Plenarprotokoll 15/12

Deutscher

Stenografischer Bericht

12. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Inhalt:

Erweiterung der Tagesordnung ...... 733 A Zusatztagesordnungspunkt 1: Antrag der Abgeordneten Dr. , Dr. , weiterer Tagesordnungspunkt 1: Abgeordneter und der Fraktion der FDP: a) Erste Beratung des von der Bundes- Weniger Staat – weniger Steuern regierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksache 15/122) ...... 734 A Gesetzes über die Feststellung des Bun- deshaushaltsplans für das Haushaltsjahr in Verbindung mit 2003 (Haushaltsgesetz 2003) (Drucksache 15/150) ...... 733 D Zusatztagesordnungspunkt 2: b) Erste Beratung des von der Bundes- Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann regierung eingebrachten Entwurfs eines Otto Solms, Jürgen Koppelin, weiterer Ab- Gesetzes über die Feststellung eines geordneter und der Fraktion der FDP: Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer für das Haushaltsjahr 2002 (Nach- (Drucksache 15/123) ...... 734 B tragshaushaltsgesetz 2002) (Drucksache 15/149) ...... 733 D , Bundesminister BMF ...... 734 C CDU/CSU ...... 745 C c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über den Joachim Poß SPD ...... 750 D Stand und die voraussichtliche Ent- Dr. Günter Rexrodt FDP ...... 754 A wicklung der Finanzwirtschaft des Bundes Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE (Drucksache 15/151) ...... 734 A GRÜNEN ...... 755 D Dietrich Austermann CDU/CSU ...... 758 D in Verbindung mit Walter Schöler SPD ...... 762 D Dr. Hermann Otto Solms FDP ...... 766 A Tagesordnungspunkt 2: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 768 A Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 770 B NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- Bartholomäus Kalb CDU/CSU ...... 771 C zes zum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen (Steuervergüns- Jörg-Otto Spiller SPD ...... 773 C tigungsabbaugesetz – StVergAbG) Dr. Hermann Otto Solms FDP ...... 776 A (Drucksache 15/119) ...... 734 A Dr. CDU/CSU ...... 776 D in Verbindung mit (Heidelberg) SPD ...... 779 C II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. , Dienstag, den 3. Dezember 2002

Tagesordnungspunkt 7: 1413 (2002) vom 23. Mai 2002 und 1444 (2002) vom 27. November 2002 des Si- a) Beratung des Antrags der Bundesregie- cherheitsrates der Vereinten Nationen rung: Beteiligung bewaffneter deut- (Drucksache 15/128) ...... 782 C scher Streitkräfte an dem NATO- geführten Einsatz auf mazedoni- schem Territorium zur weiteren Sta- Tagesordnungspunkt 8: bilisierung des Friedensprozesses und zum Schutz von Beobachtern a) Beratung der Beschlussempfehlung des internationaler Organisationen im Petitionsausschusses Sammelüber- Rahmen der weiteren Implementie- sicht 1 zu Petitionen rung des politischen Rahmenabkom- (Drucksache 15/57) ...... 782 D mens vom 13. August 2001 auf der Grundlage des Ersuchens des maze- b) Beratung der Beschlussempfehlung des donischen Präsidenten Trajkovski Petitionsausschusses Sammelüber- vom 21. November 2002 und der Re- sicht 2 zu Petitionen solution 1371 (2001) des Sicherheits- (Drucksache 15/58) ...... 783 A rates der Vereinten Nationen vom c) Beratung der Beschlussempfehlung des 26. September 2001 Petitionsausschusses Sammelüber- (Drucksache 15/127) ...... 782 A sicht 3 zu Petitionen b) Erste Beratung des von der Bundes- (Drucksache 15/59) ...... 783 A regierung eingebrachten Entwurfs eines d) Beratung der Beschlussempfehlung des Gesetzes zu dem Abkommen vom Petitionsausschusses Sammelüber- 18. Februar 2002 zwischen der Regie- sicht 4 zu Petitionen rung der Bundesrepublik Deutsch- (Drucksache 15/61) ...... 783 A land und der Regierung der Republik Polen über die Zusammenarbeit der e) Beratung der Beschlussempfehlung des Polizeibehörden und der Grenzschutz- Petitionsausschusses Sammelüber- behörden in den Grenzgebieten sicht 5 zu Petitionen (Drucksache 15/11) ...... 782 B (Drucksache 15/62) ...... 783 B c) Erste Beratung des von der Bundes- Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 783 B regierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Peter Paziorek CDU/CSU ...... 784 D Gesetzes zu dem Vertrag vom 26. Juli 2001 zwischen der Bundesrepublik Elke Ferner SPD ...... 787 A Deutschland und der Tschechischen Birgit Homburger FDP ...... Republik über den Bau einer Grenz- 789 B brücke an der gemeinsamen Staats- Horst Kubatschka SPD ...... 790 C grenze in Anbindung an die Bundes- straße B 20 und die Staatsstraße I/26 CDU/CSU ...... 792 A (Drucksache 15/12) ...... 782 C René Röspel SPD ...... 793 A d) Erste Beratung des von der Bundes- Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ regierung eingebrachten Entwurfs eines DIE GRÜNEN ...... 794 B Gesetzes zur Neuregelung des inter- Dr. Christian Eberl FDP ...... 795 C nationalen Insolvenzrechts (Drucksache 15/16) ...... 782 C Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker SPD ...... 796 D Albrecht Feibel CDU/CSU ...... 798 C in Verbindung mit Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 800 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Dr. Peter Paziorek CDU/CSU ...... 801 D Weitere Überweisung im vereinfachten Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/DIE Verfahren (Ergänzung zu TOP 7): GRÜNEN ...... 802 B Beratung des Antrags der Bundesregie- , Bundesministerin BMBF 802 B rung: Fortsetzung der Beteiligung be- waffneter deutscher Streitkräfte an dem Dr. Maria Böhmer CDU/CSU ...... 805 D Einsatz einer Internationalen Sicher- Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE heitsunterstützungstruppe in Afghanis- GRÜNEN ...... 806 C tan auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001, Jörg Tauss SPD ...... 807 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 III

Hans-Josef Fell BÜNDNIS 90/DIE hebung des Gesetzes zur Modulation GRÜNEN ...... 809 C von Direktzahlungen im Rahmen der (Homburg) FDP . . . . . 811 A Gemeinsamen Agrarpolitik und zur Än- derung des GAK-Gesetzes SPD ...... 812 B (Drucksache 15/108) ...... 846 D CDU/CSU ...... 815 B Renate Künast, Bundesministerin BMVEL . . 847 A Jörg Tauss SPD ...... 817 B CDU/CSU ...... 848 D CDU/CSU ...... 818 C Matthias Weisheit SPD ...... 850 B Grietje Bettin BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 819 B FDP ...... 820 D Peter H. Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU ...... 851 C Ulrich Kasparick SPD ...... 822 B Hans-Michael Goldmann FDP ...... 852 B Marion Seib CDU/CSU ...... 823 B Jörg Tauss SPD ...... 825 B Gabriele Hiller-Ohm SPD ...... 853 D Cornelia Pieper FDP ...... 825 D Ursula Heinen CDU/CSU ...... 855 A , Bundesministerin BMFSFJ 826 A BÜNDNIS 90/DIE Ina Lenke FDP ...... 829 B GRÜNEN ...... 855 D Maria Eichhorn CDU/CSU ...... 829 D Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 857 A Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 832 B Gudrun Kopp FDP ...... 859 D Ina Lenke FDP ...... 833 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) SPD ...... 860 A FDP ...... 833 D CDU/CSU ...... 861 C Christel Humme SPD ...... 835 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 863 B CDU/CSU ...... 837 A Albert Deß CDU/CSU ...... 864 B Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 840 A Peter H. Carstensen (Nordstrand) Klaus Haupt FDP ...... 841 B CDU/CSU ...... 865 B Marlene Rupprecht (Tuchenbach) SPD . . . . 842 C Michael Müller (Düsseldorf) SPD ...... 866 B Thomas Dörflinger CDU/CSU ...... 844 C Nächste Sitzung ...... 868 C

Zusatztagesordnungspunkt 4: Anlage 1 Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zurAuf- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 869 A

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12. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Beginn: 10.00 Uhr

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: 1444 (2002) vom 27. November 2002 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die – Drucksache 15/128 – Sitzung ist eröffnet. Überweisungsvorschlag: Die Kollegin Heidemarie Wieczorek-Zeul feierte am Auswärtiger Ausschuss (f) 21. November ihren 60. Geburtstag. Ich gratuliere ihr Rechtsausschuss nachträglich im Namen des Hauses sehr herzlich und Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe wünsche ihr alles Gute. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (Beifall) Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene 4. Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Modula- vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: tion von Direktzahlungen im Rahmen der Gemeinsamen (B) Agrarpolitik und zur Änderung des GAK-Gesetzes (D) 1. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, Carl-Ludwig Thiele, weiterer – Drucksache 15/108 – Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Weniger Staat – we- Überweisungsvorschlag: niger Steuern Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und – Drucksache 15/122 – Landwirtschaft (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit Rechtsausschuss erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie damit einver- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und standen? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen. Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus Ich rufe die Tagesordnungspunkte 1 a bis 1 c auf: Haushaltsausschuss 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Solms, Jürgen Koppelin, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordne- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fest- ter und der Fraktion der FDP:Keine Erhöhung der Mehr- stellung des Bundeshaushaltsplans für das Haus- wertsteuer haltsjahr 2003 – Drucksache 15/123 – (Haushaltsgesetz 2003) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) – Drucksache 15/150 – Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Haushaltsausschuss gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Fest- 3. Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren(Ergän- stellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan zung zu TOP 7) für das Haushaltsjahr 2002 Beratung des Antrags der Bundesregierung:Fortsetzung der (Nachtragshaushaltsgesetz 2002) Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein- – Drucksache 15/149 – satz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) Überweisungsvorschlag: vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) vom 23. Mai 2002 und Haushaltsausschuss 734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: (C) regierung Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Bericht über den Stand und die voraussichtliche ren! Deutschland steht am Anfang des 21. Jahrhunderts vor Entwicklung der Finanzwirtschaft des Bundes großen Herausforderungen: die deutsche Einheit zu ge- – Drucksache 15/151 – stalten – wir sind auf halbem Wege; wir brauchen noch eine Überweisungsvorschlag: halbe Generation; die Einheit zu vollenden haben wir uns Haushaltsausschuss mit dem Solidarpakt II vorgenommen –, die europäische Einheit mit zu gestalten, offensiv in den Binnenmarkt hin- Außerdem rufe ich den Tagesordnungspunkt 2 sowie einzugehen – das wird eine Menge von Verhaltensänderun- die Zusatzpunkte 1 und 2 auf: gen auch in unserem Lande erfordern –, die Situation Deutschlands und vor allem die Situation der deutschen 2. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Wirtschaft in einer globalisierten Welt zu stärken – dies al- und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- les vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft. brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau In der Mitte dieses Jahrhunderts wird sich die Zahl der von Steuervergünstigungen und Ausnahmere- Älteren, die dann Rentenempfänger sein werden, im Ver- gelungen (Steuervergünstigungsabbaugesetz – hältnis zu der Zahl derer, die dann Beitragszahler sein StVergAbG) werden, verdoppelt haben. Dies wirft schwerwiegende – Drucksache 15/119 – Fragen nach der Generationengerechtigkeit in unserer Ge- Überweisungsvorschlag: sellschaft auf, die nicht einfach zu beantworten sind. Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Deutschland braucht deshalb am Beginn des 21. Jahr- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und hunderts tief greifende Reformen. Die Regierung Schröder Landwirtschaft hat damit begonnen. Wir waren dabei erfolgreich. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordnetenchen bei der CDU/CSU) Dr. Hermann Otto Solms, Dr. Andreas Pinkwart, – Meine Damen und Herren, man muss immer wieder da- Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und ran erinnern: Wenn Sie mit der Haushaltskonsolidierung der Fraktion der FDP begonnen hätten, hätten wir heute eine Reihe von Proble- Weniger Staat – weniger Steuern men weniger. – Drucksache 15/122 – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) (D) Überweisungsvorschlag: DIE GRÜNEN) Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Die Haushaltskonsolidierung können Sie an Zahlen Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ablesen. 1999, als ich das Amt antrat, waren 21,4 Prozent Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und unserer Steuern für Zinsen zu zahlen. Wir sind im nächs- Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus ten Jahr bei 19 Prozent. Diese Differenz von 2,4 Prozent- Haushaltsausschuss punkten ist der Konsolidierungsgewinn der letzten vier Jahre. Er wurde mühselig erarbeitet, und zwar von uns ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordnetenund nicht von Ihnen. Sie haben das nicht zuwege ge- Dr. Hermann Otto Solms, Jürgen Koppelin, Rainer bracht. Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der FDP DIE GRÜNEN) Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer Wir haben, entgegen der Mär, die Sie noch immer ver- – Drucksache 15/123 – breiten, obwohl der Wahlkampf längst vorbei ist, auf der Überweisungsvorschlag: Ausgabenseite konsolidiert. Der Bundeshaushalt 1998 Finanzausschuss (f) hatte am Bruttoinlandsprodukt einen Anteil von 12,1 Pro- Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zent. Der Bundeshaushalt des Jahres 2003 hat einen An- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und teil von 11,3 Prozent. Das sind 0,8 Prozentpunkte bzw. Landwirtschaft 16 Milliarden Euro weniger. Das ist die Konsolidierung Ausschuss für Tourismus auf der Ausgabenseite, die Sie nicht zuwege gebracht ha- Haushaltsausschuss ben. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Haushaltsberatungen heute im Anschluss an die Einbrin- DIE GRÜNEN) gung neun Stunden, am Mittwoch zehneinhalb Stunden und am Donnerstag fünfeinhalb Stunden vorgesehen. – Dagegen Der Staat spart bei sich selber. Im Bereich des öffentli- gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. chen Dienstes haben schon Sie damit begonnen – das will Das Wort zur Einbringung des Haushaltes hat der Bun- ich an dieser Stelle gerne sagen – und wir haben das konse- desminister der Finanzen, Hans Eichel. quent weitergeführt: 1998 hatten wir 314 000 Beschäftigte beim Bund, im Jahre 2002 noch 288 000. Die Zahl der Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schäftigten im öffentlichen Dienst des Bundes liegt im wie- DIE GRÜNEN) dervereinigten Deutschland also unter der Zahl, die die alte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 735

Bundesminister Hans Eichel (A) Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung an Beschäftig- Wir haben das im Bundeshaushalt im Jahr 2001 trotz (C) ten aufzuweisen hatte. Das ist unser Konsolidierungserfolg. 2 Prozent weniger Wachstum, als alle Institute vorausge- sagt haben, mit einer Punktlandung verkraftet. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ( [CDU/CSU]: Bruchlandung!) Wir haben die entscheidendeRentenstrukturreform Die Probleme im vergangenen Jahr, die mir die Diskus- gemacht: Neben die umlagefinanzierte Rente tritt die kapi- sion um den blauen Brief im Frühjahr eingetragen haben, talgedeckte Eigenvorsorge, die steuerlich gefördert wird. waren nicht vom Bund gemacht; die Länderhaushalte sind im vergangenen Jahr aus dem Ruder gelaufen. Das ist die (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Und so ist die Wahrheit. Rente sicher?) (Beifall der Abg. [BÜNDNIS 90/ Das war eine grundlegende Weichenstellung. Kein ande- DIE GRÜNEN]) res großes Land auf dem Kontinent hat bisher eine solche Rentenstrukturreform geschafft. Im Jahr 2002 allerdings, im zweiten Jahr der Wachstums- schwäche, konnten wir nichts mehr daran ändern, dass es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch den Bundeshaushalt getroffen hat, und zwar, anders des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) als die Länderhaushalte, die nur auf der Einnahmeseite Bei allen Problemen, die wir in diesem Winter bekom- getroffen sind, auf der Einnahmeseite wie auch, weil wir men werden – ich komme noch darauf zu sprechen –, will für den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme ich daran erinnern: Wir haben Arbeitslosigkeit abgebaut verantwortlich sind, auf der Ausgabenseite. und Beschäftigung aufgebaut. Man muss deutlich sagen: Die Veränderungsrate beim Defizit in Deutschland lag von 2001 auf 2002 bei 1 Prozent. (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – Ich vergleiche das mit dem, was 2001 in Europa war und [CDU/CSU]: Das ist eine Lach- was 2002 nach den Prognosen der Europäischen Kom- nummer!) mission sein wird. Das Defizit ist um 1 Prozentpunkt von – Sie wollen das alles vergessen. Lassen wir einmal die 2,8 auf 3,8 Prozent gestiegen. Dabei kommt heraus, dass Zahlen sprechen: Von 1994 auf 1998 ist die Zahl der Er- acht Länder in der Europäischen Union eine weitaus stär- werbstätigen in Deutschland, und zwar immer zum ersten kere Zielverfehlung als Deutschland haben. Diese Länder Halbjahr, um 106 000 gestiegen und von 1998 auf 2002 aber hatten günstigere Ausgangsbedingungen. Bei uns war um 1,3 Millionen. Das ist der Zugewinn an Beschäftigung dies nicht der Fall. Das ist unser Problem. Das heißt, wir sind in unserer Regierungszeit. bei der Konsolidierung in einer Phase erwischt worden, als wir noch keinen ausgeglichenen Haushalt hatten. Das ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des (B) größtenteils der „Erfolg“ Ihrer Politik in den 90er-Jahren. (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. [CDU/CSU]: Mit Ihren Statistik- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tricks!) DIE GRÜNEN) Wir haben die Erwerbstätigenquote in Deutschland spür- Bei acht Ländern ist die Abweichung in der Wachstums- bar erhöht: Im Jahr 1994 lag sie bei 64,7 Prozent, im Jahr abschwächung auf den Staatshaushalt zum Teil drama- 1998 – damals haben wir die Regierung übernommen –tisch stärker durchgeschlagen als bei uns: Luxemburg, bei 63,9 Prozent und im vergangenen Jahr – das sind die Schweden, Irland, Österreich, Großbritannien, Frank- neuesten Zahlen – bei 65,7 Prozent. Das ist die Bilanz un- reich, Finnland und Dänemark. All diese Länder haben eine stärkere Abweichung als wir. Ihr dauerndes Gerede, serer Beschäftigungspolitik. Dass wir im Winter Proble- wir seien das Schlusslicht in Europa, ist schlicht Unfug. me bekommen, weiß ich auch, aber man muss auch erken- nen, dass wir weiter vorangekommen sind als Sie. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) In diesem Winter wird dieArbeitslosigkeit, wie ich fürchte, wieder deutlich über 4 Millionen steigen. Herr Wir sind durch die Wachstumsschwäche in 2001 und in Hundt sprach heute Morgen von 4,3 Millionen Arbeitslo- 2002 zurückgeworfen worden. Aber wir als die größte sen. Aber auch dann gilt: Es sind 500 000 Arbeitslose we- Volkswirtschaft in der Europäischen Union mit der stärks- niger als im Winter 1997/98, als Sie die Verantwortung ten Exportverflechtung aller großen Volkswirtschaften in trugen. Das wollen wir nicht vergessen. Wir lassen es der Europäischen Union sind durch die bisherige Wachs- auch nicht zu, dass es vergessen wird. tumsschwäche der Weltwirtschaftbesser hindurchge- kommen als die beiden anderen großen Industrienationen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dieser Erde. Japan hatte 2001 minus 0,1 Prozent zu ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zeichnen, die USA – sie werden von Ihnen immer als Vor- Das heißt nicht, dass man nicht alles dagegen tun muss. bild propagiert – plus 0,3 Prozent und Deutschland – die Aber das heißt auch, alles dagegen zu tun, was Sie an Zahlen waren auch nicht gerade toll – plus 0,6 Prozent. Falschmünzerei in die öffentliche Debatte in Deutschland Das ist doppelt so viel wie die Vereinigten Staaten. Das ist bringen. Mit uns nicht! unsere Lage in der Weltwirtschaft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Kauder [CDU/CSU]: Sie haben allen Grund, Eichel doppelt so gut wie die USA!) von Falschmünzerei zu reden!) 736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Bundesminister Hans Eichel (A) Auch wenn die Ausgangslage schwieriger geworden umso konsequenter zu konsolidieren. Genau das machen (C) ist, bleibt es dabei: 2006 wird es einen ausgeglichenen ge- wir. samtstaatlichen Bundeshaushalt geben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sagen Sie die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wahrheit!) Bei dieser Gelegenheit möchte ich einige Sätze zu der 2003 werden wir alle Anstrengungen unternehmen – un- unsäglichen Diskussion sagen, die heute Morgen in dem ser Konzept beweist dies –, um wieder unter die Defizit- von Herrn Altmaier geäußerten Vorwurf der Bilanzfäl- grenze von 3 Prozent zu kommen. schung gipfelte. (Beifall des Abg. Lothar Mark [SPD]) (Zurufe von der CDU/CSU: Ja!) Sie und Ihre Landesregierungen werden daran gemessen Ich weiß nicht, ob Ihnen noch bewusst ist, wohin Sie sich werden, ob Sie dazu Ihren Beitrag leisten. Dem werden mit einer solchen Verrohung der politischen Sprache in Sie nicht mehr lange ausweichen können. diesem Land begeben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ Sie sind doch schon bald im Ruhestand!) CSU) Diesen Kurs einzuhalten – so schwierig das auch ist – Glauben Sie, dass es besser würde, wenn ich mit dem Be- ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass wirgriff „Verleumder“ antworten würde? unserer Verpflichtung im Rahmen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspaktes und für unsere ge- (Zuruf von der CDU/CSU: Das haben Sie meinsame Währung nachkommen. Damit geben wir der doch gemacht!) Europäischen Zentralbank die Möglichkeit, mit der Wer so die Politik in diesem Lande gestaltet, hat zwar Geldpolitik zum Wachstum beizutragen. Voraussetzung nicht dieselbe ökonomische Basis wie die Weimarer Re- dafür ist die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. publik geschaffen, aber er hat einen fundamentalen Feh- Dies ist auch gegenüber unseren Kindern und Enkeln ler von Weimar wiederholt, nämlich sich selber, die poli- angesichts einer alternden Gesellschaft unsere Verant- tische Klasse insgesamt, kaputtzumachen. Das aber tun wortung. Sie! (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) (B) (D) Der Weg freilich wird anstrengender. Der Nachtrags- Hans Mommsen hat mit seinem Artikel in der „Süddeut- haushalt 2002 bringt – natürlich hat mir das keine Freude schen Zeitung“ sehr Recht. Mir ist bekannt, dass es in gemacht – eine massive Erhöhung der Neuverschuldung Ihren Reihen viele gibt, die das auch nicht in Ordnung fin- über das hinaus, was ich geplant hatte: von 21,1 aufden. Sie sollten langsam dafür sorgen, dass Sie sich in Ih- 34,6 Milliarden Euro. Im Rahmen von Art. 115 des Grund- rer Partei durchsetzen, meine Damen und Herren. gesetzes liegt dem eine Störung des gesamtwirtschaft- lichen Gleichgewichts zugrunde. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie sind eine Michael Glos [CDU/CSU]: Wenn der Aufstand Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge- der Anständigen kommt, seid ihr weg!) wichts!) Es ist wirklich abenteuerlich. Alle Fakten werden mo- Es gibt keinen anderen vernünftigen Weg. Als sich die natlich vom Bundesfinanzministerium veröffentlicht. Situation abzeichnete, wäre andernfalls ein Gegensteuern in einem sich abflachenden Wirtschaftswachstum nur (Widerspruch bei der CDU/CSU) noch durch das Stilllegen einer Reihe von Investitions- Der verehrte neue stellvertretende CDU/CSU-Vorsit- vorhaben möglich gewesen. Ich kenne keinen Ökonomen zende, Herr Böhr, (Zurufe von der CDU/CSU: Das stimmt!) (Michael Glos [CDU/CSU]: Den haben Sie – Sie können noch nicht einmal bis zum Ende zuhören –, überhaupt nicht zu verehren! Das ist unsere insbesondere nicht unter denen, die intensiv am europä- Baustelle!) ischen Stabilitäts- und Wachstumspakt festhalten, wie forderte kürzlich eine gläserne Bundesregierung. Zu auch ich das tue, die das für eine vernünftige Alternative diesem Zweck müssten vierteljährlich Einnahmen, Aus- gehalten hätten. gaben und andere Daten veröffentlicht werden. Aber, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) meine Damen und Herren, bereits seit August 2001 wird auf meine Entscheidung hin monatlich veröffentlicht, wie Hier gilt, dass die automatischen Stabilisatoren wir- sich die Steuereinnahmen und Ausgaben entwickeln und ken müssen. Das heißt, dass man in einer konjunkturel- wie die Finanzierungssalden beim Bund und bei den Län- len Schwächephase die Mindereinnahmen, die sich dern aussehen. durch geringere Steuereinnahmen ergeben, und die Mehrausgaben, die man für den Arbeitsmarkt braucht, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hinnehmen muss, um in der nächsten Aufschwungphase DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 737

Bundesminister Hans Eichel (A) Prognosen allerdings erstellen wir nur dreimal im Jahr Das, was Sie mit dem beabsichtigen, was sie jetzt ver- (C) anstalten, liegt klar auf der Hand, übrigens auch für die (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Aber Finanzminister aller Bundesländer. Der Untersuchungs- richtige!) ausschuss wird eine spannende Veranstaltung werden. – dabei bleibt es auch, und zwar im Wahljahr wie in allen Denn Sie haben in der Opposition eine Doppelstrategie anderen Jahren –, und zwar im Mai und November im Zu- verfolgt: Herr Merz hat immer gesagt, dass alles mies sei, sammenhang mit den beiden Steuerschätzungen und im während Frau Merkel und Herr Stoiber für das Verkünden Januar für den Jahreswirtschaftsbericht und das Stabilitäts- der Wohltaten zuständig waren. Wenn das, was Sie in programm. Ihrem 100-Tage-Programm versprochen haben, tatsäch- lich umgesetzt worden wäre, dann hätten im Vergleich zu Was Ihre negative Einschätzung angeht, gebe ich zu, unseren Entscheidungen 21 Milliarden Euro zusätzlich dass ich sie nicht in dem Maße teile, weil nämlich, ausgegeben werden müssen. Das ist 1 Prozent vom Brut- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wahlkampf toinlandsprodukt. Frau Merkel, hat Ihnen denn Herr war!) Merz, als Sie drei Wochen vor der Bundestagswahl dieses als wir im Frühjahr das Wachstum für 2002 auf drei Vier- Programm vorgestellt haben, niemals aus seiner Sicht die tel Prozent geschätzt haben, alle wirtschaftswissenschaft- Lage der Staatsfinanzen dargestellt und Sie nicht darauf lichen Forschungsinstitute darüber lagen. Ich möchte hingewiesen, dass ein solches Programm zur Folge habe, aus dem Frühjahrsgutachten der Forschungsinstitute zi- dass man die 3-Prozent-Grenze erheblich verfehlen tieren: werde? Das ist doch eine spannende Frage. Das Bruttoinlandsprodukt wird im Jahresverlauf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 1 DIE GRÜNEN) 2002 um 2 /4 Prozent steigen, im Jahresdurchschnitt wegen der niedrigen Ausgangsbasis jedoch nur um Ich frage auch: Was hat denn der verehrte Kollege 0,9 Prozent. Faltlhauser seinem Ministerpräsidenten über die Ent- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das können wicklung der Finanzlage gesagt oder hat er es ihm gar Sie alles im Untersuchungsausschuss vortra- nicht gesagt? Oder hat Herr Stoiber das, was Herr gen!) Faltlhauser gesagt hat, nicht ernst genommen? Wenn ich mir die Entwicklungsgeschichte des Untersuchungsaus- Noch im August lagen fast alle Wirtschaftsforschungs- schusses anschaue, dann kann ich nur sagen: Ich freue institute über unseren Voraussagen: Ifo 0,7 Prozent, das mich auf ihn. Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv 0,7 Prozent, das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP – (B) 0,6 bis 0,7 Prozent, das Institut für Weltwirtschaft 1,2 Pro- Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das spürt man (D) zent. Das einzige Institut, das unter unseren Voraussagen richtig!) lag, war das DIW mit 0,6 Prozent. Aber auch das DIW ist Frau Merkel, Sie hätten sich nicht ausgerechnet von Herrn ausdrücklich von einer Beschleunigung in der zweiten Koch – ich weiß, wovon ich rede –, Jahreshälfte ausgegangen. Das Institut für Wirtschaftsfor- schung Halle ist von 0,9 Prozent ausgegangen, der Inter- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nationale Währungsfonds ebenfalls von 0,9 Prozent, die DIE GRÜNEN) OECD von 0,7 Prozent, Deutsche Bank 1,2 Prozent,der seinen Wahlkampf in Hessen mit Schwarzgeld und ei- Dresdner Bank 1 Prozent und wir sind von drei Viertel ner unsäglichen Kampagne gewonnen hat, Prozent ausgegangen. Dass es im Herbst zu einer drama- tisch schnellen Abwärtsentwicklung gekommen ist, ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wohl wahr. Aber auch das ist klar: Der deutsche Finanz- DIE GRÜNEN) minister kann nur dann feststellen: „Wir reißen die 3 Pro- einen solchen Untersuchungsausschuss einreden lassen zent“, wenn es zweifelsfrei feststeht und er muss auch die dürfen. internationalen Konsequenzen eines solchen Schritts be- denken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie wollten den blauen Brief vermeiden!) Verehrte Frau Koch Das würde sicherlich jeder tun, der dieses Amt innehat. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Für mich war hinsichtlich des Eingangs der tatsächli- – Entschuldigung, das tut mir Leid –, sehr verehrte Frau chen Steuern von September – denn das war der Abbruch Merkel, es wird beabsichtigt, mit diesem Untersuchungs- in 2001 – klar: Wenn wir 2002 unter den 3 Prozent hätten ausschuss nicht nur eine bestimmte Hauptwirkung, son- bleiben wollen, hätten die Steuern deutlich über das Vor- dern auch gewisse Nebenwirkungen zu erzielen. Die be- jahresergebnis hinausgehen müssen, wie im Oktober ge- absichtigte Hauptwirkung soll natürlich sein, bis zum schehen. Im September war das allerdings nicht der Fall 2. Februar 2003 nicht sagen zu müssen, was Sie an unse- und damit war kein Aufholen möglich. rer Stelle täten, obwohl Sie das schon jetzt in den Regie- rungen der unionsgeführten Bundesländer sagen müssten. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Fragen Sie mal in Ihrer eigenen Fraktion nach dem Un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sinn!) DIE GRÜNEN) 738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Bundesminister Hans Eichel (A) Es ist klar, dass nichts, was man jetzt tut, populär sein kann. keine neuen Schulden gemacht. Wir müssen vielmehr die (C) Deshalb kann man viele Menschen aufhetzen. Aber erst beabsichtigten Steuersenkungen verschieben. Das haben dann, wenn sichtbar wird, was Sie machen wollen, wird es wir drei Wochen vor der Bundestagswahl gesagt. richtig spannend. Sie wollen das, was Sie zu tun beabsich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tigen, verschleiern und erst nach dem 2. Februar 2003 DIE GRÜNEN) kundtun. Das ist die Wirklichkeit. Wir sagen dagegen, was wir zu tun beabsichtigen. Hier lasse ich mir von Ihnen keinen einschenken. Es wird zurückgeschossen; da können Sie sicher sein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Der Untersuchungsausschuss soll aber noch zwei Ne- Was sind das für Ausdrücke! Der Mann ist ge- benwirkungen haben, die einkalkuliert sind. Sie wollen fährlich! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) – das ist die erste beabsichtigte Nebenwirkung – von den Problemen der FDP ablenken; das verstehe ich. Aber die Angesichts zwei Jahre schwachen Wirtschaftswachs- zweite beabsichtigte Nebenwirkung, sehr verehrte Frau tums müssen wir den Haushalt 2003 auf eine neue Basis Merkel, ist ein bisschen problematischer. Um die Fragen, stellen. die ich Ihnen vorhin zu Ihrem Wahlprogramm gestellt (Michael Glos [CDU/CSU]: Seit 6 Uhr mor- habe, zu beantworten, muss man nichts weiter tun, als sich gens wird zurückgeschossen! – Dr. Wolfgang die mittelfristige Finanzplanung anzuschauen. Dann er- Schäuble [CDU/CSU]: Ein peinlicher Auftritt!) kennt man, dass Ihr gesamtes Wahlprogramm und insbe- sondere Ihr 100-Tage-Programm in den Zeitraum 2003 – Meine Damen und Herren, jetzt weiß ich, warum wir das bis 2006 überhaupt nicht hineinpassen. Hat Ihnen dasProgramm zur Kinderbetreuung aufgelegt haben. – Für Herr Merz auch nicht gesagt? den Haushalt 2003 und für die ganze Wahlperiode brau- chen wir eine neue Grundlage, die in die Basis zwei Jahre (Beifall bei der SPD) schwaches Wirtschaftswachstum in der Welt und bei uns Es werden doch auch diesbezüglich entsprechende Fragen einbezieht. Des Weiteren sollten wir von einem niedrige- im Untersuchungsausschuss gestellt werden. Vielleicht ren Wachstum ausgehen. Deswegen habe ich das Durch- wird auch Herr Koch gefragt werden, wie er das so ge- schnittswachstum der letzten zehn Jahre zugrunde gelegt, nannte Familiengeld finanzieren wollte, zu dem er sich nämlich 1,5 Prozent. Dieses Wachstum kann natürlich be- positiv geäußert hat. Er wird dann vielleicht antworten, stritten werden. Aber wir liegen mit dieser Annahme mit- dass er aus Loyalität zu seiner Parteivorsitzenden den Vor- ten im Prognosespektrum zwischen dem Sachverständi- schlag zum Familiengeld unterstützt habe. Das wäre wirk- genrat mit 1 Prozent, dem Internationalen Währungsfonds (B) lich die perfideste Art. mit 1,75 Prozent und der OECD, die vor wenigen Tagen (D) unsere Prognose bestätigt hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ( [CDU/CSU]: Falsch!) Als ich den Haushalt 2002im Bundestag begründet habe – das habe ich auch vor der Bundespressekonferenz Wir senken gegenüber dem Nachtragshaushalt 2002 gesagt –, habe ich gesagt, dass er auf Kante genäht sei. die Nettokreditaufnahme um 15,7 Milliarden Euro auf Aufgrund des zweiten Jahres mit schwachem Wirt-18,9 Milliarden Euro. Das ist eine riesige Kraftanstren- schaftswachstum seien keine Reserven vorhanden. Wenn gung, vergleichbar der, die wir 1999 bei der Einleitung die wirtschaftliche Entwicklung weiter negativ verlaufe, des Konsolidierungskurses unternommen haben. Das be- dann werde das auf den Haushalt durchschlagen. stätigt, dass wir voll auf Kurs bleiben. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Auf Kante!) Schwindler!) Die Ausgabenreduzierung gegenüber dem Nachtrags- Ich habe von Anfang an gesagt – übrigens manchmal nicht haushalt 2002 beträgt 1,8 Prozent bzw. 3,3 Prozent, wenn zur Freude meiner eigenen Parteikollegen –, dass dann man – das muss man wohl machen – den Hochwasserso- nichts mehr zu machen sei. lidaritätsfonds herausrechnet. Das sind real fast 5 Prozent weniger Ausgaben als in diesem Jahr, meine Damen und (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wer sich Herren. Zeigen Sie mir ein Land in Europa, das so konse- verteidigt, klagt sich an!) quent den Konsolidierungskurs geht. Damit übererfüllt Verehrter Herr Merz, wir reden vielleicht auch noch ein- der Bund seine Verpflichtungen, die er im Rahmen des na- mal über die Verantwortung, die Sie als Fraktionsvorsit- tionalen Stabilitätspaktes übernommen hat. zender hatten, und darüber, welche Anträge, die Ausga- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bensteigerungen zur Folge gehabt hätten, noch im Laufe DIE GRÜNEN) des Sommers des vergangenen Jahres eingebracht worden sind. Der Hauptteil – das gehört zugegebenermaßen zu den gegenwärtigen Kommunikationsproblemen – wird durch (Volker Kauder [CDU/CSU]: Reden Sie doch Ausgabenkürzungen erbracht. Über diesen Teil redet in einmal zum Haushalt!) der Öffentlichkeit fast niemand. Dass wir in dieser Situa- Wir haben eine Haushaltssperre verhängt und haben tion mit der Umsetzung des Hartz-Konzeptes, zum Bei- gesagt: Für die Finanzierung des Wiederaufbaus in den spiel einer schnelleren Vermittlung, keinen Zuschuss zur von der Flutkatastrophe betroffenen Gebieten werdenBundesanstalt für Arbeit leisten, bedeutet für alle Betei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 739

Bundesminister Hans Eichel (A) ligten eine enorme Kraftanstrengung. Dass wir die Ar- Ich beklage, dass die Debatte in Deutschland nur um(C) beitslosenhilfe um 2,5 Milliarden Euro kürzen, ist uns diesen Teil geführt wird, der übrigens bei der Reduzierung nicht leicht gefallen, denn das bedeutet einen Eingriff in der Neuverschuldung um 15,7 Milliarden Euro mit Ab- Besitzstände von Leuten, die nicht viel haben. Wir haben stand den kleinsten Teil ausmacht, nämlich beim Bundes- uns das sorgfältig angesehen und meinen, dass das ver- haushalt gerade etwas über 3 Milliarden Euro. Insgesamt tretbar ist. Aber, meine Damen und Herren, wer über die geht es um 5 Milliarden Euro, weil die Länder und Kom- Dienstwagenbesteuerung jammert, der sollte erst einmal munen daran beteiligt sind. über die Situation der Arbeitslosenhilfeempfänger reden. Das geschieht übrigens trotz einer historisch niedrigen Es ist nicht in Ordnung, was sich in der politischen Dis- Steuerquote. Damit wir uns richtig verstehen: Auch ich kussion in diesem Lande abspielt. will, dass die Staatsquotezurückgeführt wird. Ich will (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aber eines klar machen: Die Staatsquote kann nur zurück- DIE GRÜNEN) geführt werden, indem man die Staatsverschuldung und damit die Zinslast reduziert. Anderenfalls macht man den Als Finanzminister sage ich übrigens ganz ausdrück- Staat aktionsunfähig. lich: Diese Eingriffe werden nicht die einzigen sein, die wir im sozialen Bereich vornehmen müssen. Denn die Al- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ terung unserer Gesellschaft wird uns noch vor viele große DIE GRÜNEN) Aufgaben stellen. Aber, wer in solch einer Situation im- Das wollen wir jedenfalls nicht. mer nur auf die schwächsten Teile der Gesellschaft schaut und nicht einen Moment lang darüber nachdenkt, welchen Wir haben es zurzeit wieder einmal fast mit einem Ver- Beitrag auch er leisten müsste, der ist in der politischen fall der Steuerbasis zu tun. Deswegen steht im Wahlpro- Debatte aus meiner Sicht nicht auf der Seite derer, die sich gramm der Sozialdemokratie als eine von mehreren um einen sozialen Ausgleich bei diesem notwendigen Schwerpunktaufgaben der Steuerpolitik für diese Wahl- Modernisierungsprozess in unserer Gesellschaft be-periode die Befestigung der Steuerbasis. Ich bin mir ganz mühen. sicher, dass Ihre Finanzminister das keinen Deut anders sehen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Erstens. Wir haben einen hohen Umsatzsteuerbetrug. Ich habe mit den Ländern vor einem Jahr Maßnahmen da- Wir kürzen die Finanzhilfen weiter, und zwar nicht gegen verabredet, die wir dann hier beschlossen haben. nur – das ist auch eine spannende Debatte bei Ihnen – im Ich kann nicht erkennen, dass – mit Ausnahme des größ- Bergbau. Es steht übrigens in der Koalitionsvereinbarung, ten deutschen Bundeslandes – die Länder die Maßnah- dass die Finanzhilfen auch nach Auslaufen der jetzigen men, die wir ihnen möglich gemacht haben, beherzt um- (B) vertraglichen Regelung weiter heruntergefahren werden. setzen. Auf diesem Gebiet muss etwas geschehen, damit (D) Wir kürzen auch, weil der Wohnungsmarkt etwas anderes der Umsatzsteuerbetrug in Deutschland wirklich bekämpft nicht mehr vernünftig erscheinen lässt, zum Beispiel im wird. Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Hier bekommen wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ jedoch von Ihnen wieder Vorwürfe gemacht. Die Bilanz DIE GRÜNEN) des Abbaus der Finanzhilfen, also der direkten Subven- tionen, zeigt Folgendes: 1998 standen in Ihrem Haushalt Zweitens. Das InstrumentKontrollmitteilungen 11,4 Milliarden Euro. In unserem Haushalt stehen für die- kennt man in sehr vielen Ländern, und zwar gerade in den ses Jahr 8,4 Milliarden Euro und für das nächste Jahrgroßen, angelsächsischen Ländern. Dieses Instrument 7,8 Milliarden Euro. Das bedeutet eine Reduzierung der – das ist der Trend – wird international üblich werden. Finanzhilfen, der direkten Subventionen, von 30 Prozent Warum? – Es gibt doch angesichts des Binnenmarktes und im Laufe von fünf Jahren. So etwas haben Sie vorher nie der Globalisierung nur zwei Wege: Entweder einigt man zuwege gebracht, meine Damen und Herren. sich bei allen für die globalisierte Welt oder den Binnen- markt wichtigen Steuern auf ein bestimmtes Steuersystem – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dafür gibt es die einfache Prognose, dass das noch Jahr- DIE GRÜNEN) zehnte dauern wird, wenn nicht noch länger; ich glaube gar nicht, dass es dazu kommt – oder man sorgt dafür, dass Aber wer über Subventionen redet, der soll nicht nur jedes Land für seine steuerpflichtigen Bürger seine Ein- über die Ausgabenseite reden. Dort sind nämlich die Sub- nahmen erhält. Das geht dann nur über Kontrollmitteilun- ventionen untergebracht, die insbesondere diejenigen er- gen. Das entspricht der Situation in der Europäischen halten, die überhaupt keine Steuern zahlen, weil ihr Ein- Union, in der wir uns einstimmig auf Kontrollmitteilun- kommen so niedrig ist. Das habe ich eben am Beispiel der gen verständigt haben. Arbeitslosenhilfe deutlich gemacht. Ich will auch noch etwas zu der Frage Bankgeheimnis Wer über Subventionen redet, der muss in der Tat auch sagen: Meine Damen und Herren, mich interessiert über- über Vergünstigungen im Steuerrecht reden. Das haben haupt nicht – das sollte niemanden interessieren –, was auf Sie übrigens in anderem Zusammenhang auch immer ge- dem Konto eines Privatmannes vor sich geht. tan. Dort gibt es eine ganze Menge von Vergünstigungen für diejenigen, die steuerpflichtig sind, aber nicht für die- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das glaube jenigen, die ein so niedriges Einkommen haben, dass sie ich nicht!) keine Steuern zahlen. Deshalb muss man sich diese Sub- Es gibt aber zwei Ausnahmen. Eine Ausnahme besteht ventionen mit ansehen. darin, wenn es um kriminelle Aktionen wie beispielsweise 740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Bundesminister Hans Eichel (A) Geldwäsche geht. Dazu haben wir eine Reihe von Geset- Große Unternehmen haben mittlerweile beispielsweise (C) zen verabschiedet. Ich hoffe, dass wir in diesem Punkt wunderbare Dokumentationen darüber – solche Doku- keinen Streit haben. mentationen werden grenzüberschreitend erstellt –, an welcher Stelle eines Fließbandes eine Schraube fehlerhaft (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wahl- befestigt worden ist. Wir müssen zum Beispiel über Ver- betrug!) rechnungspreise so gut Bescheid wissen, dass wir verhin- Die zweite Ausnahme besteht darin, wenn es darum dern können, dass in Deutschland entstandene Gewinne geht, dem Finanzamt steuerpflichtige Vorgänge mitzutei- von der einen auf die andere Seite, also vom Inland ins len. Das ist nicht streitig in Amerika, das ist nicht streitig Ausland, geschoben werden, weswegen der deutsche Fis- in Großbritannien und das ist nicht streitig in Frankreich. kus das Nachsehen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Warum sollte es in Deutschland streitig sein? Sie das wollen. Das kann niemand wollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Außerdem muss jeder Lohnsteuerzahler sein Einkom- Sie haben im Wahlkampf entsprechende Forderungen er- men offen legen. Das heißt, bei ihm werden die Informa- hoben. Wir sind auf Ihre Mitwirkung an dieser Stelle ge- tionen zwangsweise offen gelegt. Das geschieht durch die spannt. Gehalts- und Lohnabteilung bei den Unternehmen. Von Ich komme zum Thema Steuervergünstigungen. Zu- dort gehen diese Informationen dann an das Finanzamt. allererst möchte ich eine Grundsatzbemerkung machen: Wo liegt also das Problem? – Ich kann es nicht erkennen. Ökonomisch gesehen besteht kein Unterschied zwischen Jetzt komme ich zu einem wichtigen Thema im Zu- dem Abbau einer ausgabenseitigen Finanzhilfe und der sammenhang mit der Spekulationssteuer: Das Bundes- Verringerung einer Steuervergünstigung. In beiden Fällen verfassungsgericht befasst sich damit, weil der Bundesfi- nimmt man jemandem Geld weg; es handelt sich – das ist nanzhof gesagt hat, diese Steuer werde praktisch nicht wahr – ökonomisch um denselben Sachverhalt. Wir müs- vollzogen; 95 Prozent derer, die bei der Veräußerung von sen uns darüber im Klaren sein, dass es sowohl auf der Akten innerhalb eines Jahres Gewinne erzielten, gäben Einnahmeseite als auch auf der Ausgabenseite Vergünsti- diese nicht an. Deswegen – so die Argumentation desgungen, zum Beispiel in Form von Subventionen, gibt. Bundesfinanzhofes – ist diese Steuer verfassungswidrig, An dieser Stelle setzen wir an, und zwar so, wie Sie es weil sie praktisch nicht vollzogen wird. immer gefordert haben: Steuervereinfachungen durch die Es gibt eine einfache Antwort: Dann erheben wir diese Reduktion der Anzahl von Ausnahmetatbeständen. Steuer, wie es in allen großen Ländern dieser Erde üblich (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Elke (B) ist. Wie Sie wissen, haben wir – in unserem Steuerpaket Wülfing [CDU/CSU]: Sie vergessen das Sen- (D) wird das deutlich – noch eine andere Konsequenz gezogen. ken dabei!) Darüber wird man noch diskutieren. Was wir tun, wird sich übrigens weitestgehend erst im Ich komme zum Thema Körperschaftsteuer. Sie hat- Jahre 2004 auswirken, wenn es nämlich zur nächsten ten im Wahlkampf Recht, auch wenn Ihr Argument falsch Stufe der Steuersenkungen – Verbreiterung der Bemes- war: Ja, es kann nicht hingenommen werden, dass die Kör- sungsgrundlage und Senkung der Steuersätze – kommen perschaftsteuer verfällt. Soweit es um die Ausschüttung wird. früherer Gewinne geht, ist das kein Problem; denn dieses Geld fällt unter die Kapitalertragsteuer. Leider können mir, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem Bundesfinanzminister, und den Finanzministern der DIE GRÜNEN) Länder selbst die sachverständigen Steuerschätzer – sie ar- In diesem Zusammenhang möchte ich nur auf wenige beiten übrigens nicht nur für die Institute der Bundesbank, Bereiche hinweisen. Stichwort Umsatzsteuer: Wenn man sondern auch für die Länder; sie alle sind neutral – erst von der Forderung einiger Gruppen von Lobbyisten nachgibt Steuerschätzung zu Steuerschätzung mitteilen, ob und wie und den unteren Mehrwertsteuersatz ausdehnt, dann führt viel Geld in die Kassen fließt. Erst sagen sie dann, man be- das gewissermaßen zu einer Zerstörung der Umsatzsteuer. komme Geld und anschließend teilen sie mit, man be-In Deutschland ist das schon der Fall. Ich erinnere mich komme doch keines. Angesichts dessen verliert man lang- an das, was Sie im vorigen Jahr und noch während dieses sam den Glauben an den Sinn dieser Veranstaltung. Sommers im Zusammenhang mit Handwerkerrechnun- gen versucht haben. Wir können den oberen Mehrwert- Wir haben bereits in dem Bericht an den Finanzaus- steuersatz nur dann halten, wenn nicht alles Mögliche un- schuss des Bundestages in der vorigen Wahlperiode da- ter den unteren Mehrwertsteuersatz fällt. rauf hingewiesen, dass Regelungsbedarf besteht. Diesen Bedarf erfüllen wir jetzt. Das heißt mit einem einfachen Der ursprüngliche Gedanke war sozial; denn Mehr- Satz – ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand wertsteuer zahlen auch diejenigen, deren Einkommen so von Ihnen dem widersprechen will –: Ein Unternehmen, gering ist, dass sie keine Lohn- und Einkommensteuer das Gewinne macht, soll Steuern zahlen. zahlen. Weil man nicht wollte, dass die niedrigen Ein- kommen von der Mehrwertsteuer in gleichem Maße be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ troffen sind, hat man dafür gesorgt, dass der Erwerb von DIE GRÜNEN) Gütern, deren Konsum der Befriedigung von Grundbe- Es geht dabei überhaupt nicht um Steuern, deren Zahlung dürfnissen dient, nur dem halben – inzwischen ist er ein ein Unternehmen in den Bankrott treibt. bisschen geringer – Mehrwertsteuersatz unterliegt. Auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 741

Bundesminister Hans Eichel (A) diesen Grundgedanken greifen wir zurück. Die sozialen Was wohl an dieser Stelle eine Rolle spielen kann – das (C) Grundbedürfnisse – die Grundnahrungsmittel, kulturelle ist das positive Argument –: Wir fördern die Eigentums- Grundbedürfnisse – sowie ab 2005 der öffentliche Perso- bildung. Wir fördern nicht den Neubau. Das bedeutet: nennah- und Fernverkehr eine Förderung bitte nur bei denen, die es nötig haben, und wo wir es uns leisten können. Das heißt: Familien mit (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Und Hunde- Kindern brauchen die Förderung, Familien ohne Kinder futter!) aber nicht. sollen unter den niedrigen Mehrwertsteuersatz fallen. Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des können Sie noch ändern. Ich bin sehr gespannt, wie Sie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auf unsere Politik reagieren. Ich kann niemandem erklä- ren, wieso zum Beispiel Schnittblumen unter den niedri- Ebenso klar ist es, dass der Altbau genauso gestellt sein gen Mehrwertsteuersatz fallen, Babywindeln aber nicht. muss wie der Neubau. Wieso fördern wir den Neubau in Gebieten mit hohem Wohnungsleerstand? Das macht kei- Man sieht, was passiert – auch in unseren Reihen gab nen Sinn. – es eine Diskussion darüber, Stichwort Zahntechniker –, wenn man einen Bereich des Gesundheitswesens geson- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dert behandeln will. Den ganzen Sommer über hatten DIE GRÜNEN) Frau Kollegin Schmidt und ich eine Diskussion darüber, Das sind die Veränderungen. ob auch die Medikamente unter den niedrigeren Mehr- wertsteuersatz fallen sollten. Aber dann drängt einer Jetzt die andere Seite: Es bleibt bei allen Schwerpunkten, nach dem anderen hinein. Auch deswegen mussten die die wir in der vergangenen Wahlperiode in unserer Haus- Zahntechniker heraus, damit für die Gesundheitsreform halts- und Finanzpolitik gesetzt haben. Wir machen diese ein für alle Mal klar gemacht wird: Das Gesundheitssys- Konsolidierungsanstrengungen doch auch und zuallererst, tem hat kein Einnahmeproblem, es hat ein Ausgaben- damit unsere Haushalte zukunftsfähiger werden. Wir ma- problem. Man braucht also nicht zusätzliche Einnahme- chen sie, damit wir weniger Zinsen zahlen müssen, aber quellen zu suchen, sondern muss im Gesundheitswesen mehr investieren können. Die Investitionen im Haushalt rationeller arbeiten und für Wettbewerb sorgen. Das ist steigen von diesem auf das nächste Jahr von rund 25 auf die Antwort. 26,8 Milliarden Euro. Wir stoßen darüber hinaus weitere (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Investitionen an. DIE GRÜNEN) Wir haben die historisch höchsten Verkehrsinvestitio- Nun komme ich zu einer Steuersubvention, zur Eigen- nen, verstetigen diese und werden sie im Planungszeit- raum weiter heraufsetzen. (B) heimzulage. Ich weiß, das ist nicht einfach. (D) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Da haben Wir haben gegenüber Ihrer Regierungszeit die Ausga- Sie mit am meisten gelogen!) ben für den Bildungsbereich um fast 30 Prozent gestei- gert, von 2002 auf 2003 wiederum um 3,7 Prozent. Aber, meine Damen und Herren, wie soll man – volks- wirtschaftlich betrachtet – eigentlich jemandem erklären, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dass in einem Land, in dem im Osten erheblicher Woh- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nungsleerstand besteht und in dem in den meisten Regio- Wir haben die Ausgaben für die Familien gewaltig er- nen der Wohnungsmarkt zumindest ausgeglichen ist – in höht. Der Bundesbankvizepräsident Jürgen Stark liegt einigen wenigen ist der Wohnungsmarkt auch noch ange- schief, wenn er uns Vorwürfe macht, weil wir das Kinder- spannt, was dann regional beantwortet werden mag –,geld systematisch erhöht haben. Das ist eine Zukunftsin- Jahr für Jahr 10 Milliarden Euro an Steuersubventionen in vestition. den Wohnungsmarkt gehen? Wie wollen Sie das jeman- dem erklären? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Warum lü- gen Sie die Menschen dann vorher an?) Wir gehen weiter bei der Ganztagsbetreuung und ha- ben in diesen Haushalt eine Anlaufrate eingestellt; denn es In Ostdeutschland nehmen wir bereits Geld in die Hand, wird Zeit, dass wir bei der Kinderbetreuung den europä- um Wohnungen abzureißen. Das hat die Qualität vonischen Standard erreichen. Wir dürfen Frauen nicht vor Agrarsubventionen: erst Produktion fördern und danndie Wahl zwischen Kindern und Beruf stellen. Wir müs- Vernichtung. sen es ihnen möglich machen, beides miteinander zu ver- binden. Das ist es, was wir brauchen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Reden Sie doch nicht über die Steinkohlesubvention, die systematisch abgebaut wird, wenn Sie nicht bereit sind, Wir setzen den Aufbau Ost auf hohem Niveau fort und bei der Änderung der Eigenheimzulage mitzumachen. Sie führen dieses Jahr zusätzlich das Stadtumbauprogramm haben volkswirtschaftlich kein einziges Argument. Ost ein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das ist unsere Haushaltspolitik: Sie ist nicht einfach, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Eckart aber zielgerichtet. Wir wollen, auch wenn es unter den ge- von Klaeden [CDU/CSU]: Jetzt wird es ja irre!) gebenen Bedingungen mühselig ist, konsequent den Weg 742 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Bundesminister Hans Eichel (A) der Konsolidierung unseres Haushaltes gehen, geändert um haben. – Dann sind wir verhandlungsbereit. Es (C) Deutschland zukunftsfähig zu machen. geht ausdrücklich nur so; denn jeder muss seinen Beitrag zur Gesamtverantwortung leisten. Konsolidierung ist aber nicht nur eine Sache des Bun- des. Konsolidierung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe Übrigens haben sich die Länder ausbedungen, 55 Pro- und unterliegt einer gesamtstaatlichen Verantwortung von zent des ab 2004 erlaubten Defizits machen zu können, Bund, Ländern und Gemeinden sowie den sozialen Si- während dem Bund nur 45 Prozent verbleiben. Das ist für cherungssystemen. Dabei trägt der Bund die größte Last. uns ein harter Weg, weil unsere Ausgangslage Wer sich das noch einmal verdeutlichen will, braucht sich viel schlechter ist. Für den Bund ist das ein viel härterer nur den letzten Bericht des Bundesrechnungshofes anzu- Konsolidierungspfad als für die Länder. Trotzdem habe sehen. Es ist relativ offenkundig, wie sich der Anteil des ich zugestimmt. Aber das heißt dann auch: Die Länder tra- Bundes an den Steuern entwickelt hat, nämlich nach un- gen 55 Prozent der Verantwortung dafür, dass wir die ten, und wie sich der Anteil des Bundes an der Verschul- Maastricht-Kriterien einhalten. Diese Verantwortung dung entwickelt hat, nämlich gewaltig nach oben. Ich haben insbesondere Sie, weil Sie die Mehrheit im Bun- kritisiere das gar nicht. Das waren die Lasten der Wieder- desrat stellen. vereinigung; das ist in Ordnung. Man muss aber wissen, dass auch andere eine Verantwortung für die Konsolidie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung des Staatshaushaltes und dafür, dass wir unseren Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) pflichtungen im Rahmen des europäischenStabilitäts- Sie werden mir also nicht ausweichen können. Ich glaube und Wachstumspakts nachkommen, haben. auch, dass Ihr Manöver, das vor dem 2. Februar nicht zu Ich bin froh darüber, dass wir es im März geschafft ha- sagen, nicht gelingen wird. ben, im Finanzplanungsrat einen nationalen Stabilitäts- Wir bemühen uns um die Gemeindefinanzen und ha- pakt zwischen Bund, Ländern und Gemeinden ben zu dazu die Reformkommission eingesetzt. Das ist ein schließen. Ich unterstelle auch den guten Willen der Län- schwieriges Thema, weil ich sehr genau sehe, dass noch der. Ich will noch einmal ausdrücklich sagen: Ich freue immer zwei Züge direkt aufeinander zufahren, die zwar mich darüber, dass es uns in der vergangenen Woche ge- beide dasselbe Ziel haben, nämlich die Kommunalfinan- lungen ist, gemeinsam festzustellen: 2006 wollen wir ei- zen zu verbessern und damit die Kommunen unabhängi- nen ausgeglichenen gesamtstaatlichen Haushalt und 2003 ger von Konjunkturschwankungen und investitionsfähi- wollen wir das Defizit wieder unter 3 Prozent senken. ger zu machen – was dringend erforderlich ist –, die aber Aber dazu muss auch jeder seinen Beitrag leisten. in verschiedene Richtungen fahren, weil die Kommunal- Das Konzept, das wir auf dem Tisch gelegt haben, führt politiker beider großen Parteien ganz überwiegend auf die (B) dazu. Revitalisierung der Gewerbesteuer setzen und die Wirt-(D) schaftsverbände auf das Gegenteil, nämlich die Abschaf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fung. Da wird eine große Aufgabe auf uns zukommen, die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nur – das ist meine Prognose – in großem Einvernehmen Es ist ein Konzept, das nicht nur den Bundeshaushalt ein- zwischen Kommunen und Wirtschaftsverbänden zu lösen bezieht. Denn wer sich auf den mühseligen Weg macht, ist. Wenn ich mir die Situation in Bundestag und Bundes- Steuervergünstigungen bei den Gemeinschaftsteuern ab- rat ansehe, wird jeder vor diese Frage gestellt werden. zubauen, hat natürlich den positiven Nebenaspekt, damit Ich werde meinen Teil dazu beitragen, dass wir zusam- Ländern und Gemeinden ein Stück zu helfen. Ihre Klagen menfinden. Deswegen bin ich auch vorsichtig, wenn es über die Situation derKommunalfinanzen sind nichts darum geht, selbst eine Position zu beziehen – nicht weil wert, wenn Sie nicht bereit sind, an dieser Stelle mitzu- ich keine hätte, sondern weil ich glaube, dass es meine wirken. So einfach ist das. Aufgabe ist, beide Positionen aufeinander zuzuführen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich komme zum Hartz-Konzept. Der Übergang der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger in die Jobcenter und Wir werden sehen, welche eigenen Beiträge die Länder die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozial- und Gemeinden leisten. Ich sage ausdrücklich die Bereit- hilfe werden an dieser Stelle ein Stück – ich sage: nur ein schaft des Bundes zu, bei allen Vorschlägen, auch zu Bun- Stück – Entlastung der Kommunen bringen; denn ange- desleistungsgesetzen – das wird politisch ausgefochten sichts der Lage des Bundes darf es nicht zu einer Lasten- werden –, mitzumachen, wenn sie vernünftig sind und verschiebung zwischen den Ebenen kommen. Auch hier wenn es eine gemeinsame Position der Länder ist, um zu wird eine große Aufgabe auf uns zukommen: Wie defi- weiteren Ausgabenreduzierungen zu kommen. Das wird nieren wir dann das Arbeitslosengeld II? nämlich unsere gemeinsame Aufgabe sein. Meine Damen und Herren, in diesen Zusammenhang Nur eines wird nicht funktionieren: Wir machen das gehört auch die Reform des Föderalismus. Ich will mit zugunsten der Länder und die B-Länder, jedenfalls in ih- aller Deutlichkeit sagen: Ich erhoffe mir davon auch ein rer großen Mehrheit, sagen: Wir wollen den Gewinn dop- paar Effizienzgewinne. Wenn wir vielleicht, wie es sich pelt; erstens wollen wir Geld einsparen und zweitens die jedenfalls andeutet, bei einer Reihe von Mischaufgaben anderen noch dafür beschimpfen, dass sie das für uns ma- und Mischfinanzierungen zur Entmischung kommen, chen. – Das wird nicht laufen, sondern es geht nur so, dass muss dadurch auch das staatliche Handeln effizienter wer- sie sich offen zu ihrer Verantwortung bekennen und klar den. Das muss sich für die Bürger auszahlen. Es kann sagen: Dieses und jenes wollen wir in Bundesgesetzen nicht einfach nur so sein, dass der Bund, wenn etwas auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 743

Bundesminister Hans Eichel (A) die Länder übergeht, das ganze Geld, möglichst noch dy- Thema deutsche Einheit, die wir alle gerne gewollt ha- (C) namisiert, weitergibt, sondern es muss einen Effizienzge- ben, winn bei der Aufgabenerfüllung geben. Sonst macht das (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Jetzt auf einmal!) Ganze doch keinen Sinn. eine Rolle. Es spielt auch für die Sozialsysteme eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Rolle. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf des Abg. Dr. Günter Rexrodt [FDP]) Ich will in diesem Zusammenhang noch auf folgenden Punkt hinweisen: Wenn wir über die Reform des Födera- – Ja, sicher. Ich habe das die ganze Zeit gesagt. Wenn Sie lismus reden, dürfen wir nicht nur über die Übertragung uns jetzt Vorwürfe machen, kann ich nur sagen: Hätten Sie von Aufgaben auf die Länder reden. Es geht auch darum, es anders finanziert! Deutschland europafähig zu machen. Das bedeutet: All (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Günter die Aufgaben, die heute im föderalen Staat bei den Län- Rexrodt [FDP]: Sie haben etwas anderes be- dern liegen, aber die für die Binnenmarktgesetzgebung re- hauptet!) levant sind, müssen auf den Bund übertragen werden, und zwar nicht, weil der Bund kompetenzhungrig ist, sondern – Nein, nie. weil diese Aufgaben nach kurzer Zeit auf die europäische Ich will Ihnen sagen, was die deutsche Einheit für die Ebene übertragen werden. Sozialsysteme bedeutet. In den Sozialsystemen gibt es Es ist ein Anachronismus, dass wir in Deutschland je einen West-Ost-Transfer von 27,9 Milliarden Euro. Die eine Börsenaufsicht in allen neun Börsenländern haben. Es Situation für die alte Bundesrepublik alleine sähe ganz an- kann nur eine Börsenaufsicht in Deutschland geben. Künf- ders aus. tig werden wir auch in Europa mit einer Diskussion über (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Richtig! Das eine europäische Börsenaufsichtsstruktur konfrontiert wer- haben wir immer gesagt!) den. In diese Richtung geht die Entwicklung. Auch das muss bei der Reform des Föderalismus bedacht werden. Ich sage das ganz ausdrücklich, um deutlich zu machen, dass wir mindestens noch eine halbe Generation eine Auf- Ich sagte es bereits: Konsolidierung ist nicht nur eine gabe mit uns tragen, die wir nicht einfach abschütteln kön- Aufgabe des gesamten Staates, sondern auch der sozialen nen und – das sage ich für die Regierung und für die Ko- Sicherungssysteme. Wir haben bei der Rente einen großen alition – auch nicht abschütteln wollen. Schritt nach vorne gemacht, den noch kein anderes großes kontinentaleuropäisches Land gemacht hat. Aber es liegen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ noch große Aufgaben vor uns. Ich bin froh darüber, dass DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: (B) die Bundesregierung, der Bundeskanzler und die Frau Mi- Jetzt auf einmal!) (D) nisterin angeregt haben, die Rürup-Kommission einzu- Herr Rexrodt, suchen Sie jetzt nicht nach falschen Ar- setzen. Wir brauchen nämlich nicht nur eine Begrenzung, gumenten: Die größere Oppositionspartei in diesem sondern auch eine Senkung der Lohnnebenkosten und die Hause hat unter anderem deswegen die Wahl im Osten nachhaltige Sicherung unserer sozialen Systeme. verloren, weil hinsichtlich des Risikostrukturausgleichs (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Versuch gemacht worden ist – lesen Sie einmal die DIE GRÜNEN) entsprechenden Reden im Bayerischen, im Baden-Würt- tembergischen und im Hessischen Landtag nach –, die So- Der härteste Kampf wird gewiss im Gesundheitswesen lidarität in Deutschland aufzukündigen, ausgetragen, weil es sich ausschließlich um einen Anbie- termarkt handelt. Ich sage deswegen klipp und klar – ich (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ habe vorhin schon auf die Zahntechniker hingewiesen –: DIE GRÜNEN]: Jawohl! Sehr richtig!) Es gibt keine müde Steuermark für das Gesundheitswesen indem gesagt wurde: Wer eine niedrige Arbeitslosigkeit in der Verfassung, in der es heute ist. Dort müssen die Ef- hat, hat niedrige Sozialabgaben, und wer eine hohe Ar- fizienzreserven gehoben und die Qualität gesteigert wer- beitslosigkeit hat, hat hohe Sozialabgaben. – Das war ein den. Darum geht es und um nichts anderes. Programm zum Abriss Ost und nicht zum Aufbau Ost. Auch die Pflegeversicherung und die Rentenversiche- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rung werden ein Thema sein. Aber niemand muss deswe- DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: gen Angst haben. Es geht in dieser Situation, die durch Das haben Sie schon im Hessischen Landtag er- eine alternde Gesellschaft gekennzeichnet ist, darum, die zählt!) Verhältnisse zwischen den Generationen neu auszutarie- Unsere Position ist klar: Da wir an der innerdeutschen ren und Generationengerechtigkeit auch in der Zukunft Solidarität festhalten, wollen wir diese Lasten nicht weg- walten zu lassen. Es geht darum, die Jungen nicht über- definieren. Sie zu meistern ist Bestandteil der Aufgaben, zubelasten und die Alten nicht in Altersarmut zu treiben. mit denen wir es zu tun haben. Das wird einer reichen Gesellschaft wie der deutschen auch gelingen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ganz neu!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir wollen ein Programm für Wachstum und Beschäf- DIE GRÜNEN) tigung auf den Weg bringen. Es wird Zeit, dass auch ein paar andere Wahrheiten ge- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Mit Steuererhö- sagt werden. Nicht nur bei den Staatsschulden spielt das hungen!) 744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Bundesminister Hans Eichel (A) Zu den Lohnnebenkosten und zur Umsetzung der Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) schlüsse der Hartz-Kommission habe ich eben schon etwas DIE GRÜNEN) gesagt. Die Umgestaltung der Arbeitslosenhilfe zu einem Gerade durch die Intervention des Bundeskanzlers ist für Arbeitslosengeld II zum 1. Januar 2004 und die Vermitt- alle in der Welt klar geworden, dass wir, wenn es um die lung durch Jobcenter werden uns noch große Anstrengun- gen abverlangen. Aber eines wird kaum diskutiert: EsEigenkapitalrichtlinien der Banken geht, nicht zulassen, steckt eine sehr positive Perspektive darin. Deswegen ist ja dass die Finanzierung des deutschen Mittelstandes ver- der Kollege Clement so engagiert. Dies ist aber auch eine schlechtert wird. Wir haben das erreicht: Basel II bringt Perspektive, die die Menschen fordert. Auch diesen Ge- keine Verschlechterungen, sondern eher Verbesserungen sichtspunkt sollte man auf keinen Fall verniedlichen. für die Finanzierung des Mittelstandes. Meine Damen und Herren, für diese Wahlperiode (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Sie haben bleibt es dabei: Wir senken die Steuern weiter. keine Ahnung! Unfassbar! So kann nur jemand reden, der morgen nicht mehr im Amt ist! – (Beifall bei der SPD – Anhaltendes Lachen bei Volker Kauder [CDU/CSU]: Die Rede ist ein der CDU/CSU und der FDP) Schmarren!) – Wir sollten darüber in den beiden entsprechenden Jahren, Allerdings wird auch da zwischen guten und schlechten in 2004 und in 2005, sprechen. Dies steht ja im Gesetz. Risiken unterschieden, was die Banken übrigens sowieso (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Das hätte ich nicht getan hätten. gesagt!) Im Rahmen des Hartz-Konzeptes gibt es dasPro- – Doch, Herr Rexrodt, ich sage das. In 2004 und in 2005 gramm „Kapital für Arbeit“. Ich habe mich gestern er- werden Steuersenkungen erfolgen. kundigt: Dieses Programm, das im November angelaufen ist, ist bisher äußerst erfolgreich. Es gibt bereits mehr als (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ihr Wort ist 10 000 Anfragen und erste Bewilligungen. Die KfW sagt: keinen Pfifferling wert!) Das Programm startet außerordentlich erfolgreich. – Auch Mit Ihrem Lachen haben Sie Pech. Schauen Sie sich dies ist ein Beitrag dazu, die Eigenkapitalausstattung des einmal Ihre Wahlversprechen an! Die Union versprach Mittelstandes zu verbessern. vor der Bundestagswahl zusätzliche Steuersenkungen, die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu Einnahmeausfällen in Höhe von 30 Milliarden Euro des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geführt hätten. Lachen Sie also über sich selber! Die Zusammenführung der Förderaktivitäten wird der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nächste Schritt sein. DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ (B) (D) CSU]: So kann nur einer reden, der morgen Meine Damen und Herren, dies alles ist ein anstrengen- nicht mehr im Amt ist! – Ulrich Heinrich [FDP]: des Programm für diese Wahlperiode. Wenn wir das alles Hättest du geschwiegen!) hinbekommen, konsolidieren wir den öffentlichen Haus- halt wirklich. Es fordert uns alle. Bedenkenträgerei und ins- Für Existenzgründer, für Kleinstunternehmer, für die besondere Besitzstandswahrung – in diesem Zusammen- Ich-AG wird es – Kollege Clement hat das angekündigt – hang habe ich den Eindruck: je höher der Besitzstand, umso eine pauschale Besteuerung geben. Das ist nicht ganz härter der Kampf um die Wahrung –, das wird nicht gehen. einfach, weil wir da eine regelrechte Systemumstellung vornehmen. Aber das werden wir zusammen hinbekom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men. Es wird beim Thema Entbürokratisierung einen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) massiven Kampf geben, Was wir alle nicht brauchen, ist, Deutschland mies zu (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Was? Wo denn?) machen. beginnend bei den Existenzgründern und den Klein- und (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Schlecht Mittelbetrieben. regieren ist auch nicht gut!) Zum Mittelstand. Auch hier ist der Winter – wer will Wer sich mit deutschen Unternehmern im Ausland unter- darum herumreden? – nicht einfach. Wer allerdings über hält – ich habe das kürzlich auf dem G-20-Treffen im fer- Insolvenzen spricht, der sollte auch über Neugründungen nen Indien erlebt –, dem begegnet nur noch Kopfschütteln sprechen. Auch in diesem Jahr werden wir deutlich mehr darüber, wie in Deutschland die Diskussion über Deutsch- neu gegründete als aufgegebene Betriebe haben, land geführt wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) wobei der größte Teil nicht wegen einer Insolvenz, son- Was wir nicht brauchen – ich sage das mit allem Ernst und dern altershalber aufgegeben wird. allem Nachdruck –, ist die Verleumdung des politischen Wir haben eine Menge getan, um die Eigenkapitalbil- Gegners. dung des Mittelstandes zu erleichtern. Aufgrund unserer (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Steuerreform ist inzwischen die obere Grenzsteuerbelas- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe tung – 1998 lag sie bei 58 Prozent – auf 51 Prozent ge- von der CDU/CSU) senkt worden. So etwas haben Sie in Ihrer Regierungszeit nie zuwege gebracht. – Fundamentalkritik ja, aber keine Verleumdung. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 745

Bundesminister Hans Eichel (A) Der Aufruf von Herrn Dr. Gerhardt – er ist nicht anwe- hört da auf, wo sie dem gemeinsamen Land schadet und (C) send –, die Finanzämter lahm zu legen, ist wohl eine sehr wider die Wahrheit ist. späte Reaktion auf ein Missverständnis der 68er; zu die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ser Generation gehört ja auch er. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Hilmar Kopper hat Recht: Deutschland ist eine Premi- SES 90/ DIE GRÜNEN) ummarke. Mit Sicherheit werden 90 Prozent der interna- Ich glaube, niemand von Ihnen wäre darüber glücklich, tionalen Wirtschaftsstandorte diese Qualität so schnell nicht einmal der Bund der Steuerzahler. Man muss sich nicht erreichen können. überlegen, was man in dieser Debatte sagt. Man gewinnt Angesichts großer Herausforderungen und angesichts den Eindruck, dass ein Teil der Menschen, die an dieser unserer eigenen Stärke müssen wir die Zukunftsaufgaben Debatte als Lobbyisten teilnehmen – das gilt auch fürmit Mut anpacken. Wir brauchen Macher und nicht Mies- manche in der Politik –, nur eine Ausbildung gemacht ha- macher. ben, nämlich als Marktschreier. Das ist nicht gut für un- sere gemeinsame Zukunft. (Lang anhaltender Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU]: Ausbildung als Steinewerfer!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Was wir nicht brauchen können, wenn wir das Land Nach der Rede zur Einbringung des Haushaltes eröffne voranbringen wollen – das würde übrigens auch den Fö- ich jetzt die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege deralismus diskreditieren –, ist Dauerwahlkampf. DerFriedrich Merz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. Bundeskanzler hat einen Vorschlag vieler anderer aufge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- griffen und in einem „Zeit“-Interview gesagt: Lasst uns neten der FDP) die Landtagswahlen zu zwei Wahlterminen zusammenle- gen, eine Hälfte zusammen mit der Bundestagswahl, die andere in der Mitte der Wahlperiode. So wird es bei- Friedrich Merz (CDU/CSU): spielsweise in den Vereinigten Staaten und in Schweden Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- gemacht. ren! Herr Finanzminister, wer während Ihrer Rede und Der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident hat heute vor allem während des Schlussbeifalls in die Gesichter in einer Zeitung gesagt: Lasst sie uns zu einem Termin in der Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion geschaut hat, (B) der Mitte zusammenlegen. Auch über diesen Vorschlag der hatte wahrscheinlich den gleichen Eindruck wie wir, (D) kann man diskutieren, aber, meine Damen und Herren: nämlich dass hier jemand mit dem Rücken an der Wand Lassen Sie es uns auch machen. Dauerwahlkampf iststeht und eine Rede gehalten hat, die eigentlich eine poli- schädlich für die Reformfähigkeit der Republik. tische Geisterfahrt gewesen ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- DIE GRÜNEN – Dietrich Austermann [CDU/ chen bei der SPD) CSU]: Schlechte Regierung noch mehr!) Herr Eichel, Sie haben während Ihrer Rede zweimal Deutschland ist kein Jammertal. Deutschland hat große die Verrohung der politischen Sitten in diesem Lande be- Aufgaben vor sich, aber Deutschland ist ein starkes Land. klagt. Glaubt jemand wirklich, dass unter den großen Ländern (Zuruf von der SPD: Das ist genau das, was Kontinentaleuropas ein Land die Wiedervereinigung so Sie machen!) geschafft hätte wie wir? Trotz der hohen Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland haben wir weniger Arbeitslose alsIn der Tat gibt es Anlass, diese zu beklagen. Das aus Ihrem Frankreich oder Italien. Wir haben auch eine höhere Er- Munde zu hören ist aber überraschend, um es zurückhal- werbsquote als der Durchschnitt der großen Länder in der tend auszudrücken. Europäischen Union. (Zuruf von der SPD: Nein, es ist nicht überra- (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Gehöhnt haben schend, das ist die Wahrheit!) Sie, als wir das gesagt haben!) Eine Bundesregierung, die einen Wahlkampf mit Kriegs- Ich will jetzt auch die Argumente der anderen Seite angst der Menschen betreibt aufgreifen: Wir sind der Stabilitätsanker in der Union und (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜND- Deutschland ist Exportweltmeister mit ständig steigen- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was heißt denn das, dem Anteil. Wir haben das erste Mal seit der Wiederver- Herr Merz?) einigung einen Leistungsbilanzüberschuss. und gleichzeitig keine Skrupel hat, das gesamte außenpo- (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Deshalb stimmt litische Kapital dieser Bundesrepublik Deutschland aufs die Konjunkturanalyse nicht!) Spiel zu setzen, um an der Macht zu bleiben, das ist die falsche Seite, um von dieser Stelle aus von der Verrohung Nein, wir haben keinen Grund, die Debatte so zu der politischen Sitten in diesem Lande zu sprechen. führen, wie Sie es aus parteitaktischen Gründen und man- che Lobbyisten nur aus Lobbygründen tun. Alle Kritik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Friedrich Merz (A) Herr Bundeskanzler, Sie beklagen sich in diesen Tagen das laufende Haushaltsjahr nicht mehr bei 21,1 Milliarden (C) darüber, dass Sie Gegenstand der politischen Satire inEuro, sondern bei 34,6 Milliarden Euro, Deutschland werden. In der Tat hat die politische Satire (Zuruf von der FDP: 60 Prozent!) Konjunktur, weil sie von der politischen Realität jeden Tag überboten wird. und für das nächste Jahr sind es nicht 15,5 Milliarden Euro, sondern mindestens 18,9 Milliarden Euro, die Sie schon (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) jetzt einplanen müssen, und zwar bei Zugrundelegung Herr Bundeskanzler, in den ersten Jahren Ihrer Amtszeit außergewöhnlich optimistischer Daten für Konjunktur und haben Sie diese Spaßgesellschaft durchaus gern in An- Arbeitsmarkt, die nach unserer gegenwärtigen Einschät- spruch genommen. Jetzt schlägt die Spaßgesellschaftzung im nächsten Jahr nicht zu erreichen sein werden. zurück und Sie sind nicht mehr handelndes Subjekt, son- Herr Eichel, da haben Sie zehn Tage vor der Bundes- dern Objekt der Spaßgesellschaft. Um es auf einen ganz tagswahl von diesem Platz aus bewusst die Unwahrheit einfachen Nenner zu bringen: Wer als Bundeskanzler in gesagt. guten Zeiten zu Thomas Gottschalk geht, der taucht in schlechten Zeiten bei Harald Schmidt wieder auf. So ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fach ist das, Herr Bundeskanzler. Sie haben sich dann in einer ganzen Reihe von Fern- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und sehsendungen geäußert. Drei Wochen vor der Wahl – wir der FDP) beide sind zusammen in der Sendung gewesen – haben Sie gesagt: Wir machen keine Schulden. Das haben wir Meine Damen und Herren, der Bundesfinanzminister immer klar gemacht. Wir weichen nicht in Schulden aus. ist offensichtlich hochgradig nervös wegen der Aussagen Tage später, fünf Tage vor der Wahl – und an dieser vor dem Untersuchungsausschuss, Stelle wird es wirklich ernst mit unserer Auseinanderset- (Lachen bei der SPD – Zuruf von der SPD: zung –, wörtliches Zitat von Hans Eichel in der Wahlsen- Koch ist nervös!) dung „Ihre Wahl 2002“: Ich bin sicher, wir kriegen keinen blauen Brief aus Brüssel. den wir in dieser Woche einsetzen werden. Herr Eichel, zu diesem Zeitpunkt war die Frist, zu der (Bundeskanzler Gerhard Schröder verlässt den Sie die Daten aus Deutschland nach Brüssel hätten mel- Plenarsaal – Zuruf von der CDU/CSU: Das hat den müssen, bereits um fast drei Wochen verstrichen. Sie jetzt gereicht; das ist der technische K. o.!) hätten die Daten am 1. September melden müssen. Sie ha- – Herr Bundeskanzler, ich finde, das deutsche Parlament ben es nicht getan. Ich sage Ihnen, warum Sie es nicht ge- tan haben: Sie haben zu diesem Zeitpunkt – der Kollege (B) hat Anspruch darauf, dass Sie in der Debatte über die Ein- (D) bringung des Bundeshaushalts 2003 hier anwesend blei- Metzger hat das in nicht zu überbietender Offenheit und ben. Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht – von den Beamten Ihres Hauses, vom Statistischen Bundesamt, von den For- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schungsinstituten und von vielen anderen Beteiligten Draußen hören und sehen uns viele Menschen zu. Sie ver- längst gewusst, dass die 2,9 Prozent, die Sie gemeldet ha- folgen diese Debatte und werden sich ihr eigenes Urteil ben, mit der Realität nichts mehr zu tun haben. Sie haben darüber bilden, wie die Regierungsbank besetzt ist und gewusst, dass wir 3 Prozent deutlich überschreiten, und wie ernst die Bundesregierung die parlamentarische De- Sie haben wahrheitswidrig die deutsche Öffentlichkeit getäuscht. Das ist die Wahrheit! batte über das Wichtigste der Republik nimmt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Widerspruch bei der SPD) Es ist im Grunde ganz einfach, Herr Eichel. Da Sie mit Meine Damen und Herren, es wird Klage darüber ge- der Autorität Ihres Amtes die deutsche Öffentlichkeit über führt, dass der Untersuchungsausschuss, den wir am Don- das getäuscht haben, was die Staatsfinanzen in Deutsch- nerstag hier einsetzen werden, unparlamentarisch sei und land wirklich ausmacht, und heute noch immer behaup- dass dessen Einsetzung an den Notwendigkeiten vorbei- ten, Sie hätten es zum damaligen Zeitpunkt nicht gewusst, gehe. Herr Finanzminister, ich möchte Sie dazu nur noch werden wir das in einem Parlamentarischen Untersu- einmal an das erinnern, was Sie vor der Wahl gesagt ha- chungsausschuss aufklären. Dort können Sie das wieder- ben. Die letzte große finanzpolitische Debatte haben wir holen und wir werden auch andere anhören. Aber dort sind am 12. September in diesem Hause geführt. Bei dieser Sie, anders als an dieser Stelle, unter Strafandrohung zur Gelegenheit haben Sie wörtlich gesagt: Wahrheit verpflichtet, Herr Eichel. Das ist der entschei- Nach 21,1 Milliarden Euro in diesem Jahr bleibt es dende Unterschied. bei der für 2003 geplanten Neuverschuldung in Höhe (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – von 15,5 Milliarden Euro. An diesem Wert werden Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ wir festhalten. DIE GRÜNEN]: Wir sind sehr gespannt auf den Ende des Zitats von Hans Eichel am 12. September. Ministerpräsidenten!) (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Nun lassen Sie uns, meine Damen und Herren, auf die Haushaltsdaten zu sprechen kommen. Wir bekommen, Weniger als drei Monate später ist die Neuverschul- wenn auch mit abnehmender Intensität, noch immer die dung durch den jetzt eingebrachten Nachtragshaushalt für Vorhaltung gemacht, alles, was Sie jetzt an Problemen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 747

Friedrich Merz (A) hätten, sei sozusagen der 16-jährigen Amtszeit einer frü- Ich will Ihnen dies anhand eines konkreten Details Ihres (C) heren Bundesregierung geschuldet. Haushaltsplanentwurfs für das Jahr 2003 nachweisen. (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ Herr Bundeskanzler, Sie haben vor etwa einem halben DIE GRÜNEN]: Das meiste!) Jahr von dieser Stelle aus versprochen, ein Programm zur finanziellen Förderung der Ganztagsbetreuung in den Ich habe gerade über die Neuverschuldung gesprochen, Schulen in Deutschland aufzulegen. jetzt sage ich etwas zur Gesamtverschuldung. Ich habe mir die Zahlen noch einmal genau angesehen. Sie haben (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ im Jahre 1998 eine Gesamtverschuldung des Bundes von DIE GRÜNEN]: Das ist auch richtig! – Volker 685 Milliarden Euro übernommen. Das war eine relativ Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: hohe Verschuldung, das ist wahr. Große Teile davon ha- Wir halten unsere Versprechen!) ben etwas mit der deutschen Einheit zu tun. Gut, dass Sie Vor der Wahl haben Sie viermal 1 Milliarde Euro für die das heute von diesem Platz aus einmal gesagt haben. Das Schulen in Deutschland, beginnend mit dem Jahr 2003, war lange überfällig. versprochen. In den Bundeshaushaltsplan des Jahres 2003 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stellen Sie aber nicht 1 Milliarde Euro, sondern 300 Mil- lionen Euro ein. Dies ist der erste Teil. Vier Jahre später liegt die Bundesschuld bei 725 Milliar- den Euro. Ohne die UMTS-Lizenzerlöse von 50 Milliar- Der zweite Teil wird viel gravierender werden: Es be- den Euro läge sie bei 775 Milliarden Euro. Das sind fast findet sich eine Verwaltungsvereinbarung mit den Län- 100 Milliarden Euro mehr, als Sie 1998 übernommen ha- dern in Vorbereitung, die den Ländern nach der gegen- ben. Im Jahre 2003 wird die Verschuldung weiter anstei- wärtigen Planung – ich betone: gegenwärtig, sie ist nicht gen, nach Ihrer eigenen Finanzplanung mindestens auf abgeschlossen – nur erlauben soll, von diesen Zuschüssen 744 Milliarden Euro. Ohne UMTS-Lizenzerlöse lägen des Bundes neue Gebäude zu errichten. wir bei fast 800 Milliarden Euro Verschuldung allein des Bundes. Hören Sie bitte endlich auf, zu erzählen, dass Sie (Hans Eichel, Bundesminister: Das ist falsch!) die Gesamtverschuldung des Bundes senken. Sie steigt Der Wunsch der Länder, davon etwa auch Bibliotheken fi- weiter an, und zwar in unverantwortlicher Weise. nanzieren zu können, ist bisher von Ihnen abgelehnt wor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den. Nun beklagen Sie vor diesem Hintergrund nicht ohne (Hans Eichel, Bundesminister: Falsch! Alles Anlass den Verfall der Steuerbasis. Ja, Herr Eichel, da- falsch!) mit haben Sie in der Tat Recht. Die Steuerbasis wird im- mer schmaler und das hat im Wesentlichen damit zu tun, Was Sie hier machen, ist typisch für sozialdemokrati- (B) dass Sie im Jahre 2000 eine Steuerreform gemacht haben, sche Politik: Beton statt Bücher, Suppenküchen statt Bi- (D) vor der wir Sie gewarnt haben, bei der Sie sich aber über bliotheken. So kommt man in Deutschland in der Bil- alle Warnungen hinweggesetzt haben. Tatsache ist, dass dungspolitik nicht weiter. Sie seit dem Jahre 2001 einen massiven Einbruch der Kör- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- perschaftsteuer zu verzeichnen haben, der eben nicht über derspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Kapitalertragsteuer zurück in den Bundeshaushalt DIE GRÜNEN) fließt. Das ist rund ein Drittel; zwei Drittel fehlen den Ländern und dem Bund auf Dauer. Sie stellen sich heute Morgen hier allen Ernstes hin und sagen, dass die Politik der Steuersenkung der rot-grünen Außerdem, Herr Eichel, hat Sie im Jahre 2000 niemand Bundesregierung fortgesetzt werde. Wer das als Fernseh- dazu gezwungen, bereits versteuerte Unternehmens-zuschauer oder als Zuhörer an den Radiogeräten mitbe- gewinne im Nachhinein zu entlasten. Wenn Sie es schon kommen hat, muss dies angesichts der tatsächlichen Lage gemacht haben, dann war es von nicht zu überbietender in den Unternehmen und den privaten Haushalten gera- Naivität, zu glauben, dass die Unternehmen, die solche Eigenkapitalbestände haben, diese über einen Zeitraum dezu als blanken Hohn empfunden haben. von 15 Jahren ausschütten und nicht sofort. Das war (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schlicht und ergreifend naiv. Ich weiß nicht, ob Sie zu Hause einen Hund haben, Herr Eichel. Aber wenn Sie ei- Gleichzeitig mit dieser Behauptung legen Sie hier ein nen haben, fahren Sie einmal am Wochenende nachSteuergesetz vor. Sie haben es euphemistischSteuer- Hause, halten Sie ihm eine Wurst vor und sagen Sie ihm: vergünstigungsabbaugesetz genannt. Wenn man Ihnen „Das ist jetzt für vier Wochen.“ zugehört hat, hat man zwischenzeitlich den Eindruck be- kommen, dass jeder, der nicht 100 Prozent Steuern zahlt, (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) irgendwelche Subventionen bekommt. Dies ist ungefähr So ähnlich haben Sie sich in der Steuerpolitik verhalten. Ihre Denkweise, die dahinter steckt. Sie legen ein Steuer- Es war von nicht zu überbietender Naivität, was Sie da ge- vergünstigungsabbaugesetz vor, mit dem insgesamt macht haben. 41 Steuererhöhungen verbunden sein sollen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Bundeskanzler, was hat sich eigentlich nach der Wahl geändert? Sie haben vor der Wahl mehrfach – ich Mit dem, was heute hier vorgelegt wird, wird ein wei- könnte Ihnen reihenweise Zitate vortragen – gesagt und terer Betrug am Wähler vorbereitet. Sie haben damals Recht gehabt: Dies ist nicht die Zeit für (Ute Kumpf [SPD]: Ein bisschen mehr Vor- Steuererhöhungen. Die konjunkturelle Lage der Bundesre- sicht mit den Worten, Herr Merz!) publik Deutschland ist ungeeignet für Steuererhöhungen. 748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Friedrich Merz (A) – Was hat sich daran eigentlich mit dem 22. Septem- Wenn Sie ein Problem damit haben, das zu erklären,(C) ber 2002 geändert? dann fällt es Ihnen vielleicht leichter, einen Blick auf die Betriebe in diesem Land zu richten. Wie wollen Sie den (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es ist noch Menschen in Deutschland eigentlich erklären, dass nach schlimmer geworden!) Ihrem Konzept einer betrieblichen Vermögensteuer, das da Wir haben heute einen Gesetzentwurf vorliegen, der mehr so langsam aus dem Nebel auftaucht, jenseits eines Frei- als 40 Steuererhöhungen umfasst, und hier sitzt derbetrages von 2,5 Millionen Euro – das ist kleiner Mittel- Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei stand; das sind nicht die Unternehmen der Großindustrie; Deutschlands, der nichts Besseres zu tun hat, als am letz- ein Betriebsvermögen von 2,5 Millionen Euro haben Sie ten Sonntag noch einmal anzukündigen, dass es im nächs- schon mit einem Betriebsgrundstück und ein paar Maschi- ten Jahr fröhlich weitergeht. Was ist in diesem Land ei- nen; da ist man ganz schnell bei 2,5 Millionen Euro – gentlich los? 1 Prozent Vermögensteuer bezahlt werden muss, selbst dann, wenn das Unternehmen keinen Gewinn abwirft, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) selbst dann, wenn das Unternehmen tiefrote Zahlen Jetzt diskutiert die gesamte Republik über die Wieder- schreibt? Und bei solchen Debatten in Deutschland wun- einführung der Vermögensteuer. Herr Bundeskanzler, wie dern Sie sich noch darüber, dass die Stimmung in diesem ist eigentlich Ihre Meinung dazu? Vor zwei Jahren haben Land so ist, wie sie ist! Kein Land auf dieser Welt käme Sie richtigerweise und klugerweise gesagt: Die Wiederein- auf die Idee, am Rande einerRezession eine solche De- führung der Vermögensteuer werden wir Sozialdemokraten batte zu führen, wie Sie sie hier führen. Herr Bundeskanz- nicht betreiben. – Was hat sich seitdem eigentlich geändert, ler, beenden Sie dieses Schauspiel noch morgen, damit es außer dass jetzt ganz offensichtlich – dies durchzieht sämt- in diesem Land endlich wieder aufwärts gehen kann! liche Gesetzgebungsverfahren, die wir hier beraten, wie ein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) roter Faden – auf die Politik der Sozialdemokraten – weni- ger der Grünen – von Teilen der deutschen Gewerkschaften Ich mache Ihnen ohnehin zum Vorwurf, dass Sie of- ein so dominanter Einfluss ausgeübt wird, dass ganz offen- fenkundig kein Gespür für die psychologische Lage einer sichtlich die Resozialdemokratisierung der gesamten Wirt- Volkswirtschaft haben. schaftspolitik auf der Tagesordnung steht? Ist es das, Herr (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ Bundeskanzler, was sich geändert hat? DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie gerade sagen! Ich höre, dass Sie morgen hier eine längere Erklärung Der Oberangstmacher der Republik!) abgeben wollen, dass Sie auch etwas zu all den Dingen, Man kann über vieles diskutieren, auch über viele Vor- die sich in den letzten Tagen zugetragen haben, sagenschläge, aber ein Land, das sich – ich sage es noch einmal – möchten. Es wäre gut, wenn Sie auch zu diesem Thema am Rande einer Rezession befindet, kann doch nicht allen (B) etwas sagen würden und diese unselige Debatte über die Ernstes klaglos eine Regierung hinnehmen, die nichts(D) Vermögensteuer in Deutschland möglichst schnell been- Besseres zu tun hat, als nach der Bundestagswahl wo- den würden. chenlang nur über höhere Belastungen der Menschen in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diesem Land zu sprechen. Da kann man sich doch nicht darüber wundern, dass die Stimmung so ist, wie sie ge- Herr Bundeskanzler, wenn Sie noch Argumente zum genwärtig ist! Thema Vermögensteuer brauchen – – (Ute Kumpf [SPD]: Herr Merz, was wollen ( [SPD]: Brauchen wir nicht, danke!) Sie denn eigentlich?) – Ich weiß, dass dies in Ihren Reihen ignoriert wird. Aber Sie täuschen die Menschen und die Menschen merken, was macht es eigentlich für einen Sinn, eine Vermögen- dass sie von dieser Regierung getäuscht werden, wenn Sie steuer zu erheben, von der diejenigen, die sich damit be- über die Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge re- schäftigen, wissen müssten, dass sie von Beziehern unterer den. Herr Eichel, auch Sie haben es eben von dieser Stelle Einkommen ohnehin nicht erhoben werden kann – darüber aus wieder getan. darf kein Streit bestehen –, dass sie aber von den Bezie- hern der obersten Einkommen in dieser Republik gar (Ute Kumpf [SPD]: Was ist denn Ihr Vor- nicht erhoben werden darf, weil deren Belastung durch schlag, Herr Merz?) Einkommensteuer, Die Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge findet (Ute Kumpf [SPD]: Das stimmt doch gar nicht doch nicht statt. Gestern hat die größte deutsche Ersatz- mehr!) krankenkasse beschlossen, dass die Beiträge zum 1. Ja- nuar auf über 15 Prozent angehoben werden. Die Renten- Solidaritätszuschlag und bei dem einen oder anderen noch versicherungsbeiträge liegen doch nur deshalb noch durch Kirchensteuer bereits bei über 50 Prozent liegt? gerade eben unter 20 Prozent, weil Sie sie mit der Öko- (Joachim Poß [SPD]: Das ist die merzsche In- steuer künstlich heruntersubventionieren. In Wahrheit lä- terpretation!) gen sie mittlerweile bei knapp 22 Prozent. Im Portemon- naie der Arbeitnehmer und Betriebe macht sich alles das Wie wollen Sie, meine Damen und Herren von den Sozi- bemerkbar, egal, was auf dem Etikett steht, ob „Sozial- aldemokraten, das den Menschen in Deutschland eigent- versicherungsbeitrag“ oder „Steuer“. Die Belastung der lich erklären? Menschen hat einen historischen Höchststand in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- land erreicht. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 749

