gibt es bei den Teil- wicklung auch 1995 nicht eingetreten: es gibt nehmerzahlen dieser Certamina keine Einbrü- nach wie vor zwei-, drei-, ja sogar fünftägige che. Offensichtlich haben die Verantwortlichen Fortbildungsangebote. Allerdings ist die Ten- bei der Themenstellung wie auch bei den An- denz zu beobachten, mehr regionale (eintägige) forderungen berücksichtigt, daß der Anteil der als zentrale (mehrtägige) Veranstaltungen Grundkursschüler gewachsen ist. durchzuführen. Auf regionaler Ebene bietet man Auch im Bundeswettbewerb Fremdsprachen zunehmend Nachmittagsveranstaltungen an. Es Latein (Sek. I) nahmen 1995 nur die im letzten gibt Klagen (insbesondere älterer Kollegen und Bericht genannten Bundesländer teil. Als Grün- Kolleginnen) über die starke Belastung durch de für die Nichtbeteiligung der übrigen werden Unterricht, Fahrt und Fortbildung an demselben organisatorische Schwierigkeiten und Überla- Tag. Die Landesverbände haben vielfach bei der stung der Lehrkräfte genannt. Die Vorbereitung Auswahl der Themen und Referenten freie der Schülerinnen und Schüler auf den Wettbe- Hand, während die mit der Fortbildung betrau- werb, die Ergebnisse und die Siegerehrung kön- ten Institute die Finanzierung (zumindest einen nen sich - das betonen mehrere Berichterstatter - größeren Teil der Kosten) übernehmen: diese sehr positiv auf den Unterricht auswirken. Regelung ist auch in den neuen Bundesländern eingeführt worden. Aus den Berichten geht leider nicht hervor, in- 6. Probleme des Unterrichts wieweit die Teilnehmer an mehrtägigen Veran- Die spezifischen und vielfältigen Schwierigkei- staltungen Kostenerstattung erhalten: in diesem ten des Altsprachlichen Unterrichts in den neuen Bereich kann man einschneidende Sparmaß- Bundesländern - fehlende oder nicht ausrei- nahmen voraussetzen. chende Unterstützung der Alten Sprachen durch An vielen Gymnasien unterrichten nur ein oder die / in den Ministerien, Förderstufe, Einführung zwei Altsprachler: angesichts dieser Isolierung von Latein I, Zustandekommen von L-III- müßte man stark an Fortbildung und den damit Kursen, von Griechisch-Kursen, von Kursen in gegebenen Möglichkeiten zum Meinungsaus- der Oberstufe, 12- oder 13-jährige Schuldauer - tausch interessiert sein. In Mecklenburg- prägen sich immer deutlicher aus und werden Vorpommern wird dieser Wunsch ausdrücklich wohl noch längere Zeit bestehen. In Sachsen gilt hervorgehoben: daher nehmen bis zu 80% der für die Unterrichtsdauer der ersten und zweiten Lateinlehrer an Tagungen teil. Aus anderen Re- Fremdsprache die sog. 6+4 Regelung: L II führt somit schon nach vier Jahren zum Erwerb des

94 Latinum; die vorhandene Neigung zur Abwahl men“): organisiert wurde er von den Elternräten des Faches in der Oberstufe wird hierdurch ver- der sieben Hamburger humanistischen Gymna- stärkt. sien. Der LV Rheinland-Pflaz erwähnt Vortrags- Was die alten Bundesländer betrifft, vermitteln reihen an altsprachlichen Gymnasien in Speyer, die Angaben zu 2. und 3. einen Eindruck der Ludwigshafen und neuerdings Bingen. In Lage (z. B. Griechisch, L I, sog. Mindestgrup- Rheinland-Pfalz ist eine Stiftung „Antike und pengrößen, Pensionierungen und Alterspyrami- Europa“ gegründet, in NRW die Elisabeth- de). Für den konkreten Unterricht beklagen Nie- Lebek-Stiftung „Lebendiges Latein e. V.“ ins dersachsen und NRW wohl stellvertretend für Leben gerufen worden. die meisten Länder auf Schülerseite mangelnde Merkfähigkeit, schlechtes Konzentrationsver- 8. Entwicklungen in der Bildungs- und mögen, Schwierigkeiten im strukturellen Den- Schulpolitik ken und beim Transfer. Die Tendenz, Schüler Die Sorgen in Baden-Württemberg um einen trotz schlechten Abschneidens in der Erpro- Rückgang des altsprachlichen Unterrichts zu- bungsstufe auf dem Gymnasium zu belassen, ist gunsten eines sog. naturwissenschaftlichen Pro- ungebrochen. fils bestehen fort. In Hessen ist mit Jahresbeginn Niedersachsen betont negative Auswirkungen im Rahmen einer Reform der Schulverwaltung der verkürzten Stundentafel in L I, der LV Saar eine Zusammenlegung der bisher getrennten das Vordringen rein mathematischer Zweige Institute für Lehrerfortbildung, Bildungsplanung sowie neusprachlicher Zweige mit Italienisch / Schulentwicklung und der Landesbildstelle bzw. Spanisch und ohne Latein, der LV Hessen erfolgt. In Hamburg besteht die schulpolitische die zunehmende Konkurrenzsituation von La- Absicht, bis zum Jahr 2000 in allen Hamburger tein und Griechsich im Fremdsprachenunterricht Grundschulen Englischunterricht ab der 3. Klas- allgemein. In Bremen garantiert die Schulbe- se einzuführen. Diskussionen um eine „Öffnung hörde das Zustandekommen von je einem des Unterricths“ und „Autonomie von Schule“ (schulübergreifenden) Latein- und Griechisch- haben in NRW Konjunktur. Um den im Jahr Grundkurs. Die anderen Kurse kommen nur bei 2000 zu erwartenden Schülerberg zu bewälti- 10 Teilnehmern oder mehr zustande. In Ham- gen, hat der Kultusminister in NRW drei Emp- burg haben etliche Kollegen ungehalten die fehlungen ausgesprochen: Heraufsetzung der Empfehlung der Behörde aufgenommen, Caesar Wochenstundenzahl für Lehrer, Reduktion der in der Mittelstufenlektüre nicht einzusetzen. Wochenstundenzahl für Schüler, Einsatz von Aushilfskräften (Referendare, Pensionäre, Leute 7. Maßnahmen zur Information und Wer- aus der Wirtschaft). bung In Mecklenburg-Vorpommern hat dagegen der Der werbende Effekt von Wettbewerben wird drastische Rückgang der Geburtenzahlen zu allgemein hervorgehoben, daneben wie in den einem Personalkonzept geführt, auf dessen Vorjahren die auf die spezielle Schule bezogene Grundlage die Lehrerzahl von derzeit 19.700 auf Werbung und das persönliche Gespräch als die 11.000 reduziert werden soll. Die Folgen für den erfolgreicheren Mittel. In Baden-Württemberg Unterricht in den Alten Sprachen sind zur Zeit hat das Kultusministerium ein Informationsblatt nicht absehbar. Für den Schuljahrsbeginn 96/97 zu den verschiedenen Sprachenfolgen an die soll ein neues Schulgesetz in Kraft treten. Grundschulen gegeben, in dem die Alten Spra- chen fair behandelt werden. Eine Steigerung der Anmeldezahlen für L I von 4% auf 6% in Ham- burg läßt sich offenbar in direkten Zusammen- hang bringen mit der Durchführung eines hu- manistischen Tages (Motto „Die Römer kom-

95 9. Zusammenarbeit zwischen den Verbänden des Gesamtverbandes von großem Nutzen. in den alten und neuen Bundesländern Hamburg regt die Bildung eines DAV- Sie ist weiterhin rege insbesondere bei geogra- Ausschusses zur Frage des Fremdsprachenunter- phischer Nähe bzw. Nachbarschaft. Teilweise richts in den Grundschulen an. Rheinland-Pfalz erfolgt ein Austausch von Mittelungsblättern der setzt sich dafür ein, die Fachdidaktik der Alten Landesverbände und Werbematerialien. Sprachen an den Universitäten stärker zu veran- kern, hierbei aber eine deutliche Abgrenzung zum (schon jetzt hohen) erziehungswissen- 10. Planungen und Anregungen schaftlichen Studienanteil im Auge zu behalten. Eine Arbeitsgruppe Latein in den neuen Bun- GUNTHER SCHEDA / THOMAS BRÜCKNER desländern scheint aufgrund der besonderen Gegebenheiten sinnvoll und auch hinsichtlich

Zeitschriftenschau

A. Fachwissenschaft wards, Porphyry’s ’Cave of the Nymphs’ and Gymnasium 103, 1996, H. 1: H. Steinthal, the Gnostic Controversy, 88ff.; N. Ehrhardt, Platons problematische Lehre, lff.; R. Klein, Die Ilias B 508 und die Gründer von Heraclea Pon- neu entdeckten Mainzer Augustinus-Predigten, tica, 101ff.; D. Pozzi, Deianira vere Oenei filia, S. 25ff.; N. Himmelmann, Ansichten von Sper- 104ff.; P. Kingsley, Empedocles’ Two Poems, longa, 32ff.; F. Heberlein, Über Dependenz und 108-111. - Historia 45, 1996, H. 1: N. G. L. verwandte Begriffe, 42ff.; D. Krömer, Hundert Hammond, Sparta at Thermopylae, lff.; F. Muc- Jahre Thesaurus linguae Latinae, 62-66. - H. 2: cioli, Eupator nella titolatura ellenistica, 2lff.; P. K. Volk, Hero und Leander in Ovids Doppel- J. Burton, The Summoning of the Magna Mater briefen (epist. 18 und 19), 95ff.; K. Rosen, Der to Rome (205 B.C.), 36ff.; A. Ezov, The Historiker als Prophet: Tacitus und die Juden, ’Missing Dimension’ of C. Iulius Caesar, 64ff.; 107ff.; H.-P. Drögemüller, Kosmas Aitolos. Ein V. N. Parfenov, Dynamis, Agrippa und der Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte des Friedensaltar. Zur militärischen und politischen Neugriechentums, 127ff.; G. Wöhrle, Körper- Geschichte des Bosporanischen Reiches nach pflege und körperliche Sauberkeit als Merkmale Asandros, 95ff.; N. Lewis, The Humane Legis- sozialer Differenziertheit in den homerischen lation of Septimius Severus, 104ff.; G. Fatouros, Epen, 151-165. - Hermes 124, 1996, H. 1: H. Julian und Christus: Gegenapologetik bei Liba- Erbse, Über Götter und Menschen in der Ilias nios? 114-123. - Museum Helveticum 53, Homers, lff.; R. L. Kane, Ajax and the Sword of 1996, H. l: D. Whitehead, Polis-toponyms as Hector: Sophocles, ’Ajax’ 815-822, l7ff.; R. E. personal entities (in Thucydides and elsewhere), Harder, Zur Personenverteilung in Aristopha- lff.; E. Bianco, Il capitolo XIV della nes’ ‚Rittern’, 29ff.; P. Barceló, Rom und Hi- ‚Lakedaimonion politeia’ attributa a Senofonte, spanien vor Ausbruch des 2. Punischen Krieges, 12ff.; S. I. Johnston - T. J. McNiven, Dionysos 45ff.; P. L. Maier, The Inscription on the Cross and the Underworld in Toledo, 25ff.; F. X. of Jesus of Nazareth, 58ff.; M. Deufert, Das Ryan, The Minimum Age for the Quaestorship Traumgedicht des Petron: Überlegungen zu Text in the Late republic, 37ff.; F. Ferrari, La genera- und Kontext von A. L. 651, 76ff.; M. J. Ed- zione precosmica e la struttura della materia in

