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MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Titel, Grosny, Umwelt

a “Bedingt angriffsbereit“ – zumindest die älteren Leser wird diese Titelzeile an eine andere erin- nern, die bundesdeutsche Geschichte machte: “Be- dingt abwehrbereit“ stand über dem Titel des SPIE- GEL 41/1962, Anlaß für eine absurde Polizei- und Justizaktion gegen das Blatt – die SPIEGEL-Affäre. Der Vorwurf des Landesverrats, der damals nach Festnahme von sieben SPIEGEL-Redakteuren und der Besetzung der Redaktion erhoben wurde, erwies sich als unsinnig, eine Bonner Regierung brach ausein- ander. Um die Bedingtheit geht es nun wieder – doch nicht mehr um Abwehr. Diesmal steht zur De- batte, ob deutsche Soldaten – für Uno und Nato – demnächst selbst angreifen müssen. Der Fotomontage auf diesem Heft diente das Denkmal, das einer Aufnahme von der Erstürmung der japanischen Insel Iwo Jima durch US-Ledernacken 1945 nachempfunden wurde. Es steht bei Washington und soll an die oft opferreichen Einsätze von Marine-Infanteristen in aller Welt erinnern – in Korea und Tripolis oder gegen die Spanier auf Kuba 1898.

a So ganz falsch liegen die Russen nicht mit ihrer Behauptung, der Abwehrkampf der Tschetschenen werde von auswärtigen “Söldnern“ unterstützt. SPIEGEL- Korrespondentin Martina Helmerich aus Kiew beglei- tete eine Gruppe ukrainischer Freischärler bis hinein in das immer noch umkämpfte Grosny. Über Aserbaidschan und die Republik Dagestan wurde die Truppe je- weils von einheimischen Hel- fern ins Kriegsgebiet ge- schleust. Geld wollten nur die Leute vom Stamm der Lesginen, die den Grenzfluß Samur kon- trollieren: Für 50 Dollar pro Kopf wurden die Kämpfer durch das Gewässer gebracht, Martina Helmerich auf den Schultern eines lesginischen Führers KLIMENKA Helmerich (Seite 123).

a Ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit in Deutschland die ersten Umrisse einer Öko-Bewegung sichtbar wurden, und inzwischen ist das Umweltbe- wußtsein wenigstens verbal eine feste Größe in Po- litik und Gesellschaft. Aber was wurde wirklich erreicht für das Land und den Planeten in diesen 25 Jahren? Antworten darauf geben in der neuen Ausgabe des Monatsmagazins SPIEGEL special Experten in 71 Beiträgen: “Öko-Bilanz ’95“. Das Heft ist vom Dienstag dieser Woche an im Handel.

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TITEL INHALT Bundeswehr in alle Welt? ...... 68 Die gescheiterte Uno-Mission auf dem Balkan ...72 Interview mit dem Sozialwissenschaftler Brandt-Notizen verunsichern SPD Seiten 21, 23 Bernhard Fleckenstein über den Kampfgeist ...... 75 Wie eine Spezialtruppe den Einsatz übt ...... 76 war sich stets sicher: Wienand war KOMMENTAR „kein KGB-Mann“. Im Rudolf Augstein: Der Papst und ich ...... 32 SPIEGEL-Gespräch weist der SPD-Politiker jeden Verdacht der „Kollabo- SPIEGEL-ESSAY ration“ mit dem Osten Györgi Dalos: Deutscher Abschied ...... 45 von sich. Doch warum schwiegen Vogel, Rau DEUTSCHLAND und Bahr jahrelang über den Verdacht, den Panorama ...... 16 Brandt in seinem Ver- Katastrophen: Die große Flut – künftig merk niederlegte? Die jedes Jahr? ...... 18 Brandt-Notizen verunsi- DPA SPD: Wer versteckte Brandts Notizen? ...... 21 chern die Genossen. Bahr, Vogel SPIEGEL-Gespräch mit Egon Bahr über Geheimdiplomatie und die Affäre Wienand ...... 23 Abschiebung: Auswärtiges Amt warnt vor Folterpraxis in der Türkei ...... 25 Seite 36 Interview mit Bayerns Innenminister Herzogs kluges Schweigen Günther Beckstein über Asyl für Kurden ...... 26 Es war die bislang Justiz: Das Fernsehen will in deutsche Gerichtssäle ...... 28 schwierigste Auslands- Umwelt: Bonner Blamage bei Berliner reise von Bundespräsi- Klimagipfel? ...... 31 dent Roman Herzog. Bei Gesundheitspolitik: Interview mit Minister den Gedenkfeiern in über die Rinderseuche BSE ...... 33 Auschwitz drohte er in Affären: Tropenmediziner Dietrich den Streit zwischen Po- rehabilitiert – und gefeuert ...... 34 len und Juden zu gera- Auschwitz: Der Bundespräsident am Tatort ten. Herzog verschaffte der Deutschen ...... 36 sich vor allem bei den SPIEGEL-Gespräch mit dem Historiker Juden Respekt – nicht Wolfgang Benz über Antisemitismus durch große Reden wie in der deutschen Gesellschaft ...... 39 sein Vorgänger, sondern

Sozialdemokraten: Das Duell AP durch kluges Schwei- Ingrid Stahmer gegen Walter Momper ...... 50 Besucher der Auschwitz-Gedenkfeier gen. Kirche: Rätsel um den -Agenten Detlef Hammer ...... 54 Sekten: Wo sind die Millionen der Siemens-Erbin? ...... 58 Feminismus: Krach um den Wider die Macht der Banken Seite 80 Kölner Frauenturm ...... 62 Forum ...... 65 Das deutsche Kreditgewerbe hat einen in der Welt einzigartigen Einfluß – zum Nachteil von Aktionären und Unternehmen. Nun wol- WIRTSCHAFT len Politiker aller Parteien die Macht der Banken beschränken. Banken: Die Macht des Kreditgewerbes soll begrenzt werden ...... 80 Arbeitszeit: Streit um die Vier-Tage-Woche ...... 82 Samstagsarbeit in Regensburg ...... 83 Konzerne: Koreaner kaufen deutsche Firmen .....85 BSE-Rinder im „rechtsfreien Raum“ Seite 33 Trends ...... 86 Arbeitslose: Ein Verein verspricht Im Streit um die richtigen finanzielle Sicherheiten ...... 90 Vorschriften gegen die Ein- Beamte: Bahn-Chef Heinz Dürr über fuhr BSE-verseuchter Rinder die Reform der staatlichen Verwaltung ...... 92 blockieren sich Bund, Län- der und Brüsseler EU-Behör- GESELLSCHAFT den gegenseitig. Gesund- heitsminister Horst Seeho- Spectrum ...... 100 fer warnt im SPIEGEL-Inter- Mythen: Los Angeles, Hauptstadt des 20. Jahrhunderts ...... 102 view vor einem „rechtsfrei- Fotografie: Die Szene-Bilder des Deutschen en Raum“, den „gewinn- Wolfgang Tillmans ...... 106 süchtige Menschen“ für ge- Fernsehen: Kampf ums Kinderzimmer ...... 110 fährliche Fleischimporte

Arbeit: Chefs ekeln Mitarbeiter aus Großbritannien ausnut- M. ZINS per „Bossing“ raus ...... 111 zen können. Seehofer Feiertage: Baden-Württemberger kämpfen um den Pfingstmontag ...... 113

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AUSLAND Nahost: Rabins Eiserner Vorhang ...... 114 Palästinenser: Jürgen Hogrefe über den Todeskult des Islamischen Dschihad ...... 116 Seiten 114, 116 Israels langer Grenzzaun Interview mit PLO-Chef Jassir Arafat über den gefährdeten Friedensprozeß ...... 117 Ihren Beitritt unter- Japan: Tiziano Terzani über die Bewältigung schreiben sie mit ihrem der Katastrophe von Kobe ...... 118 eigenen Blut – die Mär- Deutsche Firmen nach dem Erdbeben ...... 120 tyrer der Terrororganisa- Türkei: Solidarität der Intellektuellen tion Islamischer Dschi- mit Yas¸ar Kemal ...... 122 had opfern sich im Tschetschenien: Martina Helmerich bei Kampf gegen Israel. Mi- den Verteidigern von Grosny ...... 123 nisterpräsident Rabin Rußland: Jelzins Raketenalarm ...... 125 will sein Land mit einem Panorama Ausland ...... 126 Grenzzaun gegen den USA: Matthias Matussek über Terror abschotten. PLO- die amerikanischen Bürgermilizen ...... 128 Chef Arafat sagt den- Tschechien: Korruption im Musterland noch in einem SPIEGEL- der Reformen ...... 134 Indien: Hoffen auf die Gandhi-Witwe ...... 136