Friedrich Merz (A) Sie wissen, dass das so ist, Herr Eichel, und reden hier (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (C) trotzdem anders, also wider besseres Wissen. Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Deswegen will er die Türkei dabeihaben!) Sie sprechen jetzt auch über die Dienstwagenbesteue- rung. Meine Damen und Herren von den Sozialdemokra- Sie haben mit beredten Worten über die Ausnahmen bei ten, das ist doch Ihr Wählerpotenzial! Es sind doch nicht der Mehrwertsteuer gesprochen. Man kann, wie bei je- die Fahrer von Dienstwagen der S-Klasse, sondern es sind der Steuerart, natürlich über Ausnahmen und niedrigere die Außendienstmitarbeiter, die unselbstständigen Han- Sätze nachdenken. Ich will Sie, Herr Bundeskanzler, aber delsvertreter, die Menschen, die einen Polo oder einen daran erinnern, dass Sie am 12. Oktober des Vorjahres – Golf fahren, die jetzt 50 Prozent mehr Steuern für die pri- das ist etwas länger als ein Jahr her – eine Betriebsver- vate Nutzung ihrer Fahrzeuge bezahlen sollen, also dafür, sammlung bei der Lufthansa in Frankfurt besucht und dort dass sie nach einem 12- oder 14-Stunden-Tag abends mit vor laufenden Kameras öffentlich erklärt haben, dass Sie, dem Dienstwagen privat nach Hause fahren dürfen. Be- Gerhard Schröder, der Bundeskanzler der Bundesrepublik greifen Sie denn nicht, was Sie mit diesem Unfug für die Deutschland, dafür stehen, dass die deutsche Lufthansa gesamte deutsche Automobilindustrie anrichten? Wann im internationalen Vergleich insbesondere ihren Wettbe- waren Sie das letzte Mal in Hannover und haben mit dem werbern gegenüber durch Maßnahmen Ihrer Bundesre- Vorstand von VW gesprochen? gierung nicht schlechter gestellt wird. (Ute Kumpf [SPD]: Er war in Stuttgart, Ich stelle Ihnen die Frage: Warum lassen Sie zu, dass bei Daimler!) jetzt für den gesamten Flugverkehr über dem Territorium der Bundesrepublik Deutschland einschließlich der Luft- Die müssten Ihnen, Herr Bundeskanzler, doch längst ge- hansa doch eine Ausnahme aufgestellt wird, indem Sie sagt haben, dass das wirtschaftspolitisch ein Ei ist, das Ih- das Mehrwertsteuerprivileg streichen? Man kann darüber nen von denen, die das vorgeschlagen haben, ins Nest ge- reden, aber wenn man solche Änderungen vornimmt, legt worden ist. dann müssen sie für alle in Europa gelten. Es darf keine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einseitige Belastung der größten deutschen Fluggesell- schaft entstehen. Das ist eine Belastung, Herr Bundes- Jetzt reden Sie über die Wertzuwachssteuer bei Ak- kanzler, von der Sie noch vor einem Jahr ausdrücklich tien- und bei Grundstücksverkäufen. Natürlich ist es auf dieser Betriebsversammlung gesagt haben, dass sie wahr, dass es in vielen anderen Industrienationen eine so mit Ihnen nicht entsteht. Warum steht sie nun in dem Ent- genannte Capital-Gains-Besteuerung gibt. Aber dieses wurf des Gesetzes, das wir heute hier in erster Lesung be- Argument, Herr Eichel, können Sie nicht verwenden; raten? denn in den Ländern, in denen eine solche Steuer erhoben (B) wird, ist die Durchschnittsbelastung des Einkommens sig- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) nifikant niedriger als in Deutschland. Deswegen werden neten der FDP) alle diejenigen, die abhauen können, schon angesichts der Meine Damen und Herren, der Bundesfinanzminister Ankündigung, dass Sie so etwas einführen, mit ihrem hat an dieser Stelle zum wiederholten Male etwas über Wertpapierbesitz dieses Land verlassen und sie werden je- die Finanzen der Länder und Kommunen gesagt. Ich teile denfalls bei dieser Bundesregierung nie wiederkommen, seine Einschätzung: Die Länder und Kommunen befin- weil selbst dann, wenn Sie die Steuer doch nicht ein- den sich hinsichtlich ihrer Finanzen in einer außer- führen, jedes Vertrauen zerstört ist und man nicht weiß, ob gewöhnlich schwierigen Lage. Aber mit dem Verweis das Thema in diesem Land nicht zwölf Monate später darauf, dass 55 Prozent des Gesamthaushaltes Länder- wieder auf den Tisch kommt. haushalte und kommunale Haushalte betreffen, kommen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie nicht durch. Die andere Seite der Medaille ist doch, dass Länder und Gemeinden von der Gesetzgebung, die Dann haben Sie den Vorschlag gemacht, dieEigen- der Bund macht, weitgehend abhängig sind. Die Länder heimzulage zu korrigieren. Man kann über das Thema re- verfügen über keine nennenswerten eigenen Steuer- den – beim Altbaubestand insbesondere in den neuen Län- quellen und sie haben praktisch keine eigenen Steuer- dern gibt es durchaus Probleme –, aber stellen Sie bitte hebemöglichkeiten; bis auf ganz geringfügige eigene nicht allen Ernstes die Behauptung auf, dass sich für Fa- Steuereinnahmequellen geht es den Gemeinden ähnlich. milien mit Kindern nichts ändert. Was Sie hier machen, Sie sind abhängig von der Gesetzgebung des Bundes und ist eine glatte Täuschung der Öffentlichkeit. Bei Altbau- dieser Bundesregierung. ten müssten diejenigen, die heute zwei Kinder haben, mindestens acht Kinder haben, damit sich nichts ändert Damit sind wir an dem entscheidenden Punkt, der uns trennt: Sie rufen uns hier und an anderer Stelle immer wie- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) der dazu auf, wir sollten Alternativen vorlegen, wie die – das kann man ja noch schaffen –; aber bei Neubauten Haushaltsprobleme gelöst werden können. müssten diejenigen, die nicht schlechter gestellt werden (Ute Kumpf [SPD]: Wo sind denn Ihre, Herr wollen, mindestens 46 Kinder haben. Merz? – Weitere Zurufe von der SPD) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) – Wenn Sie, meine Damen und Herren, nicht so laut da- Das bekommt keiner von uns in diesem Lande hin. Des- zwischenrufen würden, dann könnten Sie mich auch ver- halb bedeutet dieser Vorschlag eine Täuschung der Öf- stehen. Ich sage Ihnen, welche Alternative besteht. Wir fentlichkeit. begeben uns mit Ihnen nicht in einen Wettbewerb um die 750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Friedrich Merz (A) Frage, wer in diesem Land die Steuern am meisten erhöht. mit den Gewerkschaftsvorsitzenden reden Sie ohnehin(C) Das werden wir nicht tun. täglich – und wollen das Bündnis für Arbeit wiederbele- (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ ben. Ich mache Ihnen den Vorschlag, diese Gespräche DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihr Vorschlag? Sie dazu zu nutzen, betriebliche Bündnisse für Arbeitin sagen immer nur, was Sie nicht wollen, Herr Deutschland einzuführen. Merz!) (Ute Kumpf [SPD]: Alte Hüte!) Die gegenwärtige Lage unserer Volkswirtschaft ist voll- Das wäre ein Beitrag zu einer wirklichen Flexibilisierung kommen ungeeignet für eine Debatte über Steuererhö- und Mobilisierung unseres Arbeitsmarkts. hungen. (Ute Kumpf [SPD]: Das existiert doch schon (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) längst!) Das Gegenteil ist richtig. Wir müssen diesem Land und Es wäre die Rückkehr zu Wachstum und Beschäftigung in insbesondere den mittelständischen Unternehmen wieder Deutschland. eine Perspektive geben und Steuern senken. Davon, was Sie über Steuersenkungen in den Jahren 2004 und 2005 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gesagt haben, Herr Eichel, glaube ich Ihnen kein einziges neten der FDP) Wort, solange nicht das Jahr 2004 begonnen hat; denn Sie haben mit den gleichen Worten von dieser Stelle aus und auch schon in Bonn erklärt, dass eine Steuersatzsenkung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zum 1. Januar 2003 in Kraft treten soll. Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Herr Merz, das ist jetzt aber Friedrich Merz (CDU/CSU): wirklich peinlich! Das ist unglaublich!) Herr Bundeskanzler, wenn Sie hier morgen eine wich- Es musste nur ein Ereignis eintreten – das war die Flut –, tige Rede halten – das sagen jedenfalls Ihre Mitarbeiter die Ihnen Alibi genug war, diese Steuersenkung auszuset- und Presseleute –, dann gibt es dafür Themen genug. zen. Ich sage Ihnen voraus: Wenn Sie zu diesem Zeitpunkt Deutschland braucht keine bessere Stimmung, sondern überhaupt noch im Amt sein sollten – über Ihre Ablösung eine bessere Politik. Wenn Sie wirklich eine bessere Poli- wird ja offen diskutiert –, dann wird Ihnen aus diesen Rei- tik wollen, dann müssen Sie morgen in weiten Teilen das hen spätestens in der zweiten Jahreshälfte 2003 eine De- glatte Gegenteil von dem sagen, was Herr Eichel heute batte aufgezwungen werden, dass nicht auch die Senkun- gen für 2004 und 2005 außer Kraft gesetzt werden oder Morgen hier erklärt hat. (B) (D) gar nicht stattfinden. Ich glaube Ihnen kein Wort. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der FDP) Das Entscheidende, Herr Eichel, ist doch, dass wir endlich wieder zu Wachstum und Beschäftigung auf dem Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ersten Arbeitsmarkt kommen müssen. Deswegen sage Das Wort hat jetzt der Kollege Joachim Poß von der ich Ihnen, was unser Vorschlag hierzu ist. Ich mache Ih- SPD-Fraktion. nen das konkrete Angebot, dieses unselige Gesetz gegen die Scheinselbstständigkeit noch vor dem Jahreswechsel (Beifall bei der SPD) ersatzlos zu streichen. Sie haben dafür unsere uneinge- schränkte Zustimmung. Machen Sie es! Joachim Poß (SPD): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Merz, Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen. So, wie Sie haben mit dieser Rede deutlich gemacht, warum es für Sie mit den Hartz-Vorschlägen umgehen, geht das nicht. das deutsche Volk ein Glück ist, dass Sie nach dem (Katrin Dagmar Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/ 22. September nicht Finanzminister der Bundesrepublik DIE GRÜNEN]: Warum sind Sie dann dagegen?) Deutschland geworden sind. Ich schlage Ihnen vor: Kehren Sie an dieser Stelle auch (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ beim Thema Zeitarbeit zu dem zurück, was Ihnen Hartz DIE GRÜNEN) vorgeschlagen hat! Wenn Sie das Konzept im Verhältnis Denn alle Eloquenz kann über Folgendes nicht hinweg- 1 : 1 umsetzen, werden Sie nicht an unserem Widerstand täuschen: Auf die konkreten Fragen der Finanzpolitik, mit scheitern. denen wir es hier und heute zu tun haben, haben Sie nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine einzige Antwort gegeben, Herr Merz. Ich schlage Ihnen des Weiteren vor, dass wir wenigstens (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ für ältere Arbeitslose in Deutschland eine intelligente Lö- DIE GRÜNEN – Lothar Mark [SPD]: Er hat sung für die Änderung des Kündigungsschutzgesetzes auch keine!) finden. Wir haben dazu konkrete Vorschläge gemacht. Jeder, der Ihnen zuhören konnte, egal ob er CDU, SPD Herr Bundeskanzler, Sie sprechen offensichtlich wie- oder Freie Demokraten gewählt hat, hat spüren können: der mit einigen Unternehmens- und Verbandsvertretern – Ihre Rede war eine Erklärung der Hilflosigkeit. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 751

Joachim Poß (A) (Beifall bei der SPD – Lachen bei der Die von uns vorgelegten Haushalts- und Steuergesetze, (C) CDU/CSU) die wir heute Morgen beraten, stellen eine angemessene Antwort auf die derzeitige Lage dar. Wir packen die Pro- Sie sind als Opposition in der Sache politisch noch immer bleme an und wollen dabei auch nicht vor unpopulären nicht konkurrenzfähig. Das ist die Situation. Maßnahmen zurückschrecken. Diese Gesetze ordnen sich Sie haben sich heute in der Sprache gemäßigt und mit in den Reformprozess ein, den wir seit 1998 verfolgen Blick auf den Bundeskanzler und den Bundesfinanzmi- und auch weiterhin Schritt für Schritt verfolgen werden. nister einige Jokes gemacht. In den letzten Wochen, Herr Unsere politischen Ziele sind dabei, erstens nachhaltig Merz, haben Sie jedoch keine Gelegenheit ausgelassen, die Bedingungen für Wachstum und Beschäftigung zu ver- um mit maßloser Sprache das Klima in diesem Lande zu bessern, damit der Kuchen wieder größer wird, zweitens vergiften. die Handlungsfähigkeit des Staates jetzt und für die Zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kunft sicherzustellen und drittens die sozialen Sicherungs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) systeme auf die Herausforderungen durch die demogra- Sie sind auf den Bundesfinanzminister in einer ehrab-phische Entwicklung und durch die Veränderungen in der schneidenden Art und Weise eingegangen. Sie haben ihn Arbeitswelt einzustellen und sie so in ihrer Qualität auf angegriffen in der Absicht, ihn persönlich zu verletzen. Dauer zu erhalten. Zu diesen politischen Herausforderun- Sie haben ihn angegriffen, weil Sie eines wissen: Hans gen bietet die Opposition im Deutschen Bundestag nach Eichel hat etwas für diese Koalition erarbeitet, nämlich wie vor nichts. Herrn Merz‘ Rede war der Beleg dafür. dass sie für finanzielle Solidität steht. Dieses Markenzei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen besteht, obwohl wir durch die wirtschaftliche Ent- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wicklung zurückgeworfen wurden. Dass Sie das in politi- scher Hinsicht schmerzt, haben wir in den vergangenen Es gibt nach wie vor keine ökonomisch und sozial ver- Wochen und Monaten gespürt. tretbare Alternative zu den von uns vorgeschlagenen Ge- setzen. Wenn Sie als Antwort auf die derzeitige wirt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schaftliche Lage fast täglich die Senkung von Steuern und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans Abgaben fordern – Herr Merz hat das zwar heute vermie- Michelbach [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch den, aber Herr Böhr hat es am Wochenende in der „Bild selbst nicht mehr!) am Sonntag“ gemacht –, dann ignorieren Sie entschei- Der Unterschied zwischen Hans Eichel, der sachorien- dende Zusammenhänge und Realitäten. Bei allen Forde- tiert auf die Probleme eingeht, und einem politischenrungen nach weiteren umfassenden Steuersenkungen Feuilletonisten wie Ihnen wurde heute Morgen für jeden, wird ausgeblendet, dass die volkswirtschaftliche Steuer- (B) der die Diskussion aufmerksam verfolgt hat, sehr deut- quote seit dem Jahr 2000 um 2 Prozentpunkte abgesenkt (D) lich. Herr Eichel hat als Bundesfinanzminister etwas ge- worden ist und sich derzeit mit knapp 21 Prozent auf ei- leistet. Er hat etwas durchgesetzt und erreicht. Dafür ge- nem Tiefstand befindet. bührt ihm von uns allen großer Respekt. Auch wenn die von uns vorgeschlagenen steuerpoliti- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch schen Maßnahmen realisiert werden, wird die Steuer- ein Nachruf!) quote nur leicht ansteigen. In der gesamtwirtschaftlichen Betrachtung ist nicht in erster Linie eine zu hohe Steuer- Wenn ich mir Ihre Bilanz anschaue, Herr Merz, komme belastung unser Problem, sondern eine leider immer noch ich zu dem Schluss, dass Sie mit Herrn Eichel ein persön- zu hohe Belastung durch die Lohnnebenkosten. liches Problem haben müssen. Ich kann mich an kein fi- nanzpolitisches Gesetz erinnern, dem Sie hier oder im (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vermittlungsausschuss Ihren Stempel aufgedrückt hätten. Des Weiteren ignorieren Union und FDP mit ihrer be- Ich kann mich an keine steuer- oder haushaltspolitische ständigen Forderung nach weiteren Steuersenkungen, Diskussion erinnern, in die Sie mit sachorientierten Pro- dass diese nicht vom Himmel fallen, sondern finanziert blemlösungen gegangen wären. Was haben Sie eigentlich werden müssen. Das wird in der Öffentlichkeit – ich muss bisher bewegt, Herr Merz? Außer blumigen Reden war da das zugeben – leider noch immer nicht verstanden. Wenn nicht viel. Auch deshalb wurden Sie doch wohl von Frau man Ihre Vorschläge umsetzen wollte – dazu müssten Sie Merkel abgelöst. sich im Bundestag auch bekennen, und zwar CDU/CSU (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wie auch die FDP –, ginge das nur durch eine weitere mas- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sive Ausweitung der Verschuldung von Bund, Ländern und Kommunen, durch Kürzungen bei den öffentlichen Gerade zu diesem Zeitpunkt, zu dem Sie nicht mehr Investitionen oder durch massive Einschnitte in die So- Fraktionsvorsitzender sein dürfen und das Volk Sie nicht zialtransfers. Ich frage Sie von der CDU/CSU und der zum Finanzminister gemacht hat, können Sie offensicht- FDP: Wollen Sie das? Ich sage Ihnen: Wir wollen das lich nur noch durch persönliche Ausfälle und Hetzereien nicht. Wir sind sicher, dass auch die Bürgerinnen und Bür- vor Ihrem Ego bestehen. Das lassen wir Ihnen nicht ger genau das nicht wollen. durchgehen! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista DIE GRÜNEN) Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Nicht persön- Je mehr den Bürgerinnen und Bürgern die Alternative lich werden!) zu unserer Politik klar wird – dafür hat die Koalition 752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Joachim Poß (A) natürlich zu sorgen; sie hat gegenüber den Bürgerinnen gehört zu den elementaren Pflichten aller für einen öf-(C) und Bürgern eine Bringschuld, wenn es darum geht, die fentlichen Haushalt Verantwortlichen – ich betone: aller Alternativen klar zu machen –, desto mehr werden sie das Parteien –, vorhandene Defizite im Steuervollzug abzu- verstehen und unterstützen, was wir derzeit zu tun beab- bauen und zum Beispiel den Kampf gegen Steuerhinter- sichtigen und was wir umsetzen werden. Die Alternativen ziehung und Steuerflucht auszuweiten und zu verstärken. sind haargenau massiver Sozialabbau und/oder Rückkehr Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, wer- in den Schuldenstaat. Das und nichts anderes ist der ge- den von uns daran gemessen werden, ob Sie bereit sind, meinsame Kern der Vorschläge von Union und FDP, wenn den Kampf gegen Steuerhinterziehung zu führen. man sie jeder feuilletonistischen Äußerung und jedes (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wortnebels entkleidet, den Herr Merz und andere verur- DIE GRÜNEN) sachen. Sie werden auch daran gemessen werden, ob Sie bereit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind, nicht mehr vertretbare und nicht mehr finanzierbare DIE GRÜNEN) Vergünstigungen im Steuerrecht zu beschneiden oder zu Die FDP bekennt sich dabei eindeutig und offensiv streichen, oder ob Sie sich wie bisher – das gilt nicht nur zum Sozialabbau. Auch Herr Merz tut das gelegentlich, für die FDP, sondern in sehr starkem Maße auch für die allerdings heute Morgen nicht. Die Positionen der Unions- CDU/CSU – als eine Summierung von Einzelklientelen parteien sind insgesamt widerspruchsvoll und ver-verstehen. Wir werden Sie außerdem daran messen, ob schwommen. Wenn die Union jedoch in den Mittelpunkt Sie bereit sind, über geeignete Maßnahmen zu sprechen, ihrer Programme – Ihre Wahlprogramme sollen ja angeb- die auf eine gleichmäßigere und stetigere Besteuerung ab- lich noch gelten – eine schnelle und radikale Rückführung zielen. In der Vergangenheit gab es ja Ankündigungen der Staatsquote stellt, dann bedeutet das nichts anderes als zum Beispiel vom Kollegen Merz, mit denen er deutlich die Streichung von Investitionen auf allen Staatsebenen gemacht hat, dass dies auch sein Weg sein könne. Genau und massiven Sozialabbau. Deswegen sage ich: Mit uns das streben Bundesregierung und die sie tragenden Koa- wird es keine Steuersenkungspolitik auf Pump geben. litionsfraktionen mit dem jetzt vorliegendenEntwurf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eines Steuervergünstigungsabbaugesetzes an. Dieses des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gesetz wird für mehr Steuerehrlichkeit und Steuergerech- tigkeit sorgen. Die in diesem Gesetz enthaltenen Maß- Es wäre ohne Zweifel auch für das nächste Jahr sehr nahmen setzen bewusst bei den Gemeinschaftsteuern an, problematisch, jetzt ein gesamtstaatliches Defizit vonum nicht nur den Bundeshaushalt, sondern auch die Haus- mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auszuwei- halte der Länder und Kommunen in erheblichem Umfang sen. Auch wenn das immer wieder vorgeschlagen wird: Es zu entlasten. (B) ist falsch, zu glauben, man könne in kurzer Frist aus den (D) im Bundeshaushalt eingestellten Mitteln für die Sozial- Es ist die Aufgabe der Entscheidungsträger aller im ausgaben Milliardenbeträge zur Finanzierung aller mög- Deutschen Bundestag vertretenen Parteien und des Bun- lichen Zukunftsinvestitionen und Steuersenkungen quasi desrates, dafür zu sorgen, dass die mit diesem Gesetz ver- herausschneiden, ohne dabei unser Alterssicherungssys- bundenen unvermeidbaren Mehrbelastungen für einzelne tem, die Ausbildungsfinanzierung oder Leistungen wie Gruppen in vertretbarer und sachgerechter Weise und Wohngeld und Erziehungsgeld entscheidend abzubauen. ohne zu große negative Nebeneffekte durchgeführt wer- Deshalb – auch das sagen wir den Bürgerinnen und Bür- den. Deshalb – das sage ich im Hinblick auf einige Be- gern klipp und klar – können derzeit keine zusätzlichen merkungen, die Herr Merz vorgetragen hat – werden wir Steuer- und Abgabensenkungen durchgeführt werden. Es sachbezogene Kritik an unseren Vorschlägen aufnehmen bleibt bei den Steuersenkungen zum 1. Januar 2004 und und in die parlamentarischen Beratungen einbeziehen. zum 1. Januar 2005. Natürlich werden wir den Interessierten und Betroffe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen im Gesetzgebungsprozess die Möglichkeit geben, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans ihre Anliegen und Sichtweisen darzulegen. Im Rahmen Michelbach [CDU/CSU]: Niemand glaubt einer verantwortungsbewussten Haushalts- und Finanz- das!) politik muss allerdings darauf bestanden werden, dass der Ertrag, der mit unserem Gesetz für mehr Steuerehrlichkeit Die letzte Steuerschätzung hat noch einmal schmerz- und Steuergerechtigkeit für den Bund, die Länder und die lich deutlich gemacht – das gilt auch für die Länder und Kommunen verbunden ist, nicht geschmälert wird. Die Kommunen –, wie instabil die Einnahmebasis der öffent- Lage der öffentlichen Haushalte ist insgesamt so ernst, lichen Haushalte ist. Kein Finanzminister und kein Käm- dass mit rein parteitaktischen Überlegungen und mit den merer, gleich welcher Partei, der seine Aufgabe ernst Aufführungen einer Opposition, die ihren verlorenen nimmt und verantwortlich handeln will, kann das gut- Wahlkampf offensichtlich immer noch weiterführt, end- heißen und akzeptieren. Die öffentlichen Haushalte müs- lich Schluss sein muss. sen stärker planbar werden. Nur so ist die Finanzierung der von den Bürgerinnen und Bürgern gewünschten öf- Diese Strategie wird scheitern. Die Unionsfraktion im fentlichen Leistungen sicherzustellen. So wichtig eine be- Deutschen Bundestag überschätzt ganz offensichtlich ständige Aufgaben- und Ausgabenkritik ist – hieran müs- ihren Einfluss und ihre Bedeutung, wenn sie meint, dass sen sich auch in diesem Hause alle beteiligen – und so sie die unionsgeführten Bundesländer aus purer Wahl- wichtig das ständige Bemühen um einen sparsamen und kampftaktik zu einer kompromisslosen Ablehnung dieser effizienten Mitteleinsatz ist, darf man nicht vergessen: Es steuerpolitischen Vorschläge drücken kann. Es gibt ja Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 753

Joachim Poß (A) schon Andeutungen. Die unionsgeführten Länder kennen In dem Entwurf für das Haushaltsjahr 2003 wird die(C) ihre eigenen Interessen sehr genau und haben keine an- Nettokreditaufnahme wieder zurückgeführt, und zwar auf dere Wahl, als sie zu verfolgen. Deshalb ist zu erwarten, den niedrigsten Stand seit der deutschen Wiedervereini- dass auch die unionsgeführten Bundesländer spätestens gung. Wir hatten seit der deutschen Wiedervereinigung nach den Wahlen am 2. Februar die Destruktionsstrategie keine Nettokreditaufnahme in der Größenordnung von und die Verweigerungshaltung, die derzeit betrieben wird, 18,9 Milliarden Euro. verlassen werden. Auch Stoiber und Koch können nicht ständig polemisieren, blockieren und in maßloser Sprache (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auch nicht skandalisieren. Auch sie müssen dafür Sorge tragen, dass von 35!) die Einnahmebasis ihrer Länder gesichert wird und die – Herr Austermann, Sie dürfen dabei nicht den Hinter- Defizite ihrer Haushalte nicht unbegrenzt nach obengrund vergessen, dass wir zwischen 1998 und 2002 nur schnellen. knapp die Hälfte der neuen Schulden gemacht haben, die Zudem haben sich die Länder eindeutig dazu verpflich- Sie zwischen 1994 und 1998 gemacht haben. tet, gemeinsam mit dem Bund die Vorgaben imeuropä- Wenn Herr Merz heute versucht, die falschen Wei- ischen Stabilitäts- und Wachstumspaktzu erfüllen. chenstellungen, die bei der deutschen Einheit in ökono- Bund, Länder und Kommunen haben am letzten Mitt- mischer, sozialer und finanzieller Hinsicht erfolgt sind, woch auf der Sitzung des Finanzplanungsrates ausdrück- auszublenden, täuscht er die deutsche Bevölkerung. Wir lich in dem Ziel übereingestimmt, im Jahre 2003 das ge- werden noch lange an diesen falschen Weichenstellungen samtstaatliche Defizit wieder unter 3 Prozent zu senken in der Bundesrepublik Deutschland leiden. und bis zum Jahre 2006 einen ausgeglichenen Staatshaus- halt vorzulegen. Das heißt, jede öffentliche Körperschaft, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ also neben dem Bund auch jedes Land mit seinen Kom- DIE GRÜNEN – Dr. Günter Rexrodt [FDP]: munen, will ihren Beitrag zur Erreichung dieses gemein- Korrigiert sie doch!) samen Ziels leisten. Vor diesem Hintergrund kann die Ver- Im Entwurf 2003 wird trotz aller Sparzwänge die antwortung nicht nur bei Hans Eichel und auf der Struktur des Bundeshaushaltes weiter verbessert. Zu- Bundesebene abgeladen werden. Das ist vordergründige kunftsichernde Ausgaben für Bildung, Forschung und In- Polemik und Wahlkampf und widerspricht der Rechts- lage. Sie sind mit in der Verantwortung für unser Ge-frastruktur werden auf hohem Niveau gehalten und sogar meinwesen, meine Damen und Herren. verstärkt. Die Investitionen übertreffen deutlich den Vor- jahresansatz. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch dieser Etat steht unter der Überschrift „Kon- solidieren, Gestalten, Erneuern“ und ordnet sich damit (B) Unsere Vorschläge in dem Finanzpaket bieten substan- in die lange Linie unserer erfolgreichen Finanzpolitik(D) zielle Verbesserungen der finanziellen Situation aller Ge- ein. Die Regierungskoalition aus SPD und Bündnis 90/ bietskörperschaften. Die Realisierung dieser Vorschläge Die Grünen hält mit den heute vorgelegten Gesetzen würde es auch den Ländern erheblich erleichtern, ihre Ver- Kurs. antwortung für die Einhaltung der deutschen Verpflichtun- gen aus dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt Das ist auch ein klares Signal an die Europäische Zen- zu erfüllen. Deshalb, meine Damen und Herren von der tralbank, dass Deutschland ihre Stabilitätsbemühungen Union, wären Sie gerade im Interesse der unionsgeführten nicht unterlaufen wird und dass die Bundesregierung mit Länder und Kommunen gut beraten, bereits im Deutschen ihrer Finanzpolitik daran mitwirken will, dass die EZB Bundestag konstruktiv an unserem Politikangebot mitzu- Spielraum für eine wachstumsorientierte Zinspolitik ge- arbeiten. Sie können nicht immer nur sagen, wie schlecht winnt. Ich hoffe, es wird vielleicht im Laufe dieser Woche alles in Deutschland ist. Sie können nicht von vornherein Reaktionen darauf geben. jeden Vorschlag von uns ablehnen, zumal, wenn Sie Ich bin ganz sicher, dass die Menschen nach dem Feld- gleichzeitig – wie heute geschehen – keine eigenen Vor- geschrei der letzten Wochen und Monate zunehmend schläge vorlegen, wie man ganz konkret mit den Proble- nachdenklich werden, men in der Bundesrepublik Deutschland umgehen soll. (Peter Rauen [CDU/CSU]: Es wird Zeit, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ihr einmal nachdenklich werdet!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dass sich die Menschen in den nächsten Wochen und Mo- Mit einer solchen Haltung kommen Sie Ihrer Verantwor- naten von den Inhalten unserer Politik überzeugen lassen. tung in der Steuer- und Haushaltspolitik nicht nach. Sie In dem Maße, in dem deutlich wird, dass nur durch eine gefährden zudem die Handlungsfähigkeit des Staates, und Politik, wie wir sie betreiben, der Grund für den Wieder- zwar nicht nur auf der Bundesebene, sondern auch auf aufschwung gelegt werden kann, werden die Menschen Landes- und Kommunalebene. auch wieder Vertrauen und Zuversicht fassen – auch wenn Die heute in erster Lesung zu beratenden Haushaltsge- die Opposition in diesem Hause aus reiner Partei- und setzentwürfe stellen angemessene Antworten auf die ak- Wahltaktik weiter mit Obstruktion und Totalverweige- tuelle ökonomische und finanzielle Lage dar. Auch wenn rung fortfahren sollte. in diesem Jahr die Nettokreditaufnahme sehr hoch aus- Die Lage ist bei weitem nicht so schlecht wie die Stim- fällt: Es gibt in der derzeitigen konjunkturellen Lage mung! keine Alternative dazu, im Jahre 2002 die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen. (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Aha!) 754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Joachim Poß (A) Sie werden sehen, schon bald wird die Stimmung ins selbe Vokabular, weil Sie mit Ihrer Finanzpolitik am Ende (C) Positive umschlagen, und zwar nicht nur, Herr Rexrodt, sind, Herr Eichel. weil Weihnachten vor der Tür steht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die gesamte Misere der bundesstaatlichen Finanzen DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: macht sich an zwei Tatbeständen fest. Was, tritt die Regierung zurück?) Erstens. Die Verschuldungwird im Nachtragshaus- halt 2002 und im Haushaltsentwurf 2003 geradezu explo- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sionsartig ausgeweitet. Ein solcher Druck entsteht nur, Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Rexrodt von wenn man etwas unter dem Deckel gehalten hat. Was un- der FDP-Fraktion. ter dem Deckel war, werden wir uns in den nächsten Wo- chen anschauen.

Dr. Günter Rexrodt (FDP): (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Zweitens. Mitten in der Depression verschiebt die rot- ren! In den letzten Wochen – auch heute wieder – hat es grüne Bundesregierung die seit langem versprochene verzweifelte, fast rührende Versuche gegeben, das De- Steuerentlastung. Mehr noch: Sie sattelt bei den Steuern saster der Bundesfinanzen gewissermaßen als ein Winter- drauf, wild und ungeordnet. Herr Müntefering hat mitt- tief oder Formtief darzustellen, in das jeder gute Sportler lerweile noch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ins einmal gerät. Man habe ja das Ziel fest vor den Augen und Spiel gebracht, die seit gestern wieder zur Vermögen- man werde ein gutes Rennen laufen. steuer geworden ist. Die Wirtschaft steht Kopf. Jegliche Kalkulierbarkeit der Belastungen, die auf unsere Unter- Damit sind wir wieder dabei, den Leuten Sand in die nehmen zukommen, ist nicht mehr möglich. Augen zu streuen. Seit geraumer Zeit sind wir Letzter beim Wirtschaftswachstum; wir trotten den anderen in Man kann sich über die Vergleichbarkeit mit Heinrich Europa hinterher. Dann bemüht Herr Eichel, der in einer Brünings Politik sicherlich streiten. Aber unbestritten ist bemerkenswerten Art und Weise die Rechnungen aufbe- die Tatsache, dass wir eines machen: Deflationspolitik, und zwar in Reinkultur. Was geschieht, ist das Gegenteil dessen, reitet hat, Japan, ein Land, das sich seit einem Jahrzehnt was der von Ihnen oft so hoch geschätzte ÖkonomJohn in einer Strukturkrise befindet, und die USA für ein Jahr, Maynard Keynes vor Jahrzehnten erkannt hat: In der Re- um das schlechte Wirtschaftswachstum in Deutschland zu zession muss man Steuern senken und nicht erhöhen. relativieren. Und weil das Wirtschaftswachstum so nied- rig ist, gibt es in Europa nur noch vier andere Staaten, die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) eine schlechtere Arbeitslosenquote aufweisen. Was die der CDU/CSU) (D) Nettoneuverschuldung angeht, ist nur noch Portugal Die expansive Fiskalpolitik hilft Ihnen auch nicht wei- schlechter als wir. Bei der Nettoneuverschuldung haben ter: Die aufgenommenen Mittel fließen eben nicht in zu- wir über Jahre hinweg die Standards gesetzt und letztend- sätzliche Investitionen, sondern überwiegend in die lich den Stabilitätspakt durchgedrückt. Wir legen heute Transferausgaben, um Löcher zu stopfen. Einen Arbeits- aber Werte vor, die das gesamte Rennen infrage stellen. markteffekt hat das nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Zur Rechtfertigung dieses ökonomischen Wahnsinns der CDU/CSU) haben Sie nichts anderes als den Hinweis anzuführen, Der Stabilitätspakt ist die Grundlage für einen starken dass angeblich auch die gegenwärtige Opposition nichts Euro, nach innen und nach außen. Wer da versagt, der ge- Besseres anzubieten hat. Das ist mehr als daneben. fährdet die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gefährdet Arbeitsplätze und letztlich die Grundlagen un- seres Wohlstands. Die wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Diskussion der letzten Jahre war davon geprägt, dass wir immer wie- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der eine Reformpolitik angeboten und vorgeschlagen ha- der CDU/CSU) ben, die auf eine Verbesserung der ökonomischen Rah- Ich höre schon Herrn Clement und andere – auch Sie, menbedingungen ausgerichtet ist. Unsere Steuerreform Herr Eichel, haben sich heute in diesem Sinne geäußert –, war klar durchgerechnet. wie sie sagen: Wir dürfen dieses Land nicht schlechtre- Die Realität ist dadurch geprägt, dass Reformen an den; wir müssen zusammenstehen. Solche Äußerungen wichtigen Stellen versäumt und bestehende Mängel noch sind verständlich und nachvollziehbar. Aber damit, Herr verschärft wurden. Versäumt haben Sie die Reform im Clement, können wir die Wahrheiten, die ich eben vorge- Gesundheitswesen. Kontraproduktiv war über dreiein- tragen habe, nicht aus der Welt schaffen. Haben uns die halb Jahre hinweg Ihre Arbeitsmarktpolitik. Sozialdemokraten geschont, als wir den Zuwachs der Dann kamen im letzten halben Jahr die Hartz-Vorschläge. Neuverschuldung in den 90er-Jahren mit den Lasten der Ein kleines Segment davon wollen Sie nun umsetzen. Der Wiedervereinigung – im Übrigen ein wirklich triftiger Verfasser dieser Vorschläge wendet sich mit Grausen von Grund – begründet haben? „Schuldenstaat“ und „Schul- dem ab, was Sie da umsetzen wollen, Herr Clement. denkanzler“ haben Sie von den Bänken im Bundestag aus gehöhnt, als ob die damalige Koalition fahrlässig oder so- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gar vorsätzlich gehandelt hätte. Heute benutzen Sie das- der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 755

Dr. Günter Rexrodt (A) Ich gebe zu, dass die Reformen, die Sie gemacht haben Abbau dessen, was Sie Steuervergünstigungen nennen, (C) – bei Steuern und der Rente –, in die richtige Richtung ge- die energieintensiven Betriebe aus Deutschland vertrei- hen. Sie haben diese Reformen aber so vermasselt, dass ben wollen, dann wird auch unter umweltpolitischen sich der Mittelstandausgegrenzt fühlt. Das ist die ei- Aspekten eine noch magerere Bilanz entstehen. Wenn gentliche Ursache dafür, dass wir eine anhaltende Rezes- Aluminium künftig nicht mehr im Rheinland, sondern in sion in unserem Lande haben. Osteuropa oder der Dritten Welt geschmolzen wird, sieht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die Umweltbilanz in globaler Betrachtung verheerend der CDU/CSU) aus. Verzagtheit hat sich breit gemacht. Nirgendwo besteht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mehr Glaube an die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Es der CDU/CSU) herrscht eine Stimmung, wie wir sie seit dem Zweiten Die einzig Leidtragenden sind die deutschen Arbeit- Weltkrieg nicht mehr beobachten konnten. nehmer, die ihre Arbeitsplätze in großer Zahl verlieren, (Zuruf von der SPD: Die Sie anheizen!) und ist der Staat, der keine Steuern mehr erhält. – Ich heize überhaupt nichts an. Ich beschreibe die Fak- (Zuruf von der FDP: Und die Umwelt!) ten. Gehen Sie doch einmal im Lande umher und hören Ein altes und nunmehr wieder neues Argument wird zur Sie sich an, was die Leute sagen und denken, insbeson- Begründung einer solchen kontraproduktiven Politik he- dere die Mittelständler. Das ist doch ein Faktum; das kann rangezogen: Angeblich stimme die Lastenverteilung in man doch nicht vom Tisch wischen. diesem Lande nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. h.c. Susanne der CDU/CSU) Kastner) Machen Sie eine anständige Politik! Geben Sie den Ich komme noch einmal auf John Maynard Keynes Leuten wieder eine Zukunftsorientierung! Dann wird die zurück. Er hat zur Umverteilungspolitik einmal gesagt: Stimmung in diesem Lande auch anders werden. Es kommt darauf an, den Kuchen größer zu machen, den (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten es zu verteilen gilt, dann haben alle etwas davon. – Wer der CDU/CSU) anderes will, erzeugt lähmende Verteilungsdebatten und Auf der Ausgabenseite – das ist hier falsch dargestellt Verdrossenheit. Er vernichtet Leistungsbereitschaft und worden –, Herr Eichel, haben Sie nie wirklich kürzen kön- Risikofreude. Die Beispiele dafür gibt es zuhauf, in unse- nen. rem Land und anderswo. (B) (Hans Eichel, Bundesminister: So ein Die heute vorgelegten Haushaltsgesetze sind Ausdruck (D) Quatsch!) großer Hilflosigkeit. Diese Gesetze sind abzulehnen. Wenn dies nicht gelänge, wäre es kein guter Tag für unser Sie haben Etatansätze gekürzt. Die Ausgaben bewegen Land. sich – das sind doch Ihre Angaben – in den nächsten Jah- ren auf dem Niveau von rund 250 Milliarden Euro. Da Herzlichen Dank. geht nichts herunter, das geht sogar ein Stück hoch. Das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Niveau ist nicht verändert worden.

(Hans Eichel, Bundesminister: Das ist doch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: unglaublich!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Antje Hermenau, – Herr Eichel, schauen Sie doch Ihre eigenen Zahlen an. – Bündnis 90/Die Grünen. Das hat seine Ursachen darin, dass Sie nie den Sozialbe- reich haben reformieren können, so wie es schon aufgrund der demographischen Entwicklung notwendig ist. Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Peter Dreßen schon Herrn Keynes bemühen, Herr Rexrodt, dann ma- [SPD]) chen wir es doch bitte der Ordnung halber im Ganzen und bemühen nicht nur den halben Keynes. – Das ist ein gutes Stichwort. (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Das müssen Sie Dann haben Sie die Ökosteuer erfunden. Das war im- gerade sagen!) mer schon eine Dreistigkeit insbesondere von den Grü- nen. In Wirklichkeit sind die Beiträge zur Rentenversi- Sie haben nur den halben Keynes bemüht, indem Sie sag- cherung nicht gesenkt worden; vielmehr sind ten, sie man müsse natürlich in Rezessionsphasen Steuersen- gestiegen. kungen anstreben. Die andere Hälfte, die Sie hier ver- schwiegen haben, ist, dass man in guten Zeiten vorsorgen (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: muss, damit man etwas hat, was man in Rezessionszeiten Bei Ihnen lagen die über 20 Prozent!) ausgeben kann, um Steuern abzusenken. Das haben Sie Das ist eine merkwürdige Steuer. versäumt. Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jetzt noch durch die weitere Erhöhung und durch den und bei der SPD) 756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Antje Hermenau (A) Das ist exakt das Problem, um das wir heute hier kreisen. schon deutlich geworden, denn der Rucksack unerledig- (C) ter Reformen, den wir mit uns herumschleppen, drückt (Dr. Günter Rexrodt [FDP]: Wenn wir das nicht uns immer dann zu Boden, wenn wir in eine schwierige gemacht hätten, würden Sie hier nicht stehen, Konjunkturphase kommen. Frau Hermenau!) Genau das passiert jetzt wieder. Wir überschreiten das Wir haben einen Nachtragshaushalt für 2002 und einen Maastricht-Kriterium in diesem Jahr und kommen bei Entwurf für 2003. Wir müssen natürlich endlich damit an- 3,8 Prozent an. Das ist wirklich sehr hoch. Maximal 3 Pro- fangen, uns nicht immer nur einen Haushalt anzugucken, zent wären erlaubt. Aber wir kommen dahin mit ungefähr sondern wir müssen die Geschichte berücksichtigen, um 2,5 Prozent strukturellem Rucksack, entstanden aus nicht zu sehen, wie es zu diesem Haushalt in einem konkreten gemachten Reformen aus den letzten zwei Jahrzehnten. Jahr gekommen ist, und wir müssen uns fragen, was man Das alles ging schon vor der deutschen Einheit los. Das ist in der Zukunft unternehmen muss, um da wieder weg zu unser eigentliches Problem. Mit einem so schweren Ruck- kommen. Das wäre also eine überjährige Betrachtung. sack kann man natürlich ziemlich schlecht steuern, wenn Wir fordern von Beamten inzwischen, dass sie die Kos- man in konjunkturelle Stürme gerät. Deswegen sind für ten-Leistungs-Rechnung beherzigen. Daher sollten wir uns nicht nur die Konjunkturprognosen für die nächsten im Parlament auch genauso modern diskutieren und nicht Jahre wichtig, sondern für uns ist es auch wichtig, endlich immer nur auf ein Fiskaljahr gucken, sondern auch über die strukturellen Reformen anzugehen. Ursachen, Wirkungen und Zukunftspläne diskutieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) und bei der SPD) Das machen wir, entgegen dem, was Sie im Land auf Pla- Gehen wir einmal in dieser Reihenfolge vor; jederkaten verbreiten, und entgegen Ihren Aufrufen zu De- nachfolgende Redner kann dieses Beispiel ja gern adap- monstrationen. Deutschland hat sich wirklich verändert: tieren. Die Strukturprobleme, mit denen wir uns zurzeit Die Christsozialen rufen zur Demo auf. herumquälen, sind eine Kollektivleistung. Das haben wir alle miteinander gut hingekriegt. Natürlich erschöpft sich (Lachen bei der SPD) die parlamentarische Debatte immer darin, dass wir uns Aber unabhängig davon: Wir gehen die Reformen an. gegenseitig vorwerfen, wer am meisten Schuld daran hat, Hartz wird umgesetzt. Sie dürfen sogar im Vermittlungs- dass etwas nicht gemacht worden ist. Das ist parlamenta- ausschuss die Nachbesserungen einbringen, die Sie für rischer Debattenstil. Aber es gibt doch deshalb hier dau- unverzichtbar halten. Ich nehme an, es wird einen Kom- ernd emotionale Friktionen, weil keiner zugeben will,promiss geben. Sie werden also mitgestalten und in dieser woran er mitschuldig ist. Alle können sich hinter dieser einen Frage einmal Ihrer nationalen Verantwortung auch (B) (D) Kollektivschuld verstecken. Sie können hier Schuldzu- in der Opposition gerecht werden können. weisungen machen; wir können welche zurückgeben. Je- Mit der Rürup-Kommissionist der nächste Schritt der hat etwas auf dem Kerbholz. Eigentlich ist es so, wenn schon vorgezeichnet. Nicht umsonst hat es Streit um den man den Haushalt und seine Entwicklung betrachtet: Kei- Kern ihrer Aufgabe gegeben. Kern der Aufgabe ist, taug- ner gibt zu, dass wir uns in Deutschland über Jahre und liche Vorschläge, die kurzfristig umzusetzen sind, zur Jahrzehnte hinweg zu viel geleistet haben, dass es eben Senkung der Lohnnebenkosten zu erarbeiten. Das ist der nicht vernünftig war, sich von Lafontaine 1990 ins Bocks- Dreh- und Angelpunkt. horn jagen und dann Waigel einfach alle erforderlichen Maßnahmen zur deutschen Einheit über die Sozialsiche- ( [CDU/CSU]: Was sagt der rungssysteme finanzieren zu lassen, nur weil Lafontaine Herr Generalsekretär der SPD dazu?) kurz vor der Wahl gesagt hat, dass Sie es über Steuerer- Wir sollten uns jetzt einmal angucken, was alles schon höhungen machen würden. erreicht worden ist. Wir haben mit den strukturellen Re- Dasselbe Spielchen wird jetzt wieder abgezogen. Jetzt formen ja schon begonnen. Ich nenne den Bürokratieab- sollen eben wir zu irgendwelchen Bekenntnissen ge-bau, der schon mehrmals erwähnt wurde. Ich nenne die zwungen werden, ohne vorher genau alles durchdacht und Anzahl der Beschäftigten beim Bund. Diese Zahl liegt in- hier diskutiert zu haben, und sogar ohne Ihre Einbezie- zwischen deutlich unter dem Beschäftigungsstand von hung. Auch das ist nicht sehr sinnvoll. Es geht eigentlich 1989, also von vor der deutschen Einheit. immer nur um dieses parlamentarische Spielchen vor Oder sehen Sie sich an, dass sich in den letzten Jahren Wahlen: Wir zwingen den anderen zu Aussagen, die nach- die ausländischen Direktinvestitionen deutlich verbessert her alle irgendwie nicht funktionieren, und damit haben haben, nachdem Sie in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre wir die Unregierbarkeit des Landes weiter sichergestellt. ein Jahr nach dem anderen Tiefststände produziert haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wir haben die Finanzhilfen des Bundes innerhalb von Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wer hat fünf Jahren um über ein Drittel von 11,4 Milliarden auf euch denn gezwungen?) 7,8 Milliarden gesenkt. Erzählen Sie uns doch nicht, dass wir nicht gespart hätten. Natürlich haben wir das getan. Wenn es nicht immer diese Manöver gäbe, hätten wir es (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- geschafft, die Strukturreform eher anzupacken. Die SES 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU hatte im Maastricht-Jahr 1997, als es mit dem Haushalt ziemlich kompliziert war, eine Chance dazu. Im Der Punkt ist: Unsere Einsparungen waren eine sanfte Prinzip ist unser struktureller Reformbedarf auch daAnnäherung unter anderen Voraussetzungen. Wir haben Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 757

Antje Hermenau (A) gedacht, wir können das etwas langsamer und ruhiger an- Jahren noch. Das ist der entscheidende Punkt, den man(C) gehen. Seit dem 11. September des letzten Jahres hat sich beachten muss, wenn Herr Austermann von Investitions- die Weltlage verändert. Die Weltkonjunktur zwingt uns, quoten spricht. mit dem Sparkurs schneller voranzuschreiten als bisher. Es wird uns aber nur gelingen, die Investitionen sub- Wir hatten in der letzten Legislaturperiode eine zu sanfte stanziell zu steigern – und nicht nur um 1 Milliarde Euro Gangart. Aber die Zielrichtung und die Maßnahmen ha- wie im nächsten Jahr –, wenn wir den Anteil der Zinslast ben gestimmt. und der Alterssicherungslast unter 50 Prozent drücken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dieser steinige Weg steht uns bevor. Wir kommen nicht und bei der SPD) darum herum. Das ist eine neue Qualität, die nötig ist, um den Sparkurs aus der letzten Legislaturperiode in eine Was ich bei Ihnen von der Opposition vermisse, ist der Kultur der Modernisierung zu überführen. Das ist jetzt Respekt vor der Aufgabe, die ich hier beschreibe. Dieser wichtig. Respekt ist bei Ihnen überhaupt nicht zu erkennen. Sie er- gehen sich hier in Inszenierungen irgendwelcher opposi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tioneller Theater und bei der SPD) (Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!) Ich habe es schon mehrmals gesagt: Es ist schlicht ein Akt europäischer Solidarität – da hat Herr Rexrodt gar und sind dabei der Meinung, dass es sich um eine seriöse nicht Unrecht –, dass wir uns darum bemühen, die Stabi- Meinungsbildung in diesem Land handelt. Ich habe vor- hin schon davon gesprochen: Es gibt verletzten Stolz und lität des Euro und die Stärkung der Wirtschaftskraft der es gibt die Angst, eine kollektive Schuld mit einzugeste- Europäischen Union nicht daran scheitern zu lassen, dass hen. Man versteckt sich gerne hinter anderen. Das ist al- Deutschland seine Hausaufgaben nicht macht. Darin sind les richtig. Aber so behebt man das Problem nicht. Ir-wir uns einig; das ist überhaupt kein Streitpunkt, Herr gendwann werden Ihnen die Menschen auf die Schliche Rexrodt. Es ist aber sicherlich auch richtig, zu schauen, kommen. Sie werden merken, dass Sie nichts angeboten wer wie einen Beitrag dazu leisten kann. haben. Dass wir das Maastricht-Kriteriumum mindestens (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 0,8 Prozentpunkte verfehlt haben – eigentlich sollten wir und bei der SPD) deutlich unter der 3-Prozent-Grenze liegen –, ist ebenfalls eine Kollektivleistung. Die Länder haben sich nämlich Sie haben sich erdreistet, den netten, blassen Herrn klammheimlich hinter dem Rücken von Hans Eichel ver- Wulff gestern seine zehn Punkte zur Reform des Arbeits- steckt. Behaupten Sie jetzt nicht, das sei nicht so! Ich habe marktes vortragen zu lassen, in denen nichts Neues stand. mir die Haushalte der Länder Bayern und Hessen für die- (B) (D) Sie haben damit im Prinzip nur Ihre Verhandlungslinie für ses Jahr angeschaut. Ich unterstelle – ich habe das jeden- den Vermittlungsausschuss zum Hartz-Konzept darge- falls gehört –, dass die Finanzverwaltung im Freistaat legt. Bayern fähig ist. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das (Hans Eichel, Bundesminister: In Hessen Schlimme ist doch, dass bei Ihnen jeden Tag auch, bitte!) was Neues kommt!) Wenn dem so ist, dann hätte die Finanzverwaltung des Und das nennen Sie ein Programm? Überlegen Sie sich Freistaates Bayern dem Finanzminister Faltlhauser be- das einmal! Es hätte natürlich nicht so spektakulär ge- reits im August oder September sagen müssen: Herr klungen, wenn Sie gesagt hätten, dass es sich um Ihre Ver- Faltlhauser, Sie müssen dringend eine Haushaltssperre handlungslinie für den Vermittlungsausschuss handelt. Es veranlassen, weil das Geld nicht reicht. ist peinlich, wenn das die einzigen substanziellen Beiträge der Opposition sind. (Joachim Poß [SPD]: Ja!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Theoretisch hätte das so sein müssen. Aber Herr und bei der SPD) Faltlhauser hat erst am Nachmittag, als die Steuerschät- zung bekannt wurde, eine Haushaltssperre erlassen. Das Ich habe nicht umsonst auf die Notwendigkeit von Struk- heißt, er hat sich hinter Hans Eichel versteckt und hat sich turreformen hingewiesen. Ich will es plastischer darstellen: nicht getraut, im Wahlkampf Bescheid zu geben. Wir reden darüber, dass dieser Haushalt seit Jahren, eigent- lich seit Jahrzehnten, dadurch belastet wird – die Belastun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen steigen jedes Jahr weiter an –, dass die Zinslasten und und bei der SPD) die Ausgaben für die Alterssicherung, die inzwischen zum Dass der Kanzlerkandidat aus Bayern kam, könnte der großen Teil steuerfinanziert sind, einen immerstärkeren Grund sein – man wollte vielleicht nicht den Eindruck er- Anteil am Bundeshaushalt haben. Es ist richtig: Auch wir wecken, auch in Bayern könnte etwas nicht klappen –, haben diesen Trend nicht umkehren können. Wir haben dass man verhalten reagiert hat. Dafür habe ich Verständ- ihn aber verlangsamt, indem wir die Einnahmen aus der nis. Es hat ja niemand vor der Wahl die Nichteinhaltung UMTS-Versteigerung zur Tilgung eingesetzt und dadurch des Maastricht-Kriteriums wie eine Monstranz vor sich Zinsen eingespart haben. Wir haben versucht, günstige hergetragen, keiner! Sie auch nicht. Zinskonditionen auszuhandeln. Im Moment laufen einige hochverzinsliche Kredite aus. Aber im Kern bleibt dieses (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Problem bestehen und verschärft sich in den nächsten vier SES 90/DIE GRÜNEN) 758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Antje Hermenau (A) Roland Koch aus Hessen ist der Regisseur für das Op- Wir haben diese Misere nicht sofort beenden können. (C) positionstheater und hat inzwischen in der Bundestags- Das ist nämlich ein schweres Stück Arbeit. Da braucht fraktion der CDU/CSU mehr zu melden als die Vorsit- man sich nicht zu genieren. Vielmehr können wir stolz zende. sein und sagen: Wir haben uns angestrengt, aber nicht al- les erreicht. Der Weg stimmte. Jetzt kommen die nächsten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Ziele. wie bei Abgeordneten der SPD – Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!) Wenn es einen Rückschlag gibt, der, wie ich erklärt habe, darauf beruht, dass man mit einem großen Rucksack Wenn ich mir den Haushalt von Hessen anschaue, dann an strukturellen Versäumnissen und in einer konjunkturell muss ich sagen: Der hat ja die Chuzpe gehabt, die Gele- schwierigen Lage marschieren muss, dann meine ich: genheit zu nutzen und in seinem Haushalt eine mehr als Häme steht Ihnen auf keinen Fall zu. doppelt so hohe Neuverschuldung vorzunehmen, als ei- gentlich geplant war. Auch er hat sich hinter Hans Eichel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN versteckt und hat das alles – denn er hat im Februar Land- und bei der SPD) tagswahl und muss daher im Jahre 2002 noch ein paar Sa- Ich werde den weiteren Debattenverlauf mit Interesse chen auf die Reihe bringen – hinter dem Rücken von Hans verfolgen. Vielleicht wird mein Vorschlag aufgenommen, Eichel gemacht. einmal darüber zu sprechen, was wir in Zukunft gemein- Diese Länderfürsten aber schicken ihre Finanzminister sam beitragen und auf die Reihe bringen können. Wir schön in den Finanzplanungsrat, wo sie sich gegenseitig können natürlich weiter Vergangenheitsbewältigung be- versichern, treiben, so wie Sie von der Opposition das die ganze Zeit hier vorgeschlagen haben. Alle Ihre Reden bisher stellten (Joachim Poß [SPD]: Und sagen: Wir machen nur eine Vergangenheitsbewältigung dar. Sie bleiben da- solide Finanzpolitik!) bei sogar emotional stehen und sind nicht in der Lage, zu wie sehr sie sich alle anstrengen werden, die geplantesagen: Jetzt müssen wir da durchmarschieren. – Jetzt Neuverschuldung einzuhalten und das Maastricht-Krite- übernehmen auf einmal Sie die Rolle des Buhmanns, in- rium nicht zu reißen, und dann gehen die Finanzminister dem Sie sagen: Die Konjunktur ist sehr schlecht. Man soll in ihre Länderlein zurück, verstecken sich klammheim- nichts schönreden und nicht auf Optimismus machen. lich hinter Hans Eichel und lassen ihn den Buhmann spie- len. Das ist eine Taktik! Dabei hatten doch Sie den Optimismus, dass man die deutsche Einheit aus der Portokasse bezahlen könnte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Lothar Mark [SPD]: Untersuchungsausschuss (B) „Portokasse“!) (D) Ich habe davon gesprochen, dass wir strukturelle Re- formen als einen zweiten Schritt, einen qualitativenWer hatte denn den Optimismus, dass die Konjunktur auf- Sprung im Hinblick auf unsere Bemühungen in der letz- grund der New-Market-Blase nach oben geht? Wer hat ten Legislatur, die nicht falsch, sondern richtig gewesen solche optimistischen Aussagen immer verbreitet? Wenn sind, angehen müssen. Sie haben die richtige Richtung ge- Sie sich davon jetzt völlig abkehren, haben entweder wir habt. Wir haben vielleicht noch nicht die richtige Energie es geschafft, dass Sie sich unserer Denkweise anpassen, besessen. Wir haben vielleicht zu sanft gespart; das will (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – ich gelten lassen. Aber in diesem Land nach vielen Jahren Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: überhaupt wieder eine Kultur des Sparens zu etablieren – Dann ist Deutschland verloren! – Dr. Günter inzwischen gibt es sogar folgende Reklame: „Geiz ist Rexrodt [FDP]: Das bitte nicht!) geil“; da hat sich doch in der Bevölkerung und, so hoffe ich, endlich auch bei allen Politikern etwas geändert; man oder Sie spielen Theater; das kann natürlich auch sein. sagt: Sparen macht Sinn –, das hat Rot-Grün in der letz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten Legislatur geschafft. Das ist der Punkt. und bei der SPD – Zuruf von der SPD: Das Letzte ist richtig!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Der nächste qualitative Schritt wird sein, eine Kultur Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Modernisierung durchzusetzen, und zwar gegen jed- Nächster Redner ist der Kollege Dietrich Austermann, weden Lobbyisten bzw. Oppositionspolitiker. Letztere CDU/CSU-Fraktion. meinen nämlich, sie hätten nicht genug mitzubestimmen, und haben die Sorge, dass ihre Stimme nicht gehört wird (Peter Dreßen [SPD]: Jetzt kommt wieder ei- ner, der alles verdreht!) und sie ihre Vorschläge nicht anbringen können. Wenn Sie von der Opposition Ihre Vorschläge endlich (CDU/CSU): einmal vorbrächten, dann würden wir uns diese anhören. Dietrich Austermann Die Lage ist durchaus ernst. Wir sind für Ratschläge Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kol- dankbar. Aber Sie machen keine Vorschläge, sondern ver- legin Hermenau hat dazu aufgefordert, ihr bei ihren Re- stecken sich und geben nicht zu, dass Sie in den Ländern formvorschlägen zu folgen. Sie hat allerdings keine ge- und zu der Zeit, in der wir noch nicht an der Regierung macht. Sie hat darauf verwiesen, dass Kommissionen waren, die derzeitige Misere mit verschuldet haben. eingesetzt worden sind. Betrachtet man die Situation des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 759

Dietrich Austermann (A) Bundeshaushalts, dann ist festzustellen: Die Haushalts- Das grundsätzliche Problem der Finanz- und Haus-(C) und Finanzkrise Deutschlands besteht – auch nach ihrer haltspolitik unter Hans Eichel ist, dass eine solche gestal- letzten Rede – nach wie vor und sie wird sich aufgrund tende Politik nicht gemacht wird. Jeder normale Mensch der Maßnahmen, die Rot-Grün getroffen hat, eher ver- hat gesehen, dass seit anderthalb Jahren die Zahl der Ar- schlechtern. beitslosen strukturbereinigt steigt und das wirtschaftliche Wachstum auf Null geht, dass es Warnungen der Sach- Ich möchte konkrete Aussagen dazu machen, wie sich verständigen gab – Herr Finanzminister, man muss nicht aus unserer Sicht die Entwicklung verbessern lässt. Aller- nur die Sachverständigenprognosen für das Jahr lesen, dings ist die Art und Weise, wie bisher – auch seitens des sondern auch die Ratschläge, die die Sachverständigen Finanzministers – debattiert worden ist, nicht dazu geeig- geben, damit das Ganze ins Laufen kommt –, sodass für net, zu sagen: Jetzt fangen wir ganz neu an und vergessen jedermann erkennbar war, dass es mit der Finanzsituation all das, was in der Vergangenheit stattgefunden hat. in Deutschland abwärts geht. Wir haben Ihnen 1998 die Regierung des Landes bei Weshalb hat denn, Herr Eichel, die EU-Kommission 3 Prozent Wachstum, einer drastisch sinkenden Arbeits- im Januar dieses Jahres darauf hingewiesen, dass ein losigkeit blauer Brief droht? Mit welchen Maßnahmen haben Sie (Peter Dreßen [SPD]: Was? Das ist eine dazu beigetragen, das zu verniedlichen und zu verdrän- Unverschämtheit!) gen? Nach der Berichterstattung in den Medien vermute ich, dass der Bundeskanzler Sie gezwungen hat, das zu und bei beschlossenen Reformen im Gesundheitsbereich, tun, da er nicht wollte, dass vor der Wahl offenkundig bei der Rente und auf dem Arbeitsmarkt überlassen. wird, was Herr Metzger bestätigt hat, dass nämlich die Fi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter nanzpolitik gescheitert ist. Nichts anderes ist es doch, Dreßen [SPD]: Bleiben Sie bei der Wahrheit!) wenn man die Maastricht-Kriterien sowohl bei der Ge- samtverschuldung als auch bei der Nettoneuverschuldung Das hat dazu geführt, dass die Krankenkassen Über-überschreitet. Beide Ziele haben Sie gerissen. schüsse erwirtschafteten und die Rente mit der Einbezie- hung des demographischen Faktors auf sicherem Wege Das war für jedermann erkennbar und Sie können nicht war. Wir haben einen Weg eingeleitet, dessen Erfolgeerzählen, die Zahl der Existenzgründungen habe zuge- Gerhard Schröder im Mai 1998 vorwegnehmen wollte, in- nommen. Gehen Sie einmal in die Verwaltungsräte der dem er sagte, dies sei sein Aufschwung, weil sich alleKreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Aus- Leute auf das freuten, was nach der Wahl käme. gleichsbank. Da werden Sie erfahren, dass das Ganze ein- gebrochen ist. Wenn sich Menschen nicht mehr in einem Das Ergebnis war: All das, was an positiven Ansätzen neuen Betrieb verantwortlich fühlen wollen, wenn sie (B) erreicht worden ist, wurde zunichte gemacht. Die Belas- keine Existenzgründungen vornehmen wollen, dann kann (D) tungen, die die Menschen zu tragen hatten – ich will das man doch daraus den Schluss ziehen, dass ihnen das Ver- Bild der Kollegin Hermenau aufnehmen: Der Rucksack trauen in die Zukunft fehlt. war 1998 leer –, Wenn das Vertrauen in die Zukunft fehlt und die Ar- (Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beitslosigkeit und die staatlichen Schulden zunehmen, lässt NEN]: Das stimmt nicht!) das nur einen Schluss zu: Die Finanzsituation verschlech- sind in dramatischer Weise vergrößert worden. Um Le- tert sich. Das führt zu der Schlussfolgerung, die wir schon gendenbildungen gar nicht erst zuzulassen: Die Kollegin vor der Wahl gezogen haben. Hermenau hat zusammen mit dem Kollegen Metzger und Damit ganz deutlich wird, wer wem was gesagt hat, den übrigen Grünen Schmiere füge ich hinzu: Wir haben an unsere Kollegen in der Haus- (Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haltsgruppe vor der Wahl ein kleines Heftchen verteilt. NEN]: Aber hallo!) Anfang Juli, als der erste Entwurf des Haushaltsplans für das kommende Jahr vorgelegt wurde, haben wir darin ge- bei den Entwicklungen der letzten vier Jahre gestanden. schrieben: Alle haben alles mitgemacht, jede einzelne Maßnahme ist im Haushaltsausschuss beschlossen und von Ihnen abge- Haushaltsentwurf 2003 ist geschönt und ohne Per- nickt worden. spektive. Er basiert auf unrealistischen gesamtwirt- schaftlichen Annahmen: Wachstum mit 2,5 Prozent (Beifall bei der CDU/CSU) und Arbeitslosenzahl mit 3,82 Millionen angenom- men. Totales Versagen von Rot-Grün bei Bekämp- Ich möchte ein paar der Vokabeln aufnehmen, die be- fung der Arbeitslosigkeit. ... Bei Wachstum und reits genannt worden sind. Wir debattieren heute über den Staatsdefizit hat Deutschland unter Rot-Grün die rote Nachtragshaushalt 2002. Man fragt sich: Warum ma- Laterne erhalten und würde sie behalten. Deutliche chen wir kurz vor Jahresende einen Nachtragshaushalt? Risiken auf der Ausgabenseite und Einnahmeseite: Der Nachtragshaushalt ist erforderlich, weil der Bundes- 10 Milliarden Euro. finanzminister zusätzliche Kredite in einer Größenord- nung von mindestens 13,5 Milliarden Euro braucht. Das Das haben wir an alle unsere Wahlkämpfer verteilt. Je- hat sich in den letzten sechs Wochen herausgestellt, meint der konnte das nachlesen, angefangen vom Kanzlerkandi- er. Vorher hat er das nicht gewusst; denn sonst hätte er be- daten bis hin zu dem letzten Wahlkämpfer, der den Kolle- reits im Juni, Juli oder August einen Nachtragshaushalts- gen geholfen hat. Jeder wusste es, jeder hätte es wissen entwurf vorlegen müssen, wozu wir ihn auch aufgefordert müssen, auch der Bundesfinanzminister. In einem „Stern“- haben. Artikel in der letzten Woche wurde unterstellt, dass wir 760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Dietrich Austermann (A) alles, was wir gewusst haben, von dem Staatssekretärmancher Gemeinde Gott sei Dank immer noch der Fall ist. (C) Overhaus aus dem Bundesministerium der Finanzen be- Es wird also nicht konsolidiert. kommen hätten. Auch der muss es dann ja gewusst haben, und wenn der Staatssekretär es gewusst hat, dann muss es Um den Haushalt für dieses Jahr auszugleichen, er- auch der Minister gewusst haben. höhen Sie die Neuverschuldung. Auch das ist keine Kon- solidierung. Eine um 13,5 Milliarden Euro höhere Neu- Was uns in der Union von der Bundesregierung unter- verschuldung ist keine Konsolidierung. scheidet, ist, dass wir Fakten eins und eins zusammenge- zählt, die Schlussfolgerungen daraus gezogen Diese Maßnahme, die Sie beim Nachtragshaushalt tref- fen – das ist der erste Teil der heutigen Debatte –, ist im ( [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Übrigen falsch und auch nicht geeignet, die Verfassungs- NEN]: Dass wir noch viel Geld in der Kasse ha- widrigkeit des Nachtragshaushalts zu beheben. Nach ben für Wahlgeschenke!) Art. 115 des Grundgesetzes ist jeder Haushalt verfas- sungswidrig, bei dem die Nettokreditaufnahme die Inves- und das den Bürgern gesagt haben. Der Finanzminister titionen übersteigt. Die neuen Schulden übersteigen die hat gesagt, das sei unseriös, wir verhetzten die Leute, das Investitionen in diesem Jahr um mindestens 10 Milliarden sei schwarze Meckerei, das alles sei unverantwortlich, ob- Euro. Das bedeutet, dass der Haushalt verfassungswidrig wohl er genau gewusst hat, dass unsere Prognose richtig ist. ist. Das war unverantwortlich und das war Wahlbetrug. Das rechtfertigt es, Herrn Eichel erneut aufzufordern: Es gibt davon eine Ausnahme, die ebenfalls in der Ver- Nehmen Sie Ihren Hut! Denn Sie haben im Amt versagt fassung geregelt ist. Danach ist das, was hier gemacht wird, wie kein anderer Finanzminister vor Ihnen in Deutsch- verfassungsrechtlich zulässig, wenn eine Störung des ge- land. samtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt und – jetzt kommt die entscheidende Voraussetzung – die Maßnahme (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zur Behebung der Störung des gesamtwirtschaftlichen Mit einer derart schäbigen Bilanz würde sich kein ande- Gleichgewichts geeignet ist. Einfach 13,5 Milliarden Euro rer Mensch an das Pult hier trauen und dann auch noch an Krediten zusätzlich aufzunehmen ist jedoch nicht geeig- versuchen, die Zahlen schönzureden. net, eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichge- wichts aufzuheben; vielmehr wird diese Störung dadurch Das geht übrigens noch weiter. Wenn gesagt wird, ein geradezu verschärft, weil die Tatsache, dass sich der Staat Untersuchungsausschuss sei nicht sinnvoll, weil das ein am Kapitalmarkt bedienen muss, dazu führt, dass die Zin- bereits abgeschlossener Vorgang sei, dann ist dem entge- sen in die Höhe gehen und die Wirtschaft noch mehr leidet. genzuhalten, dass weiter geschwindelt, getäuscht und ge- tarnt wird. Ich habe hier den Monatsbericht 11/02 des (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (B) Bundesministeriums für Finanzen. Darin heißt es: Das ist nicht stringent!) (D) Aus dem derzeitigen Finanzierungssaldo von– Selbstverständlich ist das genau so. Sie sollten sich 44,6 Milliarden Euro und der rechnerisch ausgewie- überlegen, in einen anderen Ausschuss zu gehen. Nach senen Nettokreditaufnahme können keine Rück-der in Ihrem Zuruf zum Ausdruck kommenden Sachkunde schlüsse auf den weiteren Jahresverlauf gezogensind Sie jedenfalls für den Haushaltsausschuss nicht ge- werden. eignet. Inzwischen ist Dezember. Wir haben einen Finanzie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anja rungssaldo von 44,6 Milliarden Euro und das Bundesmi- Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie nisterium für Finanzen verkündet nach draußen, daraus haben meinen Zuruf akustisch doch gar nicht könne man keine Schlüsse ziehen. Ich nenne Ihnen einen verstanden!) Schluss: Die Steuereinnahmen werden in diesem Jahr un- Ich sage es noch einmal: Der Nachtragshaushalt ist ver- ter den Zahlen der Steuerschätzung liegen. Die Nettokre- fassungswidrig und der Haushalt für das Jahr 2003 ist auf ditaufnahme wird in diesem Jahr deutlich über der An- dem Weg dorthin. Wenn der Bundesfinanzminister sagt, nahme liegen, die Sie im Nachtragshaushalt dafürman habe richtige Maßnahmen eingeleitet und diese rich- unterstellt haben. Auch diese beiden maßgeblichen Daten, tigen Maßnahmen seien geeignet, die Situation zu ver- Herr Eichel, stimmen also nicht. Sie täten gut daran, das bessern, dann frage ich – und das fragen die Bürger mit in dieser Debatte noch gerade zu rücken, statt wieder zu uns –: Warum unterstellen Sie dann, völlig zu Recht, im versuchen, das Parlament und damit auch die Bürger zu nächsten Jahr eine steigende Arbeitslosigkeit? Wenn Sie täuschen. eine steigende Arbeitslosigkeit unterstellen, wie können Sie haben versucht, den Nachweis anzutreten, dass Sie Sie dann davon ausgehen, dass sich die Ausgaben für den den Haushalt konsolidiert hätten. Konsolidierung heißt Arbeitsmarkt um 8 Milliarden Euro drosseln lassen? In ei- aber doch, dass man sich darum bemüht, die Ausgaben nem Jahr 8 Milliarden Euro weniger für den Arbeitsmarkt einzugrenzen. Schauen wir uns einmal die Ausgaben an. auszugeben, das macht Hartz nicht möglich. Wenn wir dabei von 1998 ausgehen und das mit diesem Das kann doch nur bedeuten, dass Sie den Kurs dieses Jahr vergleichen, dann stellen wir fest, dass die Ausgaben Jahres fortsetzen wollen und dass in den neuen Ländern dramatisch zugenommen haben. Wenn die Ausgaben dra- bei Ermessensleistungen drastisch gestrichen wird. Der matisch zugenommen haben, dann kann doch nicht ge- famose Herr Gerster – die Älteren werden sich noch an spart worden sein. Anderenfalls hätte man Geld übrig, ihn erinnern; er galt bei seiner Einführung ja als Wunder- hätte vielleicht sogar etwas in einer Rücklage, wie es bei waffe; erst danach kam die Wunderwaffe Hartz; heute ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 761

Dietrich Austermann (A) von Gerster nichts mehr zu sehen und von Hartz nichts schen angelogen. Sie haben es ihnen nicht gesagt und das (C) mehr übrig – hatte gesagt, man müsse die ABM in den war das Unverantwortliche in der Situation damals. neuen Bundesländern einmal etwas aufstocken, dann Ich rate Ihnen, wenn Sie sich auf den Untersuchungs- könne man hinterher vielleicht wieder etwas wegnehmen. ausschuss vorbereiten, sich Ihre Rede vom 27. November In diesem Jahr sind bereits einige 100 Millionen Euro an vorigen Jahres vorzunehmen. Ich rate Ihnen weiterhin, ABM-Mitteln in den neuen Bundesländern gespart wor- Herr Eichel: Verweigern Sie Ihren Mitarbeitern nicht das den. Wenn das im nächsten Jahr fortgesetzt wird, geht die Aussagerecht; lassen Sie zu, dass alle, die in den Ministe- Wirtschaft weiter runter und die Menschen dort gehen to- rien sitzen, vom Staatssekretär über den Abteilungsleiter tal auf dem Zahnfleisch. bis zu wem auch immer, ihre Aussagen machen dürfen! Sie wollen aber bei denArbeitsmarktmaßnahmen, Kommen Sie nicht damit, Sie müssten Staatsgeheimnisse insbesondere bei Arbeitslosenhilfeempfängern, im nächs- schützen und daher könnten Sie den Leuten nicht die Aus- ten Jahr nicht nur einige Hundert Millionen, sondernsagegenehmigung erteilen. Sie alle müssen sagen, was sie 8 Milliarden Euro einsparen, damit Sie überhaupt den gewusst und was sie Ihnen vor der Wahl auf den Schreib- Haushalt ausgleichen können und mit dem Zuschuss bei tisch gelegt haben, Sie aber zur Seite gewischt haben. der Bundesanstalt für Arbeit hinkommen. Es glaubt Ihnen Der entscheidende Punkt für den Untersuchungsaus- kein Mensch, dass das zu schaffen ist. Die Zahlen sind ge- schuss ist aus unserer Sicht – und insofern betrifft das die schönt. Sie werden auch im nächsten Jahr wieder einen Haushaltsberatung hier –: Ein Verfassungsorgan, die Bun- verfassungswidrigen Haushalt haben. Damit ist klar, dass desregierung, hat das Volk, den eigentlichen Souverän, der Kurs nicht in Richtung Sparmaßnahmen und Verbes- getäuscht. Dies ist qualitativ etwas anderes, als wenn Po- serung der Situation geht, sondern dass der Kurs in Rich- litiker im Wahlkampf mal eben so etwas sagen. Nein, Sie tung mehr Verschuldung und verfassungswidrige Haus- haben einen Eid auf die Verfassung geleistet, sich dafür halte geht. einzusetzen, dass die Mitarbeiter, die Ihnen unterstellt Das Entscheidende, was die Menschen von der Debatte sind, das tun, was in diesem Land getan werden muss. Sie hier im Bundestag erwarten, ist eine Perspektive, die ih- haben sie daran gehindert, das, was sie wissen und kön- nen deutlich macht, dass das, was das Parlament beschäf- nen, an den Souverän, an die Bürger, zu bringen. tigt und beschließt, dazu beiträgt, die Krise, in der sich un- (Joachim Poß [SPD]: Eine infame ser Land befindet, zu überwinden. Manches von dem, was Unterstellung!) auf der Regierungsbank stattfindet – das sagten viele Bür- Hierin liegt das eigentliche verfassungsrechtliche Pro- ger in den letzten 14 Tagen –, ist anarchisch. Die Krise blem. Sie können doch nicht erwarten, dass wir Ihnen dies dieses Landes muss durch konkrete Entscheidungen be- durchgehen lassen. Von jedem Bürger verlangen wir, dass einflusst und überwunden werden. (B) er seiner Versicherung gegenüber ehrlich ist, dass er seine (D) Jetzt wird gesagt: Man konnte das ja nicht wissen. Das Steuererklärung ehrlich abgibt. Dann aber soll es zugelas- mit den Steuereinnahmen im September kam auf einmal sen werden, dass diejenigen, die dafür verantwortlich wie ein Unwetter über uns. – Herr Eichel, auch diese Aus- sind, wie kassiert wird und welche Gesetze gemacht wer- sage ist falsch und wird Ihnen im Untersuchungsaus-den, die Menschen, von denen sie Ehrlichkeit erwarten, schuss vorgehalten werden. Die Steuereinnahmen bisschamlos belügen? Dies können wir Ihnen nicht durch- September waren sauschlecht, aber im September waren lassen. sie relativ günstig. Nun zu sagen, die Probleme gebe es, (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß weil die Daten aus dem September so schlecht waren, ist [SPD]: Wie können Sie solche Unterstellungen nicht nur falsch, sondern auch noch gelogen. Werfen Sie äußern?) nicht diese Blendgranaten! Diese täuschen vielleicht die Regierung, aber jedenfalls nicht die Menschen in unserem Ich möchte nun unsere Alternative aufzeigen: Wir wol- len einen ehrlichen Kassensturz. Der Nachtragshaushalts- Land. entwurf und der Haushaltsentwurf 2003 sind noch kein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ehrlicher Kassensturz. Die Zahlen stimmen wieder nicht. Alles, was wir machen müssen, steht unter einem Finanz- Daneben haben Sie auch falscheWachstumszahlen vorbehalt; genannt. Sie werden sich erinnern, Herr Eichel: Vor einem Jahr – es war an einem Freitag, bei der dritten Lesung des (Joachim Poß [SPD]: Steuerschätzung!) Haushalts für 2002 – haben Sie gesagt, in diesem Jahr alle neuen Entscheidungen stehen unter einem Finanz- würden die Schulden sinken. Ich habe Ihnen seinerzeit vorbehalt. vorgehalten, dass das, was Sie für den Bundeshaushalt dieses Jahres unterstellt haben, nämlich 1,25 Prozent (Walter Schöler [SPD]: Das hatten Sie doch Wachstum, nicht stimmt. Das haben Sie bestritten, haben auch einmal!) es als „schwarze Kritik“ und „unseriös“ zurückgewiesen. – Das ist alles richtig. Es stand übrigens auch in der Über- Am nächsten Tag haben wir festgestellt, dass Sie der EU schrift unseres Wahlprogramms. in einem Nebensatz ein Alternativszenario gemeldet ha- ben, wobei deutlich wurde, dass Sie im Hinterkopf ganz Wir wollen eine Entriegelung des Arbeitsmarktes. Herr andere Zahlen hatten als die, welche Sie dem Parlament Merz hat dazu einiges gesagt. Ich erinnere an das Drei- vorgelegt haben. Ich glaube nicht einmal, Herr Eichel, Säulen-Modell und andere Maßnahmen. dass Sie das alles nicht gewusst haben. Ich sage: Sie ha- Wir wollen erreichen, dass Genehmigungsverfahren ben es den Menschen nicht gesagt, Sie haben die Men- in Deutschland beschleunigt werden. Wenn die Zahl der 762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Dietrich Austermann (A) Anträge auf Wirtschaftsförderungsmaßnahmen im Wirt- Nächster Punkt: Wir werden Investitionen beschleuni- (C) schaftsministerium unter Herrn Müller – die Älteren wer- gen und stärken. Sie beklagen dieSituation der Ge- den sich auch an ihn noch erinnern – um 20 Prozent ge- meinden. Wer den Gemeinden ständig die Gewerbe- stiegen ist, ohne dass die Summe, die verteilt worden ist, steuerumlage erhöht, braucht sich nicht zu wundern, dass erhöht werden konnte, heißt dies doch: Die Bürokratie ist die Gemeinden immer mehr Schulden machen und immer ausgeweitet worden. mehr finanzielle Unterstützung von den Ländern brau- Wir wollen wirklich sparen. Wir haben zurzeit die teu- chen. erste Regierung aller Zeiten. (Joachim Poß [SPD]: Nicht alle Länder!) (Joachim Poß [SPD]: Und die billigste Wir machen eine Steuersenkung. Opposition!) Schauen Sie sich einmal die Empfehlung der Sachver- Man muss ins Internet schauen, um festzustellen, wel- ständigen, die 20 Punkte, an. Jeden dieser 20 Punkte wür- che neuen Staatssekretärsstellen und Abteilungsleiterstel- den wir mit Ihnen sofort machen. Die Sachverständigen len etwa im Forschungsministerium geplant sind. Es gab haben aber auch gesagt: Wenn das, was Sie vorhaben, ge- noch nie eine Regierung, die so viele Mitglieder hatte wie macht wird, wird es im nächsten Jahr noch ein halbes Pro- diese. Es gab noch nie eine, die so teuer war. Es gab auch zent weniger Wachstum, wird es also wieder ein Defizit noch nie eine, die für die Menschen in diesem Land so viel geben. zu teuer war wie diese Regierung. Hier fängt das Sparen nämlich an. Manch einer sagt vielleicht: Ihr müsst doch denen jetzt die Hand reichen, insbesondere im Bundesrat, und sie bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Maßnahmen, die sie treffen – das sind ein paar Steu- Wir müssen endlich den Umsatzsteuerbetrug bekämp- ermaßnahmen –, unterstützen. – Dazu merke ich an: Die fen. Wir müssen den Subventionsabbau einleiten. Dafür zusätzliche Belastung der Steuerbürger und der Betriebe stehen wir immer zur Verfügung. Das haben wir immer am 1. Januar – deswegen bin ich für die Wahlen in Nie- dersachsen wie in Hessen ganz zuversichtlich, Herr Kol- gesagt. Es gehört zur Ehrlichkeit, zu sagen, dass der Sub- lege; Mitte bis Ende Januar kommt nämlich die erste ventionsabbau bei der Kohle – gegen Protest – von uns Lohnabrechnung – durch das, was Sie beschlossen haben eingeleitet worden ist. Sie haben die Menschen auf die und was Sie „Kürzung bei den Ausgaben“ nennen, macht Straße gejagt – damals noch in Bonn –, als wir den Kohle- 15 Milliarden Euro aus. Dazu kommt noch der höhere kompromiss geschlossen haben. Rentenversicherungsbeitrag. Dazu kommt noch der höhe- 1982/1983 hatten wir eine vergleichbare Situation. Wir re Krankenversicherungsbeitrag. müssen die Investitionen stärken und nicht den Konsum (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Und die (B) aufblähen. Sie jedoch senken die Investitionen. Energiepreise!) (D) (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Das stimmt nicht!) Wenn das, was Sie machen, falsch ist – die Sachverstän- Wenn Sie sich Ihren eigenen Entwurf ansehen, werden digen sagen, dass Steuererhöhungen zum gegenwärtigen Sie feststellen, dass die Forschungsinvestitionen im nächs- Zeitpunkt falsch sind –, dann muss es doch richtig sein, ten Jahr sinken. Ich bitte Sie, sich noch einmal die letzte das zu blockieren. Deswegen lehnen wir das ab. So ein- Fassung Ihres Haushaltsentwurfes nach dem Kabinetts- fach ist das. Den Aufschwung schafft man nicht mit zu- beschluss anzusehen: Die Forschungsausgaben sinken im sätzlichen Belastungen, sondern nur dadurch, dass man nächsten Jahr. Bereinigt um das, was für die Flutopfer ausge- Bürger und Betriebe, und zwar auch die kleinen und mitt- geben wird, sinken die Investitionen. leren und nicht nur die großen, entlastet. (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Die sind Vielen Dank. gestiegen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Flut ist übrigens ein gutes Stichwort. In der Antwort auf meine Anfrage habe ich gelesen, dass Sie in diesem Jahr Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 2,5 Milliarden Euro für Fluthilfe gebunkert haben. Dieses Geld wurde außerplanmäßig bereitgestellt. Diese 2,5 Mil- Nächster Redner ist der Kollege Walter Schöler, SPD- liarden Euro sind beim Empfänger noch nicht angekom- Fraktion. men, also müssen sie zur Seite gelegt worden sein. Warum werden sie wohl zur Seite gelegt? – Damit man im nächs- Walter Schöler (SPD): ten Jahr dieses Geld nicht aufnehmen muss. Sie – Herr Eichel, Herr Overhaus – haben wieder getrickst. Sie versu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! chen ständig, das Parlament zu umgehen. Sie haben Aus- Herr Kollege Austermann, Sie sind sich wieder mal treu gaben für die Flutopfer in Höhe von 2,5 Milliarden Euro, geblieben. Sie zeichnen hier ein Zerrbild der Realität. Sie ohne dies im Parlament zu diskutieren, als außerplan-operieren mit Halbwahrheiten. Das haben wir zum Bei- mäßige Ausgabe kurz vor der Wahl zur Seite gelegt, damit spiel im Zusammenhang mit der Zahl der Existenzgrün- Sie hier und da noch ein Geschenk verteilen können. Dies dungen – sie liegt bei über 70 000 – gesehen. Sie erwäh- hat etwas mit Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit zu nen nur diejenigen, die es aus den verschiedensten tun. Ich finde es unglaublich, was Sie dort machen. Gründen, häufig aus persönlichen Gründen, nicht ge- schafft haben, ihre Existenz zu erhalten. Sie kommen mit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- alten Rezepten. Sie haben keinen einzigen neuen Vor- rufe von der SPD: Unverschämtheit!) schlag. Sie kritisieren die Regelungen, die zwischen Bund Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 763

Walter Schöler (A) und Ländern einvernehmlich getroffen worden sind, und Recht für sich in Anspruch nimmt, das nur dem Wähler(C) wollen davon ablenken, dass auch die CDU-geführten zusteht, der wird in vier Jahren bei der nächsten Wahl wie- Länder viele der Kompromisse, die Sie jetzt beklagen, in derum scheitern. der Vergangenheit mitgetragen haben. Die Bürger sind im Übrigen nicht so dumm und so ver- Ich stelle fest: Finanzminister Eichel hat seit seinem gesslich, wie Sie es gerne hätten. So fragte der „Stern“ in Amtsantritt einen konsequenten Konsolidierungskurs ge- der vorigen Woche, wer oder was die Hauptschuld an den fahren. In erheblichem Maß wurden Ausgaben verringert Finanzproblemen in Deutschland trage. Wie waren die und wurde die Neuverschuldung zurückgeführt. Bereits Antworten? – Am meisten genannt wurde der Faktor „zu im Jahr 2001 hatten wir dieNeuverschuldung mit viel Bürokratie“ – darüber sind wir uns alle einig –, an 22,8 Milliarden Euro auf den niedrigsten Stand seit 1993 zweiter Stelle folgte die Nennung „Weltwirtschaftskrise“, gesenkt. Unser Ziel bleibt unverändert – da mögen sie hier an dritter Stelle „Regierung Kohl“, an vierter Stelle „Wie- sagen, was Sie wollen – der völlige Abbau der Neuver- dervereinigung“ und an fünfter Stelle – das ist sehr inter- schuldung bis zum Jahr 2006. essant – „sture Interessenverbände“. Die Bürger wissen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten also sehr wohl einzuschätzen, wo die Ursachen der Misere des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) liegen. Diese für die Bürger überzeugende Strategie solider Der von Ihnen angestrebte Untersuchungsausschuss Staatsfinanzen war – das mag Ihnen nicht passen – auch wird belegen: Nicht wir, sondern Sie von der Union und ein wichtiger Faktor für unseren Wahlsieg am 22. Sep- von der FDP sind die Wahlbetrüger. tember. Wir wissen ganz genau: Die Haushalte 2002 und (Beifall bei der SPD) 2003 müssen die gesunkenen Steuereinnahmen und auch die Mehrausgaben auf dem Arbeitsmarkt verkraften. Da- Das war auch 1998 so – um das deutlich zu machen, muss mit stehen wir vor einer gewaltigen Aufgabe, die wir auf ich gar nicht die „blühenden Landschaften“ oder die ehrliche und überzeugende Weise bewältigen werden. berühmte „Portokasse“ bemühen –, als Sie vor der dama- ligen Bundestagswahl die Wähler mit einem völlig un- Es ist keine Frage: Die Haushaltslage ist derzeit ohne seriösen, rechtswidrigen und unehrlichen Haushalt für 1999 Zweifel schwierig. Wenn Sie nun aber in fast blanker Wut getäuscht haben. Dieser Etat wies ein Loch von rund – wütend wahrscheinlich über sich selbst und über das 30 Milliarden DM auf. Sie haben uns anschließend, als Wahlergebnis – und mit unerträglichen Wortschöpfungen wir das korrigierten, diffamiert, wir hätten diesen Haus- eine Hetzkampagne lostreten und behaupten, vor derhalt ohne Not zunächst ausgeweitet. Nein, es waren die Wahl habe Eichel schon gewusst, was er heute weiß, so ist waigelschen Tricksereien, die diese Maßnahmen erfordert das billiger Populismus. Im Übrigen: Mit all diesem Wis- haben. (B) sen sind die Länderfinanzminister, die das Geld ja eintrei- (D) ben, vermutlich immer einen Tick früher dran gewesen. Im letzten Wahlkampf haben Sie die Wähler im Übri- Also: Rot-Grün hat keine Wahllüge und keinen Wahlbe- gen wieder betrogen. Ihre Versprechungen hätten bis zu trug zu verantworten. Die Wahrheit ist, dass vor dem70 Milliarden Euro gekostet. Herr Stoiber ist mit diesen großen Steuertermin Ende September keine halbwegsVersprechungen durchs Land gezogen. Dabei wusste er verlässliche Vorausschätzung möglich war; das wissen ganz genau, dass es dafür nicht den geringsten finanziel- Sie ganz genau. Lüge oder Betrug, wie Sie es immer nen- len Spielraum gab. Das nenne ich Betrug. nen, ist nicht gegeben. Im Gegenteil: Der Finanzminister (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat überhaupt keinen Zweifel daran gelassen – das hat er DIE GRÜNEN) heute Morgen noch einmal gesagt und bestätigt –, dass der Haushalt auf Kante genäht war und dass es schwierig sein Wenn ich zum Beispiel an das von Ihnen versprochene würde, Einnahmeverschlechterungen aufzufangen. Familiengeld denke, dann fällt mir das in den letzten Ta- gen ins Gespräch gekommene Überraschungsei ein. Ihre Außerdem: Vor der Bundestagswahl erfolgte die Haus- Versprechen waren wohl Ihr Überraschungsei für den haltssperre durch den Finanzminister. Das haben SieWahlkampf; Sie haben nur vergessen, welche Warnung offensichtlich schon vergessen. Diese Maßnahme vonüber den Inhalt zu lesen ist, nämlich: „nicht geeignet für Hans Eichel war verantwortungsbewusste Politik, im Ge- Kinder unter drei Jahren“. Daran hätten Sie denken sollen. gensatz zu dem, was sich einige Ihrer Länderfinanzminis- ter erlaubt haben. Als dann die veränderte Haushaltslage im Oktober ver- lässlich absehbar war – es war wichtig, dass diese Mit dem Untersuchungsausschuss werden Sie ein Ei- Erkenntnisse verlässlich waren –, hat Rot-Grün sofort ge- gentor schießen. Viel Spaß dabei! Ich hoffe, Sie haben handelt. Der Finanzminister hat noch vor derSteuer- genügend Vergnügen. Wer so von der eigenen Wahlnie- schätzung einen Nachtragshaushalt für 2002 angekündigt derlage und, wie sich heute Morgen wieder gezeigt hat, und die Koalition hat ein Maßnahmenpaket geschnürt, um von der eigenen Konzeptlosigkeit ablenken will, der er- Mindereinnahmen für 2003 und die Folgejahre aufzu- stürmt – das schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ Ihnen fangen und dabei zugleich Wachstum und Beschäftigung treffend ins Stammbuch – den Gipfel der Lächerlich- zu stimulieren. keit. Der jetzt zu korrigierende Haushalt 2002 war grund- (Beifall bei der SPD) ehrlich aufgestellt. Die Unterstellungen auch von Herrn Wer einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu Austermann sind aus der Luft gegriffen; denn die Annah- einem Wahlkampfgericht degradieren will und damit ein men zu Wachstum und Beschäftigung in diesem Haushalt 764 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Walter Schöler (A) deckten sich mit den Prognosen aller einschlägigen wis- gegeben sei. Dies sei 2002 nicht der Fall. Diese Argu-(C) senschaftlichen Institute und Institutionen, die zusam- mentation ist überhaupt nicht logisch. Richtig ist nämlich, mengefasst lauteten, man erwarte ein sich im Verlauf des dass auch 2001 die Werte von Wachstum und Be- Jahres verstärkendes Wachstum. schäftigung nicht zufrieden stellend waren. Aber durch unsere Konsolidierungspolitik und durch die vorsichtige Meine Damen und Herren, der Nachtragshaushalt ist Veranschlagung konnten wir dennoch deutlich unter der auch mit der Verfassung vereinbar. von Art. 115 des Grundgesetzes vorgegebenen Grenze (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Das stimmt bleiben. Will man uns also aus der soliden Politik 2001, nicht!) die die Probleme damals beherrschen konnte, in diesem schwierigen Jahr 2002 einen Strick drehen? Sie wollen es Herr Austermann ist auf diesen Punkt eingegangen; des- offensichtlich. Die wirtschaftliche Situation rechtfertigt halb will auch ich diesem Punkt einige Ausführungenes, die Ausnahmeregelung in Anspruch zu nehmen. Die so widmen. Die Feststellung der grundsoliden Veranschla- genannten automatischen Stabilisatoren wirken und wer- gung ist für mich wichtig; ich will im Folgenden einerseits den über zusätzliche Kredite finanziert. auf den Haushalt 2002 eingehen und andererseits den Ge- gensatz zu Kohl und Waigel aufzeigen. Da so etwas ja be- Es ist eben in den Wortbeiträgen deutlich gemacht kanntlich schnell aus dem Gedächtnis gerät: 1996 undworden: Eine Deckung der Lücke in dieser Höhe durch 1997 haben sie – Herr Austermann war dabei –, trotz un- Ausgabenkürzungen noch kurz vor Jahresschluss wäre serer Warnung und der Rüge durch die Wissenschaft, die unvertretbar. Rechtsverpflichtungen binden uns. Inves- Ausgaben für den Arbeitsmarkt massiv und erkennbar zu titionsmaßnahmen sind auch angesichts der konjunkturel- niedrig veranschlagt. 1996 hat sich Waigel noch gerettet, len Lage nicht einfach stillzulegen; das wissen Sie genau. indem er am Parlament vorbei verfassungswidrig Rest- Das würde die Wirtschaft beschädigen. Darüber hinaus kreditermächtigungen von 18,4 Milliarden DM zur Finan- würden sicherlich noch Konventionalstrafen drohen. zierung einsetzte. 1997 bestand die gleiche Situation. Da- Die Vorgaben zu Art. 115 des Grundgesetzes hinsicht- mals kamen Kohl und Waigel an einem Nachtragshaushalt lich einer aktivenBekämpfung der Wirtschafts- allerdings nicht mehr vorbei, da wir wegen des Einsatzes schwäche werden ebenfalls erfüllt. Der Nachtrag 2002 dieser Restkreditermächtigungen nach Karlsruhe gegan- kann nämlich nur in Verbindung mit den Folgejahren ge- gen sind. Dabei überschritten Sie die Verfassungsgrenze sehen werden. Diese zeigen eine klare Wachstums- und des Art. 115 des Grundgesetzes deutlich und mussten des- Beschäftigungsstrategie auf. Ich nenne nur als Stichworte halb wegen zuvor schon erkennbarer massiver falscher die Reformen am Arbeitsmarkt und im Sozialsektor sowie Veranschlagungen die Störung des gesamtwirtschaftlichen die zusätzlichen Stufen der Steuerreform, die 2004 und Gleichgewichts feststellen, um nicht auf Grund zu laufen. 2005 kommen werden. Das Geschrei über zu hohe Steuer- und Abgabenbelastungen ist angesichts der harten Fakten (B) Die Situation für 2002 ist hingegen völlig anders; denn (D) einfach absurd. Grundlage ist ein solider Haushaltsplan. Bei der Steuer- schätzung im Mai herrschte hinsichtlich der Annahmen zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wirtschaftlichen Entwicklung bei den Instituten weitge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hend Einigkeit. Die Absenkungen durch die Maischätzung Manchmal hatte ich in Veranstaltungen den Eindruck, wären im Haushalt 2002 durchaus zu verkraften gewesen. dass die breite Masse der Bevölkerung permanent mit Aber im Mai haben sich eben alle geirrt oder verschätzt und ihren Dienstwagen privat unterwegs ist und nur damit be- sich anschließend korrigieren müssen. Nach der Novem- schäftigt ist, ihre Aktienpakete zu verschieben und gele- berschätzung wird der Bund 8,5 Milliarden Euro weniger gentlich einen Teil des Mietwohnbesitzes zu veräußern, Steuern einnehmen als geplant. Außerdem sind wegen der um dann zu klagen, dass auf diese Veräußerungsgewinne – dazu parallel verlaufenden – unbefriedigenden Entwick- plötzlich Steuern zu zahlen sind. Das ist eben nicht die lung auf dem Arbeitsmarkt 5 Milliarden Euro zusätzlich Wirklichkeit in Deutschland. Das ist nicht die Wirklich- aufzuwenden. keit bei breiten Schichten der Bevölkerung, die diesen po- Diese 13,5 Milliarden Euro sind nun im Nachtrags- pulistischen Äußerungen, Medienschlagzeilen folgen, haushalt ausgewiesen und werden durch eine erhöhteund meinen, sie seien betroffen. Kreditaufnahme gedeckt. Damit steigt die Kreditauf- Wir betreiben eine aktive Bekämpfung der Wirt- nahme – ich muss hinzufügen: leider – auf 34,6 Milliar- schaftsschwäche. Das Geschrei, das wir in den letzten den Euro und liegt damit deutlich über den Investitionen Wochen gehört haben und das Sie bis zum 2. Februar 2003 von 25 Milliarden Euro sowie deutlich jenseits der Ver- anstimmen werden – ich vermute, danach wird es etwas fassungsgrenze. Deren Überschreitung setzt eben dieruhiger werden –, wird den Fakten einfach nicht gerecht. Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vo- Die Lage ist nicht rosig; das wissen wir. Aber sie ist viel raus. Das ist in diesem Jahr angesichts von besser circa als Ihre Miesmacherstimmung. 150 000 Arbeitslosen mehr und 200 000 Beschäftigten weniger als geplant und prognostiziert ernsthaft der Fall. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das gesamt- Zudem liegt das reale Wachstum bei 0,5 Prozent statt, wie wirtschaftliche Gleichgewicht ist gestört!) zunächst geplant, bei 1,25 Prozent. Manchmal hat man den Eindruck: Wird den Egoismen einer Gruppe nicht nachgegeben, Herr von Klaeden, wird Nun gibt es gegen unsere Inanspruchnahme der Aus- das Geplante sofort öffentlich verteufelt. nahmeregelung zwei Vorwürfe. Der Sachverständigenrat meint, die Feststellung dürfe nur erfolgen, wenn eine we- Fakt ist, wir haben in den vergangenen Jahren bei den sentlich größere Zielverfehlung als in den Jahren zuvor Netto- und Realeinkommen eine Trendwende geschaffen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 765