96 Plutarco, 44-55. - Rheinisches Museum 139, griechischen Literatur, Longos’ Roman verdiene 1996, H. 1: C. W. Müller, Perikles über die po- aber wegen seines literarischen Wertes und we- litische Kompetenz des attischen demos (Thuk. gen des großen Einflusses auf die spätere euro- 2,40,2), lff.; M. Lossau, Unsinn oder Hinter- päische Romangattung mehr Aufmerksamkeit sinn? Aischyloslieder in Aristophanes’ und sei auch als Schullektüre bestens geeignet. - ‚Fröschen’, 6ff.; O. Zwierlein, Zur Datierung „Aphrodite - Venus: Erscheinungsformen einer von Senecas ‚De clementia’, l4ff.; H. Leppin, antiken Gottheit anhand ausgewählter Stellen Tacitus und die Anfänge des kaiserzeitlichen bei Sappho und Lukrez“ (15-28) ist das Thema Pantomimus, 33ff.; M. Lacknar, Überlegungen der Arbeit von Stephanie LERNBECHER beim zur Rahmenhandlung der dritten Ekloge Neme- Landeswettbewerb Alte Sprachen 1995: Sappho sians, 4lff.; J. Halfwassen, Das Eine als Einheit fleht ihre Göttin um Erfüllung ihrer Liebessehn- und Dreiheit. Zur Prinzipienlehre Jamblichs, sucht an, Lukrez hingegen bittet die Urmutter 52ff.; H.-U. Wiemer, War der 13. Brief des Li- der Römer um Frieden für den Staat. - K. banios an den späteren Kaiser Julian gerichtet? BRODERSEN stellt unter dem Titel „Principia 83-96. - Gnomon 68, 1996, H. 1: M. Erler über Geographiae: Antike Texte im frühen Erdkun- H. Jones, The Epicurean Tradition, 1-5; I. Niel- deunterricht“ (29-43) die geographischen Werke sen über F. Yegül, Baths and Bathing in Classi- des Pomponius Mela und des Dionysios von cal Antiquity, 50-53; E. Lefèvre: Nachruf Erich Alexandria aus dem 1. bzw. 2. Jahrhundert n. Burck, 85-92. - H.2: G. Rosati über C. M. Hin- Chr. vor. Sie und ihre Benutzer in Antike und termeier, Die Briefpaare in Ovids Heroides, Mittelalter bemühten sich vornehmlich um die 114ff.; W.-W. Ehlers über Frontinus, Stratege- Erfassung der in der antiken Literatur erwähnten mata, ed. Ireland, 120-123; K. Strobel über D. Stätten. Erst die Humanisten arbeiteten die ge- R. Schwartz, Agrippa I: The Last King of Ju- nannten Werke so um, daß sie der Erklärung der daea, 126-134. - H. 3: J. Glucker über C. Lévy, Geographie dienen konnten. Bis zur Einführung Cicero Academicus, 218ff.; C. Loutsch über H. eines eigenen Erdkundeunterrichts nach 1870/71 C. Gotoff, Cicero’s Caesarian speeches. A styli- bildeten sie den Kanon der Schul- und Hoch- stic commentary, 221-225; K. R. Bradley über schullektüre. ‚Sklaven und Freigelassene in der Gesellschaft In der Zeitschrift Damals (4, 1996) stellt J. der römischen Kaiserzeit’, hrsg. von W. Eck - J. GUTER den heiligen Hieronymus, den Überset- Heinrichs, 232-235. - Latein und Griechisch in zer weiter Teile der Bibel aus dem Hebräischen Berlin und Brandenburg 40, 1996, H. 1: E. bzw. Griechischen in das Lateinische (Vulgata), Mensching, ‚Eine römische Literaturgeschichte als „Bücherfreund und Patron der Gelehrten“ in fünf Vorträgen’ von Th. Birt, 37-44. - Vox (43-45) vor. - Einen Kurzbericht über die neue- Latina 32, 1996, H. 123: O. Böcher, De me- sten Grabungen in Pergamon gibt W. KORN: retrice Babylon et de sponsa Ierusalem, 2-11; C. „Dem Alltag im antiken Pergamon auf der Eichenseer, In honorem Prof.ris Caroli Varnerii Spur“ (47f.); das ganze Wohngebiet mit seinem Müller, 82-91. geradlinien Gassensystem und den unterirdi- ECKART MENSCHING schen Kanälen für die winterlichen Regenwas- sermassen (Hanglage der Stadt!) wurde genau dokumentiert, auch die byzantinische Stadtmau- B. Fachdidaktik er, aus der Carl Humann ab 1878 einen Großteil Das Werk des großen Stilisten, geschickten der Friesplatten des jetzigen Berliner Pergamo- Erzählers und eines Meisters der Ironie stellt A. naltars geborgen hatte, konnte neu datiert wer- WOUTERS in der Anregung (42, 1996, Heft 1) den: sie wurde nicht im späten 7. Jahrhundert, vor: „Longos’ ‚Daphnis und Chloe’ - ein an- sondern bereits in den 30er Jahren des 6. Jahr- spruchsvoller Roman für einen anspruchsvollen hunderts errichtet. - H. POHLENZ berichtet von Leser“ (1-14); zwar sei der Roman eine weniger den erfolgreichen Grabungen in Kalkriese bei bekannte und geschätzte Gattung der antiken Osnabrück: „Fand die Varusschlacht in Kalkrie-

97 se statt?“ (48f.): bei den Begehungen und Gra- Am 15. 1. 1996 brachte die F.A.Z. (S. 32) eine bungen gab das Schlachtfeld bisher mehr als Sonderseite zur Antike („Acta diurna, höchst 600 Teile römischer Militärausrüstungen und aktuell“) in der von KURT REUMANN betreuten mehr als 700 römische Münzen preis, keine Rubrik „Jugend schreibt“. Anlaß dazu war der einzige ist nach 9 n. Chr. geprägt worden. Der Berliner Landeswettbewerb „Lebendige Anti- Fundplatz ist etwa sechs Kilometer lang und an ke“, von dem die meisten Schülerbeiträge dieser der schmalsten Stelle etwa einen Kilometer Seite stammen: „Der Lügenbeutel als Vorbild. breit. - Die Gladiatorenspiele im Alten Rom Sokrates schwärmt vom vielgewandten Odys- nimmt sich ULRIKE DE VRIES vor: „Ein blutiges seus“, „Den Osten muß man überrollen. Varus Spektakel als Freizeitvergnügen“ (62-68), ein hält Tiberius für ein Weichei / Erobern statt Paradethema für ein Schülerreferat, hier sind Verhandeln“, „Iokastes tödliches Geheimnis. wichtige Aspekte aufgeführt. - ESTHER KNORR- Mutter und Frau des Ödipus / Die letzten Mi- ANDERS stellt das Berliner Museum für Vor- nuten der Königin“, „Immanuel, du Extremist! und Früdgeschichte im Schloß Charlottenburg Aristoteles und Kant im Gespräch über das vor: „Schätze aus dem Totenreich“ (70f.); zu Glück“, außerdem einige kleine Notizen wie ergänzen wäre, daß die dortige Ausstellung der „Trojas Eingrabung“ - ein Bericht über die Pro- Schliemannschen Sammlung trojanischer Al- bleme beim Eingrabungsprojekt der Heldenstadt tertümer und der Funde zur zweitausendjährigen zur Freude der späteren Archäologen, „Kopflose Geschichte Trojas ab April 1996 neu konzipiert Aphrodite“ (fehlende Körperteile machen einige wurde. Figuren erst interessant!) und „Hooligans in der Eine interessante Lektüre bietet die 36-seitige Palästra“; originell auch eine fiktive Anzeige Beilage zum Jubiläum „50 Jahre Rheinischer der Stadt Pompeji: „Wer kennt die Schmierfin- Merkur“ vom 15. 3. 1996 mit dem Titel: ken, die die Wände unserer Stadt mit diesen „Wurzeln. Die Grundlagen der europäischen Grafitti verunstaltet haben?“ Kultur und Zivilisation in der Welt der Antike“. Dem Thema „Welche Schule brauchen wir? Diese bunt bebilderte Beilage (Teilnehmer am Unterwegs in deutschen Klassenzimmern“ ist DAV-Kongreß in Jena erhielten sie in ihrer Ta- ein neues Heft der ZEIT-Punkte (2/1996) ge- gungsmappe) eignet sich gut für die Arbeit im widmet. Im Kapitel (dem umfangreichsten!) Latein- und Griechischunterricht und ist eine „Der ganz alltägliche Wahnsinn“ finden sich prächtige „Dekoration“ für den Fachraum. Die auch die alten Sprachen. Das originellste an dem Beiträge im einzelnen: M. HIELSCHER: Woher vierseitigen Artikel von R. LUYKEN ist noch der wir kommen, wohin wir gehen (Philosophie) - Titel „Abstieg vom Olymp“ (64-67); als Posi- W. WALDSTEIN: Wie die blinde Justitia das Wä- tivbeispiel für die Sinnhaftigkeit, Griechisch zu gen lernte (Recht und Gerechtigkeit) - W. lernen, wird Werner Heisenberg zitiert, anson- HOEPFNER: Im Giebel nehmen die Götter Platz sten folgen populistische Banalitäten wie (Architektur und Städtebau) - Erika FISCHER- „Wozu sich abquälen mit Latein? Was nützt LICHTE: Kritischer Blick in den Spiegel der Griechisch, da man die Klassiker doch in Über- Literatur (Theater und Literatur) - W. setzung lesen kann?“ oder „Warum haben die SCHWEIDLER: Vernunft stand an der Wiege der Humanisten 1933 nicht verhindert?“ Die zitier- Demokratie (Politik und Gesellschaft) - K.-W. ten Fachvertreter von Peter Neukam über Albert WEEBER: Heureka! rief der Forscher im Bade von Schirnding bis Ernst Vogt werden mit baye- (Wissenschaft und Technik) - H. SCHNEIDER: risch eingefärbter Diktion und isolierten Zitat- Mit der Zeitmaschine ins Bildhauerparadies brocken (wenn es denn welche sind!) als welt- (Kunst und Ästhetik) - K. BAYER: Die schöne fremde Figuren karikiert: „Für Studiendirektor Mutter der Sprachen und ihre Liebhaber (Die Bissinger ist ‚das Kapitel Humanismus abge- lateinische Sprache) - K. BERGER: Der neue schlossen. Das kann uns gar nicht mehr interes- Herrscher wird ein Sohn der Sonne sein sieren. Werte vermitteln tun wir in diesem Sinne (Griechentum und Christentum). nicht. Das ist nicht unser Geschäft’... ‚Ja mei’,

98 sagt Fachbetreuer Brumberger, ‚gegen die dieses internationalen Ereignisses steht die Mentalität der Leute, die immer damit argu- „Odyssee in Marmor“ von Sperlonga. mentieren, daß es nichts nützt, gegen die kann Mit der auffälligen Abneigung Platons, seine man halt nicht ankommen.’“ - Solche Schreibe Lehrmeinungen klipp und klar vorzutragen, provoziert die Gegenfrage: Wer braucht solchen befaßt sich H. STEINTHAL in „Platons problema- Journalismus? tische Lehre“ im Heft 1, 1996, 1-24 der Zeit- In der Zeitschrift Antike Welt. Zeitschrift für schrift Gymnasium. Er untersucht, wie Platons Archäologie und Kulturgeschichte (Verlag Dialoge trotz der porblematisierenden Form eine Philipp von Zabern, Mainz) 27, 1996, Heft 2 prägnante Lehre zum Ausdruck bringen und wie geht H. SCHLANGE-SCHÖNINGEN der momentan die dabei auftretenden Widersprüche zu verste- heftig diskutierten Frage nach: „Alexandria - hen sind. - Einen kritischen Diskussionsbeitrag Memphis - Siwa. Wo liegt Alexander der Große „Ansichten von Sperlonga“ (32-41) liefert N. begraben?“ (109-119). Der reich illustrierte, HIMMELMANN, wobei er die von Andreae geäu- spannende Aufsatz (u. a. mit Rekonstruktions- ßerten Bezüge zu Ovids Metamorphosen in versuchen des in zweijähriger Arbeit gebauten Zweifel zieht. - „Über Dependenz und ver- Leichenwagens Alexanders, in dem er von Ba- wandte Begriffe“ (42-61) schreibt F. HE- bylon nach Ägypten überführt werden sollte - BERLEIN, der bedauert, daß es um die Depen- dies fast ein Politkrimi!) eignet sich gut als Ba- denzgrammatik in der deutschen Latinistik im sis für ein Schülerreferat. Im Hinblick auf die Gegensatz zu den Neuphilologien still geworden jüngsten irreführenden Nachrichten zum Alex- ist. Der Schwerpunkt seines Beitrages liegt bei andergrab betont der Verfasser, daß angesichts der Frage, „wie der Grundbegriff der Abhängig- der nur ungefähren Kenntnis der Lage des Alex- keit und die mit ihm zusammenhängenden Be- andergrabes und der ungünstigen Grabungsbe- griffe Rektion und Modifikation sowie Valenz dingungen in der belebten Großstadt Alexandria theoretisch begründet werden können.“ - Hin- ein spatenstichhaltiger Beweis kaum zu erwar- zuweisen ist in Heft 2 auf die Beiträge von Ka- ten sei. - Einen römischen Himmelsglobus (im tharina VOLK: „Hero und Leander in Ovids Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Doppelbriefen (epist. 18 und 19)“ (95-106), K. Mainz), wie man sie vom Solarium Augusti auf ROSEN: „Der Historiker als Prophet: Tacitus und dem Marsfeld in Rom kennt, stellt W. KÜNZL die Juden“ (107-126) und G. WÖHRLE: vor: „Sternenhimmel beider Hemisphären. Ein „Körperpflege und körperliche Sauberkeit als singulärer Astralglobus der mittleren Kaiserzeit“ Merkmale sozialer Differenziertheit in den ho- (129-134). - Mancher DAV-Kongreßbesucher merischen Epen“ (151-165). - In der Rubrik hat in Jena das Stadtmuseum und die dortige Besprechungen (185f.) empfiehlt R. VISCHER, Ausstellung besichtigt, über die Verena PAUL- ein Latein-Lehrbuch besonderer Art zu beachten ZINSERLING berichtet: „Der Jena-Maler. Eine und zu erproben, den im Selbstverlag von der Töpferwerkstatt im klassischen Athen“ (135- Tübinger Lehrbeauftragen Br. MANNSPERGER 139). - Nicht die Objekte der Ausstellung herausgegebenen Band „Latein Lernen beim „Odysseus - Mythos und Erinnerung. Zur Aus- Lesen. Sprachlehre mit Wortkunde. Einführung stellung im Palazzo delle Esposizioni zu Rom“ in die Lektüre lateinischer Schriftsteller. Caesars (noch bis 2. 9. 1996), sondern die Form, in der Bellum Gallicum für Universitätskurse und zum sie in dieser Ausstellung zu einer neuen Einheit Selbstunterricht, 1994, 223 S. DM 20,- gebracht wurden, ist das Thema des Beitrages (Haselweg 18, 72076 Tübingen). (141-146) von B. ANDREAE; im Mittelpunkt JOSEF RABL