Interview: „Ich möchte AP Optimist bleiben.“ Israelische Terroropfer in Netanja WISSENSCHAFT Prisma ...... 138 Archäologie: Wissenschaftler bestaunen USA: Aufstand der Waffenfreaks Seite 128 neuentdeckte Höhlenmalereien ...... 140 Medizin: Entstehung von Hautkrebs Für den Kampf gegen aufgeklärt ...... 142 den eigenen Staat trai- Tiere: Der Welt größtes Versandhaus nieren Bürgerwehren in für Labormäuse ...... 144 den USA. Militante Mili- zionäre schimpfen auf TECHNIK Steuern, Sozialabga- Computer: Maschinenbau-Software ben, Umweltgesetze. Sie nach dem Vorbild der Natur ...... 146 wehren sich gegen die angeblich wachsende Bevormundung durch die KULTUR Politiker in Washington – Geschichte: Christian Meier über deutschen und sie hassen den Prä- Nationalstolz nach dem Holocaust ...... 150 sidenten in der Bundes- Szene ...... 155

R. HESTOFT / SABA hauptstadt, gleich wie er Ausstellungen: Interview mit Freizeitsoldaten heißt. Christoph Vitali über die Pervertierung der Romantik durch die Nazis ...... 156 Bücher: Eva Demski über die Biographie der Anarchistin „Boxcar“ Bertha ...... 159 Mäusezucht am Fließband Seite 144 Bestseller ...... 160 Krimis: Der spektakuläre Thriller Herz- oder zuckerkranke, „Die Geschworene“ ...... 162 fettsüchtige oder haarlose Esoterik: Etikettenschwindel bei Mäuse – Versuchsnager für der Potsdamer „Friedensuniversität“? ...... 164 Verlage: Urheberrechtsstreit um jeden Forschungszweck pro- Hitlers „Mein Kampf“ ...... 165 duziert im US-Staat Maine Komponisten: Konzert-Marathon mit Werken die größte Mäusezuchtan- von Allan Pettersson ...... 167 stalt der Welt. Rund 1700 Film: „Nightwatch – Nachtwache“ verschiedene Mäusestäm- von Ole Bornedal ...... 170 me gehen von dort in alle Presse: Dauerkrise bei der taz ...... 174 Welt: Ausbruch und Verlauf Fernsehen: Komiker-Ötzi Otto als Serienheld .. 176 von Krankheiten, die den Pop: Die „Kelly Family“ verblüfft Menschen plagen, lassen die deutsche Musikbranche ...... 178

sich am Testtier Maus be- N. FEANNY / SABA Fernseh-Vorausschau ...... 190 sonders gut studieren. Versuchsmäuse SPORT Olympia: Teure Geschenke aus Berlin für IOC-Mitglieder ...... 180 Schach: Das Kamsky-Duo verbreitet Eine Vase für Olympia Seite 180 Angst und Schrecken ...... 182 Die Marotten der Großmeister ...... 184 Bestechlichkeit, entrüstet sich IOC-Präsident Juan Antonio Sa- maranch gern, sei den Olympiern fremd. Doch seine Frau Maria Briefe ...... 7 Teresa mahnte in Berlin mehrfach die Lieferung einer Vase an. Impressum ...... 14 Personalien ...... 186 Register ...... 188 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 194

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Werbeseite BRIEFE Röhrende Platzhirsche die EU geben derzeit mehr Geld für Projekte zur Behörden-Vernetzung aus (Nr. 3/1995, Beschäftigung: Wo entste- als die US-Regierung für den Informa- hen die Arbeitsplätze von morgen? tion-Highway. Das Resultat werden Reden wir uns nicht die Zukunft schön hierbei keine Produkte und Arbeits- und machen wir uns nicht – völlig unbe- plätze, sondern weitere Rationalisie- gründet – selber froh mit so unhaltbaren rungsmöglichkeiten in der Verwaltung Prognosen, die Millionen und Abermil- sein. lionen wegrationalisierter Arbeitsplätze Bonn UTE BERNHARDT würden mehr als kompensiert durch INGO RUHMANN (Billig-)Jobs in High-Tech-Branchen und Dienstleistung, in Entwicklung, Be- Bei der Diskussion um die Zukunft ratung, Service, Nachsorge? Deutschlands wird der zweite Schritt Hanhofen (Rhld.-Pf.) REINER SPIESS oft vor dem ersten gemacht. Es genügt nicht, in einem Technologierat beson- Die Vernichtung von Arbeitsplätzen ist ders chancenreiche Branchen und For- ja nur zum Teil durch neue Technik be- schungsgebiete zu benennen und dafür stimmt. Ein großer Teil ist hausge- Förderstrategien festzulegen. Wo macht: durch die Verlegung der Ferti- bleibt die Grundlage für die Umset- gung in Billiglohnländer. Immer mehr zung dieser Perspektiven, nämlich die Arbeitskräfte werden dadurch freige- qualifizierte Ausbildung unserer Kin- setzt, die als Käufer der billiger erzeug- der und Jugendlichen? ten Waren ausfallen, und nicht nur der Mainz DR. PETER HENNES einzelne verliert seinen Arbeitsplatz, Bundeselternrat auch das Finanzamt und die Sozialversi- cherungen erleiden Verluste. Wenn es auch richtig ist, daß die klas- Feucht (Bayern) HORST SIMON sischen Bergbauzweige Steinkohle und

Die Tageszeitung

Die Kaufleute machen es sich zu ein- Kali vor großen Problemen stehen und fach: Alle Kosten, also auch die dort ein Rückgang der Beschäftigten in Werksbibliothek, der Schneeräum- den nächsten Jahren zu erwarten sein dienst und die Fensterputzer, werden wird, so gibt es doch andere Bergbau- auf die Arbeitsstunde umgelegt, die zweige wie die Braunkohlenindustrie, dann sehr teuer ist. Gleichzeitig haben bei denen eine langfristig positive Pro- selbst Führungskräfte kaum eine Chan- gnose besteht, insbesondere nach der ce, die gewaltigen Fixkosten zu beein- Privatisierung der Braunkohlengesell- flussen. Hier müssen neue Kostenmo- schaften in Mittel- und Ostdeutsch- delle umgesetzt werden, auch wenn die land. Von größerer Bedeutung ist je- Platzhirsche röhren. doch die Steine- und Erden-Industrie, Herzogenaurach (Bayern) RAINER KUTH eine Wachstumsbranche, die auch in Zukunft zahlreiche Bergingenieure be- Vielleicht sollten die Bedürfnisse der schäftigen wird. Bürger mal im Mittelpunkt stehen. Ein Clausthal-Zellerfeld (Nieders.) Beispiel ist die vielbeschworene „Info- PROF. WERNER VOGT bahn“: Allein die Bundesrepublik und Technische Universität Clausthal

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BRIEFE Athenai statt Athen fessor Dr. Felix Ermacora, der die Ver- brechen der Tschechen an der sudeten- (Nr. 2/1995, Prag/Bonn: Alt-neue Res- deutschen Volksgruppe als „unverjähr- sentiments zwischen Deutschen und baren Akt des Völkermordes“ beschrie- Tschechen) ben hat, ist dies bezeichnend für eine Kein Wunder, daß viele Tschechen, vor desinteressierte Haltung, die auch die allem im westlichen und nördlichen Bundesregierung und Opposition ein- Grenzgebiet, infolge der Ausschreitun- nehmen. gen der deutschen Besucher links- oder Würzburg ERHARD F. MAYER rechtsradikal eingestellt werden, so daß die kommunistischen und republikani- schen Parteien an die Saiten ihrer deutschfeindlichen Gefühle anschlagen. Brutaler Quälgeist Prag DR. JAROSLAV POSPI´SˇIL (Nr. 3/1995, Titel: Das Geheimnis der „Landshut“-Entführung) Schon vor und nach der Wende war ich mit Gymnasiasten in verschiedenen Als Betroffener der damaligen Entfüh- preiswerten Hotels in Prag. In allen fie- rung (Kopilot) bricht es mir fast das len uns randalierende, grölende, saufen- Herz, wenn ich Ihr Interview mit der de Deutsche auf, damals noch Bayern, Terroristin Sayeh lese. Dieser brutale keine Sachsen. Beschwerden bei der Quälgeist für Passagiere und Besatzung Hotelleitung wurden abgewimmelt, da war natürlich naiv, so jung und ideali- man die devisenbringenden Gäste nicht stisch, wußte von nichts, war für nichts vertreiben wolle. Alle Beteiligten, verantwortlich, war selbstverständlich EPD-BILD KRAUSE / Besucher auf der Prager Karlsbrücke: Beschwerden bei der Hotelleitung

Ober, Hotelleitung, Polizei schauten gegen Kapitän Schumanns Ermordung weg. Ein erbärmliches Schauspiel. und kann sich an vieles nicht erinnern Berlin HOLGER THOMSEN und appelliert an unser Mitgefühl. Ar- mes Hascherl! Sayeh denkt nur an sich, Sie schreiben tadelnd, daß „Cheb“ von an ihr Leid. Und was ist mit den ande- den Deutschen hartnäckig „Eger“ ge- ren Opfern der Entführung, was mit der nannt werde. Darf ich mir die Frage er- Witwe Schumann und den halbwaisen lauben, warum in Ihrem Magazin stets Kindern? so hartnäckig Athenai als Athen, Bru- Quickborn (Schlesw.-Holst.) JÜRGEN VIETOR xelles als Brüssel, Lisboa als Lissabon, Venezia als Venedig, Praha als Prag, Siebzehn Jahre danach – und die Mord- Warszawa als Warschau, um nur einige komplizin Souhaila Sayeh findet immer Beispiele zu nennen, bezeichnet wer- noch kein Wort der Verzeihung für die den? Opfer. Bonn KARL-CHRISTIAN BOENKE Düsseldorf PETER H. JAMIN