Walter Schöler (A) Von 1994 bis 1998 sanken sie pro Jahr um 1,5 Prozent. Morgen deutliche Worte zu den anstehenden Reformen(C) Seit 1998 steigen sie im Jahresdurchschnitt um fastgefunden. 1,2 Prozent an. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer Po- Mit der Umsetzung der Vorschläge der Kommission litik damals und unserer Politik heute. Die Nettolöhne je „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ gestalten wir Arbeitnehmer lagen 2001 im Durchschnitt um real die größte Arbeitsmarktreform der Nachkriegsgeschichte. 534 Euro über dem Niveau des Jahres 1998. Diese belebt den Arbeitsmarkt und verbessert auch nach- Diese erfreuliche Trendumkehr ist vor allem eine Folge haltig die Situation der Ausgaben und Einnahmen im Bun- der deutlichen Ausweitung des Grundfreibetrags – die ha- deshaushalt und bei der Bundesanstalt. Zukunftssichernde ben Sie in dieser Form ja nicht geschafft –, der Absenkung Ausgaben für Familie, Bildung, Forschung und Infrastruk- des Eingangssteuersatzes und der enormen Anhebung des tur werden trotz der erheblichen konjunkturbedingten Haus- Kindergelds. Im Jahr 2002 setzt sich diese Entwicklung fort. haltsbelastungen auf hohem Niveau gehalten oder verstärkt. Damit komme ich wieder zur Steuerschätzung. Zuge- Hinzu kommen Verbesserungen der Innovationsfähigkeit geben, die Maischätzungen und nun erneut die Novem- der mittelständischen Wirtschaft und die Fortführung der berschätzungen haben hohe Mindereinnahmen ausgewie- Agrarwende. Wenn man unter vier Augen mit den Vertretern sen. Daraus aber den Schluss zu ziehen oder den Eindruck der Verbände spricht, hört sich das erfahrungsgemäß oft an- zu vermitteln, es handele sich um einen Absturz der Kon- ders an als in offiziellen Veranstaltungen. junktur, ist falsch. Abgestürzt sind in Wirklichkeit die Außerdem kommen – das betone ich ausdrücklich – in Steuereinnahmen, was mit der wirtschaftlichen Entwick- den nächsten vier Jahren auch noch 4 Milliarden Euro zu- lung nur zum Teil zu tun hat. Vielmehr haben sich offen- sätzlich für 10 000 Ganztagsschulen hinzu. sichtlich Verhaltensparameter der Bürger verändert und sind Auswirkungen der einzelnen Schritte der Steuerre- Das Geld stellen wir bereit. Das ist ein Angebot an die form unterschätzt worden. Länder. Das ist verantwortliche Politik. Ich sage dazu nur: Versprochen und Wort gehalten! Der Steuerrückgang ist für den Staat zwar bitter, für die Bürger aber positiv. Denn 2002 steigt das Bruttoinlands- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ produkt um 45 Milliarden Euro gegenüber dem Vorjahr, DIE GRÜNEN) die Steuereinnahmen gingen aber um 7 Milliarden Euro Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind zurück. Irgendwo muss das Geld aber bleiben. Die Bürger die Antwort auf die Frage nach neuen Konzepten heute haben also auch 2002 – entgegen den verfälschenden Dar- wieder schuldig geblieben; denn Sie haben keine. Die For- stellungen – deutlich mehr Geld in der Tasche als zuvor, derungen, die in dem Wulff-Papier, das gestern präsentiert besser gesagt: mehr Geld auf ihren Konten. Entsprechend worden ist, erhoben werden, oder Ihre Forderungen, die Sie geht auch die Steuerquote, die 1998 noch bei 22,1 Pro- teilweise den Wirtschaftsverbänden nachbeten, wie „Weg (B) zent lag, auf 20,8 Prozent zurück – das ist der niedrigste mit der Mitbestimmung“, „Weg mit Flächentarifverträ-(D) Wert in der Nachkriegsgeschichte – und sinkt die Abga- gen“, „Weg mit dem Kündigungsschutz“, „Weg mit dem benquote auf 38,2 Prozent. Das ist der niedrigste Wert seit Sonn- und Feiertagsschutz“, „Mehr Druck durch eine – ,un- 1970. Das sind klare Fakten, wie wir sie begrüßen! vertretbare‘ – große soziale Spreizung“ hin zur Grundver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sorgung bei der Renten- und der Krankenversicherung und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zu Wahlleistungen nach Größe des Portemonnaies haben wir lange genug gehört. Das ist nicht unser Verständnis des Der Haushaltsentwurf 2003 zeigt: Der Bund trägt sei- verfassungsrechtlichen Sozialstaatsgebots. Dafür haben nen Anteil dazu bei, nach der nicht zu vermeidendenuns die Wählerinnen und Wähler am 22. September die- Überschreitung der Maastricht-Defizitgrenze in 2002ses Jahres nicht ihre Stimme gegeben. künftig die 3-Prozent-Grenze wieder deutlich zu unter- schreiten. Da mögen Sie unken, wie Sie wollen. Deshalb Wir scheuen nicht die kritische Auseinandersetzung mit sind Länder und Gemeinden – besonders die Länder – Ihnen über den Haushalt. Wir laden Sie geradezu ein, Ihre aufgefordert, gemäß den Vereinbarungen im Finanzpla- Vorschläge endlich einzubringen, auch wenn diese Einla- nungsrat auch ihren notwendigen Beitrag zu leisten und dung offensichtlich vergeblich ist. Früher, als Sie regiert die auf den Weg gebrachten Maßnahmen mitzutragen. haben, haben Sie den Menschen einmal vorgeworfen: Sie Dies wird nur gehen, wenn die Union den Bundesrat nicht klagen, aber auf hohem Niveau. Ich stelle heute fest: Sie aus kurzsichtigen taktischen Gründen als Blockadeinstru- klagen, aber viel Niveau ist nicht mehr vorhanden. ment missbraucht, wie Sie das offensichtlich vorhaben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Finanzminister hat es geschafft, für 2003 einen DIE GRÜNEN) Entwurf mit einer Nettokreditaufnahme von nur 18,9 Mil- Hans Eichel genießt unser Vertrauen. Deshalb werden liarden Euro und damit der niedrigsten Neuverschuldung wir unseren Weg für Erneuerung, Gerechtigkeit und seit der Wiedervereinigung vorzulegen. Dafür gebührt Nachhaltigkeit gemeinsam mit ihm weitergehen. ihm Dank und Anerkennung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Nachhaltige Finanzpolitik, wie wir sie verstehen, er- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schöpft sich aber nicht allein in der Konsolidierung; viel- mehr gestaltet sie gleichzeitig. Diesen Zweiklang spiegelt Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto der Entwurf 2003 deutlich wider. Hans Eichel hat heute Solms, FDP-Fraktion. 766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

(A) Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Sie wollen, dass die Bürger mehr Geld ausgeben, mehr(C) konsumieren und dass die Unternehmer mehr investieren, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und dann müssen Sie sie entlasten, damit es in der Wirtschaft Herren! Wenn man die Presseberichte liest, hat man den besser läuft und Wirtschaftsdynamik entsteht. Nur dann Eindruck, dass in der Regierung und in den sie tragenden erhöhen sich die Steuereinnahmen. Koalitionsfraktionen das Chaos ausgebrochen ist. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Sie widersprechen sich geradezu stündlich. Vor wenigen Damit Sie uns nicht vorwerfen, wir legten keine Alter- Tagen fordert Herr Müntefering weitere Steuererhöhun- nativvorschläge vor, weise ich darauf hin: Wir haben gen. Er meint, dass die bisherigen noch nicht genug seien. vor der Bundestagswahl ein detailliert ausgearbeitetes Wahrscheinlich hat er den Steuersong, den man dem Bun- Steuervereinfachungs-, Steuerreform- und Steuersen- deskanzler in den Mund gelegt hat, ernst genommen. Er kungsprogramm mit einem Gesamtvolumen von 35 Mil- will jetzt an unser Bestes, an unseren Zaster, ran – liarden Euro pro Jahr und auch entsprechende Finanzie- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der rungsvorschläge vorgelegt. CDU/CSU) (Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als ob er nicht wüsste, dass der Staatsanteil am Volksein- NEN]: Die nicht funktionieren!) kommen schon heute bei 56 Prozent liegt, das heißt, dass Man mag nicht jedem einzelnen Vorschlag zustimmen. der Staat 56 Prozent dessen, was die Bürger erwirtschaf- Aber dann soll man andere Vorschläge machen. Wir je- ten, für sich, für seine Bürokratie und insbesondere für die denfalls haben Vorschläge vorgelegt. unnötigen Ausgaben beansprucht, die die Bundesregie- rung veranlasst hat. Herr Müntefering will noch mehr. Es macht nur Sinn, steuerliche Ausnahmen, soweit es Was soll denn der Bürger denken, wenn der Bundeskanz- welche sind – zum großen Teil handelt es sich um reine ler an dem Tag, an dem von seiner Bundesregierung Vor- Steuererhöhungen –, zu streichen, wenn dies in ein Steu- schläge für 41 Steuererhöhungen im Parlament einge- erreformkonzept eingebaut wird, bei dem die Bürger bracht werden, höhere Steuern ausschließt? Das ist doch wissen, dass sie insgesamt steuerlich weniger belastet ein Skandal. werden. Das ist der entscheidende Unterschied. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Antje (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist genau die Philosophie der Steuerpolitik, die in Das ist der Abbau von Vergünstigungen! Hören einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise betrieben werden Sie auf mit der Erhöhungslüge!) (B) müsste. (D) Die Grünen distanzieren sich zwar öffentlich davon, be- Zweitens. Zur Haushaltssanierung: Selbstverständ- schließen aber alles mit. lich müssen Sie den Haushalt sanieren, aber nur durch we- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genauso ist es!) niger Ausgaben. Sie müssen die Strukturen reformieren, damit sie effizienter werden, damit Bürokratie abgebaut Diese Methode kennen wir ja seit langem. Gerade in der werden kann, damit die Ausgaben gesenkt werden kön- Steuerpolitik haben Sie sich vier Jahre darin geübt. Frau nen. Scheel ist Vorreiterin dieser Politik. Diese wird jetzt fort- gesetzt. In der Rentenpolitik steht uns gerade das Gleiche (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bevor. NEN]: Sagen Sie doch mal, wo Sie noch au- ßer bei der Kohle sparen wollen! – Dr. Elke ( [FDP]: Man muss viele Kröten Leonhard [SPD]: Das sind Binsenweisheiten!) küssen, bevor man einen Prinzen trifft!) Erst dann entlasten Sie die Wirtschaft, erreichen Sie mehr Ich möchte nur noch ein paar ökonomische Grundsätze Steuereinnahmen und schließen Sie die Lücken im Haus- ansprechen, bei denen es sich um Binsenwahrheiten han- halt. Ich sage Ihnen voraus: So, wie Sie es machen, wer- delt, für die Sie nicht Ökonomie studiert haben müssen, den Sie erleben, dass die Lücken im Haushalt von Jahr zu um sie zu verstehen. Wenn Sie ein höheres Steuerauf-Jahr breiter werden und die Arbeitslosigkeit weiter an- kommen erzielen wollen, dann müssen Sie diejenigensteigen wird, denn es gibt keine Incentives für mehr Be- stärken, die die Steuern erwirtschaften. Sie dürfen die Kuh schäftigung. nicht schlachten, die Sie melken wollen. Aber genau das tun Sie. Sie entziehen dem Wirtschaftskreislauf durch Ihre (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Maßnahmen 25 Milliarden bis – ansteigend – 35 Milliar- der CDU/CSU) den Euro pro Jahr. Der entscheidende Fehler der Politik Drittens. Der zentrale Wettbewerbsnachteil des Stand- von Hans Eichel ist: Er redet vom Sparen, aber er gibt ortes Bundesrepublik Deutschland liegt doch darin, dass mehr aus. die Produktionskosten in Deutschland zu hoch sind. Die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Produktionskosten setzen sich aus den Kosten für Arbeit und für Kapital zusammen. Nachdem wir durch die hohen der CDU/CSU) Lohnzusatzkosten ohnehin die höchsten Arbeitskosten Unter Sparen verstehe ich weniger ausgeben. Er will sei- der Welt haben, müsste es die Politik einer verantwor- nen Haushalt über die Einnahmeseite sanieren, indem er tungsbewussten Bundesregierung sein, bei den Lohnzu- die Steuerbelastungen erhöht. Genau das ist falsch. Wenn satzkosten zu Einsparungen zu kommen. Davon haben Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 767

Dr. Hermann Otto Solms (A) Sie ja auch gesprochen. Herr Riester hat das immer ge- Und die Bürger sollen jetzt die Suppe auslöffeln.Wir ha- (C) wollt. Aber was ist das Ergebnis Ihrer Politik? ben uns international in den Tests der Schüler über alle Maßen blamiert. Das gilt gerade für die Schüler aus die- (Elke Ferner [SPD]: 20,3 Prozent waren es sen Ländern. Jetzt sagen Sie, damit das beseitigt werden 1998!) könne, solle der Bürger Vermögensteuer bezahlen. Diese Die Beiträge für die Rentenversicherung steigen aufBegründung ist schon ein absoluter Skandal. 19,5 Prozent. Sie hatten zugesagt, dass diese unter 19 Pro- Wir haben in Hessen das Chaos in der Bildungspolitik, zent bleiben würden. Die Beiträge zu den Krankenversi- das uns da Rot-Grün zurückgelassen hat, innerhalb von cherungen steigen auf 15 Prozent und mehr an. Das ist vier Jahren beseitigt. von Versicherung zu Versicherung unterschiedlich. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung können nicht sin- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ken, sondern – im Gegenteil – die Arbeitslosenversiche- Wir haben 3 000 Lehrer eingestellt, ohne neue Steuern rung beansprucht immer mehr Steuermittel, um am Leben einzuführen. zu bleiben. Das ist genau das Gegenteil dessen, was not- wendig ist. Die Arbeitskosten steigen, und Sie erreichen (Zuruf von der CDU/CSU: War der Eichel da damit steigende Arbeitslosigkeit, was wiederum die nicht?) Haushalte beansprucht. Diese Lehrereinstellungen haben dazu geführt, dass der Zu den Kapitalkosten– das ist wirklich phantas- Unterrichtsausfall beseitigt worden ist. Das haben wir vor tisch –: Wenn die Arbeitskosten schon so hoch sind, müss- der Wahl zugesagt, und das haben wir eingehalten. ten wenigstens die Kapitalkosten niedrig sein, damit sich (Erika Lotz [SPD]: Stimmt doch gar nicht!) Beschäftigung in Deutschland noch lohnt. Aber in Ihrem Maßnahmenpaket werden auch die Kapitalkosten erhöht. Wir werden die Bildungsreform in Richtung auf mehr Es ist für mich völlig unverständlich, wie in einer solchen Qualität nach der Landtagswahl fortsetzen. Situation Herr Eichel in der europäischen Diskussion dem In Niedersachsen haben die Sozialdemokraten genau Phantom von Kontrollmitteilungen nachlaufen kann. Sie das Gegenteil getan. Der Steuerzahler aber soll jetzt die müssen sich das einmal praktisch vorstellen. In Europa Zeche bezahlen. gibt es etwa 2,5 Milliarden Bankkonten. Nun soll eine Bürokratie für Kontrollmitteilungen über diese Unzahl (Dirk Niebel [FDP]: Da wird sozusagen der von Bankkonten mit der Gefahr von unzähligen Namen- Bock zum Gärtner gemacht!) verwechslungen aufgebaut werden. Das ist absurd. Es Es ist schon eine gewaltige Frechheit, was Sie uns da zu- gibt – das habe ich Herrn Eichel auch schon mehrfach ge- muten. sagt – ein ganz einfaches Mittel: (B) (Beifall bei der FDP) (D) (Zuruf von der FDP: Der ist nicht einmal da!) Hinzu kommen die Mindestbesteuerung und andere Sie müssen eine einfacheAbgeltungssteuer mit einem völlig unangemessene Vorschläge. In der Summe kann man niedrigen Zinsniveau einführen, die an der Quelle, näm- sagen: Der Regierung fehlt einfach ein ordnungspoliti- lich bei der Bank, erhoben wird. sches Konzept. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wo soll es Sie brauchen keineKontrollmitteilungen, denn die denn herkommen, Herr Kollege?) Steuer kann nicht umgangen werden. Das wäre ein Vor- Ihr fehlt der ökonomische Sachverstand. Herr Eichel, schlag, der in Europa verfolgt werden müsste. Diediesen Vorwurf muss ich Ihnen machen. Schweizer haben das der Europäischen Kommission er- klärt. Die Mitglieder der Kommission sind jedoch nicht Ich will jetzt nicht auf die zusätzliche Besteuerung der zur Vernunft zu bringen, weil sie von ihren Vorurteilen Immobilien eingehen, weil meine Redezeit zu Ende ist. und Ideologien nicht abgehen können. Hinzu kommen Ich will nur sagen: Ihre Ideologie sieht anscheinend so natürlich die Steuern auf den Gewinn von Aktien-, Im- aus, wie es einmal Ronald Reagan den Demokraten in den mobilien- und Investmentfondsanteilverkäufen, die Min- USA vorgeworfen hat. destbesteuerung – das alles führt zur Erhöhung der Kapi- (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Die Demokraten talkosten – und schließlich die fatale Diskussion um die waren sehr erfolgreich!) Wiedereinführung der Vermögensteuer und die Anspan- nung der Erbschaftsteuer. Meine Damen und Herren, der Ronald Reagan hat gesagt: Wenn sich in der Wirt- größte Skandal ist jedoch, wie Herr Steinbrück und Herr schaft etwas bewegt, dann muss man es besteuern. Und Gabriel das begründen, nämlich zur Finanzierung der Bil- wenn sich immer noch etwas bewegt, dann muss man es dungspolitik. regulieren, bis es erdrosselt wird. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das kann man (Stephan Hilsberg [SPD]: Sie taugen nicht wohl sagen!) zum Kabarettisten!) Die beiden Herren und ihre Vorgänger, der Superminister Und wenn sich dann nichts mehr bewegt, dann muss man Clement und der Bundeskanzler Gerhard Schröder, haben es wieder subventionieren. – Das ist Ihre Philosophie ei- doch das Schlamassel der Bildungspolitik in Niedersach- ner Ökonomie. sen und Nordrhein-Westfalen selber angerichtet. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Steuern, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bis sich nichts mehr bewegt!) 768 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Dr. Hermann Otto Solms (A) Das ist aber die Realisierung des demokratischen Sozia- Sie machen es sich zu leicht. Auch Herr Merz bleibt unter (C) lismus in der westlichen Bundesrepublik, das ist sozusa- seinen finanzpolitischen Möglichkeiten, die er unbestrit- gen die DDR ohne Honecker. ten hat, wenn er behauptet, das beruhe einzig und allein auf handwerklichen Fehlern. Sie wissen genau, dass das (Lachen bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: etwas mit der Konjunktur und mit Tarifsenkungen, die Sie Das wird immer schlimmer!) immer fordern, zu tun hat. Deshalb ist das, was Sie ma- Das ist aber keine freie Marktwirtschaft. Für eine solche chen, unwahrhaftig. Das hat auch damit zu tun, was die Politik werden Sie uns nicht als Partner gewinnen können. Kollegin Hermenau richtig gesagt hat: Sie bewegen sich Wir werden dieser Politik widersprechen. Wir werdenauf sehr dünnem Eis, wenn es darum geht, dass Ihnen die dafür Sorge tragen, dass vieles von dem, was Sie vor-Leute überhaupt noch glauben. schlagen, den Bundesrat nicht überstehen wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank. und bei der SPD – Dietrich Austermann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) [CDU/CSU]: Schauen Sie die Umfragen an!) – Ja, die Umfragen sind für die Regierungsparteien im Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Moment nicht gut; aber sie zeigen auch keine Begeis- terung für die Opposition. Ich würde an Ihrer Stelle ein- Nächste Rednerin ist die Kollegin Anja Hajduk,mal die Berichterstattung derjenigen Presseorgane sehr BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. genau lesen, die sicherlich nicht verdächtig sind, es Rot- Grün leicht zu machen. In diesen Veröffentlichungen wird Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): klipp und klar geschrieben: So wie Sie sich verhalten, ver- halten sich Verlierer, die ihre Wahlniederlage nicht ver- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sowohl kraftet haben. die Zahlen des Haushaltsentwurfes 2003 als auch erst recht die des Nachtragshaushaltes und die Debatte haben (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gezeigt, dass die Situation sehr ernst und nur äußerst SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Klaus schwer zu meistern ist. Brähmig [CDU/CSU]: Völliger Quatsch!) (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) Ihnen wird von unabhängiger Seite der Vorwurf gemacht, das Problem im Grunde genommen zu verstärken. Auch Das geben wir zu. Sie haben mit der Vertrauenskrise im Grunde eine ganze Ich finde es in Ordnung, wenn Sie uns als Opposition Menge zu tun. Ich will unseren Part nicht kleinreden, angreifen. Aber dabei dürfen Sie es sich nicht zu leicht wenn ich darauf hinweise, dass Sie die Glaubwürdigkeit (B) machen. Ich möchte meine Wahrnehmung begründen, und die Ernsthaftigkeit der Politik infrage stellen. Herr(D) dass Sie es sich zu leicht machen. Austermann, das wird eindeutig auf Sie und auf Ihre Frak- tion zurückfallen. Herr Austermann und Herr Merz haben sich zwar nicht nur – zum Arbeitsmarkt haben sie andere Vorstellungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgetragen –, aber vorrangig mit Vergangenheitsbewäl- und bei der SPD) tigung befasst. Natürlich haben sie auch viel als Begrün- dung für den Untersuchungsausschuss angeführt. Ich will nicht davon sprechen, dass es Sinn macht, ein- seitige Schuldzuweisungen vorzunehmen. Auch uns ist in Die Verwirklichung der Vorschläge der FDP würde uns den letzten vier Jahren einiges nicht gelungen. Jetzt muss dahin bringen – Herr Rexrodt hat auch nicht vermieden, man über die Richtung, die wir einschlagen, reden. Ich es auszusprechen –, jetzt im akuten Fall noch mehr Schul- möchte ganz deutlich sagen: Ich halte einseitige Schuld- den zu machen. Das halte ich für völlig unangebracht. zuweisungen für lächerlich; aber Selbstzufriedenheit der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Opposition ist mindestens genauso lächerlich. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Völlig unangemessen finde ich bei der Ernsthaftigkeit sowie bei Abgeordneten der SPD) der Lage, dass Sie, wenn der Finanzminister von dem Herr Austermann, wie können Sie sich hierhin stellen spricht, was wir in den letzten vier Jahren gemacht haben, und behaupten, Sie hätten uns 1998 Wunderbares hinter- und wenn er auf die Steuersenkungen hinweist, in Hohn- lassen. Die Steuerquote, die Staatsquote, die Lohnneben- gelächter ausbrechen. kosten, das alles war 1998 höher als heute. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der SPD – Zuruf des Abg. Dietrich NEN]: So ist das!) Austermann [CDU/CSU]) Nehmen Sie sich eigentlich selbst ernst, wenn Sie gegen Es ist doch so, dass Sie, Herr Austermann – ich habe uns argumentieren? Wie Sie das tun, können Sie es kei- das mit Interesse nachgelesen – ,noch in der Finanzde- nem glaubhaft machen. batte zum Koalitionsvertrag mit Worten wie Schlamperei davon gesprochen haben, dass 50 Milliarden an Steuer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einnahmen im Rahmen der Unternehmensteuerreform und bei der SPD) verballert worden seien. Es ist ebenfalls regelrecht volksverdummend, wenn Herr (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja!) Merz wider sein Wissen sagt, er könne mit derGesamt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 769

Anja Hajduk (A) verschuldung gegen Rot-Grün argumentieren. Der Auf- 2,8 Milliarden Euro dieser 18 Milliarden Euro werden (C) wuchs der Gesamtverschuldung in der letzten Phase Ihrer durch den Abbau von Steuervergünstigungen eingespart. Regierungszeit lag mit 141 Milliarden Euro immer noch 3,4 Milliarden Euro, also ein relativ geringer Teil, werden weit über dem, was wir angehäuft haben. Das gilt selbst durch das Heraufsetzen der Nettoneuverschuldung – si- dann, wenn man die UMTS-Erlöse weglässt. cherlich kein schöner Vorgang – finanziert. 11 Milliar- den Euro, also der allergrößte Teil, werden durch Ausga- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN benbegrenzungen eingespart. Sie müssen zur Kenntnis und bei der SPD – Dietrich Austermann [CDU/ nehmen – wir werden das auch nach außen hin so vermit- CSU]: 210 Milliarden sind mehr als 140 Mil- teln –, dass das ein sozial sehr ausgewogener Mix ist, der liarden!) uns vor allem im Hinblick auf die Struktur des Haushalts – Das ist nicht wahr. Sie können das genauso mit der Netto- voranbringen wird. Diese Maßgabe setzen wir uns selbst. kreditaufnahme begründen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn Sie also meinen, Sie hätten uns 1998 etwas Gutes und bei der SPD – Albrecht Feibel [CDU/CSU]: übergeben, dann ist dieses Urteil selbstgerecht. Ich will Das glaubt Ihnen aber keiner!) Ihnen sagen: Sie können keinem Menschen in diesem– Das hat nichts mit Glauben zu tun. Es ist vor allem wich- Land – wir, die Politiker der Regierung und der Regie- tig, die Aufgabe ernst zu nehmen. Dieses Sparpaket ist rungskoalition, sind in dieser Hinsicht nicht so wichtig – nicht verzichtbar. glaubhaft machen, dass unsere Haushaltsprobleme erst seit vier Jahren bestehen. Die Menschen wissen, dass es Wenn Sie die Sätze von Herrn Solbes lesen, der sowohl um viel ernstere und grundsätzlichere strukturelle Ände- die Regierung als auch die Opposition ermahnt, nicht rungen geht. nachzulassen bei diesen Sparbemühungen, dann müssen Sie zugeben, dass er Recht hat. Leider ist hier eines von Ich möchte noch auf eine Unehrlichkeit eingehen, die Ihnen angedeutet bzw. angekündigt worden: Das größte mich besonders sorgt: die Unehrlichkeit in der Debatte Risiko für eine vernünftige Haushalts- und Finanzpolitik über steuergesetzliche Änderungen. Heutzutage – das be- ist die CDU/CSU. dauere ich sehr – ruft man in ein und demselben Atemzug nach dem Abbau von Ausnahmetatbeständen,also (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach dem Schließen so genannter Schlupflöcher, und mo- sowie bei Abgeordneten der SPD) kiert sich darüber, dass wir mit diesem Gesetz unverzeih- Ich will das Blockaderisiko auf derLänderseite ein- liche Steuererhöhungen vornähmen. mal in Milliarden betiteln: Das sind 1,5 Milliarden Euro Dazu muss ich Ihnen einmal Folgendes sagen: In Ham- in 2003 und das wächst extrem auf 4,6 und 6,7 Milliar- (B) burg, wo ich herkomme, ist Herr Uldall, ein geschätzter den Euro an, allein für den Bundeshaushalt in den Folge- (D) Kollege von Ihnen, Wirtschaftssenator. jahren. Die Länder, die auch ordentlich ächzen, hätten eine Haushaltsverbesserung von 2 Milliarden Euro im (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Sehr guter nächsten Jahr, wachsend auf 6,9 und 10 Milliarden Euro. Mann! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wessen Scherben musste er eigentlich beseiti- Man kann das alles verteufeln, wie die FDP es machen gen?) will, indem sie sagt: Wir wollen nicht mehr Steuern ein- nehmen. Ich sage Ihnen: Steuern einzutreiben ist aufgrund Er ist immer mit der Forderung nach einem radikalen Ab- einer besseren Effektivität sinnvoll und richtig. Sie müs- bau von Steuervergünstigungen angetreten. Wir müssen sen sich vorstellen, was für Folgen es hat und was es für uns doch fragen, ob wir ein einfaches und transparentes die Weichenstellung des Haushalts 2004 bedeutet, wenn Steuersystem wollen. Wenn auch Sie das wollten, dann Sie das nicht mitmachen. Ich möchte an dieser Stelle nicht müssten Sie den Schneid haben zu sagen: Wir machen vergessen, dass wir ab 2004 und 2005 im Grundsatz eine diesen Abbau von Sondertatbeständen mit. Sie können große Steuerreform machen, bei der es um weitgehende uns treiben, indem Sie fordern, die Tarife noch mehr zu Steuerentlastung über die Tarife geht. Ich wiederhole: senken, als wir es 2004 und 2005 machen werden. Wenn Wir wollen die Vereinfachung und ein Absenken der Ta- wir das täten, hätten wir es aber mit dem Problem eines rife. Eigentlich waren wir uns da einmal einig. Haushaltsdefizits zu tun, das nicht mehr europaverträg- lich ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich komme jetzt abschließend noch kurz zum wichtigs- ten Punkt und blicke in die Zukunft. Es ist so, dass ich ei- Sie reden immer wieder Steuererhöhungen herbei. Das nes in dieser Debatte insbesondere von der Oppositions- führt auch dazu, dass wir eine sehr unwahrhaftige und seite vermisst habe. Ich glaube, das Hauptproblem in wirklich verlogene Steuerdebatte in Deutschland führen. unserem Haushalt liegt nicht auf der steuerlichen Seite. Ich bedauere das. Auch Sie wollten beiSteuervereinfa- Das Hauptproblem ist nicht, dass die Steuerquote zu hoch chungen mitmachen. Wir werden aber auch ohne Sie wäre. Das Hauptproblem besteht vielmehr darin, dass wir dafür sorgen und wir werden den eingeschlagenen Weg in der Vergangenheit nicht die Strukturreformen in den durchstehen. Systemen der sozialen Sicherung vorgenommen haben, Ich möchte etwas zur Struktur des Sparpakets sagen. die nötig sind; sie waren im Übrigen auch schon zu Ihrer Entgegen unserem ersten Regierungsentwurf müssen wir Zeit nötig. Hierüber und zum Thema Rente verlieren Sie im Haushalt 2003 18 Milliarden Euro konsolidieren. in dieser Debatte kein Wort, obwohl Sie – ich bin ja neu 770 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Anja Hajduk (A) in diesem Hause – wissen müssten, dass die Alters- Die ... Verkehrsbetriebe können nur noch durch(C) sicherungskosten mit den Zinsen zusammen fast 60 Pro- Quersubventionierung gehalten werden. Ein Teil der zent ausmachen. Wie können Sie über Verschuldungs- Busfahrer wurde in eine besondere Gesellschaft ab- und Rentenfragen so stetig innerhalb dieser ganzen geschoben, mit nur 80 Prozent des Tarifs. Buslinien Stunde hinweggehen? wurden eingestellt. (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Ist Herr Eichel Na klar, werden Sie sich jetzt vielleicht sagen, der Os- darauf eingegangen?) ten – 40 Jahre Misswirtschaft. Dieser Brief ist allerdings nicht aus dem Osten, sondern von Hermann Dierkes, dem Das zeigt auch, dass Sie zu einer zukunftsweisenden, Vorsitzenden der PDS-Ratsfraktion in Duisburg.Seit ganz soliden Haushaltspolitik, gar Haushaltssanierung, Jahren wird in Duisburg so genanntes Tafelsilber abge- nicht imstande sind. stoßen, werden öffentliche Betriebe privatisiert, um Geld in (Albrecht Feibel [CDU/CSU]: Wie kann man die Stadtkasse zu bekommen. Trotzdem reichen die Mittel auf die Idee kommen, das mit der Ökosteuer zu hinten und vorne nicht aus. Nun gut, könnte man sagen, es kaschieren?) gibt auch strukturschwache Regionen in den alten Bundes- ländern oder, wie gerade von einem Herrn aus den hinteren Liebe Opposition, ich fände es besser, wenn Sie uns mehr Reihen gesagt wurde, „verostete Gebiete“. Doch in Duis- antreiben würden, wenn Sie sich mehr Mühe mit demburg steht, wie Sie wissen, das Hauptwerk von Thyssen Blick nach vorn geben würden. Krupp Stahl und das von den Hüttenwerken Krupp Man- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Ist das nesmann – Deutschlands Stahlstandort Nummer eins also. nötig? – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster Dort entsteht fast die Hälfte der deutschen Stahlproduktion. [SPD]: Für Sie nicht, Herr von Klaeden!) Die Schulen am Stahlstandort Nummer eins befinden Mit Ihrem Blick voll konzentriert zurück in denUnter- sich also in einem miserablen Zustand. Wie geht das zu- suchungsausschuss, mit dieser Nabelschau sind Sie keine sammen? Es geht zusammen, denn Thyssen Krupp Stahl und Krupp Mannesmann zahlen fast keine Gewerbe- Alternative für irgendeine Übernahme von Regierungs- steuer. Ich denke: Da stimmt doch etwas nicht. Die Steu- verantwortung. erausfälle betreffen nicht nur einzelne Kommunen, sie Ich verspreche Ihnen, wir machen die Strukturrefor- wirken sich flächendeckend aus. men auch ohne Sie. Bei uns hat das die Überschrift: weg Acht Bundesländer – das ist vorhin in der Debatte schon vom Schuldenstaat – zur generationengerechten Finanz- gesagt worden – können keinen verfassungskonformen politik. Wir machen es, wie gesagt, auch ohne Sie, aber Haushalt für das Jahr 2003 erarbeiten und jetzt trifft es vielleicht sind Sie in den nächsten Jahren irgendwie ein- auch den Bund. Artikel 115 des Grundgesetzes ist hier (B) mal wieder an Deck. schon ausführlich erörtert worden. Die geplanten Neuver- (D) Vielen Dank. schuldungen sind höher als die öffentlichen Investitionen. Die Medizin, die hierzulande empfohlen wird, sind dra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stische Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben, in der und bei der SPD) Regel bei den Sozialausgaben oder bei den Investitionen oder bei beiden. Diese Politik wird seit vier Jahren betrie- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ben, allerdings mit nur recht wenig Erfolg. Vielleicht muss man sich auch einmal nach anderen Medikamenten Frau Kollegin Hajduk, ich gratuliere Ihnen recht herz- umsehen, meine Damen und Herren von der Koalition. lich zu Ihrer ersten Rede in diesem Hause und wünsche Und vielleicht muss man in einer Situation, in der die Ihnen persönlich und politisch alles Gute für die Zukunft. Bundesländer keinen verfassungskonformen Haushalt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr aufstellen können, auch überprüfen, ob denn diese und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Verfassungsregelung noch der Wirklichkeit entspricht. CDU/CSU) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Hach, was ist denn Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch, das? Da höre ich doch die alte DDR trapsen: fraktionslos. rein in die Schulden!) – Es ist immer so: Wenn man Ihnen einmal eine Anregung zum Nachdenken gibt, Herr Kollege, haben Sie nichts an- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): deres als dieses blöde stereotype „Da höre ich doch die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich höre alte DDR trapsen“. es schon aus den ersten Reihen: Sie sagt jetzt wieder, dass (Dr. Uwe Küster [SPD]: Geld drucken statt sie PDS-Abgeordnete ist. Ich kann diesen Zwischenruf sparsam wirtschaften! Beifall) gleich aufnehmen. Herzlichen Dank. Vielleicht geht es auch mal ein bisschen origineller, ver- In einem Brief schreibt mir ein PDS-Stadtrat über die ehrter Kollege von der SPD. Situation in seiner Stadt: (Dr. Uwe Küster [SPD]: Im Keller die Geld- Schulen und Schwimmbäder befinden sich in einem druckmaschine rattern lassen!) miserablen Zustand. Bäder wurden reihenweise ge- schlossen. Für weite Teile des ... Nordens mit zehn- Meine Damen und Herren, falls Sie noch ein Weih- tausenden Einwohnern gibt es kein Hallenbad mehr. nachtsgeschenk für Herrn Bundesminister Eichel suchen, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 771

Dr. Gesine Lötzsch (A) kann ich Ihnen das Buch „Die Schatten der Globalisie- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) rung“ von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz empfehlen. Nächster Redner ist der Kollege Bartholomäus Kalb, Ich darf mit Erlaubnis der Präsidentin zitieren: CDU/CSU-Fraktion. Seit 60 Jahren vertritt kein seriöser Volkswirt mehr die Meinung, dass eine Volkswirtschaft, die auf eine (CDU/CSU): Rezession zusteuert, einen ausgeglichenen Staats- Bartholomäus Kalb haushalt haben sollte. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Alle Fantasie, auch alle Böswilligkeit und Miss- Stiglitz berichtet in dem Buch „Die Schatten der Globali- gunst, zu denen man vielleicht fähig sein könnte, hätten sierung“ von einer Kontroverse in der Clinton-Regierung nicht ausgereicht, um das vorhersagen zu können, was Sie über die Einführung eines Zusatzartikels in der Verfas- kurz nach der Wahl an Verwirrung, an Verunsicherung sung, der einen ausgeglichenen Haushalt fordert. Diese und an Chaos in Deutschland angerichtet haben. Das Forderung des US-Finanzministeriums wird von Stiglitz Schlimmste aber ist: Sie haben das Vertrauen der Bürger mit folgender Begründung abgelehnt – ich zitiere noch missbraucht, das Vertrauen der Wirtschaft zerstört, einmal mit Erlaubnis der Präsidentin –: (Widerspruch des Abg. Peter Dreßen [SPD]) Mit der Verabschiedung des Verfassungszusatzes hätte sich die Regierung von ihrer zentralen Verant- das Vertrauen der Anleger und Investoren verloren und wortung, der Gewährleistung von Vollbeschäftigung, insbesondere auch das Vertrauen ausländischer Freunde verabschiedet. mit Füßen getreten. Ohne Frage kann man auch von den Amerikanern etwas (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – lernen. Leider ist es hierzulande üblich, sich immer die Zurufe von der SPD: Oh!) falschen Sachen herauszusuchen. Wenn Sie an Amerika Eine der Hauptursachen, wenn nicht die Hauptursache, denken, denken Sie an Billigjobs, an Flexibilität und Mo- für die desolate Situation in Deutschland ist der Verlust bilität. Warum schauen Sie sich nicht einmal diese Facet- von Vertrauen und Glaubwürdigkeit, wie es das gegen- ten der Finanzpolitik der US-Regierung an? über einer Regierung wohl bisher noch nie gegeben hat. (Beifall der Abg. [fraktionslos]) Dieses wird Ihnen jeden Tag in allen Medien immer wie- der bescheinigt. Nun komme ich zum letzten Punkt: dem Stabilitätspakt und der Europäischen Zentralbank. Herr Prodi sagte vor Renommierte Kommentatoren wie Helmut Maier- einigen Wochen, der Stabiliätspakt sei dumm. Er wurde Mannhart werfen Ihnen mittlerweile arglistige Wähler- dafür sehr gescholten. Er hat aber in vielem Recht. Es war täuschung und Bürgerverdummung vor, beklagen aber (B) keine gute Idee, meine Damen und Herren von der CDU, zudem ebenso wie die Sachverständigen die fehlende Per- (D) dass Herr Waigel diesem Stabilitätspakt zugestimmt hat, spektive. Wörtlich schreibt Maier-Mannhart in einem denn er erinnert in der Tat wirklich eher an staatssozialis- Beitrag für die „Passauer Neue Presse“: tische Vorgaben denn an eine flexible Marktwirtschaft. Dass man die Wähler arglistig getäuscht hat, ist aber Wir sehen jetzt, dass dieser Stabilitätspakt uns ein Korsett im Vergleich zu den nunmehr sichtbaren Problemen vorgibt, das uns häufig die Luft zum Atmen nimmt. Eine das kleinere Übel. ... Was die Lage so desolat macht, expansive Finanzpolitik ist mit diesem Pakt in Zeiten der ist die Perspektivlosigkeit, mit der die Regierung Rezession nicht möglich und das heißt Abschied nehmen Schröder in ihre zweite Amtsperiode geht. Für nie- vom Ziel der Vollbeschäftigung. manden ist ein Konzept erkennbar, wie die Struktur- Noch ein Wort zur EZB. Das Dilemma ist klar. Die In- probleme als die eigentlichen Ursachen der Misere flation soll im Zaum gehalten werden. Doch wie funktio- angegangen werden sollen. niert das? Die Inflationsraten liegen in Europa weit aus- (Dr. Elke Leonhard [SPD]: Das hätten Sie vor einander. Bei uns liegt die Rate bei 1,1 Prozent, in zehn Jahren vorlesen müssen!) Griechenland bei 3,9 Prozent, in Irland bei 4,6 Prozent. Es ist klar, dass es fast unmöglich ist, dass 18 Geldpolitiker Was sollen die Menschen von all Ihren Aussagen hal- bei dieser Situation eine gemeinsame Strategie finden, die ten, wenn sie vor der Wahl in nicht vorstellbarer Weise mit wirklich einschneidende Veränderungen bei den Zinssät- der Unwahrheit bedient worden sind? Es ist ja ganz drol- zen bringen wird. lig, wenn jetzt Herr Gabriel aus Niedersachsen, der ver- mutlich Nachfolger von Hans Eichel wird, Meine Damen und Herren, lassen Sie uns in den nächs- ten Wochen der Haushaltsberatungen mehr über die (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja, Grundsätze von Finanzpolitik und weniger über soziale genau!) Kürzungen zur vermeintlichen Sanierung des Haushalts in einem Redeschwall bei Frau Christansen kundtut, alle reden. Denn so wird das nicht funktionieren. Haushalt ist hätten seit dem Frühsommer gewusst oder zumindest wis- kein Selbstzweck. Es muss um soziale Gerechtigkeit ge- sen können, wie die tatsächliche Lage ist. Peinlich ist nur, hen. Dies zu gewährleisten ist meiner Meinung nach die dass der Chefbuchhalter der Republik – zumindest sollte Aufgabe des Staates und der sollten wir uns stellen. er das sein –, Hans Eichel, noch in einem Interview für die Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. „Wirtschaftswoche“ vom 24. Oktober 2002 erklärt hat: (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos] – Dass wir mit 3 Prozent Neuverschuldung in diesem Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Hielt sich in Jahr nicht auskommen, weiß ich auch erst, seit die Grenzen!) Steuereingänge des Monats September vorliegen. 772 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Bartholomäus Kalb (A) So weit Eichel. Sie verstricken sich immer mehr men, in insbesondere bei der Rente, werden nicht allein mit ei- (C) Falschaussagen. ner höheren Steuerfinanzierung zu lösen sein. Es ist meines Erachtens falsch, wenn behauptet wird, die Lohnnebenkos- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. ten wären ohne die Ökosteuer um den Betrag, der in diesem Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Zusammenhang eingenommen wird, höher. Niemand hat Im Übrigen war es eine psychologisch raffinierte Art, bis jetzt untersucht, wie viele Arbeitsplätze durch die Öko- die Herr Eichel an den Tag gelegt hat. Immer wenn ihn steuer vernichtet oder wie sehr zumindest die Schaffung Gesprächspartner mit den härtesten Fakten konfrontiert von neuen Arbeitsplätzen verhindert worden ist. haben, hat er all diese mit der Miene des Biedermannes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei und einem leichten Anflug von Entrüstung mit der Be- Abgeordneten der FDP) hauptung zurückgewiesen: Das ist schlicht falsch. So auch in der Sendung von Frau Christiansen und in dem Niemand führt sich vor Augen, wie eng für einen großen vorhin erwähnten Interview in der „Wirtschaftswoche“. Teil der Bevölkerung, für viele kleine Leute die finanziel- Damit wurde jeder, der die Angaben der Regierung inlen Spielräume geworden sind und wie sehr deswegen die Zweifel zog, mit dem Etikett „unseriös“ versehen und in Nachfrage eingebrochen ist. eine bestimmte moralische Ecke gestellt. Darüber hinaus muss gesehen werden, dass mittler- weile, wenn wir alle gesetzlichen Rentenversicherungs- Wir lassen uns nicht vorwerfen, wir hätten unsererseits systeme zusammennehmen, ein Betrag von rund 80 Milli- nicht rechtzeitig und umfassend auf die Probleme hinge- arden Euro – das ist etwa ein Drittel des Bundeshaushaltes wiesen. Ich verweise auf die Stellungnahmen der und rund 40 Prozent der Rentenleistungen – über den Bun- CDU/CSU-Haushälter – Kollege Austermann hat dasdeshaushalt bereitgestellt wird. Die Beitragsbezogenheit schon vorgetragen –, in denen wir Ihnen schon im Früh- der Rente geht immer mehr verloren. Sie wird damit im- sommer nachgewiesen haben, dass der seinerzeit vorge- mer mehr zur Staatsrente und von der Staatsrente ist der legte Haushaltsentwurf und das zugrunde gelegte Zahlen- Weg zur Einheitsrente nicht weit. Ich befürchte, dass sich werk keiner Nachprüfung standhalten. hier in den nächsten Jahren und Jahrzehnten schleichend (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr wahr!) eine riesige Enteignung der Beitragszahler vollzieht. All diese Hinweise haben Sie mit Empörung zurückge- Ich möchte auf die Frage eingehen, was wir alternativ wiesen. zu Ihrem Durchwursteln tun würden, wenn wir in der Ver- antwortung wären. Wir würden das tun, was wir vor der Als beispielsweise vor der Wahl pro- Wahl angekündigt haben. gnostiziert hat, dass die Rentenbeitragshöhe nicht zu hal- (Beifall bei der CDU/CSU) (B) ten sei, hat ihm Herr Riester, den heute kaum noch jemand (D) kennt, sofort das Wort im Munde herumgedreht und die Wir hätten das Scheinselbstständigengesetz bereits abge- Behauptung aufgestellt, CDU und CSU wollten die Ren- schafft. Wir hätten das 325-Euro-Gesetz nicht um eine tenbeiträge erhöhen. Was ist daraus geworden? weitere verkorkste Variante bereichert, sondern im Be- reich der Geringverdiener eine klare 400-Euro-Regelung (Peter Dreßen [SPD]: Wir haben Ihnen nicht eingeführt. Wir würden das Betriebsverfassungs- und das das Wort verboten!) Mitbestimmungsrecht mittelstandsfreundlich ändern und Aber es geht nicht nur um die Zeit vor der Wahl 2002. vor allen Dingen nicht nur von Vereinfachung sprechen, Wir nehmen für uns in Anspruch, frühzeitig auf die zu- sondern Bürokratie auch abbauen. Wir würden nicht, wie nehmenden Probleme unseres Landes – nicht zuletzt in- es Herr Eichel vor einigen Wochen getan hat, ankündigen, folge von Globalisierung und der Veränderungen im Al- 20 000 Steuervorschriften abzuschaffen, und gleichzeitig tersaufbau – hingewiesen und notwendige Maßnahmen jede Woche hier im Bundestag neue Verkomplizierungen eingeleitet zu haben. Wir haben die 1997 und 1998 be- einbringen und beschließen. schlossenen Reformen in den Bereichen Steuern – diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haben sie im Bundesrat blockiert –, Gesundheit und Rente neten der FDP) nicht aus Lust am Untergang beschlossen, sondern aus der Überzeugung, dass nur mit tief greifenden Reformen und In einem zweiten Schritt würden wir ebenso, wie vor strukturellen Veränderungen die Wettbewerbsfähigkeit der Wahl angekündigt, umfassende Reformen des Steuer- Deutschlands gesichert und die Lasten zwischen den Ge- rechts, des Gesundheitswesens, der Rente, des Arbeits- nerationen gerecht aufgeteilt werden können. Sie dagegen marktes, der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe bis hin zu einer Gemeindefinanzreform gründlich und solide vor- haben so getan, als könnte sich Deutschland dem interna- bereiten und dann nach eingehender Beratung entspre- tionalen Wettbewerb entziehen. Sie haben seinerzeit nicht chend beschließen. zuletzt auch damit die Wahl gewonnen. Hierfür muss jetzt bitter bezahlt werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn jetzt häufig so getan wird, als hätten die Politiker Wir würden mehr auf den Sachverstand innerhalb des insgesamt die Probleme des Landes verniedlicht, lassen wir Bundestages und weniger auf den außerhalb des Bundes- das so nicht durchgehen. Wir haben immer wieder darauf tages zurückgreifen. hingewiesen, dass wir im Hinblick auf die internationale (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wettbewerbsfähigkeit tief greifende Reformen in der Steuer- und Sozialgesetzgebung für dringend notwendig Es ist ein Unding, dass der Bundestag einerseits wesent- halten. Die strukturellen Probleme in unseren Sozialsyste- lich verkleinert und andererseits die Zahl der Entschei- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 773

Bartholomäus Kalb (A) dungsträger durch die Einsetzung von immer mehr Kom- Jörg-Otto Spiller (SPD): (C) missionen willkürlich ausgeweitet wird. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Es kann nicht angehen – das betrifft jeden Parlamenta- Herren! „Der Staat muss sicherstellen, dass jeder einen rier –, dass, unterstützt durch den öffentlichen Druck, von seiner Leistungsfähigkeit entsprechenden Beitrag im den Abgeordneten verlangt wird, sie sollten die Ergebnisse Rahmen einer gerechten und sinnvollen Besteuerung des der jeweiligen Kommissionen 1 : 1 umsetzen. Neuerdings Einkommens aus Arbeit und Vermögen leistet.“ Das ha- spricht der Generalsekretär der SPD sogar von 2 : 1. ben wir in unserem Wahlprogramm verkündet und daran (Dr. [FDP]: Genau!) halten wir uns. – Herr Kollege Gerhardt, ich habe diese Rechnung nicht (Beifall bei der SPD) ganz kapiert. Wir haben in unserem Wahlprogramm auch angekün- (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Ich auch digt, dass wir Subventionen abbauen werden. Wir haben nicht!) immer gesagt, dass wir die Politik der Haushaltskonsoli- dierung und der Entlastung der Bürger mit dem Abbau Natürlich ist es richtig, sich das Wissen von Sachver- von Sonderregelungen und Subventionen kombinieren ständigen und Experten zu erschließen und in die Gesetz- wollen. Darüber bestand nie ein Zweifel. gebung einfließen zu lassen. Ich bin aber sehr wohl der Meinung, dass es auf allen Seiten dieses Hauses durchaus Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass uns das, was eine Vielzahl von Kolleginnen und Kollegen gibt, die über wir jetzt mit dem Gesetzesvorhaben, das heute einge- beachtliches Fachwissen verfügen und bereit sind, sich in bracht wird, tun, Ihren Vorwurf, wir hätten die Wähler komplizierte Sachverhalte einzuarbeiten. Es kann auch getäuscht, einbringen kann. Wir haben nur das umgesetzt, nicht schaden, wenn in die Gesetzgebungsarbeit Erfah- was wir während des Wahlkampfes angekündigt haben. rungen aus der Praxis und der Lebenswirklichkeit und der Die Bürger haben sich damit auch auseinander gesetzt. gesunde Menschenverstand Eingang finden. Sie haben mehrheitlich diesen Weg gewählt. Das darf man nicht beiseite schieben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD) Im Übrigen müssen sich die Experten und Wissen- schaftler nicht vor dem Bürger verantworten. Für all das, Dass es Sie ärgert, dass Sie mit Ihren Sprüchen nicht was im Bundestag beschlossen wird und in die Gesetzge- durchgekommen sind, kann ich zwar verstehen, aber bung Eingang findet, müssen sich vielmehr die Abgeord- trotzdem liegen Sie mit Ihrem Vorwurf, wir hätten ir- neten dieses Parlamentes vor den Bürgern und in der Öf- gendjemanden getäuscht, völlig daneben. (B) fentlichkeit verantworten. Die Entscheidungen desIch erinnere, was Herr Stoiber am 29. August während (D) Gesetzgebers dürfen nicht immer mehr zu der einer Debatte über die Entschädigung der Hochwasserge- außerparlamentarischen Angelegenheit werden. schädigten im Deutschen Bundestag angekündigt hat. Er (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hat gesagt: Warum sollten wir die Entlastung der Bürger um ein Jahr verschieben und die Stufe der Steuerreform, Wir müssen gründlich und solide über Gesetzentwürfe die für 2003 vorgesehen war, auf 2004 verlegen? Das und Vorlagen beraten und dürfen sie nicht einfach durch- könne man doch alles auch durch die Anhebung der peitschen. Vieles von dem, was Ihnen die Medien entge- Verschuldung machen. Er hat dann den sagenhaften Satz genhalten, ist darauf zurückzuführen, dass Sie Ihre Vor- gesprochen: schläge einfach durchpeitschen und keine soliden Grundlagen, keine solide Datenlage haben und nicht wis- Denn höhere Zinsen sind ein kleineres Übel als sen, was die Ausschüsse letztlich beschließen. höhere Steuern. Dass der Herr Finanzminister heute wieder wie bei der Das war das Konzept der Union und ich habe von Ihnen, Aussprache zur Regierungserklärung einfach mit falschen Herr Austermann, damals keinen Widerspruch dagegen Zahlen operiert und beispielsweise sagt, die Grenzsteuer- gehört. belastung des Mittelstandes habe 1998 bei 69 Prozent ge- (Zurufe von der CDU/CSU) legen – ich habe dazu eine schriftliche Anfrage gemacht und Frau Hendricks musste mir bestätigen, dass die Den Weg in die Verschuldung, den Ausweg, neue Grenzsteuerbelastung 1998 nicht bei 69 Prozent, sondern Schulden zu machen, den Sie immer gewählt haben, so- bei 57,99 Prozent gelegen hat; ich habe daraus groß-bald es schwierig wurde, den gehen wir nicht mit. zügigerweise 58 Prozent gemacht –, zeigt, dass es hier (Beifall bei der SPD – Eckart von Klaeden vom Kern weg fehlt; den niederbayerischen Ausdruck, es [CDU/CSU]: Was? Bei diesem Haushalt? – fehlt vom Bein weg, will ich hier nicht gebrauchen. Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Herzlichen Dank. An diesem Konzept – Hans Eichel hat das immer die bei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Leitplanken genannt –, Haushaltskonsolidierung und Entlastung der Bürger, aber auch Durchsetzung des Steu- eranspruchs des Staates sowie – das muss man in einer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: solchen konjunkturellen Situation allerdings tun – vo- Das Wort hat der Kollege Jörg-Otto Spiller, SPD-Frak- rübergehendes Wirkenlassen der automatischen Stabilisa- tion. toren, halten wir fest. Deswegen nehmen wir hin, dass die 774 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Jörg-Otto Spiller (A) Neuverschuldung in diesem Jahr höher sein wird, als ur- steuer gleich null und das Gleiche gilt für das erste Halb- (C) sprünglich geplant. jahr 2002, Da Sie systematisch versuchen, die Bürger zu täu- (Zurufe von der CDU/CSU: Ja!) schen, möchte ich jetzt noch einmal darlegen, wie sich die obwohl die Erträge der Unternehmen insgesamt solide steuerliche Belastung für Normalbürger in Deutsch- waren. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir land selbst unter Einschluss der Sozialabgaben wirklich Gestaltungsmöglichkeiten der Unternehmen einschrän- entwickelt hat. Jeder, der vergleicht, wie es ihm 1998 er- ken, beispielsweise über Organschaften oder über den so gangen ist und wie es ihm heute, 2002, geht, genannten Mantelkauf, bei dem Verluste einer anderen (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Bricht in Gesellschaft eingekauft werden, um eigene Gewinne vor Tränen aus!) dem Finanzamt verschwinden zu lassen. Damit werden wir erreichen, dass Unternehmen, die Gewinne machen, kann daraus seine Schlüsse ziehen. Ich nehme als Beispiel auch Steuern zahlen. einen verheirateten Arbeitnehmer mit zwei Kindern. Dem verblieben von seinem Bruttoeinkommen von 5 000 DM (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Die wenigen, die im Jahre 1998 77,3 Prozent netto. Wenn man das in Euro noch Gewinne machen! – Arnold Vaatz [CDU/ umrechnet, CSU]: Das ist ja was ganz Neues!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Oder in – Dass Sie besonders naiv sind, weiß ich ja, aber Sie soll- Zloty!) ten damit nicht den Betrieb des Deutschen Bundestages aufhalten. um in das heutige Schema zu kommen, dann war es im Jahre 1998 ein Bruttoeinkommen von 2 514 Euro, von Dass sich ein Unternehmen vor dem Finanzamt sozu- dem 1 944 Euro, 77,3 Prozent, verblieben. In diesem Jahr, sagen arm rechnen kann, indem es Verluste aus früheren 2002, hat der gleiche Arbeitnehmer unter Einbeziehung Geschäftsjahren so in den Jahresabschluss des laufenden der durchschnittlichen tariflichen Steigerungen Geschäftsjahres einbringt, dass nie eine Steuerpflicht ent- steht, ist eine Manipulation, die man auf Dauer nicht hin- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ach so!) nehmen kann. Deswegen schlagen wir vor, dass es eine ein Bruttoeinkommen von 2 751 Euro, von dem ihmMindestbesteuerung des Gewinns gibt und der Verlust- 2 248 Euro, 81,7 Prozent, netto verbleiben. vortrag (Beifall bei der SPD) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Abge- schafft wird!) Im Jahre 1998 blieben einem durchschnittlichen Arbeit- (B) nehmerhaushalt mit zwei Kindern also 77,3 Prozent netto gestreckt wird. (D) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Sie haben (Lachen bei der CDU/CSU) die Ökosteuer vergessen!) – Lachen Sie nur. Das Schöne ist nämlich, dass die Fi- und im Jahre 2002 bei uns 81,7 Prozent. nanzminister auch Ihrer Landesregierungen das (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was ist (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Nüchtern mit der Ökosteuer?) sehen!) Das haben die Leute wahrgenommen und Ihnen deswegen sehr interessant finden. kein Vertrauen geschenkt. Wir haben einen zweiten Bereich im Gesetzentwurf: (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: die Mehrwertsteuer. Seit eh und je gilt der Grundsatz: Aber euch haben sie viel geschenkt, ja?) Den ermäßigten Mehrwertsteuersatz gibt es für Nah- rungsmittel, für Verlagserzeugnisse und für den öffentli- Was in dem Gesetzentwurf, der heute zur Debatte steht, chen Personennahverkehr. im Kern angekündigt wird, ist nicht eine Erhöhung von Steuern, (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Und für Tierfutter!) (Lachen bei der CDU/CSU – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Steuerterror ist das! – Bei einigen Dingen fragt man sich: Warum eigentlich? Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Da müssen Herr Eichel hat vorhin gefragt, warum beispielsweise Ba- Sie ja selber lachen!) bywindeln mit dem vollen Mehrwertsteuersatz sondern es ist die Anwendung des Rechts, die Durchset- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Überra- zung des Rechts. schungseier, Weihnachtsbäume!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Steuer- und Schnittblumen mit dem halben Mehrwertsteuersatz terror!) belegt werden. Sie müssten sich einmal erkundigen – ich weiß nicht, ob Sie mit ihm noch reden –, wie Herr Uldall – „Steuerterror“, sagt Herr Austermann. das sieht. Der Grundsatz, dass man Steuern nicht durch alle möglichen Sonderregelungen durchlöchert, schien in (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Jawohl!) diesem Hause eigentlich mehrheitsfähig zu sein. Aber ich Ich sage Ihnen einmal, was er damit meinen muss: Im bemerke, es trifft nicht zu, dass alle Fraktionen dahinter- Jahre 2001 war das Aufkommen der Körperschaft-stehen. Sie sind weiterhin dafür, dass man viele Ausnah- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 775

Jörg-Otto Spiller (A) men und Sonderregelungen einführt, je nachdem, wie es Das ist wesentlich mehr. Wenn wir diese Steuer also um (C) passt. 50 Prozent von 120 Euro auf 180 Euro anheben, ist das immer noch eine wesentlich günstigere Behandlung, als (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hartmut wenn das entsprechende Bruttoentgelt direkt als Arbeits- Schauerte [CDU/CSU]: Wie halten Sie es mit einkommen ausgezahlt würde. Hundefutter, Katzenfutter?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kommen wir zum Bereich der direkten Subventionen. Wir haben immer gesagt, wir werden Subventionen auf Letzter Punkt: Besteuerung von den Prüfstand stellen. Und das muss auch regelmäßig ge- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Über- schehen. raschungseiern!) (Beifall bei der SPD) Kapitalerträgen und Veräußerungsgewinnen.In Subventionen haben normalerweise für eine gewisse Zeit Deutschland besteht seit eh und je eine Steuerpflicht für ihre Berechtigung; aber dann gehören sie auf den Prüf- Kapitalerträge. stand. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Genau!) Ein Beispiel dafür ist die Eigenheimzulage. Natürlich Es besteht auch seit langem eine Steuerpflicht für Ver- ist es vernünftig, auch den Bau von Eigenheimen zu för- äußerungsgewinne, die innerhalb gewisser Fristen erzielt dern. Aber das muss doch nicht heißen, dass man aufwerden. Es besteht bloß ein deutlicher Mangel Dauer, unabhängig von der Wohnungsmarktlage, unab- hängig auch von den öffentlichen Kassen festlegt: Die Ge- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: An Über- samtheit der Bürger verschuldet sich etwas mehr, damit raschungseiern!) sich Häuslebauer nicht so stark verschulden müssen. bei der Durchsetzung des Rechts. Dafür braucht man jeweils eine Begründung. Wir haben uns entschieden, wir konzentrieren Eigenheimförderung In Amerika ist es seit eh und je gang und gäbe, auf Familien mit Kindern. Das ist voll gerechtfertigt. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Da gibt es (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Können Sie noch gar keine Überraschungseier!) etwas zu den Überraschungseiern sagen? – Wei- dass Kapitalerträge steuerpflichtig sind. Auch findet kein terer Zuruf von der CDU/CSU: Halbierung!) US-Bürger etwas Negatives daran, dass dem Finanzamt Es gibt noch einige solche Bereiche im Einkommen- mitgeteilt wird: Dies ist ein erfolgreicher Mensch, er hat steuerrecht. Einer ist von einem Ihrer Redner genanntauch Kapitalerträge. worden: Firmenwagen. Als wäre es etwas besonders Ver- (B) Vorhin hat Herr Solms gesagt, hiermit wäre ein uner- (D) werfliches, sich über die Besteuerung der privaten Nut- träglicher Aufwand verbunden. Merkwürdigerweise geht zung von Firmenwagen zu unterhalten! Es geht um die dies in Amerika schon seit langem hervorragend. Ich habe Besteuerung nur der privaten Nutzung eines Firmenwa- auch noch nie gehört, dass die Kapitalmärkte in den USA gens. besonders schwach wären (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das sind doch (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Die haben Überraschungseier!) Vertrauen in die Regierung!) Ich mache die derzeitige Regelung an einem Beispiel deutlich. Ein Arbeitnehmer hat von seiner Firma und dass es dort überhaupt nicht funktioniert, dass bei- spielsweise Kapital nicht einer produktiven Verwendung (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ein Über- zugeführt wird. Es funktioniert dort. raschungsei bekommen! – Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Eine Dose Schappi geschenkt be- Den Einwand, der dann kommt, nämlich sie hätten an- kommen!) geblich – bei näherer Betrachtung ist dies so deutlich nicht – eine niedrigere Gesamtsteuerbelastung, kann man einen komfortablen Mittelklassewagen im Wert vonauch umdrehen: Professor Kirchhof argumentiert völlig 30 000 Euro zur Verfügung gestellt bekommen, den er un- zu Recht, unsere Steuern seien in Deutschland auch des- entgeltlich auch privat nutzen darf. Heute hat er monatlich wegen höher als in Amerika, weil Kapitalerträge nicht 1 Prozent davon – das sind 300 Euro – als geldwerten Vor- oder zumindest nicht zuverlässig erfasst würden. teil zu versteuern. Bei einem Grenzsteuersatz von 40 Pro- zent – unterstellen wir einmal, es ist jemand, der ein bes- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was lehrt seres Einkommen hat – heißt das, dass er 120 Euro im uns das jetzt?) Monat für einen komfortablen Mittelklassewagen zahlt, Viele Bürger nehmen schon heute die Erträgnisaufstel- der ihm voll zur Verfügung steht. lung ihrer Bank als Serviceleistung in Anspruch, wenn sie Jetzt vergleichen Sie dies einmal mit dem, was jemand ihre Steuererklärung machen. Die Masse der Bürger ist aus einem versteuerten Einkommen für ein gleichwerti- steuerehrlich und gibt dies auch beim Finanzamt an, ohne ges Auto für private Zwecke aufwenden muss. dass sich irgendjemand kontrolliert fühlt, wenn die Bank eine Erträgnisaufstellung macht. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das ist noch Es gibt aber eben auch Bürger, die nicht steuerehrlich teurer! – Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Er sind. Vor die stellen Sie sich, Herr Austermann hat ja auch noch ein bisschen dienstlich zu fah- ren!) (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ja!) 776 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Jörg-Otto Spiller (A) und Herr Solms. Auf die Spitze getrieben hat dies Herr Herr Gerhardt hat sich damit als Vertreter des Krawall-(C) Gerhardt. Herr Gerhardt, der Fraktionsvorsitzende der liberalismus – neuerdings mit drei „l“ geschrieben – be- FDP, hat sich nicht geschämt, in einer Diskussion zu er- kannt. Auch außerhalb der FDP, NRW, finde ich, ist der klären, er unterstütze den Vorschlag, Finanzbeamte mit Niedergang des deutschen Liberalismus ein Problem. Das Telefonterror zu belästigen, um damit die Finanzverwal- wäre in einer bürgerlichen Partei früher nicht möglich ge- tung lahm zu legen. Herr Gerhardt sagte weiter: Zitat wesen. Die Lahmlegung eines Finanzamtes ist der schönste (Beifall bei der SPD) zivile Protest, den ich mir vorstellen kann. Letzte Bemerkung. Sie haben sich hier heute, finde ich, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie relativ zahm verhalten. Der Wirbel, den Sie in der Öffent- Fischer 1975!) lichkeit veranstaltet haben, war umso übler. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Was?) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Eines kann ich Ihnen sagen – das ist in Ihrer ganzen Re- Herr Kollege Spiller, gestatten Sie eine Zwischenfrage aktion deutlich geworden –: Sie sind weit weg von dem, des Kollegen Solms? was die Bundesländer,auch die von Ihnen geführten, letzten Endes tun werden. Jörg-Otto Spiller (SPD): (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Da ist der Wunsch der Vater des Gedankens!) Weil es Herr Solms ist, gestatte ich dies gern. Ich bin sicher, dass die Finanzminister der Länder, die alle ihre Probleme haben, die alle darauf achten, dass das Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Steuerrecht nicht verwässert wird, Ihnen eine Abfuhr er- Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie so entgegenkom- teilen werden. Ich bin auf eine sachliche Diskussion im mend sind. Vermittlungsausschuss gespannt. Würden Sie dann auch zur Kenntnis nehmen, dass un- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ser Vorschlag, nämlich die Zinsen im Quellensteuerab- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zugsverfahren zu versteuern, ein die Steuerehrlichkeit verbessernder Vorschlag ist? Dies bedeutet, dass die Zin- Vizepräsident Dr. : sen erst nach der Versteuerung ausgeschüttet werden, die Steuern direkt von der Bank ans Finanzamt abgeführt Nächster Redner in der Aussprache ist der Kollege Dr. Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion. (B) werden. Sie können dann auf jegliches Kontrollmittei- (D) lungsverfahren verzichten, haben also keinen bürokrati- schen Aufwand, gleichwohl aber die Steuern zu 100 Pro- Dr. Michael Meister (CDU/CSU): zent abgeführt. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren! Was Sie als Koalition unter der Überschrift „Steuer- Jörg-Otto Spiller (SPD): vergünstigungsabbaugesetz“ vorgelegt haben, bedeutet Wir haben derzeit ein System, das sich „Zinsabschlag“ eine massive Steuererhöhung für Bürger und Unterneh- nennt. Das funktioniert. Das ist das, was Sie beschrieben men. haben. Das ist keine Abgeltungssteuer. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) neten der FDP) Das Problem dabei ist nur, dass das, was Sie beispiels- Herr Kollege Spiller, Sie haben gesagt, das sei ein Spar- weise aus Ihrer erfolgreichen Berufstätigkeit zu versteu- paket. Ich sage Ihnen: Das ist kein Sparpaket. Es handelt ern haben, mit einem deutlich höheren Satz belastet wird sich um Steuererhöhungen. als die Erträge beispielsweise aus festverzinslichen Pa- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) pieren oder auch Dividenden. Wenn Sie sich einmal dieBriefe von Unternehmen, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Aus Über- Bürgern und Arbeitnehmern anschauen, die ja nicht nur raschungseiern!) wir bekommen, sondern die auch Sie bekommen, dann Ich weiß, dass es das auch in anderen Ländern gibt, aber stellen Sie fest, dass darin die tiefe Verzweiflung und die dass das ein unproblematischer Weg ist, kann ich nicht be- Verunsicherung der Menschen in unserem Land aufgrund stätigen. Ihrer Politik zum Ausdruck kommt. Ich darf Ihnen einmal vorlesen, was ein Bürger dieses Landes, nämlich Herr Mich freut wenigstens, Gerhard Peters, Konzernbetriebsrat bei Hochtief, mir ge- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Dass er schrieben hat – vielleicht hören Sie ja ein bisschen auf die- jenigen aus der Gewerkschaftsecke –: zugehört hat! Es fällt schwer!) Eine Steuerpolitik, die in der Rezession derartig kri- dass Sie sich nicht hinter Ihren Fraktionsvorsitzenden senverschärfend wirkt, wird weitere Arbeitsplätze ... Gerhardt und seinen abenteuerlichen Vorschlag stellen. vernichten. ... Das Engagement der Arbeitnehmer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vertreter und die partnerschaftliche Haltung der Un- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ternehmensleitungen werden nun bestraft. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 777

Dr. Michael Meister (A) Das ist die Auffassung, die ein Konzernbetriebsrat über cherlich noch Anhörungen stattfinden –, dass die Mei-(C) Ihre Steuerpolitik zum Ausdruck bringt. Das ist kein Ge- nungen der Sachverständigen aufgegriffen werden und schrei und das sind keine populistischen Äußerungen,dass das, was von der Regierungsseite vorgegeben ist, sondern das ist die Meinung von Arbeitnehmervertretern nicht einfach mit dem Abstimmungshammer durchge- und Arbeitnehmern, die Sie angeblich vertreten wollen. bracht wird. Hören Sie doch auf diese Leute! Herr Kollege Spiller, Sie haben gesagt, es gehe um (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mehr soziale Gerechtigkeit. Sehen wir uns dazu einmal die Wertzuwachssteuer bei Wertpapieren an. Der Bör- Bauwirtschaft, Kfz-Bau, Immobilienwirtschaft, Wer- senspekulant, der Tageshändler, der Daytrader, bekommt bemittelhersteller, Floristen, landwirtschaftlicher Han- durch diesen Gesetzentwurf eine Steuerentlastung von del – gegen alle führt die Bundesregierung mit diesem 200 Prozent. Für den, der heute an der Börse kauft und Steuergesetz einen Schlag. Der gesamte Mittelstand wird morgen verkauft und dabei Gewinn macht, wird die Be- durch dieses Steuergesetz erneut höher belastet. steuerung um 200 Prozent gesenkt. Für denjenigen, der (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Arbeitsplatz- als Anleger an die Börse geht und langfristig in Aktien, vernichtungsprogramm!) Wertpapieren oder Investmentfonds anlegt, um Alterssi- cherung zu betreiben, erhöhen Sie die Besteuerung mas- Als rote Linie in diesem Gesetz haben Sie allein fis- siv, nämlich von null auf 15 Prozent. Können Sie mir er- kalpolitische Zielsetzungen. Schauen Sie sich bitte einmal klären, warum ein Börsenspekulant von Ihnen entlastet an, wie unausgereift Ihr eigener Gesetzentwurf, den Sie, und für ihn ein neues Steuerschlupfloch geöffnet wird und Herr Spiller, gerade vertreten haben, ist. Ich nenne einmal warum derjenige, der etwas für die Alterssicherung tut, das Stichwort „Investmentfonds“.In dem Entwurf ist gleichzeitig von Ihnen massiv belastet wird? Was hat das eine Doppelbesteuerung vorgesehen. Gleichzeitig erklärt mit sozialer Gerechtigkeit, was hat das mit Ihrem Wahl- das Bundesfinanzministerium: Wir werden diese Doppel- programm zu tun? besteuerung nicht machen. – Das heißt, zu dem Zeitpunkt, zu dem hier die erste Lesung stattfindet, erklärt das Mi- (Beifall bei der CDU/CSU) nisterium bereits, dass das geändert werden wird. Vor die- Sie wollen die völlige Abschaffung des Bankgeheim- sem Hintergrund müssen Sie sich einmal fragen: Welches Vertrauen sollen Anleger in Deutschland haben, welches nisses nach § 30 a der Abgabenordnung. Ich bin der Mei- Vertrauen sollen Menschen am Markt überhaupt noch ha- nung, dass es durchaus richtig ist, zu einer gleichmäßigen ben, wenn ihnen das Finanzministerium schon bei der Besteuerung auch bei Kapitalerträgen zu kommen. Wir Vorlage des Gesetzentwurfs erklärt, dass das so nichtkönnen es nicht zulassen, dass ein Teil der Menschen in kommen wird? Wie soll man an diesem Finanzplatz über- unserem Land bei der Steuer ehrlich ist und dass andere (B) haupt noch investieren? keine Steuern zahlen. Aber die Gerichte sagen uns eben (D) nicht, dass es dafür notwendig ist, das Bankgeheimnis ab- Meine Damen und Herren, Sie haben eine massive Ver- zuschaffen; man kann dieses Ziel, wie das eben andisku- unsicherung der Öffentlichkeit betrieben tiert wurde, mit einer Abgeltungsteuer erreichen und da- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Un- bei das Bankgeheimnis in unserem Land bewahren. sinn!) Deshalb bin ich der Meinung: Hören Sie endlich damit auf, mehr Bürokratie, mehr Schnüffelei und mehr Regu- und Sie betreiben sie weiterhin. Das kostet Arbeitsplätze lierung einzuführen. Herr Eichel hat heute Morgen gesagt, und das kostet Wachstum in diesem Land. er wolle in diesem Staat entbürokratisieren. Tun Sie das, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: was er gesagt hat. An dieser Stelle können wir entbüro- Quatsch!) kratisieren, indem wir zu einer Abgeltungsteuer überge- hen und nicht zur Aufhebung des Bankgeheimnisses und In Ihrem Katalog ist zum Beispiel die Abschaffung des all diesen Kontrollmitteilungen. Lifo-Verfahrens vorgesehen. Das ist viel zu kompliziert, als dass es die Menschen im Lande verstehen. Wenn Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das Lifo-Verfahren tatsächlich abschaffen, bedeutet das, Jetzt ein paar Worte zu dem Thema Finanztableau. Sie dass die Lagerhaltung nicht mehr in Lagerhäusern, son- haben an das Finanztableau eine ganze Menge Erwartun- dern auf der Landstraße oder außerhalb Deutschlandsgen; denn es ist das eigentliche Ziel Ihres Gesetzes, die stattfindet. Die rot-grüne Regierung ist doch aber gerade Einnahmen zu verbessern. Ich behaupte, Sie kalkulieren angetreten, die Lagerhaltung von den Straßen in die La- die Ausweichreaktionen, die die Menschen unternehmen gerhäuser zu bekommen und nicht noch mehr Lagerhal- werden, wenn dieser Entwurf Gesetz wird, nicht ein. Die tung auf die Straßen zu bringen. Wenn Sie das, was Sie Menschen werden sich nicht weiterhin so verhalten wie verkünden, nämlich die Zahl der Transporte auf der Straße bisher, sondern werden andere Verhaltensweisen an den zu verringern, tatsächlich ernst meinen, dann müssen Sie Tag legen. Dann werden die Einnahmen, Herr Finanzmi- den Punkt, der die Lifo-Verfahren betrifft, dringend aus nister, die Sie in das Finanztableau geschrieben haben, Ihrem Gesetzentwurf streichen. nicht in der Höhe hereinkommen. (Beifall bei der CDU/CSU) Das will ich am Beispiel derDienstwagenbesteue- Angesichts der Beispiele, die ich eben genannt habe, rung deutlich machen. Die Pauschale – das ist schon er- hoffe ich, dass es in Ihren Fraktionen noch den einen oder wähnt worden – wird von 1 Prozent auf 1,5 Prozent pro anderen Fachkundigen gibt, der in den Anhörungen zu Monat steigen. Was werden die Menschen tun? – Sie wer- diesem Gesetzentwurf zuhören wird – es werden dazu si- den zum Teil mehr Fahrtenbücher führen – das bedeutet 778 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Dr. Michael Meister (A) mehr Bürokratie bei den betroffenen Menschen und mehr basis im Gegensatz zu dem, was der Finanzminister vor- (C) Bürokratie bei der Finanzverwaltung – oder werden auf getragen hat, nicht stärken, sondern schwächen. Deshalb kleinere Dienstwagen umsteigen. In beiden Fällen wird fehlt Ihrem Gesetz vor dem Hintergrund von Basel II eine Ihnen nicht mehr Geld zukommen. Sie werden in beiden Mittelstandskomponente. Darüber muss man nachdenken Fällen keine Mehreinnahmen haben. Im Gegenteil: Sie und eine Lösung suchen, damit die öffentlichen Haushalte schwächen die Konjunktur und gefährden Wachstum und ohne negative Folgen für Wirtschaft und insbesondere für Arbeitsplätze. Das ist das Ergebnis Ihrer Finanzpolitik, den Mittelstand konsolidiert werden. ohne dass Sie im Haushalt zu einer Konsolidierung kom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- men. neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Spiller, wenn Sie im Gegensatz zu dem, was Sie Erlauben Sie mir einen weiteren Hinweis. Diese Bun- hier vorgelegt haben, tatsächlich eine Steuerpolitik für desregierung hat eine Kommission zur Gemeindefinanz- Wachstum und Beschäftigung formulieren würden, dann reform eingesetzt. Wir alle warten mit Spannung auf die fänden Sie uns als Partner an Ihrer Seite. Dann könnten Ergebnisse dieser Kommission. Dabei wird unter ande- wir darüber reden, wie wir diese Politik gemeinsam reali- rem die Gewerbeertragsteuer angesprochen werden. Man sieren. Wir sind für eine echte Steuerreform und für Steuer- wird überlegen müssen, wie das in Zukunft zu realisieren vereinfachungen. Aber das Entscheidende ist, dass die ist. Jetzt liegt uns das Steuervergünstigungsabbaugesetz Verbindung zwischen Verbreiterung der Bemessungs- vor, in dem die gewerbesteuerliche Organschaft abge- grundlage und Senkung des Tarifverlaufs erhalten bleibt schafft wird. Was hat das mit einem konsistenten Entwurf und nicht aufgelöst wird. Was Sie machen, ist: Sie ver- von Steuerpolitik zu tun, wenn man eine Kommission ein- breitern ständig die Bemessungsgrundlage – dieser Fall setzt und dann wenige Wochen, bevor das Ergebnis vor- liegt hier wieder vor, das bedeutet Steuererhöhungen – gelegt wird, ein Gesetz macht, das Pflöcke einschlägt und und die Absenkung des Tarifverlaufs wird immer weiter in die Zukunft verschoben. Festlegungen trifft? Ich bin der Meinung, dass man, wenn man Kommissionen ernst nimmt, in einem Gesetz nicht Wie meine Vorredner heute Morgen habe ich das Ge- schon Festlegungen treffen kann. Warten wir das Ergeb- fühl, dass das Jahr 2004 für die nächste Stufe der Steuer- nis der Kommission ab und entscheiden wir dann aufreform zwar im Gesetz steht, dass aber das Vertrauen, dass Grundlage des Berichts dieser Kommission. diese Steuersenkung tatsächlich 2004 zum Tragen kommt, nicht vorhanden ist. Deshalb, Herr Poß, werden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir uns bei den Fragen von Wachstum und Beschäftigung Es geht hier auch um das Thema Steuerausfall bei der sowie bei der Generierung eines ordnungspolitisch ver- nünftigen Steuersystems in diesem Land sehr wohl kon- (B) Körperschaftsteuer; der Bundesfinanzminister und Herr (D) Spiller haben das bereits erwähnt. Bund, Länder wie auch struktiv beteiligen. Aber wir lassen uns nicht als Mehr- Kommunen haben das Problem, dass aufgrund der Unter- heitsbeschaffer für Steuererhöhungen missbrauchen, wie nehmensteuerreform 2000 massive Steuerausfälle bei der Sie sie gegenwärtig vorhaben. Körperschaftsteuer zu verzeichnen waren, bis hin zu dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Phänomen, dass in diesem Jahr, wie übrigens auch im neten der FDP) letzten, Körperschaftsteuer ausgezahlt wird. Das ist die Folge Ihrer Unternehmensteuerreform 2000. Wir können Der Bemerkung Ihres Fraktionsvorsitzenden, Herrn sie für die Jahre 2001 und 2002 leider nicht mehr korri- Müntefering, vom Wochenende, dass der Finanzierung des Staates Priorität vor den Bedürfnissen der Menschen gieren. Diese Schäden in den Haushalten haben Sie ver- eingeräumt werden soll, möchte ich entgegenhalten: Für ursacht. Diese sind nicht mehr korrigierbar. uns steht der Mensch im Mittelpunkt unserer Politikbe- Natürlich ist es richtig: Wir sprechen über die Zukunft trachtung. Wir machen Politik für die Menschen in diesem unseres Landes. Für die Zukunft müssen wir hier Korrek- Land. turen vornehmen. Aber, lieber Herr Spiller, ich glaube, es (Joachim Poß [SPD]: Wir auch!) ist vollkommen falsch, wenn Sie jetzt eine Mindestbe- steuerung einführen und die Verlustvorträge für die Zu- – Nein, Sie machen Politik für den Staat, Herr Poß. Das ha- kunft beschränken wollen. Wir müssen an dieser Stelle ben Sie auch geschrieben. Sie sollen aber Politik für die eine Lösung suchen, um das Problem mit dem Körper- Menschen in diesem Land machen. Dabei geht es nicht um schaftsteueraufkommen in den Griff zu bekommen. Bitte Parteienstreit, sondern um den Blickwinkel auf Politik. machen Sie hier aber keine neuen Regulierungen wie bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der Mindeststeuer. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bauen Sie Der Bundesfinanzminister hat zu Recht auf die kleinen doch keinen Popanz auf!) und mittelständischen Unternehmen hingewiesen. Eine Rot-Grün misstraut den Menschen in diesem Land. Sie Mindeststeuer und eine Beschränkung des Verlustvortrags misstrauen der Eigenverantwortlichkeit. Bei einer Staats- würde nicht nur die Kapitalgesellschaften treffen, sondern quote von nahezu 50 Prozent wollen Sie die Staatsquote auch den Mittelstand und die Familienunternehmen. weiter erhöhen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) (Joachim Poß [SPD]: Das wollen wir nicht!) Das bedeutet, dass wir den kleinen und mittelständischen Sie misstrauen den Menschen auch bei der Zukunfts- Unternehmen Liquidität entziehen und die Eigenkapital- vorsorge für das Alter. Ich mache Ihnen das am Beispiel Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 779

Dr. Michael Meister (A) der Eigenheimzulage deutlich. Wir haben Sie in den letz- de, soll künftig Vermögensteuer gezahlt werden. Mit Ih- (C) ten zwölf Monaten vor der Wahl mehrfach gefragt: Haben rer Vermögensteuer besteuern Sie aber nicht die Reichen Sie vor, die Eigenheimzulage abzubauen? Die Antwort in diesem Land, sondern die Witwer und Witwen! aus der Bundesregierung und aus den Koalitionsfraktio- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen war: Wir werden die Eigenheimzulage nicht abbauen. neten der FDP) Das ist in von Ihnen veröffentlichten Pressemitteilungen nachlesbar. Jetzt aber haben Sie die Eigenheimzulage ab- Den sozialen Kahlschlag, den Sie damit betreiben, wer- gebaut. Was soll man dazu sagen? Was hat das mit Ehr- den Sie mit uns nicht machen können. lichkeit zu tun? Ich kann hier nicht allzu viel an Wahrheit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- erkennen. neten der FDP) Ferner: Stellen Sie sich eine Familie mit zwei Kindern vor. Sie haben geschrieben, Sie wollten mehr für die Fa- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: milien tun. Gleichzeitig nehmen Sie mit dieser Entschei- dung einer Familie mit zwei Kindern rund 12 000 Euro Das Wort hat nun der Kollege Lothar Binding, SPD- weg. Was hat das mit Familienförderung zu tun? Fraktion. Sie fordern eine Gleichbehandlung von Alt- und Neu- bau. Natürlich kann man über die Frage der Behandlung Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): von Alt- und Neubauten diskutieren. Aber ich bitte darum, Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Ich sich daran zu erinnern, dass es in der letzten Wahlperiode habe heute alle Debattenredner gehört und möchte des- Ihre Koalition war, die den Vorkostenabzug beim Altbau halb eingangs etwas zur Form der Urteilsbildung und zu abgeschafft und damit zur Ungleichbehandlung von Alt- den Ankündigungen der Opposition sagen, dass man hier und Neubau beigetragen hat. und da – Herr Meister hat eben einige Vorschläge ange- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und deutet – recht gut zusammenarbeiten könnte, wenn die der FDP) Regierung nur wollte. Jetzt beklagen Sie diese Ungleichbehandlung und wollen (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja!) durch die Kürzung beim Neubau wieder Gleichbehand- Ich glaube aber, dass die Form der Urteilsbildung und der lung herstellen. Ihr Ziel ist nicht Gleichbehandlung. Ihr Stil unseres Umgangs miteinander definiert, ob so etwas Ziel ist die Einschränkung der Förderung des selbst ge- möglich ist. nutzten Wohneigentums, weil Sie die Menschen nicht in selbst genutztem Wohneigentum haben wollen. Ich nenne ein Beispiel: Wenn jemand sagt, da habe sich (B) jemand geirrt, meine ich, dass das in Ordnung ist. Auch(D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dass sich jemand getäuscht habe, darf man sagen. Auch Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Genau das dass jemand nicht alle Hoffnungen und Befürchtungen ist der Punkt!) formuliert hat, darf gesagt werden. Darf man aber, weil je- Wenden wir uns einmal dem ThemaSubventionsab- mand einen vielleicht klugen, vielleicht auch weniger klu- bau zu, Herr Spiller. Sie geben an, dass Sie Subventionen gen Vorschlag gemacht hat, wie Frau Merkel sagen, er abbauen wollen. Legen Sie doch einmal Ihren Entwurf ei- habe perverse Auffassungen? Das wurde nicht von ir- nes Steuervergünstigungsabbaugesetzes neben den Sub- gendjemandem am Stammtisch nach dem fünften Bier ge- ventionsbericht der Bundesregierung und vergleichensagt, sondern es ist heute im „Tagesspiegel“ zu lesen. Dort Sie, welche Positionen, die Sie abbauen wollen, tatsäch- war auch etwas von Wahnvorstellungen zu lesen. Darf lich in dem Bericht auftauchen. Haben Sie einen falschen man das sagen und damit eine Basis zerstören, auf der Sie Bericht veröffentlicht, weil die Positionen, zum Beispiel eben noch ein Gesprächsangebot gemacht haben? bei der Umsatzsteuer, nicht aufgeführt waren? Haben Sie (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Ja, wenn es einen falschen Bericht erstellt und das Parlament und die doch stimmt, Herr Binding!) Öffentlichkeit falsch informiert? Oder reden Sie über Subventionen, die nach Ihrer Meinung keine Subventio- – Sehen Sie, Sie verstärken genau diese Ebene der Aus- nen sind, weil Sie sie im Subventionsbericht nicht aufge- einandersetzung noch. Exakt das ist das Übel. führt haben? Sie müssen sich für eine Variante entschei- (Beifall bei der SPD) den. Man kann nicht über Subventionen reden, die man selbst nicht als Subventionen bezeichnet hat. Jemand hat von einem „Amoklauf“ gesprochen oder – was ich noch schlimmer fand – von einem Aufruf zum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Widerstand. Das klingt zwar modern, aber das Lahmlegen Herr Präsident, gestatten Sie mir abschließend noch von Finanzämtern bedeutet etwas anderes. Das ist die im- eine Bemerkung zum Stichwort „Vermögensteuer“. In plizierte Legalisierung und Belohnung im Urteil derjeni- gen, die gar keine Steuern mehr zahlen. Das hat auch eine diesem Zusammenhang wird angeführt: Die Reichen sol- Gerechtigkeitskomponente: Wenn niemand mehr Steuern len endlich Steuern zahlen. – Nehmen wir als Beispiel zahlt, haben tatsächlich alle das Gleiche gezahlt. Das eine Familie mit zwei Kindern, die sich ein Häuschen baut stimmt. Damit verhält es sich ähnlich wie mit der FDP- und ein paar Mark für das Alter spart. Irgendwann ziehen Idee, wenn jeder an sich selber denke, sei auch an jeden die Kinder aus und ein Ehepartner verstirbt. Dann bleibt gedacht. Damit muss man aber sehr vorsichtig sein. ein Freibetrag von 300 000 Euro, der durch das Haus auf- gebraucht wird. Für das, was für das Alter angespart wur- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 780 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Lothar Binding (Heidelberg) (A) Es gibt aber auch eine Aufgabe der Opposition. Diese (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Aufgabe besteht auf der einen Seite darin, Kritik an unse- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ren Konzepten zu formulieren, auf der anderen Seite ist Wir haben aber auch ein Definitionsproblem. Das be- aber auch der kritische Vergleich der eigenen Konzepte mit ginnt aus meiner Sicht beim Begriff des Mittelstandes. denen der Regierung anzustreben. Das funktioniert aber Wenn die Kollegen von der CDU/CSU das Wort „Mittel- nur dann, wenn man ein eigenes Konzept vorlegt. Wenn stand“ benutzen, dann klingt das immer so, als ob sie den man die eine Hälfte vollständig vergisst, dann hat manHandwerker um die Ecke oder den Unternehmer, der viel- seine Rolle als Opposition nicht seriös wahrgenommen. leicht fünf oder zehn Angestellte hat, meinten. Die volks- (Beifall bei der SPD) wirtschaftliche Definition geht aber davon aus, dass all diejenigen Unternehmen zum Mittelstand gehören, die ei- Ich meine sogar, dass es noch schlimmer ist. Das Fehlen nen Umsatz von bis zu 50 Millionen Euro und bis zu eines eigenen Konzepts, kombiniert mit den eben erwähn- 500 Mitarbeiter haben. Das ist die erste Definition. Die ten Zitaten „perverse Auffassungen“, „Wahnvorstellungen“ zweite geht von den Personengesellschaften aus. Je nach- und „Amoklauf“ – vorhin sprach sogar jemand, es war wohl dem, in welchem Kontext Sie über den Mittelstand disku- Herr Austermann, in einem Zwischenruf von „Steuerterror“, tieren, benutzen Sie wahlweise einmal den einen und ein- (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Jawohl!) mal den anderen Begriff. Das kann man leicht erkennen. Sie behaupten, wir hätten nicht dem Mittelstand, sondern und das angesichts dessen, wie das Wort „Terror“ gerade nur den Aktiengesellschaften und den GmbHs geholfen. zurzeit belegt ist –, zeigt, dass die Opposition Urteile fällt, Sie vergessen dabei natürlich, die mittelständischen die sie früher oder später in ihrer Aufgabe der Wahrung GmbHs zu erwähnen; denn deren Steuerbelastung haben der Demokratie selber einholen. wir auf 25 Prozent – das ist der Körperschaftsteuersatz – gesenkt. Das ist eine wunderbare Sache. Deshalb haben (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wie ist wir auch diesem Teil des Mittelstandes geholfen. das mit der Kakophonie?) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das ist eine große Gefahr. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD – Dr. Peter Ramsauer Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass wir der anderen [CDU/CSU]: Sie haben ehemalige Steinewerfer Mittelstandskomponente, den Personengesellschaften, in Ihrer Regierung! Was sagen Sie zu Ihren nicht geholfen hätten. Den Personengesellschaften haben Steinewerfern? – Gegenruf des Abg. Wilhelm wir in der Tat nicht durch Steuersenkungen helfen kön- Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Herr Ramsauer mit nen; denn diese zahlen überhaupt keine Steuern. Der Ge- seinen Zwischenrufen!) winn einer Personengesellschaft – das ist vielleicht nicht (B) Es gibt aber auch Wahrnehmungsunterschiede. Ich so bekannt – wird nicht besteuert, sondern – wie durch ein (D) zitiere noch einmal Herrn Austermann. Er hat behauptet, Wunder – dem Einkommen des Anteilseigners zugerech- 1998 sei die Arbeitslosigkeit gesunken – wenn ich mich net und als Einkommen versteuert. Die Einkommensteuer richtig erinnere, lag die Zahl der Arbeitslosen damals trotz haben wir definitiv gesenkt. Deshalb haben wir auch den ABM bei 4,8 Millionen – und das Wachstum habe bei kleinen und mittleren Betrieben des Mittelstandes, die in 3 Prozent gelegen. der Rechtsform der Personengesellschaft organisiert sind, in erheblichem Maße geholfen. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Wahrneh- mungsprobleme!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) – Es geht nicht um Wahrnehmungsprobleme, sondern um die Statistik. – Wenn ich mich nicht täusche, dann sind Es ist also wichtig, die unterschiedlichen Definitionen 3 Prozent mehr als 2 Prozent. Das Wachstum lag damals von „Mittelstand“ auseinander zu halten; denn nur dann kann man den Wahrheitsgehalt einer Aussage überprüfen. bei 2 Prozent. Sie behaupten aber, dass es 3 Prozent ge- wesen seien. Wenn ich Ihr Urteil reflexiv auf Sie an- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr wende, dürfte ich dann das Wort „Lüge“ benutzen? Denn gut!) Sie haben ja gerade in der jetzigen Debatte behauptet, das Wir haben mit Sicherheit aber auch ein Problem mit dem Wachstum habe 1998 bei 3 Prozent gelegen. Es waren Begriff der Subvention. Ein Kollege sagte vorhin, wenn er aber, wie gesagt, nur 2 Prozent. Das war wahrscheinlich für Subventionsabbau plädiere, dann habe er 120 Prozent nur ein „Wahrnehmungsunterschied“. Zustimmung. Wenn aber jemand einen konkreten Vorschlag Sie haben des Weiteren sinngemäß gesagt, die Sozial- zum Subventionsabbau macht, dann wird sich derjenige kassen seien damals übervoll gewesen. Wenn ich mich – das wird niemanden hier verwundern – gegen den Abbau richtig erinnere, dann hatten wir damals Probleme mit der der Subvention wehren, der von der Subvention bisher pro- Rentenversicherung, der Krankenversicherung, der Ar- fitiert hat. Deshalb bekommen wir entsprechende Briefe. beitslosigkeit und der Staatsverschuldung. Ich finde es auch in Ordnung, dass sich diejenigen beschwe- ren, denen man die Subvention streicht. Diese vergessen (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Schauen aber, dass jede Subvention, die ein Einzelner, eine Gruppe Sie sich die Statistik von 1999 an! Die Statistik oder eine Branche erhält, von allen Steuerzahlern finanziert ist geändert worden!) werden muss. Natürlich vermissen wir die Dankesbriefe der Das sind vier „kleinere“ Probleme, die wir zwar nochSteuerzahler, wenn wir Subventionen streichen. nicht gelöst haben. Aber wir haben uns auf den Weg ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ macht, sie zu lösen. DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 781