99 Besprechungen

Antike aktuell. Eine humanistische Mitgift für Ganz zu schweigen von einer immer wieder Europa. Kleine Schriften von Friedrich Maier. notwendigen Neubestimmung der eigenen Be- Eingel. u. red. v. Klaus Westphalen. Bamberg: rufsidentität, die allein das Fundament einer auf Buchner 1995. 288 S. 49,80 DM. (ISBN 3-7661- die Adressaten dieses Bildungsangebots aus- 5695-0). strahlenden Motivation sein kann. Die „Techno- „Kleine Schriften“ werden traditionsgemäß zu logische Herausforderung“ und der damit ver- Ehren verdienter Wissenschaftler an einem mar- bundene wissenschafts- und bildungstheore- kanten Punkt ihres Lebenslaufes ediert, um dann tische Diskurs ist eines der grundsätzlichen häufig einen Platz im Regal einer Institutsbi- Themen, die Maier in diesem aktualisierenden bliothek zu beziehen und der Erwähnung in Band seiner Didaktik erörtert. „Humanistische dieser oder jener Fußnote zu harren. Dieses Bildung“ komplementär zur naturwissenschaft- Schicksal wird der Sammlung „Antike aktuell“, lich-technischen Bildung zu vermitteln, bedeutet herausgegeben zum 60. Geburtstag Friedrich für das Gymnasium, den Menschen „fähig zu Maiers, wohl kaum bestimmt sein. Schon das machen, Kultur zu erfahren, zu vermitteln und Äußere des Bandes macht deutlich, daß er als zu stiften“. Notwendig ist „die stärkere Beto- Fortsetzung des bislang dreibändigen Standard- nung all jener Akte und Prozesse, in denen werkes „Lateinunterricht zwischen Tradition Kultur reproduziert oder neu geschaffen wird, in und Fortschritt“ verstanden und gebraucht wer- Tanz, Mimik, Gebärde, in Musik in bildneri- den will, als ein Handbuch für die Ausbildung scher Gestaltung, zu allererst sicher in der Pfle- und die Praxis des altsprachlichen Unterrichts ge und Aneignung der Sprache“. Dies aber nicht also, wobei diesmal auch das Griechische mit im Sinne einer übertriebenen linguistischen einigen Beiträgen berücksichtigt ist. Grundsätz- Sprachreflexion, „wenn eine zu stark me- liches ist von daher zu erwarten und darüberhin- tasprachlich gestützte Bearbeitung die formalen aus eine Orientierung an den Bedürfnissen des Bezüge über die Inhalte stellt“, sondern in der realen Unterrichts: Modelle, die die Umsetzbar- Heranbildung eines Bewußtseins von Sprache keit didaktischer Theorie zu veranschaulichen als Medium der „Erfahrungen der Vergangen- vermögen. heit“. Die unter den Schwerpunkten „antike Tradition im gegenwärtigen Europa“ und Altsprachliche Bildung versteht sich nicht mehr „Interpretation antiker Texte als Denkmodelle“ von selbst, und dieses Problem ist nicht neu: gesammelten Beiträge konkretisieren diesen „Warum sollten wir uns dann mit einer fremden Anspruch. Andererseits erscheint die sprachli- Sprache so lange Zeit und so erbärmlich martern che Bildung hier in guter Gesellschaft anderer lassen?“ zitiert Maier aus einer Festrede an der Formen kultureller Produktion. Diese Erweite- Bayerischen Akademie der Wissenschaften - im rung der Perspektive zeigt durchgängig Wir- Jahre 1765. „Wie fremd ist uns die Antike?“ kung: Das Buch ist eine Fundgrube von Rezep- Fremd bleibt sie selbst dem Altphilologen, der tionsdokumenten, von Kunst und Karikatur, von sich ihr mit wissenschaftlicher Distanz nähert. Collagen und Verfremdungen. Um wieviel fremder muß sie dann den Schüle- rinnen und Schülern sein, die das zahlenmäßig „Kreativitätserziehung in altsprachlichen Unter- größte Publikum bilden, mit dem es ihre profes- richtsprojekten“ ist einen eigenen didaktischen sionellen Vermittler zu tun haben. Auf jeden Schwerpunkt wert, zumal wenn das „Gesicht Fall ist die Antike auf den Nachweis ihrer Ak- des Krieges“ in der Schlußszene der Aeneis von tualität angewiesen, argumentative Fitness ihrer einem „jungen Vergilleser“ illusionsloser und Vertreter in bildungstheoretischen und schulpo- damit angemessener dargestellt wird als von litischen Diskussionen ist dringend geboten. seinen professionellen Vorgängern.

100 „Distanz und Identifikation“, „Fremdheit und nung von Literatur zu schaffen“: Vom Umset- Vertrautheit“, „Ferne und Nähe“ prägen das zen ins Bild, dem Umgestalten in eine neue Verhältnis zu den Traditionen des eigenen Le- Textsorte, über schriftliche Stellungnahme zu bensraumes, für Maier Geschichte und Kultur Textaussagen, Übersetzungswettstreit usw. bis Europas. Ob die Rolle außereuropäischer Kultu- zur literarischen Inszenierung reichen die be- ren bereits stärker in diesen Prozeß der Identi- schriebenen Möglichkeiten. Die Umsetzung des tätsbildung einbezogen ist, als Maier dies für die „Furor“-Motivs der Aeneis in unterschiedlichen Gegenwart vermutet, soll hier nicht erörtert Formen kreativer Rezeption macht deutlich, werden. Fest steht auch für diesen Fall, daß die welches Niveau hier erreichbar sein kann. Reflexion über die oft kaum bewußte Präsenz Den Schlußteil des Bandes bilden sieben Bei- gedanklicher und sprachlicher Prägungen die spiele zur „Interpretation antiker Texte als Voraussetzung für einen wirklich fruchtbaren Denkmodelle“, darunter auch zwei Anregungen Dialog bildet. „Europa auf dem Weg nach Eu- für den Griechischuntericht, die thematisch an ropa“ heißt ein ideengeschichtlicher Längs- die grundsätzlichen Ausführungen zur Rolle schnitt, der über 3000 Jahre die Entwicklung antiker Texte für das europäische Selbstver- von einem noch recht unscharfen geographi- ständnis anknüpfen, besonders an die Diskus- schen Begriff zum politischen Symbol nach- sionen um den Freiheitsbegriff: „Frei-Sein in zeichnet. Einige der seit der Antike immer wie- Hellas“ als Problem des Demaratos-Gesprächs der neu verhandelten und verwandelten zentra- bei Herodot und „Gesetze des Staates - len Themen oder „Stichwörter“ der europäi- ‚Gewissen der Bürger’“, die Nachzeichnung der schen Tradition werden exemplarisch in ihren Diskussion um die Begründung und subjektive immer neuen Gestalten und Verbindungen vor- Geltung der Gesetze des Staates bei Solon, So- gestellt: „Freiheit und Weisheit“, Sisyphus, Ika- phokles und Platon. Insgesamt zeigen alle diese rus, die Kapitolinischen Gänse, das Staatsschiff. Beiträge - die Ausführungen zu Vergil und zu Das Problem der Bildung eines Kanons teils seiner Bedeutung für den vor den Nazis geflo- sich ergänzender, teils konkurrierender Werte henen Herrmann Broch, die Überlegungen zur tritt in den Bemerkungen zur Entdeckung der Behandlung der Verres-Reden als eindrucks- Kardinaltugenden und besonders in der Gegen- volles und zugleich problematisches Exempel überstellung von Francis Bacon und der bibli- des Einsatzes der Sprache als Waffe, die Aus- schen Schöpfungstradition in den Vordergrund: führungen zum fragwürdigen Freiheitsbegriff im „Wissen ist Macht“ und „Macht Euch die Erde Mithridates-Brief des Sallust oder zur aktuali- untertan“, stehen als „epochale Sätze, die die sierenden Auswahl der Texte einer Tacituslektü- Welt veränderten“, über einem kritischen Bei- re - daß bei der Behandlung unterschiedlichster trag zun den geistigen Wurzeln des Selbstver- Autoren und Textgattungen im altsprachlichen ständnisses des gegenwärtigen Europa. Es dürfte Untericht politische Bildung geradezu zwangs- fast überflüssig sein darauf hinzuweisen, daß läufig Ziel und Gegenstand der Beschäftigung alle diese Beiträge Hinweise, Hilfen und Mate- mit Literatur werden muß. Und gerade die in- rialien für konkrete Unterrichtsprojekte bein- tensive Beschäftigung mit den Texten in ihrer halten. originalen Sprache erzeugt hier ein Bewußtsein Diese Verbindung von didaktischer Theorie mit für die grundsätzliche Relevanz der dort ver- konkreten Anregungen für die Unterrichtspraxis handelten Fragen. Daß die Antike Aktualität kennzeichnet auch den Abschnitt zur „Kreativi- besitzt, daß es nicht notwendig ist, sie museal zu tätserziehung in altsprachlichen Unterrichtspro- konservieren noch sie künstlich zu modernisie- jekten“: Wenn der Lernende sich in der antiken ren, daß aber eine Menge kreativer pädagogi- Literatur vielleicht einmal ansatzweise „zu Hau- scher Arbeit zu leisten ist, um die notwendigen se“ fühlen soll, gilt es „zugleich ein kognitives Brücken für immer neue Schüler immer wieder und affektives Fundament dafür zu bauen“, und neu zu schlagen, dafür bietet die Sammlung der das heißt auch „Freiräume zur kreativen Aneig- „Kleinen Schriften“ Friedrich Maiers eine Fülle