Wenn Sie zwar den Mob der „sächsi- Sie bezeichnen die GSG-9-Aktion in schen Kampftrinker“ erwähnen, nicht Mogadischu als einen „vollen Erfolg“ aber das international anerkannte Gut- und schreiben von einem „glücklichen achten des Wiener Völkerrechtlers Pro- Ende“. Was bitte ist daran glücklich,

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BRIEFE

wenn drei Menschen bei der Aktion gibt übrigens nur ein Mittel gegen die sterben? Die Tatsache, daß es sich bei beklagte „Opferidentität“: Besinnung den Todesopfern um die Terroristen auf ein positives Judentum. handelt? Eine solche Darstellung halte Frankfurt am Main PETRA KUNIK ich für zynisch und schon deshalb für be- ANDREW STEIMAN denklich, weil sie veraltete Moralvor- Ich bin fest davon überzeugt, daß ein stellungen vermittelt. Holocaust-Memorial den Menschen in Breklum (Schlesw.-Holst.) INGO THIES Deutschland Ereignisse und Zusam- menhänge jener Zeit besser verständlich machen könnte, sie sensibilisieren wür- Leidenschaftliche Debatte de für erste Anzeichen von Rassenhaß (Nr. 3/1995, Gedenkstätten: Rafael Se- und Menschenverachtung im eigenen ligmann über ein deutsches Holocaust- Inneren. Denn damit fing ja alles an. Memorial) Jena STEFFI GROSSERT An die Orte des Grauens zu erinnern

reicht nicht aus, darum ist eine Gedenk- Nur ein Nebenaspekt D. BALTZER / SEQUENZ stätte an den Stätten der Täter genauso (Nr. 3/1995, Prisma: Nebenwirkungen: Theaterregisseur Castorf wichtig. Ein Streit darüber wäre beschä- Zweifelhafter Freispruch) Warum diese Aufregung? mend und eine schallende Ohrfeige in die Gesichter der Opfer. Ihre Meldung greift einen Nebenaspekt für seine Selbststilisierung als tragische Hildesheim FRANK BRANDENBURG über das Präparat Diane 35 heraus, ohne Märtyrergestalt die antike Größe fehlt. die Hauptsache auch nur zu erwähnen, Fazit: Dichter sind noch keine Denker. Meinen Sie ernsthaft, daß Menschen daß nämlich der Ausschuß für Arzneimit- Berlin AXEL GELFERT durch unentwegtes Mahnen und dauern- telspezialitäten der EU keinen Krebsver- de (Selbst-)Anklage besser werden? dacht für cyprateronacetathaltige Medi- Was waren wir Normalbürger doch München DR. WOLFGANG SCHLAGE kamente sieht. Sie können dies natürlich dumm. Da glaubten wir in unseren als „Freispruch“ bezeichnen – was daran staatlich subventionierten Biotopen eine Geht es Seligmann um den Hochgenuß, zweifelhaft sein soll, bleibt uns unklar. besondere Art von Fabelwesen heran- den nichtjüdischen Deutschen innerjü- Berlin DR. MONIKA KLUTZ-SPECHT züchten zu können, auf die eine kulti- disch deutsche Querelen zu vermitteln? Schering vierte Zivilisation nicht verzichten kann: scharfzüngige, adleräugige, hellsichtige Beobachter und Kommentatoren, dem Wahren, Guten, Schönen verpflichtete Mahner und Visionäre. Was aber haben wir statt dessen an unserem Busen ge- nährt: fette Lemminge. Minden JÖRG BÜSCHING

Flach und zusammenhanglos werden hier die unzeitgemäßen Betrachtungen freier Denker und Künstler in das Schubladendenken des Kleingeistes ge- preßt und unter den verschlissenen Deckmantel „linken Wahrheitsan- spruchs“ gepackt. Düsseldorf DIRK SCHREIBER

Geht es in den Auseinandersetzungen tatsächlich in erster Linie um intellektu- elle Positionsbestimmungen oder nicht viel eher um höchst persönliches Ge-

TRIPETT / SIPA-PRESS spreize, um sehr viel Selbstgerechtigkeit Holocaust-Museum in Washington: Schallende Ohrfeige und schiere Lust am Skandal? Frankfurt am Main WOLFGANG HAFER Wir verstehen jüdische Tradition eigent- Fette Lemminge genährt lich im „Klären“. Da wird nachgedacht, dann um Argumente gerungen. Da (Nr. 3/1995, Intellektuelle: Linke, die Bei sachgemäßer Anwendung kann leidenschaftlich debattiert, ja, ge- rechts pöbeln – Castorf & Co.) stritten werden, aber nicht, um sich in (Nr. 2/1995, Umwelt: Wasserwerke for- Warum nur diese Aufregung? Castorf: der Öffentlichkeit zu zerstreiten und zu dern Pestizidverbote) beleidigen. Jede jüdische Stimme zum ein Möchtegern-Revoluzzer, der auf der zentralen Holocaust-Museum muß ge- Bühne und im Feuilleton gleichermaßen Konzernsprecher Heiner Springer wird hört werden. Auch wir diskutieren kon- kleinkindhaft-quengelnd in die Fett- bei Ihnen leider unvollständig zitiert. trovers über den Stellenwert einer zen- näpfchen stampft, um den „Spießern“ Seine Feststellung, daß Diuron „in der tralen Gedenkstätte an die Schoah, eins auszuwischen. Hrdlicka: ein starr- obersten Bodenschicht gebunden und doch haben wir uns noch nie auf die sinniger Greis, der den Sturz in die Be- abgebaut“ wird, ist zwar richtig wieder- Gefahr, eine „Opferidentität“ anzuneh- deutungslosigkeit durch publizierte Vul- gegeben, das Zitat geht aber weiter mit men, aufmerksam gemacht oder als garität verhindern möchte. Botho der wichtigen Bemerkung: „ . . . so daß „jüdischen Flakhelfer“ beschimpft. Es Strauß: ein mimosenhaftes Wesen, dem es bei sachgemäßer Anwendung nicht

12 DER SPIEGEL 5/1995 mit dem Regenwasser ins Grundwasser gelangen kann“. Das wird übrigens in einem Beschluß des Bundesrates vom 16. Dezember 1994 mit Hinweis auf Stu- dien der Biologischen Bundesanstalt in Braunschweig ausdrücklich nicht in Fra- ge gestellt. In dieser Entschließung wird auch kein Anwendungsverbot von Diuron in Einzugsgebieten von Wasser- werken gefordert. Nach einer erneuten Bewertung durch die Behörden wurde Diuron im Dezember 1994 – auch für den Einsatz in Wasserschutzgebieten – wiederzugelassen. Leverkusen WOLFGANG VAN LOON Bayer AG

Kosmetische Operation (Nr. 3/1995, Schweiz: Aufräumen in der Zürcher Drogenszene) Die Räumung der offenen Drogensze- ne „Letten“ in Zürich ist zwar längst überfällig. Aber letzten Endes wird es nur auf eine „kosmetische“ Operation hinauslaufen. Denn als Folge der ge- planten anschließenden rigorosen Ver- treibungs- und Vergällungsaktionen werden die desperaten, außer zum Entzug zu allem bereiten, schwerst Suchtkranken an ihre Herkunftsorte zurückkehren. Dort ist man nicht „gerüstet“ für die zu erwartenden Kämpfe der etablierten Dealer mit den offensiven, neu in diesen Markt ein- dringenden mafiosen Dealerbanden. Winterthur (Schweiz) RICHARD RUTISHAUSER

Extrem ungiftig (Nr. 3/1995, Medikamente: Alters- schwachsinn durch Psycho-Pillen) In meiner sechsjährigen Berufspraxis als Altenpfleger kann ich mich an keinen einzigen Fall erinnern, wo Psychophar- maka – so wie es für eine gesicherte Dia- gnose erforderlich wäre – von einem Neurologen oder Psychiater verordnet wurden, sondern in der Regel werden sie von den behandelnden Hausärzten verschrieben. Esslingen JOACHIM SPAHR

Ich habe mehrmals erlebt, daß Patien- ten, die jahrelang „Benzos“ nahmen, bei einem Krankenhausaufenthalt durch einen Unfall oder eine Operation mit Gewalt von ihrer „Sucht“ abgebracht werden sollten, indem sie unter Inkauf- nahme schwerer Entzugserscheinungen mit Neuroleptika als Ersatz „versorgt“ wurden. Die Diazeptin-Sucht ist zwar ein Problem, aber dennoch sind die „Benzos“ verglichen mit anderen Psy- chopharmaka extrem ungiftig. Witten DR. RONALD KROCZEK