Lothar Binding (Heidelberg) (A) Auch die Senkung der Einkommensteuer und der Körper- Die versteuerten Unternehmensgewinne seien im Nach- (C) schaftsteuer muss von allen Steuerzahlern finanziert wer- hinein entlastet worden in der Annahme, dass die EK 45 den, also auch von denjenigen, die jetzt auf Subventionen und die EK 40 auf 25 Prozent heruntergezogen würden. verzichten müssen. Das entspricht aber nicht der Wahrheit. Die Wahrheit ist: EK 45 und EK 40 gingen nur auf 30 Prozent zurück. Des- Herr Meister, unser Ansatz ist, die Bemessungsgrund- halb hat Herr Merz an dieser Stelle – ich möchte es vor- lage zu verbreitern, die steuerlichen Ausnahmen – Jörg- nehm sagen – nicht die Wahrheit erreicht. Otto Spiller hat ja alle aufgezählt – zu beseitigen und die Steuersätze zu senken. Wenn Sie sich richtig erinnern, (Joachim Poß [SPD]: Der wusste das nicht dann müssen Sie zugeben, dass wir das auch erreicht ha- besser! Er hat nämlich keine Ahnung!) ben; denn 25,9 Prozent Einkommensteuersatz sind mehr als 15 Prozent. Momentan sind es 19 Prozent, ungerade. – Das ist natürlich möglich. Wenn einer etwas nicht weiß, Auch nach Ihrer Rechnung dürften 40 Prozent mehr sein werfe ich es ihm nicht vor. Deshalb habe ich gesagt: „Die als 25 Prozent. Sie sehen also, dass die Steuersätze gesenkt Wahrheit nicht erreicht.“ Dann bin ich auf der sicheren wurden und dass die Bemessungsgrundlage verbreitert Seite. wurde. Das entspricht Ihrem Kompromissvorschlag. Er (Beifall bei der SPD) steht aber schon im Gesetz. Das gilt auch für 2004 und 2005. Insofern ist das, was Sie vorschlagen, leider kein Dabei hat er vergessen, dass wir die Verlustvorträge, die neues Konzept. Das hätten wir gerne gehabt. damals entstanden sind, in der letzten Legislaturperiode ver- kraften mussten. Für die Zuschauer im Saal sage ich: Erst (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wir haben damit aufgehört, dass nicht wie früher die Kör- DIE GRÜNEN) perschaftsteuer dem Staat nur geborgt wurde. Wenn eine Man muss aber zugeben: Spurenelemente eines eige- Aktiengesellschaft eine Körperschaftsteuer in den Steuer- nen Konzepts hat heute Herr Merz vorgetragen. Er hat zu topf von Waigel gegeben hat, dann hat er diese ausgegeben Herrn Eichel hinübergesehen und gesagt: Ich mache Ih- und ein paar Schulden gemacht. Hans Eichel musste die nen den Vorschlag ... – das korrigierte er gleich –, ich ma- Körperschaftsteuer einige Jahre später an die Anteilseigner che Ihnen das Angebot, noch vor Jahresende über daswieder auszahlen. Es war also eine geliehene Steuer. Das ist Scheinselbstständigengesetz zu sprechen. Anschließend heute nicht mehr so. Das ist eine ganz wichtige Sache. kamen noch vier Aspekte und er fasste zusammen: Ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mache Ihnen den Vorschlag, darüber zu reden, eine intel- DIE GRÜNEN) ligente Lösung bei der Flexibilisierung zu finden. Als ob für unsere Probleme das einzig mögliche Konzept sei, da- Ich komme nun auf ein schönes, aber falsches Bild zu rüber zu reden, die Flexibilisierung zu verbessern. sprechen. „Beton statt Bildung“war ein wunderbares (B) Motto. Artikel 104 a des Grundgesetzes bezieht sich auf (D) (Zuruf von der CDU/CSU: Aber ein investive Mittel. Das bedeutet eben nicht nur Beton – das wichtiges!) ist auch ein Wahrnehmungsunterschied –, sondern das Als konkretes Beispiel nannte er den Kündigungsschutz. sind die Mittel für Bibliotheken und deren Einrichtungen, Was bedeutet es jedoch im Ergebnis, Ihren Begriff „Kün- sodass man sich vielleicht, wenn man den Begriff „Beton“ digungsschutz“ mit Flexibilisierung zu kombinieren? – weit genug fasst, vorstellen muss, dass künftige Bücher Das bedeutet Abschaffung des Kündigungsschutzes.von Merz aus Beton sind. Dann soll man das auch so benennen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem (Beifall bei der SPD – Dietrich Austermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [CDU/CSU]: Witzbold!) Es wurde auch gesagt, die Steuerbelastung habe den Im Rückblick und wenn man über Konsequenzen nach- Höchststand erreicht. Ich möchte darauf hinweisen, dass denkt, die man heute alsSpätfolgen einer Politik, die vor die Steuerquote nach dem Urteil des Sachverständigenra- unserer Zeit liegt, zu ziehen hat, möchte ich auf Folgendes tes so niedrig ist wie seit elf Jahren nicht mehr und die Ab- hinweisen: In den 80er- und 90er-Jahren gab es Flexibilisie- gabenquote – ich nenne aus der Tabelle ein unverdächtiges rung und keine Ökosteuer. Wir hatten weltwirtschaftliches Datum – 1987 bei 38,8 Prozent lag. Heute liegt sie bei Wachstum. Die Inflationsrate war erträglich. Wir hatten mit 38,5 Prozent. Nach meiner Einschätzung ist 38,8 Prozent den Fördergebietsgesetzen ein Wahnsinnsprogramm. Die mehr als 38,5 Prozent. Gewinnsteuern konnten ohne Ende weggestaltet werden. (Beifall bei der SPD) Was ist in all dieser wunderschönen Landschaft passiert? – Die Arbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung sind ge- Ein weiteres unverdächtiges Datum ist das Jahr 1995. stiegen. Das aufzuräumen ist heute unsere Aufgabe. Ich meine, ausgehend von dieser schwierigen Basis haben wir Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: schon einiges geleistet. Herr Kollege, bevor Sie sich ganz in die Tabellen ver- (Beifall bei der SPD) tiefen, möchte ich Sie an Ihre Redezeit erinnern, die be- Jetzt komme ich auf einzelne Punkte zu sprechen, die, reits überschritten ist. wenn man Ihr Vokabular benutzen würde, vielleicht sozu- sagen zum Grenzfall der Lüge hin definiert werden könn- Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): ten. Aber ich sage einmal: Das waren Irrtümer und viel- leicht mangelnder Sachverstand. Der Kollege Merz sagte Dann sage ich nur noch die eine Zahl, aber nur um he- heute, es habe ein Körperschaftsteuergeschenk gegeben. rauszufinden, ob ich richtig, also näher bei der Wahrheit, 782 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Lothar Binding (Heidelberg) (A) liege. 1995 lag die Abgabenquote bei 41,2 Prozent. Das ist c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) meines Wissens auch mehr als 38,5 Prozent. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 26. Juli 2001 zwischen der Bundes- Mit Blick auf diese beiden Korrekturen der Aus- republik Deutschland und der Tschechischen führungen von Herrn Merz, die man durchaus bei den Republik über den Bau einer Grenzbrücke an Mittelstandsdarlehen hätte fortsetzen können, möchte ich der gemeinsamen Staatsgrenze in Anbindung an schließen und Sie, Herr Meister, bitten: Machen Sie Ernst die Bundesstraße B 20 und die Staatsstraße I/26 mit Ihrem Angebot einer neuen Sprache, einer neuen Mo- ral, einer neuen ethischen Grundlage in der Finanzpolitik. – Drucksache 15/12 – Dann kommen wir gut zusammen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Finanzausschuss DIE GRÜNEN) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- lung des internationalen Insolvenzrechts Weitere Wortmeldungen zu diesen Tagesordnungspunk- ten liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache. – Drucksache 15/16 – Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Rechtsausschuss (f) den Drucksachen 15/119, 15/122 und 15/123 an die in der Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist anscheinend Ausschuss für Tourismus nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos- sen. ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- fahren Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d sowie den (Ergänzung zu TOP 7) Zusatzpunkt 3 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung 7. a) Beratung des Antrags der Bundesregierung Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- scher Streitkräfte an dem Einsatz einer Inter- Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte nationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in an dem NATO-geführten Einsatz auf mazedoni- Afghanistan auf Grundlage der Resolutionen (B) schem Territorium zur weiteren Stabilisierung 1386 (2001) vom 20. Dezember 2001, 1413 (2002) (D) des Friedensprozesses und zum Schutz von Be- vom 23. Mai 2002 und 1444 (2002) vom 27. No- obachtern internationaler Organisationen im vember 2002 des Sicherheitsrates der Vereinten Rahmen der weiteren Implementierung des Nationen politischen Rahmenabkommens vom 13. August – Drucksache 15/128 – 2001 auf der Grundlage des Ersuchens des ma- Überweisungsvorschlag: zedonischen Präsidenten Trajkovski vom 21. No- Auswärtiger Ausschuss (f) vember 2002 und der Resolution 1371 (2001) Rechtsausschuss des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom Verteidigungsausschuss 26. September 2001 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und – Drucksache 15/127 – Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Rechtsausschuss Verfahren ohne Debatte. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union überweisen. Gibt es dazu Einvernehmen? – Das ist offen- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO sichtlich der Fall. Dann sind diese Überweisungen be- schlossen. b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 a auf: kommen vom 18. Februar 2002 zwischen der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Regierung der Bundesrepublik Deutschland ausschusses (2. Ausschuss) und der Regierung der Republik Polen über die Sammelübersicht 1 zu Petitionen Zusammenarbeit der Polizeibehörden und der Grenzschutzbehörden in den Grenzgebieten – Drucksache 15/57 – – Drucksache 15/11 – Wer für die Sammelübersicht auf Drucksache 15/57 Überweisungsvorschlag: stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt Innenausschuss (f) dagegen? – Enthaltungen? – Dann ist die Sammelüber- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sicht 1 einstimmig angenommen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 783

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert (A) Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8 b: das Umweltministerium ist in diesen schwierigen Zeiten (C) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- gehalten gewesen, Einsparungen zu erbringen. Sie kön- ausschusses (2. Ausschuss) nen dem heutigen Haushaltsentwurf entnehmen, dass das Umweltministerium dies in vorbildlicher Art und Weise Sammelübersicht 2 zu Petitionen leistet. Zwar ist die Masse der Umweltausgaben der Bun- – Drucksache 15/58 – desregierung nicht im Haushalt des Bundesumweltminis- Wer stimmt der Sammelübersicht 2 zu Petitionen auf teriums ausgewiesen, sondern diese Ausgaben verteilen Drucksache 15/58 zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- sich auf verschiedene Einzelpläne – der größte Batzen tungen? – Auch dies ist einstimmig so beschlossen. entfällt wohl immer noch auf den Einzelplan des Kolle- gen Clement –, aber das Umweltministerium hat, obwohl Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 c auf: auf diesen Einzelplan nur 0,2 Prozent des Gesamthaus- haltes entfallen, immerhin 1,56 Prozent der globalen Min- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- derausgabe erwirtschaftet. Nun könnte man sagen, wir ausschusses (2. Ausschuss) seien bei solchen Maßnahmen sehr bereitwillig. Schauen Sammelübersicht 3 zu Petitionen wir also, was dabei herausgekommen ist. – Drucksache 15/59 – Obwohl wir konsequent Konsolidierung betrieben ha- Wer stimmt der Sammelübersicht 3 zu Petitionen auf ben, haben wir seit 1998 zum Beispiel die Ausgaben für Drucksache 15/59 zu? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – die Förderung von Umwelt- und Naturschutzverbän- Sie ist einstimmig angenommen. den, das heißt auch für das bürgerschaftliche Engage- ment, um immerhin 71 Prozent steigern können. Obwohl Wir kommen dann zu Tagesordnungspunkt 8 d: wir uns in einer Situation der Konsolidierung befunden Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- haben, haben wir so viel neue große Naturschutzprojekte ausschusses (2. Ausschuss) wie nie zuvor begonnen. Obwohl Einsparungen angesagt sind, geben wir auch im nächsten Jahr gerade zum Erhalt Sammelübersicht 4 zu Petitionen gesamtstaatlich repräsentativer Naturflächen in der Bun- – Drucksache 15/61 – desrepublik Deutschland 18 Millionen Euro aus. Wir Wer stimmt für die Sammelübersicht 4 auf Drucksa- kümmern uns also um das nationale Naturerbe. Ich sage che 15/61? – Möchte jemand gegen diese Übersicht stim- das in dieser Haushaltsdebatte vorweg, weil es in den ak- men? – Enthaltungen? – Sie ist einstimmig angenommen. tuellen Schwerpunktdebatten über Umweltpolitik viel- fach vergessen wird. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 e auf: Ich komme auf unsere Schwerpunkte in der nächsten (B) (D) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Zeit zu sprechen. ausschusses (2. Ausschuss) Erster Schwerpunkt. Wir wollen die fünf Punkte des Pa- Sammelübersicht 5 zu Petitionen kets mit Maßnahmen zum vorbeugenden Hochwasser- – Drucksache 15/62 – schutz umsetzen. Dazu ist es notwendig, dass das Geld, das das Umweltministerium zum Beispiel für die Wieder- Wer stimmt für die Sammelübersicht 5 auf Drucksa- herstellung von Auwäldern im Biosphärenreservat Mitt- che 15/62? – Gibt es Gegenstimmen? – Wer enthält sich? – lere Elbe zur Verfügung hat, ebenso wie das Geld gesichert Dann ist diese Sammelübersicht 5 mit den Stimmen der wird, das wir benötigen, um in der Prignitz am „Bösen Ort“ Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion sowie mit Deiche zurückzuverlegen und natürliche Überschwem- einzelnen Stimmen aus der CDU/CSU-Fraktion gegen den überwiegenden Teil der CDU/CSU-Fraktion be-mungsflächen wiederherzustellen. Wir wollen dafür sor- schlossen. gen, dass der Magdeburger Domfelsen nicht abgefräst wird. Wir werden dafür sorgen, dass das Stauwerk in Dö- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Die ersten mitz nicht gebaut wird. Die dafür vorgesehenen Mittel waren ein Irrtum!) sollten – ich wünsche mir das – für die Herausnahme der – Wenn das so ist, korrigieren wir das sofort im Protokoll. Unteren Havel aus dem Netz der Bundeswasserstraßen Ich muss aber die Abstimmungsergebnisse so festhalten, noch vor 2006 verwendet werden, wie wir es uns ge- wie sie hier kundgetan wurden. meinsam vorgenommen haben. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sie müssen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doch Ihre eigene Fraktion kennen!) und bei der SPD) Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundesminis- Zweiter Schwerpunkt. Wir müssen den Prozess von teriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Kioto fortsetzen. Das gilt auch und gerade für die zweite heit auf. Zur Eröffnung der Aussprache erteile ich Bun- Verpflichtungsperiode, also für die Zeit bis zum Jahre desminister Jürgen Trittin das Wort. 2012, das uns jetzt fern zu sein scheint. Wir haben – auch als Signal an jene Länder, die bis heute noch keine Re- duktionsverpflichtung eingegangen sind; ich rede hier Bundesminister für Umwelt, Natur- Jürgen Trittin, nicht nur von Industrieländern – ein ambitioniertes Ziel schutz und Reaktorsicherheit: für Europa festgelegt. Die Bundesrepublik Deutschland Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Umwelt- will bis zum Jahre 2020 eine Reduktion um 40 Prozent er- politik hat natürlich ebenfalls etwas mit Zahlen zu tun. Auch reichen, wenn Europa das Ziel einer Reduktion um 784 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Bundesminister Jürgen Trittin (A) 30 Prozent erreicht. Eine Reduktion in Deutschland um Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen: Um- (C) 40 Prozent bedeutet für die Europäische Union bereits weltschutz und Arbeitsplätze spielen auch in einem ande- eine Reduktion um 10 Prozent. ren Bereich eine Rolle. Es geht auch darum, ob in Deutschland mittelständische Brauereien, mittelständi- Ich will an dieser Stelle eines in aller Deutlichkeit sagen: sche Abfüller und Getränkefachhändler weiterhin eine Es gibt viel Streit über die Frage, welches die richtigen In- strumente beim Klimaschutz – ich nenne zum Beispiel den Zukunft haben oder ob sie von den Großen mittels Einweg Emissionshandel – sind. Gerade mit Blick auf Europa verdrängt werden. möchte ich festhalten: Europa hat bis 1999 168,8 Mil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lionen Tonnen CO2-Äquivalente eingespart. Das entspricht und bei der SPD) 4 Prozent, also der Hälfte der Gesamtverpflichtung. Die Bundesrepublik Deutschland allein hat dabei 224,2 Mil- Dass heute, fünf Jahre nachdem die Mehrwegquote erst- mals unterschritten worden ist und acht Monate nachdem lionen Tonnen CO2-Äquivalente eingespart, mehr als die EU insgesamt bis 1999. wir der Industrie der Einwegseite zusätzliche Zeit zur Umsetzung der Pfandpflicht eingeräumt hatten, gesagt (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig wird: „Wir sind aber nicht bereit“, haben diejenigen zu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) verantworten, die mit einer blanken Spekulation auf einen Bei allem Streit über Instrumente will ich betonen: Die anderen Wahlausgang das Notwendige bei der Umset- Bundesrepublik Deutschland wäre zur Erreichung ihrer zung geltenden Rechtes versäumt haben. Kioto-Verpflichtung nicht auf ein Instrument wie dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Emissionshandel angewiesen. Aber eines sage ich auch und bei der SPD) und insbesondere in Richtung unserer Wirtschaft: Gerade weil wir Vorreiter gewesen sind und gerade weil dieEs geht bei der Umsetzung Pflichtpfandes des in frühen Reduktionen anerkannt werden, wird die deutsche Deutschland auch darum, den 250 000 Beschäftigten in Volkswirtschaft vom Emissionshandel profitieren. Wo, den kleinen Brauereien, bei den mittelständischen Abfül- außer in der Bundesrepublik Deutschland, soll man Emis- lern und im Getränkefachhandel endlich Sicherheit in Be- sionsrechte kaufen? Hier ist eingespart worden. zug auf ihre Zukunft zu geben. In diesem Sinne freue ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mich auf eine Debatte über den Umwelthaushalt. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dritter Schwerpunkt: Energiepolitik. Wir wollen den und bei der SPD) Ausstieg aus der Atomenergie selbstverständlich fortset- zen. Wir werden es nicht mit ansehen, dass jetzt in Europa Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (B) über die Europäische Kommission versucht wird, durch (D) das Bereitstellen zusätzlicher Mittel den Neubau von Erster Redner in der Aussprache ist der Kollege Atomkraftwerken und über Nachrüstungen die Verlänge- Dr. Paziorek, CDU/CSU-Fraktion. rung der Laufzeit vorhandener Atomkraftwerke herbeizu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) führen, nach dem Motto: Schafft ein, zwei, drei, viele Te- melins! Das kann nicht unsere Politik sein. Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wer sich die Entwicklung des Umwelthaushalts in den letzten Jah- Wir wollen die Politik des Ausbaus dererneuerbaren ren vor Augen hält und wer die Planungen für das Haus- Energien und der Stärkung der Energieeffizienz fortsetzen. haltsjahr 2003 mit den Einzelplänen anderer Ressorts der Wenn es ein Beispiel gibt, wo die Politik der Schaffung Bundesregierung vergleicht, der muss leider erkennen, neuer Arbeitsplätze mit der ökologischen Modernisierung wie gering die Bedeutung des Umweltressorts in dieser zusammengeht, dann ist es die Politik der erneuerbaren rot-grünen Koalition geworden ist. Umweltpolitik wird zu Energien. Wir haben im Bereich der erneuerbaren Ener- einem bloßen Feigenblatt rot-grüner Politik degradiert. gien in den letzten Jahren ungefähr 70 000 neue Arbeits- plätze entstehen lassen. Diesen Kurs wollen wir fortset- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zen. Wir werden in den nächsten Jahren Anlagen mit Dieser Bedeutungsverlust verwundert nicht; denn der 500 Megawatt Leistung offshore installieren. Das geht rot-grünen Mehrheit ist nach dem Abarbeiten des so ge- nur, wenn wir mit der Ausweisung von Schutzgebieten nannten Atomausstiegsgesetzes im umweltpolitischen wie von Vorranggebieten zügig vorankommen. Bereich die Thematik ausgegangen. Der Haushaltsplan Wir wollen den Anteil erneuerbarer Energien bei der für den Umweltbereich ist geprägt durch viele dunkle Wärmenutzung durch die Verdopplung der Sonnenkol- Löcher. Entweder fehlen Ihnen die Zielvorstellungen oder lektorfläche steigern. Für all dies – jetzt komme ich zum es fehlen Ihnen die für eine gute Umweltpolitik nötigen Haushalt des BMU zurück – werden Sie künftig mit ei- Finanzmittel. Dieser Entwurf bringt die Umweltpolitik in nem größeren Anteil des Umwelthaushaltes am Gesamt- Deutschland nicht nach vorne. Dieser Entwurf ist letztlich haushalt rechnen müssen, weil die Kompetenzen im Be- nichts anderes als ein Rückschritt für die Umweltpolitik reich erneuerbarer Energien dies erfordern. hier in Deutschland. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf und bei der SPD) vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Träumer!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 785

Dr. Peter Paziorek (A) So soll zum Beispiel im nächsten Jahr der Haushalt des damit praktisch nichts bewirkt werden kann. Sie haben(C) BMU – der Minister ist ja verkürzt und knapp darauf ein- letztlich auch gar keinen finanziellen Spielraum für eine gegangen, hat aber nicht die Gesamtzahlen genannt – um verantwortungsbewusste Umweltpolitik. Deshalb kann 16,3 Millionen Euro – das sind exakt 3 Prozent – gekürzt man sagen: Sie haben kein inhaltliches Konzept, um die werden. Natürlich werden Sie, Herr Minister, dann darauf Umweltpolitik voranzubringen, Sie haben auch nicht die verweisen, dass ein Großteil dieser Kürzung durch Ein- erforderlichen finanziellen Mittel vorgesehen, um da, wo sparungen bei den Erkundungen im so genannten Endla- es wichtig ist, die Umweltpolitik zu erneuern, und wo Sie gerbereich zustande kommen soll. Aber an dieser Stelle etwas tun, ist es, wie zum Beispiel bei der Windkraft, zu muss doch schon gleich die Kritik ansetzen. Sie gehen zu ineffektiv und zu teuer. Das ist der große Vorwurf, den zögerlich an die Frage heran, wo in Deutschland ein End- man Ihnen machen muss. lager errichtet werden soll. (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: DIE GRÜNEN]: Und das auch gerade noch von Warendorf!) Ihnen!) – Herr Müller, Ihr Wahlkreis Düsseldorf wäre vielleicht Es wird ja noch interessanter: Sie beschließen hier im genauso gut geeignet. Bundestag ein Atomausstiegsgesetz und in Nordrhein- Westfalen erteilt Ihr Parteifreund, der zuständige Minister (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Nein, da Michael Vesper, nach öffentlicher Ausschreibung für die ist der Rhein!) weitere Stromversorgung landeseigener Liegenschaften Sie haben selbst erklärt, dass Sie mit dem Standortbe- einem Stromanbieter den Zuschlag, der auch Strom eines stimmungsverfahren erst – man muss sich das einmal französischen Atomstromproduzenten anbietet. Das vor Augen führen – im Jahre 2006 beginnen wollen, also muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: nach der nächsten Bundestagswahl. Was haben Sie sich in Rot-Grün beschließt auf Bundesebene ein Ausstiegsgesetz dieser Frage eigentlich für die nächsten vier Jahre dieser und in Nordrhein-Westfalen – das ist ein spezielles Thema Legislaturperiode vorgenommen? Es ist doch offenkun- auch für Sie, Herr Kubatschka – wird durch Rot-Grün im dig: Sie wollen die Entscheidung über diese Standortfrage Zuge eine Lieferung von rund 1 Milliarde Kilowattstun- höchstwahrscheinlich so lange politisch vor sich her-den Atomstrom aus dem Ausland eingekauft, um jährlich schieben, bis Sie mit all den Problemen klargekommen 3,7 Millionen Euro einzusparen. sind, die Sie in dieser Frage mit Ihrer Basis haben. (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Wenn man das für richtig hält, dann ist man verant- Diese Doppelzüngigkeit muss man sich wirklich einmal wortungslos. Deshalb sagen wir ganz deutlich: Hören Sie vor Augen führen. Hier werden große Erfolge verkauft (B) auf, in der Frage des Endlagers alles zeitlich hinauszu- und vor Ort wird eine Politik betrieben, bei der man sagt: (D) schieben! Seien Sie verantwortungsbewusst und fangen Aus finanziellen Gründen müssen wir jetzt die Vorteile Sie so schnell wie möglich mit dem Prozess an! Auchdes Atomstroms in Kauf nehmen. Meine Damen und Her- wenn man es für richtig hält, dass die Frage der Standort- ren, das ist keine verantwortungsbewusste Umweltpolitik, entscheidung gesellschaftlich breit diskutiert wird, ist kein das ist Taktieren, nur um die eigene Basis zufrieden zu Grund zu erkennen, diesen Entscheidungsprozess erststellen. So wird man in der Umweltpolitik auf Dauer nicht nach 2004 zu beginnen. Deshalb packen Sie es sofort an, erfolgreich sein können. weichen Sie nicht aus und sehen Sie dafür auch die not- wendigen Haushaltsmittel vor! (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Der Minister hat gerade auch angesprochen, dass der ganze Bereich der erneuerbaren Energien zukünftig in sei- Dann sagen Sie: Ich will weitere 8 Millionen Euro ein- nen Aufgabenbereich fallen wird. Die Bereiche For- sparen. Dazu werden – so steht es im Haushaltsplanent- schung und Entwicklung erneuerbarer Energieträger und wurf – die Entscheidungen im Rahmen der Haushalts-das Markteinführungsprogramm werden im BMU ange- führung im Laufe dieses Haushaltsjahres getroffen werden. siedelt sein. So schön, so gut. Nun aber stellt sich die zen- Aber wo Sie die 8 Millionen konkret einsparen wollen, sa- trale Frage: Wer bringt nach dem Wechsel der Zuständig- gen Sie in diesem Haushaltsplan nicht. Warum tun Sie das keiten nun das Geld für neue Verwaltungsstrukturen und nicht? Ist diese Frage für das Parlament nicht interessant? für die Fördermittel auf? Dazu steht in einer Fußnote im Wollen Sie angesichts der jetzt schon knappen Haushalts- Haushaltsplanentwurf, dass die finanziellen Mittel für mittel im Umwelthaushalt eine Diskussion über eine wei- diese neuen Aufgaben aus der Besteuerung der erneuer- tere Einsparung von 8 Millionen eventuell gar nicht hier baren Energien stammen werden. Was soll denn dieser im Parlament führen? Nach welchen Prinzipien wollen Blödsinn? Erst besteuert man die erneuerbaren Energien, Sie kürzen? Das sind doch Fragen, die die umweltpoli- die aus umweltpolitischen Gründen gar nicht besteuert tisch interessierte Öffentlichkeit stellt. Aber dafür gibt der werden dürfen, und dann gibt man das dadurch verein- Entwurf dieses Haushaltsplanes keine Handhabe und das nahmte Geld für neue und weitere erneuerbare Energien ist aus unserer Sicht letztlich nicht zu verantworten. aus. Für alles, was in Grundsatzreden von Rot und Grün (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Perpetuum großspurig als Modernisierung der Gesellschaft durch mobile!) Umweltpolitik angekündigt wird, findet sich hier im De- tail gar nichts. Wenn Sie einige Haushaltsstellen vorse- Diejenigen, die sich gut und richtig verhalten, werden mit hen, dann ist die finanzielle Ausweisung so gering, dass einer Ökosteuer belegt, bekommen das Geld aber gar 786 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Dr. Peter Paziorek (A) nicht zurück, wie es nach dem Grundsatz der Anreizför- Herr Umweltminister, Sie haben gerade in Ihrer Rede (C) derung eigentlich geschehen müsste; vielmehr wird das einige Schwerpunkte angesprochen, zum Beispiel den Kli- Geld einfach an andere weitergegeben. Mit einer ökologi- maschutz. Da wird sich während der Haushaltsberatungen schen Sinnhaftigkeit hat diese Vorgehensweise überhaupt die Frage stellen, ob beispielsweise die im Haushaltsplan nichts mehr zu tun. vorgesehenen Mittel im Bereich der Gebäudesanierung zur Bekämpfung des CO2-Ausstoßes ausreichend sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Da werden wir die kritische Frage stellen, ob für die Maß- Vielleicht unterstützen Sie das, weil dadurch Ihr schmaler nahmen zum Klimaschutz, die Sie so herausstellen, aus- Bundeshaushalt zumindest an dieser Stelle um einige Mil- reichende Finanzmittel vorgesehen sind. lionen Euro aufgewertet wird. Aber dieses ökologisch be- Sie haben die interessante Frage bezüglich der Instru- denkliche Geschäft bringt Sie als Umweltminister finanz- mente gestellt, die sich neben der Frage der Finanzier- politisch auch nicht weiter. barkeit ergibt. In diesem Zusammenhang haben Sie den Sie haben im Bundeshaushalt, so sagt der schriftliche Emissionshandel angesprochen. Interessant ist aber, dass Begleittext, 4,4 Milliarden Euro für Umweltschutzaus- Sie sich, Herr Minister, an keiner Stelle inhaltlich zu dem geäußert haben, was Herr Clement vorgeschlagen hat. Wir gaben veranschlagt. Mit 533 Millionen Euro – das sind möchten gerne wissen: Stehen Sie zu dem Pool-Modell 12,1 Prozent – ist der Bundesumweltminister bei der Fi- von Wirtschaftsminister Clement oder haben Sie dazu nanzierung dieser Umweltaufgaben dabei. Es stellt sich eine andere Meinung? Gibt es eine einheitliche Meinung jetzt die spannende Frage: Wieso sind die finanziellen von Herrn Clement und Herrn Trittin oder gibt es sie Mittel für das BMU so gering veranschlagt? Wenn man nicht? Sie sind der Frage gerade ausgewichen. In den Zei- sich diese geringen finanziellen Mittel einmal vor Augen tungen kann man aber lesen, dass das Modell von Herrn führt, kommt man zu dem Ergebnis, dass Sie, Herr Bun- Clement bei der Europäischen Kommission nicht auf Un- desumweltminister, ein König ohne Reich sind. terstützung stößt. Der Umweltminister hat sich zu dem ak- Da hilft auch Ihr Hinweis nicht, Umweltschutz sei eine tuellen Streit hier nicht geäußert. Er hat nicht gesagt, ob Querschnittsaufgabe. er sich auf die Seite von Clement schlägt oder nicht. (Elke Ferner [SPD]: Ja, was denn sonst? – Herr Minister, ich muss Ihnen sagen, es reicht nicht Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aus, ein Thema nur anzureißen. Sie müssen hier im Parla- NEN]: Er ist der Umweltminister mit den größ- ment sagen, ob Sie für einen bestimmten Weg im Emis- ten Kompetenzen, die es in Deutschland für ei- sionshandel sind oder nicht. Diese Antwort haben Sie nicht gegeben. Das ist typisch für Ihr Taktieren: Sie reißen nen Umweltminister je gegeben hat!) Probleme nur an, führen sie aber nicht zur Lösung. Das Natürlich ist Umweltschutz eine Querschnittsaufgabe. wird die Umweltpolitik auf Dauer beschädigen. (B) (D) Aber es stellt sich doch die Frage, Frau Hustedt: Warum (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei wird der Minister aus dem Teil der Umweltpolitik, der das Abgeordneten der FDP) operative Geschäft beinhaltet, herausgehalten? Es stellt sich auch die Frage, warum die rot-grüne Koalition den Herr Minister, Sie haben den vorbeugenden Hochwas- Umweltpolitikern nicht genügend Spielraum gibt, obwohl serschutz angesprochen. Das liegt in Ihrer Kompetenz. die Umweltpolitik angeblich doch so wichtig ist? Sie haben darauf hingewiesen, dass man imAuen- und im Flussbereich etwas unternehmen kann. Sie haben auf Man kann deshalb sagen: Der Umweltminister ist auf- die Mittel für den Naturschutz verwiesen. Jetzt wird es grund seines Haushaltes nicht in der Lage, tatsächlichaber spannend: Wollen Sie damit Gelder für den Natur- Schwerpunkte in der Umweltpolitik zu setzen. Manschutz aus anderen Bereichen für diese Maßnahmen ab- muss auch deutlich sagen, dass die Tatsache, dass der fi- ziehen? Verstehen kann ich das. Denn der Minister hat nanzielle Spielraum für eine sachorientierte Umweltpoli- kurz vor der Bundestagswahl zu einer großen Konferenz tik nicht vorhanden ist, nur die eine Seite der Medaille ist. zum vorbeugenden Hochwasserschutz eingeladen. Wenn Die andere Seite ist, dass Sie, Herr Minister, nicht dieman aber jetzt nach der Bundestagswahl in den Haus- Chance genutzt haben, mit inhaltlichen Konzepten so zu haltsplan schaut, stellt man fest, dass es keinen konkreten überzeugen, dass eine Schwerpunktbildung im Haushalt Haushaltsposten für diesen Bereich gibt. zugunsten der Umweltpolitik vorgenommen wurde. Das In Presseerklärungen werden Informationen verbreitet, ist genau der Punkt, Herr Umweltminister, den wir Ihnen die besagen, dass man von 1998 bis 2001 auf Bundes- immer wieder vorhalten müssen. ebene im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe 124 Mil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der lionen Euro für den vorbeugenden Hochwasserschutz Abg. Birgit Homburger [FDP]) ausgegeben hat. Die Zahl muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: in drei Jahren 124 Millionen Euro. Umweltpolitik wird nicht einfacher, sondern langfris- Allein Bayern hat in der letzten Zeit pro Haushaltsjahr im tig schwieriger. Die Bedeutung dauerhafter und langfris- Durchschnitt 115 Millionen Euro dafür ausgegeben. Das tig vorhandener Umweltprobleme wird in der öffentlichen ist eine reelle Umweltpolitik und das zeigt, wie finanziell Wahrnehmung leider häufig unterschätzt. Es wird da-schwach Sie in diesem Bereich vertreten sind. rauf ankommen, dass die Umweltpolitik Mehrheiten mo- bilisiert. Langfristig gesehen muss sich das Problem- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bewusstsein in der Gesellschaft verbessern, damit wir ei- Zum EEG kann ich nur sagen, Herr Minister: Wir sind nen breiten gesellschaftlichen Konsens für die Lösung gespannt auf die Novellierung. Wir sind nicht gegen Maß- umweltpolitischer Probleme bekommen. nahmen für die Förderung der erneuerbaren Energien. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 787

Dr. Peter Paziorek (A) Aber wir sind gespannt, ob Sie es tatsächlich schaffen Im Hinblick auf Steuergerechtigkeit und Generatio-(C) werden, neue Schwerpunkte zu setzen. Sie – nicht Sie per- nengerechtigkeit haben wir natürlich die Aufgabe, den sönlich, sondern die Regierung insgesamt – haben sich in Staat auf eine solide Finanzierungsbasis zu stellen. Sie da- der letzten Legislaturperiode im Rahmen der Kürzung des gegen wollen den Staat ausplündern. Ihre ständigen For- entsprechenden Programms gegen Biogas und Biomasse derungen nach einer Absenkung der Staatsquote zeigen ausgesprochen. Wir sind gespannt, wie Sie jetzt an eine klar, wohin das führt: Sie wollen die staatlichen Ausgaben Novellierung herangehen. zurückführen. Der Staat hat aber nach unserer Auffassung Ich fasse zusammen: Mit diesem Haushalt des Bundes- ebenso wie im Umwelt- und Naturschutz umweltministers wird die erfolglose Umweltpolitik von (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sie kürzen Rot-Grün fortgesetzt. Auch dieser Haushalt zeigt keine in überproportional!) sich geschlossene umweltpolitische Konzeption. Er ist in Wirklichkeit ein Trauerspiel für die Umweltpolitik. Des- auch in anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Bildung, halb kann dieser Haushaltsplan nicht die Unterstützung der Infrastruktur oder den Zukunftstechnologien, eine Da- der Union finden. seinsfürsorge. Vielen Dank, meine Damen und Herren. Im Übrigen haben Sie uns 1998 als Erbe einen kata- strophalen Haushalt hinterlassen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Widerspruch bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wir sind jetzt gezwungen, ihn zu konsolidieren. Ich erteile das Wort der Kollegin Elke Ferner, SPD- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Fraktion. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das alles mögen Sie vielleicht nicht gerne hören. Das Elke Ferner (SPD): sind nun aber die Tatsachen. Im Gegensatz zu Ihnen, die Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Sie 16 Jahre lang regiert, 16 Jahre lang eine Erblastenarie Das, was Sie, Herr Kollege Paziorek, ausgeführt haben, gesungen und dabei vergessen haben, was Sie selber zu haben wir in den letzten Wochen seit der Bundestagswahl verantworten haben, regieren wir erst vier Jahre und sind und auch heute ständig gehört: Sie kritisieren, kritisieren, immer noch dabei, den Müll, den Sie hinterlassen haben, kritisieren aufzuräumen. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist Auf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gabe der Opposition! Dafür sind wir da!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) und machen keinen einzigen Vorschlag dahin gehend, was Wenn wir schon beim Müll sind: Sie haben im Zusam- Sie anders machen möchten. menhang mit der Verpackungsverordnung Krokodils- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tränen vergossen. Kurz zur Erinnerung: Die Verpackungs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – verordnung kam aus dem Hause Töpfer. Dieser gehört, Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das kommt in wenn ich recht informiert bin, immer noch Ihrer Partei an. der zweiten und dritten Lesung!) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das stimmt!) Sie haben sich wohl die Strategie ausgedacht, dass Mies- Wer sich jetzt darüber beklagt, dass vor zehn Jahren eine machen besser ist als zu erklären, wie es nach Ihrer Auf- Verpackungsverordnung verabschiedet worden ist, wobei fassung besser funktionieren könnte. alle Zeit hatten, sich darauf einzustellen, und wer heute Wir haben in unserer Koalitionsvereinbarung die Leit- Getränke immer noch in Einwegverpackungen verkauft, linien unserer Politik in den nächsten vier Jahren festge- also immer noch nicht in der Lage ist, die Mehrwegquote legt. Sie stehen unter der Überschrift: „Erneuerung – Ge- entsprechend zu erhöhen, und jetzt sagt, das alles gehe rechtigkeit – Nachhaltigkeit“. Die Unterschiede zwischen nicht, verhält sich ein Stück weit wie ein Heuchler. Denn uns und Ihnen sind nicht nur im Wahlkampf, sondern auch er hätte die ganzen Jahre über durchaus Zeit gehabt, sich in dieser Debatte deutlich geworden. Sie versuchenauf die neue Situation einzustellen. zunächst einmal, alles schlechtzureden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Weil es so ist!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dann greifen Sie, so wie gestern, in die Mottenkiste Auf der einen Seite hier immer wieder darauf zu ver- zurück, aus der Sie ein paar Vorschläge herausholen.weisen, was alles nicht geht, und auf der anderen Seite Diese Vorschläge offenbaren eines: Wir wollen den So- nicht zu sagen, wie es geht, das ist sicherlich nichts, was zialstaat erneuern; Sie wollen ihn demontieren. die Bevölkerung vom Hocker haut. (Lachen bei der CDU/CSU) (Birgit Homburger [FDP]: Wie geht es denn? – – Ist der Abbau bzw. der Wegfall des Kündigungsschutzes Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wir als Oppo- keine Demontage des Sozialstaates? sition können doch nicht sagen, wie es geht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter – Natürlich! Wir haben in der Opposition im Gegensatz zu Paziorek [CDU/CSU]: Jetzt sind wir wirklich Ihnen immer Alternativvorschläge gemacht. Deshalb sind im Umweltbereich!) Sie 1998 abgelöst worden. 788 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Elke Ferner (A) Herr Paziorek, Sie haben eben beklagt, dass sich die die Situation in diesen Ländern schneller bereinigt werden (C) Umweltpolitik nicht nur im Haushalt des Umweltmi-kann, als das vielleicht ohne diese Hilfen der Fall wäre. nisters widerspiegelt. Was ist denn die Umweltpolitik an- Wir haben seit der Regierungsübernahme 1998 die deres als eine Querschnittsaufgabe? Projektförderung für die Umwelt- und Naturschutz- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja, so ist es!) verbände kontinuierlich aufgestockt. Sie wird in diesem Haushalt noch einmal um 7,1 Prozent höher sein und liegt – Natürlich ist es das. Das bedeutet doch auch, dass das damit um 71 Prozent höher als 1998. Hier ist aus meiner Geld nicht in einem Bundesministerium gebündelt wer- Sicht besonders hervorzuheben, dass der Schwerpunkt der den kann, sondern dass sich jedes Ressort darum küm- Förderung auf der Projektförderung liegt. Dafür werden mern muss, über 70 Prozent der Mittel ausgegeben, sodass konkrete (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Dann könnt Ihr Projekte vor Ort mit Bundesmitteln gefördert werden. Das das Umweltministerium gleich zumachen!) ist praktischer, ganz realer Umweltschutz vor Ort. welche Auswirkungen eine Entscheidung auf die Umwelt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat, und die entsprechenden Mittel zu veranschlagen hat. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir haben mit der Aarhus-Konvention eine stärkere des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei umweltrele- Durch die Koalitionsvereinbarung werden die erneuer- vanten Vorhaben vorgesehen. Wir brauchen mehr Trans- baren Energien dem Umwelthaushalt zugeschlagen. Das parenz, mehr Eigenverantwortung und mehr Beteiligung müssen wir jetzt im parlamentarischen Verfahren haus- der Bürgerinnen und Bürger in diesen Bereichen. Ich haltstechnisch umsetzen und das werden wir auch tun. glaube, auch das ist ein Punkt, in dem wir uns nachhaltig Wir befinden uns heute in einer Situation, die besser sein unterscheiden: Sie haben in der Vergangenheit, wenn es könnte, wenn Sie während Ihrer Regierungszeit nicht aus- um die Beteiligungsrechte ging, immer versucht, diese schließlich auf die Kernenergie gesetzt hätten und sich auf ein Niveau herunterzuführen, das mit einer modernen schon wesentlich früher Gedanken über Energieein-Auseinandersetzung mit den Bürgerinnen und Bürgern sparung und Energieeffizienzprogramme und vor allen nichts zu tun hat. Dingen über die Förderung regenerativer Energien ge- Es ist richtig: Der Umwelthaushalt ist im Vergleich zu macht hätten. anderen Haushalten klein. Aber der Schwerpunkt des (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter Bundes liegt auf der Entwicklung umweltpolitischer Leit- Paziorek [CDU/CSU]: Das Stromeinspeisungs- linien und der Umweltgesetzgebung. Deren Umsetzung und Finanzierung übernehmen zum größten Teil die Län- (B) gesetz ist von uns gekommen!) (D) der und nach dem Verursacherprinzip auch diejenigen, die Auf den kommunalen Ebenen ist sehr viel gemacht wor- für Umweltbelastungen verantwortlich sind. den, auf der Bundesebene haben Sie in Ihrer Regierungs- zeit kaum etwas getan. Man darf nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, indem man die Umweltschutzausgaben eines Bundeslandes mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des den Umweltschutzausgaben des Bundes vergleicht. Im BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Übrigen muss ich sagen: Da der Freistaat Bayern bis heute Paziorek [CDU/CSU]: Das Stromeinspeisungs- am kompromisslosen Donauausbau festhält, ist es wahr- gesetz ist von uns!) scheinlich in diesem Land besonders notwendig, in den Wir haben im Umwelthaushalt einige Schwerpunkte vorbeugenden Hochwasserschutz zu investieren. gesetzt. Wir haben beispielsweise das Pilotprojekt „In- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ land“ entwickelt, bei dem es um die Förderung von Tech- DIE GRÜNEN) niken geht, die zwar noch nicht marktreif, aber schon aus der Entwicklungsphase heraus sind. Ich höre, dass Sie da- Zwar ist dieser Einzelplan verhältnismäßig gering aus- rüber diskutieren, diese Pilotprogramme möglicherweise gestattet, dafür beträgt aber der Investitionsanteil hier im- wieder zu kürzen oder sogar ganz abzuschaffen. merhin 40 Prozent. Ich verweise darauf, dass es über 20 Jahre hinweg gute Im Übrigen haben wir durch die Einführung der öko- Programme von allen Regierungen gegeben hat und dass logischen Steuerreform in den letzten vier Jahren eine insbesondere kleine und mittlere Unternehmen jetzt von Trendwende eingeleitet. Der Ressourcenverbrauch ist diesen Programmen profitieren. Das hat auch etwas mit entsprechend seinen Auswirkungen auf die Ökosysteme der Förderung des Mittelstandes und vor allen Dingen da- teurer geworden und mit den zusätzlichen Einnahmen ha- mit zu tun, dass durch diese Förderprogramme Technolo- ben wir die Lohnnebenkosten gesenkt. Auch hier noch gien und Techniken, die dazu geeignet sind, die bestehen- einmal zur Erinnerung: Während Ihrer Regierungszeit ist den Umweltstandards zu übertreffen, schneller einerdie Mineralölsteuer um mehr als 50 Pfennig erhöht wor- Marktreife zugeführt werden können. den, ohne dass Sie auch nur einen müden Pfennig davon zurückgegeben haben, weder zur Senkung der Lohnne- Wir haben außerdem im Umwelthaushalt die Mittel für benkosten noch zur Verbesserung des Umweltschutzes. die Beratungshilfen für den Umweltschutz in Mittel- und Auch hier werden also Unterschiede deutlich. Osteuropa auf 2,24 Millionen Euro erhöht. Gerade im Hin-

blick auf die EU-Osterweiterung ist es wichtig, den neuen Außerdem haben wir dieCO 2-Minderungspro- Beitrittsländern Hilfen und Beratungen anzubieten, damit gramme auch im Rahmen des Zukunftsinvestitionspro- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 789

Elke Ferner (A) gramms eingeführt. Wir fördern die regenerativen Ener- Sein Volumen sinkt um rund 3 Prozent und damit über-(C) gien. Im Rahmen dieser Förderung werden nicht nur Alt- proportional, wie wir hier schon gehört haben. Wenn man bauten und Heizungsanlagen modernisiert, sondern Pri- das mit dem Umwelthaushalt des Jahres 1998 vergleicht, vathaushalte und Unternehmen können damit auch ihre dann stellt man fest, dass das eine Absenkung um unge- Energiekosten reduzieren. Es werden kleinteilige Investi- fähr 14 Prozent ist. Das ist grüne Prioritätensetzung in der tionen angestoßen, die in erster Linie der lokalen und re- Umweltpolitik! gionalen Wirtschaft zugute kommen. Damit kommen wir (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) auch unseren Verpflichtungen zur CO2-Reduzierung ge- mäß dem Kioto-Protokoll nach. Wir haben hier gehört, dass Umweltpolitik auch Ge- Sie haben eben beklagt, dass die Mittel für das Pro- setzgebung sei. Das ist sicherlich richtig. Es ist auch rich- tig, dass nicht alles, was in der Umweltpolitik gemacht gramm zur CO2-Minderung zu gering seien. Ich frage Sie im Gegenzug: Wie hoch waren sie denn zu Ihrer Regie- wird, in diesem Haushalt steht. Gleichwohl muss man sa- rungszeit? gen, dass die Koalitionsvereinbarung hinsichtlich der Umweltpolitik gehaltlos ist. Das hat sich auch in der Re- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wir haben gierungserklärung des Bundeskanzlers gezeigt, in der das angefangen!) Thema Umwelt überhaupt nicht vorkam. – Wenn ich mich richtig erinnere, dann haben wir das Zu- Auch nach dem, Frau Kollegin Ferner, was Sie uns hier kunftsinvestitionsprogramm auf den Weg gebracht und über Dosenpfand, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, re- haben überhaupt mehr Geld in die Hand genommen, um generative Energien und Hochwasserschutz erzählt ha- die betreffenden Probleme besser anzugehen. ben, muss ich feststellen, dass Sie das, was in der Koali- (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) tionsvereinbarung steht, mit dem Einzelplan bei weitem unterboten haben. Offenbar ist Ihnen nicht bekannt, wie – Frau Homburger, Sie müssen sich schon entscheiden, die Lage wirklich ist. was Sie wollen. Sie wollen die Staatsquote senken, Sie wollen mehr Schulden machen, jetzt wollen Sie wieder (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) einmal mehr Geld ausgeben. In Wirklichkeit ist es zum Beispiel doch so, dass nicht Sie (Werner Wittlich [CDU/CSU]: Barer Unsinn damit angefangen haben, regenerative Energien zu för- ist das!) dern, Sie wissen schlicht nicht, was Sie wollen, und das werden (Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) die Leute auch merken. sondern wir waren diejenigen, die das Stromeinspei- (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sungsgesetz gemacht haben. Das nur zur Klarstellung. (D) DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – CSU und der FDP) Widerspruch bei der SPD) Lassen Sie mich abschließend sagen, dass das Prinzip der Nachhaltigkeit eines der wichtigsten Prinzipien ist. Atomausstieg und Ökosteuer, das ist der rote Faden, Wir werden – das haben wir schon in den letzten vier Jah- der sich durch den Koalitionsvertrag zieht. Das sind Ihre ren getan und das werden wir weiterhin tun – all unsere Anliegen. Da finde ich es schon bemerkenswert, Herr Entscheidungen auch daraufhin überprüfen, welche Aus- Minister, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, Sie wirkungen sie für die kommenden Generationen haben. würden die erneuerbaren Energien weiter ausbauen, wei- Umweltschutzinvestitionen lassen sich leider nicht immer ter fördern. Das alles finde ich ja richtig. Wir haben ein ei- als Rendite in Euro und Cent beurteilen, aber mehr Le- genes, etwas anderes Modell zur Förderung erneuerbarer bensqualität und mehr Nachhaltigkeit bringen sie allemal. Energien vorgelegt. Ich finde es richtig, erneuerbare Ener- In diesem Sinne freue ich mich auf die Beratung zum Ein- gien zu fördern. Aber es geht um die Glaubwürdigkeit der zelplan 16 in den Ausschüssen. Ich danke Ihnen für Ihre Grünen an dieser Stelle. Angesichts dessen, was Herr Aufmerksamkeit. Vesper in NRW macht, wo die regenerativen Energien ins Hintertreffen geraten und man jetzt mit Atomstrom wei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ termacht, weil das günstiger ist, und angesichts der Tatsa- DIE GRÜNEN) che, dass viele grüne Bürgermeister genau aus diesen Gründen Stromverträge entsprechend neu regeln, müssen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sich die Grünen fragen lassen, warum es diesen Wider- spruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit gibt. Das Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Homburger, müssen sie sich vorhalten lassen. FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Birgit Homburger (FDP): Es ist ja nett, was Sie im Fünfpunkteprogramm zum Hochwasserschutz sagen. Wir werden Ihr weiteres Vorge- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie hen intensiv verfolgen. Wir haben Sie schon lange aufge- schon in den letzten Jahren ist auch der Einzelplan des fordert, im Hochwasserschutz vorbeugend tätig zu wer- Bundesministeriums für Umwelt für das Jahr 2003 eine den, auch länderübergreifend in Europa etwas zu tun und einzige Enttäuschung. Das war nicht anders zu erwarten. mit den anderen Anrainerstaaten zusammenzuarbeiten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sie haben das Fünfpunkteprogramm in einer Konferenz 790 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Birgit Homburger (A) zitiert, die im September eiligst einberufen wurde, kurz Horst Kubatschka (SPD): (C) vor der Bundestagswahl, ohne ordentliche Vorbereitung. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ihr eigenes Ministerium hat offen zugegeben, dass diese Kollegen! Herr Paziorek, Sie sagen, die Aufgabe der Op- Konferenz nicht ordentlich vorbereitet war. position sei Kritik. Da stimme ich zu. Aber die zweite Wir haben in dieser Woche vonseiten der FDP-Bun- Aufgabe muss lauten: bessere Vorschläge. destagsfraktion eine Kleine Anfrage zu Fragen des Hoch- wasserschutzes eingebracht. Wir sind gespannt, was Sie (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Die kom- uns darauf antworten werden. Wir sind gern bereit, Dinge men!) gemeinsam zu tun, wenn sie dadurch vernünftig vorange- Die kommen bisher nicht, die fehlen. bracht werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) DIE GRÜNEN) Nun noch eine Bemerkung zum Thema Klima. Sie ha- Solange Sie nicht bessere oder alternative Vorschläge ma- ben zu Recht den Emissionshandel, eines der zentralen chen, sind Sie für mich nicht einmal oppositionsfähig. Themen, genannt. Aber an dieser Stelle ist Fehlanzeige, das muss man einmal deutlich sagen. Sie haben in den Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir führen mit letzten vier Jahren nichts getan, um den Emissionshandel dem vorliegenden Haushalt 2003 den von uns in der ver- in Deutschland einzuführen. Wir haben Sie dazu mehr- gangenen Legislaturperiode erfolgreich begonnenen Kurs fach aufgefordert und hier entsprechende Anträge einge- der ökologischen Modernisierung unserer Industriegesell- bracht. Wir sind nach wie vor die einzige Fraktion imschaft fort. Das Bundesumweltministerium hat mit dieser Deutschen Bundestag, die einen Vorschlag erarbeitet hat, Legislaturperiode erstmals die vollständige Verantwortung wie man die deutsche Selbstverpflichtung in diesem Be- für die erneuerbaren Energien erhalten. Marktanreizpro- reich mit dem europäischen Emissionshandel verknüpfen gramm, 100 000-Dächer-Photovoltaik-Programm, Erneuer- könnte. Das alles haben Sie „verpennt“. Anfang Dezem- bare-Energien-Gesetz und Energieforschung sind jetzt in ber wird darüber in Brüssel entschieden und wir werden einem Ressort. Die Aufgabenverlagerung verlangt, den dumm aus der Wäsche gucken, weil die deutsche Bun- Haushalt des BMU entsprechend zu erhöhen. Diese For- desregierung nicht vorbereitet war und nicht Einfluss ge- derung ist im Koalitionsvertrag festgeschrieben und für nommen hat, und die deutsche Wirtschaft ist dabei der die SPD-Fraktion eine Selbstverständlichkeit. Dies er- Leidtragende. So kann es nicht sein, Herr Minister! möglicht es, die erneuerbaren Energien noch enger mit den Aufgabenfeldern Umwelt- und Klimaschutz im Rah- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – men des Gesamtkonzepts einer nachhaltigen Entwicklung Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu verzahnen. (B) NEN]: So ein Blödsinn!) (D) Wir wissen alle, dass neben Energiesparen und Ener- Deswegen empfehle ich Ihnen dringend, sich den Antrag gieeffizienz der Ausbau der erneuerbaren Energien als der FDP-Bundestagsfraktion noch einmal anzuschauen, dritte Säule notwendig ist, wenn wir eine nachhaltige um vielleicht auf dieser Basis einen Lösungsvorschlag zu Energieversorgung in unserem Land verwirklichen wol- erarbeiten. Dann müssen Sie nicht bei Null anfangen, son- len. Deshalb hat sich die Koalition dasVerdoppelungs- dern können schon eine gewisse Vorarbeit nutzen. Wir stel- ziel auch erneut auf die Fahnen geschrieben und es präzi- len Ihnen das gern noch einmal zur Verfügung. siert. Bis zum Ende dieses Jahrzehnts wollen wir den ( [SPD]: Bitte nicht!) Anteil der erneuerbaren Energien an der Strom- und Pri- märenergieversorgung auf jeweils mindestens 12,5 Pro- Herr Bundesumweltminister, hätten Sie, wie von der zent bzw. 4,2 Prozent verdoppeln. 2010 kann nur eine FDP mehrfach gefordert und in den Deutschen Bundestag Zwischenstation sein. Langfristig wollen wir bis zur Mitte eingebracht, rechtzeitig auch in Deutschland die Voraus- des Jahrhunderts die Hälfte unseres Energiebedarfs aus setzungen für die Anerkennung von Clean Development den erneuerbaren Energien decken. Dies ist ein Ziel, das Mechanism, von CDM-Maßnahmen, geschaffen, hätten wir gemeinsam mit unseren Nachbarn und Partnern in der auch die Deutschen günstige Emissionsrechte kaufen Europäischen Union erreichen wollen, aber auch errei- können. chen müssen. Wir wissen: Nur eine Energieversorgung (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es! auf der Grundlage erneuerbarer Energien ist langfristig Dann hätten wir die Diskussion nicht!) nachhaltig und zukunftsfähig. Da waren die Niederlande cleverer. Es war halt schon im- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen damit un- mer etwas teurer, einen grünen Umweltminister zu haben. sere zweifach erfolgreiche Politik fort. Warum zweifach Es fragt sich nur, meine Damen und Herren, ob wir uns erfolgreich? Zum einen haben wir durch unsere enga- das weiter leisten können. gierte Politik enorme Zuwachsraten bei der Energieerzeu- gung aus den erneuerbaren Energien erzielt. In den letz- Vielen Dank. ten vier Jahren hat sich der Anteil der erneuerbaren (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Energien an der Stromerzeugung um mehr als 50 Prozent erhöht. Dadurch konnten 44 Millionen Tonnen Kohlendi- oxid eingespart werden. Allein im Jahre 2001 ist durch die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: erneuerbaren Energien mehr CO2 eingespart worden, als Das Wort hat nun der Kollege Horst Kubatschka, SPD- die Bewohner in einem Jahr verursachen. Dies Fraktion. war also ein erheblicher Beitrag. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 791

Horst Kubatschka (A) Zugleich ist es uns gelungen, eine hochmoderne, zu- welkt. Deswegen hat sich der Euratom-Vertrag überlebt. (C) kunftsfähige und überwiegend mittelständisch struktu- Der Vertrag ist angesichts der tatsächlichen Verhältnisse rierte Wirtschaft aufzubauen, in der heute mehr auf als dem Energiemarkt und der energiepolitischen He- 130 000 Menschen beschäftigt sind. Während wir bis in rausforderungen ein Anachronismus. Wir wollen ihn in ei- die 90er-Jahre hinein zwar in Forschung und Entwicklung nen reinen Sicherheitsvertrag umwandeln. Wir treten im wissenschaftlich erstklassig waren, in puncto Umsetzung Konvent dafür ein, Euratom und ihren im Dunkeln ausge- aber weit hinter anderen Ländern zurücklagen, haben wir kungelten Haushalt dem Parlament zu unterstellen. in wenigen Jahren auch bei der praktischen Anwendung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der verschiedenen Technologien eine internationale Spit- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zenstellung erreicht. Heute ist Deutschland weltweit führend bei der Erforschung und der Markteinführung, ist Ich habe den Schwerpunkt Energiepolitik bewusst ge- Weltmeister bei der Windkraft- und Solarenergie. Dies wählt. Energiepolitik ist der Kern unserer Politik der öko- eröffnet hervorragende Exportchancen. logischen Modernisierung. Für unsere Generation ist es selbstverständlich, dass Energie zur Verfügung steht. Erneuerbare Energien sind grundsätzlich global ein- Über den Ausfall von Strom zum Beispiel zerbrechen wir setzbar. Damit stellen sie ein Kontrastprogramm zur uns kaum den Kopf. Besonders ärgerlich wäre es, im Kernenergie dar. Die Produktion erfolgt oft dezentral. Fahrstuhl einen Stromausfall zu haben. Aber es ist auch Sinnvollerweise kann sie auch verbrauchernah durchge- schwer vorstellbar, im Winter einen längeren Stromaus- führt werden. fall zu erleben; denn das bedeutete: Wir frieren und Ein weiterer Aspekt: Sie sind ein wichtiges Element gleichzeitig verdirbt das Gut in der Gefriertruhe. nachhaltiger Entwicklungspolitik. Ich begrüße und unter- Die Frage der Energie ist die Frage unserer Zivilisa- stütze damit ganz nachdrücklich die von Bundeskanzler tion, unserer Kultur. Unsere Zivilisation baut auf die si- Gerhard Schröder auf der Johannesburg-Konferenz vor- chere Versorgung mit Energie. Erst die technische und gestellte Initiative, in den kommenden fünf Jahren insge- versorgungsmäßige Lösung der Energiefragen hat unsere samt 500 Millionen Euro für Projekte zur Förderung er- Industriegesellschaft über Jahrhunderte entstehen lassen. neuerbaren Energien in denEntwicklungsländern zur Deswegen müssen wir zukunftsfähige, nachhaltige Lö- Verfügung zu stellen. sungen der Energiefrage finden und umsetzen. Dieser Weitere 500 Millionen Euro – insgesamt sind es 1 Mil- Prozess ist lang andauernd und kommt nicht zum Still- liarde Euro – werden wir für die Energieeffizienz auf- stand. Mit unserer Energiepolitik haben wir diesen Pro- bringen. Beides – Effizienz und erneuerbare Energien – zess eingeleitet. Wir schreiten da weiter voran. muss Hand in Hand gehen. Wir haben diese Initiative in Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz, den entspre- (B) unsere Koalitionsvereinbarung aufgenommen und wer- (D) chenden Förderprogrammen und anderen Gesetzen haben den sie auch unter schwierigen Haushaltsrahmenbedin- wir eine Erfolgsgeschichtegeschrieben. Es waren die gungen in guter Zusammenarbeit mit allen Ressorts so ersten Schritte zu einem Umbau der Energieversorgung. rasch wie möglich umsetzen. Leider hat sich die CDU/CSU an dieser Erfolgsgeschichte Der hohe Stellenwert der erneuerbaren Energien be- nicht beteiligt. Sie haben eine wichtige Zukunftschance legt: Der Haushalt des Bundesumweltministeriums ist ein verpasst. echter Zukunftshaushalt und zentraler Baustein im Kon- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Was?) zept der Nachhaltigkeit. Inzwischen folgen andere Länder dieser Erfolgspolitik. Sie sind nicht oppositionsfähig, Wir werden den Ausstieg aus der Kernenergie kritisch (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von begleiten. Dabei ist eines sonnenklar: Kompromisse bei der CDU/CSU: Gott schütze Deutschland vor der Sicherheit gibt es nicht. Mit dieser Erfolgspolitik beim Ihnen!) Dreiklang Energiesparen, Energieeffizienz und erneuer- weil Sie keine Antworten auf die Energiefragen haben. bare Energien werden wir in Deutschland auch den Be- Soweit Sie eine Antwort haben, ist es die Antwort des letz- weis dafür erbringen, dass eine hoch entwickelte Indus- ten Jahrhunderts, die lautet: Kernenergie. triegesellschaft aus der Kernenergie aussteigen kann, ohne dass die Wirtschaft Schaden nimmt. Das Gegenteil (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Na, na, na! ist der Fall: Wir fördern die Wirtschaft und schaffen Wer hat Ihnen das denn aufgeschrieben?) Arbeitsplätze auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit. – Das ist Ihr Vorschlag!– Herr Paziorek, Sie weisen ja im- Zu den Konsequenzen dieser Ausstiegspolitik. Die Ko- mer wieder auf das Stromeinspeisungsgesetz hin. Das ist alition wird die staatliche Förderung der Entwicklung von ein Gesetz, das während Ihrer Regierungszeit vom Parla- Nukleartechniken zur Stromerzeugung beenden. Die Ko- ment entwickelt worden ist. Das Parlament hat daran ge- alition wird aber die Forschung zur Erhöhung der Sicher- arbeitet. Ich sage: Auch das EEG ist eher ein Parlaments- heit vorhandener Reaktoren weiter unterstützen. gesetz. Sie haben damals die Chance, die wir Anfang der 90er-Jahre genutzt haben, verpasst. Noch einige Worte zuEuratom. Der Vertrag dazu stammt aus einer Zeit, als man glaubte, die Energiepro- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das glauben bleme der Welt durch Kernenergie lösen zu können. Da- Sie! Sie werden sich noch umgucken! Sie wer- mals herrschte eine unglaubliche Aufbruchstimmung. Die den sich noch wundern, was wir daraus ma- Blütenträume der 50er- und 60er-Jahre sind aber ver- chen!) 792 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Horst Kubatschka (A) Damit haben Sie auf diesem Gebiet versagt. gische Gründe, die uns dazu veranlasst haben, dieBraun- (C) kohlenverstromung drastisch zurückzufahren. Ich weiß (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht, ob Sie es einmal erlebt haben, einer solch großen An- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – zahl von Beschäftigten, die Familien zu ernähren haben, Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wir werden sagen zu müssen, dass ihr Arbeitsplatz in Kürze wegfallen mit Ihnen dazu ringen!) muss. Ich habe das viele Jahre lang machen müssen. – Das freut mich. Dann werden wir ja demnächst hervor- (René Röspel [SPD]: Sie können gerne ins ragende Vorschläge bekommen. Wir werden sie umset- Ruhrgebiet kommen! Wir haben Erfahrungen zen, wenn sie vernünftig und machbar sind. damit!) Mein Schwerpunkt war, wie gesagt, die nachhaltige Energieversorgung. Sie ist eine Zukunftsaufgabe, die ei- – Sie haben dazu 40 Jahre gebraucht. Damit haben Sie gentlich wir alle gemeinsam lösen müssen. keinen Beitrag geliefert. Wir mussten innerhalb von fünf Jahren von 130 000 Beschäftigten auf unter 20 000 Be- Ich danke Ihnen fürs Zuhören. schäftigte kommen. Das ist die Situation mit all ihrer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Härte im mitteldeutschen Braunkohlenrevier. DIE GRÜNEN) (Elke Ferner [SPD]: Wenn es nach Ihnen ginge, könnten wir unsere Bergleute sofort nach Hause schicken!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ein wichtiges Problem, das wir zu lösen hatten, war die Nächster Redner ist der Kollege Arnold Vaatz, Umstellung der Heizungsträger. Durch diese Maß- CDU/CSU-Fraktion. nahme ist uns tatsächlich eine drastische Reduzierung der Menge der Luftschadstoffe gelungen. Der überwiegende Arnold Vaatz (CDU/CSU): Teil der Heizungen in Ostdeutschland ist auf umwelt- freundliche Energieträger umgestellt worden, insbeson- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- dere auf Erdgas. Teilweise wurde die Umstellung auf ren! Zunächst zu Ihnen, Herr Kollege Kubatschka. Auch Erdgas gefördert, Sie haben am Anfang Ihrer Rede das Scheinargument ge- bracht, die Opposition wisse es nicht besser. Ich frage (Horst Kubatschka [SPD]: Sind Sie jetzt in ei- mich, wie lange Sie den Menschen in Deutschland noch ner anderen Debatte? Bei der ökologischen weismachen zu können glauben, dass die Regierung des- Steuerreform?) halb so schlecht regiere, weil die Opposition nicht genü- gend Konzepte vorlege. teilweise ist es so weit gegangen, dass Baugenehmigun- (B) gen nur dann erteilt wurden, wenn die Haushalte bereit(D) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- waren, sich an die Leitungen anzuschließen. Dieses wie bei Abgeordneten der FDP) Vorgehen haben wir ökologisch begründet. Diese Argumentation werden Sie nicht mehr länger Jetzt kommen Sie daher und erhöhen im Rahmen der durchhalten. Ökosteuer die Steuer auf Erdgas um 200 Prozent. Nun (Horst Kubatschka [SPD]: Das ist ein Schuss wäre das kein Problem zwischen Ost und West, wenn die durchs Auge! – Ulrike Mehl [SPD]: Die Men- Haushalte in Ostdeutschland nicht überproportional mit schen müssen Alternativen wissen!) Erdgas beheizt würden. In Ostdeutschland gibt es – das ist die Realität – alleine 3,4 Millionen Erdgasverbraucher, – Nein, Sie versuchen tatsächlich, das so darzustellen. davon 3,3 Millionen in privaten Haushalten. Das führt Ich möchte auf eine spezifische Dimension der Politik zu einer Zusatzbelastung Ost von insgesamt 275 Mil- dieser Regierung eingehen, die besonders in Ostdeutsch- lionen Euro. Das sind 20 Prozent der Belastungen aus land spürbar wird. Es zeigt sich, dass sich ein Sachverhalt dem gesamten Gesetzentwurf. Wir haben also eine ein- wie ein roter Faden durch die bisherigen Gesetze dieser deutige Benachteiligung von Ostdeutschland. Regierung zieht, nämlich die asymmetrische Verteilung Nun kommt das besonders Perfide. Sie wissen, wie der der Belastungen, die eindeutig zulasten von Ostdeutsch- Herr Bundeskanzler anlässlich derFlut durch Ost- land geht. deutschland gezogen ist und versprochen hat, nach der (Zuruf von der SPD: Blödsinn!) Flut solle es niemandem schlechter gehen. Ganz besonders gravierend, fatal und brutal ist das im (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das hat er Bereich der Umweltpolitik. gesagt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wissen Sie, wie dort die jetzige Situation ist? neten der FDP) 30 000 Haushalte sind von der Flutkatastrophe betroffen. Das möchte ich Ihnen kurz erklären. Wir reden nicht aus- (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schließlich über den marginalen Haushalt, den Sie hier NEN]: Stellen Sie einmal die Verknüpfung zwi- vorgelegt haben, sondern noch über ganz andere Größen- schen Braunkohle und der Flut her!) ordnungen wie zum Beispiel Ihr großes Unternehmen Öko- – Das mache ich gerade. Aber Sie müssen es verstehen, steuer. Sie müssen sich vergegenwärtigen: Im Jahre 1990 Frau Hustedt. hatten wir insgesamt über 130 000 Beschäftigte in der Braunkohlenindustrie. Es waren wirtschaftliche und ökolo- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 793

Arnold Vaatz (A) Zum großen Teil sind diese Häuser noch nicht wieder solchen Anpassungsvorgängen disproportionale Wirkun- (C) bewohnbar. Nach wie vor wird das Mauerwerk getrock- gen, die strukturschwache Gebiete belasten, die mit er- net; es muss auch weiterhin getrocknet werden. Nun raten heblichen Subventionen an das Niveau der Bundesrepu- Sie einmal, was die bevorzugte Energieform ist, die zur blik Deutschland herangeführt werden sollen, vermieden Trocknung dieser Haushalte dient? Natürlich nichts ande- werden. Aber genau das tun Sie. res als Erdgas. Hier zocken Sie diese Leute zusätzlich ab. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Das ist eine Abgeordneten der FDP) Schweinerei!) Diese Belastung betrifft nicht nur die Haushalte, sondern Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie auf diese Weise das auch die Industrie. Die Industrie muss insgesamt 120 Mil- Umweltbewusstsein in Ostdeutschland in irgendeinerlionen Euro zusätzlich berappen. Das ist deshalb besonders Weise festigen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Dieseschwierig, weil wir in Ostdeutschland imherstellenden Rechnung wird auf keinen Fall aufgehen. Gewerbe seit einiger Zeit ein leichtes Wachstum ver- spüren, das allerdings durch andere Wirtschaftszweige im Saldo nicht erkennbar wird. Das Problem ist: Wenn wir im Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: herstellenden Gewerbe eine solche zusätzliche Belastung Herr Kollege Vaatz, gestatten Sie eine Zwischenfrage zulassen, dann verantworten wir gleichzeitig, dass auch des Kollegen Röspel? dieses Wachstum zum Erliegen kommt und wir damit die- sen leisen Konjunkturmotor Ost abwürgen. Arnold Vaatz (CDU/CSU): Unterm Strich kann ich nur sagen: Das Umweltbewusst- Ja, gerne. sein in Ostdeutschland wird bestraft. Derjenige, der eine ökologisch sinnvolle Heizung eingebaut hat, kann sich nicht dagegen wehren, dass er in besonderer Weise abge- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: zockt wird. Das Resultat dieser disproportionalen Belas- Bitte schön. tung wird sein, dass die Kaufkraft in Ostdeutschland er- neut leidet und die Konjunktur noch weiter geschwächt wird. In Zukunft wird es dort noch mehr Pleiten und noch René Röspel (SPD): mehr Abwanderung von Ostdeutschland nach West- Herr Kollege Vaatz, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu deutschland geben. All das haben Sie zu verantworten, nehmen, dass Sie sich, was die Erhöhung der Erdgasbe- insbesondere durch Ihre verfehlte Ökopolitik. steuerung anbelangt, in der falschen Debatte befinden? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (B) (D) Bisher wurde Erdgas immer niedriger besteuert als zum Abgeordneten der FDP) Beispiel Öl. Dieser Steuervorteil wurde aber nie an die Verbraucher weitergegeben, weil Erdgasunternehmen Ich komme zu einem anderen Punkt. Der Herr Bundes- und Ölkonzerne einen gleichen Preis verlangt haben. Die- umweltminister hat erfreulicherweise einige Bemerkun- ser Vorteil seitens der Unternehmen wird jetzt endlich gen zum Thema Elbeausbau gemacht. Ich begrüße es, wieder abgeschafft. Das hat mit den Verbrauchern über- dass er dazu Stellung genommen hat. Was aber jetzt statt- haupt nichts zu tun. findet, ist nicht die Überprüfung der Frage, ob sich be- stimmte Ausbaumaßnahmen angesichts der überstande- nen Flut wirklich als sinnvoll erweisen. Vielmehr schütten Arnold Vaatz (CDU/CSU): Sie das Kind mit dem Bade aus. Sie treffen Vorkehrungen, Ich teile Ihre Meinung nicht, dass ich in der falschen dass Schifffahrt auf der Elbe in Zukunft so nicht mehr Debatte rede, Herr Kollege. möglich sein wird, und unterlassen die Pflege des Status quo. Die Konsequenz wird sein, dass früher oder später (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie sind enorme Mehraufwendungen erforderlich werden, um die auch im falschen Film!) Schiffbarkeit der Elbe auf dem gegenwärtigen Niveau zu Traditionell werden die Auseinandersetzungen über den halten. Haushalt zu einer Grundsatzaussprache über den entspre- Kein Politiker in Ostdeutschland hat jemals verlangt, chenden Politikbereich genutzt. Das und nichts anderes die Elbe zu kanalisieren oder mit Staustufen voll zu tue ich. packen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (Beifall bei der CDU/CSU) Abgeordneten der FDP) Die Elbe ist nach wie vor einer der natürlichsten Flüsse in Zu Ihrem zweiten Punkt sage ich Folgendes: IchDeutschland. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen, statt stimme Ihnen zu, dass es eine Ungleichbehandlung zwi- ständig Ihre vielleicht angesichts des Zustands von Mosel schen leichtem und schwerem Heizöl einerseits und Erd- und Rhein berechtigte Kritik anzubringen und diese un- gas andererseits gibt. Ich stimme Ihnen auch zu, dass man besehen, ohne Ortskenntnis und ohne den geringsten vielleicht langfristig Wege finden muss, um diese Un- Sachverstand auf die Elbe zu transponieren. gleichbehandlung aufzuheben. Aber ich widerspreche dem Automatismus, der offenbar Ihrem Denken zugrunde (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der liegt, dass es ausschließlich Anpassungen nach oben ge- SPD: Man muss nicht vor Ort wohnen, um Orts- ben müsse, um Löcher zu stopfen. Außerdem müssen bei kenntnisse zu haben!) 794 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Arnold Vaatz (A) Bei der Elbe ist des Weiteren nötig – ich bitte Sie, Herr sagen: Sie reden – mir fällt kein anderes Wort ein – mit ge- (C) Bundesminister, das zu reflektieren –, die Fahrrinne zu spaltener Zunge. pflegen – das hat mit Hochwasser nichts zu tun –, sie vor (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Versatz zu bewahren, Sohlschwellen zu legen, Randbuh- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) nen zu pflegen und anderes. Dafür gibt es aber zurzeit kein Geld. Das ist die Situation. Sie fordern als Fachpolitiker ständig mehr Geld für die Umweltpolitik. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist doch die Wahrheit! Richtig!) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein, wir ha- Nun ist die Elbeschifffahrt aber kein Hobby, das aus- ben nur die Bedeutung der Umweltpolitik her- schließlich Sachsen betrifft. vorgehoben!) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich habe vorhin genau zugehört, als Herr Merz und Herr NEN]: Thema verfehlt!) Austermann ihre Reden gehalten haben. Sie fordern prak- tisch, dass wir sparen und gleichzeitig Steuergeschenke Wenn wir die Erweiterung der Europäischen Union machen sollen. Ich frage mich, wie das zusammenpassen wirklich angehen wollen, dann müssen wir bedenken,soll. Ich habe den Eindruck, dass Sie eine doppelbödige dass die Tschechische Republik künftig unser EU-Partner Politik betreiben. Ihre Fachpolitiker fordern immer mehr sein wird. Die Tschechische Republik ist ein Binnenland Geld, während Ihre Generalpolitiker uns klar machen und hat einen Anschluss an die Weltmeere, nämlich die wollen, wie Umweltpolitik auch ohne mehr Geld betrie- Elbe. Diese wird seit Jahrhunderten für diesen Zweck ge- ben werden kann. Das passt doch nicht zusammen. nutzt, und zwar ökologisch richtig. Als wirklich über- zeugter Umweltschützer muss man nach meiner Auffas- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sung über jeden Container froh sein, der nicht auf der und bei der SPD – Birgit Homburger [FDP]: Straße von Prag nach Hamburg transportiert wird, son- Nicht mehr, sondern besser!) dern auf der Elbe. Ich möchte noch auf einen anderen Punkt zu sprechen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kommen. Die Fachpolitiker wie Herr Paziorek und Frau Homburger erklären uns – das ist wunderbar –, dass die Was aber machen Sie? Sie reden irrsinniges Zeug zum Umweltpolitik von Rot-Grün inhaltlich nicht perfekt sei. Thema Elbeausbau. Sie wollen den Leuten weismachen, Uns wird regelmäßig vorgeworfen, dass unsere Ökosteuer dass wir die Absicht hätten, die Elbe in einen Betonkanal nicht gut genug sei und dass die Energiewende nicht kon- zu verwandeln, und verschaffen sich damit das Alibi, die sequent genug betrieben werde. Das sind herrliche Sonn- Elbe verkommen zu lassen. So kann es aber nicht laufen. tagsreden. Aber wer steht dahinter? Ihre eigenen Fraktio- (B) Bitte bekennen auch Sie sich zur Elbeschifffahrt und da- nen stehen absolut nicht hinter dem, was Sie fordern. Sie (D) mit zum ökologischen Sachverstand. stimmen immer dagegen. In der letzten Legislaturperiode Es gibt eine größere Vereinigung von Handwerkskam- sind praktisch alle unsere umwelt- und energiepolitischen mern, nämlich die Kammerunion Elbe/Oder – dabei han- Initiativen – bei einigen haben Sie sich enthalten; nur we- delt es sich um einen Zusammenschluss von 30 Industrie- nigen haben Sie zugestimmt – von Ihren Fraktionen ab- und Handelskammern aus Tschechien, Deutschland und gelehnt worden. Im Prinzip sind Sie dagegen, obwohl Polen –, die auf ihrer diesjährigen Generalversammlung Herr Stoiber während des Wahlkampfes die Umweltpoli- ihr blankes Entsetzen über Ihre Elbepolitik geäußert ha- tik zur Chefsache erklärt hat. Wir wissen aber bisher ei- ben. Sie sind – besonders der Mittelstand – von der Elbe- gentlich nicht, ob Ihr Chef überhaupt etwas von Umwelt- schifffahrt abhängig. Deshalb bitte ich Sie: Unterlassen und Energiepolitik versteht; denn er hat sich bis heute Sie Ihre Experimente mit der Elbe! dazu nicht geäußert. Ihre Fadenscheinigkeit, die dadurch offenbar wird, dass Sie Fachpolitiker vorschicken, sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aber bei den eigentlich wichtigen Themen nicht engagie- ren, halte ich für skandalös. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich erteile der Kollegin Eichstädt-Bohlig, BÜNDNIS 90/ und bei der SPD – Birgit Homburger [FDP]: Sa- DIE GRÜNEN, das Wort. gen Sie das einmal dem Bundeskanzler!) Die eigentliche Politik Ihrer Fraktion bedeutet nichts Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE anderes, als auf das Anspringen der Konjunktur zu war- GRÜNEN): ten, gegen die Ökosteuer zu polemisieren und sich für de- ren Abschaffung zu engagieren, obwohl Sie nicht wissen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- wie Sie die Sozialversicherungsbeiträge, insbesondere die ber Kollege Vaatz, wenn ausgerechnet Sie den naturnahen zur Rentenversicherung, finanzieren wollen. Gleichzeitig Ausbau, die Pflege und den sorgfältigen Umgang mit der fordern Sie die Senkung der Lohnnebenkosten. Des Wei- Elbe als „verkommen“ beschreiben, stockt mir etwas der teren wollen Sie mit der Einführung von Instrumenten zur Atem. Aber ich möchte ein Stück weit zu der Debatte ökologischen Lenkung so lange warten, bis auch der zurückkehren, die wir vorhin geführt haben; denn ich Letzte im europäischen Geleitzug mitmacht. Das alles meine, wir sollten bei der Ressortdebatte bleiben. passt nicht zusammen. Wo sind eigentlich Ihre Vorschläge Ich muss als Erstes in Richtung von Herrn Paziorek für eine andere, aber machbare Umwelt- und Energie- und Frau Homburger sowie zu Ihren beiden Fraktionen politik? Ich kenne sie bis heute nicht. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 795

Franziska Eichstädt-Bohlig (A) Sie sagen nichts dazu, und das in Zeiten, in denen Um- Umwelt und Arbeit sowie – last, not least – Umwelt und (C) weltkatastrophen in zunehmendem Maße auf uns zu- Gesundheit konstruktiv zusammenführt. kommen bzw. schon da sind. Die Lage ist wirklich dra- Wir sind fest davon überzeugt: Mit dieser Form der matisch. Ich muss nur auf die Schiffs- und Ölkatastrophe, Modernisierung von Gesellschaft und Wirtschaft integrie- die sich momentan vor Galizien abspielt, auf die Elbkata- ren wir die Umweltfragen in die anderen Ressorts. Damit strophe, auf die Überschwemmungen in Oberitalien so- betreiben wir intelligente Politik und nicht einfach nur Po- wie auf die Erdrutsche und Muren in den Alpen verwei- litik mit Geld, so wie Sie das ständig meinen machen sen. Angesichts dessen wird die Umweltpolitik immer zu müssen. Wir integrieren Umweltpolitik in die Wirt- wichtiger. Ich fordere deshalb die Opposition auf, an die- schaftspolitik, in die Agrar- und Verbraucherschutzpoli- ser Stelle endlich konstruktiv zu werden und als Erstes tik, in das Bau- und Verkehrsressort und last, not least mit wenigstens das anzuerkennen, was wir seit vier Jahren mit unserer Strategie für Nachhaltigkeit auch in das Kanzler- großem Engagement gemacht haben und was wir mitamt. Kommen Sie erst einmal dahin, nicht nur einzelne großer Entschlossenheit in den kommenden vier Jahren Fachpolitiker vorzuschicken, sondern das Thema in Ihren vorantreiben werden, und zwar mit oder ohne Ihre Zu- Fraktionen zu verankern. Das wünsche ich Ihnen. stimmung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD)

Eines ist klar: Wir haben Deutschland im Bereich des Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Umweltschutzes weltweit zum Reformmotor gemacht. Deutschland ist hier kein Schlusslicht, sondern Spitzen- Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Christian Eberl reiter beim Klimaschutz, bei der Energiewende und beim von der FDP-Fraktion. Atomausstieg. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen Satz zu Ihnen, Herr Paziorek, sagen. Sie haben Dr. Christian Eberl (FDP): sich beschwert, die Standorterkundungsverfahren würden ja erst 2006 fortgesetzt werden. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Nachhaltigkeit ist einer der drei Begriffe, mit der (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Nein, das die jetzige Bundesregierung ihren Koalitionsvertrag über- Bestimmungsverfahren!) schrieben hat. In das Kapitel V, Umwelt, dessen Haushalt Ich kann dazu nur sagen: Das stimmt nicht. Wir erarbei- wir heute diskutieren, wird mit den Worten eingeführt: ten die Kriterien und werden ab 2003 – das ist nicht mehr Das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung be- lang hin – in einen konstruktiven Dialog mit der Bevöl- stimmt unser Regierungshandeln. (B) kerung über die Kriterien eintreten. (D) In der Politik ist das Ziel der nachhaltigen Entwick- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ganz lung erst in den letzten Jahren durch die internationalen allgemein!) Konventionen in den Mittelpunkt des Handelns gerückt. – Natürlich machen wir das zuerst ganz allgemein. Wir Als Forstwirt und Waldökologe und durch meine Arbeit in werden es nicht wie Sie machen, nämlich auf autoritäre der Vergangenheit im Bereich der Umweltkontrolle be- Art und Weise einen Standort bestimmen und sich dann schäftige ich mich mit der Nachhaltigkeit schon seit mei- wundern, wenn die Bevölkerung auf die Barrikaden geht. nem Studium. Aus dieser langjährigen Beschäftigung ist Wir machen daraus ein transparentes und demokratisches mir bekannt, dass die Zielformulierung die eine und die Verfahren. Kontrolle der Zielerreichung die andere Seite der gleichen Medaille ist. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Richtig!) (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) Wir wissen sehr wohl, dass das ein schwieriger Prozess ist. Aber Ihre Politik, wie Sie sie bei Gorleben undEntscheidend ist daher nicht die Frage, was Sie laut Ko- Schacht Konrad betrieben haben, entspricht nicht unserer alitionsvereinbarung tun wollen, sondern wie Sie es tun Herangehensweise. Wir sind sehr froh, dass wir bei der wollen und wohin der Weg führt. Lösung solcher Probleme mit der Bevölkerung anders (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – umgehen, als Sie meinen, dass wir es tun sollten. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) In der Koalitionvereinbarung steht: Ich nenne noch andere Themen wie die Kraft-Wärme- Nachhaltige Entwicklung ist zentrales Ziel unserer Kopplung, Energieeinsparung und Energieeffizienz, Reformpolitik. nachwachsende Rohstoffe, Ökolandbau, gesunde Nah- Das ist eine qualitative Aussage, die jeder unterschreiben rungsmittel sowie die Verknüpfung von Landschafts- und kann. Wenn wir das aber quantitativ bewerten, also kon- Naturschutz mit sanftem Tourismus und mit der Land- trollieren wollen, dann müssen wir das mithilfe so genann- wirtschaft in ganz neuer Form. All das haben wir auf den ter Indikatoren tun. Einfache Indikatoren sind zum Bei- Weg gebracht. Wir haben für eine Verbindung von Um- spiel die Haushaltszahlen. Die Haushaltszahlen 2002 bis weltschutz und Klimaschutz mit einer veränderten 2003 zeigen uns, dass Ihr Haushalt um 3 Prozent sinkt. Form der Wirtschaftspolitik gesorgt, die nicht die Um- weltpolitik separiert, sondern Umwelt und Wirtschaft, (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) 796 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Dr. Christian Eberl (A) Dieser geht – Frau Homburger hat das vorhin betont – seit Wir wollen eine Politik, die nicht den Verbänden zu-(C) 1998 um 15 Prozent zurück. gute kommt, sondern den Menschen vor Ort. (Elke Ferner [SPD]: Auf die Qualität kommt (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke es an, nicht auf die Quantität!) Ferner [SPD]: Projektförderung!) – Eben, Quantität. Das ist genau das, was ich meine. Deswegen erwarten wir, dass Sie zum Beispiel etwas für den Vertragsnaturschutz tun, Herr Trittin, nicht aber, Wenn Sie, verehrte Frau Kollegin, diese nachhaltige dass Sie bunte Papiere produzieren lassen. Entwicklung weiter fortschreiben – das können Sie gerne tun –, (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn ich an Möllemann denke, würde ich mich (Zuruf von der SPD: Dafür haben Sie an Ihrer Stelle in Acht nehmen!) studiert?) Es geht darum, dass das Geld konkret bei denjenigen, die dann sind Sie in 30 Jahren mit Ihrer Umweltpolitik über- vor Ort auf diesem Gebiet tätig sind, zum Beispiel den flüssig, weil Sie dann kein Geld mehr im Haushalt haben Land- und Forstwirten, ankommt. werden. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich muss leider zum Schluss kommen. – Wir als FDP der CDU/CSU) setzen in unserer Politik weiterhin auf das Kooperations- Das ist der entscheidende Punkt, weshalb Sie anhand von prinzip. Wir machen keine Politik von oben. Wir wollen Indikatoren auch kontrollieren müssen. Umwelt- und Naturschutzpolitik mit den Menschen, die in unserem Land wohnen, durchführen. Dafür brauchen (René Röspel [SPD]: Haben Sie schon mal wir auch Geld, und zwar das Geld, das Sie aus der Öko- etwas von Konvergenz gehört?) steuer im Namen der Umwelt einnehmen, aber an der 16,3 Millionen Euro beträgt die Kürzung und nicht, falschen Stelle wieder ausgeben. wie Herr Trittin sagte, nur 8 Millionen Euro. Denn im Herzlichen Dank. Haushaltsplan stehen noch 8 Millionen Euro an globaler Minderausgabe. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU: Genau so ist es!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Das ist Geld, das Sie einsparen wollen. Sie sagen aber Herr Kollege Eberl, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten nicht, wo Sie es einsparen wollen, weil Sie es nicht wis- Rede im Deutschen Bundestag. (B) sen. (D) (Beifall) (Elke Ferner [SPD]: Dann sagen Sie einmal, wie Sie die Staatsquote absenken wollen!) Da das Präsidium die Qualität der Rede nicht zu beurtei- len hat, haben Sie bitte Verständnis dafür, dass wir umso Da Sie an der Regierung sind, erwarte ich von Ihnen klare sorgfältiger auf die Dauer der Reden achten müssen. Aussagen, an welcher Stelle Sie Einsparungen vorneh- men wollen. Als nächstem Redner erteile ich Herrn Dr. von Weizsäcker von der SPD-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (SPD): Es gibt sicherlich Konsens zwischen allen Umweltpoliti- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- kern im Deutschen Bundestag, egal welcher Partei sie an- ren! Gestatten Sie mir nach diesem Austausch von Mei- gehören, dass die Kürzungen im Umweltbereich wehtun. nungen und den Schilderungen der Grundlinien der Um- weltpolitik durch den Herrn Minister ein paar Gedanken Dass nun gerade die Grünen vor die Wähler treten und zur langfristigen Perspektive. diese Kürzungen als nachhaltige Entwicklung verkaufen wollen, Umweltpolitik ist heute notwendigerweise Langfrist- politik. Zu Recht beklagen die Menschen in unserem (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das tun sie ja Land, dass der Politik der Sinn für die langfristige Orien- nicht!) tierung verloren gegangen ist. muss ihnen besonders weh tun. Wenn vonseiten der Wirtschaft oder der Opposition Ihre Politik in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass dies heute medienwirksam mit beklagt wird, dann wird die Bundesregierung jetzt nicht mehr, sondern weniger für meistens nicht bedacht, dass es gerade die Wirtschaft und die Umwelt tut. In einzelnen Bereichen – Herr Trittin hat manche ideologische Stimmen aus der Opposition sind, das betont – tut sie mehr. Er hat gesagt, bei den Umwelt- die sich vehement für noch mehr Wettbewerb einsetzen. verbänden sei der Haushaltsansatz seit 1998 um 70 Pro- Es ist aber doch eindeutig der globale Wettbewerb, der zent gestiegen. Meine Damen und Herren, stellen Sie sich uns in den letzten zehn Jahren die Luft zum Atmen für langfristige Umweltpolitik genommen hat. einmal vor, die FDP hätte eine Klientelpolitik betrieben, mit der sie eine Steigerung von 70 Prozent bei den Ver- Langfristigkeit in den Zeiten der Globalisierung ist ge- bänden verursacht hätte! radezu zum Luxusgut geworden. Eben dies ist eine Kata- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 797

Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (A) strophe für die Umwelt. Wer nämlich kurzfristig dispo- über die Dauer des Regierens von Regierungsbündnissen (C) niert, der kann vom Markt belohnt werden. Wer langfris- hinausgeht, muss man folglich einen großen gesellschaft- tig und ökologisch disponiert, eben nicht. lichen Grundkonsens herstellen. Es tut nämlich nicht gut, wenn eine langfristig angelegte Politik im Falle eines Die Medien verstärken auch noch diesen Trend. Was Mehrheitswechsels in der Demokratie unterbrochen und älter als 24 Stunden ist, das ist für die heutigen Medien womöglich geändert wird. Für uns, die Mitglieder der Re- schon Mittelalter. Im Sinne der heutigen Medien ist eine gierungskoalition, bedeutet das, dass wir in vielen Punk- gesunde Umwelt das Langweiligste von der Welt. Was ten auf die Opposition zugehen; aber es bedeutet natürlich gibt es da zu berichten? Da transportiert man dann lieber auch für Sie, dass Sie nicht um der Schlagzeilen willen lautstark das Klagelied über den Verlust der Langzeitori- jede Mücke zum Elefanten machen und versuchen, immer entierung. nur das Schlechte herauszupicken. Auch Geld verdienen kann man übrigens mit einer ge- Worauf können wir uns denn vernünftigerweise einigen? sunden Umwelt nicht so gut. Wenn heute jemand mit Um- Diese langfristige Einigung kann in der Hauptsache eigent- welt Geld verdient, dann meistens, weil es der Umwelt lich nur darin bestehen, dass wir so etwas wie eineöko- nicht gut geht oder weil mindestens Risiken erkennbar logische Neuausrichtung des technischen Fortschritts werden. Dann kann man messen, steuern und regeln, man lernen. Das ist sehr wohl möglich. Wir können zum Bei- kann sanieren, filtern und rezyklieren, man kann mit Auf- spiel lernen, aus einer Kilowattstunde oder aus einem Fass lagen genehmigen und Risiken versichern. Öl mindestens viermal so viel Wohlstand, mindestens Aber das war im Wesentlichen diePhase der klassi- viermal so viel Mobilität, mindestens viermal so viel be- schen Umweltpolitik, als es der Umwelt so schlecht ging, hagliche Raumwärme in unseren Häusern usw. herauszu- dass man all diese Maßnahmen ergreifen musste. Das war holen, wie es heute der Fall ist, und zwar zusätzlich zum die hohe Zeit der Umwelttechnik, vor 20 oder vor 30 Jah- Ausbau der Erneuerbare-Energien-Quellen. ren, in den neuen Bundesländern noch vor zehn Jahren. Das mag 40 Jahre dauern; das sind zehn Legislaturpe- Da war der Umweltschutz noch etwas Kurzfristiges. Es rioden heutiger Länge. Das ist sicher mehr, als eine Partei ging um unmittelbare Gefahrenabwehr, es ging um Trink- oder eine Koalition an der Regierung bleibt. Unabhängig wasser, Badegewässer, die Luft zum Atmen, die Spiel- von den politischen Mehrheiten muss dann die Energie- plätze der Kinder, die giftigen Holzschutzmittel und um produktivität um 3 bis 4 Prozent pro Jahr gesteigert wer- unerträglichen Lärm. In dieser Zeit haben auch die Me- den. Das können unsere Enkel und die Nichtgeborenen dien noch richtig mitgemacht. von unserer Generation verlangen. Wir können von Glück sagen, dass es unabhängig von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Parteizugehörigkeit der jeweiligen Umweltminister in (B) DIE GRÜNEN) (D) diesen letzten 30 Jahren gelungen ist, die unmittelbaren Gefahren abzuwenden. Insofern ist es eigentlich ein gutes Das ist übrigens in keiner Weise utopisch. Das Statisti- Zeichen, wenn wir es uns leisten können, die staatlichen sche Bundesamt hat erst vor ein paar Wochen neue Zahlen Ausgaben für den Umweltschutz zurückzufahren. Ich darf vorgelegt, die besagen, dass die Energieproduktivität in auch Ihnen, lieber Herr Kollege Paziorek und lieber Herr den letzten zehn Jahren jedes Jahr um 1,8 Prozent gestei- Kollege Eberl, sagen: Es ist nicht unbedingt ein schlech- gert worden ist. Es geht also im Grunde genommen nur tes Zeichen für den Zustand der Umwelt, wenn diesernoch um eine Verdoppelung dessen, was ohnehin schon Haushalt zurückgefahren werden kann. passiert ist. Das ist sehr wohl zu leisten. Es wird aber nicht stattfinden, wenn es der Politik nicht gelingt, einen lang- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Aber erst nach fristigen Rahmen zu setzen, damit es sich für die Privat- einer ordentlichen Analyse, wie die Umwelt- wirtschaft und natürlich auch für die öffentliche Hand situation ist!) lohnt, sich an einem solchen Pfad auszurichten. – Ja, die trage ich gerade vor. Das ist doch eine sehr or- Frau Kollegin Ferner hat mit Recht schon darauf hinge- dentliche Analyse. wiesen, dass ein großer Teil der heutigen Umweltpolitik (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und gar nicht mehr im Umweltressort stattfindet, sondern in der FDP – Beifall bei Abgeordneten der SPD vielen anderen Ressorts. Die ökologische Neuausrichtung und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des technischen Fortschritts, also das, wovon ich hier spre- che, macht natürlich nur einen Teil der Aufgaben des Um- Langfristig darf uns das natürlich noch nicht beruhi- weltressorts aus. Das Technologieressort, das Verkehrsres- gen. Wir müssen uns mit denjenigen Gefahren vermehrt sort, das Agrarressort, das Ressort für Entwicklungspolitik auseinander setzen, die heute zum Teil schon sichtbarund viele andere Ressorts haben damit ebenfalls zu tun. sind – Frau Eichstädt-Bohlig hat die Unwetterkatastro- Bei der Diskussion des Haushalts des Umweltministers phen angesprochen –, die zum größeren Teil aber noch kommt es also darauf an, auch die Haushalte der anderen nicht sichtbar sind, etwa die Endlagerung von radioakti- Ressorts systematisch anzuschauen. Das tun wir auch. ven Abfällen, der Anstieg der Meeresspiegel, der Verlust der biologischen Vielfalt durch versäumten Naturschutz Die ressortübergreifende Umweltpolitik ist natürlich oder die ökologischen Langzeitrisiken der Agrargentech- der Kern der nachhaltigen Entwicklung. Wir werden da- nik. rauf achten, dass diese Aufgabe nunmehr endlich auch auf der parlamentarischen Ebene entschlossen angegangen Über die langfristige Umweltpolitik, die notwendiger- wird. Das ist ein Teil des Auftrags unserer Koalitionsver- weise über die Dauer von Legislaturperioden und sogar einbarung. Ich persönlich werde mich dafür einsetzen, 798 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker (A) dass dieser Auftrag insbesondere vom Umweltausschuss Albrecht Feibel (CDU/CSU): (C) kompetent und wirksam wahrgenommen wird. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Besonders in wirtschaftlich schwierigen Zeiten besteht gen! Auch ich will die Frage nach der intelligenten Poli- immer die Gefahr, dass dasNachhaltigkeitsdreieck tik stellen, die die Kollegin angesprochen hat. Es wäre si- „Ökologie, Ökonomie und Soziales“ ohne die Ökologie cherlich intelligente Politik, wenn wir eine effiziente stattfindet. Wir müssen dafür sorgen, dass das Dreieck Umweltpolitik, die zudem noch nachhaltig sein will, auch ökologisch ausgewogen ist. Dafür müssen wir aber auch als gute Wirtschaftspolitik betrachten würden. Oder die Konfrontation zwischen Ökologie und Ökonomie so umgekehrt ausgedrückt: Eine verantwortungsvolle Wirt- weit wie möglich überwinden. Das gelingt insbesondere schaftspolitik muss doch auch immer eine gute Umwelt- dann, wenn die Umweltpolitik noch wirtschafts- und so- politik sein. Das Ziel sollte in jedem Fall sein, dass wir ne- zialverträglicher wird. ben der Umweltpolitik auch die Arbeitsplätze im Auge Hier sehe ich zwei ganz unterschiedliche Baustellen. haben. Das ist erstens – das habe ich bereits gesagt – die lang- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ fristige Neuausrichtung des technischen Fortschritts. DIE GRÜNEN]: Das haben wir!) Zweitens ist das etwas ganz anderes: Wir brauchen eine Entfrachtung der klassischen Umweltpolitik von einer für Wenn ich da Bilanz ziehe, Frau Kollegin, dann muss ich die Wirtschaft unnötig teuren und in dieser Form auch gar sagen: Bei der Aufgabe, Arbeitsplätze im Umweltbereich nicht mehr zeitgemäßen Bürokratie. Als es bei der Um- zu schaffen, ist die Politik von Rot-Grün noch meilenweit weltpolitik noch um unmittelbare gesundheitliche Gefah- von einem Erfolg entfernt. renabwehr ging, zahlte man den Preis einer hohen Rege- (Beifall bei der CDU/CSU) lungsdichte einigermaßen klaglos – alles andere hätte ja zynisch ausgesehen. Heute aber, da die Emissionen der Ich will ferner sagen: Wir fordern nicht immer mehr klassischen gesundheitsbedenklichen Schadstoffe radikal Geld. In dieser Debatte hat keiner von unseren Rednern zurückgegangen sind, ist es mit Sicherheit möglich, bei von der CDU/CSU mehr Geld gefordert. Genehmigungen von Anlagen wesentlich unbürokrati- scher vorzugehen, als das früher der Fall war. So sind etwa (Elke Ferner [SPD]: Das hörte sich aber befristete Genehmigungen denkbar, bei denen die Behör- anders an!) den nicht mehr die Gewissheit suchen müssen, dass die Wir bewerten den Haushalt des Bundesumweltministers. Anlage auf alle Zukunft sicher dasteht. Wir betrachten seine tatsächliche Aufgabenstellung und Danach ruft ja auch die Wirtschaft. Nur, wenn die Wirt- seine Zuständigkeit. Sie steht eigentlich im krassen Ge- schaft nach dieser Art von Deregulierung ruft, dann muss gensatz zu den Ansprüchen, die der Umweltminister im- (B) sie wissen, dass auch das einen Preis hat, nämlich den mer erhebt. (D) Preis einer verschärften Umwelthaftung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Vorsitz: Präsident ) Er schmückt sich gern mit fremden Federn. Er verteilt Es ist vollkommen inkonsistent, wenn man nach Deregulie- massenweise Ökosiegel und begeht damit reihenweise rung ruft, für die wir von der Regierungsseite sehr offen Etikettenschwindel. sind, dann aber gleichzeitig Umwelthaftung radikal ablehnt. Krassestes Beispiel dafür ist die ökologische Steuerre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ form. Die so genannte Ökosteuer, die weder öko noch lo- DIE GRÜNEN) gisch ist, dient ausschließlich dazu, die Löcher in der Ren- tenkasse und im Bundeshaushalt zu stopfen. Die Entfrachtung der Umweltregulierung darf schließlich nicht zulasten der Umwelt gehen. Eine schlankere Rege- (Elke Ferner [SPD]: Die Löcher, die Sie aufge- lung der Zuständigkeit für Gewässerschutz zwischen EU, rissen haben!) Bund und Ländern schadet aber überhaupt nicht der Um- Sie wird ungerechterweise von allen Autofahrern an der welt, sondern nützt ihr. Tankstelle kassiert. Mit dieser Steuer werden keine öko- Ich weiß mich mit den Handelnden sowohl in der Wirt- logischen Projekte gefördert und wird kein neues ökolo- schaft als auch in der Umwelt einig darin, dass wir eine gisches Verhalten bewirkt. umwelt- und wirtschaftsverträgliche Deregulierung im (Elke Ferner [SPD]: Natürlich!) Laufe der nächsten drei oder vier Jahre gewaltig voran- treiben können. Auch da sehe ich viele Gemeinsamkeiten In Wirklichkeit verteuert die Ökosteuer nur deutsche Pro- zwischen der heutigen Regierungsseite und der heutigen dukte, erschwert die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Oppositionsseite. Unternehmen und vernichtet somit Arbeitsplätze. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bis heute ist es Ihnen, Herr Minister, leider nicht gelun- DIE GRÜNEN) gen, eine echte Ökosteuer EU-weit gemeinsam mit Ihren Kollegen aus den anderen Mitgliedstaaten durchzusetzen, sodass die dramatische Wettbewerbsbenachteiligung un- Präsident Wolfgang Thierse: serer Wirtschaft abgebaut werden könnte. Der Steue- Ich erteile das Wort dem Kollegen Albrecht Feibel,rungseffekt Ihrer Ökosteuer liegt einzig und allein darin, CDU/CSU-Fraktion. dass die Autos billigere Tankstellen ansteuern – insbeson- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 799