101 anregender Beispiele. Das Nachschlagen lohnt bingen, Basel: Francke 1995. 655 S., 2 Kt. sich. 48,00 DM (ISBN 3-7720-1036-9). HARTMUT SCHULZ, BERLIN Die Aktualisierung eines Lexikons gleich wel- cher Fachrichtung ist nach mehr als zwanzig Jahren ein Muß, um den Wissenszuwachs inner- Bartels, Klaus: Wie Berenike auf die Vernissage halb eines solchen Zeitraums angemessen zu kam. 77 Wortgeschichten. Darmstadt: Wis- erfassen. Dementsprechend wird hier laut Un- sensch. Buchges. 1996. 190 S. 28,00 DM tertitel eine gegenüber der fünften Auflage von (Mitgliederpreis; in anderer Ausstattg. auch 1974 „völlig neubearbeitete und erweiterte“ Teil der Besonderen Wissenschaftlichen Reihe sechste Auflage vorgelegt. Um es gleich vor- 1996). (ISBN 3-534-12923-7). wegzunehmen: Der Titelzusatz „völlig neubear- Klaus Bartels’ Plaudereien über Herkunft und beitet“ trifft nur mit Einschränkungen zu. Schicksal so mancher Fremdwörter von Akade- Ca. 70 Stichwörter sind neu dazugekommen. miker bis Zyniker und so mancher, denen man Dabei handelt es sich vorwiegend um Eigenna- ihre griechische oder lateinische Herkunft gar men. Die größte Gruppe machen hierbei Namen nicht mehr ansieht, wie Kater (von Katarrh) geographischen Inhalts aus, unter denen auf oder Palaver (von παραâïλÞ) sind allemal neue archäologische Funde bzw. Forschungen hübsch und interessant zu lesen. Dies (wieder hingewiesen wird, z. B. Germania Romana, einmal) festzustellen, ist freilich nicht Zweck Haltern, Knossos, Lusitania, Oplontis, Pfünz, dieser Anzeige, vielmehr eine Warnung: Die Riace. Ferner sind etwa 15 Personennamen, vor Wissenschaftliche Buchgesellschaft hat sich hier allem spätantiker Autoren wie Arator, Ephraem, etwas geleistet, was ich nur als verlegerische Fulgentius, Possidius, Triphiodorus neu aufge- Unverschämtheit bezeichnen kann (für die der nommen; es ist allerdings zu fragen, warum Verfasser selbst wohl kaum verantwortlich zu dann nicht auch noch weitere spätantike Auto- machen ist). Das Buch ist lediglich eine Erwei- ren wie Reposianus und Luxurius oder anonyme terung des bekannten Buches „Wie die Ampho- Werke wie die „Aegritudo Perdicae“ oder der re zur Ampel wurde. 49 Wortgeschichten“, das „Alcestis-Papyrus“ aus Barcelona (1982 erst- 1987 bei dtv erschienen ist, um weitere 28 Ka- mals veröffentlicht!) Erwähnung gefunden ha- pitel. Fast zwei Drittel des Buches sind also ben. Ungefähr zehn der neuen Artikel behandeln unter anderem Titel längst bekannt. Der Leser Realien wie Annona, Haus, Seefahrt, Solarium erfährt das aber erst aus der Rückseite des Titel- Augusti, Straßen; bedauerlich ist jedoch, daß blattes, wenn es also zu spät ist und er das Buch Stichworte wie Familie, Frau, Kind keinen eige- bereits gekauft hat. Weder im Jahreskatalog nen Raum bekommen, sondern nur unter dem noch in den Mitgliederbriefen „Express“ ist Begriff Ehe auftauchen, während Freigelassene auch nur die leiseste Andeutung davon zu fin- und Sklaven jeweils durch eigene Artikel abge- den. Zwar sind die Wortgeschichten nicht aus- handelt werden. Überhaupt ließen sich etliche drücklich als „neu“ bezeichnet. Der unbefange- Aspekte des Alltagslebens, die nicht nur in der ne Leser muß aber davon ausgehen, daß sie es Forschung, sondern auch in der Schule immer sind - und wird hinters Licht geführt. größeres Interesse finden, wenigstens durch HANSJÖRG WÖLKE zusammenfassende Artikel hinzufügen, bei- spielsweise Ernährung, Erziehung, Handwerk, Sexualität, Tierwelt. Hiltbrunner, Otto: Kleines Lexikon der Antike. Die Auswahl der neuen Artikel orientiert sich Umfassend die griechisch-römische Welt von damit an den bisherigen Schwerpunkten dieses ihren Anfängen bis zum Beginn des Mittelalters Lexikons: Vorrang der Eigennamen vor den (6. Jahrhundert n. Chr.).Unter Mitarb.v. Marion Sachbegriffen, angemessene Berücksichtigung Lausberg. 6. völlig neubearb. u. erw. Aufl. Tü- der christlichen und späten Antike sowie Ver-

102 weise auf archäologische Denkmäler, deren same Werke nicht zwangsläufig aufgrund ihres Bedeutung der Verfasser als Zugang zur Antike Alters gestrichen (z. B.: FRIEDLÄNDER: Platon; angesichts abnehmender Sprachkenntnisse hoch MUNARI: Ovid). Wünschenswert wären häufige- einschätzt (Vorwort). Ausdrücklich nicht zu den re Hinweise auf Spezialbibliographien zu ein- Schwerpunkten zählt das Fortwirken der Antike zelnen Autoren (z. B. Aischylos, Aisopos, Au- (Vorwort); dennoch sollte über die Aufnahme sonius, Kallimachos, Pindar, Platon) gewesen, einiger grundsätzlicher Artikel wie Mittellatein, wie es bei Augustinus geschehen ist, ebenso Neulatein, Überlieferung nachgedacht werden. eine konsequentere Nennung von ANRW- Die bereits in der Vorgängerauflage stehenden Artikeln zu lateinischen Autoren der frühen Artikeltexte sind - abgesehen von den bibliogra- Republik und Autoren der frühen Kaiserzeit, da phischen Angaben - offensichtlich nur wenig diese Artikel zum Teil wertvolle bibliographi- überarbeitet worden. Damit wurde bedauerli- sche Hinweise bieten, zum Teil überhaupt die cherweise nicht die Gelegenheit genutzt, sehr einzige neuere Literatur darstellen. verkürzte und dann unter Umständen verfäl- Die Aktualisierung des Einleitungsabschnitts schende Angaben zu erweitern (z. B. wird der „Wichtigste allgemeine Literatur“ scheint mir lateinische Dichter Dracontius auf diese Weise nicht ganz geglückt. Vor allem in den Bereichen auf seine christlichen Werke reduziert) oder politische Geschichte und Privatleben hätten sprachliche Modernisierungen vorzunehmen. ältere Darstellungen gestrichen und neuere Lite- Insbesondere die Verwendung wertender Ad- ratur erwähnt werden müssen: etwa einem jektive (Apollonios Rhodios: „schöne Lie- Schwerpunkt des Lexikons entsprechend A. besszene Iason-Medeia“, S. 56; Ennodius: DEMANDT, Die Spätantike, München 1989 „schwer genießbare[r] rhetorisch-pre- (Handbuch der Altertumswissenschaften Band ziöse[r] Modestil“, S. 174; Kassandra: 3,6) oder P. VEYNE (Hrsg.): Die Geschichte des „erschütternde Szene im Agamemnon des privaten Lebens, Bd. 1, Frankfurt/M. 1989, P. Aischylos“, S. 280 u. a.) sind m. E. in einem SCHMITT PANTEL (Hrsg.): Geschichte der Frau- Lexikon fehl am Platz. en, Bd. 1, Frankfurt/M. 1993. Ein Versehen ist Dafür sind - angesichts der Literaturflut und der es wahrscheinlich, daß bei den seit 1975 er- Vielzahl der Stichwörter keine leichte Aufgabe - schienenen Übersetzungen des Reclam-Verlags die bibliographischen Angaben zu den einzelnen häufig die Jahresangaben fehlen, bei den seit Artikeln bis ins Jahr 1994 aktualisiert worden, 1975 herausgegebenen WdF-Bänden grundsätz- wobei nicht nur die deutschsprachige Literatur, lich die Bandzahl. sondern auch die der „europäischen Hauptspra- Trotz verschiedener Einwände machen das chen“ (Vorwort) angemessen berücksichtigt ist. handliche Format, das leicht veränderte, m. E. Zahlreiche Stichwörter, die vorher keinen eige- übersichtlichere Druckbild (etwas größere Ab- nen bibliographischen Nachweis hatten, sind stände zwischen den einzelnen Artikeln; eigene jetzt mit Literaturangabe(n) versehen, so z. B. Abschnitte für jeden Buchstaben des Alphabets Achates, Dreißig Tyrannen, Gorgo, Hymenaios. statt fortlaufender Aneinanderreihung der Arti- Bei den Artikeln über antike Autoren sind ins- kel) und vor allem die aktualisierten bibliogra- besondere die Angaben zu Texten, Kommenta- phischen Hinweise das Lexikon insgesamt zu ren und Übersetzungen auf den neuesten Stand einem brauchbaren, zuverlässigen Hilfsmittel gebracht worden; zu einigen Autoren (u. a. für den ersten Überblick. Für den Lehrer dürf- Anakreon, Pausanias) konnte erstmals Sekun- ten besonders die zahlreichen archäologischen därliteratur beigefügt werden. Insgesamt habe und kunstgeschichtlichen Stichwörter (z. B. ich für den Bereich der Sekundärliteratur den Dornauszieher, Gemme, Igeler Säule, Mosaik, Eindruck, daß erfreulicherweise mehr Literatur- Plastik, Sarkophag) von Interesse sein. Hier angaben ergänzt als ersetzt wurden; zu Recht hat deckt das „Kleine Lexikon der Antike“, soweit der Verfasser forschungsgeschichtlich bedeut- ich sehe, gleichsam eine Marktlücke ab und kann bei der Vorbereitung von Museumsbesu-

103 chen und Studienfahrten nützliche Hinweise gen zur Wiederholung (mit Übersetzungsvor- bieten. schlägen) angefügt. BRIGITTE WEBER, Berlin Im Vergleich mit den gängigen Grammatiken ist das Buch optisch wie inhaltlich hervorragend gegliedert, für das Einprägen eine unschätzbare Hilfe. Die grammatischen Regeln sind über- Holzhausen, Jens: Griechische Stilübungen I. sichtlich und eingängig aufgelistet, zugleich auf München: Lindauer 1995. 208 S., 18,00 DM. das Wesentliche reduziert. Für den Anfänger, (ISBN 3-87488-431-7). der mit der griechischen Sprache nur wenig Im Griechisch- wie im Lateinstudium dienen vertraut ist, sind so weitere Hilfsmittel zum Ver- Grammatiken und Repetitorien als wichtige ständnis unerläßlich. Derartige weiterführende Begleitwerke für die Stilübungen. Eigene Werke Erklärungen sind vom Verfasser allerdings be- jedoch, die unterrichtsbegleitend speziell auf wußt unter Hinweis auf die Grammatiken bei- deren Pensum ausgerichtet sind, fehlten bislang. seitegelassen worden. Das vorliegende Buch entwickelt ein modernes, Für schulische Zwecke, die der Autor auch zu in seiner Form neuartiges Kompendium, das berücksichtigen versuchte, muß der vorliegende ganz auf die Vorgehensweise und den Lernstoff Lernstoff bereits eingeführt sein. Mittels dieses griechischer Stil- und Sprachübungen ausge- Kompendiums kann dieser zweifellos sehr gut richtet ist und damit auf praktische Sprachübung gefestigt werden, da er sich auf das Wesentliche zielt. Es versucht nicht, mit den gängigen beschränkt und dabei keineswegs unvollständig Grammatiken in Konkurrenz zu treten. bleibt. Für Schüler dienen die meisten Kapitel Komprimiert und in übersichtlicher Anordnung als wertvolle Zusammenfassung und abschlie- ist es sowohl für den Kursunterricht als beglei- ßende Besprechung eines behandelten Lern- tendes Lehrwerk als auch im Selbststudium für stoffs. Sehr gelungen erscheinen hier die Über- Fortgeschrittene geeignet, nämlich „für Stilkur- sicht über die Modi im Hauptsatz, die Aufli- se und Sprachübungen an den Universitäten“ als stungen der Verbgruppen, die bestimmte Kasus auch „für Schülerinnen und Schüler der gymna- nach sich ziehen (Genitiv, Dativ, Akkusativ) - sialen Oberstufe“, also „für alle, die ihre Kennt- diese sind im übrigen ausführlicher als in den nisse des Altgriechischen verbessern oder wie- meisten gängigen Grammatiken -, außerdem die derholen wollen“. Der Verfasser hat den von sehr umfangreiche Auflistung von Verben, die ihm konzipierten Lehrgang selbst in Universi- mit Partizip und Infinitiv in unterschiedlicher tätskursen erprobt. Bedeutung stehen, oder auch das Kapitel über Die gesamte Syntax der griechischen Sprache die Relativsätze. Andere inhaltlich anspruchs- wird in 15 Kapiteln systematisch zusammenge- vollere Kapitel sind dagegen didaktisch zu we- faßt. Die Formenlehre wird als bekannt voraus- nig aufbereitet, als daß man sie Schülern an die gesetzt. Zu Beginn jedes Kapitels wird eine Hand geben könnte, insbesondere die Kapitel Übersicht über das jeweilige grammatische Pen- über die Nebensätze (Temporal-, Lokal-, Kau- sum gegeben, die zur gleichzeitigen Wiederho- salsätze, Komparativ-, Konsekutiv-, und Final- lung der syntaktischen Grundlagen dient, wobei sätze). Hierbei wäre es wünschenswert, wenn grundsätzlich auf die gängigen Grammatiken unmittelbar im Anschluß an die Regeln Bei- zum Zwecke der Vertiefung verwiesen wird. spielsätze gegeben wären, was der Verfasser Jedes Kapitel beschließen 25 deutsche Übungs- bewußt unter Hinweis auf die Übungssätze, die sätze, anhand derer der grammatische Stoff ge- den Schwerpunkt dieses Buches bilden, beisei- zielt eingeübt und gefestigt werden soll. Am tegelassen hat. Der Leser muß daher die deut- Ende des Buches wird zu jedem dieser Sätze ein schen Sätze vollständig durchgehen, um den für Übersetzungsvorschlag gegeben. Nach dem eine betreffende Regel geeigneten Übungssatz vollständigen Durchgang sind nochmals Übun- zu finden. In den Übersetzungsvorschlägen wird zwar auf die jeweiligen Regeln in der Darstel-