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BRIEFE MNO Einfach nervtötende Kritik 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 CompuServe: 74431,736 . Internet: http://www.spiegel.de/spiegel (Nr. 3/1995, Singapur: Erich Wiedemann über Moral und Demokratie im südost- HERAUSGEBER: Rudolf Augstein (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Tele- asiatischen Musterstaat) CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust fax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, Wir waren erst kürzlich für ein paar Ta- Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washington: Karl- ge in Singapur und haben uns sehr wohl REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National helm Bittorf, Peter Bölke, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) gefühlt. Keine Spur von Polizeistaat, le- Werner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, 347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schön- diglich beim Ausfüllen der Einreisekar- Dr. Martin Doerry, Adel S. Elias, Nikolaus von Festenberg, Uly brunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax Foerster, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatterburg, 587 4242 te, auf der man im Falle des Mitführens Henry Glass, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred W. ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- von Drogen sein Todesurteil unter- Hentschel, Hans Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Cle- me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas mens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. Jürgen Hohmeyer, Hans Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef schreibt, kam ein leichtes Unbehagen Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Ulrich Jaeger, Hans-Jürgen Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- auf. Dafür keine Hundescheiße auf den Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Sabine Kartte-Pfähler, me, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Morschhäuser, Corne- Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Petra Kleinau, Sebastian lia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Julia Saur, Detlev Trottoirs, kein Sprayer-Vandalismus, Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer keine Drogenszene, keine Angst vor Joachim Kronsbein, Bernd Kühnl, Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Monika Zucht Überfällen, vorbildlich saubere und bil- Hans-Peter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Gerd Meißner, SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- Fritjof Meyer, Dr. Werner Meyer-Larsen, Michael Mönninger, Joa- bine Bodenhagen, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann lige Verkehrsmittel und kein Laden- chim Mohr, Mathias Müller von Blumencron, Bettina Musall, Dr. Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga schlußgesetz. Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, Berlin Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl, Dr. Rolf Rietzler, Dr. Fritz Rum- Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ruth Tenhaef, Hans-Jürgen HANS-JOACHIM und BARBARA JUNGE ler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Sche- Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters rer, Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Michael Schmidt- VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Klingenberg, Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, Dr. Mathi- orama, SPD, Abschiebung (S. 25), Justiz, Umwelt, Gesundheits- as Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthias Schulz, politik, Auschwitz (S. 36), SPIEGEL-Essay, Titelgeschichte: Dr. Kritik und das Fehlen von Menschen- Hajo Schumacher, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Dr. Stefan Si- Thomas Darnstädt; für Katastrophen, Affären, Prisma, Archäolo- rechten an dem Beispiel des 18jährigen mons, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Stampf, gie, Medizin, Tiere, Computer: Klaus Franke; für Abschiebung (S. Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Dieter G. Uentzel- 26), Auschwitz (S. 39), Kirche, Sekten, Feminismus, Forum, Fei- Amerikaners festzumachen ist einfach mann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Manfred Weber, ertage: Ulrich Schwarz; für Banken, Arbeitszeit, Konzerne, Trends, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Wellershoff, Pe- Arbeitslose, Beamte, Japan (S. 120): Armin Mahler; für Fernsehen ter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiedemann, Christian (S. 110), Presse, Kiosk: Uly Foerster; für Spectrum, Fotografie, Ar- Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Zuber beit, Krimis, Fernsehen (S. 176), Pop, Fernseh-Vorausschau: Wolfgang Höbel; für Titelgeschichte (S. 72), Nahost, Palästinen- REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- ser, Türkei, Rußland, Panorama Ausland, Tschechien, Indien: Dr. gang Bayer, Petra Bornhöft, Jan Fleischhauer, Uwe Klußmann, Romain Leick; für Geschichte, Szene, Ausstellungen, Bücher, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, Walter Mayr, Harald Bestseller, Esoterik, Verlage, Komponisten: Dr. Martin Doerry; für Schumann, Gabor Steingart, Kurfürstenstraße 72 – 74, 10787 Olympia, Schach: Heiner Schimmöller; für namentlich gezeichne- Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax 25 40 91 10 . Bonn: Win- te Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Personalien, Register, Hohl- fried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf Ihlau, Dirk Koch, Ursula spiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Matthias Kosser, Dr. Paul Lersch, Hans Leyendecker, Elisabeth Niejahr, Welker; für Gestaltung: Dietmar Suchalla; für Hausmitteilung: Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Hans Joachim Schöps; Chef vom Dienst: Horst Beckmann (sämt- Schlamp, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmannstraße lich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) . 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich : Sebastian Borger, Christian Habbe, Detlef Pypke, Kö- Booms, Dr. Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- nigsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. 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(069) 71 71 81, Telefax 72 17 02 Hannover: Ansbert hard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Annelie- Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel. (0511) . se Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Anna Petersen, Peter 32 69 39, Telefax 32 85 92 Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Constanze Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax . Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. Schierhorn, Ek-

276 12 Mainz: Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 C. FISHMAN / WOODFIN . kehard Schmidt, Andrea Schumann, Claudia Siewert, Margret Mainz, Tel. (06131) 23 24 40, Telefax 23 47 68 München: Di- Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Mo- Ordnungsmacht in Singapur nah Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, nika Tänzer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Tele- Dr. Iris Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Keine Hundescheiße auf den Trottoirs fax 4180 0425 . Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, . Wamser, Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Win- 19055 Schwerin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax 56 99 19 delbandt Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, Kriegsberg- BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles nervtötend. Ich halte einen 18jährigen straße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- für durchaus in der Lage zu wissen, was shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, sid, Time REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, Recht und Unrecht ist. Ich kann nicht in Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Singapur leben und behaupten, ich hätte 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax (040) 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . 30072898 Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg noch nicht mitbekommen, welche Stra- Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne . Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM fen auf gewissen Dingen lasten. 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM Jerusalem: Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, Paderborn IRINA BUSCHMANN . 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf Jerusalem 94103, Tel. (009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. Sie haben zwar einige der „lustigeren“ Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Widersprüche dieser geldspuckenden . 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 Retortenrepublik herausgearbeitet, die . 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 London: Bernd Dörler, 6 Hen- 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; wirklich verheerenden Praktiken des rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (004471) 379 8550, Tele- . Hamburg: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Tel. (040) fax 379 8599 Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 3007 2545, Telefax 3007 2797; München: Stuntzstraße 16, Regimes jedoch nicht alle genannt: den tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) . 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; berühmten „Internal Security Act“, der 220 4624, Telefax 220 4818 Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) 226 30 35, Telefax 29 77 65 es den Staatssicherheitsorganen erlaubt, 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner ohne Gerichtsbeschluß zu verhaften (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 49 vom 1. Januar 1995 und zeitlich unbeschränkt einzusperren; Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 . 4256 1211, Telefax 4256 1972 Peking: Jürgen Kremb, Qi- Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg die materielle Vernichtung von (einer jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (00861) 532 3541, Telefax VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck der wenigen) Oppositionsabgeordneten 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) 24 22 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Ave- MÄRKTE UND ERLÖSE: Werner E. Klatten oder die von der Regierung inszenierten nida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Schauwahlen. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. Singapur HANS DIESEL Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: DER SPIEGEL, GERMAN LANGUAGE PUBLICATIONS, INC., P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631-1123. Die Gesamtauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ent- hält eine Beilage der Deutschen Post AG, Bonn.

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Werbeseite .

DEUTSCHLAND PANORAMA

Umweltschutz neuen Brüsseler Kommissa- es neuen Streit um das Milli- Rechnungshöfe rin für Umweltfragen Ritt ardenprojekt Jäger 90. Bei Wissmanns Bjerregaard abzuwarten, hat einem frostigen Gespräch auf Präsidentenstreit Wissmann jetzt den Verlauf der Bonner Hardthöhe warf Alleingang der Ostsee-Autobahn A 20 Verteidigungsminister Vol- um Korruption Lübeck–Stettin einseitig fest- ker Rühe (CDU) dem Dasa- Die um sichgreifende Korrup- gelegt. Streitpunkt ist die Chef Jürgen Schrempp vor, tion in der Verwaltung hat zu Querung des Flusses Peene, das Unternehmen verhalte einer heftigen Auseinander- der als letzter unzerstörter sich so, als sei es an diesem setzung unter den Präsidenten Flußlauf Deutschlands unter Auftrag nicht mehr interes- der Landesrechnungshöfe ge- dem Schutz der EU steht. siert. „Bin ich der einzige, führt. Weil der hessische Nach Wissmanns Plan soll der das Flugzeug noch haben Amtschef Udo Müller (CDU) die Trasse künftig östlich der will?“ fragte Rühe. Grund die Häufung von Beste- Stadt Jarmen die Peene que- für den Zusammenstoß war chungsfällen Anfang Januar ren. Bonn begründet seine die Forderung der Dasa nach öffentlich in einem Interview Entscheidung damit, daß aus einem „Nachschlag“ von mit den ARD-„Tagesthe- Brüssel bislang kein Wider- mehreren hundert Millionen men“ beklagt hatte, griffen spruch eingetroffen sei: We- Mark. Strittig ist, wer die ihn seine Kollegen Otto-Gün- gen der Neubildung der Mehrkosten für die verzöger- ter Lonhard (Baden-Würt- Kommission hatte es in den te Entwicklung tragen soll. temberg) und Wolfgang Brix vergangenen Wochen Verzö- Die Dasa will den Löwenan- (Rheinland-Pfalz) massiv an.