Albrecht Feibel (A) dere im Grenzraum wird im Ausland getankt – und – das [SPD]: Haben Sie einmal was vom Wirkungs- (C) ist das Schlimme dabei – dass deutsche Unternehmen ihre grad gehört?) Betriebe dorthin verlagern, wo die Produktion durch und sich darauf verlassen, dass Ihre Politik langfristig günstigere Energiekosten wettbewerbsfähiger wird. Des- nachhaltig ist. Die Menschen, die das gemacht haben, sind halb ist Ihre Ökosteuer ein ökologischer, ein umweltpoli- heute die Betrogenen. tischer Flop. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich nenne ferner die Holzabfäller die Sie ebenfalls Auch ihre Marktanreizprogramme für erneuerbarehöher besteuern. Unter Holzabfällen kann sich ein Nor- Energien sollten Sie einmal kritisch überprüfen. Einer- malbürger kaum etwas vorstellen. Dahinter verbergen seits müssen finanzieller Aufwand und ökologischer Nut- sich die so genannten Pellets, von der rot-grünen Regie- zen gegeneinander abgewogen werden, andererseits sollte rung als neuer Energieträger für die Zukunft bejubelt. beispielsweise der Aufbau immer neuer Windkraftanla- Auch wer sich darauf verlassen hat, zählt heute zu den gen nicht dazu führen, dass unsere Landschaft so ver- Dummen, weil er zusätzlich steuerlich belastet wird. schandelt wird, dass sie für die Anwohner, aber auch für die Touristen abstoßend wirkt. Dann noch ein Beispiel, das in die Advents- und Weih- nachtszeit passt: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (René Röspel [SPD]: Kerzensteuer!) Außerdem mussten wir kürzlich von Umweltschützern hören, dass die bisher aufgebauten Windkrafträder jähr- Sie wollen deutsche Weihnachtsbäume höher besteuern, lich etwa 500 000 Vögel töten. während die importierten ungeschoren bleiben. (Horst Kubatschka [SPD]: Oh!) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Ein Umweltminister, der auch für den Naturschutz zu- Darüber können Sie lachen, aber aus Polen und Dänemark ständig ist, müsste dieses Signal ernst nehmen und bei importierte Weihnachtsbäume müssen über weite Strecken ihm müssten die Alarmglocken läuten. Dass wir uns rich- transportiert werden, in der Regel mit LKWs. Wenn das tig verstehen, meine Damen und Herren: Die CDU/CSU Ihr ökologisches Verständnis ist, dann weiß ich, warum ist selbstverständlich für die Nutzung der Windkraft, al- Sie den Menschen dieses Geschenk auch noch unter den lerdings muss die Frage erlaubt sein, ob es Sinn hat, mit- Weihnachtsbaum legen. hilfe überzogener Fördersätze solche Anlagen an jeder be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- liebigen Stelle zu errichten. Aber offensichtlich fehlt neten der FDP) Ihnen auch in diesem Bereich das nötige Augenmaß. Des- (B) halb meine Bitte, Herr Minister: Prüfen Sie doch einmal Der Minister hat offensichtlich im Kabinett nicht den not- (D) landschaftsfreundlichere Alternativen zur Energieerzeu- wendigen Mumm oder es ist ihm alles egal, wenn er das, gung mit Windkrafträdern. Deren Förderung sollten Sie was Eichel bestimmt, so passieren lässt. ins Auge fassen. Nun noch kurz ein Blick auf den Einzelplan 16. Er lässt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eigentlich nur einen Schluss zu, nämlich dass Ihr Minis- terium ganz wesentlich damit beschäftigt ist, sich selbst Auch wenn Sie das hier immer wieder erwähnte so ge- zu verwalten. nannte Sparpaket – in Wirklichkeit ist es ein Steuerer- höhungspaket – Ihres Kabinettskollegen Eichel betrach- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es!) ten, müssten Ihnen die Tränen kommen. Ist Ihnen Dieses Haus ist unter der rot-grünen Regierung zu einer eigentlich schon einmal aufgegangen, welches umwelt- echten Sich-Selbstverwaltungsbehörde verkommen. Beleg politische Desaster sich hier anbahnt? Ich nenne einige dafür ist die Tatsache, dass seit der Übernahme des Minis- Beispiele: teriums durch Herrn Trittin derVerwaltungshaushalt Jahrelang haben Sie für umweltfreundliche Energie- kontinuierlich gewachsen ist, während derProgramm- nutzung geworben. Jetzt werden die Menschen zur Kasse haushalt, also die Förderung von Umweltprogrammen gebeten und enttäuscht. Das Gleiche gilt Nacht- für und Umweltaktivitäten, außerordentlich großen Schwan- speicheröfen. kungen unterliegt. Tendenziell geht diese Förderung nach unten. (Horst Kubatschka [SPD]: Du meine Güte! Das ist doch wirklich die Höhe! – Elke Ferner (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Hört! Hört!) [SPD]: Das ist von vorgestern!) Unter der Bundesumweltministerin Merkel betrug der Ich habe mich vorhin gewundert, dass ein Kollege auf die Verwaltungshaushalt 175 Millionen Euro und der Pro- 50er- und 60er-Jahre Bezug genommen hat. Das war in grammhaushalt 194 Millionen Euro. den 70er-Jahren, als die Genossen so richtig energiegläu- (Elke Ferner [SPD]: Was ist dabei big in Richtung Kernenergie geblickt haben. herumgekommen?) (René Röspel [SPD]: Da haben wir dazuge- Heute beträgt der Verwaltungshaushalt, die globale Kür- lernt!) zung eingerechnet, 222 Millionen Euro. Demgegenüber Da haben die Menschen Nachtspeicheröfen gekauft steht ein wesentlich niedrigerer Programmhaushalt. (Elke Ferner [SPD]: Im Gegensatz zu Ihnen (Elke Ferner [SPD]: Wie viel hat Frau Merkel haben wir dazugelernt! – Horst Kubatschka noch für Atomernergie aufwenden müssen?) 800 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Albrecht Feibel (A) Für den gesamten Einzelplan des Bundesumweltminis- (Karsten Schönfeld [SPD]: Was haben die (C) ters ist eine Absenkung um 3 Prozent gegenüber 2002 ge- denn mit dem Geld gemacht?) plant, während der Gesamthaushalt nur um 1,8 Prozent Natürlich ist es richtig, die Frage zu stellen: Was ma- abnehmen soll. Der Programmhaushalt wird sogar um chen die damit? 5 Prozent gekürzt. Das ist sicher kein Ausdruck der Durchsetzungsfähigkeit eines Ministers für Umwelt, Na- (Zuruf von SPD: Ja, genau!) turschutz und Reaktorsicherheit Aber diese Frage müssen Sie auch den Verbänden stellen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. die Ihnen besonders nahe stehen. Sie müssen überall kon- Birgit Homburger [FDP]) trollieren, was mit dem Geld gemacht wird. und kein Zeichen einer Akzentsetzung für eine angeblich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nachhaltige Umweltpolitik. Wenn Sie das, was dieser Verband leistet, einmal ob- (Jörg Tauss [SPD]: Da würde ich mich mal jektiv, unvoreingenommen und unideologisch betrachten, zurückhalten!) dann werden Sie feststellen, dass dort eine wichtige Ar- beit geleistet wird. Ich habe aber den Eindruck, dass das Herr Minister, Sie schaffen es nicht einmal, im Kabinett Wort „Heimat“ den Minister oder die rot-grüne Koalition eine Reduzierung Ihres Einzelplans in der Größenordnung, arg stört. Deshalb muss dieser Verband abgestraft werden. wie sie für den Gesamthaushalt vorgesehen ist, durchzu- Er ist offensichtlich nicht regierungskonform genug. Des- setzen. halb verdient Ihr Vorgehen unsere Kritik. Außerdem ist es mehr als bedauerlich, dass die meisten Aber Kritik ist nicht nur in diesem Punkt, sondern all- Umweltprogramme federführend von anderen Ministe- gemein, wie ich es dargelegt habe, angezeigt. Es gibt zu rien betreut werden. Dort werden die großen Summen viel Verwaltung und zu wenig Programm. Deshalb wer- ausgegeben, die die Qualität der Umweltpolitik ausma- den wir den Einzelplan 16 ablehnen. chen. Der Minister redet immer sehr viel von Haushalts- kompetenz, aber er hat sie im Grunde genommen nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Elke Ferner [SPD]: Gucken Sie sich einmal Ihren Kleingartenminister im Saarland an!) Präsident Wolfgang Thierse: Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit Nun hat Kollege Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grü- nen, das Wort. dieser rot-grünen Politik ein massiver Bedeutungsverlust für das Umweltministerium verbunden ist. (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Reinhard Loske (D) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abschließend will ich noch ein besonders Problem an- Nach diesem flammenden Plädoyer für die deutsche sprechen. Bürger, Organisationen und Verbände, die sich Tanne, die wir alle natürlich lieben – wir alle sind hei- größtenteils ehrenamtlich in den Dienst des Umwelt-matverbunden; in der Eifel haben wir viele Tannen und schutzes stellen, werden von Ihnen offensichtlichbekommen Tannen aus dieser Region; soweit ich weiß, zunächst einmal auf ihr politisches Wohlverhalten und auf geht auch nach den Steuergesetzen der Bundesregierung ihre politische Übereinstimmung mit bündnisgrüner Ideo- alles in diesem Bereich geordnet weiter –, will ich auf die logie überprüft, bevor eine Verbands- oder Projektförde- Grundlagen der Umweltpolitik eingehen. Zunächst ein- rung gewährt wird. mal möchte ich bei dem ansetzen, was der Kollege (Waltraud Lehn [SPD]: Ha, ha!) Paziorek gefragt bzw. der Kollege Eberl moniert hat: bei der Zielsetzung und der Zielerreichung. Dabei will ich Jüngstes Beispiel ist der Bund für Heimat und Umwelt, kurz den Blick zurückwerfen, bevor ich nach vorn schaue. (Lachen der Abg. Waltraud Lehn [SPD]) Ich glaube, es gibt im Rückblick, aus der Perspektive – lachen Sie ruhig! –, der unter seinem Dach 3 Millionen des Jahres 2002, kaum einen Bereich im Koalitionsver- Mitglieder zählt. Ich denke, diese Zahl kann sich sehen trag von 1998, wo das, was aufgeschrieben worden ist, so lassen. umgesetzt worden ist wie im Umweltbereich. Wir haben gesagt: Wir machen die ökologische Steuerreform. – Wir (Waltraud Lehn [SPD]: Aber es ist ein haben sie gemacht. Wir haben gesagt: Wir machen den Heimatverein!) Atomausstieg. – Wir haben ihn gemacht. Manche DGB-Gewerkschaft ist nicht so groß. (Zurufe von der CDU/CSU: Aber wie?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben gesagt: Wir fördern die erneuerbaren Energien. – Der Bund für Heimat und Umwelt bekam im Jahr 2000 Wir haben es gemacht. Wir haben gesagt: Wir novellieren noch 184 576 Euro an institutioneller Förderung. 2001 ha- das Bundesnaturschutzgesetz. – Wir haben es gemacht. Wir ben Sie die Förderung auf 138 560 Euro zurückgeführt. haben gesagt: Wir entwickeln ein nationales Klima- schutzprogramm. – Wir haben es gemacht. Das heißt, bei (René Röspel [SPD]: Was macht er denn da- uns sind Wort und Tat deckungsgleich. Bei Ihnen ist das mit- mit?) nichten der Fall. Hier besteht ein gewaltiger Unterschied. Bis zum Jahr 2005 wird die Förderung auf null zurückge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN führt. und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 801

Dr. Reinhard Loske (A) Manche Ziele haben wir uns planvoll gesetzt. Andere Ich kann vor allen Dingen die Union im Hinblick auf (C) sind gewissermaßen im Laufe der Legislaturperiode ent- das Dosenpfand nur davor warnen, auf zivilen Ungehor- standen. Sie waren schon diffus vorhanden, sind abersam zu setzen und bestimmte Praktiken zu kopieren. durch bestimmte Umstände in den Vordergrund gerückt. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das werden Nehmen wir beispielsweise das ThemaAgrarwende. Sie von uns nie hören! – Natürlich hatten wir klare Vorstellungen davon, dass es in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die Dose diesem Bereich in eine andere, in eine naturverträgliche auf die Barrikade!) Richtung gehen muss. Dies war am Anfang äußerst schleppend; das gebe ich ohne weiteres zu. Als dann aber Das ist der Weg, den wir nicht gehen können. die Probleme auftauchten, zum Beispiel BSE, MKS (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN usw. – Sie erinnern sich noch –, da hatten wir die not- und bei der SPD) wendigen Konzepte parat und konnten mit der Agrar- wende beginnen. Ich will kurz den Blick nach vorne richten. Wir haben bereits auf die Maßnahmen der letzten Legislaturperiode Zur Glaubwürdigkeit gehört eben, dass man die The- hingewiesen; der Minister hat sie beschrieben. In dieser men wirklich vorbereitet und man dann, wenn sie anste- Legislaturperiode geht es uns ganz klar um die Prinzipien hen, gute Konzepte hat und sich nicht nur auf Kritik be- „Fortsetzung der Energiewende und der Agrarwende“. schränkt, wie Sie das tun. Auch hier besteht ein gewaltiger Wir wollen auch die Verkehrswende etwas systematischer Unterschied. angehen. Wir werden beim Bundesverkehrswegeplan se- hen, wo Sie stehen. Sie werden immer nur mehr und mehr (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- fordern; da bin ich mir ganz sicher. Wir wollen den Kioto- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Prozess, die Kreislaufwirtschaft, die Flusspolitik und die Ein weiteres Beispiel ist die Flusspolitik. Hier war es Flächenentsiegelung systematisch voranbringen. Das ganz ähnlich. Wer 1998 oder 1999 gesagt hätte, die Bun- sind unsere Ziele. destagswahl 2002 wird möglicherweise durch die Frage, Es wurde hier seitens der Opposition gesagt, es seien wie wir mit unseren Flüssen umgehen, entschieden, der keine Arbeitsplätze geschaffen worden. Das ist natürlich hätte nur ein müdes Lächeln geerntet. Ich glaube, das ist totaler Blödsinn. Im Bereich der erneuerbaren Energien jedem klar. arbeiten heute 130 000 Menschen Fakt ist aber, dass die Menschen, als das Thema im Au- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gust dieses Jahres aktuell wurde, erkannt haben: Die rot- und bei der SPD) grüne Koalition hat schon bei der Donau und dann schritt- weise bei der Elbe, der Saale usw. die Weichen in dieund im Bereich der Altbausanierung 300 000 Menschen. (B) richtige Richtung gestellt und hat etwas für den Klima- Sind das keine Arbeitsplätze? Ich bitte Sie; es ist doch Un- (D) schutz getan. Das heißt, wir waren auf Themen vorberei- fug, was Sie hier erzählen. tet, die nicht unbedingt oben auf der Agenda standen. Wir Sie müssten sich einmal gewissenhaft fragen: Warum haben unsere Hausaufgaben gemacht. Auch hier besteht haben all jene, denen die Ökologie so sehr am Herzen liegt, ein gewaltiger Unterschied. Es reicht nicht aus, nur zu kri- entweder aus Idealismus oder weil sie ihr strategisches Ge- tisieren. Man muss Konzepte anbieten. Das muss man von schäftsfeld betrifft, eine panische Angst davor gehabt, dass der Opposition verlangen. am 22. September die Mehrheit hätte wechseln können? Diese Frage sollten Sie sich einmal stellen. Sie werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch schnell die Antwort finden: weil Sie nichts anzubie- und bei der SPD) ten haben. Das unterscheidet uns fundamental. Genauso sieht es bei derVerpackungsverordnung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus. Sie schwingen hier andauernd hin und her. Damals, und bei der SPD) als die Themen BSE, MKS usw. aktuell wurden, haben Sie die Diskussion angeführt. Ein Jahr später wollen Sie in der Agrarpolitik eigentlich nichts ändern. Präsident Wolfgang Thierse: Die Dose ist ein typisches Beispiel hierfür. Ein Minis- Herr Kollege Paziorek, ich erteile Ihnen das Wort zu ei- ter Ihrer Partei hat damals vernünftigerweise das Konzept ner Kurzintervention. einer Verpackungsverordnung entwickelt. Sie wurde (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 1997 bzw. 1998 novelliert. Als es dann zum Schwur kam, NEN]: Der hält jetzt eine Feuerrede für die als sich die Mehrwegquote im freien Fall befand und wir Dose!) gefordert haben: „Jetzt müssen wir handeln“, da haben Sie sich verabschiedet und gesagt: Lasst uns doch eine frei- willige Selbstverpflichtung machen! Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): Das passt nicht zusammen. Zu einem glaubwürdigen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Handeln des Staates gehört es, zu sagen: Wir räumen der kurz auf die Bemerkungen des Kollegen Loske eingehen, Wirtschaft im Rahmen einer freiwilligen Selbstverpflich- der vieldeutig darauf hinwies, dass vielleicht aus Reihen der Opposition ein ziviler Ungehorsam gegen diese Rege- tung ein, das selbst zu entscheiden. Aber wenn ihr die ge- lung unterstützt werden könnte. steckten Ziele systematisch unterschreitet – da sind wir beim Monitoring –, dann verabschieden wir ein entspre- (Zurufe von der CDU/CSU: Wir sind doch chendes Gesetz. – So machen wir es jetzt. keine Grünen!) 802 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Dr. Peter Paziorek (A) Um es klar und deutlich zu sagen: Herr Loske, das Bild ist sind. Die Panikmache und der Klamauk, die heute Mor- (C) falsch. Auch wenn wir der Ansicht sind, dass heute im gen hier von einigen betrieben worden sind, helfen dabei Vergleich mit dem Dosenpfand bessere Instrumente exis- sicherlich niemandem. tieren – Sie kennen meine persönliche Einlassung dazu; (Beifall bei der SPD – [CDU/CSU]: ich bin ein Anhänger der Abgabe gewesen; denn sie hätte Dass Sie jetzt den Eichel kritisieren!) einerseits die Dose verteuert, andererseits wäre sie ein un- bürokratisches Instrument gewesen –, habe ich heute noch Die Menschen wollen nämlich keinen Klamauk und in einem Pressegespräch erklärt, dass niemand davon aus- auch kein Gejammer, sie wollen Taten sehen. Was unser gehen kann, dass die Union in dieser Frage interessierte Land in einer solchen Situation braucht, ist ein vernünfti- Kreise unterstützen wird, gegen geltendes Recht in der ges Konzept, Form vorzugehen, wie Sie es gerade als zivilen Ungehor- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das Sie leider sam bezeichnet haben. Das geht in einem Rechtsstaat nicht haben!) nicht. das an dem Ziel der Haushaltskonsolidierung festhält und Es stellt sich jetzt natürlich die Frage, dass sich der zugleich die notwendigen Strukturreformen auf gerechte Staat, verantwortliche Stellen, Ordnungsbehörden und Art und Weise vorantreibt. Wir haben ein solches Konzept. beteiligte Kreise unabhängig davon, wie heftig und viel- leicht wie falsch in den letzten Wochen die Diskussion ge- Wir gehen einen Weg, der Voraussetzungen für mehr laufen ist, zusammensetzen müssen, um von den Barrika- Innovation, wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeits- den herunterzukommen und einen Weg zu finden, derplätze schafft. Ich frage Sie, meine Damen und Herren unbürokratisch und rechtlich angemessen ab dem 1. Ja- von der Opposition: Wo ist Ihr Konzept? nuar beschritten werden kann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Drohgebärden, die in den letzten Tagen noch mit DIE GRÜNEN) Blick auf die Kontrollmechanismen ausgesprochen wur- Wo setzen Sie die Schwerpunkte des Haushalts? Wo wol- den, sind falsch. Auch der zivile Ungehorsam wäre falsch. len Sie sparen? Wo sagen Sie: „Hier müssen wir zusätz- Wir müssen jetzt eine Lösung finden, mit der wir daslich investieren“? Recht sauber umsetzen können. Alle Parlamentarier sind zu einer solchen Haltung, die die Rechtsordnung akzep- (Ulrike Flach [FDP]: Warten Sie es ab!) tiert, verpflichtet. Wollen Sie etwa bei den Ausbildungsplätzen im Osten (Beifall bei der CDU/CSU) sparen? Ich habe gesagt: Nein, hier müssen wir einen Schwerpunkt setzen, damit die Jugendlichen weiterhin (B) eine Ausbildungschance haben. (D) Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der SPD) Kollege Loske, möchten Sie antworten? – Bitte schön. Bei uns, bei unserer Politik der vergangenen vier Jahre, sind die Mittel für Bildung und Forschung gegenüber 1998, Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ihrem letzten Regierungsjahr, meine Herren und Damen Ich will nur darauf verweisen, dass das Inkraftsetzen von der Opposition, um mehr als 25 Prozent gestiegen. von Recht und Gesetz keine Drohgebärde ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN) und bei der SPD – Dr. Peter PaziorekDamit haben wir in der letzten Legislaturperiode rund [CDU/CSU]: Das war was anderes! Sie haben 3,1 Milliarden Euro mehr in Bildung und Forschung in- gesagt: „Zum zivilen Ungehorsam auffor- vestiert als Sie, meine Herren und Damen der Opposition, dern“!) in den vier Jahren Ihrer letzten Legislaturperiode. (Ulrike Flach [FDP]: Ja, und jetzt?) Präsident Wolfgang Thierse: Dieses Geld ist gut angelegt; denn die Reformen, die wir Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich mit diesen Mitteln durchgeführt haben, greifen inzwischen. liegen nicht vor. (Ulrike Flach [FDP]: Und deswegen brauchen Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes- Sie jetzt weniger?!) ministeriums für Bildung und Forschung.Ich erteile Die Zahl der Studienanfänger ist heute so hoch wie nie. das Wort der Bundesministerin Edelgard Bulmahn. Rechnet man nach den OECD-Kriterien, dann liegt die Studienanfängerquote jetzt – das sind die neuesten Zah- Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung len – bei 35,6 Prozent. Damit nähern wir uns dem OECD- und Forschung: Durchschnitt, den wir immer als Zielsetzung formuliert haben. Zur Erinnerung: Im Jahre 1998 betrug die Quote Meine sehr geehrten Herren und Damen! Liebe Kolle- der Studienanfänger nur 27,7 Prozent. ginnen und Kollegen! Die weltweite Konjunkturentwick- lung, die schwierige Situation auf dem Arbeitsmarkt und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die notwendige Neujustierung der sozialen Sicherungssys- DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Das ist die teme stellen Herausforderungen dar, die in der Tat groß Wahrheit!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 803

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Nach dem Kaputtsparen ist das neue BAföG endlich wie- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Schauen Sie sich (C) der eine Erfolgsgeschichte. Auch das ein Verdienst dieser einmal den Brief von Herrn Winnacker an, Frau Bundesregierung. Ministerin!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir kürzen im Haushalt insgesamt, aber bei Bildung und DIE GRÜNEN) Forschung halten wir das Niveau, ja, steigern es sogar Bereits im Jahre 2001 haben wir damit 91 000 jungenleicht. Im nächsten Jahr stehen für Bildung und Forschung Menschen mehr eine Chance auf qualifizierte Ausbildung insgesamt 9,1 Milliarden Euro zur Verfügung. gegeben. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: 9,1? Wo haben 16 000 Fachkräfte mehr nutzten in diesem Jahr das von Sie die denn her?) uns reformierte Meister-BAföG für ihren beruflichenTrotzdem können wir nicht, wie gewohnt, an jeder Stelle Aufstieg. Dass das jetzt endlich wieder ein Renommee hohe Zuwächse zusichern. Deshalb gibt es zum Beispiel hat, ist unser Verdienst. bei der institutionellen Förderungin diesem Jahr eine (Beifall bei der SPD) Nullrunde. Das ist nur sieben Monate nach der Reform eine Steige- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wahlbetrug ist rung um mehr als 28 Prozent gegenüber dem Vorjahr. das!) Die Steigerung bei der Projektförderung im Forschungs- Das ist keine Kürzung, wie manche behaupten. – Das bereich um mehr als 44 Prozent, die Strukturreformen, die halte ich nach den Steigerungen der letzten Jahre für ver- schwierig und hart, aber notwendig waren, tretbar, wenn es mir auch schwer fällt. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aber keine Stei- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie haben doch im gerung bei Max Planck!) Sommer noch die Erhöhung versprochen!) haben bei den Forschungsorganisationendie Innovati- – Herr Rachel, darüber diskutiere ich gerne mit Ihnen; denn onskraft unseres Forschungsstandorts gesteigert. nach unserer Auffassung muss die Forschungsförderung in den neuen Bundesländern weiterhin gesteigert werden. (Zuruf von der FDP: Und warum haben Sie jetzt null Steigerung?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU Die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen, die und der FDP) aus dem Fachprogramm des BMBF unterstützt werden, ist seit 1998 um knapp 60 Prozent gestiegen. Auch das Wenn Sie, Herr Rachel, hier beantragen wollen, dass wir passierte in den letzten vier Jahren. die Forschungsförderung dort kürzen, dann lassen Sie uns (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ darüber ernsthaft diskutieren. Wenn Sie das wollen, legen DIE GRÜNEN) Sie einen klaren Antrag auf den Tisch, Auch bei den Inlandspatenten sprechen die Zahlen eine (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wir wollen Ihre deutliche Sprache. Die Zahl der Anmeldungen ist mit Erhöhung vom Sommer, Frau Bulmahn!) 52 600 um 10 Prozent höher als vor vier Jahren. aber satteln Sie nicht immer drauf, ohne zu sagen, an wel- Gerade in der Bildungs- und Forschungspolitik sollte cher Stelle Sie dann kürzen wollen. man sich nicht allein mit Vorurteilen begnügen, sondern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fakten zumindest zur Kenntnis nehmen. DIE GRÜNEN – Thomas Rachel [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wo ist denn Ihre Erhöhung vom Sommer letz- DIE GRÜNEN – Thomas Rachel [CDU/CSU]: ten Jahres geblieben? Wahlbetrug haben Sie ge- Fakt ist, dass Sie Ihre Erhöhung rückgängig ge- macht!) macht haben, Frau Ministerin!) Wir kürzen bei der institutionellen Förderung nicht, son- – Dann kann man Alternativvorschläge machen, Herrdern wir machen dort eine Nullrunde. Die Forschungsor- Rachel. Wenn Sie bessere Vorschläge haben, dann disku- ganisationen erhalten also genauso viel Mittel wie im tieren wir auch gern darüber. Jahre 2002. Es gibt hier also keine Kürzung (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie haben doch (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Sie hatten eine die Erhöhung im Sommer des letzten Jahres Steigerung versprochen, Frau Ministerin!) versprochen! Was ist davon übrig geblieben? und wir werden die Forschungsförderung in den neuen Nichts! Eine Nullnummer!) Bundesländern weiter steigern, weil wir das für unab- Meine sehr geehrten Herren und Damen, unser Kurs ist dingbar und zwingend notwendig halten. eine Haushaltspolitik, in der Bildung und Forschung Pri- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Frau Ministerin, orität behalten. Sie haben eine Steigerung versprochen! – Ge- (Beifall bei der SPD – Thomas Rachel genruf der Abg. Ulla Burchardt [SPD]: Mein [CDU/CSU]: Das ist ja lachhaft!) Gott, halten Sie einmal den Mund! Sie leisten doch sowieso keinen konstruktiven Beitrag!) Diesen Kurs halten wir trotz der notwendigen Einschnitte, die wir im Gesamthaushalt durchführen müssen, wozu die – Wenn Sie anderer Meinung sind, dann sagen Sie das Länder im Übrigen auch gezwungen sind. hier. 804 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Auch beim BAföG, meine sehr geehrten Herren und Meinung nach zu Recht – dass sie auf einem hohen Ni-(C) Damen, beim Meister-BAföG oder der Nachwuchsförde- veau schnell, praxisorientiert und international ausgebil- rung kann und will ich nicht kürzen. det werden. Von diesem Ziel sind wir in Deutschland aber noch ein Stück entfernt. Ich will nicht die Augen davor (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schließen, wie es meine Vorgänger im Amt immer getan DIE GRÜNEN) haben, dass in Deutschland rund ein Drittel aller Studie- Denn wer kein Gold im Boden hat, der muss sich um das renden ihr Studium abbrechen. Das darf nicht so bleiben. Gold in den Köpfen kümmern. Wer das nicht will, der Deshalb ist ein wichtiger Schwerpunkt meiner Arbeit muss das hier auf den Tisch legen und auch klar sagen. in den kommenden vier Jahren, gemeinsam mit den Län- Wer nicht auf das Wissen und das Können der Menschen dern – denn nur so geht es – für mehr Qualität in Lehre in unserem Land setzen will – ich will das –, der muss hier und Forschung zu sorgen. Wir brauchen eine bessere Be- eine andere Position vertreten. treuung, eine bessere Beratung unserer Studierenden. Wir Mit Geld allein – auch das will ich ausdrücklich sa- brauchen klar strukturierte Studiengänge und eine bessere gen – ist es dabei nicht getan; gefragt sind das Können, die Berufsorientierung. Kreativität derjenigen, die in den Bildungseinrichtungen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und den Forschungseinrichtungen arbeiten und Verant- DIE GRÜNEN) wortung tragen. Gute Bildung, eine gute Ausbildung sind heute mehr denn je Eintrittskarten für die Welt von mor- Die Bundesregierung wird den Ländern einenPakt für gen. Wir wollen deshalb nicht, dass diese Eintrittskarten die Hochschulen anbieten. Kernpunkte sind dabei die nach dem Einkommen oder nach dem Bildungsstand der Verbesserung der Qualität des Studiums, mehr Transpa- Eltern verteilt werden, wie es in Deutschland leider immer renz durch ein umfassendes Hochschulranking, die Ein- noch viel zu sehr der Fall ist. führung eines gestuften Systems von Studienabschlüssen, eine strukturierte Förderung des wissenschaftlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nachwuchses und eine stärkere internationale Ausrich- DIE GRÜNEN) tung unserer Hochschulen. Das hat die PISA-Studie nachdrücklich offen gelegt. Eine moderne Berufsausbildung, meine sehr geehrten Wir wollen ein Bildungssystem schaffen, das Qualität Herren und Damen, bleibt ein Kernstück unserer Bil- und Chancengleichheit in den Mittelpunkt stellt, das zu- dungspolitik. Auch in Zukunft gilt: Jeder junge Mensch, gleich fördert und fordert. Das schlechte Abschneiden un- der lernen und arbeiten kann und will, soll einen Ausbil- serer Schulen bei der internationalen Vergleichsstudiedungsplatz erhalten. PISA hat uns gezeigt, dass wir damit nicht früh genug be- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Davon seid ihr (B) (D) ginnen können. Denn nur wenn wir unsere Kinder schon in den neuen Ländern noch weit entfernt!) im Grundschulalter ausreichend fördern, werden sie in Die Bundesregierung hat im Übrigen ihre Hausaufgaben den Hochschulen gut ankommen. gemacht. Wir haben zusammen mit den Sozialpartnern Be- Wir haben deshalb nicht lange nach Zuständigkeiten rufsbilder modernisiert, wir haben neue Berufe geschaffen gefragt, sondern bereits 2001 mit den Empfehlungen des und wir stellen auch im Haushalt 2003 erhebliche Mittel Forums Bildung entscheidende Weichen für die Erneue- bereit, um Jugendliche in Ausbildung zu bringen. rung des Bildungssystems gestellt. Im Zentrum steht da- Unser Berufsbildungssystem schneidet im internationa- bei die bessere und individuelle Förderung unserer Kin- len Vergleich nach wie vor gut ab. Das soll auch so bleiben. der. Fördern und Fordern ist dabei das Prinzip, das wir dabei sozusagen als Überschrift über unsere Initiativen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gestellt haben. Wir wollen Schulen mit neuen pädagogi- DIE GRÜNEN) schen Konzepten, in denen die Fähigkeiten des einzelnen Wir werden deshalb nicht auf das PISA für unser Berufs- Kindes wirklich optimal gefördert werden. bildungssystem warten, sondern wir setzen die begonnen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Reformen konsequent in den nächsten vier Jahren fort. DIE GRÜNEN) Unser Ziel ist es dabei, die duale berufliche Ausbildung auch weiterhin zu stärken, für Jugendliche mit schlechte- Deshalb wollen wir in den kommenden vier Jahren den ren Startchancen neue Qualifikationswege zu eröffnen Aufbau von zusätzlichen Ganztagsschulen fördern. Da- und mehr Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen für stellt der Bund 4 Milliarden Euro bereit. Dabei geht es zu schaffen. Dies werden wir mit der Weiterentwicklung um weit mehr als ein warmes Mittagessen und betreutes in der Weiterbildung verknüpfen, womit ich bereits in der Spielen am Nachmittag. Es geht nicht darum, den Eltern vergangenen Legislaturperiode begonnen habe. die Erziehungsaufgabe abzunehmen, sondern es geht um ein hochwertiges Bildungsangebot und um die bessere Mit einem Kraftakt sondergleichen haben wir die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Forschung in den vergangen vier Jahren gestärkt. Wir ha- ben neue Schwerpunkte gesetzt und das innovationsmüde (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Klima der 90er-Jahre überwunden. Wir haben endlich DIE GRÜNEN) wieder Anschluss an die wichtigen, großen Industrielän- Was wir in unseren Schulen beginnen, meine sehr ver- der gefunden. ehrten Herren und Damen, müssen wir auch an unseren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hochschulen fortsetzen. Studierende erwarten – meiner DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 805

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Die Projektförderung im Bereich der Forschung ist seit Allein die Mittel für die gezielte Förderung von Inno- (C) 1998 um 44 Prozent gesteigert worden. Bei den For-vationen in Ostdeutschlandsteigen im Jahre 2003 auf schungsorganisationen haben wir Zuwächse realisiert. So rund 90 Millionen Euro. Dies sind 46 Prozent mehr als im ist zum Beispiel der Bundesanteil bei der Mittelausstat- Vorjahr. Mit unseren Programmen „Inno-Regio“ und „In- tung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dernovative regionale Wachstumskerne“ legen wir einen Max-Planck-Gesellschaft um rund 16 Prozent gestiegen. Schwerpunkt darauf, die Potenziale in den Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen, aber auch in (Ulrike Flach [FDP]: Wann? Heute?) den Verwaltungen und Länderministerien Ostdeutsch- Forschung für den Menschen, Forschung für Innova- lands zusammenzubringen. Damit erschließen wir das ge- tion und wirtschaftliches Wachstum, Forschung für zu- samte Innovationspotenzial in einer Region und schaffen kunftssichere Arbeitsplätze – das sind unsere Ziele.so neue, zukunftssichere Arbeitsplätze. Dies ist unsere Deutschland nimmt bei der Aufklärung der genetischen Zielsetzung. Ursachen weit verbreiteter Volkskrankheiten inzwischen einen Spitzenplatz ein. Damit neue Forschungsergebnisse (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ künftig noch schneller den Weg in die Arztpraxen und da- DIE GRÜNEN) mit zu den Patienten finden, legen wir ein besonderes Ge- Bildung und Forschung entscheiden heute nicht nur wicht auf die enge Verzahnung von Grundlagenforschung über die Zukunft des Einzelnen, sondern auch über die und klinischer Forschung. Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft. Wer (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) diese Einsicht ernst nimmt, der darf nicht – wie Sie, meine sehr geehrten Herren und Damen von der Opposition – Mit einem Gesamtkonzept „Lebenswissenschaften“ auf der einen Seite unbezahlbare Forderungen stellen und werden wir in den nächsten Jahren die Forschung im Be- auf der anderen Seite gleichzeitig ankündigen, im Bun- reich der Gesundheitsvorsorge stärken und die Entwick- desrat eine solide Finanzierung dieser Aufgaben zu ver- lung neuer Medikamente und Therapien vorantreiben. hindern. Dies geht nicht. Das ist verantwortungslos. Damit ermöglichen wir den notwendigen Qualitätssprung in der medizinischen Versorgung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die Pharmafor- schung haben Sie gerade aus dem Land getrie- Deshalb appelliere ich an Sie: Handeln Sie nicht wei- ben, Frau Ministerin!) ter nach dem Motto „destruktiv statt konstruktiv“. Die wesentlichen Impulse für wirtschaftliches Wachs- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So etwas Billi- tum und neue Arbeitsplätze gehen von einer begrenzten ges, Frau Ministerin!) (B) (D) Anzahl von Technologien aus. Wir werden deshalb die Handeln Sie im Interesse für Bildung und Forschung und Forschungsförderung gerade dort konzentrieren, wo die damit im Interesse der Menschen in unserem Land. größte Veränderungsdynamik zu erwarten ist. Wir er- schließen neue Wachstumsfelder durch die gezielte För- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ derung der Bio- und Nanotechnologie. Wir fördern den DIE GRÜNEN – Abg. Axel E. Fischer [Karls- Ausbau der bestehenden Märkte in der Mikrosystem- ruhe-Land] [CDU/CSU] meldet sich zu einer technik, in den optischen Technologien und in der Mate- Kurzintervention) rialforschung. Wir stärken auch die Informations- und Kommunikationstechnologien, denn sie sind Wachstums- Präsident Wolfgang Thierse: motoren für viele andere innovative Branchen. Ich erteile der Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Fraktion, das Wort. DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Der Kollege Fischer wollte Gerade in diesen wichtigen Zukunftsbranchen kann die doch auch mal was sagen! Kollege Fischer, was Bedeutung – dies sage ich noch einmal ausdrücklich – wollten Sie denn? Kommen Sie mal rüber!) kleiner und mittlerer Unternehmen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Durch ihre Flexibilität, durch ihre Fähigkeit, neue Ideen auch schnell umzusetzen, und Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): durch ihre Nähe zur akademischen Forschung sind sie oft Herr Kollege Tauss, Sie sind neugierig wie immer. Ich sehr produktive Ideenschmieden für neue Verfahren und bin mir sicher, dass der Kollege Fischer Sie in Kürze auf- Produkte. Wir werden deshalb die Innovationsförderung klären wird. für KMUs weiter konsequent aufbauen. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Forschungsförderung ist auch Wirtschaftsförderung, Kollegen! Frau Ministerin Bulmahn hat eben die Auffor- und zwar in einem erheblichen Maße. Dies gilt insbeson- derung ausgesprochen: Handeln Sie im Interesse von For- dere für die neuen Länder, wo gerade forschungs- und wis- schung und Bildung! – Dazu kann ich Ihnen nur sagen, sensintensive Wirtschaftszweige eine noch zu geringe Be- Frau Ministerin: Tun Sie es doch bitte! deutung haben. Wir reden nicht nur vom Aufbau Ost, wir tun auch etwas dafür. Dies unterscheidet uns von Ihnen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir debattieren heute einen Haushalt für Bildung und DIE GRÜNEN) Forschung, von dem eine entscheidende Weichenstellung 806 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Dr. Maria Böhmer (A) für die Zukunft ausgehen muss. Wir werden diesen Haus- das inzwischen Schnee von gestern ist. Noch am 18. Juni (C) halt sehr genau unter die Lupe nehmen, um zu sehen, ob haben Sie gesagt: Die Bundesregierung setzt weiterhin das, was Sie gesagt haben, auch zutrifft oder ob es sich auf die konsequente Steigerung der Bildungs- und For- wieder um leere Versprechungen und Ankündigungenschungsausgaben in diesem Land. – Vor der Wahl haben handelt, die eine relativ kurze Halbwertszeit haben. Sie eine Steigerung Ihrer Haushaltsmittel um 2,5 Prozent und zusätzliche Gelder für den Aufbau von Ganztags- Sie haben immer wieder erklärt – ich habe das auch bei schulen in Deutschland verkündet. der Debatte über die Regierungserklärung gehört –, dass Kinder in Deutschland die besten Bildungschancen brau- chen. Das ist so. Das unterschreiben wir voll. Nur: Sie Präsident Wolfgang Thierse: müssen Ihren Worten auch Taten folgen lassen. Mit voll- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der mundigen Ankündigungen allein ist es nicht getan. Kollegin Deligöz? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Sie haben heute davon gesprochen, dass Sie auf das Aber gern. Natürlich. „Gold in den Köpfen“ setzen. Dazu muss ich sagen: Schauen Sie auf die Ergebnisse von PISA! Schauen Sie in die Ergebnisse für die unionsregierten Länder und in die Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): für die SPD-regierten Länder. Frau Böhmer, leider ist meine Meldung etwas zu spät (Jörg Tauss [SPD]: Schon wieder die alte bemerkt worden. – Ich möchte ganz kurz auf Ihr Beispiel Platte! – Gegenruf der Abg. Katherina Reiche von Bayern zurückkommen. [CDU/CSU]: Das wollt ihr nicht hören!) Ist Ihnen bekannt, dass Bayern die höchste Schulab- Wer achtet das Gold? Die SPD-regierten Länder sind zu brecherquote hat, die höchste Hauptschulabgängerquote fünft am Ende der Skala, ob es Lesekompetenz, mathe- hat, bei den Migranten, die keine Ausbildung machen matisches Verständnis oder naturwissenschaftliche Kennt- bzw. ohne Ausbildung in den Beruf hineingehen, die nisse anbetrifft. Die Toppositionen haben die Bayern, die höchste Quote hat? Baden-Württemberger und die Sachsen inne. Da zeigt (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist gar nicht sich, wer das Gold in den Köpfen wirklich achtet. wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Ist Ihnen bekannt, dass Bayern für Kinder, auch für be- Mal eine neue Platte, Frau Kollegin!) (B) nachteiligte Kinder, die, wie Sie selber zugeben, auf eine (D) – Herr Tauss, auch wenn ich Ihnen das noch einmal er- gewisse Qualität und auf einen gewissen Standard der Be- klären würde, würden Sie es nicht verstehen. Sie hängen treuung angewiesen sind, die wenigsten Angebote vor- immer noch den alten Ideologien an. hält, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist gar nicht neten der FDP) wahr!) Seit den Entwicklungen im Zuge von 1968 und der seiner- dass es auch die wenigsten Ganztagsschulen bietet, näm- zeitigen Bildungsreform müssen Kinder in Deutschland lich 24 an der Zahl, davon drei in öffentlicher Hand? Ist diesen Unterschied ertragen: SPD-Ideologie und Gewerk- Ihnen das bekannt und wie nehmen Sie dazu Stellung? schaftsideologie auf der einen Seite, (Jörg Tauss [SPD]: Das ist denen bekannt, aber (Lachen bei der SPD) das interessiert die nicht!) Bildung in den unionsregierten Ländern auf der anderen Seite. Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster Frau Deligöz, Sie wollen sicherlich hören, was ich Ih- [SPD]: Unglaublich!) nen antworte. Seien Sie doch so freundlich und bleiben Sie stehen – damit das auch für die Redezeit klar ist! Das zeigt: Die Bildungschancen in Deutschland sind un- gleich verteilt. Bei der Frage, ob man wirklich gute Start- Natürlich haben wir auch aus Bayern differenzierte Er- chancen hat, kommt es darauf an, wo man wohnt. gebnisse. Mir sind die unterschiedlichen Betreuungsan- gebote gut bekannt. Wenn Sie den Blick nur auf die An- (Jörg Tauss [SPD]: Schleswig-Holstein ist in gebote von Ganztagsschulen in Bayern lenken, dann den Naturwissenschaften vorn!) machen Sie es sich zu leicht, weil sie übersehen, dass es – Man kann natürlich immer selektiv wahrnehmen. Sehen dort sehr wohl andere Angebote gibt, zum Beispiel im Sie sich einmal an, wo Schleswig-Holstein bei PISA lan- Hortbereich, und dass die Bayern bei den Bildungsab- det! Sie werden feststellen, im unteren Drittel. schlüssen insgesamt die besten Ergebnisse vorweisen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sehr geehrte Frau Ministerin Bulmahn, vor der Bun- Ich würde jedem Kind in Deutschland wünschen, dass es destagswahl haben Sie den Menschen etwas versprochen, in Bayern die Schule besuchen kann und nicht in Nieder- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 807

Dr. Maria Böhmer (A) sachsen oder Nordrhein-Westfalen. Es ist klar, wo dieFörderprogramm für Ganztagsschulen, sondern ein neues (C) Chancen für Kinder am besten sind. Schulbauprogramm. Auch das ist eine Täuschung – weil es mit dem Anspruch verbunden wird, individuelle För- (Nicolette Kressl [SPD]: Nur nach der derung und soziales Lernen zu verbessern. Man muss die Auslese!) Wahrheit sagen und muss das tun, was man ankündigt. Ich muss an dieser Stelle auf das zu sprechen kommen, (Beifall bei der CDU/CSU) was im Haushalt gemacht worden ist, damit hier keine Märchenstunde veranstaltet wird. Das, was nach der Wahl geschehen ist, stimmt nicht mit dem überein, was vor der Präsident Wolfgang Thierse: Wahl angekündigt worden ist. Frau Kollegin Böhmer, gestatten Sie eine Zwi- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) schenfrage des Kollegen Tauss? Die Steigerung im Haushalt für Bildung und Forschung beträgt ganze 0,17 Prozent, nicht mehr. Das entspricht Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): noch nicht einmal der Teuerungsrate. Ja, natürlich. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist Wahl- betrug! – Lachen bei der SPD) Jörg Tauss (SPD): – Da hat der Kollege Rachel Recht. Frau Kollegin Böhmer, habe ich Sie richtig verstanden, (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Vorspiegeln dass Sie die Bundesregierung bitten, den Ländern pädago- falscher Tatsachen! Ihr habt die Menschen gische Konzepte für die Ganztagsschule vorzulegen? getäuscht!) Sind die Länder Bayern oder Baden-Württemberg bereit, mit uns in Verhandlungen darüber einzutreten und – ent- Auf der anderen Seite steht Ihre Ankündigung, 4 Mil- gegen der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland – liarden Euro für Ganztagsschulen in Deutschland zur entsprechende Konzepte für Personalförderung und Be- Verfügung zu stellen. Am Anfang hieß es noch, es gebe treuung in Berlin erarbeiten zu lassen? Das ist, wenn ich 1 Milliarde Euro pro Jahr, jetzt heißt es, im nächsten Jahr Sie erinnern darf, das Gegenteil dessen, was Sie uns vor gebe es 300 Millionen Euro. Sie haben immer gesagt, der Wahl vorgeworfen haben. Da nämlich haben Sie ge- Ganztagsschulen sollen dazu beitragen, dass Kinder indi- sagt, es gehe nicht an, dass wir mit den Ländern Ge- viduell gefördert werden, dass soziales Lernen voran- spräche darüber führen. Sie vorzuführen und ihnen solche schreitet und dass so eine Verbesserung im Bildungswe- Kritik zuzumuten, dürfte nicht sein, weil nämlich die Län- sen erreicht wird. Das sind wichtige Ziele. (B) der zuständig seien. Wie verträgt sich das mit dem, was(D) (Jörg Tauss [SPD]: Das ist vernünftig! Da sind Sie uns hier vorgetragen haben? wir uns einig!) – In diesen Zielen sind wir uns einig. Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): (Jörg Tauss [SPD]: Wunderbar!) Herr Tauss, ich darf Ihnen das Kompliment machen, dass Sie den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Es ist Doch was beinhaltet eigentlich der Entwurf der Verwal- völlig richtig: Der Bund darf sich nicht in die Angelegen- tungsvereinbarung? Im Entwurf vom 6. September – das heiten der Länder mischen, was die Ausgestaltung der war wohlgemerkt noch vor der Wahl; es ist beachtlich, Schulen und die pädagogischen Konzepte angeht. Daran wie Sie vorgearbeitet haben – steht: Finanzhilfen des Bun- werden wir festhalten; denn wir wollen keinen Zentralis- des – für die Länder, für den Aufbau von 10 000 Ganz- mus und keine Nivellierung. tagsschulen – werden gewährt für notwendige Renovie- rungsarbeiten, Umbau-, Ausbau- und Neubaumaßnahmen Aber, Herr Tauss, der Irrtum, den Sie begehen, liegt einschließlich der Erstausstattung. Ich frage mich: Wie schon im Finanzierungsansatz. Wo keine Aufgabe ist, soll mit dem Streichen von Wänden, mit dem Renovieren können Sie auch keine Finanzmittel zur Verfügung stel- von Räumen eine individuelle Förderung von Kindern ge- len. Sie müssen einen anderen Weg gehen. Diesen ande- lingen? ren Weg haben Ihnen die Kultusminister der Länder auf- gewiesen. Wir sind bereit, ihn gemeinsam zu gehen. (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist Polemik!) Rechnen Sie Ihre 4 Milliarden Euro einmal auf die Dafür brauchen Sie keine Steine oder, wie Herr Merz Länder um. Das sind Almosen, heute Morgen gesagt hat, Beton; Sie brauchen Lehrkräfte und Betreuungskräfte für den Nachmittag. Mit Ihrem Pro- (Lachen bei der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: gramm wird kein einziger Lehrer in Deutschland für Was haben Sie für ein Verhältnis zum Geld? Ganztagsschulen eingestellt. Unglaublich!) Es ist richtig, dass die Kultusministerin Hohlmeier aus wenn das auf die Länder und ihre Schulen verteilt wird. Bayern darauf hingewiesen hat: Wir brauchen kein Geld, Diese Summe ist – das sage ich ganz bewusst –, lediglich um Schulen umzubauen, sondern um geeignete Betreuer eine Anschubfinanzierung. Die Schulträger, die Länder und für die Nachmittage zu bezahlen. – Darin liegt vielleicht die Kommunen, bleiben so auf den Hauptkosten sitzen. der Schlüssel des Problems. Hier werden Finanzmittel an Diese Hauptkosten sind Personalkosten und Unterhaltskos- die falsche Stelle geleitet. Was hier aufgelegt wird, ist kein ten. Sie müssen zu einer soliden Finanzierung kommen. 808 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Dr. Maria Böhmer (A) Hier ist auch der Bund gefordert. Sie dürfen einen fairen Westfalen reicht dazu; denn in Nordrhein-Westfalen ha- (C) Anteil an der Umsatzsteuer an die Länder weitergeben, da- ben wir bekanntermaßen die meisten Ganztagsschulen. mit die Länder in eigener Hoheit – das entspricht der Ver- Das sind überwiegend Gesamtschulen, weil man den fassung – Ganztagsschulen aufbauen können, die diesen Eltern das Gesamtschulmodell nur so attraktiv machen Namen wirklich verdienen. Schließlich kann es nicht nur konnte. Wenn wir Ihrer Logik folgen würden, dann darum gehen, dass die Schultore länger geöffnet sind. müsste die Gleichung „Gesamtschule gleich Ganztags- schule gleich bessere Bildung“ zutreffen. Wenn ich mir (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Schön herumgeeiert!) aber anschaue, wie Nordrhein-Westfalen bei der PISA- Studie abgeschnitten hat, dann ist dieser Anspruch mit- – Lieber Herr Tauss, Sie kennen die Verfassung so gut wie nichten erreicht. Nordrhein-Westfalen mit seinen vielen ich. Ganztagsschulen hat nicht den Spitzenplatz, sondern es (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Leider nicht!) gehört zu den Sitzenbleibern unter den Ländern. Deshalb brauchen wir einen anderen Ansatz für bessere Bildung in All das, was Sie hier tun, riecht eindeutig nach dem Ver- Deutschland. such der Zentralisierung. Die Ministerin persönlich hat dies in der „FAZ“ vom 20. Oktober dieses Jahres gesagt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei – ich zitiere –: Abgeordneten der FDP) Wir müssen auf lange Sicht wegkommen von dem Bei allem, was ich Ihnen gesagt habe, ist klar, dass es Modell, dass für die Grundschulen die Kommunen, viel Geld kostet. Aber die unionsregierten Länder haben für die weiterführenden Schulen die Länder und für sich, wenn es sich um Investitionen in Bildung handelt, die Hochschulen auch der Bund zuständig ist. entsprechenden Forderungen nie verschlossen. Aber jetzt lerne ich, dass auch auf die SPD Verlass ist. Was bedeutet das anderes, als dass der Bund endlich die Kompetenzen für den Bereich von Schule und Bildung (Jörg Tauss [SPD]: Immer! Sie können sich an sich ziehen will? Er hat immer wieder versucht, Hand immer auf die SPD verlassen!) an den Hochschulbereich zu legen. Wir werden das nicht – Das merke ich. Ich wusste, Sie würden eine neue Geld- mitmachen. Wir sind für Wettbewerb und wollen am Fö- quelle finden, und Sie haben sie gefunden: Es ist die Ver- deralismus festhalten; denn es geht um die Zukunfts-mögensteuer. Die Ministerpräsidenten von Niedersachsen chancen unserer Kinder in diesem Land. und Nordrhein-Westfalen, Gabriel und Steinbrück, wol- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: len die Vermögensteuer dadurch schmackhaft machen, in- Wie verträgt sich das mit Ihrer Kritik von vor- dem sie die gesamten Einnahmen für Bildung ausgeben wollen. Das ist nachzulesen. (B) hin?) (D) Beim Thema bessere Bildung für Kinder hören wir im- (Jörg Tauss [SPD]: Gute Leute!) mer wieder, dass es notwendig ist, mehr Zeit aufzuwen- Dieses Argumentationsmuster ist nicht neu. Wer erin- den. Das wird immer als die Begründung für Ganztags- nert sich nicht an die Rechtfertigung zur Einführung der schulen angeführt. Dazu muss ich sagen: Zeit ist einÖkosteuer? Es wurde versichert, dass die Mittel für Öko- Faktor, aber Zeit ist nicht der entscheidende Faktor, Frau logie und vor allen Dingen zur Absenkung der Renten- Ministerin. Sie können die doppelte Zahl von schlechten beiträge verwandt werden. Sie kennen das Ergebnis. Im Unterrichtseinheiten anordnen. Dann würde mehr Zeit Jahr 2001 sind nur 36 Prozent der Ökosteuereinnahmen in aufgewendet, aber Sie hätten kein besseres Ergebnis. die Rentenkasse geflossen. Im Jahr 2002 waren es 52 Pro- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] zent. Der Rest ist in den Haushaltslöchern des Bundes [CDU/CSU]: So ist es!) versickert. Es kommt doch darauf an, dass die Qualität von Bil- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hört! Hört! dung und Erziehung gesteigert wird. Dies erreichen Sie Jetzt haben wir sie entlarvt!) nicht allein mit einem Zeitfaktor. Dies erreichen Sie, in- Das würde mit den Einnahmen aus der Vermögensteuer dem Sie Bildungsstandards festlegen. Bitte machen Sie und deren Verwendung für den Bildungsbereich nicht an- das aber nicht zentral vom Bund aus, sondern das werden ders aussehen. Deshalb kann ich Sie nur auffordern, von die Länder gemeinsam machen. Sie brauchen Leistungs- solchen Irrwegen abzulassen. Bringen Sie nicht solche vergleiche. Sie müssen Ihrem Prinzip „Fordern und För- unsinnigen Vorschläge ein, die die Bürger nur unnötig be- dern“ auch Geltung verschaffen, und zwar nicht nur bei lasten! den Leistungsschwachen. Sie brauchen das genauso für (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei die Leistungsstarken. Damit müssen wir aber früher an- Abgeordneten der FDP) setzen, nämlich in der Grundschule und im Kindergarten. Wir müssen die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz stär- Angesichts Ihrer Äußerung „Bildung und Forschung ken. Das ist der Weg für eine bessere Zukunft für unsere haben Priorität“ lohnt es sich, den Blick auf die jüngsten Kinder. Wer glaubt, dass dies allein Ganztagsschulen leis- Entscheidungen zu richten. Wir haben heute eine Presse- ten können, der ist auf dem Holzweg. konferenz der Max-Planck-Gesellschaft verfolgen kön- nen. Es ist schon bemerkenswert, dass auch das, was (Beifall bei der CDU/CSU) den Spitzenorganisationen der deutschen Forschung Dass diese Behauptung nicht aus der Luft gegriffen ist, – dazu zählen die Max-Planck-Gesellschaft genauso wie kann ich Ihnen beweisen. Der Blick nach Nordrhein-die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Helmholtz- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 809

Dr. Maria Böhmer (A) Gemeinschaft und die Fraunhofer-Gesellschaft – vor der len zugute kommt, nämlich die internationale Wett-(C) Wahl versprochen wurde, nämlich eine Erhöhung derbewerbsfähigkeit. Die Förderung von Bildung und For- Haushaltsmittel, nach der Wahl nicht mehr gilt. Vielmehr schung ist gerade in schlechten Zeiten kein Luxus; in die- ist ihnen kurzfristig mitgeteilt worden, dass es eine Null- sen Zeiten ist sie ein Muss. runde geben wird, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Frechheit!) Abgeordneten der FDP) und das kurz vor Ende des Haushaltsjahrs, sodass sie bei der Planung des nächsten Jahres in größte Schwierigkei- Präsident Wolfgang Thierse: ten geraten. Ich erteile dem Kollegen Hans-Josef Fell, Bündnis 90/ (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So gehen die Die Grünen, das Wort. Sozis mit der Forschung um!) Das hat rechnerisch durchaus Auswirkungen, Frau Mi- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nisterin. Die DFG rechnet mit einem Minus von 43 Milli- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- onen Euro im nächsten Jahr, das Max-Planck-Institut ren! Frau Dr. Böhmer, ich habe Sie in der Stammzellen- mit einem Minus von 28 Millionen Euro, die Helmholtz- debatte als überlegt und differenziert urteilend kennen ge- Gemeinschaft mit einem Minus von 25 bis 30 Milli-lernt. Wie platt und parteiideologisch Sie heute aber über onen Euro. Bei der Fraunhofer-Gesellschaft kommen die Bildungspolitik gesprochen haben, hat mich sehr er- weitere Kürzungen hinzu. Für die Deutsche Forschungs- staunt. gemeinschaft etwa bedeutet das, dass 2 000 Nachwuchs- wissenschaftler nicht mehr gefördert werden können. Da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit schneiden Sie denen, die für die Zukunft unseres und bei der SPD) Landes wichtige Ideen entwickeln wollen und mit Kraft Bildung, Forschung und Technologie – darin stimme und all ihrer Leistungsbereitschaft und Begabung in die ich Ihnen völlig zu – gehören zu den wichtigsten Grund- Forschung investieren, die Wurzeln ab. Sie setzen ihnen lagen der Zukunftsvorsorge. Hier haben wir – im Gegen- den Stuhl vor die Tür. Das bedeutet Forschung real bei Ih- satz zu Ihnen – in den vergangenen Jahren immer wieder nen. Fördern und Nachwuchswissenschaftler besser be- wichtige Akzente gesetzt. Wir werden dies trotz der dienen? Dazu kann ich mit Professor Winnacker nur fest- schwierigen Haushaltslage auch in dieser Legislaturpe- stellen: Ein großer Teil unserer jungen Elite steht vor dem riode tun. Nichts. Das aber geht nicht an. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei (D) Abgeordneten der FDP) Unter Berücksichtigung der Mittel für die Ganztagsschu- len steigen die Mittel des BMBF um 3,7 Prozent an. An- Deshalb appelliere ich nachdrücklich an Sie: Kehren gesichts der schwierigen Haushaltslage ist dies eine ein- Sie von diesen Nullrunden für die jeweiligen Spitzenor- deutige Prioritätensetzung. ganisationen ab! Sorgen Sie im Gespräch mit den Ländern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – in Kürze stehen noch einmal Gespräche an – dafür, dass und bei der SPD) die getroffenen Vereinbarungen von Ihrer Seite auch ein- gehalten werden 2003 wird als Reaktion auf diePISA-Studie ein Schwerpunkt auf die Bildung gelegt werden. Folglich (René Röspel [SPD]: Und jetzt Ihr Finanzie- werden sich die Aufwüchse bei der Forschung auf den rungsvorschlag!) Zeitraum 2004 bis 2006 konzentrieren. Erinnern wir uns und dass damit die für unser Land entscheidende For-an das Jahr 2000: Auch damals musste der Forschungs- schung, nämlich die Spitzenforschung genauso wie die haushalt seinen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung er- Forschung im Bereich der Zukunftstechnologien, erhalten bringen. Dennoch hatten wir am Ende der Legislaturpe- bleibt! riode eine Bilanz vorzuweisen, von der unsere Vorgänger eigentlich nur träumen konnten. (René Röspel [SPD]: Woher nehmen Sie das Geld, Frau Böhmer?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Auch in diesem Bereich nehmen Sie weitere Kürzungen vor. Das wird sich in dieser Legislaturperiode wiederholen. Wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, werden wir darauf Ich empfehle Ihnen einen Blick in den Haushaltsplan. hinarbeiten, bis 2010 3 Prozent des deutschen Bruttoin- Schauen Sie sich einmal an, wie hoch die Ausgaben für landsprodukts in Forschung und Entwicklung zu investie- gewisse Materialien des Ministeriums und für bestimmte ren. Ich unterstütze die Forderung, die Forschungsmittel Werbeetats sind! deutlich zu erhöhen. Kritisch betrachte ich jedoch die (Lachen bei der SPD – Thomas Rachel [CDU/ Tendenz mancher Forschungslobbyisten, sich in die CSU]: Verdoppelung der Zahl der Staatsse- Reihe der reinen Besitzstandswahrer einzuordnen. kretäre!) (Lachen bei der CDU/CSU) Ich bin mir sicher, dass Sie fündig werden. Sie könnten so Wer sich etwa für dieKernfusionsforschung einsetzt, der Forschung in Deutschland etwas erhalten, das uns al- wirft mit beiden Händen das Geld zum Fenster hinaus, 810 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Hans-Josef Fell (A) Geld, das in anderen Forschungsbereichen dringend für und Lobbyisten und ruft auf, endlich mit dem Jammern(C) die Zukunftsvorsorge benötigt wird. Schluss zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ideologie der und bei der SPD) Grünen in der Forschungspolitik! Sie wollen Ich bitte Sie: Übernehmen Sie Verantwortung für dieses alles kaputtmachen!) Land! Auch die Opposition trägt Verantwortung. Verges- Im Übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass auch in sen Sie das nicht! anderen Ressorts Forschung stattfindet. So sind zum Bei- Lassen Sie mich im Folgenden einige Themen anspre- spiel im Entwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft chen, die wichtig für unsere Forschungspolitik sind. Rot- und Arbeit die Forschungs- und Technologietitel zumeist Grün hat in der letzten Legislaturperiode die Mittel für deutlich angestiegen. Wolfgang Clement zeigt sich we- Technikfolgenabschätzung mehr als verdoppelt. Dieses sentlich zukunftsbewusster als sein Vorgänger. Dies ist ein hohe Niveau halten wir trotz der schwierigen Haushalts- wichtiger Fortschritt. lage. Davon können diejenigen, die für die Technik- (Ulrike Flach [FDP]: Das ist ja Kritik am folgenabschätzung im schwarz-gelb regierten Baden- eigenen Haus!) Württemberg zuständig sind, nur träumen. Etwas aus dem Rahmen fällt lediglich die Kürzung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mittel für die Forschung im Bereich dererneuerbaren und bei der SPD) Energien. Wir werden in den Fraktionen daran arbeiten, Dort interessiert man sich mittlerweile einen Teufel für dass mehr Mittel für Energieforschung in das Umweltres- eine verantwortliche Forschungs- und Technologiepolitik sort kommen. Dann können wir im Umweltministerium und dreht der Akademie für Technikfolgenabschätzung genauso gute Nachrichten verkünden wie schon jetzt im den Hahn zu. Wir werden weitere Schwerpunkte setzen. Verbraucherschutzministerium: Ministerin Künast hat die Aus Zeitgründen kann ich darauf nicht mehr eingehen. Mittel für die Forschungsförderung im Bereich der nach- wachsenden Rohstoffe gleich um 23 Prozent angehoben. Wir werden ein Energieforschungsprogramm auf den Rot-Grün steht also weiterhin für eine Verstärkung der Weg bringen, das eindeutig Priorität auferneuerbare Forschung. Energien und Energieeinsparungen legen wird. Aus der Entwicklung neuer Atomreaktoren waren wir bereits in Liebe Frau Kollegin Flach, ich bitte Sie, Herrnder letzten Legislaturperiode ausgestiegen. Jetzt widmen Gerhardt endlich ins Gewissen zu reden. Er rief dieser wir unsere Aufmerksamkeit der Kernfusion. Leider spie- Tage zum Steuerboykott auf. Ein solcher Boykott wäregelt sich diese politische Vorgabe noch nicht in der Pro- doch eigentlich das Ende der Bildungs- und Forschungs- grammplanung der Helmholtz-Gemeinschaft wider. Ich (B) (D) förderung. Wo soll denn dann das Geld herkommen? Ärger bedauere sehr, dass es dem BMWF noch nicht gelungen über den politischen Gegner sollte niemals dazu führen, ist, alte Strukturen aufzubrechen und die gemeinsame dass die Zukunft unseres Landes aufs Spiel gesetzt wird. Zielsetzung einer Umsteuerung in der Energieforschung durchzusetzen. Ich betrachte dies als Aufforderung an die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Regierungsfraktionen, sich hier noch mehr zu engagieren. und bei der SPD) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Herr Tauss, jetzt Die steuerpolitische Bankrotterklärung einer angeschla- kriegen Sie die Ohren lang gezogen!) genen FDP darf nicht den Bankrott des Staates nach sich ziehen. Auch in der Biotechnologiewird im Wesentlichen der hohe Ansatz der letzten Jahre gehalten. Auch hier gilt es (Widerspruch bei der FDP) vor allem, politische Akzente zu setzen. In der letzten Le- Sehr geehrte Damen und Herren von der Union, Sie ma- gislaturperiode hatten wir gemeinsam erreicht, das Töten chen es leider nicht wesentlich besser. Der Ärger über die von Embryonen zur Gewinnung von Stammzellen zu ver- verlorene Wahl brachte alle Dämme zum Brechen. Hyste- hindern. Die Ereignisse der letzten Tage haben gezeigt, rie, Demagogie und Zweckpessimismus sind Ihre Mittel, dass auch das Klonen von Menschen durch die Politik um der gewählten Bundesregierung zu schaden. Aber Sie verhindert werden muss. Wir werden diesem Thema schaden vor allem unserem Land. Man sagt, 50 Prozent der große Aufmerksamkeit widmen. Wirtschaftspolitik seien Psychologie. Ihre Therapievor- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die Regierung schläge sind aber Katastrophenszenarien und Blockadepo- hat da versagt!) litik. Damit verhindern Sie Investitionen und Innovationen. Umso wichtiger ist es, der Bioethik im Parlament eine ei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gene Plattform im Rahmen einer Enquete-Kommission zu sowie bei Abgeordneten der SPD) geben. Ich möchte den Leiter desFrankfurter Zukunfts- (Zuruf von der FDP: In einer Enquete-Kommis- instituts, Matthias Horx, zitieren: sion lösen Sie das Problem nicht immer!) Wir sind in einer reichen Gesellschaft mit großen Meine Damen und Herren, ich möchte Sie bitten, sich ge- Wohlstandsreserven, mit Erfinderreichtum und un- meinsam mit uns für die Einrichtung der Enquete-Kom- ternehmerischer Praxis. mission einzusetzen. In seinem aktuellen Manifest wider den Ungeist der Pa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nikmache kritisiert er Teile der Medien, Politiker wie Sie und bei der SPD – Eckart von Klaeden [CDU/ Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 811

Hans-Josef Fell (A) CSU]: Für das Letzte klatsche ich auch! – Sie machen genau das Gegenteil von dem, was notwendig (C) Thomas Rachel [CDU/CSU]: Wir sind dafür! – wäre. Aber das, meine sehr verehrten Damen und Herren, Marion Seib [CDU/CSU]: Wenn du nicht mehr sind wir schon gewohnt. Das ist schließlich das Marken- weiter weißt – –!) zeichen dieser Regierungspolitik. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse: Viele Reformen packen Sie nicht an: keine Spur von Ent- Ich erteile das Wort dem Kollegen Christoph Hartmann bürokratisierung der Bildung, keine Spur von einer Re- von der FDP-Fraktion. form der Lehrerausbildung, (Zuruf von der SPD: Sollen wir die Reform der Christoph Hartmann (Homburg) (FDP): Lehrerausbildung machen? Das ist unglaub- lich!) Herr Präsident! Frau Ministerin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Bundesregierung lebt auf ei- keine Spur von einer Hochschulreform, die die Attrakti- nem anderen Stern. vität der deutschen Hochschulen erhöht, damit endlich auch in Deutschland 45 Prozent eines Altersjahrgangs ein (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Studium aufnehmen, wie es in den OECD-Ländern im der CDU/CSU) Durchschnitt der Fall ist Sie wollen uns weismachen, dass es überall bergauf geht, (Jörg Tauss [SPD]: Wir sind nicht im saarlän- und zwar auch in der Bildungspolitik. Ich frage mich, dischen Landtag, Herr Kollege!) warum dann die Stimmung so schlecht ist und uns die UNICEF letzte Woche erklärt hat, dass die Qualität des – auf das Saarland komme ich jetzt zu sprechen, Herr Kol- Bildungssystems dramatisch gesunken ist. lege Tauss –, und keine Spur von strategischen Investitio- nen, die zum Beispiel durch den Abbau von Kohlesub- (Beifall bei der FDP) ventionen finanziert werden könnten, was gerade ich als Saarländer richtig fände. Rot-Grün wird schriftlich attestiert, dass sie für eine Zweiklassengesellschaft in der Bildungspolitik verant- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – wortlich sind. An die Adresse dieser Bundesregierung Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sage ich: Wenn gute Bildung in Deutschland vom Geld- NEN]: Das haben Sie für Jahre festgelegt! Ihr beutel der Betroffenen abhängt, dann ist das gerade für Wirtschaftsminister hat das unterschrieben!) diese Bundesregierung ein Armutszeugnis, meine sehr Auf den Feldern, auf denen Sie sich nicht vor Reformen verehrten Damen und Herren. drücken, sind Ihre Konzepte fehlerhaft. Beispielsweise ist (B) (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – René Ihr 4-Milliarden-Euro-Programm für Ganztagsschulen Röspel [SPD]: Das versuchen wir ja seit 1998 eine Mogelpackung. zu verändern!) (Jörg Tauss [SPD]: Wieso das denn?) Von einem ganzheitlichen Ansatz in der Bildungspolitik Nur Baumaßnahmen sollen finanziert werden. Mit den kann ebenfalls keine Rede sein. Es geht Ihnen ja auchviel bedeutsameren Personalkosten werden die von Ihnen nicht um die Verbesserung der Bildungspolitik gebeutelten in Länder und Kommunen allein gelassen. Deutschland, sondern um die Lufthoheit über die Kinder- betten, wie Ihr Generalsekretär das zutiefst totalitäre (Beifall bei der FDP) Staatsverständnis Ihrer Fraktion beschrieben hat. Als Abgeordneter eines Bundeslandes, das finanziell weiß (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – René Gott nicht auf Rosen gebettet ist, kann ich nur sagen: Ihr Röspel [SPD]: Wissen Sie überhaupt, wie Kin- Ganztagsschulkonzept können sich nur finanzkräftige derbetten aussehen?) Bundesländer leisten. Arme Bundesländer werden von den Folgekosten Ihrer unausgegorenen Politik erschlagen. Ihre Bildungspolitik ist durch drei Merkmale gekenn- zeichnet, nämlich durch Unterfinanzierung, durch das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Sichherumdrücken um wichtige Reformen und durch Tauss [SPD]: Verzichtet das Saarland auf die falsche Konzepte. Mittel?) (Beifall bei der FDP) Ihr Konzept führt zu einem Ausbau von Schulen zu Kinderaufbewahrungsstationen, Der Stellenwert, den Sie der Bildung einräumen, ist de- saströs. Der Anteil der Bildungsausgaben an den öffent- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lichen Haushalten liegt mit 9,7 Prozent weit unter dem in denen man den Kindern mittags Suppe verabreicht und Durchschnitt von 12,7 Prozent der OECD-Länder. Und wo sie nachmittags mithilfe der Oma aufbewahrt werden. Sie senken ihn weiter. (Jörg Tauss [SPD]: So ein Quatsch!) (Jörg Tauss [SPD]: Reden Sie mal vom Bund!) Meine Fraktion fordert dagegen in einem ersten Schritt Um ein Beispiel zu nennen: allein 4,5 Prozent minus beim eine gut ausgestattete Ganztagsschule pro zehntausend computer- und netzgestützten Lernen. Schüler mit einem sinnvollen, pädagogisch fundierten Konzept. (René Röspel [SPD]: Prozent oder Prozent- punkte?) (Beifall bei der FDP) 812 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Christoph Hartmann (Homburg) (A) Wir brauchen Geld nicht nur für Gebäude, sondern auch Messlatte, an der sich die Regierungspolitik messen las- (C) für mehr Lehrer. Diesen Weg müssten wir gehen. sen muss, an der sich aber auch Konzepte der Opposition (Jörg Tauss [SPD]: Vom Bund?) messen lassen müssen. Nur habe ich solche Konzepte bis- lang leider nicht gehört. Stocken Sie also den Bildungsetat auf, gehen Sie end- lich die längst überfälligen Reformen an. Bessern Sie Ihre (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Konzepte nach. Dann tun Sie endlich etwas für die Men- DIE GRÜNEN) schen in diesem Lande. All denen von CDU/CSU und FDP, die 2002 oder 1998 Als neuer bildungspolitischer Sprecher der FDP-Bun- in den Bundestag gekommen sind, sei gesagt: Ihre Frak- destagsfraktion tionen und Parteien hatten vorher schon Regierungsver- antwortung. Bei all dem, was Sie heute an Kritik dazu vor- (Jörg Tauss [SPD]: Was?) tragen, wo möglicherweise nicht genug vorhanden ist, versichere ich Ihnen: Wir werden nicht nur kritisieren (Ulrike Flach [FDP]: Das ist eine alte Chose!) oder Fundamentalopposition betreiben, sondern kon- struktiv mit eigenen Vorschlägen an der Reform des Bil- müssen Sie sich auch an dem letzten Bundeshaushalt, den dungswesens mitarbeiten. Sie zu verantworten hatten, messen lassen. Die Gnade des späten Bundestagseintritts hilft Ihnen, Frau Kollegin Übrigens: Wer am lautesten schreit, hat nicht am meis- ten Recht. Flach, und allen anderen an dieser Stelle nicht weiter. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Was sind die Herausforderungen der globalen Wis- Tauss [SPD]: Machen wir einmal einen Grund- sensgesellschaft und damit die Aufgaben für Bildungs- kurs miteinander, Herr Kollege!) und Forschungspolitik? Wissen – die Produktion, Vertei- lung und Anwendung von Wissen – wird immer mehr zum Hauptfaktor für Zuwächse in der Wertschöpfung und in Präsident Wolfgang Thierse: der Beschäftigung. Deshalb sind die Ausgaben für Bil- Kollege Hartmann, zu Ihrer ersten Rede im Plenum des dung und Forschung prioritäre Zukunftsinvestitionen. Deutschen Bundestages meine und unsere herzliche Gra- Diesem Sachverhalt tragen wir mit dem vorliegenden tulation. Bundeshaushalt Rechnung. (Beifall) Die Zahlen sprechen eine ganz deutliche Sprache. Da- ran kann man überhaupt nicht herumdeuteln. Der Haus- (B) Nun erteile ich der Kollegin Ulla Burchardt von der (D) SPD-Fraktion das Wort. haltsansatz 2003 liegt um gut 25 Prozent über dem von 1998. Es handelt sich um den höchsten Etat für Bildung (Jörg Tauss [SPD]: Ich wusste gar nicht, dass und Forschung in der Geschichte der Bundesrepublik. Möllemann noch steigerungsfähig ist!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Nehmen Ulla Burchardt (SPD): Sie Ihre Wahlversprechen!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- – Das mag Ihnen nicht passen, ist aber trotzdem richtig. ren! Nach dem, was man jetzt gehört hat, kann man nur Die Zwischenrufe verstehe ich auch nur als Ausdruck ei- sagen: Dieses Land hätte eine bessere, eine qualifiziertere nes Neidkomplexes. Opposition verdient. (Jörg Tauss [SPD]: Und Neid ist nicht schön!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Aber Geld ist nicht alles. Es kommt ebenso darauf an, im Hochschulbereich wie in der Forschungsförderung Angesichts dieser oppositionellen Kraftmeierei, der Strukturen aufzubrechen. Wir haben damit begonnen, die kleinkarierten ideologisch gefärbten Kritik und der Ka- richtigen Schwerpunkte zu setzen. Wir haben im Bil- tastrophenszenarien, die Sie hier an die Wand gemalt ha- ben, ist es wohl an der Zeit, dass man einmal wieder den dungsbereich beispielsweise mit der Dienstrechtsreform Gesamtzusammenhang für eine bildungs- und forschungs- begonnen, mit der Einführung von Bachelor- und Mas- politische Debatte herstellt. ter-Studiengängen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die hat die letzte DIE GRÜNEN) CDU/CSU-FDP-Regierung eingeführt!) Es dürfte sich auch bis zu Ihnen herumgesprochen ha- Die in der Bildungspolitik gesetzten Schwerpunkte bilden ben, dass sich unser Land wie alle hochentwickelten Staa- sich nach wie vor in Etatsteigerungen ab, zum Beispiel in ten im Übergang von der Industrie- zurWissensgesell- der exorbitanten Förderung von Juniorprofessuren, der schaft befindet. Deshalb ist es die zentrale Aufgabe der Zukunftsinitiative Hochschule und dem gleichbleibend Politik, diesen Übergang und die Rahmenbedingungen zu hohen Niveau beim Hochschulbau, beim BAföG und gestalten. beim Meister-BAföG. Das, meine Damen und Herren, und nichts anderes (Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: – auch nicht irgendwelche Wunschvorstellungen – ist die Was ist mit der BAföG-Reform? ) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 813

Ulla Burchardt (A) In der Forschungsförderung bleiben die Zukunftsfel- Niemand, auch kein einzelnes Bundesland, hat die Pa-(C) der, die wir gesetzt haben, Schwerpunkte, zum Beispiel tentlösung. Ich möchte einmal denPISA-Koordinator das Programm Inno-Regio, Forschung für Nachhaltigkeit, Schleicher zitieren. Er hat gesagt: Gesundheitsforschung, Biotechnologie, IuK-Technolo- Tatsache ist doch, dass weder CDU- noch SPD-re- gie. Die Gelder dafür liegen deutlich über dem Niveau gierte Länder im internationalen Bildungswettbe- von 1998. werb mithalten können. Natürlich hätte man sich auch Aufwüchse bei den Groß- forschungseinrichtungen wünschen können; aber man Nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis! muss konstatieren, das gerade die in den Jahren rot-grüner (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Regierungspolitik jährliche Mittelaufwüchse von 3 Prozent DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ulrike Flach und mehr zu verbuchen hatten. Das ist eine gewaltige Leis- [FDP]) tung gewesen. Davon haben die Großforschungseinrich- tungen in Ihrer Regierungszeit doch nur geträumt. Wir haben es getan und die Konsequenzen daraus gezo- gen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wenn Ihnen die Aussagen des international renom- mierten Experten Schleicher nicht reichen, dann schauen Was macht dieglobalisierte Wissensgesellschaft Sie sich doch einmal das Bildungskonzept desBaden- noch aus? Angesichts der zunehmenden Internationalisie- Württembergischen Industrie- und Handelskammer- rung und Europäisierung von Wirtschaft und Politik war tages an, der einen Paradigmenwechsel fordert. Eine sei- eine entsprechende Orientierung und Vernetzung von Bil- ner ganz zentralen Begründungen dafür, dass dieser dung und Forschung überfällig. Das Bundesministerium Paradigmenwechsel nötig ist, lautet: Die Prämisse, dass hat vielfältige Initiativen ergriffen, die fortgesetzt werden. das gegliederte Schulsystem den anderen, einzügigen Wir haben mittlerweile eine Leitbildfunktion in der EU. Schulformen überlegen sei, habe sich als falsch erwiesen. Daher geht ein herzlicher Dank an die Ministerin, die dies zu ihrem ganz persönlichen Anliegen gemacht hat. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn! Das ist Quatsch!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dort sprechen doch nun wirklich keine sozialdemokra- tischen Kampftruppen. Machen Sie sich ein bisschen kun- Das entscheidende Merkmal der Wissensgesellschaft diger und benutzen Sie nicht nur die PC-Versatzstücke ist der rapide zunehmende Bedarf an gut ausgebildeten, von Ihren Fraktionsreferenten! hoch qualifizierten Fachkräften. Dieser Bedarf nimmt zu. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) droht in wenigen Jahren ein akuterFachkräftemangel. DIE GRÜNEN) (D) Er führt bereits heute in einigen Branchen und Unterneh- men zu Engpässen. Es war alternativlos und richtig,Chancengleichheit zum Leitbild unserer Bildungspolitik zu machen. Man ( [Bayreuth] [FDP]: Haben Sie kann es sich allein aus wirtschaftlichen Gründen nicht das auch schon erkannt?!) mehr leisten, dass die soziale Herkunft oder das Ge- Vor diesem Hintergrund kann es sich unser Land über- schlecht über die Lebenschancen von Menschen ent- haupt nicht leisten, Potenziale brachliegen zu lassen. scheidet. Das ist unter den Vorgängerregierungen in der Vergangenheit leider ignoriert worden. Deshalb haben wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des heute den traurigen Zustand zu beklagen, dass die Bun- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) desrepublik so weit abgeschlagen ist. Dieser Zustand ist Vielmehr kann es nur darauf ankommen, alle mit allen nicht in den letzten Tagen vom Himmel gefallen. Mitteln zu fördern. Der Streit, Frau Böhmer und alle an- Fakt ist, dass in der Bundesrepublik zu viele junge deren, ob Breiten- oder Spitzenförderung wichtiger ist, ist Menschen nicht ausreichend gefördert werden und von doch nun wirklich ein Streit um des Kaisers Bart, weiterführender Bildung ausgeschlossen sind. Nach (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Nein, das ist OECD-Studien machen zu viele dieErfahrung des es nicht!) Scheiterns, was für den Einzelnen und die Gesellschaft fatale Konsequenzen hat. Pro Jahr brechen 80 000 das der in das letzte und vorletzte Jahrhundert gehört. Studium und 150 000 ihre Lehre ab; 80 000 verlassen die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schule ohne jeglichen Abschluss, und zwar in allen Län- DIE GRÜNEN) dern. Das sind 310 000 zu viel. Es ist ein großes Problem, diese Menschen ohne qualifizierte Ausbildung in den Ar- Sie sind das erste Mal bei einer Forschungsdebatte da- beitsmarkt zu integrieren. bei, genauso wie der FDP-Kollege. Vielleicht sollte man den Stoff der letzten Sitzung jedes Mal wiederholen. Ihr (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirklich überhaupt nicht zielführendes Vorgehen „Haust DIE GRÜNEN) du mein Bundesland, haue ich dein Bundesland“ ist wirk- Wer das ändern will, der muss auf eine konsequente lich das Allerletzte, was wir in der Bundesrepublik ge- Form des Bildungswesens hinarbeiten. Die OECD-Stu- brauchen können. dien, meine liebe Frau Böhmer und alle anderen, zeigen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ doch ganz deutlich, was ein zeitgemäßes, leistungsfähiges DIE GRÜNEN) Bildungssystem ausmacht: Es beginnt mit der Förderung 814 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Ulla Burchardt (A) im Vorschulalter, trennt in der Schullaufbahn nicht nach Thomas Rachel [CDU/CSU]: Frau Burchardt, (C) Kopf- und Handarbeitern, hat durchlässige Bildungs- Ihr Programm ist peinlich!) gänge und gewährleistet lebenslanges Lernen. Zum einen kann ich Ihnen mitteilen, dass Sie offensicht- Wenn Sie behaupten, es sei unsere Aufgabe gewesen, lich aus irgendeinem falschen Papier zitiert haben, was genau dafür zu sorgen, dann entgegne ich Ihnen: Gehen die Verwaltungsvereinbarung für Ganztagsschulen Sie einmal zur KMK, lieber junger Kollege, und bean- angeht. tragen Sie doch, dass wir die Verantwortung dafür über- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ach, haben Sie nehmen. Wir würden das gerne tun. ein anderes? Es gibt doch nur eines von der Wir können feststellen: In unserem bundespolitischen Bundesregierung!) Verantwortungsbereich haben wir das Überfällige und Es gibt an dieser Stelle keinen Entwurf, der mit der Bun- Notwendige in Angriff genommen. Wir haben mit dem desregierung abgestimmt ist. Das müssten Sie noch ein- JUMP-Programm Hunderttausenden von jungen Men- mal nachlesen. Ansonsten ist die Alternative – nach allem, schen wieder eine Einstiegsperspektive gegeben. was Sie gesagt haben –, überhaupt nichts zu tun und alles (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Es fehlen Hun- so zu belassen, wie es ist. derttausende Ausbildungsplätze!) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist doch gar Das Programm wird weitergeführt. Wir haben mit dem nicht wahr!) Meister-BAföG die Selbstständigkeit gefördert. Das wäre in dieser Republik tatsächlich unverantwortlich. (Ulrike Flach [FDP]: Aber ihr habt doch viel (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mehr versprochen!) DIE GRÜNEN) Wir haben mit derBAföG-Reform nicht nur sozial Wir haben mit unserer Bilanz gezeigt, dass wir mit Schwächeren wieder eine Chance gegeben, sondern die dem, was wir uns vorgenommen haben, und mit diesem Quote der Studienanfänger auf 35 Prozent erhöht, die un- Bundeshaushalt die Herausforderungen der globalen Wis- ter Ihrer Regierungszeit doch fernab zurückgelegen hat. sensgesellschaft angenommen und die notwendigen Re- (Weiterer Zuruf der Abg. Ulrike Flach [FDP]) formschritte eingeleitet haben. Wir werden diesen Weg im Interesse unseres Landes konsequent fortsetzen. – Ich kann doch nichts dazu, Frau Flach, dass Sie heute nicht reden dürfen. Ich würde jetzt aber gerne weiterre- (Beifall bei der SPD) den. Weil wieder einmal PISA und die Folgestudien Gegen- (B) (Ulrike Flach [FDP]: Tun Sie es doch!) stand der Debatte sind, lassen Sie mich dazu und auch zu (D) den Konsequenzen einige Anmerkungen machen. Die Mit dem Programm „Chancengleichheit für Frauen in Konsequenzen liegen auf der Hand, wenn man die Stu- Bildung und Forschung“ haben wir nachweislich deren dien selber gründlich gelesen hat und wenn man sich mit Anteil in Wissenschaft und Forschung erhöht. Diesen den Verantwortlichen dieser Studien ein bisschen intensi- Haushaltstitel, Kollegin Reiche – weil Sie sich sehr enga- ver darüber unterhalten hat, wie denn die Hintergründe giert für die Frauenförderung in der Union einsetzen –, und Zusammenhänge in den Ländern aussehen, die wirk- gab es unter Ihrer Regierungszeit nicht. Auch das ist ein lich zu den Besten gehören. Dann kommt man zum Bei- Zeichen fehlenden Problembewusstseins. spiel zu folgender Erkenntnis: Von den Besten zu lernen Wir haben mit der Qualitätssicherung in der Weiter- heißt zuallererst, alte Rituale aufzugeben und sich unideo- bildung begonnen. Sie wird mit dem Hartz-Konzept wei- logisch an Fakten zu orientieren. In den leistungsstarken tergeführt. Ländern gab es bei der Renovierung des Bildungssystems keine politische Blockbildung, sondernpragmatische (Katherina Reiche [CDU/CSU]: Das ist aber Zusammenarbeit bei der Problemlösung. reduziert worden!) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Die fehlt bei Wir führen sie auch im Bereich des BMBF fort; neueAus- Ihnen leider!) bildungsberufe in zukunftsfähigen Bereichen sind zu er- wähnen. Wir packen außerdem die überfälligeReform Was Deutschland fehlt, so Andreas Schleicher, Koor- der beruflichen Bildung an. dinator der OECD-Studien, sind langfristige Ziele, und deshalb geschehe nichts, was nicht kurzfristig erreichbar (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wäre. Deshalb wird auch die derzeitige Debatte in der DIE GRÜNEN) KMK über Bildungsstandards mit ausgesprochener Skep- Schließlich setzen wir viel Energie und Geld dafür ein, sis gesehen; denn wenn es nur darum geht – manches aus mit dem Programm „Bildung und Betreuung“ Chan- der Vereinbarung lässt darauf schließen –, die alten Prü- cengleichheit und Leistung zu fördern und damit denfungsanforderungen zu vereinheitlichen, sozusagen ob- eklatanten Rückstand Deutschlands aufzuholen. jektivierte Selektionsmechanismen zu erfinden, dann ist das ein Weg, der in die Sackgasse führt. Nur mit Polemik, liebe Kollegin Böhmer, kann man die Lage wirklich nicht verbessern. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Von den PISA-Besten lernen heißt, dass Sie Bildungs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – standards nicht als Selektionsmechanismus für Schüler Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 815

Ulla Burchardt (A) verstehen, sondern als Bildungszieleund als Evalua- Unter diese Überschrift gehört auch der Haushalt für Bil- (C) tionsinstrument für die Schule und für die Bildungspo- dung und Forschung 2003. litik. Das ist der Weg, den Bundesbildungsministerin (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Richtig!) Bulmahn eingeschlagen hat. Es kann auch nicht angehen, dass für die Evaluation die verantwortlich sind, die vorher Noch im September, wenige Tage vor der Bundestags- die Kriterien festgelegt haben. In den guten PISA-Staaten wahl, hat die Bundesregierung hier im Deutschen Bun- machen das unabhängige Einrichtungen. Ich habe aber destag ihren ersten Haushalt für 2003 eingebracht. Die den Eindruck, da sind Bund und Länder auf dem richtigen Ausgaben für Bildung und Forschung sollten demnach Wege. um 2,6 Prozent steigen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hört! Hört!) DIE GRÜNEN) Jetzt, zwei Monate später, ist davon keine Rede mehr. Der Was Deutschland fehlt – ich zitiere noch einmalaktuelle Entwurf, über den wir heute debattieren, sieht de Andreas Schleicher –, facto keinerlei Steigerungen vor. Wenn man zum Beispiel die sachfremden Kosten für die Sanierung des ehemaligen (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Mein Gott, sa- Bonner Abgeordnetenhochhauses unberücksichtigt lässt, gen Sie doch einmal selber etwas!) gibt es für Bildung und Forschung sogar weniger als 2002. ist eine Debatte darüber, wie unser Bildungssystem im Versprochen – gebrochen! Dennoch rechnet uns die Mi- Jahre 2010 oder 2020 aussehen sollte. Diese Debatte,nisterin nun eine Steigerung von 3,7 Prozent vor. Nur steht meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, darfdie gar nicht in ihrem eigenen Haushalt. man – bei aller hohen Wertschätzung des Föderalismus (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) und bei all dem, was auch in der Kultusbürokratie an Fähigkeiten und Kompetenzen vorhanden ist – nicht al- Sie berücksichtigen dabei die Mittel für Ihr Schulbaupro- lein der Kultusbürokratie überlassen. Diese Debatte über gramm, die in die allgemeinen Finanzausgaben beim Fi- die Zukunft des gesamten Bildungswesens in der Bun- nanzminister eingestellt sind. desrepublik – vom frühen Alter bis wirklich hin zum le- benslangen Lernen – ist eine Debatte, die meiner Meinung (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Trickserei!) nach qualifiziert im Deutschen Bundestag geführt werden Hinzu kommt die globale Minderausgabe. 340 Milli- müsste. Hier und nirgendwo anders gäbe es mit eineronen Euro waren es, 200 Millionen Euro haben Sie bereits Enquetekommission „Bildung in der Wissensgesell- verteilt, bleiben 140 Millionen Euro, die Sie noch vertei- schaft“ das geeignete Forum, über nationale Zukunftsfra- len müssen. Ich bin gespannt darauf, wie Sie das tun wol- gen zu diskutieren, len. (B) (D) (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Das Projekt Ganztagsschule – ich sage: Schulbaupro- unter Einbeziehung aller Akteure, und das sind nicht nur gramm – wird von Ihnen nun als Wundermedizin gegen die Länder, sondern auch die Kommunen als Schulträger, die insbesondere in den SPD-geführten Ländern deutlich Wissenschaftler, Unternehmer, Eltern- und Schülervertre- gewordenen PISA-Defizite angeführt. ter und, nicht zu vergessen, die vielen Träger der berufli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen und der Weiterbildung. Frau Ministerin Bulmahn erklärt heute in der „Welt“: (Beifall des Abg. Lothar Mark [SPD]) PISA hat uns den Spiegel vorgehalten. – Nein, PISA hat Ich denke, meine Damen und Herren, im Jahre 1 nach nicht uns den Spiegel vorgehalten, sondern Ihnen, den PISA ist es endlich an der Zeit, den dreißigjährigen Bil- SPD-geführten Ländern. dungskrieg zu beenden. Das erwartet das geneigte Publi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La- kum von uns allen. Nur so ist es möglich – andere haben chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE es vorgemacht –, den großen Wurf in der Bildungspolitik GRÜNEN) zu landen. Wir sind zu konstruktiver Kooperation bereit. Sie können es einfach nicht ertragen, dass die von CDU (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und CSU geführten Bundesländer seit Jahren eine bessere DIE GRÜNEN) Bildungspolitik gemacht haben. Das ist die Wahrheit. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Präsident Wolfgang Thierse: Bayern hat die Statistik besser gefälscht!) Ich erteile das Wort Kollegin Katherina Reiche,Sie haben den Ländern einen noch nicht einmal ausge- CDU/CSU-Fraktion. reiften Vorschlag für eineVerwaltungsvereinbarung (Beifall bei der CDU/CSU) übersandt. Das, was von meiner Kollegin Böhmer vorge- stellt wurde, ist lediglich ein Entwurf. Die Finanzierung ist nicht gesichert, es soll kofinanziert werden. Aber in ei- Katherina Reiche (CDU/CSU): nem Punkt haben Sie sich bereits ganz klar geäußert: An Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verspro- den Schulen sollen Hinweistafeln angebracht werden, auf chen – gebrochen! denen steht „Vom Bund geförderte Ganztagsschule“, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Piep, piep, wir haben (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist eine dich alle lieb!) Frechheit!) 816 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Katherina Reiche (A) vielleicht mit Bild der Ministerin oder des Bundeskanz- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aha! Hört! Hört! – (C) lers. Wenn das das Einzige ist, wo Sie konkret werden, ist Marion Seib [CDU/CSU]: Jetzt kommt es das wirklich wenig. raus!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gerade in der Biotechnologie und in der molekularen Me- Thomas Rachel [CDU/CSU]: Mit Bild von Frau dizin sind allerdings weitere Anstrengungen vonnöten. In Bulmahn!) beiden Forschungsfeldern bleibt der neue Haushalt um 5 bzw. 10 Millionen Euro hinter dem von der Bundesre- Es bleibt dabei: Der Bund finanziert die Suppenküchen und die Länder müssen die Suppe auslöffeln, die Sie ih- gierung selbst festgestellten Bedarf zurück. Versprochen nen einbrocken. Zu Recht achten Länder wie Baden-– gebrochen! Württemberg, Bayern und Sachsen sorgsam darauf, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sie nicht über den Hebel der aktuellen Bundespolitik, wie von Frau Burchardt vorgeschlagen, mit dem sozialdemo- Frau Burchardt, es sind dramatische Kürzungen vorge- kratischen unteren Mittelmaß infiziert werden. sehen, die zulasten des Umweltschutzes gehen: Im Be- reich Mobilität und Verkehr ist ein Minus von 11 Prozent (Lachen bei der SPD) und bei Projekten der globalen Umweltforschung ein Mi- Ich habe vollstes Verständnis dafür, wenn die Länder,nus von 8 Prozent vorgesehen. Versprochen – gebrochen! übrigens auch die SPD-geführten, sich sehr zögerlich ver- Der Ansatz für naturwissenschaftliche Grundlagenfor- halten, schung geht sogar um 12 Prozent zurück. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist unter jegli- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Das ist ein chem Niveau!) Unding!) denn sie haben für die Folgekosten für Personal- undWie will die Bundesregierung die Empfehlungen des Wis- Sachausgaben aufzukommen. senschaftsrates zur Anschaffung neuer Großgeräte für die (Dr. Uwe Küster [SPD]: Und so was hat mal Grundlagenforschung umsetzen? Ich sehe dafür keinerlei diese Republik regieren wollen! Was für eine Vorsorge im Haushalt. Versprochen – gebrochen! Bedrohung! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hören Sie mal zu, damit Sie was lernen!) Die neuen Länder haben Sie offensichtlich vollstän- dig abgeschrieben. Die Förderung der innovativen regio- Wir setzen auf eine bedarfs- und kindgerechteGanz- nalen Wachstumskerne in den neuen Ländern geht gegen- tagsbetreuung. Wir wollen die Wahlfreiheit für Fami- über 2002 um 4,5 Prozent zurück. lien, damit die Eltern Familie und Beruf besser miteinan- der vereinbaren können. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Aha! – Jörg (B) Tauss [SPD]: Plus 81 Prozent, Frau Kollegin! (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Nicht zu fassen!) Wir brauchen eine Vielfalt an qualitativ hochwertigen Be- Für den Inno-Regio-Wettbewerb waren vor drei Monaten treuungsangeboten. Aber durch Ihre Steuer- und Finanzpo- noch 80 Millionen Euro vorgesehen; jetzt sind es nur noch litik, meine Damen und Herren von der Koalition, stehen 65 Millionen Euro. die Länder finanziell mit dem Rücken zur Wand. Trotzdem investieren Länder wie Hessen und Bayern weiterhin in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bildung, übrigens gerade auch im Ganztagsbereich. Das Ausbildungsplatzsonderprogramm für die neuen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Länder geht um 12 Prozent zurück, obwohl in den neuen neten der FDP) Ländern immer noch 55 000 junge Menschen einen Aus- bildungsplatz suchen. Als nationale Antwort auf PISA ist das von Ihnen vor- geschlagene Schulbauprogramm -– mehr ist es nicht – un- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So gehen die mit geeignet. Kindern um! – Marion Seib [CDU/CSU]: Das (Ulla Burchardt [SPD]: Was möchten Sie denn? ist schäbig! – René Röspel [SPD]: Erst wollt ihr Sagen Sie doch einmal, was Sie vorschlagen!) das Programm nicht, dann nörgelt ihr rum! Ihr seid ja pfiffig!) Die Herausforderung, vor die uns PISA stellt, lautet: qua- litativ besserer Unterricht und besser ausgebildete und Gerade für die neuen Länder wäre eine Strategie zur motivierte Lehrer. Förderung des Mittelstandes erforderlich. Tatsache ist, dass die kleinen und mittleren Unternehmen unter einer (Jörg Tauss [SPD]: Ah ja! Und das beschließen Flut verschiedener Förderprogramme ersticken, die vom wir jetzt hier!) Wirtschaftsministerium und vom Forschungsministerium Ich nenne die Fakten zum Einzelplan 30: Er sieht dra- unkoordiniert angeboten werden. matische Kürzungen, vor allem in der Forschung, vor. Bei den institutionell geförderten Forschungsorgani- Sowohl bei der Projektförderung als auch bei den For- sationen gibt es ebenfalls massive Einschnitte. Frau schungseinrichtungen gehen die Ansätze drastischBulmahn, noch im Juni haben Sie mit Bund und Ländern zurück: Bei allen Zukunftstechnologien, der Biotechnolo- Zuwachsraten zwischen 3 und 3,5 Prozent einvernehm- gie, der molekularen Medizin, der Informationstechnolo- lich vereinbart. gie, der Nanotechnologie und der nationalen Weltraum- forschung, wird massiv, nämlich um 4,5 Prozent, gekürzt. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 817