104 lung des Grammatikstoffes zurückverwiesen. men hat, mit einem Forschungsprojekt beteiligt, Der Verfasser hätte jedoch auch bei der Dar- darf man dabei neueste Erkenntnisse erwarten stellung des Grammatikstoffes auf die jeweili- und wird nicht enttäuscht. gen Sätze vorverweisen sollen, wodurch die Die Ursprünge von Olympia als Kultplatz lassen Handhabung vereinfacht worden wäre. Ein sich bis ins 11. Jh. v. Chr. verfolgen. Zeus und deutsches Sachregister würde hierbei die Suche Gaia als Garanten für die Erhaltung der Lebens- vereinfachen. grundlagen galt die Verehrung. Zunächst unter- Abschließend läßt sich sagen, daß Holzhausen schied sich Olympia lange Zeit nicht von der mit dem vorliegenden Buch eine äußerst über- Vielzahl der Verehrungsstätten des umliegenden sichtliche und komprimierte Materialsammlung Landes. Wenn es dort während der Feste auch der griechischen Syntax gelungen ist, die syste- schon Wettläufe gegeben haben sollte, so waren matisches Lernen ebenso wie gezieltes Wieder- sie nichts als Konvention griechischer Kultfeste holen ermöglicht. Ihre Anschaffung ist insbe- ganz allgemein. Berühmtheit erlangte Olympia sondere für Studierende zu empfehlen, die dagegen zunächst durch das Orakel des Olympi- zwecks Prüfungsvorbereitung eine kurze, aber schen Zeus, wie Strabon berichtet. In der Tat: vollständige Wiederholung der griechischen kaum eine der denkwürdigen Schlachten der Syntax oder zwecks besserer Orientierung beim griechischen Geschichte, so Ulrich Sinn, sei Erlernen der griechischen Sprache komprimierte ohne die Anwesenheit eines Mitgliedes der Prie- Merksätze benötigen. Die meisten Kapitel sind sterfamilien der Iamiden oder der Klytiaden auch für schulische Zwecke geeignet. abgelaufen. Das Orakel von Olympia sei näm- Ein zweiter Band wird vom Verfasser in Aus- lich eines gewesen, das nicht nur an der Orakel- sicht gestellt, der längere und schwierigere deut- stätte selbst, sondern auch vor dem Ort des je- sche Texte mit Übersetzungsvorschlägen ent- weiligen Geschehens gegeben wurde. Daß es halten soll. Als Ausblick bietet Holzhausen be- gerade vor Schlachten zu Rate gezogen wurde, reits am Ende dieses Bandes leichtere deutsche erklärt auch die große Zahl von Waffen und Texte mit Übersetzungsvorschlägen. Es bleibt Rüstungen, die seit dem 8. Jh. in Olympia als zu hoffen, daß dieser Band in Kürze erscheinen Weihgeschenke dargebracht wurden. Besonders wird, damit vor allem Studierenden in ver- bewährt hat sich das Orakel anscheinend für die mehrtem Umfang die Möglichkeit geboten wird, Griechen, die im späten 8. Jh. auf die italische Übersetzungspraxis im Selbststudium zu gewin- Halbinsel ausgewandert waren. Und so findet nen. sich von ihnen nicht nur eine besonders große Anzahl von Weihgeschenken, das olympische BETTINA JÄCKEL, Berlin Fest scheint geradezu ein regelmäßiges Heimat- treffen der Auslandsgriechen geworden zu sein. Nicht nur, daß um 700 v.Chr. mit gewaltigen Sinn, Ulrich: Olympia. Kult, Sport und Fest in Planierungen und Erdbewegungen das Areal des der Antike. München: Beck 1996. (C.H.Beck Heiligtums seiner neuen Bedeutung angepaßt Wissen. Becksche Reihe. 2039). 124 S. 14,80 worden ist. Anscheinend meinten neben Künst- DM (ISBN 3-406-40339-5). lern und Gelehrten, die sich besonders zahlreich einfanden, auch mancherlei Athleten, daß sie Um Sport geht es hier nur ganz am Rande. Der hier auf ein Publikum trafen, das ihren Ruhm nicht ganz zutreffende Untertitel verdeckt, was weiter als manches andere verbreiten konnte. das eigentlich Spannende des Buches ausmacht: Das Datum 776 v.Chr für die ersten Olympiade Olympia als Kultstätte und als Festplatz stehen ist freilich eine Konstruktion von Hippias von im Mittelpunkt. Von Ulrich Sinn, Ordinarius für Elis in einem gefälschten Dokument, das den Klassische Archäologie in Würzburg, an den Anspruch der Eleer auf Leitung des Heiligtums Grabungen in Olympia, die das DAI unter der legitimieren sollte. Olympia wurde nach den Leitung von Helmut Kyrieleis 1986 aufgenom- Perserkriegen im Jahre 476 v.Chr. für eine aller-

105 dings nur kurze Zeit mit der Wahrnehmung des einem kurzen, aber wichtigen Kapitel (S. 309- gesamtgriechischen Schiedsgerichtes betraut. 329) auch die Wechselbeziehungen zwischen 776 ist lediglich das Jahr, das die runde Zahl dem Umland (dem suburbium) und der Stadt von 75 Olympiaden zurücklag. selbst. Das Privatleben bleibt dabei weitgehend Olympia ist ein Ort voll prächtiger Bauten ge- ausgeklammert, da es hierfür an anderer Stelle worden - und das alles nur für ein paar Tage alle kompetente Darstellungen gebe. Daß die 300 vier Jahre? Die Vorstellung, als habe das Hei- Jahre der Geschichte des kaiserzeitlichen Rom ligtum die meiste Zeit fast verödet dagelegen, mehr Raum einnehmen als die etwa 1000 Jahre sei, so Ulrich Sinn, grundverkehrt. Olympia sei der Stadt vor Augustus und auch hierbei die Zeit eben nicht eigens als Wettkampfstätte gegründet bis zum Dritten Punischen Krieg kürzer behan- worden. Täglich standen den Menschen der delt wird, ist allein der Quellenlage geschuldet. Kultplatz für Opfer und Gebete, das Orakel für Das methodische Rüstzeug für diese Betrach- ihre Anfragen offen. Auch anderen Gottheiten tung hatte sich der Autor, seit 1986 Ordinarius wie der Artemis mit ihren drei Heiligtümern für Alte Geschichte in Tübingen, durch lange waren Kulte gewidmet. Einmal im Monat ver- Forschungstätigkeit erworben, deren Frucht anstaltete das Heiligtum eine große Prozession. bereits das Buch „Die Stadt im Altertum“ von Aber auch für die Zeit der olympischen Sport- 1984 war. wettkämpfe selbst stellt Ulrich Sinn mehr das Gegenüber dem, was in der Antike über Ur- dar, was an deren Rande geschah: wie lebten die sprünge und Anfänge Roms überliefert wurde, Festbesucher dort? Wie wurden Gebäude wie ist Kolb überaus skeptisch. Er weiß schon nicht das Prytaneion und das Buleuterion genutzt? Ja recht, ob man überhaupt von einer Gründung gar: wo ließen die Besuchermassen ihren ebenso Roms als Stadt sprechen dürfe. Zahllose heilige massenhaften Müll? Haine, Quellen, Grotten, also eine regelrechte Wer sich über die sportlichen Ereignisse in „Sakrallandschaft“, hätten etruskische Herrscher Olympia informieren will, wird also weiterhin mit einem sakralen Ritual zusammengefaßt, neu zu den Büchern von Moses Finley und H. W. organisiert und urbanisiert und so Rom Pleket („Die Olympischen Spiele der Antike“), „gegründet“. Das frühe Wachstum Roms sei Ingomar Weiler („Der Sport bei den Völkern der nicht so sehr auf immanente Kräfte zurückzu- alten Welt“) oder Joachim Ebert („Olympia von führen (wie die an sich nicht ungünstige Ver- den Anfängen bis Coubertin“) greifen. Für kehrslage), sondern auf ein strategisches Inter- Olympia als Kultstätte und Festplatz gibt das esse der Etrusker an diesem Platz. Fazit: „Es vorliegende Buch einen leicht lesbaren und klar lebe Romulus, der Etrusker!“ (S. 108). Aller- gegliederten Einblick in neueste Forschungen. dings dürfe man dies Wachstum nicht über- schätzen. Das Rom auch der 1. Hälfte des 7. Jh.s sei keineswegs der Mittelpunkt der latini- schen Welt gewesen. Die sog. „Servianische Kolb, Frank: Rom. Die Geschichte der Stadt in Mauer“ sei wohl erst nach dem Galliersturm der Antike. München: Beck 1995. 783 S. 78,00 errichtet worden; Befestigungen dürfte vorher DM (ISBN 3-406-39666-6). nur das Kapitol getragen haben. Stadtgeschichte gibt Frank Kolb, schildert daher Ausführlich geht Kolb auf die Geschichte der kaum die Ereignisse, die sich in Rom abgespielt Bauten in Rom ein, betrachtet sie dabei als ein haben - das wäre ja nichts als ein (teilweise zu- Teil der politischen und sozialen Geschichte. dem schwer begreiflicher) großer Ausschnitt aus Vielfach erkennt er in den Bauten den Willen, der Geschichte des Römischen Reiches -, son- sich bzw. die eigene soziale Schicht öffentlich dern zeigt Entwicklungen der Stadtgestalt und darzustellen. Bereits unter Sulla, Pompeius und des städtischen Lebens im antiken Rom, wie sie nicht zuletzt an den Bauten ablesbar sind, in

106 Caesar sieht er die imperiale Gestaltung des ge Minderheit der stadtrömischen Bevölkerung Stadtzentrums beginnen, die Bauherren dabei an faßte (S. 495). hellenistische monarchische Konzepte anknüp- Geringfügig getrübt wird die Freude an diesem fen (S. 268). Von der Baupolitik her gesehen, Buch nur durch zweierlei, für das der Autor habe das spätrepublikanische Rom nicht in einer kaum bis nicht verantwortlich ist: Erstens fehlen „Krise ohne Alternative“ gesteckt. Die Ziel- bei Plänen, die anderen Werken entnommen richtung auf die Monarchie hin sei vielmehr klar sind, meist die Legenden, so daß der Leser gewesen. Ebensowenig sei in den augusteischen Räume und Gebäude, die nur mit Buchstaben Bauten etwas von der „res publica restituta“ zu bzw. Zahlen bezeichnet werden, nicht identifi- erkennen. Ihr ideologischer Hintergrund sei zieren kann. Das ist besonders dann ärgerlich, eindeutig ein imperialer (S. 364). wenn der Text auf sie Bezug nimmt. Zum Eine Großstadt will mit Nahrungsmitteln und zweiten ist der Druck durch eine Reihe von allem anderen Lebensnotwendigen versorgt Flecken etwas entstellt. sein. Drastisch zeigt Kolb (S. 233 ff.), wie Der Reichtum von Frank Kolbs Buch kann an schwierig es war, ausreichend Getreide für die dieser Stelle nur in winzigen Ausschnitten an- (mindestens) 250.000 Einwohner Roms in den gedeutet werden. Überall wird sein selbständi- 30er Jahren des 2. Jh.s v. Chr. herbeizuschaffen. ger Zugriff sichtbar, überall prüft er herge- Es muß große Schwankungen beim Nachschub brachte Urteile und widerlegt sie nicht selten. und also auch bei den Preisen gegeben haben. C. Schon deswegen, weil eine große Anzahl der Gracchus’ lex frumentaria habe daher die Themen dieses Buches in den neueren Lehrbü- Grundlage für eine gleichmäßige Versorgung chern angesprochen wird und Informationen legen wollen. Daß die Nobilität dem einen sol- über sie sonst nicht einfach zu beschaffen sind, chen Widerstand entgegensetzte, erkläre sich gehört es in die Bibliothek eines jeden Altphi- auch daraus, daß so die Abhängigkeit der clien- lologen. tes von ihren patroni und damit die Macht der Nobilität geschmälert worden sei. Später, im Jahre 14 n. Chr., sei mit dem Praefectus anno- Ueding, Gert: Klassische Rhetorik. München: nae, der die Getreideversorgung und -verteilung Beck 1995. (C.H.Beck Wissen. Becksche Reihe. zu sichern hatte, erstmals ein Amsträger be- 2000). 126 S. 14,80 DM (ISBN 3-406-39000-5). zeugt, dessen Amtsdauer (keine Annuität), Her- Haben wir nicht Manfred Fuhrmanns glänzende kunft (dem ordo equester vorbehalten) und Be- „Antike Rhetorik“? Und nun: ein Büchlein, das stellung (direkt durch den Kaiser und nur ihm nicht einmal von einem der Unseren stammt, verantwortlich) republikanischen Normen wi- sondern von einem, der viel über Karl May ge- dersprach (S. 536). arbeitet hat! Wenn er dann auch noch stets vom Der plebs sei es allerdings nicht, wie Iuvenals „Auctor ad Herennius“ spricht, im Literaturver- geflügeltes Wort behauptet, nur um Brot und zeichnis keine einzige lateinische oder griechi- Spiele gegangen (S. 464 ff.) Das antike Rom sei sche Textausgabe nennt, sondern nur Überset- vielmehr eine geschäftige Stadt voller Arbeits- zungen, für Cicero die weit über 100 Jahre alten lärm gewesen und die Stadtrömer in aller Regel aus der Langenscheidtschen Bibliothek - werden keine untätigen Parasiten. Schon der riesige wir da nicht mißtrauisch? Arbeitskräftebedarf für Bau- und Transportar- Doch: Gert Ueding ist als Professor für Allge- beiten, den Kolb eindrucksvoll berechnet, meine Rhetorik in Tübingen in die Fußstapfen spricht dagegen. Spiele dürften die Stadtrömer von Walter Jens getreten, und er ist Herausgeber gar nicht so oft besucht haben, schon deswegen, des großen „Historischen Wörterbuchs der weil außer dem Circus Maximus keine Stätte für Rhetorik“, dessen erster Band (A-Bib) 1992 Spiele existierte, die mehr als eine kleine bis abgeschlossen wurde. Uedings Bändchen er- sogar - bei den Theatern - verschwindend gerin- gänzt - bei manchen Überschneidungen - Fuhr-