C. THOELEN gerungen gegeben. teil dem Bonner Verteidi- Lonhard verlangte von Mül- Widerstand gegen die A 20 gungsministerium aufbürden; ler, er solle künftig „alle Aus- Jäger 90 Ressortchef Rühe hatte ver- sagen vermeiden“, „die den Wegen der geplanten Auto- langt, die Entwicklung zu Eindruck erwecken, die Kor- bahn durch Mecklenburg- Industrie fordert einer billigeren Version ruption sei in der Verwaltung Vorpommern bricht Bundes- „umzusteuern“ und zu „ver- weit verbreitet“. Der Rhein- verkehrsminister Matthias Nachschlag langsamen“. Die Hardthöhe land-Pfälzer Brix (CDU) kan- Wissmann (CDU) einen Zwischen dem Bundesvertei- dagegen gibt der Industrie zelte Müller regelrecht ab. Er Streit mit der Europäischen digungsministerium und dem die Schuld an der Kostenstei- habe „gehofft“, schrieb Brix, Union (EU) vom Zaun. Oh- Rüstungskonzern Daimler- gerung bei dem umstrittenen daß sich Müller die „Mah- ne eine Entscheidung der Benz Aerospace (Dasa) gibt Rüstungsprojekt. nung“ des Kollegen „zu Her-

Geheimdienste verpasse. Aber die Fraktion hat genug Spielraum zur Kri- tik an den Geheimdiensten, auch ohne PKK-Geheimnis- se. „Protest ist nicht alles“ SPIEGEL: Es gab Zeiten, da haben Grüne Geheimhaltung Manfred Such, 52, ist der erste Grüne in der Parlamen- schlicht abgelehnt. tarischen Kontrollkommission für die Geheimdienste Such: Das ist sehr, sehr lange her. (PKK) des Bundestages. SPIEGEL: Vieles erfahren selbst die Geheimnisträger der PKK erst aus den Medien. SPIEGEL: Vor zwei Jahren noch wollten Bündnis 90/Die Such: Das muß sich dringend ändern. Die PKK muß Ein- Grünen im die Geheimdienste per Gesetz ab- fluß etwa auf den Verfassungsschutz nehmen, daß wir in schaffen. Jetzt feiern sie schon als Erfolg, erstmals an der dessen regelmäßigen Berichten nicht mehr nur das finden, parlamentarischen Kontrolle beteiligt zu sein. was wir alles schon in der Zeitung gelesen haben. Such: Einfach nur zu fordern „weg damit“ war schon im- SPIEGEL: Seit Dezember darf der BND im Kampf gegen mer etwas zu platt. Ich stehe Geheimdiensten sehr kri- grenzüberschreitende Kriminalität beteiligt werden und tisch gegenüber, aber wenn ich erst mal nur die Möglich- den drahtlosen Fernmeldeverkehr belauschen. Das Kon- keit habe, sie zu kontrollieren, dann tue trollgremium aber wird nur alle halbe Jah- ich es auch. Protest ist ja nicht alles. re informiert, wenn längst alles gelaufen ist SPIEGEL: Früher war der Verfassungs- – eine Alibiveranstaltung? schutz für Sie ein „staatsgefährdender Such: Das Urteil ist mir zu hart, vor allem Staatssicherheitsdienst“. wenn man den Schluß daraus ziehen woll- Such: Angesichts der Geheimdienstskanda- te, deshalb lieber gleich alles sein zu las- le habe ich sehr wohl die Befürchtung, daß sen. Aber es gibt einen erheblichen Bedarf es sich dabei um Systeme handelt, die sich an neuen, schärferen Kontrollmechanis- immer mehr verselbständigen. Deshalb ist men. es ja so besonders wichtig, da reinzugehen SPIEGEL: Bleiben Geheimdienste für Sie in die Gremien und den Diensten auf die ein notwendiges Übel? Finger zu gucken. Such: Aufgrund der veränderten politi- SPIEGEL: Sie sind als PKK-Mitglied zur schen Lage in der Welt müssen wir wirk- strikten Geheimhaltung verpflichtet, selbst lich überlegen, bei wem wir vor allen gegenüber der eigenen Fraktion. Schränkt Dingen welche Nachrichten überhaupt das die Möglichkeiten der Opposition nicht noch gewinnen wollen. Daraus kann man ein? schon den Schluß ziehen, man braucht

Such: Ich habe lange darüber nachgedacht, M. DARCHINGER die Dienste nicht mehr, sie sind verzicht- ob ich mir nicht selbst einen Maulkorb Such bar.

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zen“ nehme. Das sei jedoch nicht der Fall. Brix über Mül- lers Interview: „So etwas tut man nicht.“ Unterstützung erfuhr der Gescholtene jetzt aus Sachsen-Anhalt und Ber- lin. Auf der nächsten Konfe- renz soll die „Korruption in der Verwaltung“ in einem ei- genen Tagesordnungspunkt behandelt werden.

Atomkraft Mehr Leukämie um Krümmel K. ANDREWS Atomkraftwerk Krümmel

In der Umgebung des Kern- kraftwerkes Krümmel süd- östlich von Hamburg hat es entgegen bisheriger Annah- men seit Ende der achtziger Jahre einen drastischen An- stieg der Leukämieerkran- kungen nicht nur bei Kin- dern, sondern auch bei Er- wachsenen gegeben. Nach ei- ner im Herbst 1994 vorgeleg- ten Untersuchung, die sich auf einen Zeitraum von zehn Jahren (1984 bis 1993) bezog, war lediglich ein leichter An- stieg bei Erwachsenen beob- achtet worden. Eine neue Expertise des Bremer Wis- senschaftlers Eberhard Grei- ser enthüllt jetzt: Zwischen 1989 und 1993 gab es allein in der Elbmarsch auf der nie- dersächsischen Seite gegen- über Krümmel mit zwölf Er- wachsenen doppelt so viele Blutkrebskranke wie normal gewesen wäre. Sechs Jahre zuvor, im Jahr 1983, war das Kraftwerk Krümmel ans Netz gegangen. Professor Greiser: „Die Latenzzeit für Leukämien beträgt etwa fünf Jahre.“

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Katastrophen FLUSS OHNE RAUM Retter in Schlauchbooten, Bundeswehr beim Sandsäcke-Stapeln, Dörfer und Städte, durch deren Straßen die brau- nen Fluten gurgelten – abermals wurden ganze Landstriche an Rhein und Mosel vom Hochwasser heimgesucht. Die Häufung von Überschwemmungen ist Menschenwerk. Ist sie schon Vorbote der Klimakatastrophe?

Hochwasser bei Koblenz*: Die Flutopfer müssen dafür büßen, daß der Strom in ein Korsett gezwängt wurde AP

n vielen Häusern der Kölner Altstadt In Rüdesheim surrten in vielen Kel- Nation schon von dem letzten Hochwas- waren die Wände noch feucht vom lern die Pumpen; im unterfränkischen ser vertraut: Retter in Booten, die an Iletzten Mal. Gerade hatten die ge- Miltenberg wurden die Kinder mit Fachwerkfronten entlangtuckern, Mo- nervten Bewohner die Schäden vom Schlauchbooten zur Schule gebracht; selbauern in Gummistiefeln, die ihren Weihnachtshochwasser 1993 beseitigt, Bernkastel-Kues an der Mosel war nach Hausrat in Kähne verladen. Symbolhaft da hieß es am Ende letzter Woche wie- einem Erdrutsch von der Außenwelt ab- versank am Deutschen Eck, der Land- der: Sandsäcke aufstapeln, Behelfsbrük- geschnitten; in Bad Kreuznach rutschte spitze am Zusammenfluß von Rhein und ken bauen, Lebensmittelpakete schnü- ein 81jähriger Mann in einen Entwässe- Mosel, der erst jüngst restaurierte bron- ren. Warten auf die große Welle. rungsgraben und ertrank. zene Wilhelm I. zu Pferde bis an die Stie- In Köln kam sie in der Nacht zum Der Bonner Schürmann-Bau drohte fel in den Fluten. Sonnabend, kurz nach Mitternacht. An- ein zweites Mal abzusaufen. Die Bun- Auch im vorigen Winter, um die Weih- dere Städte und Gemeinden entlang der deswehr kommandierte 350 Soldaten nachtstage 1993, war eine „Jahrhun- Flüsse Rhein, Main, Mosel und Saar zum Hilfseinsatz nach Köln und ließ dert“-Flut über Süd- und Westdeutsch- hatte die Flut zu diesem Zeitpunkt „Tornados“ ausschwärmen. Im Tiefflug land hinweggeschwappt. Die Schäden, längst unter Wasser gesetzt. schossen sie Aufklärungsfotos von den die die braune Brühe damals anrichtete, Überschwemmungsgebieten. summierten sich auf eine Milliarde Mark. * Im Stadtteil Neuendorf, am Freitag letzter Wo- Die abendlichen Fernsehbilder aus Und schon 1988 und 1990 hatte es ähnlich che. den Katastrophengebieten waren der schwere Überschwemmungen gegeben.