Katherina Reiche (A) Die Max-Planck-Gesellschaft muss gegenüber dem be- (Zurufe von der CDU/CSU: Fragen!) (C) schlossenen Wachstum nun ein Minus von 3,5 Prozent Frau Kollegin Reiche, Sie haben den Zustand beklagt. verkraften. Die Tarifsteigerungen und die Inflationsrate Es gibt niemand, der mehr bedauert als ich, dass wir in müssen auch noch ausgeglichen werden. Der Präsident, diesem Jahr auch bei den Forschungseinrichtungen nicht Professor Gruss, hat bereits angekündigt, dass er wohl das tun können, was wir gerne wollen. 20 Abteilungen, wenn nicht sogar ein ganzes Institut schließen muss. Versprochen – gebrochen! (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Großforschungseinrichtungen, die gerade dabei sind, Aber nachdem Sie Zahlen vorgetragen haben, will ich Sie den von der Bundesregierung selbst vorgeschlagenen Re- fragen, ob Ihnen auch die folgenden Zahlen bekannt sind: formprozess umzusetzen, sind von den EinsparungenDie DFG – Deutsche Forschungsgemeinschaft – erhielt ebenfalls betroffen. Die Helmholtz-Gemeinschaft rech- 1998 noch 561 Millionen Euro; 2003 werden es 707 Mil- net mit notwendigen Einsparungen in Höhe von 25 bis lionen Euro sein. 30 Millionen Euro. In der kommenden Woche will die (Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) HGF die ersten positiv evaluierten Projektverbünde aus der Programmsteuerung bewilligen. Betroffen sind insbe- Die MPG erhielt 1998 noch 401 Millionen Euro; jetzt sondere Projekte in der Gesundheits-, Verkehrs- und Welt- werden es 467 Millionen Euro sein. Die FhG erhielt zu Ih- raumforschung. Es ist ein völlig falsches Signal, wenn ge- rer Zeit 286 Millionen Euro; jetzt sind es – ohne Investi- rade bei diesen Projekten Einschnitte vorgenommentionsmittel, die aus einem anderen Ministeriumsbereich werden. Die nur mühsam erreichte Akzeptanz der gesam- kommen und allein in meinem Wahlkreis in diesem Jahr ten Programmsteuerung wird damit konterkariert. und in den nächsten Jahren 50 Millionen Euro betragen – 320 Millionen Euro. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Zurufe von der CDU/CSU: Fragen!) Die Fraunhofer-Gesellschaft erhält 2,3 Prozent weni- Ich könnte das fortsetzen. ger als in diesem Jahr, obwohl sie das Heinrich-Hertz-In- Wie kommen Sie eigentlich dazu, hier von gebroche- stitut mit zu finanzieren hat. nen Versprechen zu reden? Sie können doch nicht einmal (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Zahlen lesen. Oder haben Sie auch ein PISA-Problem? Das ist meine Frage. Der neue Präsident, Professor Bullinger, hat im Sommer angemahnt, die versprochene Steigerung um 5 Prozent zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ realisieren. Auch hier gilt: Versprochen – gebrochen! DIE GRÜNEN) (B) (D) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Abbau ist das!) Katherina Reiche (CDU/CSU): Auch die DFG muss mit dem gleichen Betrag auskom- men, den sie 2002 zur Verfügung hatte. Das bedeutet Min- Ich sage Ihnen, was Ihr Problem ist, Herr Tauss. Sie derausgaben in Höhe von 43 Millionen Euro, die aufgrund von der Koalition und auch die Bundesregierung denken von Tarifteuerungen eingespart werden müssen. Derin optimistischer Schätzung DFG-Präsident Winnacker hat gesagt, dass eine Reihe (Jörg Tauss [SPD]: Nein, in Wahrheit!) von Sonderforschungsbereichen eingespart werden müsse. Die Fertigstellung der Diplom- und Doktorarbei- in Zeiträumen von Legislaturperioden. Forschung muss ten von 2 000 Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nach- aber länger denken und planen. UMTS lässt grüßen. wuchswissenschaftlern ist mangels finanzieller Mittel un- (Jörg Tauss [SPD]: Vier Jahre!) gewiss; sie werden wahrscheinlich nicht fertig gestellt. Sie haben es bislang nicht verstanden, ein umfassendes Konzept vorzulegen, Präsident Wolfgang Thierse: (Zuruf von der SPD: Sie haben doch von Zah- Frau Kollegin Reiche, gestatten Sie eine Zwi- len geredet!) schenfrage des Kollegen Tauss? eine langfristige Planung für die Forschungseinrichtun- gen darzulegen. Katherina Reiche (CDU/CSU): Ich habe gerade ausgeführt, dass die Helmholtz-Ge- Ja, Herr Kollege Tauss. meinschaft bereits Projekte bewilligt hat, deren Mittel (Zuruf von der CDU/CSU: Warum darf er jetzt gestrichen werden. denn nicht reden?) (Jörg Tauss [SPD]: Falsch!) Diese Forschungseinrichtungen wissen nicht, wie sie mit (SPD): Jörg Tauss diesen Kürzungen klarkommen sollen. Ich habe schon so oft geredet. Sie regen sich dann im- Herr Tauss, noch einmal: Forschung braucht langen mer auf. Heute wollte ich Ihnen das einmal ersparen. Aber Atem, ganz kann ich das nicht tun. Denn ein bisschen Wahrheit und Klarheit gehört zu dem, was wir vortragen. (Jörg Tauss [SPD]: Eben!) 818 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Katherina Reiche (A) Fünf- bzw. Zehnjahresrhythmen. Genau das machen Sie Präsident Wolfgang Thierse: (C) nicht. Sie kürzen. Kollegin Reiche, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ih- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. res Parlamentarischen Geschäftsführers von Klaeden? Ulrike Flach [FDP] – Zuruf von der SPD: Pein- lich!) Katherina Reiche (CDU/CSU): Das bringt mich dazu, Sie einmal zu fragen, was unsere Ja. ausländischen Partner, zum Beispiel die Vereinigten Staa- ten, gemacht haben. Am 20. November, am Tag der Haus- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Oh!) haltsentscheidung im deutschen Kabinett Schröder, hat der amerikanische Kongress beschlossen, die Mittel für Eckart von Klaeden (CDU/CSU): die National Science Foundation, also das Pendant der Deutschen Forschungsgemeinschaft, für die nächsten Frau Kollegin Reiche, ich frage vor dem Hintergrund fünf Jahre zu verdoppeln. Das nenne ich nachhaltige und der Fragen des Kollegen Tauss, wie Sie die Presseer- strategisch vernünftige Forschungspolitik. klärung der Max-Planck-Gesellschaft vom 3. Dezember beurteilen, in der es heißt: (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) Nach einer Reihe von Jahren, in denen die staat- Die Bundesregierung setzt mit den beschlossenen lichen Zuschüsse deutlich unter dem Finanzbedarf Haushaltskürzungen in Bildung und Forschung die Zu- der Max-Planck-Gesellschaft lagen, kunftsfähigkeit Deutschlands aufs Spiel. Wo sind denn die (Jörg Tauss [SPD]: Ja, ja!) beschlossenen Prioritäten, die Sie noch in Ihrer Regie- rungserklärung angemahnt haben? sind jetzt – bei der für 2003 angekündigten Null- runde und den ungünstigen Finanzperspektiven für (Jörg Tauss [SPD]: Im Einzelplan 30!) die Folgejahre – strukturelle Konsolidierungsmaß- Sie kürzen mal eben alles gleichermaßen. Zum Beispiel in nahmen wie die Schließung von mindestens 20 In- der Biotechnologie und der molekularen Medizin sind stitutsabteilungen unvermeidlich. Selbst neue wis- größere Anstrengungen geboten, wenn wir international senschaftliche Initiativen können nicht wie geplant mithalten wollen. verwirklicht werden ... (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Jörg Tauss [SPD]: Ja, ja! – Dr. Maria Böhmer René Röspel [SPD]: Der Etatansatz ist doch [CDU/CSU]: Das ist eine bittere Nachricht!) verdoppelt worden!) (B) (D) Angesichts der Einschnitte bei den Forschungsausga- Katherina Reiche (CDU/CSU): ben wird der wissenschaftliche Nachwuchs in den Hoch- Das unterstreicht genau das, was ich gesagt habe. schulen stecken bleiben. Durch Ihre Finanz-, Steuer- und 2000 Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchs- Forschungspolitik setzen Sie die Freiheit von Forschung wissenschaftler müssen darum bangen, ihre Diplomarbeit und Lehre aufs Spiel. Anstatt zu flexibilisieren, setzen Sie oder ihre Doktorarbeit an den Instituten durchführen zu immer mehr auf Reglementierung und auf Staat. Auch können. für ausländische Nachwuchswissenschaftler, von Frau (René Röspel [SPD]: An welchem Max-Planck- Bulmahn heftig umworben, wird Deutschland immer un- Institut werden denn Diplomarbeiten bezahlt? attraktiver. Das ist doch unerhört!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das wird den Fachkräftemangel in Deutschland verschär- Der sich anbahnende Fachkräftemangel wird so nichtfen. Das wird dazu führen, dass noch mehr deutsche Wis- aufgehalten werden. senschaftlerinnen und Wissenschaftler Deutschland den Rücken kehren. Im Jahr 2004 werden die Kürzungen noch dramati- scher sein, weil dann die auf drei Jahre befristeten UMTS- (Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel Mittel wegfallen werden. So viel, Herr Tauss, zur lang- [SPD]: Nennen Sie mir das MPI, wo eine Di- fristigen Planung. plomarbeit bezahlt wird!) (Jörg Tauss [SPD]: Warten Sie doch einmal Aus den lautstarken Ankündigungen ist bei Ihnen ab!) nichts geworden. Der Rotstift regiert, und das insbeson- dere bei der Forschungspolitik. Statt sich gerade in wirt- Statt einer Verstetigung der Fördermittel droht in den ent- schaftlich schwierigen Zeiten antizyklisch zu verhalten scheidenden Bereichen wie der Genomforschung undund in die Zukunft zu investieren, sägt die Bundesregie- auch der Ostförderung ein massiver Einbruch. rung mit panischer Hektik und Fantasielosigkeit an unse- (Jörg Tauss [SPD]: Wenn es nicht so kommt, rer wichtigsten Ressource, an der Bildung. entschuldigen Sie sich, nicht?) Forschung und Innovation brauchen – ich sage es noch Präsident Wolfgang Thierse: einmal – einen langen Atem. Sie haben das bis heute nicht Kollegin Reiche, gestatten Sie noch eine Zwi- realisiert. schenfrage des Kollegen Röspel? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 819

(A) Katherina Reiche (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) und bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist Jetzt nicht mehr, sonst werden wir mit der Debatte wahr!) heute nicht mehr fertig. Ich glaube, die nächsten Kollegen warten. Ich möchte hier und heute nicht das wiederholen, was wir tagtäglich bezüglich der Finanzsituation unseres Lan- des in der Presse lesen müssen. Doch gerade in den Haus- Präsident Wolfgang Thierse: haltsberatungen spiegelt sich die schwierige wirtschaftli- Das ist ein richtiger Gesichtspunkt. che Gesamtlage wider. Es gibt zwar auch im Haushalt des Bildungs- und Forschungsministeriums an einigen Stellen (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) geringfügige Kürzungen, aber trotzdem – das ist uns nicht erst seit den Ergebnissen der PISA-Studie ein besonderes Katherina Reiche (CDU/CSU): Anliegen – finden Aufstockungen in zentralen bildungs- politischen Teilbereichen statt: beim BAföG – das wurde Aber Sie können auch – das möchte ich zum Schluss schon mehrfach angesprochen –, bei der Unterstützung sagen – ein Versprechen halten. Das ist das Versprechen der Juniorprofessur, beim so genannten Inno-Regio, dem gegenüber Ihren Gefolgsleuten. Obwohl für 2003 weniger Sonderprogramm zur Förderung innovativer Regionen in Geld für Bildung und Forschung zur Verfügung steht und den neuen Ländern, und bei der Förderung der Chancen- die Aufgaben insgesamt nicht zunehmen, wird der Ver- gleichheit für Frauen. waltungsapparat des Ministeriums aufgebläht. Eine weitere konkrete Maßnahme, die wohl uns allen (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) am Herzen liegt, ist die Sanierung des Erfurter Gutenberg- Zwei zusätzliche Abteilungen und ein zusätzlicher beam- Gymnasiums nach dem schrecklichen Amoklauf im ver- teter Staatssekretär werden installiert. gangenen April. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Bei der SPD (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden Posten geschaffen!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Wozu? Gibt es neue Zuständigkeiten? Nein. Es geht aus- Insgesamt werden nach dem heute vorliegenden Haus- schließlich um Versorgungsposten für SPD-Mitglieder, haltsentwurf die Mittel des Bundesministeriums für Bil- die der Steuerzahler finanzieren soll. dung und Forschung ansteigen. Zusammen mit den Inves- titionen für die Ganztagsschulen, die im Haushaltsplan des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kanzleramtes stehen, werden die Mittel für Bildung und Das ist das völlig falsche Signal in Zeiten leerer Kassen Forschung im kommenden Jahr auf 8,7 Milliarden Euro (B) (D) und geht zulasten von Bildung und Forschung. erhöht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörg (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Tauss [SPD]: Wie viele Staatssekretäre hatten SES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Rachel [CDU/ Sie denn, Frau Reiche, als die CDU/CSU regiert CSU]: Die Ministerin hat gerade 9,1 gesagt! Wo hat?) kommen die denn her?) Die Schaffung von 10 000 zusätzlichenGanztags- Präsident Wolfgang Thierse: schulen ist das zentrale Projekt der nächsten Legislatur- periode im Bildungssektor. Trotz leerer Kassen werden Ich erteile das Wort der Kollegin Grietje Bettin, Bünd- wir dieses Projekt verwirklichen. Dabei sind wir natürlich nis 90/Die Grünen. auf die Bereitschaft und Mitwirkung der Länder angewie- sen; denn aus nachvollziehbaren Gründen wollen wir Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht, dass die zusätzlichen Milliarden des Bundes in den Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!allgemeinen Haushalten versickern. Liebe Kollegin Reiche, auch Sie sollten jenseits der par- teipolitischen Grenzen im Interesse der Zukunft unseres Präsident Wolfgang Thierse: Landes die Fakten, die dem Bildungsetat zugrunde liegen, Kollegin Bettin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des zur Kenntnis nehmen. Kollegen Rachel? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Thomas Rachel [CDU/CSU]: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das hat sie sehr gut gemacht!) Grietje Bettin Nein, ich möchte meine Ausführungen zu Ende führen. Ich möchte auf Ihre platten Aussagen nicht weiter einge- hen; (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ach!) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Weil Sie keine – Es bringt nichts, mit Ihnen zu diskutieren. Das haben Antworten haben!) alle Ihre Wortbeiträge gezeigt. Ich denke, auf diesem Ni- veau sollten wir nicht fortfahren. denn Sie haben nicht einen konstruktiven Beitrag geleis- tet, der uns in der Bildungspolitik auch nur einen Schritt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei weiterbringen würde. der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU) 820 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Grietje Bettin (A) Wir haben genug Probleme, bei deren Lösung wir uns raus resultierenden Lernerfolge, noch recht viel For-(C) auch über die Parteigrenzen hinweg verständigen sollten. schungsbedarf. Insgesamt erfährt die sozial- und geistes- Wenn Sie dazu nicht bereit sind, weiß ich nicht, wie das wissenschaftliche Forschung im Bildungshaushalt daher im Interesse unserer Kinder ausgehen soll. auch im Jahre 2003 eine weitere Mittelerhöhung. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben Bil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dungslücken! – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: und bei der SPD) Scheinheilig! – Thomas Rachel [CDU/CSU]: Mit dem Haushalt 2003 wollen wir hinsichtlich unserer So viel zur demokratischen Kultur!) konkreten bildungspolitischen Ziele in der Zukunft weiter Wir wollen Ganztagsschulen, die nicht nur verwahren, vorankommen. Dies bedeutet erstens, weiterhin mehr sondern auch den pädagogischen Herausforderungen ge- Geld für Bildung und Forschung auszugeben, zweitens recht werden können. Die Konzepte dafür müssen schleu- mehr erfolgreiche Absolventinnen und Absolventen in al- nigst in enger Kooperation von Bund und Ländern ent- len Bildungsstufen, drittens mehr Generationengerechtig- wickelt werden. keit durch gezielte Nachwuchsförderung. Viertens setzen wir uns für eine weitere Demokratisierung der Hochschu- Nun noch ein paar Worte zu den anderen für uns Grüne len und insbesondere für eine stärkere Transparenz in den besonders wichtigen Teilbereichen. Das Erste ist die Hochschulen ein. Fünftens streben wir eine größere Chancengleichheit. Gleiche Chancen beispielsweise für Weltoffenheit und Internationalität sowie einen professio- Männer und Frauen können nicht einfach so von oben ver- nellen Umgang damit an unseren Schulen und Hochschu- ordnet werden. Allerdings zeigt die bisherige Erfahrung auch, dass eine solche Chancengleichheit längst nicht über- len an. all mit entsprechendem Nachdruck durchgesetzt wird. Dies sind die wichtigsten Rahmenbedingungen, durch Dies gilt bedauerlicherweise auch für den Bereich von Bil- die die gleichen Chancen für alle in einer gerechten und dung und Wissenschaft. Trotz breiter gesellschaftlicher flexiblen Bildungslandschaft sichergestellt werden sollen. Debatten und massiver politischer Anstrengungen ist das Bild der Frau in der Wissenschaft immer noch traurig. Nur Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. 6 Prozent der C-4-Professuren sind von Frauen besetzt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und dies, obwohl 53 Prozent der Erstsemester Frauen sind. und bei der SPD) Von Qualifikationsstufe zu Qualifikationsstufe nimmt der Anteil von Frauen rapide ab. Ein wichtiger Beitrag zur Än- derung dieses Zustands ist die Einführung der Juniorpro- Präsident Wolfgang Thierse: fessur, die hoffentlich in vermehrtem Maße auch von Ich erteile das Wort der Kollegin Cornelia Pieper von (B) Frauen in Anspruch genommen wird. Im Bundeshaushalt der FDP-Fraktion. (D) werden in unterschiedlichen Programmen knapp 21,5 Mil- lionen Euro direkt für die Verwirklichung der Chancen- Cornelia Pieper (FDP): gleichheit von Frauen zur Verfügung gestellt. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Sie, Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine höchst erfreuli- meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, che Entwicklung ist in einem anderen zentralen Bereich vor der Bundestagswahl das erste Mal über den Haushalt erkennbar. Das von uns neu konzipierteBAföG-Modell 2003 gesprochen haben, haben Sie nicht nur dieses Hohe zeigt deutliche Erfolge. Seit der Reform erhalten wesent- Haus, sondern auch die Wähler getäuscht. Und das wuss- lich mehr Studierende wesentlich höhere Fördersätze.ten Sie ganz genau. Deshalb steigen auch hier die veranschlagten Mittel im (Beifall bei der FDP – Dr. Uwe Küster [SPD]: Jahre 2003. Davon reden Sie, Frau Pieper, bitte nicht! Über Ein weiterer Einzelposten ist besonders wichtig, näm- Wählertäuschung sollten Sie etwas leiser re- lich das so genannte Sonderprogramm zur Förderung in- den!) novativer Regionen in den neuen Ländern. Es begreift Von einem neuen Rekordhaushalt für Bildung und For- Forschung und Wissenschaft als Grundlage für Wirt-schung von 8,6 Milliarden Euro war damals die Rede. Ich schaftswachstum und schafft damit neue Arbeitsplätze. frage Sie: Was ist davon geblieben? Auch hier werden die Mittel massiv aufgestockt. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist doch immer- Gleiches gilt für die Maßnahmen im Rahmen des Zu- hin etwas!) kunftsinvestitionsprogramms. Darunter fällt ein aus me- dienpolitischer Sicht interessantes Zukunftsprojekt, die so Nach der Steuerlüge nun also die Lüge bezüglich des genannte Notebook-Universität. An verschiedenen Haushalts für Bildung und Forschung. Hochschulen werden die Studierenden in Verbindung mit (Jörg Tauss [SPD]: Aber ein Rekordhaushalt dem Aufbau drahtloser Netze zur Funkübertragung in Hör- ist es trotzdem!) säle und Aufenthaltsräume mit mobilen Computern ausge- stattet. Dabei wollen wir die Studierenden auf keinen Fall Wir decken diese Lüge auf, meine Damen und Herren von von ihren Bemühungen ablenken oder einfach nur dender Regierungskoalition. Rechnerpool der Universitäten erweitern; vielmehr wollen Herr Tauss, reden wir doch einmal Klartext. Wir reden wir neue didaktische Lehrkonzepte testen und interaktive hier nicht über den Bundeshaushalt Lernprozesse ermöglichen. Allerdings gibt es, insbeson- dere bezogen auf die didaktischen Konzepte und die da- (Jörg Tauss [SPD]: Doch!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 821

Cornelia Pieper (A) der damaligen CDU/CSU-FDP-Koalition, sondern wir Sie sind in der Tat auf langfristige und verlässliche Pla- (C) reden über Ihren Haushalt und wir reden über die Glaub- nung angewiesen. Die Forschung ist eben kein Hauruck- würdigkeit Ihrer Politik und der Politik Ihrer Ministerin. betrieb, der sich beliebig an- und abschalten lässt. Wenn mir Professor Winnacker mitteilt, dass durch die Ein- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg schnitte, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft jetzt Tauss [SPD]: Und über unsere Steigerungen!) erfahren muss, drastische Eingriffe in das laufende För- Wenn noch am 17. Juni dieses Jahres eine Vereinbarung dergeschehen vorgenommen werden, sodass die Mittel der Bund-Länder-Kommission mit der Deutschen For- für 15 von 80 Sonderforschungsbereichen nicht mehr be- schungsgemeinschaft und mit den anderen Wissen-willigt werden können, dann sage ich: Sie ruinieren mit schaftsgemeinschaften getroffen worden ist, in der klar Ihrer Steuer- und Wirtschaftspolitik nicht nur den Wirt- festgelegt worden ist, dass es eine Steigerung für den Be- schaftsstandort Deutschland, Sie ruinieren damit auch den reich Wissenschaft und Forschung, für die Deutsche For- Wissenschaftsstandort Deutschland. schungsgemeinschaft, für die anderen Wissenschaftsge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten meinschaften geben soll, und die Ministerin diesen der CDU/CSU) Vertrag in der letzten Woche aufkündigt, obwohl sie doch im Sommer schon genau wusste, wie die Haushaltslage Die neue Losung Frau Bulmahns, die sie mit ihrer Pres- aussieht, semitteilung vom 20. November an das deutsche Volk aus- gibt, lautet: Anstieg der Mittel um 3,7 Prozent, also Stei- ( [SPD]: Nein, ist doch falsch! ) gerung von 8,391 Milliarden Euro auf 8,705 Milliarden Euro im Jahr 2003. Das ist auch wieder so ein Ding. Der dann bezeichne ich das ganz klar als Lüge in der Bil- uns vorliegende Haushalt weist nämlich nur 8,405 Milli- dungs- und Forschungspolitik. arden Euro aus. Da Frau Bulmahn, wie schon gesagt, mit (Ulla Burchardt [SPD]: Sie sollten mal ein biss- den globalen Minderausgaben nicht durchkam, setzte sie chen zurückhaltender sein! – Dr. Uwe Küster eben wieder 200 Millionen Euro ab. Doch jetzt spricht sie [SPD]: Sie sollten mal kleinere Brötchen Klartext und kürzt diesen Forschungshaushalt drastisch. backen!) (Jörg Tauss [SPD]: Blanker Unfug!) Sie haben die Menschen in diesem Land betrogen. Das betrifft gleichermaßen die so oft auch von Ihnen (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der beschworenen Zukunftstechnologien. Von der Biotechno- SPD) logie bis zur Weltraumforschung, kein Bereich in der For- schung bleibt von diesen Kürzungen verschont. Rot-Grün Sie hören das nicht gern, ich weiß das. vernichtet den Wissenschaftsstandort. Die Suppe müssen (B) die anderen auslöffeln: die Max-Planck-Gesellschaft, die (D) Präsident Wolfgang Thierse: Helmholtz-Gemeinschaft, die Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz, die Fraunhofer-Gesellschaft Frau Kollegin Pieper, gestatten Sie eine Zwischenfrage und die Deutsche Forschungsgemeinschaft selbst. des Kollegen Tauss? (Ulla Burchardt [SPD]: Auch Frau Pieper hat bisher kein Konzept vorgelegt! Außer Rum- Cornelia Pieper (FDP): nörgeln ist nichts zu hören!) Nein, ich möchte mit den Fakten fortsetzen. Herr Tauss Diese Bundesregierung hat immer, wenn es ihr ins führt hier rein rhetorische Diskussionen, die uns nichtZeug passte, internationale Vergleiche ins Feld geführt. weiterbringen. Doch ich sage Ihnen: International werden Sie derzeit nicht gut abschneiden. Wenn Sie sehen, dass der amerika- Meine Damen und Herren, noch in der Kabinettsvor- nische Kongress eine Verdoppelung der Forschungsaus- lage hat Frau Ministerin Bulmahn an denSteigerungs- gaben bei der National Science Foundation vorgenommen raten der BLK festgehalten. Das ist unseriös, Frau Minis- hat, ebenso europäische Staaten, zum Beispiel Großbri- terin, und Sie machen sich damit auch unglaubwürdig. Sie tannien, erkennen Sie, dass sich hier eine Entwicklung ab- wussten doch schon zu diesem Zeitpunkt besser, dass Sie spielt, von der wir immer mehr abgehängt werden. Es fin- mit dem Rotstift an Ihren Haushalt herangehen müssen. det doch schon längst nicht nur ein Wettbewerb um die Davon zeugen unter anderem auch die globalen Minder- beste Volkswirtschaft, sondern auch um die besten Köpfe ausgaben in Höhe von 345 Millionen Euro, die Sie dann statt. um 200 Millionen Euro gekürzt haben und damit auch in Ihrem Haushalt sparen mussten. Aber was sollen diese (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Spielchen, Frau Ministerin? Das ist nicht glaubwürdig. der CDU/CSU) Letztendlich mussten Sie den Herren Winnacker, Gruss, Kröll, Bullinger und Henke verkünden, dass das Ganze Präsident Wolfgang Thierse: eine Luftbuchung war und dass sie keinen Euro zur Fi- nanzierung der versprochenen Steigerungsraten zu erwar- Frau Kollegin Pieper, Sie müssen bitte zum Ende kom- ten haben. Das verdienen die großen Forschungsgemein- men. schaften nicht, Frau Ministerin. (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Cornelia Pieper der CDU/CSU) Herr Präsident, ich komme zum Ende meiner Rede. 822 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Cornelia Pieper (A) Sie setzen in diesem Haushalt die falschen Prioritäten, auf mit dem Ruhrgebiet sind. Das hat damit zu tun, dass (C) nicht für Zukunftsinvestitionen. in dieser Region besonders starkeForschungsinstitute angesiedelt worden sind. Alle, die sich mit Ostdeutsch- Jetzt noch ein letztes Wort zur Chefsache Aufbau Ost. land beschäftigen, wissen, dass wir etwa fünf starke Wirt- Auch da wird gekürzt. Für Inno-Regio waren 80 Millio- schaftsregionen haben, die deshalb stark sind, weil sie nen Euro vorgesehen. Sie sind bei 65 Millionen Euro ge- gute Forschung machen. Bei genauerem Hinsehen zeigt landet. Ich sage Ihnen: Wir müssen alle Kraft gerade auf sich, dass die wirtschaftlich starken Regionen im Kern die Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern richten. Forschungsregionen sind. Wir brauchen dort dringend eine Großforschungseinrich- tung, besonders wenn wir uns einmal vor Augen führen, In den zurückliegenden zehn bis zwölf Jahren ist durch dass im Forschungs- und Entwicklungsbereich im Osten die Transferleistungen aus dem Westen im Wesentlichen heute auf 1 000 Einwohner gerade einmal 3,8 Beschäf- der Markt für die nicht handelbaren Güter ausgebaut wor- tigte kommen. Im Westen sind dies 6,3 Beschäftigte. den. Ich will Ihnen einmal sagen, was dies ist. Zu den nicht handelbaren Gütern zählt insbesondere das Bau- gewerbe. Dieses ist im Osten durch die Steuerabschrei- Präsident Wolfgang Thierse: bungsmodelle der alten Bundesländer stark gewachsen, Frau Kollegin, bitte. hat aber im Osten zum Wohnungsleerstand geführt. Dort stehen über 1 Million Wohnungen leer. Cornelia Pieper (FDP): (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das hat et- was damit zu tun, dass zu viele Menschen aus Forschung und Technik können Impulsgeber für diese den von SPD und PDS regierten Ländern weg- Region sein. Dann aber müssen dort die Akzente zukünf- ziehen! Abwanderung! – Ulla Burchardt [SPD]: tig anders gesetzt sein. Auch dies vermisse ich in Ihrem Die blühenden Landschaften!) Haushalt, Frau Ministerin. Wir brauchen – so sagt es die Studie der Friedrich- Vielen Dank. Ebert-Stiftung deutlich – sehr viel stärker ein Umschwen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ken in der Förderpolitik auf die weichen Standortfaktoren, auf die Stärkung der Forschung. Wir müssen uns auf den Ausbau der handelbaren Güter und Dienstleistungen kon- Präsident Wolfgang Thierse: zentrieren. Dies sind im Wesentlichen Wissenschafts- Ich erteile dem Kollegen Ulrich Kasparick, SPD-Frak- dienstleistungen. Hier sitzt der Wachstumsmotor für mo- tion, das Wort. derne Volkswirtschaften. Kurz gesagt heißt dies: Nur wer (B) die Forschung fördert, wird in Ostdeutschland auf Dauer (D) Erfolg haben. Ulrich Kasparick (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- DIE GRÜNEN – Cornelia Pieper [FDP]: Rich- ren! Zwei Kurzbemerkungen vorweg: Ich freue mich, tig!) Frau Pieper, dass Sie unsere Koalitionsvereinbarung le- sen. Darin haben wir hinsichtlich der Ansiedlung von For- Der Ausbau der Forschung ist die zentrale Schlüssel- schungsinstituten einen Vorrang für Ostdeutschland fest- kategorie für den Aufbau Ost, denn es geht um den Aus- geschrieben. Dies ist genau der richtige Weg. bau der Märkte für handelbare Güter und Dienstleistun- gen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat Frau Reiche – die ich im Moment nicht sehe – hat ei- einmal für die Region Berlin ausgerechnet, dass die lokale nige Zahlen genannt und von langfristigen Perspektiven Wirtschaft der Ansiedlung von Wissenschaft etwa im Ver- gesprochen. Sie haben langfristig in der Zeit von 1994 bis hältnis 1:4 folgt, in manchen Regionen sogar im Verhält- 1998 den Forschungshaushalt um 360 Millionen Euro nis 1:7. Das bedeutet, dass ein Wissenschaftlerarbeitsplatz gekürzt. bis zu sieben Arbeitsplätze nach sich zieht. Deswegen ist (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) für den Osten der Ausbau der Wissenschaft zentral. Wir haben in diesem Haushalt seit 1998 einen Aufwuchs Wichtig ist aber auch, dass man dies mit modernen För- um 25 Prozent. Dies unterscheidet uns. derinstrumenten macht. Moderne Förderinstrumente sind schnelle Netzwerke. Wir fördern nicht die starren großen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Tanker, sondern die schnellen kleinen Beiboote, die Netz- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werke. Deswegen ist Inno-Regio methodisch der richtige Ich will etwas zum Thema Ostdeutschland sagen. In Ansatz. Ostdeutschland sind Forschung und Entwicklung die zen- Nun noch einmal zu den Zahlen, damit keine Legenden trale Kategorie. Ich möchte Ihnen begründen, warum dies verbreitet werden. Der Aufwuchs bei Inno-Regio beträgt so ist, und deutlich machen, dass wir mit unserem For- schlappe 81,6 Prozent. schungshaushalt die richtigen Prioritäten setzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat im Oktober dieses DIE GRÜNEN) Jahres eine Analyse über die Metropolregion Halle/Leip- zig vorgelegt und deutlich gemacht, dass wir mit demIch sage dies nur, damit wir einmal die richtigen Zahlen Wirtschaftwachstum in dieser Region mittlerweile gleich- hören. Bei den Juniorprofessuren – diese sind besonders Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 823

Ulrich Kasparick (A) wichtig in Ostdeutschland, weil wir an den dortigen Insti- Bundesregierung dieser großen Verantwortung überhaupt (C) tuten einen hoch motivierten Nachwuchs haben – beträgt bewusst ist. Anstatt sich auf die im Grundgesetz vorgege- der Aufwuchs circa 186 Prozent. benen Kernkompetenzen zu konzentrieren, mischte sich der Bund in der vergangenen Legislaturperiode massiv in Ich möchte noch ein Beispiel aus dem Wirtschaftsminis- die Verantwortungsbereiche der Länder. terium nennen. Dort wird ein ähnlicher Ansatz verfolgt. Es gibt ein neues Förderprogramm, das heißt„Netzwerk- (Jörg Tauss [SPD]: Was jetzt, Frau Böhmer management Ost“. Hiermit werden Netzwerkmanager fi- oder Sie?) nanziert, die die Zusammenarbeit zwischen kleinen und mittelständischen Unternehmen und der Forschung för- Weder die Einführung der zwangsverfassten Studenten- dern, insbesondere mit den Fachhochschulen. Bei mir im schaft noch das Verbot von Studiengebühren fällt in den Wahlkreis habe ich ein solches Projekt angeschoben. Das Aufgabenbereich des Bundes. Solarzentrum Sachsen-Anhalts arbeitet mit der Techni- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – schen Universität Chemnitz, den Fachhochschulen der Jörg Tauss [SPD]: Das warten wir mal ab!) Region und den Handwerkerbildungszentren in einem solchen Netzwerk zusammen. Der Bund fördert die Netz- Obendrein, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist es werkmanagementstelle. verlogen, den Ländern eine Finanzierungsmöglichkeit ab- zuschneiden, ohne einen finanziellen Ausgleich dafür zur So etwas hat Zukunft. So etwas ist hoch innovativ. Für Verfügung zu stellen. Eine aufgabengerechte Neuverteilung das Gesamtkonzept gibt es mittlerweile Anfragen aus dem der Steuereinnahmen zwischen Bund und Ländern wäre Ausland. Es besteht Interesse, insbesondere aus Asien, wohl das Mindeste, was Sie den Ländern anbieten müssten. das Gesamtkonzept zu kaufen. Das ist für den Osten in- teressant. Bildungsdienstleistungen sind verkaufbar. Es (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Richtig!) sind handelbare Dienstleistungen. Wer in den Bereich in- Eine Abgabe von Umsatzsteuerpunkten durch den Bund vestiert, der hat klug investiert. an die Länder wäre ein wichtiger und guter Anfang. Ich bin mir sicher – die Zahlen belegen es –: Der For- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Norbert Lammert) schungshaushalt 2003 geht genau diesen Weg. Besser noch: Streben Sie mit den Ländern gleich den Herzlichen Dank. großen Wurf an! Beenden Sie die lähmende Mischfinan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zierung! Entflechten Sie die Förderprogramme und über- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tragen Sie die frei werdenden Finanzmittel auf die Länder! (Beifall bei der CDU/CSU – Ulla Burchardt (B) (D) Präsident Wolfgang Thierse: [SPD]: Machen Sie doch mal eine Bundesrats- initiative!) Ich erteile der Kollegin Marion Seib, CDU/CSU-Frak- tion, das Wort. So können die Hochschulen besser ihr eigenes Profil ent- wickeln und sich den Herausforderungen einer modernen Bildungslandschaft stellen. Marion Seib (CDU/CSU): (Ulla Burchardt [SPD]: Warum hat Bayern Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- denn noch keinen Vorschlag gemacht?) gen! In der letzten Woche ging folgende Nachricht durch die Medien: Gut 2 Millionen junge Menschen stu- Warten Sie nicht, bis Karlsruhe Ihnen die rote Karte dieren an deutschen Hochschulen. Jeder dritte Jugendli- zeigt! che eines Altersjahrgangs entscheidet sich mittlerweile (Jörg Tauss [SPD]: So wie heute!) für ein Studium. – NachPISA-Schock und UNICEF- Ohrfeige könnte man meinen: endlich einmal eine gute Die Zeit drängt. Bereits jetzt sind die Folgen Ihrer ver- Nachricht. Aber: Masse – das müssen wir uns vor Augen fehlten Forschungspolitik sichtbar. Landauf und landab halten – ist nicht gleich Klasse. klagen Wissenschaftler über einen Wust an Vorschriften. Dieser Wust zeugt von einem schweren Misstrauen gegen (Jörg Tauss [SPD]: Also Selektion?) Forschung und Lehre in Deutschland und ist zudem ge- Die Universitäten und Forschungseinrichtungen in un- paart mit der Überheblichkeit Ihrerseits, alles besser zu serem Land sollen nicht nur die größtmögliche Zahl von wissen. Das Schlagwort von der Freiheit von Forschung Studenten durchschleusen; sie sollen auch und geradeund Lehre ist zu einer ganz hohlen Formel verkommen. Spitzenforschung betreiben. Nun stehen Sie mit leeren Händen da. Die Wähler und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wählerinnen fühlen sich massiv getäuscht und betrogen. Nicht nur im Bereich Soziales und Gesundheit, sondern Spitzenforschung ist nur mit einer guten finanziellen Aus- auch im Bereich Bildung und Forschung wurden die stattung möglich. Wähler verschaukelt. Auf das potemkinsche Dorf beim (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr!) 4-Milliarden-Euro-Schulbauprogramm, das Sie „Ganz- tagsschulprogramm“ nennen, haben meine Kollegen Neben den Ländern kommt dem Bund eine wichtige und Kolleginnen von der Union bereits hingewiesen. Rolle bei der finanziellen Unterstützung der Forschungs- einrichtungen zu. Man muss allerdings fragen, ob sich die (Nicolette Kressl [SPD]: Pure Demagogie!) 824 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Marion Seib (A) Verehrte Frau Kollegin, wir wollen stattdessen Wahlfrei- Notwendig ist – ich erinnere an Herrn von Weizsäcker, der (C) heit für Familien herstellen. Wir wollen die bedarfsge- vorhin in der Debatte zur Umweltpolitik auf die Notwen- rechte Lösung vor Ort. digkeit einer langfristigen Politik hingewiesen hat – vor allem eine über die Legislaturperiode hinaus angelegte, (Ulla Burchardt [SPD]: Dann fangen Sie doch verlässliche mittel- und langfristige Finanzierung der For- mal damit an!) schungseinrichtungen. Sonst lässt sich eine langfristig an- Wir wollen die Förderung der familienergänzenden und gelegte Grundlagenforschung nicht realisieren. nicht der familienentziehenden Erziehung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Es kann nicht sein, dass noch im Juni versprochen Wir wollen Lehrer statt Mauern. wurde, 2,3 Milliarden Euro fürgemeinsame For- schungsförderung auszugeben, und dass diese zugesag- Ihre leeren Hände zeigen sich nicht nur in diesem Teil- ten Mittel wenige Monate später komplett gestrichen wer- bereich, sondern auch im gesamten Bereich von Bildung den. So erreicht man kein größeres Vertrauen in den und Forschung. Auch nach dem neunten Debattenbeitrag Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland. ist noch nicht klar, wie viel Mittel zur Verfügung stehen. In der Debatte am 12. September war von 9,3 Milliarden Die Forschungseinrichtungen unseres Landes schlagen Euro die Rede. Nach der Kabinettssitzung hieß zu es: Recht Alarm. Am bedrohlichsten ist aber, dass bei der 8,7 Milliarden Euro. Heute sprechen Sie von 9,1 Milliar- Deutschen Forschungsgemeinschaft 2000 Stellen für den Euro. Im Haushalt sind 8,4 Milliarden Euro ausge- Nachwuchswissenschaftler zur Disposition stehen. Der wiesen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, welche wissenschaftliche Nachwuchs kann nicht warten, bis die Zahlen gelten nun eigentlich? Werden hier Mittel aus der Regierung die Folgen ihrer Vollbremsung kapiert. Die Ressortforschung hin und her geschoben? Wie kommt jungen Leute werden sich im Ausland umschauen, wo sie heute plötzlich die Zahl von 9,1 Milliarden Euro zu-gebraucht werden und gern gesehen sind. Das bedeutet stande? eine Vernichtung von Know-how und Engagement. In In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung ist davon die Ihrem Ministerium scheint man von Knowledge Manage- Rede, dass Sie weitere Anstrengungen unternehmen wol- ment noch nie etwas gehört zu haben, wenn Sie beim Bil- len, dungsmanagement für die gesamte Republik glauben, mit Vollbremsungen Wissenschaftler fördern zu können. um weltweite Spitzenleistungen in der Forschung zu ermöglichen. ( [CDU/CSU]: Herr Tauss hat zu allem schon etwas gehört, hat aber nichts Weiter heißt es: verstanden! – Gegenruf des Abg. Jörg Tauss (B) (D) Es gilt, Innovationen in Deutschland zu fördern, die [SPD]) Grundlagenforschung zu stärken und durch Beiträge – Ich habe im Moment das Wort. von Wissenschaft und Forschung die Entwicklung einer nachhaltig zukunftsfähigen Wirtschaft und Ge- Durch die Regierung werden die Eckpfeiler der deut- sellschaft in Deutschland voranzubringen. schen Forschungslandschaft wie die Max-Planck-Gesell- schaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Da kann ich nur sagen: Richtig! Gut gemacht! Das unter- Fraunhofer-Gesellschaft nicht gestützt, sondern erheb- stützen auch wir. lichen Belastungen ausgesetzt. (Jörg Tauss [SPD]: Also!) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Jawohl!) Doch knapp einen Monat später handelt die Bundes- Frau Bundesministerin, wenn Sie wirklich einen wei- regierung völlig entgegen ihrer eigenen Koalitionsverein- teren, also einen dritten, verbeamteten Staatssekretär barung. Sie widerruft Haushaltszuwächse für die vonbrauchen, Bund und Ländern gemeinsam geförderten Forschungs- einrichtungen und ruft zusätzlich eine Nullrunde aus, die (Ulla Burchardt [SPD]: Wieso einen dritten? eigentlich eine Minusrunde ist. Können Sie nicht mehr zählen?) (Thomas Rachel [CDU/CSU]: So ist es!) dann muss ich Ihnen sagen: Wenn Sie schon Gehälter für Bildung ausgeben wollen, dann geben Sie sie für diejeni- Dies geschieht ohne jegliche Rücksprache mit den Län- gen aus, die Bildung vermitteln und Forschung betreiben, dern und entgegen der Vereinbarung mit der Bund-Län- und nicht für diejenigen, die Bildung und Forschung ver- der-Kommission im Sommer dieses Jahres. walten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Mittel- CDU/CSU: Oder gar verhindern!) streichungen stellen einen schweren Schlag für dieDass es auch anders geht, zeigen uns die Amerikaner. Das Grundlagenforschung in Deutschland dar. Deutschland haben wir heute schon mehrmals gehört. darf nicht den Ast absägen, auf dem es sitzt. Nach der Veröffentlichung der PISA-Studie ist oft, auch heute wie- Nicht nur bei den Forschungseinrichtungen, sondern der, darauf hingewiesen worden, wie wichtig dieser Be- auch bei den Fachhochschulen regiert der Rotstift der reich ist. Um das vorhandene Potenzial richtig nutzen zu Bundesregierung. 1992, also zu unserer Regierungszeit können, braucht man mehr als bloße Lippenbekenntnisse. – Sie haben vorhin so gerne den Blick in die Vergangen- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 825

Marion Seib (A) heit gerichtet –, wurde das Programm zur anwendungs- konfrontieren, was in den von der FDPmitregierten Ländern (C) orientierten Forschung gestartet. ohne sozialdemokratische Beteiligung passiert. Baden- Württemberg: ein Minus von 42,9 Millionen Euro bei Bil- (Ulla Burchardt [SPD]: Von da an ging es dung und vor allem bei Wissenschaft und Forschung. Ham- bergab!) burg, wo Sie unanständigerweise mit Herrn Schill eine Der Mittelstand sollte schneller als bisher an Forschungs- Koalition gebildet haben: ein Minus von 11 Millionen Euro. ergebnissen teilhaben können. Nun werden die MittelBayern – liebe Frau Kollegin Seib, es ist prima, dass ich in gekürzt. Das ist ein schönes Geschenk zum zehnjährigen diesem Zusammenhang auch auf Ihre Rede eingehen kann – Bestehen dieses Programms. Das bringt dem Mittelstand hat den ersten Haushaltsentwurf für diesen Bereich gekürzt – zusätzlich zu dem Steuerdruck und dem Regelungs-und den zweiten, bereits gekürzten Haushaltsentwurf um wirrwarr – vor allem auch einen erschwerten Zugang zur nochmals 34 Millionen Euro gekürzt. aktuellen Forschung. Das ist ein weiterer Sargnagel für Sagen Sie einmal, mit welcher Chuzpe werfen Sie uns den Wirtschaftsstandort Deutschland. Kürzungen im Haushalt vor? Das machen Sie doch in (Beifall bei der CDU/CSU) Ihren Ländern. Sie können froh sein, dass wir nicht zu- sätzlich viel Geld für die großen Forschungseinrich- Meine sehr geehrten Damen und Herren, schon Präsi- tungen einstellen. Sie hätten nämlich für Ihre 10 Prozent dent John F. Kennedy stellte klar, dass es nur eines gibt, Kofinanzierung kein Geld. Das sollten Sie den Max- was auf Dauer teurer ist als Bildung, nämlich keine Bil- Planck-Instituten und den anderen Instituten der Ordnung dung. Wer Bildung will, braucht Lehrer. Wer Forschung halber mitteilen, sonst sind Sie nicht sehr redlich. Das will, braucht Wissenschaftler. Wir wollen keinen Zentra- muss man Ihnen leider vorhalten. lismus in der Bildungs- und Forschungspolitik und keine kurzatmigen Schulbauprogramme. Wir wollen die freie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hand der Länder beim Mitteleinsatz und die Beibehaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulla Burchardt [SPD]: Wählertäuschung und Wahl- föderaler Strukturen. betrug!) Deshalb fordern wir (Ulrich Kasparick [SPD]: Mehr Geld!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: die Aufhebung der Gemeinschaftsaufgabe Bildungspla- Ich muss einräumen, Herr Tauss: Wer Ihre ausgeprägte nung, den Abbau der Mischfinanzierungen und der Ge- Neigung zu Zwischenrufen kennt, der muss fast ange- meinschaftsaufgabe Hochschulbau sowie eine aufgaben- nehm überrascht sein, dass die Kurzintervention gerechte Neuverteilung der Steuereinnahmen zwischen (Jörg Tauss [SPD]: Kurz war!) (B) Bund und Ländern. Dies bringt uns in der Bildungspolitik (D) weiter. Dies sind wir den jungen Wissenschaftlern, den wirklich eine solche geblieben ist. Studenten und den Schülern schuldig. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Nun hat die Frau Kollegin Pieper Gelegenheit, auf die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kurzintervention zu antworten.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Cornelia Pieper (FDP): Nun hat der Kollege Tauss das Wort für eine Kurz- Herr Tauss, ich stelle fest, dass Sie von meinen Aus- intervention. führungen sehr beeindruckt waren; denn Sie schienen in Ihrer Kurzintervention emotional bewegt zu sein. Ich (Werner Lensing [CDU/CSU]: Oh Graus, stelle weiterhin fest: Ich habe mit meinen Argumenten in der Tauss!) der Tat voll ins Schwarze getroffen. Ich wiederhole: Es kommt darauf an, dass wir alle, so- Jörg Tauss (SPD): wohl im Bund als auch in den Ländern, lernen, Liebe Frau Kollegin Pieper, Sie haben mit Bezug auf (Jörg Tauss [SPD]: Ah ja!) eine Rede von mir in diesem Hause uns und auch mirdass die Haushalte für Bildung, Forschung und Wissen- Wählertäuschung vorgeworfen. schaft aufgestockt werden müssen und nicht gekürzt wer- (Zuruf von der CDU/CSU: Wo sie Recht hat, den dürfen. Ich weiß, dass gerade dort, wo die FDP mit- hat sie Recht!) regiert, egal ob in Rheinland-Pfalz mit der SPD oder auch in Baden-Württemberg mit der Union, Nun will ich nicht fragen, was die Menschen in Sachsen- Anhalt von den Versprechen der Ministerpräsidentkandi- (Jörg Tauss [SPD]: Gekürzt wird!) datin Pieper halten. Die Arbeit in Sachsen-Anhalt beginnt, sehr viel für Forschung und Bildung getan worden ist, und Frau Pieper geht. Aber dies möchte ich nur am Randezwar nicht nur mit Investitionen, sondern auch mit Struk- erwähnen. turveränderungen in der Bildungspolitik. Liebe Frau Pieper, Sie und andere haben soeben beklagt, Die FDP hat als erste Regierungspartei gefordert, dass dass wir in diesem Bereich Kürzungen vornehmen. Diese die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze aufgege- kann ich aber nicht erkennen. Ich will Sie einmal mit dem ben wird. Wir haben dazu im Bundesrat eine Initiative 826 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Cornelia Pieper (A) gestartet; das wissen Sie. Sachsen-Anhalt hat sich jetzt da- Das halte ich nicht für richtig. Wir verfahren anders, in- (C) ran beteiligt. In Sachsen-Anhalt hat die neue Landesre- dem wir im nächsten Jahr in diesem Bereich Minimalbe- gierung als erste Maßnahme das 13. Schuljahr abge-träge einsparen. schafft. (Ina Lenke [FDP]: Minimalbeträge! Das (Beifall bei Abgeordneten der FDP) stimmt doch gar nicht!) Das schaffen Sie in Ihren Ländern nicht. In Richtung mo- Natürlich sind – das will ich in keiner Weise abstreiten – derne Bildungs- und Wissenschaftspolitik bewegen Sie die materiellen Rahmenbedingungen für Familien von er- doch nichts. Zum einen geht es um mehr Investitionen. heblicher Bedeutung. Sie sind wichtig, aber sie sind nicht Zum anderen geht es aber auch um modernere Strukturen am wichtigsten. In allen Umfragen nennen junge Familien in Bildung und Forschung. Die sind bei Ihnen nicht er- eine familienfreundliche Gesellschaft mit guten Betreu- kennbar. ungs- und Bildungseinrichtungen für ihre Kinder als ihren wichtigsten Verbesserungswunsch. Diesem Ziel werden wir Herr Tauss, Sie bedauern, dass ich nicht Ministerpräsi- in dieser Legislaturperiode ein gutes Stück näher kommen. dentin von Sachsen-Anhalt geworden bin. Was beim ers- ten Anlauf nicht geklappt hat, klappt vielleicht später ein- Junge Frauen wie junge Männer wollen heute beides: mal. Vielleicht beruhigt Sie das. Beruf und Familie. Das scheitert aber häufig an den man- gelnden Kinderbetreuungsmöglichkeiten. 70 Prozent der Vielen Dank. nicht erwerbstätigen Mütter mit Kindern unter 12 Jahren würden gerne eine Erwerbsarbeit aufnehmen, wenn die (Jörg Tauss [SPD]: So wie bei Möllemann!) Kinderbetreuung gesichert wäre. Hier drückt die jungen Familien in Deutschland der Schuh. Wir brauchen des- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: halb, meine sehr geehrten Herren und Damen insbeson- dere von der Union, keine Ideologie, sondern praktische Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich Unterstützung für Familien. Das werden wir in dieser Le- liegen nicht vor. gislaturperiode anpacken. Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Als erster Rednerin erteile ich der Bundesministerin Frau Renate Schmidt das Wort. Familien sind und bleiben – wir sollten uns an dieser Stelle nicht immer wieder in Kämpfe verstricken – die wichtigste Institution für Kinder. Das steht für uns außer Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Senio- Frage. Hier ist der Ort, an dem sie Vertrauen und Wärme (B) ren, Frauen und Jugend: erfahren und an dem sich Persönlichkeit und Charakter(D) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenentwickeln. Deshalb werden wir die zahlreichen Projekte Herren! Meine sehr geehrten Damen! Der Einzelplan 17 und Maßnahmen zur Stärkung der Erziehungskompetenz macht deutlich, wo diese Bundesregierung ihre Prioritä- von Eltern in meinem Ressortbereich auch im nächsten ten setzt. Der Einzelplan des Familienministeriums ist Jahr weiterführen und dabei neue Impulse setzen. nicht, wie oftmals in der Geschichte – und zwar sowohl Wir brauchen in unserer Gesellschaft ein Erziehungs- bei konservativ geführten als auch bei SPD-geführtenklima, das auf Förderung, Fürsorge und Respekt ausge- Bundesregierungen –, zum Steinbruch für notwendige richtet ist. Sparmaßnahmen gemacht worden. Bei den Ausgaben für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Familien, Senioren, Frauen und für die Jugend in meinem DIE GRÜNEN) Ressortbereich wird zu Recht nicht gespart. Wir haben da- mit die Chance, Gesellschaftspolitik zu gestalten. Aber es gibt in der heutigen Zeit auch eine gesellschaftli- che Mitverantwortung für das Aufwachsen von Kindern. Damit will ich aber in keiner Weise vertuschen, dass Es geht darum, dass alle ihren Teil dazu beitragen, um Einsparungen in anderen Ressorts auch unseren Bereich Kinder stark zu machen. Deshalb werden wir in den berühren. Doch konnten wir bei allen Sparnotwendig- nächsten Jahren mit 4 Milliarden Euro vonseiten des Bun- keiten die Belastungen für Familien wenigstens mil- des Ganztagsschulen in Deutschland fördern. dern. Ich nenne als Beispiel die Eigenheimzulage, bei der es Manfred Stolpe und mir gelungen ist, gegenüber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem ersten Entwurf deutliche Verbesserungen zu errei- DIE GRÜNEN) chen. 300 Millionen Euro stehen im Haushalt 2003 dafür zur (Lachen bei der CDU/CSU) Verfügung. Vor allen Dingen haben wir es geschafft, den Vertrauens- Ich habe die Diskussion zu dem Einzelplan 30, dem schutz zu gewährleisten, anders als im Freistaat Bayern, Ressort von Edelgard Bulmahn, vorhin mit verfolgt. wo Familien, die bereits Zusagen erhalten hatten, von ei- (Jörg Tauss [SPD]: Das war peinlich! – Gegen- nem Tag auf den anderen erfahren mussten, dass sie keine ruf von der CDU/CSU: Sie waren peinlich!) Wohnungsbauförderung bekommen. Ich habe eine Bitte: Widerstehen wir doch dieser absurden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Neigung, auch über dieses Ressort ausschließlich ideolo- DIE GRÜNEN) gisch zu diskutieren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 827

Bundesministerin Renate Schmidt (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lernen Impulse für eine gesunde körperliche, geistige und (C) DIE GRÜNEN) seelische Entwicklung erhalten. Das ist in erster Linie natürlich die Aufgabe der Eltern. Aber das ist auch die Kein Mensch, der einigermaßen bei Sinnen ist, geht da- Aufgabe der Kindertageseinrichtungen. Deshalb müssen von aus, dass Ganztagsschulen das einzige Konzept sind, Kindertagesstätten mehr als bisher zu Einrichtungen der um in vergleichenden Bildungsstudien endlich Fort- frühkindlichen Bildung werden. schritte zu erzielen. Aber sie sind ein Baustein dafür. Kein Mensch behauptet, dass der Bund jetzt in die Förderung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) von Ganztagsschulen der Länder eintreten will. Vorhin ist Wir werden deswegen für die Kindertagesstätten verbind- aber gefordert worden, den Ländern freie Hand zu lassen. liche Bildungsziele und Qualitätsmerkmale vereinbaren. Was hat uns die freie Hand der Länder denn in den ver- Uns geht es um den Dreiklang Betreuung, Erziehung und gangenen Jahren gebracht? Eine zehnprozentige Versor- Bildung. Wir wissen uns darin übrigens mit den meisten gung mit Ganztagsschulen in Westdeutschland. Das reicht Bundesländern, auch mit den unionsregierten, einig. aber nicht! Auch mit dem Hartz-Konzept werden die Interessen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Familien gestärkt. Alleinerziehende, die bisher So- DIE GRÜNEN) zialhilfe bezogen haben, werden in die Vermittlungsakti- Im Freistaat Bayern, dem größten Flächenland, sind es vitäten des Arbeitsamtes einbezogen. Die neuen Minijobs gerade einmal 24 Ganztagsschulen. Die Diskussion dreht können auch bei der Kinderbetreuung eingesetzt werden. sich um die Frage, ob noch 30 weitere hinzu kommen Das hilft erwerbstätigen Eltern und eröffnet auch neue können. Das reicht nicht. Wir wollen nicht etwa die Län- Möglichkeiten für qualifizierte Tagesmüttermodelle. der bevormunden, sondern eine Initialzündung starten. Wir werden ihnen alle Freiheiten dabei lassen, wie sie die- Eine steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen wird ses Programm ausgestalten wollen und welche pädago- immer wichtiger, um die Leistungsfähigkeit unserer gischen Konzepte sie dabei verfolgen. Das ist unser Kon- Volkswirtschaft zu erhalten und damit auch die Folgen zept. des demographischen Wandels zu bewältigen. Aber das bedeutet natürlich auch, dass Frauen endlich die gleichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Chancen auf berufliche Entwicklung und Karriere haben DIE GRÜNEN) müssen wie Männer. Wenn ich sehe, dass die Hessische Landesregierung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden, die laut der DIE GRÜNEN) PISA-Studie nicht nur die beste Schule in ganz Deutsch- Wir alle kennen die Zahlen und Fakten, die zeigen, (B) land war, sondern auch im weltweiten Vergleich die bes- (D) ten Ergebnisse vorzuweisen hatte – sie war besser als alle dass Deutschland im Vergleich zu seinen europäischen Schulen in Finnland und ihre Schüler haben mit ihren ma- Nachbarn noch einen großen Nachholbedarf hat. Wir wer- thematischen Fähigkeiten sogar die japanischenden deshalb die entsprechendenEU-Richtlinien zur überholt –, unter Umständen mit Schließung droht, weil Gleichstellungspolitik umgehend in nationales Recht sie nicht als Versuchsschule weitergeführt werden soll, umsetzen. Deutschland wird in Zukunft auch ein Land dann muss ich sagen: Das ist Ideologie und dem müssen sein, das für seine Gleichstellungspolitik bekannt ist. wir endlich entgegenwirken. Dazu gehört das Einrichten einer nationalen Gleichstel- lungsstelle. Dazu gehört auch, dass wir den Aktionsplan (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen fortschreiben DIE GRÜNEN – Widerspruch der Abg. Ingrid und dass das Gender Mainstreaming zum Handlungs- Fischbach [CDU/CSU]) maßstab nicht nur im öffentlichen Dienst, sondern in un- Jetzt hätte ich mich beinahe aufgeregt. serer gesamten Gesellschaft wird. (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unsere Gesellschaft braucht die Beteiligung junger DIE GRÜNEN) Menschen. Die Beteiligung von Jugendlichen ist das bes- te Lernprogramm für die Demokratie. Dass die Jugendli- Wir brauchen bessere Betreuungsmöglichkeiten und chen bereit sind, sich zu engagieren, zeigt die jüngste Bildungsangebote nicht nur für Schülerinnen undShell-Jugendstudie: 35 Prozent der Jugendlichen sind Schüler, sondern auch für die kleinen Kinder. Deshalb regelmäßig gesellschaftlich aktiv, weitere 41 Prozent ge- werden wir ab Ende 2004 jährlich 1,5 Milliarden Euro für legentlich. Der Jugend geht es eben nicht nur um Spaß. bessere Betreuungsmöglichkeiten durch Krippen oder Ta- Sie ist in hohem Maß leistungsbereit und will sich in die- gesmütter für unter Dreijährige bereitstellen. Auch daran ser Gesellschaft engagieren. Um die Beteiligung von Ju- wird nicht gerüttelt werden. gendlichen nachhaltig zu sichern, wird die 2001 gestartete Wir werden im kommenden Jahr die geplanten großen Beteiligungsbewegung unter dem Motto „Ich mache Po- Projekte in Zusammenarbeit mit den Ländern, den Ge- litik“ auch in den nächsten Jahren fortgesetzt, meinden und den Trägern der Einrichtungen sorgfältig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ prüfen. Ein Punkt ist mir dabei besonders wichtig: Seit der DIE GRÜNEN) PISA-Studie wird auch von der breiten Öffentlichkeit in Deutschland endlich erkannt, wie entscheidend für den und zwar gemeinsam mit starken Partnern, nämlich der späteren Lebensweg die frühzeitige Bildung unserer Kin- Bundeszentrale für politische Bildung und dem Deut- der ist. Kinder müssen möglichst früh über spielerisches schen Bundesjugendring. 828 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Bundesministerin Renate Schmidt (A) Wir machen deutlich, dass wir die jungen Menschen in teme umfasst. Wir brauchen ein Verständnis von Jugend, (C) unserem Land ernst nehmen. Das zeigt sich auch daran, das Jugendlichkeit nicht zum Maßstab aller anderen Le- dass es gelungen ist, entgegen dem ursprünglichen Fi- bensalter macht. Ferner brauchen wir ein Bild des Alters, nanzplanansatz für 2003 zusätzliche Mittel im Kinder- das diesen Lebensabschnitt nicht mit Hilfsbedürftigkeit und Jugendplan des Bundes einzustellen. Weil wir wissen, und Krankheit gleichsetzt. Die gute Mischung von Alt und dass das Zukunftsinvestitionen sind, geben wir in diesen Jung ist für die Gesellschaft, aber auch für die Wirtschaft Bereichen – auch, wenn wir in anderen Bereichen sparen ein unverzichtbares Kapital, das sie endlich besser als bis- müssen – mehr Geld aus. her nutzen sollte. Wir werden in dieser Legislaturperiode die Möglichkeiten aktiver alter Menschen und ihrer ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sellschaftlichen Teilhabe weiter stärken. DIE GRÜNEN) Das bedeutet konkret, dass wir das Programm „Jugend Zu einem realistischen Bild des Alters gehört aber für Toleranz und Demokratie“, mit dem jugendlichen Ini- ebenso, dass wir darauf reagieren, wenn wegen der weiter tiativen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeind- steigenden Lebenserwartung auch die Zahl der Menschen lichkeit gefördert werden, auf dem bisherigen Niveauzunehmen wird, die im hohen Alter auf Schutz und Hilfe weiterführen können. Das bedeutet, dass wir die Pro-angewiesen sind. Diese Bundesregierung hat in den letz- gramme für sozial benachteiligte Jugendliche genauso ten Jahren in diesem Bereich viel geleistet. Ich erinnere wie die Freiwilligendienste für junge Menschen auswei- nur an das neue Heimgesetz und das Pflege-Qualitätssi- ten werden. cherungsgesetz. Endlich haben wir auch gegen den jahr- zehntelangen Widerstand aus Bayern ein bundeseinheitli- Ferner wollen wir Kinder und Jugendliche so gut wie ches Altenpflegegesetz. möglich vor Gefahren verschiedenster Art schützen. Mit dem neuen Jugendschutzgesetz haben wir hier einen Mei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lenstein gesetzt, und zwar sowohl beim Schutz vor Sucht- DIE GRÜNEN) gefahren durch Alkohol und Tabak wie auch beim Schutz Die Ausbildung nach dem neuen Recht kann ab dem vor schädlichen Einflüssen durch Medien. Gemeinsam 1. August 2003 beginnen. mit dem Jugendmedienschutzstaatsvertrag der Länder wird das Gesetz am 1. April 2003 in Kraft treten. Ganz Wir werden in den kommenden Monaten und Jahren wichtig ist mir auch der bestmögliche Schutz von Kindern den Weg der Qualitätssicherung und -verbesserung für äl- vor sexueller Gewalt und Ausbeutung. Wir werden dazu tere Menschen konsequent weitergehen. Wir werden die in Kürze einen nationalen Aktionsplan vorlegen. Rechte der Aktiven und die Rechte der Nutzer ambulan- (Beifall bei der SPD) ter Dienste stärken. Wir wollen mit allen, die in der Al- tenhilfe Verantwortung tragen, insbesondere mit den (B) (D) Ich möchte betonen, dass ich die Vorstellungen der Bun- Wohlfahrtsverbänden, Vereinbarungen treffen, wie wir desjustizministerin für eine härtere Bestrafung bei sexu- die Situation pflegebedürftiger Menschen verbessern ellen Vergehen an Kindern ausdrücklich teile. können. Der Bundespräsident hat mit Recht auf Folgen- Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da- des hingewiesen: men, angesichts der Rentendebatte in den letzten Wochen Wir haben die Kraft, den demographischen Wandel will ich als Ministerin, die sowohl für die Jugend wie für zu gestalten, statt ihn zu erleiden. die Senioren verantwortlich ist, Folgendes ganz deutlich sagen: Wir alle sollten uns davor hüten, einen „Krieg der Mein Ministerium wird seinen Beitrag zu diesem Gestal- Generationen“ in unsere Gesellschaft hineinzutragen. tungsauftrag leisten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/ CSU]: Wie hoch ist denn der Beitrag?) Unsere Verantwortung, insbesondere die Verantwortung meines Ministeriums, heißt, den Zusammenhalt der Ge- Meine sehr geehrten Herren, meine sehr geehrten Da- sellschaft zu stärken und nicht ihre Spaltung zu betreiben men, der Zivildienst in Deutschland kann auf eine fast und Vorurteile zu schüren. Nehmen wir es doch zur42-jährige Geschichte zurückblicken. Hunderttausende Kenntnis und sagen wir es den anderen: Junge Menschen von jungen Männern haben soziales Engagement gezeigt, sind entgegen landläufiger Meinung meistens stark enga- geholfen und entscheidende Erfahrungen für ihr weiteres giert. Die Älteren beuten nicht die Jungen aus, sondern sie Leben gemacht. Der Zivildienst war jedoch gerade in leisten erhebliche materielle Unterstützung für die Jünge- jüngster Zeit ein Dienst, der auf gesellschaftliche Verän- ren. Sie helfen im Alltag und bei der Betreuung ihrer En- derung reagiert. Ich erinnere daran, dass am 1. August kelkinder und machen so die Erwerbstätigkeit ihrer eige- 2002 eine Änderung des Zivildienstgesetzes in Kraft ge- nen Kinder überhaupt erst möglich. Ferner stellen sie ihre treten ist, wonach auch die Ableistung eines freiwilligen Lebenserfahrung und ihre Kompetenzen ehrenamtlich zur ökologischen oder eines freiwilligen sozialen Jahres als Verfügung. Es ist wichtig, dass wir nicht das Gegenei- Zivildienst anerkannt ist. Wir setzen auf Freiwilligkeit nander, sondern das Miteinander betonen. und lehnen deshalb eindeutig und unmissverständlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine allgemeine Dienstpflicht, wie sie Herr Koch in Hes- DIE GRÜNEN) sen zum wiederholten Male vorschlägt, ab. Dieses Füreinander-Einstehen ist der Kern einesGe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nerationenvertrags, der mehr als staatliche Sozialsys- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 829

Bundesministerin Renate Schmidt (A) Nur Diktaturen kennen eine solche. Unsere Verfassung Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir im (C) verbietet sie. Wir haben uns in internationalen Verträgen Jahre 2006 vor dem Hintergrund der real existierenden gegen eine allgemeine Dienstpflicht ausgesprochen. Des- Verhältnisse entscheiden wollen, ob es vernünftig ist, die halb sollte diese Diskussion endlich beendet werden. Wehrpflicht weiterzuführen oder nicht. Meine Position (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dazu kennen Sie. Ich werde aber bis zum Jahr 2006 alles DIE GRÜNEN) dafür tun, um für den Zivildienst eine annähernde Gleich- behandlung zu erreichen. Eine solche wird aber nur annähernd erreichbar sein. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wenn die Bundeswehr nur noch eine Zahl von weniger Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwi-als 100 000 Wehrpflichtigen braucht und ungefähr 50 Pro- schenfrage der Kollegin Lenke? zent eines Jahrgangs den Kriegsdienst verweigern, dann ist nicht einzusehen, warum für den Zivildienst mehr als Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se- 100 000 eingezogen werden sollen. Wir werden also ver- nioren, Frauen und Jugend: suchen – das ist nur eine unzureichende Wehrgerechtig- keit –, in diesem Punkt einigermaßen Gerechtigkeit zu er- Ich bin gleich fertig. Dann gern, Frau Lenke. reichen. Mit den Wohlfahrtsorganisationen führe ich Auch der Zivildienst kann von der Notwendigkeit, den Gespräche, um einen Einbruch durch die Sparmaßnah- Haushalt zu konsolidieren, nicht ausgenommen werden. Ich men zu verhindern und um zu klären, ob eine höhere Ei- habe bereits mit den Spitzen der Wohlfahrtsverbände in be- genbeteiligung möglich ist. währter partnerschaftlicher Zusammenarbeit und mit den übrigen Trägern erste Gespräche geführt, wie wir die Situa- Eine absolute Gerechtigkeit ist aber in dieser Frage vor tion des Sparenmüssens – es geht immerhin um eine Grö- dem Hintergrund des Bedarfs der Bundeswehr nicht zu er- ßenordnung von 90 Millionen Euro – bewältigen können. reichen. Ich bin gespannt, welche Entscheidungen 2006 Es zeichnet sich ab, dass wir eine angemessene und geeig- gefällt werden. nete Lösung im Interesse aller Beteiligten finden werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Der Einzelplan 17, meine sehr geehrten Herren, meine 90/DIE GRÜNEN) sehr geehrten Damen, belegt: Die Bundesregierung setzt gesellschaftliche Schwerpunkte für die Zukunft und die Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Stabilität der Familien, für die Zukunftschancen unserer Kinder, für das Miteinander von Alt und Jung und für die Ich erteile der Kollegin Maria Eichhorn von der Chancengleichheit von Frauen und Männern. Deshalb CDU/CSU-Fraktion das Wort. (B) freue ich mich auf die Beratungen zu diesem Haushalt und (D) bitte um Ihre Unterstützung. Maria Eichhorn (CDU/CSU): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der letz- ten Legislaturperiode haben Sie von Rot-Grün eine kin- der- und familienfeindliche Politik betrieben. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Widerspruch bei der SPD – Ekin Deligöz Bitte sehr, Frau Kollegin Lenke. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch selber nicht!) Ina Lenke (FDP): Leider setzen Sie diese jetzt fort. Frau Ministerin, ich finde es sehr sympathisch, dass Sie Frau Ministerin, wo sehen Sie bei der Eigenheimzu- meine Zwischenfrage noch zulassen. lage eine Verbesserung, wenn eine Familie sechs Kinder Sie haben sich gegen die allgemeine Dienstpflicht aus- haben muss, um eine Neubauförderung zu erhalten? gesprochen. Ich begrüße das außerordentlich. Wir von der Weil Sie immer wieder Bayern anführen und glauben, FDP wollen sie auch nicht. Sie wissen aber, dass es jedes Bayern beschimpfen zu müssen, frage ich Sie: Wie Jahr 100 000 Wehrpflichtige und 130 000 Zivildienstleis- tende gibt, dass aber 175 000 Männer eines Jahrgangs kommt es, dass Bayern die niedrigsten Arbeitslosenzah- keinerlei Pflichtdienst leisten. Geben Sie uns bitte Aus- len hat und bei der PISA-Studie mit an der Spitze steht? kunft, was Sie gegen die Wehrungerechtigkeit, die ja auch Ich halte Ihnen noch eine andere Zahl vor: Bei den Kin- eine Zivildienstungerechtigkeit ist, unternehmen! dertagesstätten für die unter Dreijährigen erreicht Bayern einen Durchschnitt von 3,5 Prozent, Nordrhein-Westfalen Renate Schmidt, Bundesministerin für Familie, Se- dagegen nur 2,3 Prozent. nioren, Frauen und Jugend: Wir können dieses Spielchen fortsetzen. Aber dies Frau Lenke, Sie wissen höchstwahrscheinlich, dass ich bringt uns nicht weiter. zu denen in meiner Fraktion gehöre – solche gibt es in al- Auch im fünften Jahr rot-grüner Politik bleiben Fami- len Fraktionen; auch die FDP hat sich auf Bundesebene so lien in Deutschland auf der Strecke. entschieden –, die der Meinung sind, dass die Wehrpflicht aus unterschiedlichen Gründen auf Dauer nicht erhalten (Nicolette Kressl [SPD]: Das glaubt doch nie- werden kann. mand!) 830 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Maria Eichhorn (A) Die Evangelische Kirche stellte dazu kürzlich, im Okto- können die Benachteiligung der Alleinerziehenden besei- (C) ber, fest: tigen. Familien mit Kindern tragen heute das größte Ar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mutsrisiko und sind in hohem Maße von Überschul- Alle wissenschaftlichen Untersuchungen zur Vertei- dung betroffen. lung der Kinderkosten in unserer Gesellschaft kommen zu Familienarmut muss endlich nachhaltig und wirksam dem Ergebnis, dass diese Kosten ganz überwiegend den bekämpft werden. Eine der wichtigsten Aufgaben ist, eine Familien aufgebürdet werden. Diesen Trend haben Sie Gesamtkonzeption der staatlichen Familienförderung zu durch Ihre Politik in den letzten vier Jahren noch ver- entwickeln. Dies wurde bereits in der letzten Legislatur- stärkt; deshalb geht die Einkommensschere zwischen Fa- periode vom Bundesverfassungsgericht gefordert. Fami- milien mit Kindern und Kinderlosen immer weiter ausei- lien in Deutschland brauchen endlich eine Politik, die ih- nander. nen materielle Sicherheit bietet, die Vereinbarkeit von Zur Familienförderung fällt Ihnen nur ein, dasEhe- Familie und Erwerbstätigkeit für Mütter und Väter er- gattensplitting abzuschmelzen bzw. ganz abzuschaffen. möglicht Eltern, die die Erziehung und die Kinderbetreuung selbst (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das geht übernehmen, sollen durch die Abschaffung des Ehegat- gerade an Ihre Adresse!) tensplittings bestraft werden. und Eltern bei der Wahrnehmung ihrer Erziehungsverant- (Jörg Tauss [SPD]: Das sind uralte Textbau- wortung wirksam unterstützt. steine, die Sie da anwenden!) Dieses Gesamtkonzept hätten Sie bereits in der letzten „Einer verdient, einer putzt“, so verspottete Legislaturperiode in Angriff nehmen müssen. Sie haben die Eltern, die wegen der Kinder auf Erwerbstätigkeit ver- zwar das Kindergeld erhöht, damit aber lediglich die Vor- zichten. Mit dieser rein ideologisch geführten Debatte, gaben des Bundesverfassungsgerichts auf niedrigstem Ni- (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- veau umgesetzt. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die für Bündnis 90/Die Grünen noch nicht vom Tisch ist, neten der FDP – Nicolette Kressl [SPD]: Das ist wollen Sie doch nur den besonderen, grundgesetzlich ver- doch nicht wahr! So ein Blödsinn! Wenn es ankerten Schutz von Ehe und Familie aushöhlen. nach dem Verfassungsgericht geht, müssen wir nur die Freibeträge erhöhen!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja Verleumdung!) (B) Familien mit drei und mehr Kindern gingen völlig leer (D) aus. Sie haben diejenigen benachteiligt, die laut Armuts- Geben Sie es doch zu! und Reichtumsbericht von Armut besonders betroffen Ihre Vorstellungen in der Koalitionsvereinbarung zur sind. Die Kindergelderhöhung hat den Familien nichts Verbesserung der wirtschaftlichen Situation von Familien gebracht, weil ihnen das Geld an anderer Stelle wegge- lauten: nommen wurde. Obwohl die Ökosteuer Familien in be- sonderer Weise belastet, halten Sie an dieser Familien- Wir werden Eltern dabei unterstützen, durch Er- strafsteuer fest. werbsarbeit ihren Unterhalt selbst zu verdienen, da- mit sie wegen ihrer Kinder nicht von Leistungen der Ihr Versprechen, durch die Einführung der Ökosteuer Sozialhilfe abhängig werden. die Beiträge in der Rentenversicherung stabil zu halten, haben Sie nicht eingelöst. Im Gegenteil: Die Renten- Diese Art staatlicher Familienförderung ist ein Ar- beiträge steigen auf 19,5 Prozent und belasten Familien mutszeugnis rot-grüner Familienpolitik. zusätzlich. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss Der Haushaltsfreibetrag für Alleinerziehende, den wir [SPD]: Wollen Sie das Gegenteil?) 1986 eingeführt haben, wird von Ihnen abgeschafft. Sie widerspricht in höchstem Maße der Wahlfreiheit der (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eltern. Diese müssen selbst entscheiden können, ob sie Das war verfassungswidrig, was Sie eingeführt Familie und Beruf vereinbaren oder wegen der Kinder zu- haben! Hallo! Guten Morgen!) mindest für eine gewisse Zeit auf Erwerbstätigkeit ver- zichten wollen. Eine Kompensation ist nicht in Sicht. Offensichtlich stört es Sie nicht, dass Sie damit noch mehr Alleinerziehende Erwerbstätigkeit verhindert Familienarmut nicht. Die in die Sozialhilfe treiben. Zahlen belegen: Die Familienarmut hat in den letzten Jahrzehnten trotz steigender Erwerbstätigkeit von Müt- Dies ist nicht zu rechtfertigen vor dem Hintergrund tern zugenommen. Dennoch verabschieden Sie sich in der besonderen Belastungen von Einelternfamilien. dieser Legislaturperiode aus der Verantwortung zum so- zialen Ausgleich. Die Beseitigung von Familienarmut Diese Aussage, Frau Ministerin, stammt aus Ihrem Buch machen Sie endgültig zum Privatproblem von Familien. „S.O.S. Familie“, das in diesem Frühjahr herausgegeben Inzwischen hat auch Bündnis 90/Die Grünen erkannt, worden ist. Ich kann Ihrer Aussage nur voll und ganz zu- stimmen. Frau Schmidt, Sie haben jetzt die Möglichkeit, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE für Abhilfe zu sorgen; denn Sie sind verantwortlich und GRÜNEN]: Was heißt denn das?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 831

Maria Eichhorn (A) dass „Familien trotz Erwerbseinkommen an der Armuts- Familien und insbesondere Frauen können auf Ihre(C) grenze leben oder teilweise Sozialhilfe erhalten“, wie Sie Notoperationen in der Rentenversicherung nicht ver- kürzlich in einer Pressemitteilung erklärt haben. trauen. Es gibt weder Vorschläge zur eigenständigen Al- terssicherung von Frauen noch zur Berücksichtigung von Wir als Union haben ein besseres Konzept. Erziehungszeiten in der Rente. Die vorliegenden Vor- (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) schläge zur Rentenreform sind kein Beitrag zu mehr Ge- nerationengerechtigkeit. Sie fordern mehr Eigenvorsorge Mit einem Familiengeld wollen wir vermeiden, dass Fa- in der Alterssicherung, schränken aber zugleich die finan- milien ärmer werden und der Einkommensabstand zuziellen Spielräume für Familien ein. Auf der einen Seite Kinderlosen ständig steigt. Das Familiengeld ist keine Zu- fordern Sie eine längere Lebensarbeitszeit, auf der ande- Hause-bleib-Prämie für Frauen, wie Sie wider besseres ren Seite aber verstärken Sie die Anreize zur Frühverren- Wissen immer wieder glauben machen wollen. tung. Was wollen Sie denn eigentlich? (Nicolette Kressl [SPD]: Wie war das mit dem (Jörg Tauss [SPD]: Was debattieren wir eigent- Haushalt?) lich?) Es wird unabhängig von Erwerbstätigkeit und unabhän- Eine zukunftsorientierte Seniorenpolitik ist mehr als gig von der Einkommenshöhe der Eltern gezahlt. eine soziale Altenbetreuung. Wie die Ergebnisse der neu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans- esten Studie zur Altersdiskriminierung zeigen, bezieht sich ein Drittel der Beschwerden auf den Bereich der Ar- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beit. Die Arbeitsbedingungen älterer Arbeitnehmer müs- NEN]: Bezahlt das alles der Herr Stoiber?) sen daher dringend verbessert werden. Erforderlich sind Damit wird tatsächlich Wahlfreiheit ermöglicht. Eltern zudem die Qualifizierung und Weiterbildung älterer Ar- entscheiden, ob sie das Geld zum Beispiel für eine Tages- beitnehmer, um dem Trend der Frühverrentung wirksam mutter ausgeben oder die Erziehung selbst übernehmen. entgegenwirken zu können. Der Vorteil unserer Familienoffensive liegt klar auf der (Jörg Tauss [SPD]: Da können wir an eure Hand: Sie geht von den Bedürfnissen der Eltern und Kin- Konzepte anknüpfen!) der aus. Sie umfasst drei Maßnahmen, die gleichberech- – Wir haben auf jeden Fall bessere Konzepte als Sie. tigt nebeneinander stehen: erstens die bessere Vereinbar- keit von Familie und Erwerbstätigkeit, zweitens die (Jörg Tauss [SPD]: Ihr habt gar keine!) finanzielle Förderung von Familien und drittens die Stär- Gefragt ist ein neues Denken: Senioren sind nicht nur kung der Erziehungskompetenz der Eltern. hilfsbedürftige Alte. Die Mehrzahl von ihnen ist sehr ak- (B) (Jörg Tauss [SPD]: Und viertens Frauen an tiv und will ein selbstbestimmtes Leben. Das Potenzial äl- (D) den Herd!) terer Menschen, die sich engagieren wollen, ist hoch. Dazu bieten sich die Seniorenbüros an. Sie haben sich be- Wir stehen mit voller Überzeugung dahinter. Im Gegen- währt. Wir wollen sie flächendeckend in Deutschland ein- satz dazu versuchen Sie, den Ausbau der Betreuungsan- führen und ausbauen. gebote für Kinder gegen die Erziehungsleistung der El- tern auszuspielen. Die Weiterbildung älterer Menschen muss ebenfalls ausgebaut werden, um dem Wunsch nach Selbstbestim- (Nicolette Kressl [SPD]: So ein Quatsch!) mung und Selbstorganisation älterer Menschen gerecht zu werden. Um nicht missverstanden zu werden: Wir halten den bedarfsgerechten Ausbau der Kinderbetreuung für not- (Beifall bei der CDU/CSU) wendig, er kann aber nicht das einzige Ziel der Familien- Meine Damen und Herren, das neueJugendschutz- politik sein. Echte Wahlfreiheit braucht beides: den Aus- gesetz, das nach den schrecklichen Ereignissen von Erfurt bau bedarfsgerechter Betreuungsangebote und eineüberstürzt verabschiedet wurde, angemessene finanzielle Förderung von Familien. ( [SPD]: Sie haben im Bundes- Die Frauen bleiben bei Ihrer Politik ebenfalls auf der rat zugestimmt, weil es ein gutes Gesetz ist!) Strecke. Nach wie vor vermissen wir Maßnahmen zur Verbesserung des Wiedereinstiegs in den Beruf. Rot-Grün hat erhebliche Mängel und ist schon wieder reformbe- setzt eindeutig auf das Bild der erwerbstätigen Frau.dürftig. Kritik an seiner Praxistauglichkeit kommt nicht Frauen und Männer, die sich – zumindest für eine be- nur von den Kirchen, sondern auch von der Bundesar- stimmte Zeit – ausschließlich der Kindererziehung wid- beitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendschutz. Wir ha- men, kommen in Ihrer Politik nicht vor. Mit Ihren Ansät- ben bereits in der letzten Legislaturperiode mehrfach da- zen zur Arbeitsmarktpolitik werden typisch weiblicherauf hingewiesen, dass zum Kinder- und Jugendschutz Erwerbsbiografien bestraft. Die Frauenverbände haben mehr gehört als nur gesetzliche Maßnahmen. Gewalt hat das Hartz-Konzept zu Recht kritisiert. In den letztenviele Gesichter und Ursachen. 20 Jahren habe es kaum ein gleichstellungspolitisch rück- (Jörg Tauss [SPD]: Ja, gewaltfreie Erziehung!) schrittlicheres Papier gegeben. Das Papier sei geprägt von Die Bekämpfung von Gewalt muss im Elternhaus, an einem antiquierten Frauen- und Familienbild, das Frauen Schulen und am Ausbildungsplatz erfolgen. an Heim und Herd verweise. Diese Kritik richtete sich an Sie, an eine Bundesregierung, die die Gleichstellungspo- Jugendgefährdung macht nicht an Grenzen Halt. Daher litik immer für sich in Anspruch genommen hat. sind europäische und international gültige Standards im 832 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Maria Eichhorn (A) Jugendmedienschutz dringend erforderlich. Ich fordere Wir investieren in die soziale Infrastruktur, wovon gerade (C) Sie deshalb auf, Frau Ministerin, mit Ihren Kolleginnen auch allein erziehende Mütter profitieren. Das nenne ich und Kollegen auf europäischer und internationaler Ebene eine Politik mit Erfolg. endlich zu einer Einigung zu kommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und bei der SPD) neten der FDP) Mit Erfolg machen wir weiter. Die Leistungen für Fa- Für eine gesicherte Nutzung des Internets durch Kin- milien werden in ihrer bisherigen Höhe beibehalten. Sie der und Jugendliche müssen auch technische Möglichkei- werden nicht gekürzt, sie werden beibehalten. Das heißt, ten wie Filtersoftware stärker genutzt werden. Ermitt-wir halten das jetzige hohe Niveau, lungsbehörden sind besser auszustatten – das ist ganz (Klaus Haupt [FDP]: Welches Niveau?) dringend erforderlich –, damit jugendgefährdendes Mate- rial optimal aufgespürt werden kann. Diese Forderungen das wir in den vergangenen vier Jahren deutlich gesteigert haben wir schon während der ganzen letzten Legislatur- haben, nämlich um 13 Milliarden Euro. Wenn Sie von Kon- periode erhoben. zepten reden, dann muss ich fragen: Von welchen Konzep- ten, die Sie jetzt auch umsetzen könnten, reden Sie? (Jörg Tauss [SPD]: Da haben wir schon ge- merkt, dass Sie keine Ahnung vom Thema ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, setzen Sie unsere Vor-Sie haben im Wahlkampf immer wieder betont: Wenn es schläge um! Wir werden die kommenden Haushaltsbera- zu einem wirtschaftlichen bzw. konjunkturellen Auf- tungen nutzen, um Sie immer wieder an Ihre Verantwor- schwung kommt, wenn es uns besser gehen sollte, dann tung, insbesondere Familien und Kindern gegenüber, zu werden wir in die Familienpolitik investieren. Was ma- erinnern. chen wir? Wir investieren gerade dann in Familien, wenn wir in der konjunkturellen Flaute sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Dadurch dass Sie es wiederholen, (Lachen bei der CDU/CSU) wird es nicht besser!) Wir lassen Eltern, wir lassen Mütter und Väter mit ihren Kindern nicht im Stich. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Sie lassen die Das Wort hat nun die Kollegin Ekin Deligöz, Bünd- Länder bezahlen!) nis 90/Die Grünen. (B) Das ist unsere Politik, die wir heute Abend hier präsentie- (D) ren. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau und bei der SPD) Eichhorn, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede davon gespro- Sie können jetzt lachen, so viel Sie wollen, aber für uns ist chen, dass es in Bayern bereits eine Kinderbetreuung für jedes Kind und jede Familie es wert, dass wir dann in sie Kinder bis zum Alter von drei Jahren von 3,5 Prozent gibt. investieren, wenn sie das Geld brauchen, und nicht nur Ich finde, zu einer solchen Zahl gehört auch eine ehrliche dann, wenn es uns wirtschaftlich gut geht. Differenzierung. Dazu muss man sagen: Von diesen 3,5 Prozent sind 45 Prozent in München, rot-grün regiert, Ich komme noch einmal auf Bayern zu sprechen. Was und 30 Prozent in Nürnberg, bisher von der SPD regiert. geschieht zurzeit in Bayern? Die Bayerische Staatsregie- rung sagt sich: Weil die Anzahl der Kinder zurückgeht, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden finanzielle Mittel frei. Dieses Geld kann man und bei der SPD) wunderbar einsparen; schließlich muss man auch in der Zum Haushaltsfreibetrag. Ja, wir mussten den Haus- Sozialpolitik anfangen, wirtschaftlich zu denken. – Die haltsfreibetrag tatsächlich abschaffen. Aber warum? –Bayerische Staatsregierung kürzt in den Bereichen, wo es Weil Sie ein Gesetz gemacht haben, das verfassungswid- um Investitionen in die Familien geht. Das ist die Realität rig war. Das Verfassungsgericht hat zu diesem Gesetz ent- bayerischer Politik. schieden, dass wir es ändern müssen. Wir gehen viel weiter: Wir investieren in unsereJu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gendprogramme, beispielsweise in „Civitas“, „Enti- und bei der SPD – Widerspruch bei der mon“, „E & C“, soziale Freiwilligendienste und den Wett- CDU/CSU) bewerb „Jugend bleibt“. Um zu erfahren, was diese Programme bedeuten, müssen Sie in Ihren Wahlkreisen, Was haben wir gemacht? Wir wollten die Situation der in Ihren Regionen und Ländern einfach nur die Augen allein erziehenden Mütter und Väter verbessern und ha- aufhalten. Dort sehen Sie nämlich, wie erfolgreich diese ben deshalb das Kindergeld erhöht. Wir haben die Ab- Programme sind. setzbarkeit von Kinderbetreuungskosten eingeführt. Wir haben das Erziehungsgeld erhöht. Wir haben den Unter- Nehmen wir beispielsweise das Programm „E & C“: haltsvorschuss reformiert. Wir haben gerade mit der Stif- Wir haben vor Ort viele Maßnahmen gefördert, in denen tung „Mutter und Kind“ in die Verbesserung der Situation Kreativität und Engagement zum Ausdruck kommen. Die der Mütter investiert. Wir machen jetzt noch viel mehr. Menschen engagieren sich, sie tun etwas für die Integra- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 833

Ekin Deligöz (A) tion, für das Miteinander, für das Zusammenleben, für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit. sowie bei Abgeordneten der SPD) Unser Erfolg ist der Erfolg der Menschen, die vor Ort Wir müssen natürlich im Blick behalten, dass es unser arbeiten. Dieser Erfolg trägt den Namen Rot-Grün. gemeinsames rot-grünes Ziel ist, in der kommenden Zeit die Gemeindefinanzreform durchzuführen. Wir arbeiten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN daran, weil auch uns klar ist, dass gerade in den Kommu- sowie bei Abgeordneten der SPD) nen die Mittel knapp sind. (Zuruf von der CDU/CSU: Werden Sie denn Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: noch gefragt als Grüne?) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke? Wir müssen die Rahmenbedingungen schaffen, damit dort die erforderlichen Finanzspielräume entstehen, durch die das Handeln vor Ort möglich wird. Das ist eines der Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): größeren Ziele, das wir uns für die nächste Zeit vorge- nommen haben. Ja. Die Mittel für unser Hauptprojekt, den Ausbau von Bil- dung und Betreuung, haben wir schon jetzt eingestellt. Ina Lenke (FDP): Die Mittel für das Ganztagsschulprogramm und die Kin- Frau Deligöz, Sie sagen immer vehement: „Wir tun et- derbetreuung garantieren wir. Wir werden diese Pro- was für die Integration!“ Sagen Sie mir doch einmal, was gramme nicht nur unter dem Gesichtspunkt der besseren Sie tun, wenn Sie die Mittel für die Integration junger Zu- Vereinbarkeit von Beruf und Familie durchführen, son- wanderinnen und Zuwanderer um 5,5 Millionen Euro kür- dern auch mit Blick auf die Schlüsselfragen Was ist gut für zen! unsere Kinder? Wie können wir Qualität und Quantität (Zuruf von der CDU/CSU: Was tun Sie denn? gewährleisten? Wie können wir unsere Kinder bestmög- Kürzen!) lich fördern und das Beste für sie erreichen? Das ist unser Ziel. Ich bedaure es sehr, dass Sie uns auch in diesem Punkt nicht unterstützen. Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich komme auf die Gewaltfreiheit zu sprechen. Sie ha- Frau Kollegin Lenke, wir tun eine ganze Menge mehr ben gerade gesagt, wie wichtig sie ist. Wenn Sie diese als für die Integration, als Ihre Regierung jemals getan hat. wichtig empfinden, warum haben Sie dann in der vergan- genen Wahlperiode gegen die Festlegung des Rechts auf (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) und bei der SPD – Ina Lenke [FDP]: Das ist gewaltfreie Erziehung gestimmt? doch keine Antwort, Frau Kollegin! Wir sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beim Haushalt 2003! Jetzt hören Sie auf zu po- sowie bei Abgeordneten der SPD) lemisieren! – Zuruf von der CDU/CSU: Dann gehen Sie einmal in die Sprachförderung!) Hätten Sie doch mitgemacht! Gemeinsam hätten wir eine viel größere Wirkung erzielen können. Zunächst einmal weise ich darauf hin, dass wir die Mit- tel für Integrationsmaßnahmen auf verschiedene Haus- (Zuruf von der CDU/CSU: Verknüpfung mit halte verteilt haben; ein Teil befindet sich im Haushalt des dem Unterhaltsrecht!) BMI, ein Teil befindet sich in dem von mir genannten Pro- Der Weg zu einer kinder- und familienfreundlichen gramm. Wir nennen diese Programme allerdings nicht Gesellschaft ist sehr lang. Wir müssen nämlich eine ganze „Ausländerproblematik“ oder so ähnlich, sondern reden Menge Versäumnisse der letzten Jahrzehnte aufarbeiten. von Integrationsmaßnahmen, weil für uns alle Men- Rot-Grün hat in den vergangen vier Jahren die richtigen schen gleich sind. Auf diesen Punkt wäre ich als Nächstes Weichen gestellt. Diesen Erfolgskurs werden wir beibe- eingegangen. Wir reden von Integrationsmaßnahmen für halten. Jugendliche und Kinder. Diese Programme betreffen aber nicht nur sie, sondern die Gesellschaft insgesamt. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nenne zum Beispiel das Programm „Mama lernt und bei der SPD) Deutsch“, das ein Erfolg auf der ganzen Linie ist. Mit dem Zuwanderungsgesetz, das Sie blockieren, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: wird eine ganze Menge geschaffen: Nächster Redner in der Aussprache ist der Kollege Otto (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Fricke, FDP-Fraktion. wie bei Abgeordneten der SPD – Ina Lenke [FDP]: Also kürzen Sie! – Maria Eichhorn Otto Fricke (FDP): [CDU/CSU]: Viele Mittel haben Sie aber gekürzt!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich versu- che es einmal: Liebe Kollegen, der Einzelplan 17 gehört Programme zur Sprachförderung, zur Kinderbetreuung sicherlich – – und zum Förderunterricht in Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten. Unterstützen Sie uns! Dann werden (Zuruf von der SPD: Die Kolleginnen können wir das hinkriegen! rausgehen!) 834 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Otto Fricke (A) – Genau diese Reaktion habe ich erwartet. Deswegen Wenn das Wort „Verbraucherschutz“ an dieser Stelle(C) habe ich es ausprobiert. Sie sind auf diesen Versuch mehr schlicht und einfach durch „Kinder- und Familienpolitik“ oder weniger klar eingegangen. ersetzt würde, dann träfen Sie das Ziel, dann wäre die For- mulierung richtig. (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Klaus Haupt [FDP]: Das wäre gut!) – Herr Tauss, der Sie Einwürfe so sehr lieben: Ich habe be- wusst „liebe Kollegen“ gesagt, um zunächst den Herren Ich habe leider das Gefühl – Frau Ministerin, Sie haben Kollegen und erst danach den lieben Kolleginnen etwas es indirekt angedeutet –, dass viele Dinge, die Familien zu sagen. betreffen, eigentlich bei Ihnen ressortieren sollten. Aber wir wissen, dass die wesentlichen Entscheidungen von (Klaus Haupt [FDP]: Das ist Methodik!) denjenigen getroffen werden, die jetzt nicht da sind, näm- Das ist der Unterschied zwischen uns beiden. lich von der Justizministerin und dem Finanzminister. Es wäre schön, wenn Sie sich da durchsetzen würden wie die Also, liebe Kollegen, der Einzelplan 17 gehört mit Si- Verbraucherschutzministerin im Verbraucherschutz. Wir cherheit zu den kleineren, dafür aber umso wichtigeren werden sehen, ob Ihnen das gelingt. Einzelplänen in unserem Bundeshaushalt. Als Haushälter möchte ich an dieser Stelle einen kur- (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt haben Sie noch nichts zen Exkurs zum Bundesamt für den Zivildienst machen. Konkretes gesagt!) Ich habe die Hoffnung – auch da setze ich auf die Minis- – Ich komme dazu. Haben Sie doch einmal Geduld! Herr terin, aber natürlich auch auf die Kontrolle durch die Tauss, ich habe immer gedacht, junge Leute hätten keine Opposition –, dass das Bundesamt für den Zivildienst in Geduld. Jetzt merke ich: Das ist keine Frage des Alters. den nächsten Jahren durch die auf das Bundesamt zu- kommende Modernisierung zu einer effektiven Behörde (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der wird. Eine solche Behörde brauchen wir bei all den Din- CDU/CSU) gen, die zumindest bis 2006 auf sie zukommen. Er ist deswegen von so großer Bedeutung, weil er un- Eine Sache muss man nach meiner Meinung an dieser ser gesellschaftliches Miteinander über die Generationen Stelle ansprechen – mich verwundert es etwas, dass es hinweg betrifft. noch nicht angesprochen worden ist –: Der Bundeskanz- Nun, liebe Kolleginnen gerade von den anderen Frak- ler hat sich über die kriegsmäßige Sprache von Teilen der tionen, wobei ich jetzt die CDU/CSU einbeziehe, wenn Opposition erregt. Ich wundere mich, dass derjenige, der ich mir angucke, wer heute Abend hier debattiert, dann als Erster in der Debatte über die Familie solche Begriffe stelle ich fest, dass außer seitens der FDP nur Kolleginnen verwendet hat, ausgerechnet der Generalsekretär der SPD (B) reden. war, der über „Lufthoheit“ geredet hat. (D) (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Widerspruch bei der SPD) – Vielleicht ändert sich das bei der CDU/CSU ja noch. – – Das stört Sie vielleicht. Er hat es getan. Sie können sich Ich hoffe gerade bei Rot-Grün, dass die Kolleginnen den ja ausdrücklich davon distanzieren. Kollegen erlauben, ein kleines bisschen zu sagen. Als ehemaliger kleiner Wehrpflichtiger kann ich Ihnen (Zuruf von der SPD: Aber qualitätsvoller ist es sagen: Wer Lufthoheit anstrebt, der beabsichtigt etwas an- nicht!) deres: Er bereitet einen Bodenkrieg vor. In dem Boden- krieg, der von Teilen der Regierung vorbereitet wird – Frau – Über Qualität können Sie sich Gedanken machen. Ich Ministerin, Sie habe ich da anders verstanden; das gebe mache mir über meine Rede Gedanken. ich ehrlich zu –, geht es um die Gesellschaftspolitik. (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Meine lieben Damen und Herren vonseiten der Oppo- GRÜNEN]: Sie sind mehr mit dem Luftkrieg sition, liebe Kolleginnen und Kollegen vonseiten der Re- vertraut!) gierung, wenn wir auf die Uhr gucken, dann wissen wir, – Sie können mich ja in den nächsten vier Jahren eines dass jetzt wahrscheinlich schon sehr viele von denen im Besseren belehren. Bett sind, über die wir reden, nämlich die Kinder. Wenn ich die Zurufe von Herrn Tauss höre, bin ich eigentlich Ich habe das Gefühl, dass einige von Ihnen die Gesell- auch ganz froh darüber, dass es so ist. schaft dirigistisch verändern wollen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Die sind jugendfrei!) Ich habe das Gefühl, dass Sie durch Gesetze bis ins letzte Detail regeln wollen, wie Menschen – wohlgemerkt im Ich habe mir einmal den Koalitionsvertrag daraufhin persönlichen Bereich – miteinander umzugehen haben. angeschaut, wo die beste Formulierung zur Familienpo- litik steht. Das Komische ist, die beste Formulierung fin- Die FDP setzt dem bewusst Freiheit entgegen. – Jetzt det sich beim Thema Verbraucherschutz: kommt wahrscheinlich von irgendjemandem der Zuruf: „Ellenbogenfreiheit!“ Nein, Freiheit in Verantwortung Verbraucherschutz ist eine Querschnittsaufgabe. Die wollen wir. Das ist der Unterschied. Koalitionsparteien sorgen daher für eine systema- tische Einbeziehung der Verbraucherinteressen in Wir setzen auf Freiheit, die zu verantwortungsvoll han- alle relevanten Politikbereiche. delnden Bürgern führt und nicht dazu, dass sie sich auf Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 835