107 mann; man sollte beide benutzen. War es dessen forderung an den Rhetoriker“ (S. 84). Da erwei- Absicht, die Vielfalt der rhetorischen Vor- sen sich nun die Sophisten als diejenigen, die schriften darzustellen und vor allem sie aus den der dialektischen Sicht auf Erkenntnis und all- Bedingungen und Zwecken der öffentlichen gemeines Bewußtsein überhaupt erst den Weg Rede abzuleiten, so geht es Ueding mehr darum geebnet haben. Ihr Anspruch, die schwächere zu zeigen, daß „das Lehrgebäude der antiken Seite zur stärkeren machen zu können, „bedeutet Rhetorik ... so groß und variationsfähig“ sei, daß ... zunächst nichts weiter als sie aus einer Vor- es sich „noch für die moderne Reflexion über urteils-Fixierung lösen und der vernünftigen Literatur und Sprache lebensfähig und frucht- dialektischen Erörterung zugänglich machen bar“ erweise (S. 53). Das bedeutet übrigens können, in deren Verlauf sich herausstellen nicht, daß man, was Ueding über das System mag, ob sie wirklich die schwächere ist“ (S. 20). antiker Rhetorik schreibt, vernachlässigen kön- Nur hätten sie schließlich den aufklärerisch- ne. Ich fand es, wie er (S. 57 ff.) verschiedene sophistischen Grundsatz preisgegeben, daß es Arten der Beweisgründe (loci) zusammenge- kein dem Widerstreit der Meinungen entzoge- stellt und (vor allem) durch Beispiele erläutert nes, vorgängiges Wissen gebe. hat, sehr nützlich und habe einige Anregungen für den Unterricht gefunden. Balestrino, Antonio: Die römische Villa von Wahrheit allein überzeugt nicht, „Glaub- Minori. [Dt. v.] Eberhard Oberg. Grosseto würdigkeit muß als zusätzliche Qualität zur 1996. 45 S. [Privatdruck; zu beziehen über den Wahrheit hinzukommen“. „Die wissenschaftli- Verf.: V. Repubblica Dominicana 39, I-58100 che Erkenntnis für sich genommen erscheint nur Grosseto]. im Ausnahmefall glaubwürdig ... Rhetorik hat Die römische Villa von Minori in der Provinz die Aufgabe, das unvermittelte Wissen überzeu- Salerno wurde wahrscheinlich zur Zeit des Tibe- gungskräftig zu machen ... und auf das bereits rius an einem einsamen Platz am Meer, einem vermittelte Wissen zu beziehen“ (S. 80). So ist engen Einschnitt der waldigen Küste an der die Rhetorik Mittel, Erkenntnis in den allgemei- Südseite der Halbinsel von Sorrent erbaut. Der nen Wissens- und Bildungshorizont zu integrie- nahe Wildbach ließ später ihren oberen Teil ren und ihr Wirkung zu verleihen. Aristoteles’ einstürzen. Aber ihre Grundmauern wurden in τüπïι, die Bausteine des rhetorischen Schlus- Mittelalter und Neuzeit „recycelt“ als Funda- ses, die ihre Beweiskraft daraus beziehen, daß mente neuer Gebäude; einige Räume wurden in sie auf allgemein anerkannte Ansichten rekurrie- neuerer Zeit als Weinkeller benutzt. 1932 ent- ren, erweisen sich als eine fast sozialwissen- deckten Bauarbeiter, was sich unter dem neu- schaftliche Kategorie: denn nun kann man zeitlichen Fußboden verbarg. Heute erkennbar τüπïι als „Kategorien des kollektiven oder ge- sind das Wohngebäude, ein ausgedehnter Garten sellschaftlichen Bewußtseins“ bezeichnen mit einem Wasserbecken in der Mitte und ein (S. 81). τüπïι verhelfen den Individuen zu ihrer Teil der Arkaden, die ihn auf drei Seiten umga- sozialen und kulturellen Orientierung und sind ben. Dort und in vier Räumen des Wohngebäu- so Grundlage für die Erschließung der Welt. des finden sich Malereien des dritten pompeja- Auch Austausch und Koordination zwischen nischen Stils. Leider hat sich der Verfasser nicht den einzelnen Spezialwissenschaften ist rhetori- in der Lage gesehen, außer einem Grundriß sche Aufgabe. Der Redner, der überzeugend weitere Abbildungen beizufügen. Marmorar- wirksam werden will, muß sich alle wesentli- beiten und andere Reste waren freilich systema- chen Bestandteile der zeitgenössischen Bildung tisch geraubt worden. aneignen, aber nicht so, daß er die (später kano- nisierten) „septem artes liberales“ additiv nach- Weiterreichendes Interesse darf das Büchlein einander durchgeht, sondern sie jeweils als Teil beanspruchen durch das, was es über die Ge- eines Ganzen sich integriert. „Modern gespro- schichte der heutigen Provinz Salerno in vorrö- chen: Interdisziplinarität ist die wichtigste An- mischer und römischer Zeit enthält, auch durch

108 Abschnitte über die Geographie und über dieje- entscheidend sei, was hinten rauskommt, kommt nigen Villen, die den reichen Römern als Land- ER schließlich hinten raus, und ihm wird die sitze für die Zeit des otium dienten und nicht, Himmelfahrt oder genauer: die Fahrt ins Ozon- wie die villae rusticae, Zentren landwirtschaftli- loch zuteil. cher Produktion waren. In einem Anhang gibt Georg Veit einen Über- blick über antike satirische Himmelfahrten von Veit, Georg: Helmuterkloße. Eine Satire. Mit 15 Trygaios bis Kaiser Claudius (und schließlich Ill. v. Bernhard Scholz. Anh. „Der Fall antiker Papst Julius II. bei Erasmus). Höhere Ziele ver- Satiren in die Moderne“. Münster: AT Edition folgten antike Satiriker, so Veit, nicht. Aristo- 1995. 80 S. 14,80 DM (ISBN 3-8258-2630-9). phanes wollte nur lachen machen, Lukian nur spotten, Seneca nur sich rächen. In dieser Tradi- Das Buch zur Fastenkur: Fans von Helmut Kohl tion sieht Veit sein Büchlein. Was will er? Ihn seien vor ihm nachdrücklich gewarnt. Andere treibe, erklärt er, die „unverklärte Wut“ (S.65). mögen ihr Vergnügen an ihm haben. Ähnlich Thornton Wilder ließ Asinius Pollio über Ca- wie Kaiser Claudius in Senecas Apocolocynto- tulls Verhältnis zu Caesar sagen: „A man who sis ergeht es hier Helmut dem Großen oder cannot formulate a more pointed, a more pi- vielmehr vernuschelt Helmuterkloße: Kräuter- quant case against him has not yet begun to tees und trockene Brötchen nach Franz Xaver reflect.“ So isses. Mayr bewahren ihn nicht davor, als Kloß in die Versammlung der Großen der „Geschißte“ ein- HANSJÖRG WÖLKE zurollen. Nach des Kanzlers klassischem Satz,

109 Varia

Das Landesseminar Alte Sprachen 1996 der durch die Mitschriften der Ergebnisse. Sie Stiftung „Humanismus heute“ kann als Grundlage für einen Vortrag in der Das zehnte Landesseminar Alte Sprachen jeweiligen Schule und für die eigene Nachar- hat vom 18. bis 23. März 1996 in den Räumen beit dienen. des Klosterhospizes Neresheim unter der Lei- · In einem abschließenden Gespräch werden tung von Herrn OstR Gottfried Becker, Herrn die einzelnen Aspekte in ihrer Folge noch StD i. R. Harald Heath und Frau AdL Barbara einmal reflektiert und zusammengefaßt. Selz stattgefunden. Teilgenommen haben 25 Das Gesamtthema des diesjährigen Seminars Schülerinnen und Schüler, die sich durch eine war „Grenzen“. Die Folge der Aspekte und der Wettbewerbsarbeit bei der Stiftung Arbeitsgang der Woche sind aus dem Inhalts- „Humanismus heute“ (Stiftung des Landes Ba- verzeichnis der Arbeitsmappe ablesbar. Als den-Württemberg) qualifiziert hatten. Anlage Fachreferent erarbeitete Professor Dr. Heinz und Durchführung des Seminars entsprachen Müller-Dietz, Saarbrücken, mit den Schülern dem in Jahren entwickelten Modell, das hier aus dem Text des Bundesverfassungsgerichts- kurz skizziert sei: urteils vom 16.10.1977 grundlegende Grenzbe- · Da uns in den Alten Sprachen ebenso poe- griffe der Rechtswissenschaft. tisch-literarische wie philosophische, histori- Die Atmospäre des Tagungsortes hat zum Ge- sche und fachwissenschaftliche Texte über- lingen der Woche nicht unwesentlich beigetra- liefert sind, ist das fächerverbindende Prinzip gen. Die geschlossene Anlage des Klosterhospi- vorgegeben. zes ermöglichte die unerläßliche Konzentration, · Ziel ist, an einem übergeordneten Thema, das das Kunstwerk der Kirche und der Tagesrhyth- junge Menschen existentiell betrifft, das mus des Konvents machten den Zusammenhang Denken in Zusammenhängen zu üben. zwischen Ästhetischem, Geistigem und Praxis · Das Thema wird nicht vorher benannt, son- in der europäischen Tradition erlebbar, die Be- dern von den Schülern aus der Durcharbei- treuung der Tagung durch die Patres bot den tung aufeinanderfolgender Gruppen von Schülern Anlaß zu kritischen Fragen, die durch- Texten, die jeweils einen Aspekt verdeutli- aus in die Tiefe gingen. chen, im Lauf der Woche gefunden. Einige Ausschnitte aus Schülerbriefen lassen · Die Schüler finden ohne Leitfragen selbstän- erkennen, wie nachdenklich die Woche die dig den gemeinsamen Aspekt einer jeweili- Schüler gemacht hat: gen Gruppe von Texten heraus und verknüp- „Ich muß zugeben, daß sich einiges bei mir ver- fen die Aussagen miteinander. ändert hat und ich viele Dinge neu sehe, umfas- · Die in antiken Texten gefundenen Grundge- sender, aus anderen Perspektiven - und zugleich danken und Leitbegriffe werden in der Bil- doch auch genauer; wie jemand, der auf eine denden Kunst, der Musik und der neueren Anhöhe gestiegen, das sich nun unterhalb von Philosophie verfolgt und erweitert. ihm Befindende von einem ganz anderen Punkt aus sieht ... Das Erstaunliche war, daß das Se- · Die Bedeutung des Wochenthemas wird je- minar selbst eine solche Anhöhe war. Es wurde weils in einer heutigen Fachwissenschaft ein ganz neuer, hoher Standpunkt geboten, des- durch einen kompetenten Vertreter (i. a. ei- sen Besonderheit darin lag, daß er sich nicht nen Universitätsprofessor) dargestellt. zum alleinigen Standpunkt erklärte, sondern daß · Die in ihrer Folge sorgfältig aufeinander ab- aus ihm unzählige neue Standpunkte sich ent- gestimmten Texte und Bilder werden von den wickeln konnten ...“ Schülern in einer Mappe gesammelt, ergänzt