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ßen, Parkplätzen oder Fa- Verpfuschte Natur Folgen der Flußregulierung Wird der Strom begradigt und eingedämmt, brikhallen verbraucht. An- steigen die Wasserstände, die Fließge- ders als Wiesen und Felder In einer naturbelassenen Flußniederung versickert schwindigkeit nimmt zu. Die Versiegelung der vermag der versiegelte Bo- ein großer Teil der Niederschläge im Boden oder Landschaft durch Straßen und Bauwerke lenkt die den den Regen nicht wie ein wird von den Wäldern aufgenommen. Regnet es stark, Niederschläge direkt in die Flüsse. Bei heftigen Schwamm aufzusaugen – weicht der anschwellende Fluß großflächig in Sumpf- Regenfällen können Deiche und Dämme brechen, das Wasser fließt direkt in landschaften (Auen) aus. Städte und Dörfer werden überschwemmt. die Flüsse (siehe Grafik). i Als Folge des massenhaften Baumsterbens haben die Wälder ihre Fähigkeit ver- loren, Wasser zurückzuhal- ten. i Die Intensiv-Landwirt- schaft setzt Drainagen ein, um ihre Nutzflächen zu ent- wässern; das Regenwasser wird, statt zu versickern, in Gräben und Flüsse geleitet. Auen Vor allem aber müssen die Flutopfer am Rhein dafür bü- ßen, daß sie und ihre Vorfah- Flußbett Flußbett ren den Fluß in den letzten Jahrzehnten in ein Korsett ge- Da lag die Frage nahe, wie eine solche Auen-Institut des World Wide Fund for zwungen haben. 90 Prozent der einst Serie von Hochwasserkatastrophen in Nature (WWF) in Rastatt. breiten Überschwemmungsflächen des Süd- und Westdeutschland zu erklären Schuld daran, daß die deutschen Flüs- Rheins, die sogenannten Rheinauen, sei. Waren die Flutwellen in Rhein und se immer häufiger über die Ufer treten, wurden mit Deichen vom Strom abge- Mosel Vorboten der Klimakatastrophe, sind laut Dister nicht zuletzt die Politi- trennt und anschließend besiedelt oder erste Folgen einer zunehmenden Erwär- ker – als Hauptverantwortliche für fol- bewirtschaftet. mung der Erde? genschwere Eingriffe in die Natur: Seither gleicht der deutsche Schick- Die Klimaforscher winkten ab: Ihre i Ein Achtel Deutschlands ist mittler- salsstrom einem Fluß ohne Raum: Er Computerberechnungen, immer noch weile von Asphalt und Beton be- hat sein natürliches Umland verloren, grobmaschig und ungenau, lassen vorerst deckt, doppelt soviel wie zur Jahrhun- das früher bei Hochwasser langsam voll- noch keine Schlußfolgerungen zu auf re- dertwende. 90 Hektar werden jeden lief und so die Städte vor Überschwem- gionale Ausreißer von Sturm, Schnee Tag für den Bau von weiteren Stra- mungen bewahrte. und Regen. Was dem Hoch- Die Flußregulierung be- wasser der letzten Woche vor- gann nach 1830, als der badi- ausging, so erklärten es die sche Oberst Johann Gottfried Meteorologen, war eine ganz Tulla, noch heute als Tech- gewöhnliche Wetterlage, mit nik-Pionier verherrlicht, den der zu dieser Jahreszeit ge- Oberrhein begradigte. Bei der rechnet werden muß. Orkane Beseitigung der natürlichen vom Atlantik brausten mit Mäander wurde der Flußlauf Starkregen über den Konti- südlich von Speyer um 81 Ki- nent hinweg. lometer verkürzt. Zudem schoben die Stürme In diesem Jahrhundert setz- warme Luftmassen vor sich ten die Wasserbauer die Um- her, dieTemperaturenstiegen gestaltung fort: Mit Staustu- sprunghaft um bis zu zehn fen, Flußkorrekturen und im- Grad an, vielerorts taute der mer neuen Deichen verwan- (wenige) Schnee auf. Regen delten sie den urwüchsigen und Schneeschmelze zusam- Strom, der sich einst mit men ließen die Flüsse gewaltig Tausenden von Veräste- anschwellen. lungen durch die Niederun- Dabei erreichten die Nie- gen geschlängelt hatte, derschläge der vergangenen in eine schnurgerade Wasser- Woche nicht einmal Rekord- straße. werte. Auch in früheren Jahr- Durch die Eingriffe wurde zehnten und Jahrhunderten der Rhein zwar bis weit in den hatte es ähnlich hohe Wasser- Oberlauf schiffbar, aber auch stände gegeben, ohne daß es zu einem schnell fließenden zur Katastrophe kam. Kanal. Dieselbe Wassermen- „Wir können den Regen ge mußte fortan in einem sehr nicht verändern; aber wir kön- viel schmaleren Bett abflie- nen die Menge und die Ge- ßen;damit stiegendie Wasser- schwindigkeit beeinflussen, stände, und die Fließge- mit der der gefallene Regen schwindigkeit erhöhte sich –

abfließt“, erläutert der Öko- DPA ähnlich wie bei einem Wasser- loge Emil Dister, Direktor am Hochwasser in Zell an der Mosel: Bald der Normalfall? strahl aus dem Garten-

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ben dem Rhein in den letzten Jahrzehn- ten entrissen haben. Die geplante Rena- turierung soll jedes Jahr 40 Millionen Mark kosten, „soviel wie zweieinhalb Kilometer Autobahn“ (Dister). Ähnli- che Programme gibt es in Hessen und Rheinland-Pfalz. Doch vor Ort, in den Kommunen, regt sich Widerstand. Bürgermeister und Unternehmer kämpfen um jeden Quadratmeter Boden, sie wollen freie Flächen lieber mit Sportplätzen und Ge- werbegebieten vollpflastern. Das hessische Umweltministerium möchte gern ein riesiges Überschwem- mungsgebiet neben dem Örtchen Tre-

AP bur anlegen. Durch diesen Fließpolder Bundeswehr-Einsatz in Köln*: „Die ganz große Flut . . . könnte der Wasserstand im Rhein um 10 bis 20 Zentimeter gesenkt werden. Die Bevölkerung in Trebur wehrt sich. Der zurückverlegte Deich würde direkt vor dem Dorf verlaufen. Die rund 1300 Hektar, die im Ernstfall überspült würden, werden derzeit überwiegend von Landwirten bewirtschaftet. Drei Viertel der knapp über 100 Bauern se- hen ihre Existenz bedroht. Viel Zeit für eine Rückkehr zur Na- tur bleibt nicht. Es könnte noch schlim- mer kommen, falls wirklich die allmäh- liche Aufheizung des Weltklimas auf das regionale Wettergeschehen durch- schlägt. Nach dem Szenario der Klimaforscher werden, falls sich der Trend fortsetzt, Niederschläge im Winter immer seltener als Schnee auf dem Boden ankommen. Sogar in den mittleren und höheren Ge-

DPA birgslagen bliebe er nicht mehr liegen. . . . die kommt erst noch“: Überflutete Häuser in Hessen* Fallen die verschneiten Berge aber als Wasserspeicher aus, stürzt das Naß di- schlauch, den man mit den Fingern zu- verlegen, wo keine Besiedlung dem im rekt in die Täler – extreme Winterhoch- sammenpreßt. Statt früher 60 Stunden Wege steht. Ein solcher geordneter wasser würden dann zum Normalfall. braucht eine Flutwelle auf dem Rhein ge- Rückzug würde dem Fluß sein ange- Schon jetzt ist es offenbar zu einer rade noch 30 Stunden von der Schweizer stammtes Überschwemmungsgebiet zu- jahreszeitlichen Umverteilung der Nie- Grenze bis nach Karlsruhe. rückgeben. Dister: „Wenn das Wasser derschläge gekommen: Die Deutschen Der Raub-Bau blieb nicht ohne Fol- zwei Meter hoch im Auenwald steht, ist werden sich an trockene Sommer und gen. Kaum war 1977 bei Iffezheim die das kein Problem; erst im Wohnzimmer verregnete Winter gewöhnen müssen. letzte Staustufe am Oberrhein fertigge- wird das Hochwasser zur Katastrophe.“ Aus einer 120jährigen Meßreihe, sagt stellt, die dem Fluß noch einmal 30 Qua- Baden-Württemberg will im Rahmen der Klimatologe Hartmut Graßl, seit dratkilometer Überschwemmungsfläche eines integrierten Rhein-Programms in kurzem Klimaforschungs-Koordinator entzog, begann eine beispiellose Serie den nächsten 15 Jahren 68 Quadratkilo- bei den Vereinten Nationen in Genf, von extremen Hochwassern: In den acht- meter solcher Riesenbiotope schaffen – lasse sich ablesen, daß „vor allem in den ziger Jahren gab es genauso viele hohe das entspräche ziemlich genau der nördlichen Breiten im Winterhalbjahr Flutwellen wie in den vorangegangenen Überflutungsfläche, welche die Schwa- mehr vom Himmel fällt als früher“. Y hundert Jahren zusammen (siehe Gra- fik). Flußverengung „Das wird in den nächsten Jahren so Hochwasser häufen sich und Staustufen weitergehen“, prophezeit WWF-Exper- Rhein-Höchststände in Worms; Bauphase nach Vollendung 6000 te Dister, „die ganz große Flut, die Wasserdurchfluß in Kubikmeter pro Sekunde 5500 kommt erst noch.“ Es bleibt nur ein 5000 Ausweg: Die Ingenieure müssen neu 4500 schaffen, was sie selbst einst vernichtet haben. Umweltschützer fordern seit langem, Durch- die Deichanlagen überall dort zurückzu- Quelle: E. Dister schnitt: Auen-Institut des WWF 1400 * Oben: Montieren einer mobilen Sperrmauer, die bis zu einem Pegelstand von zehn Metern 1881 1901 1921 1941 1961 1981 Schutz bietet; unten: im Schlitzer Stadtteil Rim- bis 1900 bis 1920 bis 1940 bis 1960 bis 1980 bis 1993 bach.