Otto Fricke (A) den Staat verlassen; denn das – das zeigen diese Haus- Wie sieht es dagegen bei uns aus? In der letzten Legis- (C) haltsberatungen – können sie auf Dauer nicht. latur haben wir die Familien finanziell erheblich besser gestellt. (Beifall bei der FDP) Zum Abschluss eine Kleinigkeit: Viele Kolleginnen (Beifall bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/ und Kollegen werden wie ich am Ende dieser Woche nach CSU]: Nur theoretisch, nicht praktisch!) Hause kommen und ihre Kinder schon im Schlafe vorfin- Das war richtig, hatten wir doch hier eine Menge aufzu- den. Aber ich sage Ihnen: Ich bin froh, dass, wenn ichholen; denn das Verfassungsgericht hat Ihnen, Frau mich über die Betten meiner Kinder beuge, meine Frau Eichhorn, ins Zeugnis geschrieben: Familienpolitik un- und ich die Lufthoheit haben und nicht der Staat. genügend. Wir waren es, die die politische Entscheidung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten getroffen haben, das Kindergeld um 80 DM innerhalb ei- der CDU/CSU) ner Legislaturperiode zu erhöhen – das hat vorher noch keiner geschafft –, Individuelle Verantwortung und Freiheit sind das, was wir als Staat unterstützen sollten, und nicht ein politisch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eingeengtes und bevormundendes Gesellschaftsbild. DIE GRÜNEN) Ich danke für die Aufmerksamkeit. während das Bundesverfassungsgericht lediglich eine Freibetragslösung von uns erwartet hat. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gute und moderne Familienpolitik bedeutet aber nicht, immer mehr Geld für Kindergeld und andere materielle Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Transfers auszugeben. Gute und moderne Familienpolitik Herr Kollege Fricke, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ers- bedeutet heute, die soziale Infrastruktur für Kinder und ten Rede im Deutschen Bundestag. Ich bin zuversichtlich, Familien auszubauen. Mit dieser klarenPrioritätenset- dass ich das im Namen aller Kolleginnen und Kollegen zung im Haushalt für den Ausbau der Ganztagsschulen tun darf. machen wir genau diesen entscheidenden Schritt. Die 4 Milliarden Euro, die hierfür in den kommenden Jahren (Beifall) bereitstehen, sind Investitionen in die Zukunft unseres Ich erteile als Nächstes der Kollegin Humme das Wort. Landes. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Die sind aber Christel Humme (SPD): nicht im Haushalt enthalten!) (B) Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! – Natürlich stehen die im Haushalt. Ich denke, Sie haben (D) Ich verfolge diese Debatte schon eine ganze Weile und ihn genauso gut gelesen wie ich. muss sagen, Frau Eichhorn: von Konzepten keine Spur, nur verbale Abrissbirnen gepaart mit Untergangsstim- Wir investieren auch in die Zukunft unseres Landes, mung. Das brauchen wir im Moment nicht. wenn wir ab 2004 mit 1,5 Milliarden Euro des Bundes mehr Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren (Vorsitz: Präsident Wolfgang Thierse) schaffen. Wir sorgen damit für eine gute ökonomische Wir brauchen geeignete Werkzeuge, mit denen wir die Grundlage und stellen für die Entwicklung die richtigen Zukunft unserer Kinder gestalten können. Weichen; denn wenn es keine Betreuungsplätze gibt, Frau Eichhorn, kann man auch mit noch so viel Transfer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ leistungen, beispielsweise mit Ihrem Familiengeld, keine DIE GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: kaufen. Wie zum Beispiel unser Familienkonzept!) (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Darum geht es Es geht darum, an den richtigen Stellschrauben zu drehen. nicht! Wir wollen im Gegensatz zu Ihnen bei- Das tun wir mit unserem Haushalt 2003. Mit ihm setzen des! Sie wollen nur Betreuung, wir aber auch wir die richtigen Prioritäten. Wir setzen auf den Ausbau Förderung!) der sozialen Infrastruktur für die Familien. Das hat fatale Folgen, und zwar nicht nur für die Frauen, Damit tun wir endlich das, was bei unseren europä- die Familien und die Bildungschancen der Kinder, son- ischen Nachbarn gang und gäbe ist. Die meisten unserer dern auch für die Struktur unserer Volkswirtschaft und europäischen Nachbarn setzen in der Familien- und Bil- ihre Arbeitsmärkte. dungspolitik andere Schwerpunkte und erzielen damit bessere Ergebnisse. Förderung der Familien heißt dort: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Der Ausbau von Kinderkrippen, Kindertagesstätten und DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Die Ganztagsschulen hat Vorrang vor finanziellen Transfers. kennt unser Konzept nicht und redet darüber!) Das hat zur Folge, dass viele andere Länder besser daste- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Schlüssel liegt in hen. Der Anteil der Frauenerwerbstätigkeit ist dort höher der Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit; denn da- und damit gelingt ihnen die Bekämpfung von Armut in mit sind wir im europäischen Vergleich am Ende der den Familien besser. In diesen Ländern können Eltern ihre Skala. Ohne die Ausweitung der Frauenerwerbstätigkeit Lebensvorstellungen besser verwirklichen und Familie werden wir weder die Arbeitslosigkeit abbauen noch Be- und Beruf besser vereinbaren. schäftigung schaffen können. Ohne den Ausbau von Be- (Ina Lenke [FDP]: Vier Jahre nichts getan!) treuungs- und Bildungseinrichtungen für Kinder wird es 836 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Christel Humme (A) keinen nennenswerten Zuwachs der Frauenerwerbstätig- Eltern bei ihrer Aufgabe, mündige Staatsbürger heranzu- (C) keit geben. Ohne eine Zunahme der Frauenerwerbstätig- ziehen, Unterstützung brauchen. Von einem Aufwachsen keit wiederum werden wir es nicht schaffen, den in in öffentlicher Verantwortung sprechen die Autoren des Deutschland bislang völlig unterentwickelten Dienstleis- 11. Kinder- und Jugendberichts deshalb folgerichtig. Mit tungssektor auszubauen. Ohne einen Ausbau des Dienst- unserer Familienpolitik stellen wir uns genau dieser Auf- leistungssektors schließlich wird es keinen nachhaltigen gabe. Abbau der Arbeitslosigkeit geben. Das ist ein Teufels- kreis, aus dem wir nur mit dem Ausbau der Kinderbetreu- Damit der Staat diese Verantwortung wahrnehmen ungsangebote und der Ganztagsschulen ausbrechen kön- kann, muss er handlungsfähig bleiben. Ob Kinderspiel- nen. plätze, Krippen, Kindergärten, Familienberatung, die Leistungen für Eltern und ihre Kinder, all das muss von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den einzelnen staatlichen Ebenen bezahlt werden. Einen DIE GRÜNEN) armen Staat können sich nur Reiche leisten. Wir be- Damit sorgen wir gleichzeitig für ein kinderfreund- schreiten den Weg der Haushaltskonsolidierung gerade liches Land, in dem junge Menschen wieder gern Kinder deshalb im Interesse all derjenigen, die auf staatliche bekommen, weil sie wissen, dass sie auch als Eltern auf Leistungen angewiesen sind. Beruf und berufliches Fortkommen nicht verzichten müs- Ich sage aber auch: An der Finanzierung des Gemein- sen. Das sage ich jetzt in Richtung des neuen Kollegen, wesens müssen sich alle entsprechend ihrer Leistungsfä- der gerade hier geredet hat. Dabei geht es nicht darum, ir- higkeit beteiligen. Um für mehr Steuergerechtigkeit zu gendwelche Vorschriften zu machen, sondern darum, den sorgen, haben wir bereits in der letzten Legislaturperiode Eltern endlich die Entscheidungsfreiheit zu geben, die sie Steuerschlupflöcher geschlossen. Mit unserer jetzigen in den ganzen letzten Jahren bei Ihnen nicht bekommen Steuerpolitik setzen wir diesen Weg fort. Dabei haben wir haben. darauf geachtet, dass die Belastungen durch den Abbau (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von Steuerprivilegien und Ausnahmetatbeständen sozial DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: So ausgewogen sind. ein Mist!) Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir sind uns be- Auf diese Weise tragen wir auch wesentlich dazu bei, wusst, dass der Ausbau von Ganztagsbetreuung und Bil- den demographischen Wandel und die daraus resultie- dung eine Herkulesaufgabe ist. Damit wir in Deutschland renden Probleme bei den sozialen Sicherungssystemen zu möglichst schnell internationalen Standard erreichen, ist meistern. Auch das ist ein wichtiger Aspekt. eine nationale Kraftanstrengung notwendig. Beteiligen müssen sich alle: der Bund, die Länder und die Gemein- (B) Sie sehen, liebe Kollegen und Kolleginnen, dass Haus- den, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer. Deshalb ist es (D) haltskonsolidierung und Zukunftsgestaltung nicht im Wi- auch richtig, die Themen familienfreundliche Arbeitswelt derspruch zueinander stehen. Im Gegenteil: Mit unserer und Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum Gegen- Prioritätensetzung für mehr Kinderbetreuung und Ganz- stand des Bündnisses für Arbeit zu machen. Wir Politike- tagsschulen geht es um gesellschaftliche Fortschritte. Es rinnen und Politiker, die wir im Bund Verantwortung geht um bessere und sozial gerechtere Bildungschancen tragen, gehen mit gutem Beispiel voran. Entsprechendes für unsere Kinder und Jugendlichen, um bessere Erwerbs- erwarten wir von den Ländern und Gemeinden. und damit auch bessere Einkommenschancen für Frauen sowie – Frau Eichhorn, auch da sollten Sie noch einmal (Beifall bei der SPD – Maria Eichhorn [CDU/ zuhören – um mehr Schutz der Familien, vor allem der Al- CSU]: Dann müssen Sie die aber auch finanzi- leinerziehenden und ihrer Kinder, vor Armut. ell stärken!) Diese Prioritätensetzung eröffnet dem Wirtschaftsstand- Wir haben von Frau Böhmer, Frau Reiche und Frau ort Deutschland die Chance, die hoch qualifizierten und Eichhorn heute Abend sehr viel ideologisches Geplänkel motivierten Fachkräfte zu bekommen und zu halten, die gehört. die Wirtschaft doch so dringend nötig hat. (Zuruf der Abg. Maria Eichhorn [CDU/CSU]) Unsere Zukunftsinvestitionen in Betreuung und Bil- Lassen wir die ideologischen Grabenkämpfe der 70er-, dung werden sich auch im streng volkswirtschaftlichen 80er- und 90er-Jahre Vergangenheit sein! Diese Debatten Sinne lohnen. Jeder hier eingesetzte Euro bringt der Ge- der letzten 30 Jahre haben uns nicht weitergebracht. Im sellschaft den drei- bis vierfachen Nutzen in Form höhe- Gegenteil, sie haben Deutschland vielmehr auf einen Irr- rer Familieneinkommen, in Form von mehr Steuerein- weg, ja international aufs Abstellgleis geführt. nahmen und mehr Beiträgen zur Sozialversicherung. Lassen Sie uns deshalb nicht länger darüber streiten, Liebe Kollegen und Kolleginnen, bei unseremPara- wer mehr Krippenplätze und Ganztagsschulplätze anbie- digmenwechsel in der Familienpolitik wissen wir alle tet, Bayern oder Nordrhein-Westfalen. Fest steht: Beide großen gesellschaftlichen Gruppen auf unserer Seite. Die Länder bieten längst nicht genug an. Lassen Sie uns statt- Arbeitgeber, die Gewerkschaften, ja sogar die Kirchen, dessen einen konstruktiven Dialog darüber führen, wie die große Mehrheit der Wissenschaftler, alle haben sich in wir möglichst schnell dafür sorgen, dass sich dies ändert. den zurückliegenden Monaten für den Ausbau von Kin- Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass in Deutsch- derbetreuung und Ganztagsschulen ausgesprochen. Sie land überall, und zwar in Berlin, München und auch in alle wissen um die Verantwortung der Gesellschaft für die meinem Ennepe-Ruhr-Kreis, die Weichen in Richtung Erziehung und Bildung unserer Kinder. Sie wissen, dass Modernisierung und Zukunftstauglichkeit gestellt wer- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 837

Christel Humme (A) den. Unser Bundeshaushalt 2003 setzt hierfür die rich- sofort unterschreiben. An anderer Stelle wurde angedroht, (C) tigen Prioritäten und Rahmenbedingungen. gesetzliche Regelungen zu schaffen, dass die Kommunen für 20 Prozent der Kinder Krippenplätze anbieten müssen. Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Menschen, die Als Finanzierungsvorschlag hierzu wurden 1,5 Milliarden uns heute vor den Fernsehgeräten zuhören, erwarten von Euro in Aussicht gestellt, die durch Einsparungen in Zu- uns Lösungen und keine ideologischen Debatten. Zukunft sammenhang mit den Hartz-Vorschlägen erwirtschaftet braucht Mut. Lassen Sie uns gemeinsam diesen Mut fas- werden sollen. Ich bin sehr gespannt, wie wir die im sen und handeln. nächsten Jahr im Haushalt wiederfinden. Danke schön. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unglaublich!) DIE GRÜNEN) Für 2003 haben Sie immerhin schon einmal eine Arbeits- gruppe im Haushalt eingerichtet. Solche Arbeitsgruppen Präsident Wolfgang Thierse: haben sich ja schon bei Hartz bewährt. Ich erteile das Wort Kollegin Antje Tillmann, CDU/ ( [CDU/CSU]: Arbeits- CSU-Fraktion. gruppen sind immer gut!) Versprechen drei: Bei der Beratung sowohl des Bil- Antje Tillmann (CDU/CSU): dungsetats als auch des Familienetats sind heute schon mehrfach die 4 Milliarden Euro für Ganztagsschulen er- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Als wähnt worden. An dieser Stelle findet sich tatsächlich ein- zuständige Berichterstatterin meiner Fraktion im Haus- mal die Umsetzung eines Wahlversprechens. Dabei will haltsausschuss für den Etat des Bundesministeriums für ich gern darüber hinwegsehen, dass die angekündigte Familie, Senioren, Frauen und Jugend hatte ich erstmals 1 Milliarde Euro jährlich zumindest im Jahr 2003 auf das Vergnügen, diesen Etat durchzuarbeiten. Frau Minis- 300 Millionen Euro reduziert worden ist. Aber das ist terin Schmidt, ich teile das Schicksal mit Ihnen, die Sie immerhin ein Anfang. ebenfalls erstmalig diesen Etat zu verantworten haben. Für fragwürdig halte ich an diesem so öffentlichkeits- Nicht zuletzt deswegen greife ich Ihr Angebot zur kon- wirksamen Programm allerdings zwei Dinge: struktiven Zusammenarbeit gern auf. Aber bei aller kon- struktiven Zusammenarbeit muss ich auch anhand Ihrer Erstens. Wenige Seiten vor der Ankündigung dieses Rede feststellen, dass es manchmal andere Ziele, aberProgramms im Haushalt des Bundes werden Sie unter sehr häufig auch andere Wege zur Lösung von Problemen dem Titel „Gewerbesteuerumlage“ genau den Betrag (B) gibt, und die werden in diesem Haushalt ganz deutlich. wiederfinden, den Sie 1999 als Gewerbesteuerumlagen- (D) erhöhung den Kommunen aufgebürdet haben. Diese Sehr geehrte Kollegin Humme, auch Ihnen biete ich 4 Milliarden Euro, die Sie heute den Kommunen wieder- konstruktive Zusammenarbeit an, drohe aber schon jetzt geben, haben Sie diesen seit 1999 abgenommen. an, dass ich zu den ideologisch verbrämten Frauen gehöre, die es durchaus wünschenswert finden, dass sich Familien (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) eine Zeit lang selbst der Kindererziehung widmen. Auch Da ist die Frage: Wäre es nicht sinnvoller gewesen, dieses das werden Sie an meinen Ausführungen erkennen. Geld bei den Kommunen zu lassen? Ganz sicher wäre die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Situation in den Schulen heute eine andere; aber Sie woll- neten der FDP – Christel Humme [SPD]: Das ist ten dieses Geld erst in Ihren Etat übernehmen, um es dann Ihnen unbenommen! Wir schreiben keinem was über Selbstdarstellungen den Bürgerinnen und Bürgern vor!) zurückzugeben. Das ist der erste Haushalt nach der Bundestagswahl Das zweite Argument, das mich noch mehr an der und damit natürlich die Stunde der Wahrheit über die Um- Sinnhaftigkeit dieses Programms zweifeln lässt, sind setzung der Versprechen an die Bürgerinnen und Bürger Äußerungen des Staatssekretärs Matschie, der die Ausrei- im Wahlkampf. Macht man sich die Mühe, diesen Haus- chung der Mittel an die Länder und Kommunen von der haltsentwurf mit dem zu vergleichen, was Sie als Regie- Vorlage „eines pädagogischen Konzeptes“ abhängig rungskoalition versprochen haben, so findet man diese macht. Versprechen nur ganz fragmentarisch wieder. (Nicolette Kressl [SPD]: Das wollen wir doch! Versprechen eins: Kindergelderhöhung auf 200 Euro – Oder wollen wir das nicht?) Fehlanzeige. Hier haben Sie sich diesmal nicht einmal die Wenn dieses Förderprogramm ausschließlich dazu dient, Mühe gemacht, dieses Ziel wie in der Vergangenheit in bildungspolitische Kompetenzen an den Bund zu ziehen, kleinen Schritten anzugehen. Ganz im Gegenteil, kein werden Sie Widerstand nicht nur vonseiten der Kultus- Euro ist in den Haushalt eingestellt. Zugegeben, in Ihrem ministerkonferenz erwarten können. Wenn Sie meinen, Programm steht: mittelfristige Erhöhung auf 200 Euro. Je dass der Bund bessere Bildungspolitik macht und deshalb nachdem, auf welchem Standpunkt man steht, ist mittel- die Zuständigkeit hier liegen sollte, dann beweisen Sie fristig ja auch noch 2010 oder 2015. dies erst einmal in Ihren SPD-regierten Ländern. Versprechen zwei: Sie haben versprochen, eine an- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – spruchsvolle, bedarfsorientierte Betreuung imKinder- Nicolette Kressl [SPD]: Sie sollten sich infor- krippenalter anzubieten. Diese Forderung können wir mieren!) 838 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Antje Tillmann (A) – Sie können mir gleich gerne Nachhilfeunterricht geben. erschweren Sie es den Eltern, eine Zeit lang auf ein hal- (C) Dazu bin ich gern bereit. bes oder ganzes Gehalt zu verzichten. Qualitativ hochwertige Ganztagsbetreuung wollen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei auch wir, aber unter Beachtung der Länderzuständigkeit Abgeordneten der FDP) und insbesondere unter Beachtung der Freiwilligkeit in Das ist für uns keine Wahlfreiheit, sondern genau die den Nachmittagsstunden. „Lufthoheit über den Kinderbetten“, die Sie sich gar nicht (Beifall bei der CDU/CSU) schämen auszusprechen. Es gibt ganz unterschiedliche Vorstellungen und Pro- Bert Rürup, der Vorsitzende der Rentenkommission, gramme, wie eine verbindliche Betreuung für Kinder aus- setzt noch eins drauf. Ich zitiere: sehen kann. Unsere Fraktion teilt die Vorstellung einer Der Anteil der unter 20-Jährigen geht in den nächs- verbindlichen Nachmittagsbeschulung auch schon aus ten 40 Jahren ... zurück. Den mit dem Anstieg des dem Grunde nicht, weil wir damit ein jugendpolitisches Altenquotienten verbundenen Verteilungsproblemen Konzept, das sich jahrelang bewährt hat, kaputtmachen. der Gesellschaft kann umso besser begegnet werden, Ich spreche von der Jugendverbands- und Jugendkultur- je höher das Wirtschaftswachstum ist. Aus diesem arbeit. Grund sollten kinder- und familienpolitische Maß- (Rita Streb-Hesse [SPD]: Gehen Sie doch ein- nahmen Frauen keinen Anreiz geben, sich aus ihrem mal in eine Ganztagsschule! Dann wissen Sie Beruf zurückzuziehen. Erziehungs- und Elterngehalt auch, wovon Sie reden!) als Ersatz für Erwerbsarbeit ist abzulehnen. – Wenn Sie vielleicht noch ein paar Minuten zuhören, Erst sollen also die Frauen die Kinder kriegen, dann sollen sie sie erziehen und großziehen, aber eine Berück- dann können wir uns gleich gern unterhalten. sichtigung dieser Erziehungsarbeit wird ihnen verwehrt. (Christel Humme [SPD]: Das ist schwer!) Auch dies ist nicht unsere Politik. Auch hier werden Sie nicht auf Gemeinsamkeiten hoffen können. – Geben Sie sich Mühe. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir müssen darauf achten, dass die Ganztagsbetreuung nicht die Jugendverbandsarbeit, die Sportarbeit, die Kul- Versprechen fünf: Eigenheimzulage.Frau Ministerin turarbeit kaputtmacht. Wenn an den Schulen ein verbind- Schmidt, es kann durchaus sein, dass Sie es geschafft liches Angebot bis 17 Uhr vorliegt, werden sich die meis- haben, die größte Unbill bei der Eigenheimzulage abzuwer- ten Jugendlichen sehr genau überlegen, ob sie danachten. Aber Ihre freundliche Ankündigung und Ihr Verspre- nahtlos in den Sportverband, in den Umweltverband, in chen im Wahlkampf, die Zulage familienfreundlich umzu- (B) (D) die Kunstschule gehen. Wir brauchen eine Vernetzung gestalten, haben Sie auf recht bizarre Weise eingelöst: Für beider Bereiche mit verbindlichen Betreuungszeiten für Paare ohne Kinder haben Sie diese auf 0 Euro reduziert und die Eltern. für Familien halbiert. Dies als Verbesserung für Familien zu verkaufen ist schon eine Marketingleistung. Abgesehen von Versprechen vier: Wahlfreiheit von Familie und Be- den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen, die an anderer ruf. Eines Ihrer Wahlversprechen betraf die Freiheit von Stelle in diesem Haus zu diskutieren sein werden, liegen Sie Familien, zwischen Erwerbstätigkeit und Kinderwunsch familienpolitisch auch hier völlig daneben. Gerade in den auch in Verbindung mit einem zeitweisen Aussetzen aus neuen Ländern, aber auch in Westdeutschland wird der Bau dem Beruf zugunsten der Kindererziehung selbst ent-des privaten Eigenheims sehr häufig dazu genutzt, Großel- scheiden zu können. Diese Wahlfreiheit gibt es tatsäch- tern in räumlicher Nähe zu Kindern und Enkeln unterzu- lich. Keiner Mutter und keinem Vater bleibt es verwehrt, bringen. Damit wird dem Wunsch der älteren Generation sich eine Zeit lang ausschließlich der Erziehung zu wid- Rechnung getragen, möglichst lange im familiären Umfeld men. Frau Humme, Sie haben eben darauf hingewiesen. weitgehend selbstverantwortlich zu leben. Das Problem ist nur, dass diese jungen Eltern die Ent- Sie haben dieses Problem offensichtlich ebenfalls er- scheidung weitestgehend selbst bezahlen. kannt. Sie reagieren aber leider nicht mit Lösungen, son- Die Maßnahmen, die Sie ergreifen, dienen ausschließ- dern mit umfangreichen Studien und Gutachten. Ich lich der Fremdbetreuung von Kindern. werde hierauf später zurückkommen. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: So ist es!) Viel schlimmer scheint mir die aufgrund großer Protes- te angelegte „später Kind“-Variante zu sein. Nach der Ob Ganztagsschulen oder Kinderkrippenplätze: Sie wen- neuen Fassung des Eigenheimzulagengesetzes sollen den Steuermittel auf, um die Betreuung von Kindern auch solche Paare die Förderung erhalten, die spätestens außerhalb der Familie sicherzustellen. Dies ist nicht un- im dritten Jahr nach Fertigstellung ein Kind bekommen. sere Politik, nicht unser Programm. Wir halten es für rich- Eine solche Regelung kann man sich nur ausdenken, tig, die Situation von berufstätigen Müttern und Vätern zu wenn man glaubt, schwanger würde man durch Ankreu- verbessern. Wir halten es jedoch nicht für richtig, wie Sie zen im Terminkalender. damit umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Situation von Eltern, die sich entschieden haben, einen erheblichen Teil der Kindererziehung selbst zu er- Das ist zynisch gegenüber den 10 Prozent der Paare, die bringen, verbessern Sie nicht. Ganz im Gegenteil: Durch ungewollt kinderlos bleiben und viele Jahre belastende immer neue Abgabenlasten im Steuer- und Sozialbereich Anstrengungen unternommen haben. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 839

Antje Tillmann (A) Die bisher vorgesehene Regelung der veränderten Ei- für die Vergabe der Mittel für nur eines dieser Programme (C) genheimzulage mit Verlust einer Jahreskinderzulage war in Höhe von 5 Millionen Euro auf 827 000 Euro jährlich be- in der Auswirkung erheblich familienfreundlicher. Nach laufen. Das heißt, 20 Prozent der Programmmittel werden Ihren Vorstellungen kostet der verpasste Geburtstermin aufgewendet, um die Mittel überhaupt auszureichen. Da ein junges Paar 16 800 Euro. Zu der Enttäuschung, kein fragt man sich schon, ob hier nicht Aktionismus im Vor- Kind zu bekommen, kommen dann möglicherweise noch dergrund steht. Stattdessen sollten Sie lieber abgestimmte wirtschaftliche Probleme, wenn die Eigenheimzulage in Jugendarbeit mit den schon bestehenden Fördertöpfen auf die Finanzierung eingeplant wurde. Landes- und kommunaler Ebene sinnvoll betreiben. Neben diesem Vergleich mit den Wahlversprechen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- werden wir uns in den Haushaltsberatungen aber auch mit neten der FDP – Kerstin Griese [SPD]: Das ist einigen Einzelmaßnahmen beschäftigen müssen: ein sehr hoch gelobtes Programm!) Förderung des Ehrenamts und der Selbsthilfe. – Die Nun zu dem eben schon erwähnten Programm „Jugend Mittel dafür sollen auf 40 Prozent reduziert werden, und bleibt“. Mit dem jährlich 2,5 Millionen Euro teuren Pro- zwar mit der Begründung, dass 2001 das Jahr des Ehren- gramm wollen Sie junge Menschen dazu motivieren, nicht amts gewesen ist und dass im Jahr 2003 der Bedarf nicht aus den neuen Ländern abzuwandern. Die anhaltende Ab- mehr so hoch ist. Erst motivieren wir die Leute, sich eh- wanderung von Jugendlichen stellen Sie als wirtschaftli- renamtlich zu betätigen, und keine zwei Jahre später fallen ches Problem in den neuen Ländern dar. Das ist eine legi- die Mittel ins Bodenlose. Das zeigt ganz deutlich, welchen time Begründung für den Wirtschaftsausschuss, aber vom Stellenwert ehrenamtliche Arbeit in diesem Haushalt hat. Jugendministerium hätte mir eine Begründung besser ge- fallen, die auf die Situation der jungen Menschen eingeht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Klaus Haupt [FDP]) Präsident Wolfgang Thierse: Sie verweisen darauf, dass dieser Titel in Höhe von 500 000 Euro mit dem des Kinder- und Jugendplans des Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. Bundes deckungsfähig ist. Ich sage Ihnen schon jetzt vo- raus, dass diese Deckungsfähigkeit wegen der Absenkung Antje Tillmann (CDU/CSU): beim Kinder- und Jugendplan um 2,5 Millionen Euro ver- mutlich nicht zum Tragen kommen wird. Das mache ich gerne. Damit bin ich beim Kinder- und Jugendplan. Frau So oder so stellt sich auch hierbei für uns die Frage der Ministerin Schmidt, Sie haben zwar geäußert, dass die Sinnhaftigkeit. Erst ruinieren Sie die mittelständischen (B) Grausamkeiten gegenüber dem ursprünglichen Haushalts- Unternehmen, nicht nur in den neuen Bundesländern.(D) entwurf verringert worden seien, aber Sie haben dabei Aufgrund von Steuererhöhungen und Lohnnebenkos- verschwiegen, dass gegenüber dem Jahr 2002 in diesem tenerhöhungen gehen Arbeitsplätze nicht nur für Jugend- Bereich der Kinder- und Jugendhilfe 2,5 Millionen Euro liche, aber gerade für sie verloren. Ausbildungsplätze gekürzt werden. Wenn das mit dem Argument passiert werden nicht mehr zur Verfügung gestellt. Aus den ent- wäre, dass die allgemeine Haushaltssituation nicht mehr sprechenden Steuereinnahmen fördern Sie dann irgend- hergebe, hätte ich dafür noch Verständnis. Tatsache ist welche Programme, die nicht zum Erfolg führen, wie das aber, dass sich außerhalb der bewährten Strukturen eine schon beim JUMP-Plus-Programm der Fall war. Unsere ganze Menge zusätzlicher Programme findet, die kurzfris- Politik heißt: den Mittelstand fördern. Dann werden auch tig beschlossen worden sind, zum Beispiel das Programm Arbeitsplätze für die Jugendlichen in den neuen Ländern gegen Rechtsradikalismus. zur Verfügung gestellt. (Kerstin Griese [SPD]: Das ist ein Programm (Beifall bei der CDU/CSU) gegen rechts! Das ist ein gutes Programm!) Lassen Sie mich ein Letztes ansprechen, das ich mit Frau Deligöz, Ihre positive Auffassung von diesem Pro- großer Freude zur Kenntnis genommen habe. Steuerwis- gramm gegen Gewalt und Rechtsradikalismus teilen selbst senschaftler aus Deutschland und aus zwei bis drei Mit- Jugendvertreter und Jugendpolitiker Ihrer eigenen Fraktion gliedstaaten werden an einer Fachtagung teilnehmen und nicht. Fragen Sie einmal auf kommunaler und Landese- sollen über die Möglichkeiten der Förderung der Familie bene, wie dort das Programm gesehen wird! Ich bringe jetzt im Steuerrecht referieren. Von den EU-Mitgliedstaaten nur ein paar Aussagen dazu: Bestehende Programme auf sollen solche ausgesucht werden, „die bei der steuerlichen Landes- und kommunaler Ebene werden nicht hinreichend Familienförderung besonders weit sind“. Liebe Kollegin- miteinander vernetzt. Es gibt keine Gesamtkoordinierung nen und Kollegen, wenn Sie mit Ihren Steuererhöhungen der Förderprogramme und keine entscheidende Einbin- so weitermachen, werden Sie bei diesem Arbeitskreis dung von Trägern der öffentlichen Jugendhilfe auf örtlicher nicht dabei sein. und überörtlicher Ebene. Teilweise werden sogar Pro- (Lachen des Abg. Manfred Grund gramme gefördert, die die Träger der örtlichen Jugendhilfe [CDU/CSU]) als ungeeignet eingestuft haben. – Alles das findet sich in Berichten des Bundes der Jugendvertreter. Trotzdem freue ich mich im Sinne der Familien natürlich auf die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe und auf eine kon- Dazu kommt – das ist für meinen Geschmack die abso- struktive Haushaltsberatung. lute Krönung –, dass sich bei einem Gesamtvolumen von fast 30 Millionen Euro die Kosten für die Servicestelle und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 840 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

(A) Präsident Wolfgang Thierse: genauso viele junge Männer weder Wehrdienst noch Zi- (C) vildienst leisten müssen? Frau Kollegin Tillmann, ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer ersten Rede. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD und bei der (Beifall) FDP) Beim nächsten Mal werde ich strenger mit Ihnen sein und Das stellt nicht nur das Gerechtigkeitsgefühl der jungen Sie nicht so lange überziehen lassen. Menschen auf den Kopf. Eine Freiwilligenarmee wäre al- (Beifall bei den Abgeordneten der SPD und leine aus Gründen der Gerechtigkeit die richtige Antwort. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich erteile nun das Wort der Kollegin Irmingard sowie bei Abgeordneten der FDP) Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen. Ich komme zum StichwortGeschlechtergerechtig- keit. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wie Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE steht es eigentlich um die Gerechtigkeit zwischen den Ge- GRÜNEN): schlechtern, wenn 50 Jahre nach Inkrafttreten des Gleich- heitsgebots im Grundgesetz Frauen trotz besserer Schul- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!abschlüsse und trotz besserer Ausbildung noch immer Zunächst einmal freue ich mich sehr darüber, dass diese durchschnittlich 25 Prozent weniger verdienen als Män- Debatte eine so große Wertschätzung auch der wertenner? Kollegen des Hauses genießt. Frauen- und Familienpoli- tik ist ja auch ein wichtiges Thema. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) Mit dem Haushalt für das Jahr 2003 schreiben wir auch beim Einzelplan 17 die Prinzipien der letzten vier Jahre Haben wir nicht in der Tat einDemokratieproblem, fort. Sie heißen: Gerechtigkeit, Modernisierung und Kon- wenn in den Vorständen der 100 größten deutschen Akti- solidierung der Finanzen. Gerechtigkeit im Haushalt des engesellschaften nicht einmal eine Vorstandsfrau vertre- Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ten ist? heißt für uns Grüne: Generationengerechtigkeit, Ge- (Zuruf von der FDP: Das kann man doch ge- schlechtergerechtigkeit, aber auch Wehrgerechtigkeit. setzlich regeln!) Ich beginne mit der Generationengerechtigkeit. Hier auf die Einsicht der Unternehmen zu warten – ich (Ina Lenke [FDP]: Oh nein!) komme auf Ihr Stichwort – wäre fahrlässig. Ich will nicht (B) so weit gehen wie die schwedische Ministerpräsidentin, (D) – Das kommt noch, Kollegin Lenke, das ist ja Ihr Spe- die ab 2004 eine Quote von 25 Prozent für die Führungs- zialthema. – Wir werden nicht nur bei der Rentenreform etagen der großen Firmen erlassen will. Trotzdem dürfen dafür sorgen, dass die Lasten zwischen den Generationen wir die Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung entlas- gleichmäßig verteilt werden; wir haben auch mit einer Po- sen. litik Schluss gemacht, die Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, zu vertreten haben, nämlich mit der (Ina Lenke [FDP]: Wie denn?) kohlschen Politik, die bedeutet: weiter so, aussitzen und Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik müssen sehr bald Schulden machen zulasten der nächsten Generation. ein Bündnis für die Frauenerwerbsarbeit schließen. Dabei Ich gebe zu: Der seit vier Jahren anhaltende Sparkurs muss der Staat für Rahmenbedingungen wie ein flächen- hat auch uns schmerzliche Prozesse abverlangt. Aber er ist deckendes qualifiziertes Kinderbetreuungsangebot sor- ohne Alternative, wollen wir nicht unseren Kindern einen gen. Sie sind die Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit immer größeren Schuldenberg hinterlassen. Darum ist von Eltern. auch die Kürzung beim Einzelplan 17 um 5,4 Prozent Trotzdem gibt es noch viele Hemmnisse für Frauen, nicht nur ein Beitrag zur Konsolidierung der Finanzen, auch ohne Kinder. Darum brauchen wir die von Ihnen ge- sondern auch ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit. wünschten gesetzlichen Regelungen, die keine bürokrati- Im Wesentlichen sind die Kürzungen durch drei Maß- schen Monster sind, sondern gut umsetzbar sind. nahmen erreicht worden: durch die Verringerung beim Er- Wir brauchen Anreize für die Vergabe öffentlicher Auf- ziehungsgeld aufgrund geringerer Geburtenzahlen, durch träge und die Umsetzung von Gender Mainstreaming als niedrigere Ausgaben beim Unterhaltsvorschuss und durch durchgängigem Leitprinzip. die Reduzierung der Zahl der Zivildienstleistenden. Auch beim Zivildienst spielt für uns Gerechtigkeit eine große (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rolle: Gerechtigkeit zwischen Wehrpflicht und Zivil- sowie bei Abgeordneten der SPD) dienst. Wir haben hier enorme Schritte der Angleichung Das heißt, bei jeder Maßnahme muss geprüft werden, wie vollzogen. Daher können weitere Kosten für den Zivil- die Auswirkungen auf Männer bzw. Frauen sind. Ein dienst eingespart werden. Gender-Kompetenzzentrum wird dieses Anliegen ab Es steht allerdings noch das ThemaWehrgerechtig- 2003 voranbringen, es stellt ein erhebliches Modernisie- keit aus, Frau Kollegin Lenke. Wie können wir es einem rungspotenzial im Gleichstellungsprozess dar. jungen Mann erklären, dass lediglich ein Drittel eines Da ich beim Thema Gleichstellung bin, kann ich es mir Jahrgangs zum Wehrdienst verpflichtet wird, dass aber nicht verkneifen, heute einer großen Frau zu gratulieren, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 841

Irmingard Schewe-Gerigk (A) die in ihrem sechzigjährigen Leben sehr viel für dienisterin ist wirklich ein Dokument des Sparwillens der(C) Gleichstellung und die Rechte von Frauen getan hat, näm- Regierung; denn während der Bundesetat insgesamt um lich Alice Schwarzer. Herzlichen Glückwunsch zum Ge- durchschnittlich 1,8 Prozent zurückgefahren wird, ist der burtstag! Haushalt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gleich (Beifall) mit 5,4 Prozent dabei. Dennoch steigen die Personalaus- gaben für Ministerin und Staatssekretärinnen fast um Meine Damen und Herren, spätestens seit dem Bericht stolze 50 Prozent. Das ist schon bemerkenswert. der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ wissen wir, dass die Lebenserwartung steigt und der An- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Prioritätenset- teil der Älteren an der Gesellschaft zunimmt. Das ist kein zung!) Unglück, wie manche Presseberichte signalisieren, son- Statt durch Reformen eine nachhaltige Stabilisierung dern eine große politische Herausforderung für die sozia- der sozialen Sicherungssysteme zu erreichen, versucht die len Sicherungssysteme. Die Frühverrentungsideologie, Regierung, die sozialen Sicherungssysteme durch höhere die dazu geführt hat, dass die Versicherungskassen geleert Belastung der Beitragszahler kurzfristig aufzupäppeln. und leistungsbereite Menschen zum alten Eisen abge- stempelt wurden, muss beendet werden. Wir brauchen das (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das geht Erfahrungswissen älterer Menschen. nicht!) Auf die Frage, wie dies besser genutzt werden kann Das stellt die für die immer größer werdende Gruppe der und wie sich die Situation der älteren Arbeitnehmer und älteren Menschen wichtigen Leistungen im Gesundheits- Arbeitnehmerinnen darstellt, hat die Ministerin in zwei wesen und in der Pflege infrage. Modellprogrammen Vorschläge gemacht, die wir hier demnächst präsentieren werden. Es ist doch eine un- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Thomas glaubliche Verschwendung von Wissen und Erfahrung, Dörflinger [CDU/CSU]) wenn in Deutschland fast jeder Zweite über 50 Jahre nicht Der Reformstau in der Sozialversicherung, die gegen- mehr erwerbstätig ist. wärtige Rentenpolitik und die steigende Staatsverschul- (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Also müssen dung gehen voll auf Kosten der heutigen Jugend. Die Sie etwas tun!) junge Generation wird ihrer Zukunft beraubt. Ihr werden unzumutbare Belastungen auferlegt und ihr wird jeglicher – Wir tun etwas. Die Frühverrentung war in der Ära Blüm finanzieller Gestaltungsspielraum entzogen. VonGene- sehr weit fortgeschritten. Wir werden Änderungen her- rationengerechtigkeit ist bei Rot-Grün keine Spur. beiführen. (Beifall bei der FDP) (B) Auch die Situation älterer und pflegebedürftiger Men- (D) schen werden wir weiter verbessern. Mit dem Heimgesetz Die Arbeitsmarktchancen für Jugendliche verschlech- und dem Altenpflegegesetz haben wir begonnen. Eine tern sich drastisch. Jobs im ersten Arbeitsmarkt können Enquete-Kommission „Menschen in Heimen“, die meine durch staatliche Förderprogramme nicht ersetzt werden. Fraktion befürwortet, könnte hier einen großen Beitrag Aber auch die ältere Generation verliert durch den Re- leisten. formstau ihre Perspektiven. Frau Schewe-Gerigk, Sie ha- ben Recht: Die Senioren von heute sind keine Menschen, Zum Schluss möchte ich auf ein wichtiges Anliegen auf deren Produktivität oder Kreativität unsere Gesell- der Grünen hinweisen, das ab 2003 startet, nämlich die schaft einfach verzichten könnte. Sie stellen angesichts modellhafte Erprobung einer integriertenAlten- und Krankenpflegeausbildung. Das bedeutet mehr Qualität des demographischen Wandels in Zukunft auch im Ar- in der Pflege und weniger Burn-out-Syndrome beim Pfle- beitsleben eine wichtige Ressource dar. Derzeit beschäf- gepersonal. tigt jedes zweite Unternehmen in Deutschland keine Per- sonen, die älter als 50 Jahre sind. Während hierzulande Ich habe hier nur einen kleinen Bereich der vielfältigen nur 39 Prozent der 55- bis 64-Jährigen erwerbstätig sind, Aktivitäten des Ministeriums beleuchtet. Eines wird aber sind es zum Beispiel in der Schweiz 71 Prozent und in Ja- deutlich: Die Interessen von jungen und alten Menschen, pan 64 Prozent. von Frauen und Familien, von hier Geborenen und Zuge- wanderten werden von Rot-Grün bestens vertreten. Dem Trend zur Frühverrentung muss politisch ent- gegengewirkt werden, statt ihn durch ein Brückengeld Ich danke Ihnen. noch zu fördern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und bei der SPD) der CDU/CSU) Ältere Arbeitnehmer müssen durch gezielte Förderung, Präsident Wolfgang Thierse: Weiterqualifizierung und verbesserte Rahmenbedingun- Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Haupt, FDP- gen wieder größere Chancen am Arbeitsmarkt bekom- Fraktion. men. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieVereinbarkeit Klaus Haupt (FDP): von Familie und Beruf ist auch eines der zentralen Ziele der liberalen Familien- und Frauenpolitik. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und zahlreich an- wesende Kollegen! Der Haushalt der neuen Familienmi- (Beifall bei der FDP) 842 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Klaus Haupt (A) Dies entspricht auch dem Wunsch der jungen Generation, Präsident Wolfgang Thierse: (C) wie er in der neuen Shell-Jugendstudie deutlich zum Aus- Kollege Haupt, Sie müssen zum Schluss kommen. druck kam. Wir verstehen das als eine Politik für die Frauen, die jungen Menschen und die Familien und nicht wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, als Klaus Haupt (FDP): eine ideologisch motivierte Aushebelung der Familien. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Familien, (Kerstin Griese [SPD]: Die Ideologen sitzen Senioren, Frauen und Jugend verdienen einen hohen Stel- doch dort drüben! – Weiterer Zuruf von der lenwert in unserer Politik. Dazu sind grundlegende Struk- SPD: Das machen wir doch überhaupt nicht!) turreformen in allen Bereichen unserer Gesellschaft er- Die Aussage des SPD-Generalsekretärs , forderlich. Wir, Jung und Alt, müssen neu denken und mit staatlicher Kinderbetreuung eine kulturelle Revolu- deshalb die notwendigen gesellschaftlichen Reformen an- tion und die Lufthoheit über den Kinderbetten erzielen zu packen. Die FDP ist dazu bereit. wollen, macht doch eines deutlich: Die SPD will keine Danke. echte Freiheit, Familie und Beruf vereinbaren zu können, sondern einen aufgeblähten staatlichen Erziehungsappa- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) rat. Die SPD misstraut den Familien bzw. den Eltern und strebt eine Vergesellschaftung der Erziehungsarbeit an. Präsident Wolfgang Thierse: Wir Liberale lehnen diese Art von staatlicher Zwangs- beglückung entschieden ab. Ich erteile der Kollegin Marlene Rupprecht, SPD-Frak- tion, das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Wir fordern stattdessen ein breiteres und flexibleres Angebot an staatlicher und privater Kinderbetreuung in Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Verbindung mit der Kita-Card, das den Familien die Ent- zuerst gerne auf das eingehen, was Sie, Herr Haupt, ge- scheidungsfreiheit lässt, wann, wo und wie sie ihre Kin- sagt haben. Ich finde es zwar gut, wenn man Zahlen aus der betreuen lassen wollen. dem Haushalt aufführt; denn dann kann man beweisen, dass man ihn gelesen hat. Aber das heißt noch lange nicht, (Christel Humme [SPD]: Herr Haupt hört dass man ihn interpretieren kann und richtig verstanden nicht zu!) hat. Das, was Sie zur neuen Staatssekretärinim Fami- Frau Bundesministerin Schmidt, Sie haben wiederholt lienministerium gesagt haben, stimmt so nicht. Auch Sie (B) gefordert, unsere Gesellschaft möge kinderfreundlicher müssten wissen, dass sie vorher dort nicht angesiedelt(D) werden. Ich unterstütze das von ganzem Herzen. Kinder- war, dass es sich also um eine Verlagerung handelt und freundliche Politik ist eine praktische Angelegenheit und dass deshalb der entsprechende Haushaltsposten von ei- beginnt in den Köpfen und im Alltag, indem etwa schnell nem Ministerium zum anderen gewandert ist. Wenn Sie wieder die Kinderkommission des Deutschen Bundesta- das erwähnt hätten, hätte das zu Wahrheit und Klarheit ges einberufen wird. Sie beginnt auch bei familienfreund- beigetragen. lichem Wohnraum – die Eigenheimzulage will Rot-Grün aber um gut ein Drittel kürzen –, beim Familienwahlrecht, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das Sie, Frau Ministerin, zur Stärkung der Kinderinteres- DIE GRÜNEN) sen in unserer Gesellschaft fordern – Sie haben dabei übri- Des Weiteren haben Sie angeführt, dass unser Haushalt gens meine Unterstützung –, oder beim Mehrwertsteuer- um 5,4 Prozent gekürzt werde. Es stimmt zwar, dass es satz für Kinderbedarf. In Deutschland fällt jetzt derKürzungen gibt. Wenn Sie sich aber genau anschauen, ermäßigte Steuersatz für Werbemittel und Gärtnerei-wo gekürzt wird, dann stellen Sie fest, dass zum Teil Mo- bedarf. Hunde- und Katzenfutter bleiben unverändertdellprojekte ausgelaufen sind. Sie wissen doch genau steuerlich begünstigt, Babynahrung dagegen nicht. Sind – Sie sind ja lange genug Mitglied des Parlaments –, dass Haustiere wirklich eher förderungswürdig als Kinder? es bei Modellprojekten um Einmalfinanzierungen geht, Das muss uns doch alle gemeinsam auf die Barrikaden die nicht ewig fortgeschrieben werden. Wenn Sie das er- treiben! wähnt hätten, hätte auch das zu Wahrheit und Klarheit bei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) getragen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich das Ausga- Es ist angesichts der Debatten, die zurzeit geführt wer- benvolumen im Etatansatz für denBereich der Beauf- den und die zum Teil von der Opposition massiv geschürt tragten für Migration, Flüchtlinge und Integration werden, schwierig, einen Haushalt vorzulegen. Ich frage verfünffacht, wäre an sich zu begrüßen. Denn der Anteil mich immer, ob Sie tatsächlich Ihre eigene politische Ver- der jungen Menschen in unserer Gesellschaft, die ausgangenheit im Blick haben und sich noch erinnern. Viel- Immigrantenfamilien stammen, wächst immer mehr an. leicht – ich möchte darüber eigentlich nicht spekulieren – Doch sollen die Personalkosten für die Mitarbeiter der hoffen Sie darauf, dass die Wählerinnen und Wähler ein neuen Staatssekretärin gegenüber den Personalkosten der kurzes Gedächtnis haben bisherigen Ausländerbeauftragten mehr als verneunfacht (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) werden. Das macht deutlich, dass diese Mittelsteigerung nur zu einem Bruchteil bei den Migranten, Flüchtlingen und dass sich niemand mehr daran erinnert, was in den und Zuwanderern ankommt. 16 Jahren, in denen Sie regiert haben, tatsächlich im Be- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 843

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) reich der Familien, der Kinder, der Senioren und derAnliegen geht, kann man erwarten, dass er ein engagier- (C) Frauen geschehen ist, nämlich nichts bzw. Vernachlässig- ter Bürger wird, das heißt, dass er sich in unsere Gesell- bares. Ich möchte nur an Folgendes erinnern: Wir wollten schaft einbringt. einen Armuts- und Reichtumsbericht.Frau Nolte hat (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ihn 1998 so kurz vor der Bundestagswahl vorgelegt, dass DIE GRÜNEN) ihn niemand mehr lesen konnte. Sie hat das getan, damit ja keine Explosion stattfindet. Der damalige Bericht hat Die Shell-Jugendstudie belegt, dass viele junge Menschen außerdem nur einen schmalen Bereich abgedeckt. Wir ha- ehrenamtlich tätig sind. Ich hätte mir auch gewünscht, ben den Ersten Armuts- und Reichtumsbericht in Auftrag liebe Kollegin von der Opposition, Frau Tillmann, wenn gegeben. Er ist so rechtzeitig vorgelegt worden, dassSie deutlich gesagt hätten, dass wir das Ehrenamt durch Maßnahmen aus ihm abgeleitet werden konnten, die dann die Erhöhung der so genannten Übungsleiterpauschale auch gegriffen haben. Meine Kolleginnen und Kollegen um 50 Prozent gestärkt haben. haben Ihnen ja schon vieles von dem aufgezeigt, was wir Wenn Sie sich den Etat ansehen, dann müssen Sie ehr- getan haben. lich sagen, dass der Etat so gestaltet ist, dass die dort ent- Der jetzt vorliegende Einzelplan 17 zeichnet sich im haltenen Mehrkosten für das Jahr des Ehrenamtes be- Gegensatz zu früher dadurch aus, dass er zukunftsfähig stimmt waren. Das alles waren Modelle und Projekte, die und generationengerecht ist. Zukunftsfähigkeit und Ge- wir in dieser Zeit gefördert haben. Wir halten den Haus- nerationengerechtigkeit – darauf ist schon ein paarmal haltstitel für das Ehrenamt auch weiterhin vor, weil er not- hingewiesen worden; aber ich denke, das kann man gar wendig ist, um das Ehrenamt zu fördern. nicht oft genug sagen – bedeuten Nachhaltigkeit – dieses Ehrenamtlich Tätige sind auch bereit,Freiwilligen- Prinzip bestimmt unsere Politik –, das heißt, sowohl für dienste zu leisten; diese haben wir im letzten Jahr refor- die jetzt lebenden Generationen als auch für die nach- miert. Dafür haben wir beachtliche zusätzliche Mittel in wachsenden zu sorgen. Deswegen legen wir einen Haus- den Haushalt eingestellt. Auf diesem hohen Niveau ver- halt für alle Generationen vor. stetigen wir das Ganze. Wir haben es so gestaltet, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ junge Menschen sozialversicherungsrechtlich abgesichert DIE GRÜNEN) sind, sodass nicht nur reiche Kinder ein freiwilliges so- ziales Jahr machen können, weil Mama und Papa eine pri- Ich möchte an ein paar Beispielen aufzeigen, dass dasvate Krankenversicherung haben und für das Alter und ei- tatsächlich so ist. nen Unfall vorsorgen. Wir sind der Meinung, dass, wenn Wir haben den Reformstau aufgelöst. Wir hatten injemand einen Dienst für die Gesellschaft leistet, die Ge- dem zur Diskussion stehenden Bereich enorme Probleme. sellschaft auch dafür aufkommen muss. Wir glauben (B) (D) Was hat sich denn im Gegensatz zu Ihnen unter unserer auch, dass es eine gute Möglichkeit zum Erlernen von To- Regierung verändert? Wir haben Kinder – damit möchte leranz ist, wenn man Kinder und Jugendliche ins Ausland ich beginnen – nicht als Vorstufe von Menschen betrach- gehen lässt. Deshalb haben wir das auf das außereuropä- tet, die irgendwann erwachsen werden. Wir haben alsische Ausland ausgedehnt. Erste Kinder als eigenständige Wesen mit eigenen doku- Ein weiterer Aspekt ist, dass nicht nur Gymnasiasten mentierten Rechten ernst genommen. Ich kann mich noch diese Möglichkeit in Anspruch nehmen sollen, sondern an das Bauchgrimmen und an die Widersprüche erinnern, auch Kinder und Jugendliche, die aus Familien mit weni- als wir nur den Satz formulierten: Kinder haben ein Recht ger Geld kommen, sodass sie direkt nach der Schulpflicht auf gewaltfreie Erziehung. Das sollte eigentlich so in diesen Dienst gehen können. Diese Zeit können sie sich selbstverständlich sein wie das Amen in der Kirche. auf die Zivildienstzeit anrechnen lassen. – Das sind die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dinge, die in diesem Bereich für Kinder und Jugendliche DIE GRÜNEN) geschehen sind. Das war es aber nicht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dass es etwas ganz Besonderes ist, dass wir diesen Satz rechtlich verankert haben, ist uns auf der Weltkonferenz Auch für die Chancengleichheitund den sozialen gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugend- Ausgleich wurden Mittel eingestellt; als Beispiele nenne lichen bestätigt worden. In der Schlussrede wurde ganz ich die Programme „E & C“, „Soziale Stadt“ und JUMP. besonders hervorgehoben, dass es der Deutsche Bundes- Diese sind für die Integration von jungen Menschen wirk- tag mit der Mehrheit der rot-grünen Koalition geschafft lich notwendig. Nur wer sich integriert fühlt, wer wirklich hat, ein Gesetz zu verabschieden, das einen solchen Satz das Gefühl hat, dass er auf Augenhöhe mit dem anderen enthält. Kinder sind nun nicht mehr Objekte, sondernist, wird den anderen auf Augenhöhe aushalten und mit Rechtssubjekte. Daraus leiten wir alles ab, was wir tun. ihm kommunizieren. Das haben wir mit unseren Pro- Deshalb wollen wir, dass Kinder an Entscheidungen im grammen im Bereich Chancengleichheit auf den Weg gesellschaftlichen Leben beteiligt werden. Wir haben in gebracht. erheblichem Maße Mittel für die Beteiligungsbewegung, Ich hätte mir auch gewünscht, Sie hätten sich die im das heißt für die Verwirklichung des Prinzips der Partizi- Bereich Gewalt und Intoleranz eingesetzten Mittel ge- pation eingestellt; denn nur von demjenigen Menschen, nauer angesehen. Dann hätten Sie festgestellt, dass der der sich aktiv beteiligt und der tatsächlich – und zwar im- Mitteleinsatz zum größten Teil in Absprache mit den Län- mer altersbezogen – gefragt wird, wenn es um die eigenen dern vorgenommen worden ist. In Bayern zum Beispiel 844 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (A) sind die gesamten Mittel an den Landesjugendring gege- Präsident Wolfgang Thierse: (C) ben worden; der hat die Mittel auf die Projekte verteilt. Ich erteile dem Kollegen Thomas Dörflinger von der Wenn es also nicht funktioniert hat, dann müssen wir prü- CDU/CSU-Fraktion das Wort. fen, ob es dort nicht funktioniert hat. Ansonsten wurden die Mittel so kanalisiert, dass sie sinnvoll eingesetzt wer- den konnten. Damit gewinnen wir Respekt vor ethni- Thomas Dörflinger (CDU/CSU): schen, kulturellen und sozialen Minderheiten. Niemand Herr Präsident! Meine sehr veehrten Damen und Her- wird aufgrund seiner Herkunft ausgegrenzt. ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde etwas (Beifall bei der SPD) sonderbar, wenn bei einer Debatte zu einem Einzelplan des Bundeshaushaltes von den Rednerinnen und Rednern Wir werden die drei in diesem Bereich aufgelegten Pro- der Koalition und der Bundesregierung kaum eine Zahl gramme ENTIMON, CIVITAS und XENOS fortschrei- fällt. ben. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Im Zuge der Generationengerechtigkeitführen wir Jung und Alt zusammen. Die heutige Jugend erhält in ei- Dann muss etwas faul sein. Deswegen will ich ein paar nem hohen Maße Unterstützung und Solidarität. Wir hof- Zahlen nennen. fen natürlich, dass sie dies bewusst wahrnimmt und es, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wenn sie später die ältere Generation ist, weitergibt. Das Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Sie entspricht dem Generationenvertrag und der Generatio- haben ihn hoffentlich gelesen!) nengerechtigkeit. Denn nur gemeinsam und nicht gegen- einander können wir die Herausforderungen des demo- – Im Gegensatz zu Ihnen schon. Das werde ich Ihnen graphischen Wandels bewältigen. gleich beweisen. Wir haben in der Seniorenpolitik die Forschungsmit- Es zeigt sich im Einzelplan 17 wie im Übrigen auch in tel auf dem gleichen Niveau wie bisher weitergeführt, um anderen Einzelplänen, dass die Prinzipien von Haushalts- die Probleme des demographischen Wandels bewältigen wahrheit und Haushaltsklarheit – nicht erst bei diesem zu können und ältere Menschen aktiv einzubinden. Wir Haushaltsplan zum ersten Mal – nicht als oberstes Prinzip müssen endlich wegkommen von der Einspurigkeit in der angesehen wurden. Wahrnehmung von Alter und um das ganze Spektrum ent- Da findet sich bei näherem Durchlesen – darauf wurde decken, das im Alter steckt, nämlich von „Fit wie eindankenswerterweise schon hingewiesen – eineglobale Turnschuh“ und „Alle Berge erklimmen“ bis hin zur Mor- Minderausgabe in Höhe von immerhin 91 Millionen bidität, das heißt bis zur Hinfälligkeit und völligen Hilflo- Euro beim Bundesamt für den Zivildienst. Es wäre ei- (B) (D) sigkeit. Dem werden wir gerecht. Ich möchte nicht alles, gentlich Sinn und Zweck dieser Debatte gewesen, wenn was vorhin schon gesagt wurde, wiederholen. Frauwenigstens ein Hinweis darauf gegeben worden wäre, wie Schewe-Gerigk hat bereits das Pflegegesetz und dasdas Ministerium gedenkt, diese globale Minderausgabe Heimgesetz angesprochen. Ein weiteres Projekt ist das zu erwirtschaften. modellhafte Bauprojekt der Altenhilfe. Darüber wollen Frau Ministerin, Sie haben wenigstens gesagt, dass wir feststellen, wie das Wohnen gestaltet sein muss, damit die Privatfrau Renate Schmidt für die Abschaffung der ältere Menschen menschen- und wirklich seniorengerecht Wehrpflicht und damit auch für die Abschaffung des leben können. Das sind Zukunftsprojekte für moderne Zivildienstes ist. Damit sind wir einen Schritt weiter. Wohn- und Siedlungspolitik. Diese Erkenntnis hatten wir gestern noch nicht. Der Weltaltenplan wird im kommenden Jahr in einen Aber es hätte uns schon interessiert, wie innerhalb des nationalen Aktionsplan umgesetzt. Wenn wir das ge-Bundesamtes für Zivildienst diese 91 Millionen Euro ge- schafft haben, können wir wirklich sagen: Wir handeln neriert werden sollen, und zwar ohne dass wir dann und wir gestalten damit die Zukunft für uns, unsere Kin- schlussendlich bei dem Punkt sind, uns generell über die der und unsere Enkel. Abschaffung der Wehrpflicht unterhalten zu müssen. Ich bin in einer Familie groß geworden, die Zusam- (Beifall bei der CDU/CSU) menhalt und Geborgenheit vermittelt hat, und deshalb habe ich auch die Fähigkeit, mit anderen zusammenzuar- Ich finde es auch bemerkenswert – das nur am Rande –, beiten. Ich wünsche mir, dass es in diesem Saale viele dass immerhin 10 Prozent des Ausgabevolumens dieses gibt, die das erfahren durften. Einzelplanes durch Verpflichtungsermächtigungen ge- deckt sind. Das heißt, sie ziehen einen Wechsel auf die Ich fordere Sie auf, mit uns gemeinsam an dieser Welt Haushalte 2004 fortfolgende. Das hat nach meiner Über- und an dieser Bundesrepublik weiter zu arbeiten, damit zeugung auch nicht unbedingt sehr viel mit seriöserer Fi- sie zukunftsfähig ist. Ich glaube, dieses Modellprojekt nanzpolitik zu tun. „Zukunft Deutschland“ hat wirklich eine Chance. Ich for- dere Sie auf – und ich wünsche mir das –: Machen Sie da- Ich greife noch den Gedanken von Klaus Haupt auf, der etwas über das Personal im Ministerium gesagt hat. bei mit! Im Stellenplan findet sich der Vermerk, dass 14 neue Be- Danke schön. amtinnen und Beamte im Ministerium eingestellt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich will mich jetzt nicht darüber verbreiten, was zu die- DIE GRÜNEN) ser Finanzmisere geführt hat; das war das Thema der De- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 845

Thomas Dörflinger (A) batte heute Morgen. Wir sind uns aber wohl alle darüber Schauen Sie sich einmal die Gemeinderäte und die(C) einig, dass das Geld knapp ist. Wie das Ministerium dann Kreistage an! Schauen Sie sich einmal an, wie die dorti- auf die Idee kommt, 14 neue Planstellen allein im Beam- gen Mitarbeiter mit rauchenden Köpfen versuchen, ihre tenbereich zu schaffen, ist mir völlig rätselhaft. Etats irgendwie auf die Reihe zu bringen, was teilweise mit massiven Belastungen für die Bürgerinnen und Bür- (Nicolette Kressl [SPD]: Sie haben nicht zu- ger verbunden ist! Die Konzentration auf die kommuna- gehört! Sie haben wieder nichts kapiert! – len Finanzen führt am Ende dazu, dass die Familien, de- Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Das nen Sie eigentlich etwas Gutes tun wollen, schlussendlich habe ich gerade erklärt!) ihre Betreuung selbst bezahlen. Das kann nicht Sinn und Frau Rupprecht, ich sage Ihnen, weil Sie das auch bei Zweck der Übung sein. Herrn Haupt schon kritisiert haben, Folgendes: Die Mehr- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ausgaben personeller Natur im Zuständigkeitsbereich Mi- gration von Frau Beck belaufen sich auf 380 000 Euro. Zweitens – die Kollegin Tillmann hat schon darauf hin- Wenn Sie das einmal durch die 14 neuen Stellen und dann gewiesen –: Eigenheimzulage. Sie wurde ursprünglich noch einmal durch die 13 Monatsgehälter eines Beamten wirklich einmal als ein Instrument der Familienförderung teilen, dann kommen Sie zu einem Monatsgehalt inklu- konzipiert. Jetzt soll ihre Zahlung auf Familien konzen- sive der Lohnnebenkosten von 1 900 Euro. Das wäre das triert werden. Interessant finde ich – da greife ich den Ge- Niveau eines Beamten in der Besoldungsgruppe A 9 mit danken von Herrn Fricke auf –, dass einem kinderlosen fünf Dienstjahren. Das kann nicht stimmen. Ehepaar zukünftig vorgeschrieben wird, wann es Kinder in die Welt zu setzen hat, damit es anschließend in den Ge- (Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Das nuss einer staatlichen Förderung kommt. wird auch durch Wiederholen nicht besser, was Sie sagen!) (Christel Humme [SPD]: In welcher Welt le- ben Sie denn?) Deswegen hat Herr Haupt Recht und Sie haben Unrecht, meine Damen und Herren. So weit sind wir mittlerweile gekommen. Ich lasse mir als Bürger dieses Landes wirklich viel vorschreiben; ich bin (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) da sehr geduldig. Aber man möge mir bitte nicht auch Schauen Sie sich den Haushaltsvermerk auf Seite 35 des noch vorschreiben, wann meine Frau Kinder zu bekom- Einzelplans 17 an! Ich freue mich auf Ihre Begründung, men hat. Das geht zu weit. die Sie in den Ausschussberatungen dafür geben, dass der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – derzeitige Stelleninhaber aufgrund einer besonderen Ver- Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wendung nach der Besoldungsgruppe B 5 bezahlt wird, Da zwingt Sie doch keiner zu!) (B) obwohl er in der Besoldungsgruppe B 3 angestellt ist. Ich (D) freue mich, zu erfahren, welche besondere Vereinbarung Bringen Sie bitte das, was Sie im Zusammenhang mit dieser Regelung zugrunde liegt. Wenn wir kein Geld ha- der Änderung der Eigenheimzulage tun, in einen Zusam- ben, insbesondere für Familien, dann sollte sich das auch menhang mit dem, was Sie sonst noch mit diesem merk- bei den Ausgaben für den Personalbereich des Ministe- würdigen Steuervergünstigungsabbaugesetz vorsehen. riums zeigen. Ich erinnere beispielsweise an § 21 des Einkommensteu- ergesetzes, in dem es um die Anrechnung der Werbungs- Anstatt die finanzielle Situation dort deutlich zu ma- kosten bei nicht selbst genutztem, vermietetem Wohn- chen, tun Sie genau das Gegenteil: In drei der vier Kapi- eigentum und um die degressive Gebäude-AfA geht. tel des Einzelplans 17 des Bundeshaushaltsplans für das Lassen Sie einmal von Fachleuten durchrechnen, welchen Haushaltsjahr 2003 ist ein Rückgang der Mittel verzeich- Einfluss diese Änderungen auf das Mietniveau in den net. Allein im Kapitel „Bundesministerium“ ist ein Auf- Städten und Gemeinden hat! Die Mieten werden nicht von wuchs enthalten. Das lässt tief blicken. Generaldirektoren und Millionenerben bezahlt, sondern (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Hört! Hört!) von den Familien mit Kindern in diesem Lande. Auch in diesem Fall sind die Familien die Zahlmeister der Nation. Die Familienpolitik ist natürlich eineQuerschnitts- aufgabe; deswegen sind die Familien auch davon betrof- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – fen, wie die anderen Einzelpläne des von der Bundesre- Nicolette Kressl [SPD]: Sollen wir mal gucken, gierung aufgestellten Bundeshaushaltsplans aussehen. was Baden-Württemberg beim Wohnungsbau Lassen Sie mich dazu ein paar Punkte sagen. zusammengestrichen hat, Herr Dörflinger? Sol- len wir einmal nach Baden-Württemberg Erstens: Kinderbetreuung. Wir sind uns einig, dass gucken?) auf diesem Gebiet ein Nachholbedarf herrscht. Frau Humme, wenn wir zukünftig als Maxime ausgeben, dass – Ich werde am Freitag in Baden-Württemberg sein und wir uns gegenseitig nicht die Versäumnisse vorhalten,ich kenne die Situation dort sehr gut. Wenn Sie den Fi- dann findet das meine Zustimmung. Wenn Sie allerdings nanzminister des Landes Baden-Württemberg fragen, darauf hinweisen, dass der Bund einen Einstieg in die Fi- warum er diese Kürzungen vorgenommen hat, dann wird er Ihnen antworten: Die entsprechenden Notwendigkeiten nanzierung der Kinderbetreuung vollzogen hat, dann ist sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sie kamen per das nur die Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte der Post aus Berlin. Wahrheit ist, dass sich der Bund an der Folgefinanzierung nicht beteiligt und dass die Kosten an den eigentlich Zu- (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei ständigen hängen bleiben, beispielsweise an den Kom- der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- munen. NEN) 846 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Thomas Dörflinger (A) Lassen Sie mich auf dieRentenpolitik zu sprechen Man muss auch etwas durchsetzen können beim Thema (C) kommen. Wir waren uns wenigstens darin einig, dass die Generationengerechtigkeit. Da haben Sie uns auf Ihrer verstärkte staatliche Förderung der privaten Altersvor- Seite. sorge richtig ist. Das fand unsere Unterstützung. Ich lasse Es zeigt sich, dass Sie meilenweit von der Realität in einmal außen vor, dass sowohl uns als auch den Kollegen diesem Lande entfernt sind – aus welchen Gründen auch von der FDP die Ausgestaltung des Instrumentariums der immer. Da sagt der Fraktionsvorsitzende der SPD – übri- Riester-Rente nicht gepasst hat. gens passt das drei Wochen vor dem Weihnachtsfest sehr Sie sagen den Menschen: Baut eine private Altersvor- gut –, man solle das Geld nicht in den Konsum stecken, sorge auf, beispielsweise durch den Kauf von Anteilen ei- sondern an den Staat geben, damit der es verwenden kann. nes Aktienfonds oder eines Investmentfonds! Nun wollen Das passt wirklich in diese Zeit. Gleichzeitig freut sich der Sie eine steuerrechtliche Regelung schaffen, durch die der Bundeskanzler bei einem Einkaufsbummel in der Hanno- fiktive Wertzuwachs, der innerhalb eines Kalenderjahres veraner Innenstadt, dass dort die Schlangen vor den Ge- entstanden ist, besteuert wird. Ich lasse es mir noch gefal- schäften lang sind. Sie sind wahrscheinlich nicht deswe- gen lang, weil die Leute ganz versessen darauf sind, ihr len, dass nach der Veräußerung eines Papiers der Erlös be- vieles Geld endlich loszuwerden, sondern deswegen, weil steuert wird; aber man kann doch nicht einen fiktiven es dem Handel mittlerweile so schlecht geht, dass er im Wertzuwachs, also einen Wertzuwachs, den der Besitzer Stile eines vorgezogenen Winterschlussverkaufs schon eines Papiers überhaupt nicht in Anspruch nimmt, von jetzt mit Preisnachlässen lockt, um das Weihnachtsge- Staats wegen besteuern. schäft wenigstens ein bisschen anzukurbeln, damit die Sie tun das genaue Gegenteil von dem, was Sie mitUmsätze nicht völlig in den Keller fallen. der Riester-Rente ursprünglich beabsichtigt hatten. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) macht schlichtweg keinen Sinn. Ihr Grundproblem liegt in zwei Dingen. Erstens: Sie Dazu passt, dass Sie sich mit Vorschlägen, durch die sind ganz offensichtlich nicht in der Lage, in volkswirt- wirklich täglich ein neues Borstenvieh durchs Dorf ge- schaftlichen Zusammenhängen zu denken. Sie denken trieben wird, in der gesetzlichen Rentenversicherung um- vielmehr nur in Haushaltsstellen. tun. Ich will Ihnen nicht verheimlichen: Der beste Beitrag in dieser Diskussion über die Zukunft dergesetzlichen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ausge- Rentenversicherung kam heute vom stellvertretenden rechnet von Ihnen, Herr Dörflinger! – Weiterer SPD-Fraktionsvorsitzenden . Man kann Zuruf von der SPD: Seien Sie vorsichtig, was sich ja über den Sinn und Unsinn der Rürup-Kommission Sie sagen!) durchaus unterhalten. Ich bin aber schon der Meinung, Sie führen eine Haushaltsstellenkorrektur durch, ohne dass der Ton die Musik macht. (B) dass Sie die volkswirtschaftliche Wirkung, die anschlie- (D) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ausge- ßend entsteht, bedenken. rechnet Sie!) Den zweiten Fehler, den Sie begehen, halte ich noch für wesentlich drastischer: Sie trauen dem einzelnen Men- Nun sagt Herr Stiegler über die Rürup-Kommission, er schen nichts zu. Sie sind grundsätzlich der Auffassung, habe die Schnauze voll davon, dass wir vor unseren Mit- dass der Staat immer besser in der Lage sei, zu beurteilen, gliedern und Wählern täglich den Kopf hinhalten müssen was für den Einzelnen gut ist und was nicht. Wir sind der für dieses Professorengeschwätz. Dann setzt er noch eins umgekehrten Auffassung, nämlich dass der Einzelne, drauf und sagt über eine Kommission, die von der Bun- wenn er denn will, Hilfe vom Staat anfordern kann, aber desregierung eingesetzt wurde: Ich erwarte, dass die Pro- nicht, dass der Staat so allwissend ist, zu bestimmen, fessoren wie Herr Rürup uns nicht länger mit ihrer Ejacu- wann der Einzelne die Hilfe braucht oder nicht. latio praecox beglücken. Ich verzichte darauf, das zu übersetzen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Davon Stellen Sie endlich den Menschen in den Mittelpunkt verstehen wir nichts!) Ihrer Politik. Dann haben Sie uns auf Ihrer Seite. Ich freue mich auf spannende Ausschussberatungen. und setze einmal das kleine Latinum beim einen oder an- deren voraus. Herzlichen Dank. Meine Damen und Herren, die Leute erwarten, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) uns wenigstens einigermaßen ernsthaft um ihre Zukunft beispielsweise in der gesetzlichen Rentenversicherung Präsident Wolfgang Thierse: kümmern. Das, was Sie hier tun – ständig eine neue Sau durchs Dorf zu treiben –, ist dazu kein Beitrag. Ich sage Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich an die Adresse von Frau Deligöz und von Frau Schewe- liegen nicht vor. Gerigk: Es reicht nicht, über Generationengerechtigkeit Wir kommen damit zum Geschäftsbereich desBun- nur zu reden. Vor Kraft kaum laufen könnend ins Kanz- desministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung leramt zu gehen und anschließend so klein wieder he-und Landwirtschaft. rauszukommen, dass man unter dem Teppich Fallschirm Außerdem rufe ich Zusatzpunkt 4 auf: springen kann – das reicht nicht. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach- wie bei Abgeordneten der FDP) ten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 847

Präsident Wolfgang Thierse (A) Gesetzes zur Modulation von Direktzahlungen Artgerechte Tierhaltung und Landwirtschaft passen zu-(C) im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik einander. Mir sind bei dem Rundgang viele neue Techni- und zur Änderung des GAK-Gesetzes ken vorgestellt worden, übrigens – dieser Hinweis für die – Drucksache 15/108 – Opposition – auch ausdrücklich mit dem Satz: Wir haben ja nicht geglaubt, Frau Künast, dass mit neuen Technolo- Überweisungsvorschlag: gien Liegeflächen für Tiere vorgehalten werden können. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die hatten Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union wir schon vor der „EuroTier“!) Das Wort hat Bundesministerin Renate Künast. Es wurden dort Liegematten für Spaltenböden vorgeführt, die sogar nicht nur zu mehr artgerechter Tierhaltung führen, sondern die dazu beitragen, dass sich die Tiere mehr bewe- Bundesministerin für Verbraucher- Renate Künast, gen. Und siehe da: Sie geben dann plötzlich mehr Milch, schutz, Ernährung und Landwirtschaft: weil sie offensichtlich durch mehr Mobilität beweglicher Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- geworden sind. Das müsste die Leistungspartei und Partei ren! Das nächste Thema oder zumindest dieser Redebei- der Besserverdienenden, die FDP, ja richtig beglücken. trag wird sicherlich weniger niedlich als der Redebeitrag (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN meines Vorredners. und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann (Zuruf von der CDU/CSU: Niedlich?) [FDP]: Die Liegematten habe ich schon vor 20 Jahren gehabt!) – Wenn sich jemand, um an Staatsknete zu kommen, über- legt, ob er nun ein Kind bekommen soll oder nicht – das – Ich habe jetzt aber nicht von Liegematten geredet. Sie hat ja diesen jungen Herrn beschäftigt –, wird man das können ja immer gut dazwischen krakeelen, aber Sie müs- doch als niedlich bezeichnen dürfen, oder? sen an der Stelle schon zur Sache krakeelen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie waren ja SES 90/DIE GRÜNEN – Ursula Heinen [CDU/ nur bei den Liegematten!) CSU]: Er hat schon zwei!) – Auf der Messe sind Neuheiten für den deutschen und den internationalen Markt vorgestellt worden, deshalb Nun zum Thema Verbraucherschutz, Ernährung und können Sie dazu noch gar keinen Zwischenruf machen. Landwirtschaft. Wir haben für diesen Bereich einen Stein ins Wasser geworfen, der jetzt politisch und haushaltspo- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Isomatten litisch Kreise zieht. Was meine ich damit? Ich will Ihnen meinen Sie!) (B) ein konkretes Beispiel geben von einer der letzten Mes- – Nein, die meine ich eben nicht. Ich meine nicht die Lie- (D) sen, die ich eröffnet habe, von der „EuroTier“, die vor we- gematte, sondern die Gesamtfläche. An der Stelle wird nigen Wochen in Hannover stattgefunden hat. Das ist die klar: Die Tiere bewegen sich mehr, sie geben mehr Milch Ausstellung zum Thema Nutztiere in Europa, auf der sich und die Hygiene im Stall wird erhöht. Es wurde aus- wirklich Besucher aus ganz Europa und darüber hinaus drücklich gesagt: Wir haben es ja nicht geglaubt, Frau die Türklinke in die Hand geben. Künast, aber es geht. – Das ist natürlich ein Neidfaktor für Gucken wir uns das Ergebnis an. Die Bilanz der „Eu- die FDP. Das verstehe ich sofort. roTier“ lautete: Diese Messe hat die Erwartungen der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aussteller übertroffen. Von der Deutschen Landwirt- und bei der SPD) schafts-Gesellschaft durchgeführte Besucherumfragen haben gezeigt: 63 Prozent der Landwirtinnen und Land- Wir haben auf der Messe übrigens auch festgestellt, dass diese Technik aus dem Ausland nachgefragt wird, dass wirte beabsichtigen zu investieren und waren auf der „Eu- also auch die Auftragsbücher gut gefüllt sind. roTier“, um sich zum Beispiel über neue Techniken zu informieren. (Lachen des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die verstan- den Ihre Steuergesetze nicht!) Das heißt: Unser Leitbild ist klar und die gesellschaftli- chen Bereiche ziehen nach. Von Dante gibt es dazu einen Deshalb ist eines klar: Unsere Bäuerinnen und Bauern schönen Satz. Er hat gesagt: Der eine wartet, dass die Zeit wissen, wo es lang geht und wo es hin geht, und wollen in sich wandelt, der andere packt sie kräftig an und handelt. genau diese Art von Politik investieren. Das ist der Unterschied. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann und bei der SPD) [FDP]: Was glauben Sie, was Sie damit zu tun haben?) Deshalb werden wir unsere Politik der nachhaltigen Modernisierung in diesem Bereich fortführen. Ich kann Es hat sich außerdem auf der „EuroTier“ etwas gezeigt, Ihnen nur empfehlen: Verabschieden Sie sich von der was Sie alle nie glauben wollten. Es hat sich gezeigt, dass Bremsklotzrolle. Selbst der Bauernverband macht bei die- Tierschutz und Landwirtschaft zueinander passen. ser Rolle ja längst nicht mehr mit. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie sind ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Witzbold!) und bei der SPD) 848 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Bundesministerin Renate Künast (A) Lassen Sie doch endlich frischen Wind zu. Geben Sie Ihre Wir werden ein eigenständiges Institut für Produktsi- (C) Bemühungen auf, das Modulationsgesetz wieder rück- cherheit finanzieren und eine Bundesforschungsanstalt gängig zu machen. Wir werden es nicht rückgängig ma- für Ernährung und Lebensmittel installieren. Diese Pro- chen. jekte finden sich in diesem Haushalt wieder. Wir werden also den Bereich Sicherheit fester verankern. (Albert Deß [CDU/CSU]: Bürokatisches Monster!) Wir werden aber auch das berühmte weite Feld des wirtschaftlichen Verbraucherschutzes bearbeiten. Ein Wir beraten stattdessen über eine Erweiterung der För- Aktionsplan „Verbraucherschutz“ ist auf dem Weg. Mit dermittel in der nächsten PLANAK-Sitzung. Wir disku- unserer Art der Verbraucherschutzpolitik werden wir die tieren in Brüssel im Detail längst weitere Nutzungsmög- lichkeiten in der zweiten Säule im ländlichen Raum. Auch Verbraucher vor Schaden durch Täuschung, zum Beispiel da sind Sie weit hinter der Zeit. Ich bin mit meinem fran- in den Bereichen Telekommunikation und Finanzdienst- zösischen Kollegen Gaymard an einem Ort, an dem Sie leistungen, bewahren. noch lange nicht sind. Aber wir laden Sie ein mitzuma- Zum Abschluss möchte ich daran erinnern, dass Sie chen. sich bei Acrylamid selbst ausgetrickst haben, indem Sie (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da wollen gesagt haben, ich solle Ross und Reiter nennen. Wir sor- wir auch gar nicht hin, mit Ihnen schon gar gen mittels dieses Haushalts für mehr Verbraucherschutz. nicht!) Wir werden wieder ein Verbraucherinformationsgesetz einbringen. Ich bitte Sie: Stellen Sie sich nicht wieder – Was heißt: „Da wollen wir gar nicht hin“? Sie sind doch selbst ein Bein, indem Sie mich auffordern, Namen zu immer neidisch, wenn ich mich mit den Franzosen ver- nennen, gleichzeitig aber den Gesetzen, die dafür die stehe. Was ist nun wieder los? rechtliche Grundlage schaffen, Ihre Zustimmung verwei- (Albert Deß [CDU/CSU]: Die Grünen trinken gern. halt mehr!) Ich sage es noch einmal mit Dante: Der eine wartet, Versuchen Sie nicht, den Bauern die Zukunft zu neh- dass die Zeit sich wandelt, der andere packt sie kräftig an men. Geben Sie ihnen die Möglichkeit, dieländlichen und handelt. – In diesem Haushaltsentwurf sind die Mar- Räume weiterzuentwickeln. Geben Sie ihnen insbeson- gen für die nächsten Jahre gesetzt. Ich wünsche mir, dass dere die Möglichkeit, im ländlichen Raum auch andere Sie sich endlich auch auf die Reise machen. Jobs zu entwickeln. Es werden nicht alle nur in der Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN edelungswirtschaft arbeiten können. Die jüngeren Leute und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann brauchen weitere Einkommensmöglichkeiten. [FDP]: Eine lauschige Rede! Das war das (B) (D) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Schlechteste, was ich je gehört habe! – Ulrich wohl wahr!) Heinrich [FDP]: Das war die schwächste Haus- haltsrede, die je gehalten worden ist!) Sie brauchen echte Optionen. Deshalb haben wir auch in unserem Haushalt für Breite gesorgt. Wir haben dafür ge- sorgt, dass es für Ost und West Perspektiven für eine mul- Präsident Wolfgang Thierse: tifunktionale Landwirtschaft gibt, die auf verschiedenen Aber, Herr Kollege Heinrich, jetzt können wir alle ei- Einkommensbeinen steht. nen Vers von Dante auswendig. Der Haushalt ist dementsprechend ausgestaltet. Wir Ich erteile das Wort der Kollegin Gerda Hasselfeldt, wollen und werden mit diesem Haushalt den Forschungs- bereich weiter stärken, weil das ein wesentlicher Be-CDU/CSU-Fraktion. standteil für Innovationen ist. Nur so können wir endlich für mehr Sicherheit und Schutz der Verarbeiter, Erzeuger Gerda Hasselfeldt (CDU/CSU): und Verbraucher in der Landwirtschaft, und zwar in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, sorgen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren! Die Landwirte können sich bei dieser Regierung auf In diesem Haushalt haben wir zwei wichtige Dinge eines immer hundertprozentig verlassen: Bei jeder ein- verankert – Stichwort: Acrylamid –, nämlich den Aufbau schneidenden Maßnahme, die die Regierung erlässt, sind des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmit- die Landwirte immer die obersten Leidtragenden. telsicherheit und des Bundesinstituts für Risikobewer- tung. Beide Einrichtungen haben uns bei Acrylamid und (Beifall bei der CDU/CSU) vielen anderen Dingen geholfen. Bevor Sie einen Zwi- Dabei verdienten die Landwirte gerade in dieser Zeit, schenruf machen, weise ich darauf hin, dass wir Hand in in der sie ganz besondere Herausforderungen zu bewälti- Hand mit den Bundesländern, auch mit B-Ländern wie gen haben, besonders viel Aufmerksamkeit. Ich will nur Baden-Württemberg und Bayern, eine gemeinsame Stra- drei Stichworte nennen – Frau Künast, ich bedauere, dass tegie fahren. Deshalb habe ich es nie verstanden, warum Sie kein einziges Wort darauf verwendet haben –: Wir be- die Opposition sich in diesem Bereich so verrennt; aber finden uns mitten in den WTO-Verhandlungen; wir befin- Sie ziehen sich ja schon ein Stück weit zurück. den uns mitten in der Diskussion um die Weiterentwick- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Langsam, lung der europäischen Agrarpolitik und wir befinden uns langsam! Sie müssen schon differenzieren! mitten im Prozess derEU-Osterweiterung, die gerade Nicht die Opposition!) für die Landwirte in Europa enorme Konsequenzen haben Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 849

Gerda Hasselfeldt (A) wird. Davon hat Frau Künast kein Wort gesagt. Sie hat wird in 13 von 15 EU-Ländern praktiziert. Sie wird in(C) kein Wort darüber verloren, welche Konsequenzen das für Deutschland von etwa 90 Prozent der Landwirte und Gar- die Landwirte haben wird, welche Perspektive sie haben tenbaubetriebe in Anspruch genommen. Diese Pauschalie- und welchen Einsatz sie, die Ministerin, in diesem Zu- rung ist keine Subvention, bringt den Landwirten und den sammenhang zu erbringen bereit ist. Gartenbaubetrieben aber eine erhebliche Vereinfachung, eine erhebliche Einsparung von bürokratischem Aufwand. Hierauf müssen wir unser Augenmerk richten. Eine be- sondere Unterstützung und sogar Fürsprache ist notwen- Was Sie jetzt vorhaben, ist schon ein Meisterstück an dig. Vom deutschen Bundeskanzler und dieser Bundesre- Täuschung. Zuerst – noch vor wenigen Wochen – haben gierung haben die deutschen Landwirte Sie diesegesagt: Diese Umsatzsteuerpauschalierung wird ganz Unterstützung nicht erhalten und sie können sie wohlabgeschafft. Jetzt, nach den Protesten, sagen Sie: Wir auch nicht erwarten. Gerade bei den Verhandlungen über schaffen sie nicht ab, senken die Pauschale aber von 9 auf die Weiterentwicklung der Agrarpolitik bzw. des Agrar- 7 Prozent. Das ist letztlich willkürlich. budgets im Rahmen der EU-Osterweiterung hat sich ge- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/CSU]: zeigt, dass nicht der deutsche Bundeskanzler das Ergeb- Wir schaffen sie nicht ab, aber wir machen sie nis für die deutschen Bauern erreicht hat, sondern der tot!) französische Staatspräsident. Ihm sind die deutschen Landwirte, die Deutschen insgesamt, zu Dank verpflich- Gleichzeitig erhöhen Sie aber die Mehrwertsteuer auf tet. landwirtschaftliche Vorprodukte. Mit diesen beiden Maß- nahmen können Sie die Pauschalierung vergessen. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wird nicht mehr angenommen, weil sie zu finanziellen Matthias Weisheit [SPD]: Waren Sie dabei, Nachteilen führt, was überhaupt nicht gerechtfertigt ist. Frau Hasselfeldt?) Ein solches Meisterstück an Täuschung hätte ich mir nicht Nur durch ihn haben die Landwirte Planungssicherheit er- vorstellen können. halten. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Künast, ich möchte darauf hinweisen, dass das, Die Auswirkungen sind ein enormer zusätzlicher Auf- was dort vereinbart wurde, ein Eckpfeiler der weiteren wand und zusätzliche Kosten für die Betriebe und für die Verhandlungen, beispielsweise bei der WTO und bei der Finanzämter und – das kommt hinzu – wieder einmal eine Fortentwicklung der gemeinsamen Agrarpolitik, seineinseitige deutsche Benachteiligung. muss. Darauf ist zu achten. Zweites Beispiel: die Erhöhung der Mehrwertsteuer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auf landwirtschaftliche Vorprodukte von 7 auf 16 Pro- (B) (D) Das kann man nicht einfach wegdiskutieren und ad acta zent. Das ist nichts anderes als eine eindeutige Steuerer- legen. Bei den weiteren Diskussionen ist dieser Eckpfei- höhung. ler sehr wichtig. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Eine Was kommt jetzt durch nationale Entscheidungen auf Anpassung!) die deutschen Landwirte zu? Wir lesen in der Koalitions- – Keine Anpassung, eine Erhöhung ist das. – Sie treffen vereinbarung, man wolle in der Koalition die Leistungs- damit die Verbraucher, die Direktvermarkter – übrigens und Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft stärken. auch die Ökolandwirte – und die Gärtner. Wir hören von Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement, er werde einen Masterplan gegen Bürokratie aufstellen. Mir hat dieser Tage ein Gartenbauunternehmer aus mei- Heute hat Finanzminister Eichel großspurig davon ge- nem Wahlkreis geschrieben, dass er allein wegen dieser sprochen, dass er „die Politik der Steuersenkung“ – man beiden Maßnahmen – der Mehrwertsteuererhöhung und höre und staune – fortsetzen werde. Das sind die Über- der Änderung bei der Vorsteuerpauschale – voraussichtlich schriften; das sind die Behauptungen. fünf von seinen 22 Mitarbeitern entlassen müsse. Meine Damen und Herren, das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Was sind die Tatsachen? Tatsache ist: Weiter werden nationale Alleingänge betrieben: im Pflanzenschutz, im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Steuer- und im Haushaltsbereich. Tatsache sind nichtSie stopfen nur kurzfristig die selbstgemachten Haus- Steuersenkungen, sondern Steuererhöhungen. Tatsache haltslöcher und gefährden Arbeitsplätze und ganze Exis- ist nicht Bürokratieabbau, sondern mehr Bürokratie. Sie tenzen. Der Bundeskanzler selber hat gesagt, Steuererhö- setzen also Ihren Wählerbetrug und, was noch vielhungen seien in dieser Zeit falsch. Trotzdem macht er sie. schlimmer ist, auch Ihre fachlich falschen Entschei- Bei der schwierigen Situation der Landwirte und dungen fort. Sie führen dazu, dass der Arbeitsmarkt noch auch – das verkenne ich nicht – des Haushaltes muss man stärker leidet, dass die Arbeitslosigkeit noch größer wird, eben sinnvoll mit dem Geld umgehen. dass ein ganzer Wirtschaftszweig kaputtgeht. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) NEN]: Ach!) Ich will das an einigen Beispielen deutlich machen. Da ist es schon verwunderlich, dass die Regierung bei Erstes Beispiel: Vorsteuerpauschale. Die Möglichkeit knappen Kassen über 100 Millionen Euro für Werbekam- der Umsatzsteuerpauschalierung für Landwirte und Gar- pagnen im Bereich der Ökolandwirtschaft ausgibt und tenbaubetriebe ist keine deutsche Besonderheit, sondern gleichzeitig die Mittel für dieGemeinschaftsaufgabe 850 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Gerda Hasselfeldt (A) „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küsten- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das müssen (C) schutzes“ um über 100 Millionen Euro kürzt. Sie Ihrer Ministerin sagen!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Deshalb war ich schon ein wenig über den Beitrag meiner 118 Millionen Euro!) Vorrednerin verwundert. Ich habe die heutige Debatte den ganzen Tag über verfolgt, dabei wurde offensichtlich, Bei den Investitionen wird also gekürzt und in einem an- dass die Opposition nicht über den Haushalt diskutieren, deren Bereich, der gar nicht zu den Aufgaben der Bun- desregierung gehört, nämlich der Werbung für Ökopro- sondern ein Lamento anstimmen will. Das ist das Ziel der dukte, wird aufgestockt. Ich habe nichts Debatte. gegen Eigentlich ist das schade. Ich will mich auf den Ökoprodukte, im Gegenteil. Aber es ist doch nicht Auf- Haushalt beschränken. gabe der Bundesregierung und der Politik, einseitige Frau Kollegin Hasselfeldt, man kann nach unten har- Werbemaßnahmen zu veranstalten. monisieren. Das ist die Forderung Ihrer Partei und der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) FDP. Seit ich denken kann, geht es bei Ihnen um europä- ische Harmonisierung auf dem niedrigsten Niveau, das Gelegentlich wird von einem Widerspruch zwischen es irgendwo in Europa gibt. Verbraucherschutz und Landwirtschaft gesprochen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Landwirte und die Verbraucher (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Überhaupt haben ein Interesse an gesunden und sicheren Lebensmit- nicht! Das ist doch dummes Zeug! Das wissen teln. Alle, nicht nur die Ökobetriebe, haben ein Interesse Sie doch!) an Ressourcenschonung und nachhaltigem Wirtschaften. – Doch, genau das machen Sie ständig. Alle haben ein Interesse am Umweltschutz. Das alles ist aber nur unter einen Hut zu bringen und zu erreichen, Man kann natürlich versuchen, sich an die Spitze der wenn die heimische Landwirtschaftauch tatsächlich Bewegung zu setzen. wettbewerbsfähig ist. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Ansonsten haben wir zwar strenge Bestimmungen beim Pflanzen- und Tierschutz und in den anderen Berei- Diese Politik betreiben wir. chen, aber es wird keine Landwirte mehr geben, die nach (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Glauben Sie diesen Bestimmungen arbeiten. Die Produkte werden wirklich, dass wir an der Spitze sind?) dann aus den Ländern importiert, in denen anderen Be- stimmungen und andere Produktionsbedingungen herr- – Aber ja. (B) schen. Das ist weder wirtschaftspolitisch noch verbrau- (D) cherpolitisch sinnvoll, im Gegenteil: Es schadet den Wir haben uns dafür entschieden, uns an die Spitze der Verbrauchern genauso wie den Landwirten. Bewegung zu setzen. Der Haushaltsentwurf ist ein deutli- ches Kennzeichnen für Verlässlichkeit und Kontinuität (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Politik der letzten vier Jahre. Außerdem leistet er ei- neten der FDP) nen Beitrag zur Stabilisierung der Staatsfinanzen. Deshalb kann die Devise nur lauten: keine weiteren na- Den größten Brocken nimmt wie in allen Jahren mit tionalen Sonderlasten, wie Sie sie in den vergangenen72 Prozent des Gesamtetats die Agrarsozialpolitik ein. Jahren immer wieder auferlegt haben und auch jetzt wie- Das heißt, Bäuerinnen und Bauern und vor allen Dingen der auferlegen, keine nationalen Alleingänge, sondern die zahllosen Altenteiler können sich auf diese Regierung EU-weit vergleichbare Rahmenbedingungen für alle. verlassen, denn sie steht für Stabilität und Kontinuität. Al- Ich weiß, dass das nicht einfach ist, aber daran muss lerdings muss eines klar sein: Für zusätzliche Ausgaben, gearbeitet werden. Es wäre besser, Ihre Kraft, Nerven und etwa im Bereich der Unfallversicherung, ist kein finanzi- Zeit in die Erreichung EU-weit harmonisierter Produk- eller Spielraum vorhanden. tionsbedingungen zu stecken, als ständig nationale Al- Die innovativen Neuerungen der letzten Jahre werden leingänge zu machen. Nur dann werden Sie den Interes- konsequent im neuen Haushalt fortgeführt. Die Bundes- sen der Verbraucher genauso gerecht wie den Interessen programme „Tiergerechte Haltungsverfahren“, „Regio- der Landwirte. Ich hoffe sehr, Frau Künast, dass Sie diese nen aktiv – Land gestaltet Zukunft“ und „Ökologischer Verantwortung endlich einmal ernst nehmen. Landbau“ werden auch im Haushaltsjahr 2003 fortge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) setzt. (Albert Deß [CDU/CSU]: Lauter alte Hüte, die Präsident Wolfgang Thierse: Sie da haben) Ich erteile das Wort dem Kollegen Matthias Weisheit, Im Gegensatz zu Ihnen, meine Damen und Herren von SPD-Fraktion. der Opposition, werden die Programme, die Sie immer lauthals bekämpfen, in den von Ihnen regierten Bundes- ländern durchaus in Anspruch genommen und mitgestal- (SPD): Matthias Weisheit tet. Hier gibt es schon eine gewisse Doppelzüngigkeit. Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Wir gestalten die Zukunft der Tierhaltung und des ländli- Ich hatte mich eigentlich darauf eingestellt, dass wir heute chen Raums trotz knapper Mittel. Sie wollen immer nur über den Haushalt diskutieren. das Rad zurückdrehen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 851