110 „Im Rückblick sehe ich, wie die Vielfalt das Bayerischer Philologenverband für Latein: Seminar so interessant machte; das Thema „Ein Herzstück des Gymnasiums gefährdet“ „Grenzen“ philosophisch, juristisch, musika- Auf eine „schleichende Ausdünnung“ des Fa- lisch und künstlerisch zu betrachten, die Begeg- ches Latein am Gymnasium wies der Vorsitzen- nung mit den Benediktinern, die Kirche und die de des Bayerischen Philologenverbandes, Orgel, unser Musizieren und Singen, das Zu- RAINER RUPP, in einer Presseerklärung hin. sammensitzen im Klosterkeller, die bunte Grup- Rupp, selbst Anglist und Germanist, betonte, pe. In St. Pirmin haben viele darüber gestaunt, natürlich seien moderne Fremdsprachen eben- was diese Woche alles beinhaltete. Den Lehrern falls sehr wichtig und in einem zusammenwach- und manchen Kollegen zeigte ich das Inhalts- senden Europa von großer Bedeutung, das La- verzeichnis der Mappe. Herr Dauer, unser Rek- teinische sei aber immer noch „ein Herzstück tor, hofft, daß ich darüber vor allen Pirminern der Schulart Gymnasium und zugleich ein Indi- spreche ...“ kator für den Rang von Fremdsprachen gene- „Ich muß gestehen, daß ich mir die Woche nicht rell“. Sein allmähliches Verschwinden brächte einmal in meinen kühnsten Träumen auch nur daher einen erheblichen Substanzverlust. annähernd so vorgestellt hatte. Alles habe ich Mit folgenden Zahlen belegte der Verbandsvor- genossen: das hohe Niveau in den Arbeitsgrup- sitzende die Entwicklung: Zwar ist die Summe pen und im Plenum, die netten Gesprächspart- aller Schüler, die Latein als erste, zweite oder ner, die wunderbare Verbindung von Literatur, dritte Fremdsprache erlernen, im Vergleich zu Musik und Kunst, das Erlebnis „Kloster“ und anderen Bundesländern mit über 120.000 noch das Zusammenkommen von Gleichgesinnten ...“ bemerkenswert hoch. Ihr Anteil an der Gesamt- „Ich habe dabei gemerkt, wie wenig fächerüber- schülerzahl aber ist in den zehn Jahren von 1984 greifend wir in der Schule arbeiten, obwohl ja bis 1994 um acht Prozentpunkte von rund 50 ‚fächerübergreifender Unterricht’ zur Zeit ein Prozent auf etwas über 42 Prozent deutlich ge- vielgepriesener Ausdruck ist.“ sunken. Dabei verliert das Fach zu etwa glei- „Es hat sich bestätigt, daß es nicht weltfremd ist, chen Teilen als erste und zweite Fremdsprache. sich heutzutage noch mit Alten Sprachen zu Negative Auswirkungen hat dieser Trend offen- beschäftigen (und daß es mir nicht peinlich sein sichtlich auch auf das Erlernen weiterer moder- muß, Latein-LK zu haben) ...“ ner Fremdsprachen, denn der Anteil der Schüle- rinnen und Schüler, die sich in der 9. Klasse zu Den Abschlußabend gestalteten die Schüler mit einer dritten Fremdsprache entschlossen haben, einer Folge von Instrumentalmusik, literarischen ist in zehn Jahren ebenfalls von 40,3 auf 38,5 Texten zum Thema „Grenzen“ und Chorsätzen, Prozent gefallen. „Es geht daher nicht nur um die im Lauf der Woche erarbeitet worden waren. das Fach Latein“, sagte Rupp, „sondern um den Dabei überreichten der geschäftsführende Vor- Weltspitzenplatz des bayerischen Gymnasiums stand der Stiftung „Humanismus heute“, Mini- bei der Vermittlung von mehr als zwei Fremd- ster a. D. Professor Dr. Helmut Engler, und der sprachen.“ Er kritisierte in diesem Zusammen- Fachreferent des Kultusministeriums, Ministe- hang auch Ansätze des sogenannten Kienbaum- rialrat Günter Reinhart, den erfolgreichen Wett- Gutachtens, das Fremdsprachenangebot am bewerbsteilnehmern die Anerkennungsurkun- Gymnasium aus Kostengründen zusätzlich ein- den. zuschränken. HARALD HEATH, Freiburg i. Br. Mit großer Skepsis betrachtet Rupp auch die Auswirkungen eines sogenannten spielerischen Einstiegs in eine Fremdsprache in der 3. Klasse der Grundschule, die in den überwiegenden Fällen Englisch ist. „Auch wenn ein früher Kontakt mit Fremdsprachen zu begrüßen ist, so

111 wird dadurch doch vermutlich die Sprachenwahl zungen für hervorragende Leistungen auf den der später an ein Gymnasium übertretenden Gebieten der Mathematik und Physik.“ Schülerinnen und Schüler in entscheidender Pressemitteilung des Weise vorgeprägt. So spielerisch kann der Um- Bayerischen Philologenverbandes gang mit dieser Sprache gar nicht sein, daß ihn die Eltern nicht doch als eine Art Vorbereitung für das Gymnasium bewerten“, sagte Rupp. Aus der Arbeit des Dozentenkreises Lati- num/Graecum (DoKs). Am 4./5. Mai 1996 Aus folgenden Gründen muß nach Ansicht des fand in Köln die 8. Jahrestagung des Dozenten- Bayerischen Philologenverbandes Latein als ein kreises Latinum/Graecum statt. Da dieses all- „Herzstück gymnasialer Bildung“ erhalten blei- jährliche Treffen von Unterrichtenden in Latein- ben: und Griechischkursen an deutschen Universitä- 1. Das Fach ist in besonderer Weise geeignet, ten und Hochschulen, das unter der Schirmherr- die Entwicklung des abstrakten Denkvermö- schaft des DAV steht, bisher weitgehend nur in gens zu fördern, dies gerade auch deswegen, eingeweihten Kreisen bekannt ist, möchten wir weil es eine nicht mehr gesprochene Sprache die Gelegenheit nutzen, um den Dozentenkreis ist. Der Zeitaufwand für das Training der auch einem breiteren Publikum vorzustellen. Sprechfertigkeit entfällt, es bleibt mehr Zeit Zuerst und stichwortartig eine Skizze des Ent- für die Analyse komplexer Satz- und Sinn- stehens und der Entwicklung und eine strukturen. ‚commemoratio’ der Pioniere: 2. In einer Zeit, da aktuelles Wissen immer Auslösendes Moment waren die KMK- schneller veraltet, kommt es immer stärker Beschlüsse (1979) zum Latinum/Graecum. Der auf die Vermittlung von grundlegenden Ar- DAV reagierte mit der Einsetzung einer beitstechniken an. Gerade Latein erleichtert „Latinumskommission“, die sich neben der all- den Einstieg in Denkweise und Terminologie gemeinen Umsetzung jener Beschlüsse auch wissenschaftlichen Arbeitens. bald intensiv mit dem post-abituralen Lateinun- 3. Latein stellt als Basissprache Europas nicht terricht zu befassen hatte. nur einen breiten Grundwortschatz für mo- Dieser post-abiturale Lateinunterricht erschien derne Fremdsprachen zur Verfügung, son- als offizielles Thema erstmals auf der DAV- dern es transportiert auch das Wissen um die Tagung 1980 in Göttingen (O. Leggewie/G. gemeinsamen kulturellen Grundlagen Euro- Binder), dann, immer dringlicher, 1986 in Tü- pas. Latein liefert daher einen Beitrag zur bingen (W. Burnikel) und 1988 in Bonn (H. Allgemeinbildung, der gar nicht hoch genug Merklin). veranschlagt werden kann. Inzwischen waren 1984 unter Impuls von G. Wörtlich sagte Rupp abschließend: Binder und G. Schwabe (Uni Bochum) zwei „In einer Welt, die mehr nach Verwertbarkeit Hefte der Fachzeitschrift „Der Altsprachliche von Wissen fragt als nach Bildungstraditionen, Unterricht“ mit dem Titel „Lateinunterricht in ist ein solcher Standpunkt natürlich nicht ganz Universitätskursen“ (2 u. 3/84) erschienen, wel- leicht zu vermitteln. Es gibt aber unverdächtïge che weiterhin gleichsam die Charta des ‚post- Fürsprecher des Lateinischen wie den Physik- abituralen’ Latein-Lernens und -Lehrens sind. Nobelpreisträger Werner Heisenberg. Er hat Die „Latinumskommission“ hatte in jeder Hin- einmal gesagt, daß seine besten Studenten frühe- sicht vortreffliche Arbeit geleistet, und ihre Ta- re Lateinschüler gewesen seien. Er führte dies gung vom April 1989 in Bamberg wurde darauf zurück, daß humanistische Bildung in wunschgemäß auch die konstituierende Sitzung besonderem Maße zu logischem Denken befähi- des „Dozentenkreises Latinum/Graecum im ge und zugleich die Phantasie anrege. Beides DAV“ mit Frau G. Schwabe als gewählter Vor- seien - so Heisenberg - unerläßliche Vorausset- sitzender.

112 Noch im gleichen Jahr 1989 fand dann das erste kopplung an die - für alle Geisteswissenschaften Treffen des nunmehr auto-motorischen Dozen- grundlegende - europäische Antike verschaffen? tenkreises mit 30 Teilnehmern aus der ‚alten’ Das nachzuholende Latein ist also mehr als Nur- Republik, von Kiel bis Passau, statt. Und zwar Spracherwerb; angepeilt werden eigentlich die in der CCAA, auf dem Cardo Maximus, heute „humanities“, trotz der für die meisten Nachho- vulgo „Hohe Straße“, unweit vom Kapitol, wo ler gegebenen Fachsemesterhektik und sich eine Tagungsmöglichkeit auf römischem Bafögsorge. Boden mit Inter-Civitates-Anschluß und kurzen Schuldidaktisch gesehen kommt das post- Wegen fand. Dort wurde und wird getagt in abiturale Latein eigentlich zwar zu spät; parado- einem freundlichen Hotel in der Kölner Fuß- xerweise aber hat diese ‚Spätzündung’ auch gängerzone, natürlich an einem Wochenende, Vorteile: oft erleben gerade die Spätlerner die damit ja kein Unterricht ausfällt: Die Kosten für vom Latein ausgehende ‚disciplina’ viel be- den Tagungsraum trägt in dankenswerter Weise wußter. der DAV, die Kosten der Hotelunterkunft die Teilnehmer selbst. Übrigens: Die Praxis des post-abituralen La- teinunterrichts gibt es nicht. Sie ist noch bunter Kurz darauf, im April 1990, war der Dozenten- und verschiedener als die Schul- und Hoch- kreis auch als Sektion auf der DAV-Tagung in schullandschaft der Republik. An einigen Hoch- Hamburg. Die DAV-Tagungen richten sich na- schulen zum Beispiel werden 3 Semester einge- turgemäß nach dem Gymnasialkalender, die plant; das Göttinger Curriculum kommt mit Dozenten aber sind an den Hochschulkalender einem rund einsemestrigen Intensivstkurs aus - gebunden. So wird auch in Zukunft der Dozen- im Endergebnis und hochgerechnet mit etwa tenkreis kaum selbst auf den DAV-Tagungen in dem gleichen Stundenpensum. Erscheinung treten können. Aber auch im Ver- borgenen läßt sich gut arbeiten. Die Themen der bisherigen Treffen waren - wie oben gesagt - sehr vielfältig und orientierten Die nächste, noch in Hamburg beschlossene sich an den Wünschen der zum Teil fluktuieren- Tagung fand im Mai 1991 wiederum in Köln den Teilnehmergruppe. Hier nur einige Auszü- statt, wo sich auch Kollegen aus Potsdam, Halle ge: Zunächst stand mehrfach der Versuch im und Dresden beteiligten. Und auf der Tagung Mittelpunkt, sich einen Überblick zu verschaf- 1992 berichteten bereits 9 Kollegen aus den fen über die Kurs- und Prüfungsformen an den neuen Bundesländern über den dortigen Stand verschiedenen Hochschulen (interne/externe der Dinge ‚in rebus Latinis’. Prüfung, ‚großes/kleines/mittleres’ Latinum, Organisatorisch erweiterte sich auch die Füh- Nachweis von Sprachkenntnissen). Unter die rung: Zu Frau Schwabe gesellten sich W. Ebert Lupe genommen wurden immer wieder Lehr- (Uni Potsdam) und L. Liesenborghs (Uni Wup- werke, die in den Kursen eingesetzt werden. pertal). Etabliert wurde auch der Kontakt zum Teilweise stellten Dozenten auch in eigener schon länger bestehenden Dozentenkreis (Schwer- Regie erarbeitetes Lehrmaterial vor. Fast immer punkt Griechisch) der Kirchlichen Hochschulen. wurde der Umgang mit einem bestimmten Nun aber zum Inhalt der bisherigen 7 Tagungen: Grammatikproblem thematisiert. Über Schwie- Weder gelehrte Vorträge noch Profunditäten - rigkeiten der Bewertung von Prüfungsleistungen alles kommt aus der Praxis und ist auf die Praxis ausländischer Studenten mit geringen deutschen ausgerichtet. Also nur Latinum-Manager unter Sprachkenntnissen wurde ebenso diskutiert wie sich? - Jein. Denn jene Praxis dient einem we- über eine Vermittlung des sogenannten ‚Hin- sentlichen Pragma: Wie den zahlreichen heuti- tergrundwissens’ zur Antike. Ein erfreuliches gen Studienanfängern ohne Latein und mit ei- Ergebnis trat mehrfach zutage, wenn es darum nem Short-Story-Abitur (s. Leserbrief von Till ging, authentische Klausuren individuell zu Brückner im ‚Spiegel’ vom 19.6.95) eine Rück- bewerten: Beim Vergleich der Benotung zeigte es sich, daß die Dozenten von Aachen bis Dres-