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DEUTSCHLAND

SPD Die Wahrheiten der Witwe Der wiedergefundene Vermerk Willy Brandts bringt Zwietracht und Verdächtigungen unter die Genossen

ilig verließ Generalbundesanwalt demokraten und ihre politischen Geg- Sie fragt sich nun, warum. Sollte Kay Nehm seinen Urlaubsort auf ner in Spekulationen. Auch wie das Pa- Brandts Verdacht gegen Wienand und ESylt per Helikopter. Der Chefan- pier verschwand und schließlich wieder den Rivalen Herbert Wehner über de- kläger sollte der Justizministerin Sabine auftauchte, hat Unfrieden unter Sozial- ren möglicherweise über viele Jahre ge- Leutheusser-Schnarrenberger Bericht demokraten ausgelöst und letzte Woche pflegte geheime Ost-Beziehungen am erstatten – Krisenstimmung in Karlsru- den Austritt der Brandt-Witwe aus der Vorsitzenden vorbei deshalb unterschla- he. Partei provoziert. gen werden, weil er begründet war? Der oberste deutsche Ermittler hatte In der Staatsaffäre um das Doku- Die Union jedenfalls wittert ihre eine peinliche Panne zu erklären. Blatt ment, das nun im Original eine halbe Chance. CSU-Mann Hartmut Koschyk zwei des Originalvermerks von Willy Seite weniger hat, ist die ganze Wahr- verlangte einen Untersuchungsaus- Brandt über die dubiosen Ost-Kontakte heit noch verborgen, ein rätselhaftes schuß. Zumindest „an der Aufklärung“ des einstigen SPD-Fraktionsgeschäfts- Stück mit reichlich vielen Unbekannten. des „politischen Skandals“ sollten die führers Karl Wienand und Herbert Ein gut informierter Anonymus aus dem Sozis unverzüglich mitarbeiten, forderte Wehners war in den Reißwolf geraten. Dunstkreis der SPD hatte den Strafver- Rupert Scholz (CDU) im Bundestag. Ein Ermittler im Spionageverfahren folgern den entscheidenden Tip gegeben Der hessische CDU-Spitzenkandidat gegen Wienand, so die Erklärung, hatte (SPIEGEL 4/1995). Karlsruher Bundes- Manfred Kanther legte nach. Er sei Brandts Originalnotiz versehentlich für anwälte hatten danach keine Mühe, das überzeugt, stichelte der Bundesinnen- eine mißlungene Kopie gehalten und in Papier vorletzte Woche bei der SPD-na- minister, „daß viele alte Sozialdemokra- den Aktenschredder gesteckt. Eine hal- hen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zu ten entsetzt darüber sind, wie Brandts be Seite war schon perdu. Ein echter finden. Enkel mit dessen Erbe umgehen“. Verlust – im Autographenhandel sind Zweieinhalb Jahre lang war der Text Kanther traf daneben. Denn die En- Brandt-Handschriften solchen Inhalts verschwunden. „Führende“ Sozis, teilte kel hatten von der Geheimniskrämerei kaum bezahlbar. die Historikerin Brigitte Seebacher- um Brandts Vermerk keinen Schimmer. An dem Papier klebt das Unheil. Brandt vorige Woche SPD-Parteichef Es sind die Alten, die noch einmal ihre Nicht nur der vage Inhalt der Aufzeich- Rudolf Scharping in einem sechsseitigen alten Fehden austragen. nungen über ein Gespräch Brandts mit Austrittsbrief mit, hätten die Aufzeich- Hans-Jochen Vogel, 68, war über dem früheren sowjetischen Botschafter nungen ihres Mannes „tatsächlich bei- das Falin-Gespräch auszugsweise infor- Walentin Falin stürzt Ermittler, Sozial- seite geschafft“. miert, der langjährige Weggefährte J. H. DARCHINGER Spitzen-Genossen Wienand, Wehner, Brandt (1972): Über viele Jahre geheime Ost-Beziehungen am Vorsitzenden vorbei?

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Egon Bahr, 72, hatte sich eine Kopie des Vermerks besorgt und dann geschwie- gen. Der Düsseldorfer Ministerpräsi- dent Johannes Rau, 64, als politischer Testamentsvollstrecker von Brandt aus- ersehen, bekam vom Alten eine Kopie zugesteckt. „Das ist für die Historiker interessant“, soll Brandt gesagt haben. Aber der Vermerk war auch von In- teresse für jene, die seit Sommer 1993 mit großem Eifer gegen Wienand wegen Stasi-Verdachts ermitteln. Sie hätten schon gern früher gewußt, daß „Karl W. ab ’75“, so der Brandt-Vermerk, „eine Verpflichtung gegenüber dem dortigen Dienst eingegangen“ sei. Doch Mitwisser Rau hat tapfer ge- schwiegen – auch als Wienand die Wit- we im Frühjahr 1994 wegen deren Äu- ßerungen über die Spitzeldienste des einstigen Fraktionsgeschäftsführers ver- klagte. Sie durfte fortan nicht mehr be- haupten, daß Brandt von Falin erfahren habe, Wienand sei „dem KGB ver- pflichtet gewesen“.

Wenn der Vermerk vorgelegen hätte, DPA argumentiert die Witwe, „hätte Wie- SPD-Chef Scharping, Genossin Seebacher-Brandt (1993): „Menschlich abgründig“ nand mich nicht verklagt“. Besonders „enttäuscht“ sei sie von Rau. Dessen Der Mann, den Brandt sofort ins Ver- Das paßt nicht zu den Erklärungen Verhalten sei „menschlich so abgrün- trauen zog, reagierte umgehend. Hans- Egon Bahrs. Der erinnert sich sehr ge- dig“. So etwas „haben wir Rau doch Jochen Vogel trug dem BND-Chef Kon- nau an ein Gespräch mit Falin im nicht zugetraut“. rad Porzner den Spionageverdacht in Herbst 1993. Damals hat ihm der alte Solche Töne von Witwe Brandt kom- Sachen Wienand vor. Später notierte Vertraute gebeichtet, er wisse definitiv, men der Union gerade recht. Die Gattin Brandt: „Am 17. 6. teilte mir HJV daß Wienand für einen östlichen Ge- soll im CDU-Wahlkampf gegen die (Hans-Jochen Vogel – Red.) mit, Porz- heimdienst gearbeitet habe. Bahr ver- NRW-SPD und den Düsseldorfer Lan- ner könne hierzu nichts sagen.“ stand damals Stasi. desvater Rau zur Kronzeugin aufgebaut Der BND-Chef verbreitete Unklar- Auch wird die detailreiche Schilde- werden. heit: Sein Dienst sei „weder direkt“ rung Falins, der damalige DDR-Staats- Das Zusammenspiel funktioniert: Die durch „noch mittelbar ratsvorsitzende Erich Honecker habe Witwe lobt den CDU-Kanzler Helmut über eine Tätigkeit Herrn Karl Wie- mit Helmut Schmidt bislang unbekann- Kohl, über den sie sich wahrlich „nicht nands für das KGB informiert“ worden. te Verbindungen gepflegt, die Wehner beklagen kann“. Der Regierungschef Dieses Dementi gibt es in mehreren Va- dann prompt an die Russen verraten wiederum appelliert an die „Redlich- riationen zu verschiedenen Zeitpunk- habe, vom Altkanzler bestritten: keit“ von Rau, der „halt jetzt die Ant- ten, auch als dienstliche Erklärung liegt „Unfug.“ wort geben soll“. es im Kanzleramt vor. Das sieht so auch ein sehr ranghoher Rau will sich nicht erklären. Kein Doch der verläßliche Vogel blieb auf Offizier des früheren DDR-Ministeri- letztes Wort über letzte Worte mit Kurs. Letzte Woche wiederholte er vor ums für Staatssicherheit: „Glatter Un- Brandt. Der Düsseldorfer Profi weiß, dem Bundesanwalt, was er zuvor schon sinn.“ So etwas hätte Honecker dem dem SPIEGEL gesagt hatte: Selbstver- Schmidt niemals geschrieben, „nicht ständlich habe er damals Porzner ge- einmal beim Jagdausflug in der Staats- „Eine Zumutung, fragt, ob „was gegen Karl Wienand“ karosse zugeflüstert“, allenfalls dem ein Sturm vorliege. Die Rede sei wohl von der früheren DDR-Wirtschaftslenker Gün- Mitarbeit für „östliche Geheimdienste“ ter Mittag „im Suff zugeraunt“. im Wasserglas“ gewesen. Dies hat jetzt auch der BND- Falin bleibt dabei. Am Freitag mittag Chef gegenüber den Ermittlern einge- dieser Woche soll er in Düsseldorf ver- daß jede Erklärung von ihm eine Ge- räumt. Warum aber hat er dann vorher nommen werden. „Ich verstehe diese generklärung provozieren würde. Des- so anders gesprochen? ganze Diskussion nicht“, sagt Falin, halb spielt er seine Lieblingsrolle – toter Die meisten Rätsel gibt der Brandt- „eine Zumutung, ein Sturm im Wasser- Mann. Gesprächspartner Walentin Falin auf. glas.“ Egon Bahr, der andere Papier-Inha- Vehement bestritt er vorige Woche, ge- Falin trete auf, „als sei er nicht von ber, schwieg ebenfalls lange. Als ihn im genüber Brandt von einem Spionagever- dieser Welt und in deren Wirren wider März 1994 die Bundesanwälte wegen dacht gegen Wienand gesprochen zu ha- Willen verstrickt“, hat vor Jahren eine Wienand befragten, erwähnte er den ben. Dies deckt sich mit einer eidesstatt- Publizistin über den Russen mit der Brandt-Vermerk mit keinem Wort. lichen Versicherung, die er vor einem „Melancholie in den Augen“ geschrie- „Wie komme ich dazu“, sagt Bahr dem Jahr abgegeben hat. ben – die Autorin war Brigitte Seeba- SPIEGEL, „einen Verdacht, den ich Falin erklärte damals, er habe Brandt cher-Brandt. nicht beweisen kann, der Staatsanwalt- nicht gesagt, „daß Wienand ein KGB- Doch auch die Wahrheiten der Witwe schaft mitzuteilen, die ohnehin auf der Mann sei oder gewesen sei“. Und dann: geben Rätsel auf. Ins Bild der authenti- wahrscheinlich richtigen Fährte ist?“ „Ich habe auch nichts Ähnliches oder in schen Interpretin ihres Mannes und sei- (Siehe auch Seite 23.) diese Richtung Gehendes erklärt.“ ner Politik paßt nicht, daß Willy Brandt