Matthias Weisheit (A) Bei dem neuen Titel „Bilaterale Zusammenarbeit mit Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): (C) der FAO“, der in dem vorliegenden Haushaltsplan, be- Herr Kollege Weisheit, auch wenn es die Schleswig- scheiden dotiert, das erste Mal auftaucht, geht es vor allem Holsteiner damals abgelehnt haben, dass ich Landwirt- um den Aufbau von Strukturen derErnährungssiche- schaftsminister werde, frage ich Sie, ob es vielleicht etwas rung in Afghanistan. Hieran wird beispielhaft deutlich, mit dem Klugwerden der Schleswig-Holsteiner zu tun hat, in welche Richtung Welternährungspolitik in den nächs- dass die Landwirtschaftsministerin – Klammer auf: SPD; ten Jahrzehnten zu laufen hat, nämlich in die Richtung, Klammer zu – in einem Schreiben vom 22. November uns dass geschundene, arme Länder nicht mehr dauerhaft auf darum gebeten hat, doch dafür zu sorgen, dass die Belas- Hilfslieferungen oder auf Importe aus den Industrienatio- tungen durch die von der Bundesregierung vorgesehenen nen angewiesen sind, sondern in die Lage versetzt wer- Maßnahmen zur Pauschalbesteuerung und vor allem den, ihre Ernährungsgrundlage selbst zu sichern. Das ist durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer insbesondere bei ganz wichtig. Ich bin der festen Überzeugung, dass dieser den Baumschulen zurückgenommen werden mögen? Hat Titel in Zukunft wachsen wird. das etwas mit Klugwerden zu tun? Eine erfreuliche Steigerung der Haushaltsmittel haben (Heiterkeit – Beifall bei der CDU/CSU und wir im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe zu ver- der FDP) zeichnen. Auch hier betreibt die rot-grüne Koalition eine verlässliche und in die Zukunft orientierte Politik für un- sere Landwirtschaft, und zwar ebenso wie mit dem beim Matthias Weisheit (SPD): Bundesumweltminister angesiedelten Programm „Erneu- Auf die Steuergesetzgebung wollte ich eigentlich am erbare Energien, Bereich Biomasse“ mit 60 Millionen Schluss meiner Ausführungen eingehen, aber ich kann es Euro. auch jetzt tun. Der Ansatz für die Gemeinschaftsaufgabe entspricht (Albert Deß [CDU/CSU]: Die Ministerin mit knapp 0,75 Milliarden Euro dem, was ausgegeben hört zu!) werden kann, Frau Hasselfeldt. Man könnte sich locker – Selbstverständlich. Auch der Parlamentarische Staatsse- vorstellen – auch ich wünschte mir das –, dass hierkretär aus dem Finanzministerium ist anwesend. – Der be- 100 Millionen Euro, 200 Millionen Euro oder 300 Millio- treffende Gesetzentwurf ist heute eingebracht worden. Er nen Euro draufgesattelt werden. Nur ist die Frage, was das wird, wie jeder andere Gesetzentwurf auch, im Parlament bringt, wenn man am Ende des Jahres feststellt, dass die beraten. Wir werden uns sehr ausführlich, intensiv und ge- Mittel gar nicht abgerufen worden sind. Wenn das so ist, nau mit § 24 a, mit den vorgesehenen Maßnahmen zur dann braucht man nicht draufzusatteln. Sie sprechen hier Pauschalierung der Umsatzsteuer, die ja zunächst einmal also von Wolkenkuckucksheimen. Dann mache ich doch erhalten werden soll, mit den daraus resultierenden Aus- (B) lieber einen sauberen Haushalt und setze den Titel gleich wirkungen sowie mit den einzelnen Maßnahmen zur(D) etwas niedriger an. Mehrwertsteuererhöhung beschäftigen und die vorgese- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ henen Regelungen gegebenenfalls auch ändern. DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Waum bringen Sie In dem Ansatz sind auch die Kofinanzierungsmittel des es denn dann ein?) Bundes für die Modulation enthalten. – Dann muss ich Sie einmal fragen, wozu wir als Parlament eigentlich da sind, was das für ein Parlamentsverständnis (Zuruf des Abg. Peter H. Carstensen [Nord- ist. Wenn ein von der Bundesregierung vorgelegter Gesetz- strand] [CDU/CSU] entwurf bereits ein fertiges Gesetz ist, dann werden wir alle – Peter Harry, wenn du jetzt einen Zwischenruf machst hier nicht mehr gebraucht, dann können wir unsere Arbeit und hier wahrscheinlich am liebsten wieder das Klagelied beenden. Das ist doch der ganz normale Gang, dass Schleswig-Holsteins anstimmen möchtest, dann möchte zunächst ein Gesetzentwurf im Parlament eingebracht ich dir entgegenhalten, dass die Schleswig-Holsteiner da- wird, dass dieser Entwurf dort beraten wird und dass das mals interessanterweise entschieden haben, dass du nicht Gesetz nicht so aus dem Parlament herausgeht – mein Landwirtschaftsminister werden sollst. früherer Fraktionskollege Struck hat das immer gesagt; das ist das so genannte strucksche Gesetz –, wie es als Gesetz- (Erneuter Zuruf des Abg. Peter H. Carstensen entwurf in das Parlament eingebracht worden ist. [Nordstrand] [CDU/CSU] (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) Hierin sind also auch die Kofinanzierungsmittel des Bundes für die Modulation enthalten. Wir werden den Ge- – Das ist Ihr Demokratieverständnis. Das wäre dann so setzentwurf des Bundesrats übrigens ablehnen. ähnlich wie in der ehemaligen Volkskammer. Dort brachte das Zentralkomitee etwas ein und die Volkskammer nickte das ab. Präsident Wolfgang Thierse: (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ein interes- Herr Kollege Weisheit, gestatten Sie eine Zwi- santer Vergleich!) schenfrage des Kollegen Carstensen? Genau das findet hier nicht statt. Das haben wir schon öf- ter einmal gehabt. (SPD): Matthias Weisheit (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ Ja, immer. CSU]: Da wissen deine Genossen da drüben 852 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Matthias Weisheit (A) nicht einmal, ob sie klatschen oder lachen sol- Künast; das ist löblich. Aber Sie müssen wirklich etwas (C) len!) falsch verstanden haben. Anscheinend haben Sie dort je- manden angetroffen, der noch richtig investiert. Dann Noch ein Wort zur Modulation: Wir werden den Ge- setzentwurf des Bundesrates zur Aufhebung der Modula- sind Sie nach Hause gefahren und auf den Gedanken ge- tion ablehnen; denn die Geschäftsgrundlage für das ent- kommen: Das müsste doch zu verhindern sein; wir müs- sprechende Gesetz, das von Bundestag und Bundesrat sen eigentlich nur Gesetze machen, die noch die letzten beschlossen wurde, hat sich in keiner Weise geändert. Ge- Investitionen im grünen Bereich zunichte machen. – Dar- schäftsgrundlage waren die Beschlüsse der Agenda 2000 aufhin haben Sie dieses Bündel an Grausamkeiten über mit der fakultativen Möglichkeit der Modulation. Auch dem grünen Bereich ausgeschüttet. Nun kommen Frau durch die Beschlüsse auf dem letzten Gipfel hat sich da- Höfken und Frau Scheel, Herr Weisheit und Herr ran nichts geändert. Deshalb werden wir den Gesetzent- Ostendorff und sagen: Das alles nehmen wir im Rahmen wurf, dies aufzuheben, ablehnen. der parlamentarischen Diskussion zurück. Vor allen Dingen aber wäre es wirklich jammerschade, (Matthias Weisheit [SPD]: Das habe ich nicht wenn die vielen guten Ideen, die von den Ländern – auch gesagt!) von den Ländern, in denen Sie regieren – entwickelt wor- – Natürlich haben Sie das eben gesagt. den sind, nicht umgesetzt werden könnten. Man hat sich ja längst mit dem Bund geeinigt, was man mit dem Geld (Matthias Weisheit [SPD]: Lesen Sie einmal im macht: Erweiterung der Fruchtfolge, Maßnahmen des Protokoll nach! – Weitere Zurufe von der SPD) biologischen und biotechnischen Pflanzenschutzes – da- – Jetzt habe ich also nicht nur Frau Künast falsch ver- bei hinken wir immer noch mordsmäßig weit nach, aber standen, jetzt habe ich auch noch Sie falsch verstanden. das ist ein innovativer und in die Zukunft gerichteter Be- Bleibt es jetzt bei den Gesetzen, die Sie jetzt in das Ver- reich –, umwelt- und tiergerechte Haltungsverfahren. Viele sind davon begeistert, weil sie genau wissen, dass fahren gebracht haben? Es trifft also nicht zu, dass Frau sie mit dem chemischen Pflanzenschutzmittel allein auf Höfken und Frau Scheel erklären, dieErhöhung der Dauer nicht mehr weiterkommen. Sie alle können wirMehrwertsteuer von 7 auf 16 Prozent für Blumen und doch nicht in die Sackgasse hineinlaufen lassen. Pflanzen solle noch einmal diskutiert und nach Möglich- keit geändert werden. Es trifft also nicht zu, dass Herr Nehmen wir das berühmte Beispiel Plantomycin. Je- Ostendorff gesagt hat, gerade für die kleinen Familienbe- der Obstbauer weiß: Wenn das Zeug zehn Jahre lang an- triebe, die Ihnen am Herzen liegen, sei die Weiterführung wendet worden sind, ist der Schädling dagegen resistent. der §-13-a-Regelung existenzerhaltend. Bis dahin muss man etwas anderes entwickelt haben, ganz gleich, ob auf biologischer oder auf chemischer Basis, Das müssen Sie dann aber Ihrer Ministerin vorher sa- (B) wobei wahrscheinlich allen die biologische Methode lie- gen. Anscheinend hat sie im Kabinett einen Beschluss(D) ber wäre, auch denen, die mit der konventionellen Inten- mitgetragen, der existenzvernichtend für kleine und mitt- sivbewirtschaftung arbeiten. lere Betriebe ist, gerade für die Familienbetriebe, die Ih- nen sonst so am Herzen liegen. Unsere Maßnahmen zielen in die richtige Richtung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Nein, geschätzte Frau Ministerin, ich habe Sie jetzt zum zweiten oder dritten Mal so direkt in der parlamenta- Bei Ihnen aber besteht ein grundsätzlicher Unterschied rischen Auseinandersetzung erlebt und ich muss sagen: zwischen dem, was Sie im Bundestag aufführen, dem, was Ihre Länder ab und zu im Bundesrat berichten, dem, Ich bin entsetzt, enttäuscht, ich finde das, was Sie hier ab- was Sie in gemeinsamen Gesprächen sagen, und dem, wie liefern, lausig. Sie Ihre praktische Politik gestalten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dieser Haushalt ist in die Zukunft gerichtet und inno- Das wird den Herausforderungen, die in diesem Be- vativ. Wir wollen nicht immer bloß das weitermachen, reich mit der EU-Osterweiterung und den WTO-Verhand- was man schon immer gemacht hat. Das Rad lässt sich lungen auf uns zukommen – das ist von den Kolleginnen nicht zurückzudrehen. und Kollegen der CDU/CSU angesprochen worden –, Herzlichen Dank. nicht gerecht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN) NEN]: Sagen Sie doch zur Abwechslung einmal etwas Konkretes!) Präsident Wolfgang Thierse: – Ich kann Sie schlecht verstehen, wenn Sie dazwi- schenreden. Melden Sie sich, dann können wir uns gern Nun hat Kollege Hans-Michael Goldmann, FDP-Frak- darüber auseinander setzen. tion, das Wort. Zu diesen Bereichen, zur Wettbewerbsnotwendigkeit, kam von Ihnen kein Wort. Dabei ist dies im Moment wirk- (FDP): Hans-Michael Goldmann lich das große Thema, das unsere Landwirte bewegt. Das Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ist blamabel, das ist konzeptionslos, das ist ungekonnt und Kollegen! Sie waren also auf der „Euro-Tier“, Fraudas ist bedauerlich für diesen Bereich, der nach wie vor Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 853

Hans-Michael Goldmann (A) eine der tragenden Säulen unserer Volkswirtschaft ist; al- – Herr Weisheit, es mag sein, dass Sie diesen Bereich an- (C) lemal im ländlichen Raum. ders sehen – wir können uns gern einmal darüber unter- halten –, aber Agrarstrukturmittel sind eine ganz wich- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) tige Weichenstellung für die Herausforderungen, vor Ich will noch etwas zu dieser Öko-Geschichte sagen: denen deutsche Landwirte stehen. Dies wissen Sie hof- Keiner, der hier sitzt, hat etwas gegen ökologische Land- fentlich genauso gut wie ich. wirtschaft, gegen ökologische Bewirtschaftung. Ich habe (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) es gestern Abend im ICE sogar noch genossen. Das ist hundertprozentig richtig. Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt nennen: Ich habe heute Morgen auch Herrn Eichel zugehört. Wir soll- Aber es ist schlicht und ergreifend falsch, wie Sie Öko- ten uns darauf einigen, dass wir uns wieder schlicht und logie gegen Ökonomieund gegen soziale Kompetenz ergreifend an die Spielregeln halten. Frau Höfken, wenn ausspielen. Sie müssen Ökologie mit Ökonomie undSie der Meinung sind, dass es schlechte Gesetze sind, die sozialer Kompetenz verbinden. Genau das machenauf den Weg gebracht worden sind – ich glaube Ihnen Sie nicht. Ganz nebenbei: Die Liegematten, die Sie in das –, dann stellen Sie hier und heute einen Antrag, um Hannover gesehen haben, gibt es schon seit geraumer Zeit diese zu ändern, oder machen Sie es demnächst im Aus- bei gerade den Betrieben, die Ökonomie, Ökologie, tier- schuss. Ich bin sehr gespannt darauf, was Sie machen. gerechte Haltung, Marktorientierung und Wettbewerbs- orientierung miteinander im Einklang haben. Herr Weisheit, wenn Sie der Meinung sind, dass es bei dem reduzierten Mehrwertsteuersatz für Blumen und (Zuruf der Abg. Waltraud Wolff [Wolmirstedt] Pflanzen bleiben soll, weil Blumen verkaufen etwas an- [SPD]) deres ist, als Pampers in Lagerung zu halten – diesen Ver- gleich hat Herr Eichel heute Morgen bemüht –, dann han- – Wissen Sie, liebe Kollegin, ich bin schon vor 30 Jahren deln Sie und stellen Sie Anträge! durch Tierbestände gelaufen, in denen es diese Matten gab. Bei uns im Ostfriesischen und Emsländischen gibt es Wenn Sie, Frau Höfken und Frau Scheel, mit den Posi- keinen ernst zu nehmenden Züchter, keinen ernst zu neh- tionen der Sozialdemokraten nicht einverstanden sind, menden marktorientierten Landwirt, der hinsichtlich der dann tun Sie dies nicht in Form irgendwelcher Pressemit- Haltungsbedingungen für seine Tiere diesem Gedanken teilungen kund, sondern handeln Sie! Machen Sie deut- nicht Rechnung tragen will. lich, dass Sie in dieser Regierung endlich einmal Verant- wortung übernehmen wollen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich würde Ihnen hier empfehlen: Kommen Sie einfach (B) einmal vorbei! Es würde mir Spaß machen, Ihnen wettbe- Laden Sie diese Verantwortung nicht bei der Opposition (D) werbsorientierte und tierartgerechte Haltung zu zeigen. ab, Sie scheinen hier Nachholbedarf zu haben. (Lachen des Abg. Matthias Weisheit [SPD]) Diese Matten sind keine Erfindung der „Euro-die ihrer Aufgabe gerecht wird. Sie können ganz sicher Tier“ 2002 in Hannover. Es gibt sie seit geraumer Zeit und sein: Wir werden im Sinne Ihrer politischen Vorstellun- sie werden weiterentwickelt – dies ist auch gut so. Gott sei gen, die Sie an vielen Stellen deutlich gemacht haben, An- Dank entwickelt sich dieser gesamte Bereich auch unter träge stellen und Sie in dieser Frage auf den Prüfstand rot-grüner Gegenpolitik weiter. stellen. (Ulrich Heinrich [FDP]: Trotz Rot-Grün! – La- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) chen des Abg. Matthias Weisheit [SPD]) – Wissen Sie, Herr Weisheit, hier sind Sie anscheinend ein Präsident Wolfgang Thierse: wenig ahnungslos. Sie erzählen hier, Sie wollten sich mit Ich erteile der Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD- dem Haushalt beschäftigen. Sie sehen doch, dass die Mit- Fraktion, das Wort. tel für die Verbesserung der Agrarstruktur, wozu ich durchaus auch die ökologische Angebotsorientierung zähle, im Haushalt deutlich gestrichen werden. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Sicher haben auch Sie heute die Pressemittelung vom Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war ja Deutschen Bauernverband bekommen, wonach die Kür- eben ganz schön laut. – Ich werde nicht zur Landwirt- zung an dieser Stelle – mit den Auswirkungen auf die Mit- schaft, sondern zum Verbraucherschutz sprechen, einem tel für die Gemeinschaftsaufgabe, die andere bereitstellen Thema, das uns auch unter den Nägeln brennt. müssen – einen schweren Schaden gerade für die Land- Die jüngsten Lebensmittelskandale sprechen eine wirte bedeutet, die sich marktorientiert verhalten, die sich deutliche Sprache. Wir werden auch zukünftig gezwun- verbraucherorientiert verhalten. Deswegen ist die Ein- gen sein, Steuergelder einzusetzen, um uns vor skrupel- buße an dieser Stelle besonders bitter und besonders zu losen Geschäftemachern zu schützen, die nicht davor beklagen. zurückschrecken, für ihren eigenen Profit die Gesundheit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und das Wohl ihrer Mitmenschen aufs Spiel zu setzen – der CDU/CSU – Matthias Weisheit [SPD]: Das (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wovon sagt jemand, der keine Ahnung hat!) reden Sie denn gerade?) 854 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Gabriele Hiller-Ohm (A) Geschäftemachern, die keine Bedenken haben, Babynah- Bundesverbands der Verbraucherzentralen und Verbrau- (C) rung mit Schadstoffen zu verpanschen und ihre Mitmen- cherverbände bleibt mit 8,8 Millionen Euro auf gleich ho- schen als billige Entsorgungsstationen für gesundheitsge- hem Niveau. fährdende Stoffe zu benutzen, wie es zum Beispiel im (Zuruf von der CDU/CSU: Die haben aber Sommer dieses Jahres bei der Aufdeckung des MPA-Hor- mehr gebraucht!) monskandals ans Licht gekommen ist, Geschäftema- chern, denen es gleichgültig ist, dass durch ihr Tun ein Dadurch wird sichergestellt, dass die Menschen weiterhin Berufsstand, nämlich die Landwirtschaft, in Verruf ge- kompetente Ansprechpartner in ihrer Region haben. bracht wird und nicht selten ganze Existenzen vernichtet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden, wie wir es beim BSE-Skandal erfahren haben. DIE GRÜNEN) Wir leben in einer auf Gewinnmaximierung ausgerich- Als Antwort auf die zahlreichen Lebensmittelskandale teten Marktordnung, mit BSE an der Spitze hat die rot-grüne Bundesregierung (Ina Lenke [FDP]: Das ist auch gut so!) Anfang dieses Jahres den gesundheitlichen Verbraucher- schutz mit dem Bundesamt für Risikobewertung und dem die aus sich heraus nicht über die erforderlichen Schutz- Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicher- mechanismen für die Bürgerinnen und Bürger verfügt. heit neu organisiert. Darüber hinaus plant die rot-grüne Deshalb muss der Staat diese wichtige Aufgabe überneh- Bundesregierung die Einrichtung eines Bundesforschungs- men. instituts für Produktsicherheit. Auch hierfür sind bereits 1,2 Millionen Euro im Haushaltsentwurf vorgesehen. Wir setzen uns seit vielen Jahren für den Schutz und die Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger ein. Wir alle müssen essen und trinken, um uns am Leben zu erhalten. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemo- (Ulrich Heinrich [FDP]: Ihr setzt euch schon kraten wollen aber nicht, dass sich nur die, die zu den lang gegen Gewinne ein!) Besserverdienenden in unserem Land zählen, gesunde Es ist deshalb nur zu begrüßen, dass es uns vor zwei Jah- Lebensmittel und damit den Schutz vor Gesundheits- ren gelungen ist, gegen den hartnäckigen Widerstand der gefährdungen leisten können. konservativen Kräfte in unserem Land den Verbraucher- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schutz nach vorn zu bringen und mit dem Koalitionspart- DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann ner ein schlagkräftiges Ministerium durchzusetzen, in [FDP]: Da haben Sie Recht! Da können wir uns dem die drei Themenfelder „Verbraucherschutz“, „Ernäh- auch einigen!) rung“ und „Landwirtschaft“ endlich sinnvoll zusammen- gebunden sind. Wir setzen uns vor allem für die Menschen ein, die nicht (B) die Möglichkeit haben, sich Sicherheit und Gesundheit zu (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ erkaufen. DIE GRÜNEN) (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Unverschämt- Die Mittel für den Verbraucherschutz wurden unter heit!) der rot-grünen Regierung kontinuierlich aufgestockt, in diesem Jahr im Vergleich zu 2001 um 55 Prozent. Wir wollen, dass sich alle Menschen darauf verlassen können, dass die Lebensmittel, die sie im Handel bezie- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt hen, genießbar und unbedenklich sind. überhaupt nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In 2003 sollen noch einmal 18 Prozent mehr Mittel be- DIE GRÜNEN) reitgestellt werden. Gerade angesichts der Finanznot zeigt das, wie wichtig uns dieser Bereich ist. Ich möchte ein weiteres Thema ansprechen, das mir sehr wichtig ist, nämlich den Bereich der Finanzdienstleistun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen, der gerade in der Auseinandersetzung um die private DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann Altersvorsorge verstärkt ins Interesse der Öffentlichkeit [FDP]: Sie müssen mal in den Haushalt gucken! gerückt ist. Auch hier müssen Aufklärung und Schutzme- Das stimmt nicht, was Sie sagen!) chanismen installiert werden. Wir brauchen aussagekräftige Informationen und verlässliche Beratung. Der Ansehens- Betrachten wir den Einzelplan 10 des Haushalts 2003, verlust der Aktienmärkte, das schwindende Vertrauen, der so erkennen wir, dass er von der Fortsetzung der Neuaus- noch schleppende Anlauf bei den Abschlüssen der Riester- richtung der Verbraucher-, Ernährungs- und Agrarpolitik Rente, all das gibt uns einen Hinweis darauf, was zu tun ist, geprägt ist. Wir haben durchgesetzt, dass die Bereiche der Verbraucheraufklärung und des Verbraucherschutzes wei- (Ina Lenke [FDP]: Was denn? Steuer- ter gestärkt werden. Insgesamt werden für diesen Poli- erhöhungen? Mehr Abgaben?) tikschwerpunkt im kommenden Jahr rund 80 Millionen nämlich: mit Sicherheitsfonds Insolvenzrisiken abfangen, Euro zur Verfügung stehen. Zum Beispiel werden erstens die verbraucherfreundliche Gestaltung des Versiche- die Projektmittel für Maßnahmen der Verbraucherauf- rungsvertragsrechts voranbringen sowie den Schutz vor klärung und -information um rund 5 Millionen Euro auf 0190er-Terror durch weitere Novellierungen des Tele- 21,8 Millionen Euro angehoben. Zweitens. Das bewährte kommunikationsrechtes sicherstellen. Institut der Stiftung Warentest wird künftig noch stärker gefördert werden als bisher, nämlich mit zusätzlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 600 000 Euro. Drittens. Die institutionelle Förderung des DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 855

Gabriele Hiller-Ohm (A) Meine Damen und Herren, auch in der gegenwärtig von Foodwatch – er steht nicht uns sehr nahe, sondern(C) schwierigen finanziellen Lage von Bund, Ländern und eher Ihnen –, die Minimierungsstrategie Ihres Hauses sei Kommunen ist es ein gutes und vor allem ein richtiges „halbherzig“. Das ist, wie ich finde, eine gute Formulie- Zeichen, dass am Verbraucherschutz nicht gespart wird. rung. Wir begreifen Verbraucherinnen und Verbraucher nicht, Eben haben Sie behauptet, die Zusammenarbeit mit den wie andere in unserer Gesellschaft, als leichte Beute für Kollegen in den Bundesländern sei so gut. Ihre Minis- Geschäftemacher, sondern als eigenständige, handlungs- terkollegin Bärbel Höhn aus Nordrhein-Westfalen, die kompetente Akteure im Wirtschaftsprozess. Hierfür brau- gleichzeitig auch Ihre Parteikollegin ist, verbreitet im Inter- chen wir eine starke Verbraucherpolitik. Und die gibt es net wahllos zusammengestellte Listen über vermeintlich nur mit Rot-Grün. hochbelastete Lebensmittel, nennt Hersteller und Produkte, Vielen Dank. informiert aber in keiner Weise darüber, welche Folgen diese Werte haben bzw. in welchem Gesamtzusammenhang (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sie stehen. So weit, so gut – oder auch nicht! DIE GRÜNEN) Im totalen Gegensatz dazu stehen Aussagen des Staats- sekretärs in Ihrem Ministerium, Matthias Berninger, in Präsident Wolfgang Thierse: der Regierungsbefragung vom 13. November. Er sagte Liebe Kollegin Hiller-Ohm, ich möchte auch Ihnen zu damals, er wolle überhaupt keine Namen von Herstellern Ihrer ersten Rede herzlich gratulieren. nennen. Ich zitiere: (Beifall) Ich würde mich hier wirklich um Kopf und Kragen reden, wenn ich die Namen bestimmter Hersteller Ich erteile nun das Wort der Kollegin Ursula Heinen, nennen würde. CDU/CSU-Fraktion. Er liefert uns auch den Grund – wir stimmen dem, was er gesagt hat, durchaus zu –: Ursula Heinen (CDU/CSU): ... dieses Unternehmen könnte sich dann auf das Bir- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! kel-Urteil sowie auf andere Urteile berufen und die Meine Vorrednerin hat gerade richtig gesagt: Wir brau- Bundesregierung wegen geschäftsschädigenden Ver- chen eine starke und aktive Verbraucherpolitik. haltens ... verklagen. (Waltraud Lehn [SPD]: Und die haben wir!) Ich frage Sie jetzt, Frau Künast: Was ist denn nun der rich- – Die haben wir gerade nicht. – Denn es gilt, Gefahren zu tige Weg? (B) erkennen, Vermeidungsstrategien zu entwickeln sowie (D) Verbraucher aufzuklären und zu unterstützen. Das alles Präsident Wolfgang Thierse: müsste die Regierung in Zusammenarbeit mit den Her- stellern und Produzenten und im Verbund mit den Bun- Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen desländern und den europäischen Partnern leisten. Berninger? Ich will ein Beispiel anführen, bei dem man schon im Kleinen sieht, was in dieser Regierung alles schief läuft, Ursula Heinen (CDU/CSU): nämlich das Beispiel Acrylamid; es ist schon mehrfach Aber gerne. genannt worden. Es ist vollkommen klar – jeder in diesem Haus stimmt Ihnen, Frau Ministerin Künast, in diesem Punkt zu –, dass Panikmache und überstürztes Handeln Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): völlig fehl am Platze sind. Wir kritisieren aber, dass sehr Frau Kollegin, es freut mich, dass auch ich Ihnen ein- viel Zeit verstrichen ist, bis wir informiert worden sind. mal eine Frage stellen darf. Wenn mein Kollege das Thema im Ausschuss nicht mehrfach auf die Tagesordnung gesetzt (Ulrich Heinrich [FDP]: Aber nicht um Kopf hätte und Kragen reden!) (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD Wie stehen Sie zu der Situation, dass es hier eine un- und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) terschiedliche Rechtslage gibt? Im Bund gibt es keine Rechtsgrundlage dafür, die Öffentlichkeit über derartige – das war doch so; ich kann mich noch erinnern, was es Dinge zu informieren, weil das Verbraucherinformations- für ein Gezucke bei der Konstituierung gab, als es um un- gesetz von Ihnen blockiert wurde, während Nordrhein- seren Antrag und den Antrag der FDP ging, das Thema auf Westfalen über ein Informationsfreiheitsgesetz verfügt, die Tagesordnung zu nehmen –, wenn wir das Themawonach auf Anfrage – diese Anfrage muss es wohl gege- nicht zum Gegenstand einer Regierungsbefragung ge- ben haben – die Öffentlichkeit über solche Untersu- macht hätten, so wären wir, das Parlament, von Ihnenchungsergebnisse informiert werden kann. Sind Sie nicht noch immer nicht informiert worden und die Verbraucher mit mir einer Meinung, dass es sinnvoll wäre, eine bun- wohl nur relativ oberflächlich via „Bild“-Zeitung. deseinheitliche Rechtsgrundlage in Gestalt eines Verbrau- cherinformationsgesetzes zu schaffen? Selbst Ihre eigenen Anhänger sind relativ zurückhal- tend, was die Behandlung des Themas Acrylamid durch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie angeht. Beispielsweise sagt Thilo Bode, der Chef sowie bei Abgeordneten der SPD) 856 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

(A) Ursula Heinen (CDU/CSU): Die Kollegin Hiller-Ohm hat von den Verbraucherzen- (C) tralen gesprochen. Sie sind gut und wichtig und machen Wir sind mit Ihnen einer Meinung, dass die EU-Basis- eine gute Arbeit. Das stimmt. Der Bundesverband Ver- verordnung zu diesem Thema endlich umgesetzt werden braucherzentralen und Verbraucherverbände bemüht sich muss. Das war nämlich im Vermittlungsausschuss unser seit Jahren um vernünftige Formen der Finanzierung, bei- Vorschlag zu diesem Thema. Dann hätten wir das Pro- spielsweise über Werbeabgaben von Unternehmen, mit blem heute überhaupt nicht. Darüber hinaus kann dasdem Ziel, alles in ein Stiftungskapital zu überführen, da- nicht auf einzelne Anfragen zurückgehen; denn wenn Sie mit die Verbraucherberatung in möglichst allen Regionen sich die Listen im Internet einmal genau anschauen wür- sichergestellt werden kann. den, dann würden Sie erkennen, dass man sich offenbar Hersteller und Produkte exakt herausgesucht hat. Das leh- Ansonsten droht nämlich die Schließung von bestimmten nen wir ab, weil wir das nicht in Ordnung finden. Sie sel- Verbraucherzentralen wie derzeit in Mecklenburg-Vor- ber haben hier im Deutschen Bundestag gesagt, dass Sie pommern oder – wenn ich richtig informiert bin – in es ebenfalls nicht tun wollen. Braunschweig. Von einer starken regionalen Verbreitung der Verbraucherzentralen kann leider keine Rede mehr (Beifall bei der CDU/CSU) sein. Aber sind wir uns darin einig – das hat die Diskussion Ich möchte Sie noch einmal bitten, zu überlegen, ob Sie über Acrylamid gezeigt –, dass die Aufklärung der Ver- ihre Mittel für Kampagnen verwenden oder ob Sie sie braucher verstärkt werden muss. Deshalb ist es gut und nicht lieber in die Verbraucheraufklärung investieren und richtig, dass das Ministerium dafür im Haushalt jetztdie Verbraucherzentralen ordentlich ausstatten. 8 Millionen Euro mehr vorsieht. Aber das Geld sollte tatsächlich in Kampagnen investiert werden, die den Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) braucher aufklären. Das Geld wäre in solchen Kampa- Der Bundesverband Verbraucherzentralen und Verbrau- gnen sicherlich sinnvoller angelegt als beispielsweise in cherverbände hat einen Zuschuss in Höhe von 9,2 Mil- Ihrer Öffentlichkeitsarbeit, die Sie in diesem Sommer zur lionen Euro beantragt. Wir meinen, dass Sie ihm diesen Legehennenverordnung gemacht haben. Sie haben – das Zuschuss gewähren sollten. Ich schlage vor, die Mittel aus muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen – dem Budget für Kampagnen herauszunehmen. diesen Sommer für ein einziges Plakat am Checkpoint Charlie 26 000 Euro ausgegeben. Lassen Sie mich noch einen weiteren Bereich anspre- chen: die Forschung. 1 Million Euro mehr als im Vorjahr (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist sind für die Forschung vorgesehen. Das ist auch gut so. Verschwendung!) Was wir aber nicht nachvollziehen können, ist, dass 750 000 Euro davon auf das Budget für Sachverstän- (B) Zu sehen war auf diesem Plakat – das war auch Gegen- (D) stand einer Kleinen Anfrage – ein Hühnerei, über dem dige entfallen. Dem Ministerium unterstehen zwar zehn ganz pathetisch „Freiheit“ stand. Bundesforschungsanstalten, die auch finanziert werden müssen, aber Sie brauchen zusätzlich 750 000 Euro für (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) Sachverständige. Meinen Sie nicht, dass die Bundesfor- Nicht nur dass es sich hierbei um eine besonders krasse schungsanstalten Ihnen auch „spezielle Fachfragen im Form von Geldverschwendung handelt, nein, ich finde es Zusammenhang mit gesetzgeberischen oder sonstigen auch eine echte Geschmacklosigkeit, gerade an diesem Maßnahmen“, wie Sie es im Einzelplan begründet haben, Ort, am Checkpoint Charlie, ein solches Plakat auf-Frau Künast, beantworten können? Warum zusätzlich zuhängen. Dafür sollten Sie sich hier rechtfertigen. Sachverständige in einem solchen Umfang notwendig sind, können wir nicht nachvollziehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Ulrich Heinrich [FDP]: Frei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) heit für Eier!) Ein weiteres Thema ist dieReorganisation von Es ist tatsächlich nicht nachvollziehbar, für welcheBehörden. In einer Zeit, in der alle Welt von einer größe- Projekte die Regierung Geld zur Verfügung stellt. Kam- ren Effizienz, einem schlanken Staat und ähnlichen Ziel- pagnen zu Legehennenverordnung und Biosiegel waren setzungen spricht, ist es Ihnen getreu dem Motto „Mehr Ihrem Hause 8,5 Millionen Euro wert. Andere, für die ist weniger“ gelungen, eine Aufblähung des Apparates zu Verbraucher dagegen wirklich wichtige Einrichtungen, erreichen. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Das sind chronisch unterfinanziert. Ich nenne beispielsweise Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsi- die Stiftung Warentest. Sie soll im Jahr 2003 6,5 Milli- cherheit ist die zuständige nationale Behörde für die Zu- onen Euro bekommen. Noch einmal der Vergleich: Kam- lassung von Pflanzenschutzmitteln in Deutschland. Die pagne für Legehennenverordnung und Biosiegel 8,5 Mil- hierfür notwendige vorherige Bewertung ist Aufgabe der lionen Euro, also 2 Millionen Euro mehr. Die Stiftung Bewertungsbehörden Biologische Bundesanstalt für Warentest dagegen würde gerne richtig unabhängig wer- Land- und Forstwirtschaft, Bundesinstitut für Risikobe- den und braucht dafür ein Stiftungskapital von 50 Mil- wertung und Umweltbundesamt. Nun gibt es also drei lionen Euro. statt vorher zwei Bewertungsbehörden. Noch dazu hat die Bewertung des Umweltbundesamtes Vorrang vor den Be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- wertungen der für den Gesundheitsschutz zuständigen wie bei der FDP) Behörden. Das alles müssen Sie uns erklären, vor allem Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen. Es ist nun im Hinblick darauf, was das alles mit Verbraucherschutz an der Zeit, dass Sie das tatsächlich umsetzen. zu tun hat. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 857

Ursula Heinen (A) Liebe Frau Künast, Sie haben angekündigt, dass Sie ei- im Bundestag nach Subventionsabbau geschrien! Heute (C) nen Aktionsplan für den wirtschaftlichen Verbraucher- sitzen sie wieder unter den Tischen, wenn es um den Ab- schutz vorlegen wollen. Ich meine, es ist an der Zeit, dass bau von Subventionen und gleichzeitig um die zukünftige Sie das tatsächlich tun. Sie kündigen alles Mögliche an Sicherung der Ausgaben für Familien, Kinderbetreuung, und führen teure Kampagnen durch, aber um die wirkli- Bildung, Forschung und – das hat die Kollegin gerade be- chen Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher tont – Verbraucherschutzaufgaben sowie um die Unter- kümmern Sie sich nicht. stützung einer nachhaltigen Landwirtschaft geht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Welchen Abbau von Subventionen mei- Präsident Wolfgang Thierse: nen Sie denn?) Ich erteile der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Jede Reform, angefangen beim ökologischen Landbau, Grünen, das Wort. wird von Ihnen als ideologisch gegeißelt. Die klamm- heimliche Freude, die der agrarpolitische Sprecher der Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): CDU/CSU-Fraktion, Herr Carstensen, beimNitrofen- Skandal geäußert hat, ist mir noch genauso gut in Erin- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nerung wie der Versuch, diesen Skandal den Biobauern Kollegen! Ich habe diese Debatte den ganzen Tag lang anzuhängen. verfolgt. Es ist außerordentlich auffällig, dass es vonsei- ten der FDP und der CDU/CSU keinen einzigen Vor- (Albert Deß [CDU/CSU]: Das ist eine schlag zur Lösung unserer Probleme und zur Beantwor- bösartige Unterstellung!) tung der Zukunftsfragen gibt. Es gibt mal Klamauk, mal Dabei – damit komme ich auf den entscheidenden Punkt irgendwelche merkwürdigen Fragestellungen, aber kei- zu sprechen – ergab doch eine gerade durchgeführte re- nen einzigen konstruktiven Beitrag Ihrerseits. präsentative Befragung der Wirtschaft, die Frau Künast in (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Nun Auftrag gegeben hatte, dass es nach Einführung des Bio- sprechen Sie mal zur Sache!) siegels eine Umsatzerhöhung von 25 Prozent im ökologi- schen Landbau gab. 77 Prozent der Befragten beurteilten Ich frage mich langsam, warum das so ist. Es ist wohl so, die Zukunft der Bioprodukte positiv. CDU/CSU und FDP dass unser Zirkusdirektor Koch vor der Wahl in Hessen bekämpfen dieses Marktpotenzial geradezu. Das ist ideo- nicht deutlicher werden möchte. logisch. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) Ich habe eine Anregung dazu: Vielleicht könnte der Auf- und bei der SPD) trag des Untersuchungsausschusses um das Wahlver- Wir halten an unserem Ziel fest, in zehn Jahren den An- schweigen des Herrn Koch vor der Landtagswahl in Hes- teil des ökologischen Landbaus auf 20 Prozent zu er- sen erweitert werden. Denn auf einmal ist von tiefenhöhen. Um das zu erreichen, ist die Absatzförderung not- Einschnitten in das Sozialsystem und Ähnlichem oder wendig. „Deutschland braucht seine Bauern.“ von der schonungslosen Aufklärung hinsichtlich der Fi- nanzmisere der CDU oder gar der FDP nichts mehr zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hören. So ist ein ziemlich altbackenes Positionspapier der (Zuruf von der SPD: Brutalst möglich!) CDU/CSU-Fraktion zur Agrarpolitik überschrieben. Aber die Bauern brauchen die CDU/CSU nicht, die gemeinsam – Jawohl: brutalst möglich. Tatsächlich besteht dasmit der FDP sie 40 Jahre lang zum Dienstleister der Indus- Hauptproblem neben der schlechten weltweiten Konjunk- trieinteressen gemacht hat tur in dem Reformstau der früheren Kohl-Regierung und der falsch, nämlich aus den Sozialkassen, finanzierten (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! Oh!) deutschen Einheit. Deswegen ist – obwohl wir viel ge- und die nun scheinheilig die Übermacht der Ernährungs- schafft haben – der Reformdruck so groß. konzerne und den Preisdruck beklagt. Wir haben hier ver- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Nur zur Erin- dammt noch einmal eine Aufgabe zu erledigen. nerung: Agrardebatte!) (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. ) Die gleiche Politik des Aussitzens vonseiten derGeradezu fahrlässig ist aber das Aussitzen im Bereich CDU/CSU und der FDP findet sich auch in der Landwirt- der EU-Agrarpolitik. Wenn es nach der CDU/CSU geht, schafts- und Verbraucherpolitik. Auch hier müssen die sollen erst nach 2006 wirkliche Reformen umgesetzt wer- Bemühungen des Finanzministers unterstützt werden und den. Sie jagt damit – das wissen Sie ganz genau – die Be- die Ziele der Haushaltskonsolidierung durch eine neue triebe in einen Verteilungskampf hinein, den letztendlich Wirtschafts- und Arbeitsmarktstrategie sowie die Umset- nur die stärkeren Unternehmen gewinnen können. Gleich- zung des Hartz-Konzepts auch im Agrarbereich Anwen- zeitig droht mit der Umsetzung der heutigen Agrarpolitik, dung finden. Das bedeutet Einsparungen bei den Ausga- die einigen viel, aber den kleinen Betrieben und den länd- ben und Erhöhung der Einnahmen, aber auch Abbau von lichen Räumen viel zu wenig an Förderung zukommen verzichtbaren Steuersubventionen. Wie haben während lässt, eine soziale Schieflage in den neuen Beitrittsstaa- des Wahlkampfes doch Herr Brüderle und Herr Hörster ten zu entstehen. Daher unterstützen wir mit Nachdruck 858 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Ulrike Höfken (A) die sich in Vorbereitung befindende inhaltliche Reform Aber – um auch das noch zu sagen – dass die Länder, (C) der EU-Agrarpolitik auf der Grundlage der Vorschläge zum Beispiel das Land Sachsen, die Verbraucherschutz- von EU-Kommissar Fischler. Damit machen wir unsere zentralen nicht angemessen unterstützen, bedauern wir in Landwirtschaft auch WTO-kompatibel. Frau Hasselfeldt, hohem Maße. Nach der Verfassung ist das aber nun einmal Sie sollten sich dieses Themas annehmen. der Auftrag der Länder. Wir machen auf der Bundesebene das, was wir können, und zwar sehr konsequent und gut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Albert Deß [CDU/CSU]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wann soll das denn geschehen?) und bei der SPD) Unsere Entwürfe eines Haushaltsgesetzes 2003 und ei- Unsere große Zielsetzung und die Herausforderung, die nes Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen und wir annehmen, ist, die umwelt- und tiergerechte Produk- Ausnahmeregelungen sehen eine moderate Beteiligung tion wettbewerbsfähig zu machen. der Landwirtschaft an der Haushaltskonsolidierung vor (Zurufe von der CDU) und unterstützen gleichzeitig dieNeuausrichtung der Agrarpolitik. Selbstverständlich überprüfen wir in Ein- Deswegen führen wir die Gemeinschaftsaufgabe auf ho- zelpunkten die Vorschläge der Bundesregierung. Das ist hem Niveau weiter. Dazu brauchen wir auch dieModu- vollkommen normal. Herr Goldmann, man muss ja den lationsgelder. Sie jammern, dass 100 Millionen Euro bei Eindruck gewinnen, dass Sie sich wünschen, dass wir ir- der Gemeinschaftsaufgabe gestrichen wurden, aber wol- gendwelche kleinen Kritikpunkte finden, damit Sie den len den Landwirten die Gelder aus der Modulation vor- Finger in die Wunde legen können. Sie sollten unsenthalten. Mit dieser Rosstäuschung und mit diesem stattdessen unterstützen und uns dabei helfen, eine höhere Schwachsinn sollte man wirklich Schluss machen. Zielgenauigkeit zu erreichen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie wollen (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir werden den Bauern Geld aus der Tasche ziehen!) Anträge stellen und Sie stimmen zu! Das ist in Wir sichern die Sozialpolitik, unterstützen den Ökoland- Ordnung!) bau, setzen auf nachwachsende Rohstoffe und legen das Erstens. Wir stärken den Verbraucherschutz sowohl Bundesprogramm „Tiergerechte Haltung“ auf, um damit gesundheitlich als auch wirtschaftlich. Frau Ministerin Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen und der Industrie, den Künast hat inzwischen das Initiativrecht für diesen Be- Pullmanns, Ei für Ei ein Stück dieser Produktion abzuja- reich. Wir haben für einen wirklichen Paradigmenwech- gen, und zwar auch mit solchen Werbe- und Absatzförde- sel gesorgt. Verbraucherpolitik steht im Mittelpunkt der rungsmethoden. Regierungspolitik. Dazu gehören die ordnungspolitischen Ganz zum Schluss sage ich – – (B) Maßnahmen wie das Produktsicherheitsgesetz. Vor allem (D) werden aber auch neue strukturelle Grundlagen durch die Finanzierung der neuen Bundesbehörden, des Bundesam- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit und Frau Kollegin, bitte. des Bundesamtes für Risikoforschung, geschaffen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Hans- Michael Goldmann [FDP]: Rot-Grün macht Ganz zum Schluss empfehle ich Ihnen einen Vortrag, Deutschland älter und gesünder!) den ich zu meiner Überraschung neulich auf einer Bau- ernversammlung gehört habe. Der hieß: „Wenn Du Bauer Zweitens. Transparenz und Informationsind ein bleiben willst, lerne kämpfen“. wichtiger Bestandteil unserer Politik. Gerade die Diskus- sion über Acrylamid hat gezeigt, dass ein Verbraucherin- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und formationsgesetz notwendig ist. NRW ist hier – darauf der FDP) haben Sie, Frau Heinen, schon hingewiesen – mit leuch- – Ich habe auch gedacht, was Sie gedacht haben. Aber die tendem Beispiel vorangegangen. Ich meine, ein kleines Botschaft lautet: Aufhören zu jammern, selbstbewusst zur Lob wäre schon fällig. eigenen Produktion stehen, nach vorne blicken und auch einmal die Ministerin loben, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Zuruf von CDU: Nein!) Wir wollen das, was NRW erreicht hat, auch auf Bundes- dann kann man junge Leute davon überzeugen, dass land- ebene umsetzen. Sie werden dann Farbe bekennen müs- wirtschaftliche Produkte etwas wert sind, wofür die Bau- sen. Wir haben – das ist ein wichtiger Punkt – den Ansatz ern ihren Preis bekommen müssen. für eine unabhängige Verbraucherberatung um 8 Milli- Danke. onen Euro erhöht. Im Gegensatz zu früher bedeutet das auch eine Erhöhung der Mittel für dieStiftung Waren- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN test. Die Unabhängigkeit dieser Stiftung ist ohnehin ge- und bei der SPD) geben. Ob es sich dabei um eine Stiftung oder um eine an- dere Rechtsform handelt, ist in diesem Zusammenhang relativ uninteressant. Angesichts knapper Kassen muss Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: man eben Prioritäten setzen. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gudrun Kopp. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 859

(A) Gudrun Kopp (FDP): Wissen Sie eigentlich, dass wir nicht annähernd das(C) Personal haben, um Kontrollen in den Bereichen durch- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! zuführen, in denen es eine Verbrauchergefährdung durch Frau Ministerin Künast, Sie haben eben davon gespro- gesundheitsschädigende Stoffe konkret nachweisbar gibt? chen, dass Ihre Verbraucherpolitik wie ein Stein im Was- Was hier an vermeintlicher Sicherheit oder an verstärkten ser ist, der jetzt Wellen schlägt. Ich sage Ihnen: Was wir Kontrollen suggeriert wird, kann nicht annähernd erfüllt heute hier gehört haben, war ein totaler Schlag ins Was- werden. Es handelt sich um Seifenblasen ohne Ende. ser, eine herbe Enttäuschung. Angesichts der schwierigen Haushaltslage frage ich Sie: Können Sie sich eigentlich (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Machen Sie Verbraucherpolitik und Verbraucherschutz jenseits von sich sachkundig im Verbraucherschutz!) Bürokratieaufbau und weiteren Kosten vorstellen? Ich nenne Ihnen einmal einige Beispiele von Verbraucher- Wenn Sie, Frau Künast, und Ihre Kollegin in Nord- schutz, der kein Geld kostet. Was sagen Sie beispielsweise rhein-Westfalen, Frau Höhn, meinen, man müsse Grenz- zu mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Verbraucherfreund- werte nennen, frage ich Sie, was Sie glauben, was ein Ver- lichkeit beim Thema Ladenschluss? Das ist ein aktuelles braucher mit diesen Werten anfangen kann. Thema. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: So ist es!) (Beifall bei der FDP) Er kann nichts damit anfangen, weil der den Wert nicht in- Null, gar nichts kommt von Ihnen. terpretieren kann. Außerdem gibt es noch keine gesicher- ten Forschungsergebnisse. Bitte lassen Sie uns bei diesem (Matthias Weisheit [SPD]: Was hat das mit Thema nicht in Panik verfallen, sondern klare Kenn- Verbraucherschutz zu tun?) zeichnungen für die Zukunft auf den Weg bringen. Wir brauchen Deregulierung und für die Händler die (Beifall bei der FDP – Matthias Weisheit Möglichkeit, ihre Öffnungszeiten so zu positionieren, wie [SPD]: Wer macht denn Panik?) es ihrer Kundschaft gefällt. Sie sagen nichts zur nötigen Änderung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbe- Es ist noch etwas nicht zur Sprache gekommen, was werb. Es gibt Rabattaktionen,ein wahres Rabattfeuer, aber ein klassisches Verbraucherthema ist: Was sagen Sie mit denen der Einzelhandel und der Handel insgesamt und Frau Höfken – ich verstehe, dass es Sie nicht interes- verzweifelte Versuche unternimmt, Umsätze zu erreichen. siert, aber ich sage es trotzdem – zu den Steuererhöhun- gen und zu den anhaltenden Belastungen für die Verbrau- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) cher und für den Wirtschaftsstandort Deutschland? Sie, Frau Künast, und alle anderen Redner der Regie- (Beifall bei der FDP) rungsfraktionen wissen ganz genau, dass sich damit (B) die Firmen auf äußerst dünnem Eis bewegen. Denn laut So spielt zum Beispiel bei der Ökosteuer das Thema(D) UWG sind solche Rabattaktionen nicht erlaubt. Wer als Deregulierung des Energiemarktes und Liberalisierung schlechtmeinender Mitbewerber Klagen anstrebt, derüberhaupt keine Rolle. Ist Ihnen klar, dass die von der kann verursachen, dass solche Firmen, die große Rabatte früheren, von Ihnen viel gescholtenen Bundesregierung, anbieten, unter enormen Bußgeldern zu leiden haben. Das an der die FDP beteiligt war, erzielten Liberalisierungs- heißt, Sie haben es bis heute nicht geschafft, dieses Thema erlöse zugunsten der Verbraucher 7,5 Milliarden Euro be- aufzugreifen. Meine Nachfrage bei der neuen Justizminis- tragen haben? Dieser Betrag ist inzwischen zu 80 Prozent terin hat ergeben, dass es bis nach der Sommerpause keine durch weitere Regulierungen aufgebraucht. Gesetzesvorlage zu diesem Bereich geben werde. Die Rechtssituation ist also kontra Verbraucher, denn Sie ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: suchen, den Verbraucher um Rabatte zu bringen. Ich finde das mehr als beschämend. Frau Kollegin, ich habe Ihnen schon eine Minute mehr gegeben. Aber Sie müssen wirklich zum Schluss kom- (Beifall bei der FDP) men. Beim Thema Acrylamid haben Sie gelobt, was Ihre Kollegin in Nordrhein-Westfalen, Frau Höhn, unternom- Gudrun Kopp (FDP): men hat. Bei dem, was man täglich hört, man muss schon leiden, wenn man wie ich aus Nordrhein-Westfalen Ich komme zum Schluss: Liebe Frau Künast, legen Sie kommt. zur Abwechslung einmal einen Masterplan für Bürokra- tieabbau im Verbraucherbereich vor. Das heißt: so viel (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Staat wie nötig und so viel Freiheit für die Konsumenten DIE GRÜNEN) – Manfred Helmut Zöllmer wie möglich. Schützen Sie diesen Standort Deutschland [SPD]: Möllemann!) vor Rot-Grün. – Ich freue mich, dass Sie Anlaß zum Lachen haben; das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – stärkt die Gesundheit. Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Für so ei- Beim Thema Acrylamid ist die Frage, ob Ihnen eigent- nen Unsinn hätten Sie die Zeit nicht zu überzie- lich klar ist, was Frau Höhn in Nordrhein-Westfalen ge- hen brauchen!) sagt hat. Sie hat kürzlich groß verkündet, jetzt starte eine Kampagne, in Nordrhein-Westfalen werde in den Gast- stätten und in den Restaurants das Frittierfett auf Rück- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: stände von Acrylamid geprüft. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Waltraud Wolff. 860 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

(A) Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): ehrlich gesagt, ein Buch mit sieben Siegeln; ich verstehe (C) das nicht. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu meiner Rede komme, möchte ich Vielleicht ist es so, dass man nichts Gutes denkt, dass noch auf zwei Punkte eingehen. man verhindert, boykottiert und so ziemlich alles hinter- treibt, was mit den neuen Mehrheiten im Bundesrat mög- Frau Kollegin Hasselfeldt, Sie haben vorhin geäußert, lich ist. Das kann natürlich sein. Wenn die Politik der Op- Frau Künast habe nicht ein Wort zur EU-Agrarpolitik ge- position in Zukunft im Verhindern von Politik besteht, sagt. Ich darf Sie einmal fragen: Was ist dennModula- dann kann ich nur sagen: Gute Nacht! Ich hoffe nicht, dass tion? Sie Ihre Oppositionspolitik in Zukunft so verstehen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wenn Modulation nicht EU-Agrarpolitik ist, dann weiß DIE GRÜNEN) ich nicht, was es sein soll. Noch einmal zur Erklärung: Die Modulation ist Teil (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Agenda 2000. Alle, auch die Kollegen der Oppositi- DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: onsparteien, sehen, dass wir eine gemeinsame EU-Agrar- Schmeißen Sie das weg!) politik gestalten wollen. Der ehemalige Bundeskanzler verstand sich auch als großer EU-Politiker und hat immer – Ich finde es immer schön, wenn Sie lebhaft werden. wieder eine gemeinsame Politik gefordert. Deutschland Zum Zweiten. Herr Kollege Goldmann, Sie haben mir muss zeigen, dass es reformfähig ist. Es kann nicht sein, vorhin Nachhilfe angeboten. Ich komme ausSachsen- dass wir zwar auf der einen Seite die EU-Agrarpolitik ge- Anhalt. Bei uns ist die Landwirtschaft sehr stark. Die dor- meinsam gestalten wollen, dass aber auf der anderen tigen Betriebe können sich sehen lassen. Wir haben in Seite, wenn es ans Eingemachte geht und jedes Land Re- Sachsen-Anhalt einen Level erreicht, über den sich man- formen beschließen soll, der Rückzug angetreten wird. cher in der Bundesrepublik wundert. Wir wollen zeigen: Deutschland ist reformfähig. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich brauche keinen Nachhilfeunterricht. An dieser Stelle kommen wir aber jetzt zu einer Nachhilfestunde für die Darum stehen wir zur Agenda 2000 und zur Einführung des Modulationsgesetzes. CDU und für die FDP. (Albert Deß [CDU/CSU]: Rot-grüne Agrarpoli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tik ist nur zu Schikane fähig, aber nicht zu Re- (B) DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann (D) formen!) [FDP]: Übernehmen Sie sich nicht!) Nach der zweiten und dritten Lesung des Haushalts- Im Rahmen der heutigen Haushaltsdebatte wollen wir gesetzes 2002 im Dezember vergangenen Jahres hat der nämlich noch über ein Thema intensiver sprechen. Es geht Bundesrat den Vermittlungsausschussangerufen. Wir um das Modulationsgesetz. Sie von der Opposition woll- haben gemeinsam einen guten Kompromiss gefunden, der ten zu diesem Thema ja eine Extradebatte führen. Sie ha- den Bundesländern entgegengekommen ist. Im jetzt vor- ben sich dann aber doch geschlagen gegeben und waren liegenden Gesetzentwurf des Bundesrates wird von einer damit einverstanden, darüber in einer verbundenen De- Einführung „für einen kurzen Zeitraum“ gesprochen. Das batte zu diskutieren. Wenn es um einen Lern- und Ver- ist wirklich einfach unsinnig. ständniszuwachs geht, helfe ich an dieser Stelle gern. Über die hohen Kosten, den enormen Verwaltungsauf- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Gibt es das wand und die Anlastungsrisiken haben wir ebenso inten- denn noch als EU-Vorhaben?) sive Gespräche geführt. Aber auch da helfe ich Ihnen Wir haben im letzten Jahr dieses Gesetz sehr ausgiebig gerne noch einmal nach. diskutiert und festgestellt, dass uns die Einführung der Erstens. Es kann durchaus sein, dass die freiwillige na- Modulation Spielräume im Rahmen der EU eröffnet, die tionale Modulation noch über mehrere Jahre Gültigkeit wir nutzen können. Die Konzepte dazu liegen in derhat. Schublade. Frau Höfken hat darauf vorhin schon hinge- wiesen. Zweitens. Die Herausnahme der „kleinen Beihilfen“ – es handelt sich um Beihilfen für Hopfen, Stärke, Saat- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Die nehmen gut und Tabak – erfolgte auf ausdrücklichen Wunsch der Sie Ihren Bauern in Sachsen-Anhalt weg!) Bundesländer. Dies bedeutet doch, dass ein Weg gefunden Uns war von Anfang an vor allem klar, dass das Mo- wurde, die Modulation mit einem vertretbaren Aufwand dulationsgesetz mit großer Wahrscheinlichkeit nur soan Bürokratie einzuführen. lange gelten wird, bis die Halbzeitbeschlüsse umgesetzt Jetzt ist es doch einfach so, dass nur die Direktzahlun- werden. Es ist nach wie vor in Betracht zu ziehen, dass die gen der Modulation unterliegen, die im Rahmen des inte- EU die Modulation obligatorisch einführen wird. Warum grierten Verwaltungs- und Kontrollsystems abgewickelt einige CDU-regierte Bundesländer anscheinend erst jetzt werden. Für jeden betroffenen Landwirt bedeutet das, auf den Trichter gekommen sind, dass die obligatorische dass es für ihn nur eine Zahlstelle gibt. Wo liegt eigentlich Modulation in zwei Jahren eingeführt wird, ist für mich, Ihr Problem mit der Bürokratie? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 861

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich freue mich auf konstruktive Beratungen mit Ihnen, (C) DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: insbesondere zu dem Thema, zu dem ich gesprochen Beim Wegnehmen des Geldes!) habe: die Modulation. Ich hoffe, dass Sie im Bundesrat an dieser Stelle zurückziehen und einer EU-Agrarpolitik of- Die 2 Prozent Modulationsmittel werden für die Betriebe fensiv entgegengehen. direkt berechnet und sofort einbehalten. Bürokratisch ge- sehen dürfte das doch wirklich keine Schwierigkeiten Danke schön. mehr machen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Probleme, um die wir uns wirklich kümmern müs- DIE GRÜNEN) sen, liegen ganz woanders. (Albert Deß [CDU/CSU]: Die liegen bei dieser Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bundesregierung!) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Helmut Heiderich. Ich nenne zum Beispiel die Diskussionen in der EU-Kom- mission über die Kappungsgrenze von 300 000 Euro bei Helmut Heiderich (CDU/CSU): den landwirtschaftlichen Betrieben. Wir müssen ganz deutlich machen, dass die Kappungsgrenze für eine mo- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen derne und funktionierende Landwirtschaft in den neuen und Kollegen! Die deutschen Bauern brauchen einen Bundesländern fatal ist. Es kann und darf einfach nicht Haushalt, eine Regierung, eine Politik, die ihnen den sein, dass mit der Halbzeitbewertung Maßnahmen initiiert Rücken stärkt und ihnen nicht ständig neue Knüppel vor werden, die 90 Prozent der Betriebe einer einzigen Region die Füße wirft. in ganz Europa, nämlich Ostdeutschland, treffen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN) NEN]: Deshalb haben sie uns gewählt!) Nach der Wende hat sich in den neuen Bundesländern Die deutschen Bauern brauchen Anerkennung ihrer Pro- eine – das habe ich schon am Anfang gesagt – moderne dukte und ihrer Leistungen, sowohl finanziell wie auch und zukunftsorientierte Landwirtschaft entwickelt, die im ideell. Sie von Rot-Grün machen mit Ihrer Politik aber das Gesamtbereich der Wirtschaft als funktionstüchtig be- genaue Gegenteil. Sie schädigen in Deutschland beide, zeichnet werden kann. Auch die CDU/CSU und die FDP, die Bauern wie die Verbraucher – und dies auch noch also die heutigen Oppositionsparteien, waren für den Ei- nachhaltig. nigungsvertrag, der vorsieht, dass den groß strukturierten (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D) Betrieben in den neuen Bundesländern eine Chance ein- geräumt wird. Dies gilt es doch zu unterstützen. Hier ist Ich glaube, Deutschland ist das einzige Land, in dem Ihr Engagement gefordert – nicht einfach nur meckern, die zuständige Ministerin die ihr anvertrauten Landwirte sondern auch einmal konstruktiv mitarbeiten. unablässig schlecht redet, statt für zukunftssichere Arbeitsplätze in den Betrieben zu sorgen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Peter H. Carstensen [Nord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) strand] [CDU/CSU]: Gibt es denn da Dissens? – Der giftige Spruch – ich lese ihn hier gerne noch einmal Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wieso, das ist vor –„Klasse statt Masse“ sollte das Ansehen der ge- doch in Ordnung!) wachsenen und nach guter fachlicher Praxis arbeitenden Die Stärkung der zweiten Säule ist richtig wie auch Landwirtschaft in Misskredit bringen. Er sollte den Ein- Maßnahmen mit Beschäftigungs- und Umwelteffekten. druck entstehen lassen, dass diese Bauern nicht erwünscht In der Beschneidung rentabler Unternehmen in ihrersind oder nicht ordentlich arbeiten. An dieser Einstellung, Wettbewerbsfähigkeit sehe ich aber keinen Sinn. Frau Ministerin, hat sich bei Ihnen offensichtlich bis heute nichts geändert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, die Haushaltssituation ist angespannt, auch in den neuen Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – desländern. Also brauchen wir auch Ihre Allianz, um un- Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sere Position in der EU zu untermauern. NEN]: Das ist eine Unterstellung!) Wir bringen heute den Haushalt 2003 ein. Die Mittel – Ich werde Ihnen das gleich beweisen. zur Modulation sind da natürlich im Rahmen der GAK ein Frau Ministerin, Sie haben hier vorhin Ihren französi- wichtiger Punkt. Deshalb ist es dringend notwendig, an schen Kollegen ins Gespräch gebracht. Ich muss sagen: dieser Stelle noch einmal darüber zu reden. Sie unterscheiden sich um Welten von HerrnHervé Wir haben an vielen Stellen im Haushalt über die neuen Gaymard; denn er hat festgestellt, das Ziel seiner Agrar- Ansätze gesprochen. Ich möchte nur noch auf einen Punkt politik sei – ich zitiere das einmal –, hinweisen, nämlich den Löwenanteil des Einzelplans 10: ... dass die Bauern in der Lage sein müssen, vom Diesen macht wieder, wie in jedem Jahr, dielandwirt- Preis ihrer Erzeugnisse zu leben und die Bürden im schaftliche Sozialpolitik aus. Es ist erfreulich, dass wir Zusammenhang mit Umwelterfordernissen, gesund- in diesem Jahr für 2003 an dieser Stelle eine Kostenstei- heitlicher Lebensmittelsicherheit und der Qualität gerung gebannt haben. der Produkte zu tragen. 862 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Helmut Heiderich (A) Wenn das doch das Ziel Ihrer Politik in Deutschland wäre! der Modulation ja nicht aus falschen Gründen zurückge- (C) stellt. Sie wollen wieder einen nationalen Alleingang (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – [SPD]: Der hat doch französisch machen und zum nächsten Jahresbeginn den deutschen gesprochen! Das war doch kein wörtliches Bauern die Einkommen kürzen. Nichts anderes ist Modu- Zitat!) lation. Wie diese Kürzung von Einkommen, Frau Höfken, die Bauern wettbewerbsfähiger machen soll, das ist das Sie dagegen setzen Ihre einseitigen Attacken gegen un- Geheimnis Ihrer rot-grünen Politik. sere Bauern fort, die seit Generationen unsere natürlichen Lebensgrundlagen erhalten, die Kulturlandschaft pflegen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und uns wertvolle Nahrungsmittel preisgünstig Sie wollen – wir haben das in Hessen ja einmal ge- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] [CDU/ prüft – eine neue Verwaltungsbürokratie aufbauen. Sie CSU]: Und genügend!) wollen dieses Geld durch die Verwaltungsmühlen drehen. Am Schluss wird wenig übrig bleiben und bei den Bauern zur Verfügung stellen. Wie anders soll ich Ihre Anzeigen- wird nichts davon wieder ankommen. serie in deutschen Zeitschriften von gestern verstehen, wo Folgendes zu lesen ist: Frau Höfken, damit wir Zahlen aus der hessischen Land- wirtschaft und nicht nur Ihre allgemeinen Darstellungen ha- Im biologischen Landbau machen die Tiere so viel Mist, wie die Pflanzen brauchen. ben: Durch eine aktuelle Auswertung derBetriebsergeb- nisse in Hessen und Rheinland-Pfalzwurde festgestellt, (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) dass der Getreidebau in einem durchschnittlichen hessi- Meine sehr verehrten Damen und Herren, dafür wird in schen oder rheinland-pfälzischen Betrieb ohne Ausgleichs- Deutschland Steuergeld ausgegeben! zahlungen defizitär wäre. Das heißt, wenn Sie in diesem Be- reich den Bauern noch Einnahmen kürzen, gefährden Sie (Albert Deß [CDU/CSU]: Diese Regierung macht die Betriebe. Insofern ist es auch kein Wunder, dass in Hes- mehr Mist, als Deutschland verkraftet!) sen und Rheinland-Pfalz die Landwirte zurzeit gerade noch Ich kann das nur so verstehen, dass Sie die Klugheit der durchschnittlich 1 500 Euro je Betrieb investieren. Rindviecher gegenüber der Bundesregierung und ihrer (Albert Deß [CDU/CSU]: Die niedrigste Minister herausstreichen wollen, macht doch diese Bun- Investitionsrate seit Jahrzehnten!) desregierung weit mehr Mist, als die Bürger in Deutsch- land vertragen können. Das muss man sich einmal überlegen. Das ist Stillstand, das ist Verunsicherung, das ist Zukunftsgefährdung. Und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – das ist das Ergebnis Ihrer rot-grünen Politik. (B) Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Vorgezo- (D) gener Karneval! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aber, verehrte Frau Ministerin, auch fachlich ist diese An- Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist kein zeige Mist, Wunder, dass der Amtsvorgänger von Frau Künast am (Albert Deß [CDU/CSU]: Dieser Mist fällt un- 14. September in der Presse öffentlich erklärt hat: Die ter die erhöhte Mehrwertsteuer!) Landwirtschaft hält diese rot-grüne Regierung nicht mehr lange aus. Es ist ja auch kein Geheimnis – die Zahlen in denn Ihre eigene Forschungsanstalt hat gerade veröffent- den nächsten Wochen werden es zeigen –, dass die Land- licht, dass 60 Prozent der Ökobetriebe in Brandenburg wirtschaft im letzten Wirtschaftsjahr unter Ihrer Verant- größer sind als 500 Hektar. So Ihr Forschungsreport. Ich wortung Verluste im zweistelligen Prozentbereich ge- glaube, nicht einmal die Bundesregierung bringt so viel macht hat, die sie jetzt verkraften muss und die ihre Mist zusammen, um solchen ökologischen Agrarfabriken, Wettbewerbsfähigkeit weiterhin gefährdet. wie der Bundeskanzler gesagt hat, hier gerecht werden zu können. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das stimmt ja gar nicht!) Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn das die Verbraucherinformationskampagne dieser Bun- Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Nega- desregierung sein soll oder ist – es ist ja tatsächlich in den tivstrategie und -leistung gilt genauso – damit will ich Zeitungen veröffentlicht worden –, dann fordere ich Sie noch auf einen anderen Bereich kommen, für den Frau auf, Künast jetzt die volle Zuständigkeit erhalten hat – für den Aufgabenbereich der Bio- und Gentechnik.Auch hier (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ betreibt die Ministerin eine Strategie der Verzögerung und DIE GRÜNEN]: Was hat die Art der Bewirt- der Verunsicherung, statt entsprechend zu handeln. Wenn schaftung mit der Größe des Betriebes zu tun?) Sie, Frau Künast, vorhin gesagt haben – ich habe es hof- die 35 Millionen Euro, die Sie für diese Anzeigenkampa- fentlich richtig mitgeschrieben –, „Der andere packt kräf- gnen im Haushalt bereitgestellt haben, sofort zu streichen tig an und handelt“, können Sie auf diesem Feld nun wirk- und das Geld stattdessen den Bauern für andere Arbeiten lich nicht gemeint sein, egal in welchem Bereich dieser zur Verfügung zu stellen. Technologie. Sie sind vom EU-Parlament erst vor weni- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen Tagen darauf hingewiesen worden und Ihnen ist deut- lich gemacht worden, wie weit die deutsche Entwicklung Liebe Frau Wolff, nur ein kurzes Argument zum Thema auf der europäischen Ebene zurück liegt. Ich will aus dem Modulation. EU-Kommissar Fischler hat die Einführung Beschluss des EU-Parlaments vom 21. November nicht Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 863

Helmut Heiderich (A) alles zitieren, obwohl man eigentlich alles hier vortragen Gratulanten Freude und Erfolg gewünscht. Nach den ers- (C) müsste, aber dafür sind zwei Minuten Redezeit zu wenig. ten Wochen bin ich immer noch voller Hoffnung, dass Aber ein zentraler Punkt sei hier vorgetragen. Das EU- diese Wünsche zumindest in der Agrarpolitik tatsächlich Parlament hat schriftlich formuliert und beschlossen, es in Erfüllung gehen. Trotz angespannter Haushaltslage ha- sei der Ansicht, die Öffentlichkeit müsse darüber aufge- ben wir die Chance, die Erfolgsgeschichte der neuen klärt werden, dass die Biotechnologie in vielen Bereichen Landwirtschaft fortzuschreiben. Vorteile biete, angefangen bei der Gesundheitsfürsorge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bis hin zu Landwirtschaft und Industrie. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Matthias Weisheit [SPD]: Wo ist da der Wi- derspruch?) Auch wenn der Kollege Heiderich es giftig nennt, gilt auch in Haushaltsfragen das Motto: Klasse statt Masse. Frau Künast, die Aussagen des EU-Parlaments stehen Nicht alles hängt allein am Geld. Entscheidend ist doch, im Widerspruch zu Ihrer Politik. wie das Geld eingesetzt wird. Wir müssen Ideen ent- (Matthias Weisheit [SPD]: So ein Schmarren! – wickeln und neue Wege gehen. Die Opposition hat vor Weiterer Zuruf von der SPD: Wo ist der Wider- der Wahl getönt, dass wir Subventionen abbauen müssen. spruch?) Wenn wir das jedoch heute im Rahmen des Konsolidie- rungsprogramms tatsächlich tun und Sondertatbestände In Ihrer Regierungserklärung steht zwar, dass Sie die Bio- im Bereich der Steuern zurückführen, beklagt sie Steuer- technologie in Deutschland fördern und ausbauen wollen, erhöhungen. Dabei ist doch allen klar, dass auch die mit Ihrem praktischen Handeln machen Sie aber genau Landwirtschaft ihren Beitrag zur Konsolidierung leisten das Gegenteil: Sie verhindern jede Entwicklung und hän- muss. gen um Jahre hinter der europäischen Entwicklung zurück. Das schadet der deutschen Industrie und der deut- Wo, meine Damen und Herren von der Opposition, schen Landwirtschaft. würden Sie denn den Rotstift ansetzen, wenn Sie regieren und Haushaltslöcher stopfen müssten? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias Weisheit [SPD]: Mein Gott! Haben (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Sie die Rede vom Verband der Chemischen In- würden weiter Schulden machen! – Albert Deß dustrie schreiben lassen?) [CDU/CSU]: Das muss die Regierung selber wissen!) – Ich lese nicht die Äußerungen des Verbandes der Chemi- schen Industrie vor, sondern des EU-Parlaments. Das EU- Bei der Agrarsozialpolitik? Sie sollten den Wählern rei- Parlament hat festgestellt, dass es Ihre Auffassung, dienen Wein einschenken. Gentechnik und die Biotechnik im medizinischen Sektor (B) Mir liegen drei Schwerpunktaufgaben besonders am(D) böten überwiegend Chancen, in der Landwirtschaft hinge- Herzen: die Schaffung vitaler ländlicher Räume, die Si- gen seien sie hauptsächlich mit Risiken verbunden, nicht cherung solider Einkommen der Landwirte und die Ver- teilt. Das EU-Parlament fordert vielmehr, dass beide Berei- che der Technologie entwickelt werden. Man sollte nicht, sorgung der Verbraucher mit qualitativ hochwertigen wie Sie, Frau Künast, ständig auf der Bremse stehen, stän- landwirtschaftlichen Produkten, die bezahlbar sind. Um dig neue Ausreden suchen und sich ständig verweigern, diese Ziele zu erreichen, bietet unter anderem die Modu- wenn es darum geht, diese Strategien voranzubringen. lation der Agrardirektzahlungen eine große Chance. Die Förderung beschäftigungsintensiver Betriebe mit artge- Auf dem gesamten Feld der Bio- und Gentechnik hinkt rechter Tierhaltung und umweltverträglicher Produk- diese Bundesregierung der europäischen Entwicklung um tionsweise mit Modulationsmitteln ist besonders in den Meilen hinterher. Frau Höfken, deswegen werden wir das strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands ein Anreiz, tun, was Sie vorhin schon gefordert haben. Wir werden Ih- Arbeitsplätze im ländlichen Raum zu schaffen. nen eine umfassende Alternative für eine Bio- und Gen- technologiestrategie in Deutschland vorlegen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das kostet die Bauern in Sachsen-Anhalt aber viel Geld!) (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich appelliere daher an die von CDU und CSU regier- ten Bundesländer: Blockieren Sie nicht die Modulation, Dann werden wir einmal sehen, inwieweit Sie der euro- sondern machen Sie den Weg frei für eine gesunde päischen Entwicklung folgen oder ob Sie weiterhin ein- Agrarstruktur, auch in Ostdeutschland! seitig auf der Bremse stehen bleiben und damit die Ent- wicklung in Deutschland weiter ausbremsen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der SPD – Hans-Michael (Beifall bei der CDU/CSU) Goldmann [FDP]: Oh, Frau Kollegin, was ist das denn?) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Der Vorschlag der EU-Kommission, eine Kappungs- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Cornelia Behm. grenze von 300 000 Euro bei den EU-Beihilfen einzuzie- hen, hat insbesondere – Frau Wolff nannte es vorhin schon – in Ostdeutschland aufgrund der dortigen Agrarstruktur für Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): große Unruhe gesorgt. Wir sind uns im Klaren, dass dies Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- mit einer Politik der Gleichberechtigung der Betriebs- ren! Zu meiner Wahl in den Bundestag haben mir viele größen nicht vereinbar ist. Wir setzen stattdessen darauf, 864 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Cornelia Behm (A) die Faktoren Arbeit und Umwelt stärker zu berücksichti- grüne Schleuderfahrt längst beendet. Laut Infratest hatte (C) gen. die CDU/CSU bei den Landwirten einen Stimmenanteil von 79 Prozent. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da sind [FDP]: Was sagt Sachsen-Anhalt dazu?) sie selber schuld!) Wir wollen die Direktzahlungen so gestalten, dass Pro- Auch die FDP hatte noch einen beträchtlichen Anteil, so- duktionszweige differenziert beurteilt werden, ohne ein- dass für Rot-Grün hier nicht mehr viel übrig blieb. zelne Regionen zu benachteiligen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Es spricht für unsere bäuerliche Bevölkerung, dass sie DIE GRÜNEN) den rot-grünen Täuschungsmanövern nicht auf den Leim Wir wollen eine Politik der Chancengleichheit und der gegangen ist. Auch waren es die Bauern, die als Erste be- Zugangsgerechtigkeit. Insofern werde ich mich dafür ein- merkten, wohin die Politik von Bundeskanzler Schröder setzen, dass die unterschiedlichen Betriebsformen in der führt. Bereits auf dem Bauerntag in Cottbus im Juli 1999 ostdeutschen Landwirtschaft gleichberechtigt und erfolg- haben sie ihm ihr letztes Hemd geschenkt. reich nebeneinander wirtschaften können. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Schä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men Sie sich dafür, dass Sie das noch einmal an- und bei der SPD) bringen! Das ist wirklich schofelig! Das ist peinlich!) Mit dem vorgelegten Haushaltsentwurf setzen wir un- Andere sind erst heute darauf gekommen. seren Weg in die Agrarwende und für eine Stärkung des Verbraucherschutzes fort. Dies werden wir auch in den (Beifall bei der CDU/CSU) nächsten Jahren tun. Die jetzigen haushaltspolitischen Vorschläge werden Ich danke Ihnen. dazu führen, dass immer mehr landwirtschaftliche Be- triebe ihre Hoftore schließen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Hans-Michael (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So etwas Goldmann [FDP]) vom Blatt abzulesen ist eine Schweinerei!) Bereits in der letzten Wahlperiode wurde die Wettbe- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: werbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft stark einge- (B) schränkt. (D) Ich danke Ihnen auch, Frau Kollegin, und gratuliere im Namen des ganzen Hauses zur ersten Rede. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer hat Ihnen denn das aufgeschrieben? – Rudolf (Beifall) Bindig [SPD]: Hat Ihnen das der Stoiber aufge- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Albert Deß. schrieben?) Mit den jetzigen Überlegungen der rot-grünen Koalition wird die Existenz weiterer Betriebe gefährdet. Albert Deß (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Mit der geplanten Senkung der Mehrwertsteuerpau- schale von 9 auf 7 Prozent und der Anhebung derVor- meiner Rede hier bei einer Agrardebatte vor gut fünf Mo- steuer für Futtermittel, Gartenerzeugnisse, Holz und an- naten sagte ich: dere Produkte auf 16 Prozent werden Tausende Die Agrarpolitik dieser Bundesregierung hat nichts Arbeitsplätze in der Land- und Forstwirtschaft und, wie mit einer Agrarwende zu tun; sie ist ein chaotischer wir heute gehört haben, auch im Gartenbau gefährdet. Schleuderkurs ... Statt Arbeitsplätze zu erhalten bzw. neu zu schaffen, wer- den mit solchen Maßnahmen Arbeitsplätze vernichtet. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das sagen Sie immer!) (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Dann kam der Wahlkampf. Wie sich heute herausstellt, waren Schröder, Fischer, Eichel, Künast und Co. dort als Es ist unerträglich, mit welchen Argumenten die ge- politische Geisterfahrer unterwegs. Dabei haben sieplante Anhebung der Vorsteuer in der Landwirtschaft auf größtmöglichen innen- und außenpolitischen Schaden an- 16 Prozent begründet wird. Vor einem Millionenpublikum gerichtet. Heute merkt die große Mehrheit unserer Bevöl- im deutschen Fernsehen hat Minister Trittin mit einer kerung, dass Rot-Grün das Schleudertempo erhöht und falschen Aussage Stimmung gegen die Bauern gemacht. den chaotischen Schleuderkurs auf alle Politikbereiche Bei Sabine Christiansen hat Trittin die im Koalitionsver- ausdehnt. trag vorgesehenen Mehrwertsteuererhöhungen zulasten der deutschen Bauern damit gerechtfertigt, dass er es für (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der ein Unding halte, dass auf Chemiedünger nur ein er- SPD: Das ist ja etwas ganz Neues!) mäßigter Steuersatz zu zahlen sei. Hätte die gesamte Bevölkerung am 22. September so Erstens ist die Bezeichnung Chemiedünger falsch, es gewählt wie die Bäuerinnen und Bauern, wäre die rot- handelt sich um Handelsdünger. Zweitens ist der von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 865

Albert Deß (A) Trittin angesprochene Dünger schon immer mit dem nor- Albert Deß (CDU/CSU): (C) malen Mehrwertsteuersatz – er liegt zurzeit bei 16 Pro- Ich bin felsenfest davon überzeugt, lieber Kollege Peter zent – belastet worden. Eine Umsatzsteuerermäßigung Harry Carstensen, dass Frau Künast mit ihrer verfehlten gibt es nach geltendem Recht nur für bestimmte tierische Ökopolitik, mit der sie das Ziel ansteuert, dass in Deutsch- und pflanzliche Düngemittel. Diese Ermäßigung will Rot- land 20 Prozent Ökolandwirtschaft betrieben wird, er- Grün jetzt abschaffen. reicht, dass mehr Produkte auf dem deutschen Markt an- Trittins Verhalten bei Sabine Christiansen macht deut- geboten werden, als die Verbraucher zu kaufen bereit sind. lich, dass die Grünen vor keinem Mittel zurückschrecken, Das wirkt sich auf das Einkommen unserer Ökolandwirte um das Ansehen der deutschen Bäuerinnen und Bauern in aus. Selbst Claus Hipp, der Ökoprodukte verkauft, sagt in den Dreck zu ziehen. einer Pressemitteilung, dass die 20 Prozent, die Frau Künast anstrebt, vollkommen illusorisch sind. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn Minister Trittin einen Funken Anstand besäße, hätte er sich für diese verleumderische Äußerung längst öffent- Damit bewahrheiten sich meine Befürchtungen, dass lich entschuldigt. die Absenkung der Standards durch das Künast-Ökosiegel nachteilig für unsere Ökobetriebe ist. Das ist auch ganz lo- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Hat er aber gisch, weil immer mehr billige Ökoprodukte aus dem nicht getan!) Ausland in die Regale deutscher Supermärkte kommen. Die weitere Erhöhung der so genanntenÖkosteuer Die selbst ernannte Schutzpatronin der Ökolandwirtschaft führt zu einer weiteren einseitigen nationalen Wettbe-sägt am Ast der Ökolandwirtschaft in Deutschland. werbsverzerrung für die deutsche Landwirtschaft und die Auf einem Irrweg befinden sich Frau Ministerin mit ihr verbundenen Wirtschaftsbereiche. Rot-GrünKünast und Rot-Grün auch mit dem deutschen Modula- spricht von einer Lenkungswirkung der Ökosteuer. Trittin tionsgesetz, das heute schon angesprochen worden ist. ist sehr stolz darauf, dass sich dadurch der Spritverbrauch in Deutschland verringert haben soll. Dabei besteht die (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was Sie Lenkungswirkung der Ökosteuer darin, dass immer mehr erzählen, wird durch Wiederholung auch nicht LKWs und PKWs zu ausländischen Tankstellen gelenkt besser!) werden. Mit Öko hat das Ganze nichts zu tun. Der bayerische Landwirtschaftsminister Josef Miller hat in einem Schreiben vom 26. November das deutsche Mo- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dulationsmodell als unsozial und darüber hinaus als öko- der FDP – Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: logisch fragwürdig dargestellt. Dem kann die CDU/CSU- (B) Schwachsinn!) (D) Fraktion nur beipflichten. Frau Künast, beenden Sie Ihren agrar- und ver- (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ braucherpolitischen Irrweg, bevor es zu spät ist. Erste DIE GRÜNEN]: Wann kommen die Konzepte Hochrechnungen zum Situationsbericht der deutschen der Union?) Landwirtschaft für dieses Jahr ergeben dramatische Ein- kommensverluste. Mir liegen Zahlen vor, nach denen im In Bayern werden mit dem Kulturlandschaftspro- laufenden Wirtschaftsjahr mit einem Einkommensrück- gramm, dem Vertragsnaturschutz und der Förderung von gang von 12,9 Prozent bei den Haupterwerbsbetrieben zu Investitionen in artgerechte Tierhaltungssysteme wirk- rechnen ist. Noch dramatischer wirkt sich die verfehlte same Maßnahmen natur- und umweltschonender Wirt- rot-grüne Agrarpolitik auf die Ökobetriebe aus. Dort ist schaftsweisen finanziell unterstützt und erfolgreich mit einem Einkommensverlust von 15,2 Prozent für das durchgeführt. In den übrigen CDU-regierten Flächenlän- Jahr 2002 zu rechnen. dern haben vergleichbare Programme einen hohen Stel- lenwert.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wenn rot- und rot-grün-regierte Bundesländer im Um- welt- und Naturschutz sowie beim Tierschutz die gleichen Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres KollegenFörderprogramme auflegen und auch finanzieren wie die Carstensen? unionsregierten Bundesländer, ist das Modulationsgesetz vollkommen überflüssig. Albert Deß (CDU/CSU): Die Minister Clement und Eichel reden großmundig Gern. von Bürokratieabbau, während Frau Künast mit dem Mo- dulationsgesetz ein bürokratisches Monster schafft. Die (Zurufe von der SPD: Oh!) unionsregierten Länder haben einen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht, der die Aufhebung des deutschen Peter H. Carstensen (Nordstrand) (CDU/CSU): Modulationsgesetzes zum Ziel hat. Am 8. November hat der Bundesrat dem Gesetzentwurf zugestimmt. Es liegt Ich bedanke mich, Herr Kollege Deß. – Ich habe nur jetzt an der rot-grünen Mehrheit im Bundestag, das unsin- eine kurze Frage: Kann das vielleicht der Künast-Effekt nige deutsche Modulationsgesetz außer Kraft zu setzen. sein? Ein Problem muss ich in dieser Haushaltsdebatte noch (Heiterkeit bei der CDU/CSU) kurz ansprechen. Das neue Tierarzneimittelgesetz, das 866 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Albert Deß (A) mit Zustimmung des Bundesrats beschlossen wurde und [FDP]: Wenn jemand den Menschen Sand in die (C) am 1. November in Kraft getreten ist, lässt sich mit einem Augen streut, dann doch wohl Sie!) wirkungsvollen Tierschutz, Frau Ministerin, nicht verein- baren. Wenn ein Landwirt beim Melken eine Koliinfek- Damit orientieren Sie sich sozusagen an der Stimmungs- tion im Euter einer Kuh bemerkt und stundenlang warten tauglichkeit, während wir versuchen, Wahrheiten zu ver- muss, bis sein Hoftierarzt erscheint, dann wird das Tier künden. unnötigerweise Schmerzen ausgesetzt. Das finde ich un- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verantwortlich. DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hans- [FDP]: Ich lach mich kaputt, Sie und Wahrheit!) Michael Goldmann [FDP]: Eine Sauerei ist – Ich will auf Sie nicht weiter eingehen, weil Ihre Laut- das!) stärke in einem merkwürdigen Missverhältnis zu Ihren In- Im schlimmsten Fall geht das Tier ein, weil das neue Tier- halten steht. arzneimittelgesetz eine Notfallbehandlung in telefoni- Ich bleibe dabei: Wir werden diese Aufgabe nur be- scher Absprache mit dem Tierarzt nicht zulässt. wältigen können, wenn wir zu einer großen solidarischen Frau Künast, in Österreich gibt es hierzu eine Neure- Gemeinschaftsanstrengung fähig werden. Mindestvoraus- gelung, die seit 1. Oktober gilt. Diesen Weg sollten wir in setzung einer solchen Gemeinschaftsanstrengung ist, die Deutschland gemeinsam beschreiten, auch im Interesse Wahrheit zu sagen. Das ist der entscheidende Unterschied des Tierschutzes. zwischen uns. Wer Lebensqualität und Nachhaltigkeit fördern will, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE der muss der Landwirtschaft einen entsprechenden Stel- GRÜNEN – Beifall bei der CDU/CSU) lenwert einräumen und Perspektiven für die Zukunft auf- zeigen. Die Grundlagen, die wir schaffen, sind ziemlich klar. Wir versuchen, die Handlungsfähigkeit der Politik zu stär- ken. Bei Ihnen hört man immer nur: Steuern senken, Staat Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: weg und damit ist alles gelöst. Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit. (Zuruf von der FDP: Richtig!) Lesen Sie dazu nur einmal bei Ludwig Erhard, den Sie Albert Deß (CDU/CSU): ja sonst immer so hoch halten, nach, Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin. – Mit (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Müller und (B) den im Koalitionsvertrag vorgesehenen Maßnahmen und Erhard, das ist wie Feuer und Wasser!) (D) den jetzigen Haushaltsansätzen werden diese Ziele nicht erreicht. CDU und CSU haben die besseren Alternativen was er beispielsweise zu dem Verhältnis zwischen Indivi- dualrechten von Verbrauchern und der Wirtschaft (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ schreibt. Erhard kommt zu der völlig logischen Schluss- DIE GRÜNEN]: Die hätten wir gerne mal folgerung, dass Individualrechte gegen starke Wirt- gehört!) schaftsmacht keine Chance haben, wenn es nicht auch und diese werden wir in die Beratungen einbringen. eine öffentliche Absicherung, eine staatliche Unterstüt- zung gibt. So steht es bei Erhard. Lesen Sie das einmal! (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Sie kennen so etwas ja gar nicht. [Salzgitter] [SPD]: In vier Jahren!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der Abgeordnete Michael Müller. Er ist Ich möchte Ihnen ein zweites Beispiel von Erhard nen- der letzte Redner in der Debatte. nen. Auf Seite 175 seines Buches „Wohlstand für alle“ heißt es: Es katastropht von morgens bis abends, aber die Katastrophe finde ich nicht. Damit hat er damals all die- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): jenigen Wirtschaftsverbände beschrieben, die nicht in der Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Etat- Lage waren, die notwendigen Reformen in Richtung so- debatten sollen immer auch Grundlinien aufgezeigt wer- ziale Marktwirtschaft durchzuführen. Die heutige Situa- den. Ganz egal wie man einzelne Redebeiträge bewertet, tion ist eine fatale Parallele dazu. ein Unterschied ist auf jeden Fall ziemlich deutlich gewor- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den: Rot-Grün ist dabei, unter sehr schwierigen Bedingun- DIE GRÜNEN) gen, die mit den Stichworten knappe Kassen, Globalisie- rung und EU-Erweiterung beschrieben werden können, Überlegen Sie einmal, wer damals am Ende gewonnen den Prozess der Erneuerung zu betreiben. Sie machen et- hat! was anderes: Sie streuen den Menschen Sand in die Augen Zu Ludwig Erhard will ich Ihnen noch einen Satz sa- und tun damit so, als ob alles so weitergehen könnte wie gen. Bei Ludwig Erhard steht unter anderem auch, es sei bisher. Das ist der zentrale Unterschied zwischen uns. richtig, dass die soziale Marktwirtschaft auch gegen die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kräfte der Gewerkschaften verteidigt werden müsse. Da- DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann nach heißt es, das dürfe aber nicht darüber hinwegtäu- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 867

Michael Müller (Düsseldorf) (A) schen, dass die Wirtschaftsverbände noch sehr viel weni- Landwirtschaft und Verbraucherpolitik machen, sehr(C) ger Interesse an einer sozialen Wettbewerbsordnung hät- wohl etwas, was unter dem Stichwort Nachhaltigkeit ten. So steht es bei Ludwig Erhard. Lesen Sie das doch steht. Ich will das verdeutlichen. einmal, meine Damen und Herren! Wir werden einen Schritt vom Verbraucherschutz zur (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verbraucherpolitik machen. Das ist ein qualitativer DIE GRÜNEN) Sprung. Er ist übrigens unter den Bedingungen der Glo- balisierung wichtiger denn je. Denn wir stehen vor der Al- Sie haben nämlich eine sehr einseitige Sicht in diesen Fra- ternative: Entweder wird unser Land in einen Dumping- gen. Wettbewerb hineingezwungen oder wir haben bewusste Ich glaube, wir sind in einer viel zu schwierigen Zeit, Verbraucher, bewusste Bürgerinnen und Bürger, die bereit um eine derartige destruktive bis obstruktive Politik auf sind, diesen Prozess auch unter schwierigen Bedingungen Dauer akzeptieren zu können. Dafür ist das, was im Au- mitzugestalten. Deshalb gehört beispielsweise zur Ant- genblick in unserem Land und in der Welt passiert, zu wort auf die Globalisierung eine Stärkung der Verbrau- ernst. Es besteht ein krasses Missverhältnis zwischen dem cherpolitik, eine Stärkung des mündigen Bürgers. Ernst der Lage und der Art Ihrer Politik. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Wer unter globalen Bedingungen Verbraucherpolitik Wir können keinen Dauerwahlkampf führen. Das müssen nur auf der Angebotsseite sieht, hat die Herausforderung Sie einmal lernen. Ich kann ja verstehen, was Sie machen. nicht begriffen. Deshalb heißt Verbraucherpolitik für uns Aber Sie müssen sich auch einmal nach Ihrer Verantwor- vor allem: Wir wollen einen Verbraucherschutz erreichen, tung fragen, danach, ob es dieses Land verdient hat, dass der den Bürger fähig macht, sich beispielsweise für so- man einen permanenten demagogischen Wahlkampf führt ziale und ökologische Standards einzusetzen, auch wenn oder ob man sich konstruktiv mit inhaltlichen Fragen aus- es nicht so einfach ist, sich dafür einzusetzen, dass diese einander setzt. qualitativen Sprünge nach vorn möglich werden. Dafür soll eine Legitimation geschaffen werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Bartholomäus Kalb [CDU/ Das ist auch ein großes Interesse von uns, weil dieser CSU]: Unerträgliche Arroganz! Schulmeister!) Punkt, die ökologische Modernisierung und die Innova- tion auf dem Feld der Nachhaltigkeit, die große Chance Meine Damen und Herren, wir sind heute in einer Si- für Europa beinhaltet, eine führende Rolle in der Welt zu tuation, wo es vor allem um drei Fragen geht. Erstens. Wie spielen. Diese Chance wollen wir nutzen. Wir wollen uns (B) bewahren wir die öffentlichen, die kollektiven Güter, zu nicht nur anpassen. Das ist der zentrale Unterschied in Ih- (D) denen die Umwelt, die Bildung und vieles mehr gehören? rer und unserer Politik. Zweitens. Wie schaffen wir für alle wieder mehr Chan- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Deshalb ha- cen? Jede gesellschaftliche Analyse zeigt, dass die Leis- ben wir auch einen Spitzenplatz in Europa!) tungsfähigkeit und die Innovationsfähigkeit jener Gesell- Meine Damen und Herren, es ist im wohlverstandenen schaften schwinden, die zunehmend ungleich werden. Interesse jeder funktionierenden Ökonomie und jedes Das ist die Wahrheit. Umso wichtiger ist es, beispiels- funktionierenden Wettbewerbs, den Verbraucher zu stär- weise eine Politik zu machen, die über die Reformpolitik, ken. Eine Reihe von Elementen, die dafür erforderlich die ökologische Modernisierung, die Erneuerung der So- sind, haben wir schon genannt. Wir werden in dieser zialsysteme wieder mehr Gerechtigkeit schafft. Legislaturperiode ein Aktionsprogramm „Verbraucherpo- (Peter H. Carstensen [Nordstrand] litik“ auflegen. Wir werden deutlich machen, dass wir in [CDU/CSU]: Alles Sprüche!) der Verbraucherpolitik an der Reformdiskussion der 70er-Jahre anknüpfen werden. Dies ist ein wichtiger Zu all diesen Problemen hören wir von Ihnen keinen Bei- Schritt nach vorn. trag. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Drittens. Wie schaffen wir es, unter einer Leitidee In- DIE GRÜNEN) novationen voranzubringen? Die große Leitidee heißt bei uns Nachhaltigkeit. Wir werden auch Nachhaltigkeit Lassen Sie mich noch kurz etwas zur Landwirtschaft sa- schaffen. Aber Nachhaltigkeit – das muss jeder wissen – gen: Es ist für uns wichtig, deutlich zu machen, dass wir bedeutet nicht, dass wir das, was wir bisher gemacht ha- über die Ausweitung in Richtung einer multifunktionalen ben, einfach nur fortführen. Es bedeutet vielmehr einen Landwirtschaft wieder mehr Unabhängigkeit und mehr Si- tief greifenden Umbau, und zu diesem Umbau sind wir cherheit für die Landwirtschaft erreichen wollen. Die Al- bereit. Es ist ein schwerer Weg, aber wir werden ihn ge- ternativen sind relativ klar: Entweder man verharrt im Sta- hen. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen uns. tus quo mit allen Risiken, die von der EU-Osterweiterung über die WTO-Verhandlungen bis hin beispielsweise zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den ökologischen Schäden auf uns zukommen, oder man DIE GRÜNEN) geht den Weg der Reformen. Es gibt keinen dritten Weg. Es ist falsch, zu glauben, mit ebenso einfachen wie (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wer verharrt falschen Formeln könnten Sie sich dieser Herausforde- denn im Status quo? Welcher landwirtschaft- rung entziehen. Deshalb ist auch das, was Sie im Bereich liche Betrieb verharrt im Status quo?) 868 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002

Michael Müller (Düsseldorf) (A) Wir haben uns für den Weg der Reformen entschieden. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs(C) Wir werden ihn auch gehen. auf Drucksache 15/108 an die in der Tagesordnung auf- Es gibt eben für sich selbst auch nur zwei Möglichkei- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere Vor- ten: Entweder man nimmt sich ernst und ist zum Denken schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei- und damit auch zu Innovationen fähig oder man verharrt sung so beschlossen. dort, wo man ist, nämlich in einem Stimmungspopulis- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- mus, der unserem Land überhaupt nicht dient. nung. Vielen Dank. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tages auf morgen, Mittwoch, den 4. Dezember 2002, DIE GRÜNEN) 9 Uhr, ein.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Sitzung ist geschlossen. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. (Schluss: 21.57 Uhr) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 12. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 3. Dezember 2002 869

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich Adam, Ulrich CDU/CSU 03.12.2002* Kubicki, Wolfgang FDP 03.12.2002 Borchert, Jochen CDU/CSU 03.12.2002 Lintner, Eduard CDU/CSU 03.12.2002* Bury, Hans Martin SPD 03.12.2002 Dr. Lucyga, Christine SPD 03.12.2002* Büttner (Schönebeck), CDU/CSU 03.12.2002 Möllemann, Jürgen W. FDP 03.12.2002 Hartmut Dr. Pinkwart, Andreas FDP 03.12.2002

Dr. Däubler-Gmelin, SPD 03.12.2002 ** Herta Rauber, Helmut CDU/CSU 03.12.2002 Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 03.12.2002 Schild, Horst SPD 03.12.2002 Gradistanac, Renate SPD 03.12.2002 Dr. Stadler, Max FDP 03.12.2002 Gröhe, Hermann CDU/CSU 03.12.2002 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 03.12.2002 Großmann, Achim SPD 03.12.2002 Hörster, Joachim CDU/CSU 03.12.2002* * für die Teilnahme an den Sitzungen der Westeuropäischen Union ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Hofbauer, Klaus CDU/CSU 03.12.2002 sammlung des OSZE

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