113 den, von Kiel bis Freiburg erstaunlich einmütig möglichung eines zügigen Vorgehens und der urteilen - die Abweichung lag maximal bei einer Bereitstellung eines vielseitigen Übungsmateri- Notenstufe! als stellte sie heraus, daß das Lehrbuch wohl Im Jahre 1995 traf sich der Dozentenkreis Lati- aufgrund seines schnellen Entstehens (nach der num/Graecum zu seiner 7. Jahrestagung am ‚Wende’) - viele Fehler und eine Reihe von zu 27./28. Mai - traditionsgemäß in Köln. groben Vereinfachungen enthält. Nach der Tagungseröffnung durch Frau Schwa- Unter dem TOP Medieneinsatz in der Vermitt- be (Uni Bochum) wurde zunächst in Kurzrefe- lung von Kulturkunde stellte Herr Widmer raten über die Erfahrungen mit verschiedenen (Biberstein, CH) seine im Auftrag der Fach- neueren Lehrbüchern in den Latinumskursen schaft Latein der aargauischen Bezirksschulen berichtet. angelegte „Römische Kulturgeschichte: Cursus Romanus“ vor: Bestehend aus 500 Dias und 135 Frau Kunna (Uni Dortmund) referierte über das Seiten guter Erläuterungen ist sie in 69 Lektio- im Buchner Verlag erschienene ‚Studium Lati- nen gegliedert, von denen Herr Widmer diejeni- num’ (Latein für Universitätskurse, 2 Bde: Tex- gen über das Amphitheater, Daedalus und Ikarus te/Übungen u. Grammatik; v. G. Kurz), das sie und über den Triumphzug vorführte. insgesamt als sehr positiv einstufte, nicht ohne allerdings auch Kritik an teilweise zu geringem Unter dem TOP „Sammlung von Prüfungstexten Übungsmaterial, an dem zu großen Umfang der für das Latinum“ wurde von Frau Fuhrmann Texte bzw. dem zu umfangreichen grammati- (Uni Göttingen) eine beim Verlag Cornelsen schen Inhalt einzelner Lektionen zu üben. mittlerweile erschienen Sammlung von Texten (Cicero, Caesar, Sallust, Livius) zur Lati- Herr Irmer (Uni Hamburg) hob an ‚Lingua Lati- numsprüfung vorgestellt. na ex efef. e forma - e functione’ (Intensivkurs Latinum, bestehend aus: Lehrbuch, Lexikon- Ein gemeinsames Abendessen - natürlich in grammatik, Wortkunde, v. H. Schmid, Klett einem ‚spätrömischen’, d. h. italienischen Re- Verlag, Stuttgart 1993) zunächst generell das staurant - gab als Abschluß dieses Tages noch Bemühen um methodische Klarheit und prakti- einmal den Teilnehmern die Möglichkeit, ihre sche Reduktion auf das Wesentliche hervor, Erfahrungen bei der Durchführung der Lati- stellte allerdings heraus, daß durch eine teilwei- numskurse auszutauschen. se zu weit gehende Reduktion sowie eine aus- Am Sonntagvormittag stand zunächst eine Dis- schließliche Verwendung von Einzelsätzen sich kussion über „Gebrauch und Behandlung von der Übergang zur Lektüre von Texten äußerst Imperfekt und Perfekt“ im Mittelpunkt der Ar- problematisch gestaltet. beit, wobei Einhelligkeit darüber herrschte, daß Vor allem die Aneinanderreihung von Einzel- gerade die Problematik der Übersetzung beider sätzen in schulmäßigem Kunstlatein kritisierte Tempora ins Deutsche eine sehr gute Gelegen- auch Herr Buck (Missionsseminar Hermanns- heit für eine vergleichende Sprachbetrachtung burg) an dem 1992 bei Vandenhoeck&Ruprecht, unter Einbeziehung der modernen Fremdspra- erschienenen ‚Latinum’ (Lehrgang für später chen (vgl. engl. past continuous) und Regional- beginnenden Lateinunterricht, v. H. Schlüter u. sprachen bietet. K. Steinicke). Bei der anschließenden Erörterung über die Frau Kielmann (Uni Dresden) referierte ab- Frage der Behandlung von Stilfiguren in den schließend über die Erfahrungen mit dem 1993 Latinumskursen herrschte ein eindeutiger Kon- im Verlag Volk und Wissen erschienenen sens darüber, daß die Behandlung große Be- ‚Studete Linguae Latinae’ (Lehrbuch der latei- deutung nicht nur im Hinblick auf das Ver- nischen Sprache in einem Band, v. P. Witz- ständnis antiker Texte in struktureller und gera- mann/L. Huchthausen/M. Bruß/K. H Gerhardt): de auch ästhetischer Hinsicht besitzt, sondern Neben den positiven Gesichtspunkten der Er- vor allem auch hinsichtlich der Ähnlichkeit, die

114 antike Stilfiguren mit den modernen Formen der Fächern zu beobachten ist, nicht auch in der Publizistik und speziell der Werbung aufweisen. Gräzistik sinnvoll wäre. Der Zusammenbruch Ein sehr informativer gemeinsamer Besuch der des traditionellen Berufsmarkts für Geisteswis- Ausstellung „Unter dem Vulkan“ in der Bun- senschaftler hat nämlich dazu geführt, daß die deskunsthalle in Bonn am Sonntagnachmittag Mehrzahl der Studierenden heute nicht mehr das rundete das Programm der Jahrestagung ab. Staatsexamen, sondern das Magisterexamen anstrebt, das in den letzten Jahren offenbar - wie Zum Schluß wurden als Themen für die 8. Ta- neuere Untersuchungen zu bestätigen scheinen - gung (Mai 96) vorgeschlagen: Probleme des den Zugang zu einer Vielzahl von Berufsfeldern Anfangsunterrichtes (z. B. Einzelsätze/Texte; eröffnet hat (vgl. den Artikel „Humboldt ist Grammatikeinführung); Problem der nd- lebendig. Geisteswissenschaften an der Mas- Formen; Texterschließungsmethoden; Einheitli- senuniversität“ von Dieter Langewiesche, im che Maßstäbe bei der Klausurenkorrektur. Feuilleton der F.A.Z. vom 21. 12. 1995). K. HASLER, L. LIESENBORGHS, G. SCHWABE Wir meinen nun, daß für diejenigen unter Ihren Schülerinnen und Schülern, die nicht primär eine pädagogische Berufung verspüren, sondern Kann man Abiturienten das Griechisch- sich durch ein Magisterstudium für andere Tä- Studium empfehlen? tigkeiten qualifizieren wollen, das Fach Grie- chisch gewiß nicht weniger geeignet ist als ir- Die Professoren Walter Nicolai und Ch. gendein anderes. Im Gegenteil, im Hinblick auf Riedweg vom Seminar für Klassische Philologie die von uns allen immer wieder erfahrene litera- der Universität Mainz haben an alle Griechisch- rische und philosophische Qualität unserer Lehrerinnen und -Lehrer an den Gymnasien in Texte wie auch auf die individuelle Betreuung, Rheinland-Pfalz folgenden Brief gesandt: die in solch einem ‚Orchideen’-Fach noch mög- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie wis- lich ist, scheint uns das Studium des Griechi- sen, ist seit einiger Zeit die Anzahl der Grie- schen für die verschiedensten späteren Berufs- chisch-Studierenden in Mainz wie an anderen tätigkeiten sogar besonders empfehlenswert zu Universitäten langsam aber stetig zurückgegan- sein. gen und hat sich inzwischen auf einem tiefen Wir möchten Sie daher nachdrücklich ermun- Niveau stabilisiert. tern, Schülerinnen und Schüler in diesem Sinn Der Rückgang scheint auf der einen Seite zu einem Studium des Griechischen als eines durchaus verständlich. Die restriktive Einstel- Faches, das fraglos wichtige Schlüsselqualifika- lungspolitik der Länder wirkt sich bei den Alten tionen zu vermitteln vermag, zu motivieren. Sprachen allgemein und besonders beim Grie- Verbunden mit großem Dank für Ihren uner- chischen sehr ungünstig aus, und es ist deshalb müdlichen Einsatz für unsere Fächer an der in der Tat sorgfältig zu prüfen, ob bzw. in wel- Schule verbleiben wir mit allen guten Wünschen chem Umfang man jungen Menschen eine Aus- bildung zum Griechisch- und Lateinlehrer guten Ihre W. NICOLAI und CH. RIEDWEG, Mainz Gewissens empfehlen kann. (Auf jeden Fall sollte denjenigen, die sich beim Lehramtsstudi- engang für die von der Sache her nach wie vor Zum Tod von Heiner Müller. Dem Gräzisten wünschenswerte Verbindung der Fächer Grie- ist der unlängst verstorbene Heiner Müller vor chisch und Latein entscheiden, der Rat erteilt allem durch seine bedeutsame Antikerezeption werden, zusätzlich ein drittes Fach zu studie- ein Begriff („Philoktet“ usw.). So lernte ich ihn ren.) denn auch (ebenso wie den um die szenische Auf der anderen Seite jedoch fragen wir uns, ob Realisierung antiker und antikerezipierender eine Entwicklung, wie sie in vielen anderen Stücke hochverdienten Christoph Schroth,

115 (damals Schwerin) auf einem einschlägigen was nicht sein durfte. Wer die Sowjetunion von Kongreß 1984 in Delphi kennen. (Müller las den Reisen kannte, wußte natürlich Bescheid. (A „Herakles“-Text aus „Zement“.) Die Theater- propos „Antisemitismus“ - es handelt sich um leute räumten der Inszenierung mit all ihren eines der vielen hundert deutschen Wörter, die optischen und sonstigen Mitteln den Primat ein; mit dem griechischen, latinisierten Suffix dagegen betonten die Philologen die zentrale „ismus“ gebildet sind -: 1935 „bat“ das Reich- Stellung des - gegebenenfalls bearbeiteten - spropagandaministerium, „in der Judenfrage das Textes. Dazu Heiner Müller: „Das Theater kann Wort ‚antisemitisch’ oder ‚Antisemitismus’ zu und muß über die Leichen der Philologen hin- vermeiden, weil die deutsche Politik sich nur wegschreiten.“ (Man fühlte sich an Brecht erin- gegen die Juden, nicht aber gegen die Semiten nert: im Zusammenhang mit seiner Bearbeitung schlechthin richtet. Es soll statt dessen das Wort von Hölderlins „Antigone“ - die ihrerseits weit- ‚antijüdisch’ gebraucht werden“; das Substantiv gehend eine Bearbeitung der Sophokleischen wurde durch „antijüdische Politik“ o. ä. ersetzt. „Antigone“ war - sprach er davon, daß er kei- Mit dieser Sprachmanipulation wollten die Na- neswegs „philologische Interessen bedienen“ zis die Gefühle potentieller arabischer Partei- wolle.) Heiner Müller hat seine apodiktische gänger schonen ...) Nun zu Müllers Geschichte. Aussage allerdings am nächsten Kongreß-Tag Eine Babka bekommt Besuch vom KGB. Es ist relativiert: Die Literatur dürfe und müsse zwar aufgefallen, daß sie gelegentlich im Berjoska- über die Leichen der Philologen hinwegschrei- Laden, dem sowjetischen Intershop, einkauft; ten - „aber nicht zu schnell“. die Herren möchten wissen, woher sie die Va- Es war für mich übrigens eine große Überra- luta hat. - Ganz einfach: Während des Krieges schung, daß Müller, der doch so manchen düste- habe ich drei Juden vor der SS versteckt. Sie ren Text geschrieben hat - Müllers Antipode haben überlebt, sind nach Amerika gegangen Peter Hacks hat ihn, mit der ihm eigenen Vor- und schicken mir jetzt ab und zu ein paar Dollar. liebe für pointierte Formulierungen, „unseren - Dagegen haben wir ja gar nichts, kauf dir ruhig nördlichen Seneca“ genannt (auch hier wieder weiter dein Päckchen Kaffee. Aber wenn sich ein Stück Antikerezeption!) - , ein denkbar hei- das im letzten Krieg abgespielt hat, müssen die- ter-witziger Mensch war, der eine wohlpoin- se Juden doch schon ziemlich alt sein? - Ja, um tierte Anekdote nach der anderen zum besten die 80. - Aber da werden sie irgendwann einmal gab. Aber bevor ich eine seiner besten Stories sterben, und was machst du dann ohne diese erzähle, muß ich etwas vorausschicken. Bis Juden? - Die Alte, pfiffig: Hab schon wieder 1989 war der starke Antisemitismus beim drei versteckt. „Großen Bruder“, um es mit Orwell zu sagen, in JÜRGEN WERNER, Leipzig der DDR absolutes Tabu, weil nicht sein konnte,

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