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ihr das Schriftstück offenbar bewußt vorenthalten hat. „Wie irre“, berichtet SPIEGEL-Gespräch sie, habe sie nach dem verschwundenen Vermerk gesucht. Überall, „absolut“. Kann schon sein: Bevor Brandt im Sommer 1992 daheim in Unkel seinem „Wir waren schließlich langjährigen Wegbegleiter Rau die No- tizen heimlich zusteckte, soll er die Gat- tin unter einem Vorwand aus dem Zim- mer geschickt haben. Er zweifelte da- keine Träumer“ mals an der politischen Zuverlässigkeit seiner Frau. Der SPD-Politiker Egon Bahr über Geheimdiplomatie und Brandts Notizen Nicht nur in diesem Fall. Seinem lang- jährigen Büroleiter Klaus Lindenberg vertraute er einen Packen weiterer Un- SPIEGEL: Herr Bahr, waren Sie Kolla- nern doch zwangsläufig auch mit Ge- terlagen an, darunter für Historiker borateur deutscher oder sowjetischer heimdienstlern zu tun. wichtige Brandt-Erinnerungen. Sie lan- Kommunisten? Bahr: Selbstverständlich, wir waren deten zunächst im Büro-Tresor und Bahr: Nein, natürlich nicht; aber ich war schließlich keine Träumer oder blauäu- dann in Lindenbergs Depot in der FES. auf Zusammenarbeit eingestellt. „Kolla- gige Idealisten. Kein Zugang jedenfalls für die Histori- boration“ ist so eine Art Negativ-For- SPIEGEL: Warum hat Brandt dann kerin und Ehefrau. mulierung aus der Nazi-Zeit. Das riecht 1992 nach dem Gespräch mit Falin no- Deren Erkenntnisse über die Ge- nach Kumpanei und fünfter Kolonne. tiert, Sie hätten bei Ihren Moskauer schichte weisen noch andere Lücken Kollaboration ist verächtlich, Koopera- Konsultationen „wahrscheinlich nicht auf. Nach Rücksprache hatten ihre An- tion war und ist nötig. wahrgenommen“, daß Sie auch mit ei- wälte beispielsweise im Vorjahr im SPIEGEL: Brigitte Seebacher-Brandt, nem KGB-General verhandelten? Wienand-Verfahren zu Papier gebracht: die Witwe des SPD-Vorsitzenden, hatte Bahr: Brandt hat Falins Äußerung no- Egon Bahr komme als Zeuge überhaupt offenbar besonders Sie im Visier mit tiert. Wir waren amüsiert, denn wir nicht in Frage. Der habe in der Zeit dem Hinweis in ihrem Parteiaustritt- vermuteten, daß diese beiden sowjeti- nach dem Falin-Termin nur einmal mit Schreiben, Brandt sei gegenüber jeder schen Gesprächspartner** dem Appa- Brandt telefoniert. Im Austrittsbrief an Form der Kollaboration mit Kommuni- rat des Generalsekretärs der KPdSU Scharping klingt es ganz anders: Am 4. sten „ohne Nachsicht“ gewesen. zuzuordnen waren, und da konnte man April habe Brandt ihr einen Besuch Bahr: Das mag sein. Aber ich habe diese eine KGB-Connection nicht ausschlie- Bahrs für den nächsten Tag angekün- Einstellung von Brandt geteilt, und ich ßen. Aber das war uns egal: Denn die digt. teile sie noch immer. Wer für die andere Verbindung zwischen den deutschen Die Sozialdemokraten suchen nun Seite arbeitet, wer also ein Mann der an- Kanzlern Brandt und Schmidt und der nach dem Unbekannten, der an allem deren Seite ist, ist in meinen Augen ein Nummer eins im Kreml funktionierte schuld ist: den Tipgeber der Bundesan- Verräter. Er muß bestraft werden. so hervorragend. Breschnew war dieser waltschaft. Der Anrufer, der die Bun- SPIEGEL: Waren die Grenzen immer so Kanal wohl willkommen. Er wollte von desanwälte auf die Spur brachte, kam eindeutig? Wer in den sechziger und seinem Außenminister Gromyko nicht angeblich auch aus dem Zeitungsmetier. siebziger Jahren wie Sie Ostpolitik be- abhängig sein. Da gibt es heute nichts Er stellte sich bei Bundesanwalt Joa- trieb, hatte bei seinen Gesprächspart- mehr geheimzuhalten, und die Veröf- chim Lampe als Journalist vor und be- fentlichungen von Keworkow und mei- hauptete, ein Mittelsmann zu sein. * Mit Redakteuren Hans Leyendecker, Olaf Ihlau. ne Bemerkungen dazu liegen vor. ** Der Journalist Walerij Lednew und der KGB-Ge- „Erführen die mit dem Geschehen ver- neral Wjatscheslaw Keworkow, mit denen sich SPIEGEL: Wo lagen bei einer solchen trauten Personen“, so hielt Lampe die Bahr seit Ende 1969 regelmäßig traf. konspirativen Politik die Risiken? Erzählungen des Anrufers fest, „daß er der Hinweis- geber sei, so könnten diese in Verbindung mit Einzel- heiten der Darstellung auf den Informanten schlie- ßen.“ Der anonyme Tipgeber könnte Nachfolgetäter er- mutigen. Schon hat sich ein ranghoher Stasi-Mann ge- funden, der behauptet, Licht in die Affäre bringen zu können. Er ist sich si- cher, daß Wienand „Geld von uns bekommen hat, auch höhere Summen“. „Ich bin immer davon ausgegangen“, erklärte der Mann vorigen Dienstag dem SPIEGEL, „daß Wienand materiell interes- siert war. Daß Wienand

KGB-Mann war, halte ich FOTOS: J. H. DARCHINGER für ausgeschlossen.“ Bahr beim SPIEGEL-Gespräch*: „Brandt hatte Wehner im Verdacht“

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Bahr: Also zunächst mal muß ich das Bahr: Muß das ein Widerspruch sein? SPIEGEL: Brigitte Seebacher beharrt Wort „konspirativ“ korrigieren. Könnte es nicht erstens so sein, daß darauf, es sei bei Wienand aus Brandts SPIEGEL: Ist Geheimdiplomatie bes- Wehner dem Schmidt nicht alles er- Sicht nur um das KGB gegangen. ser? zählt hat, was er von Honecker hörte? Bahr: Ich habe Frau Seebacher-Brandt Bahr: Unsere Arbeit war nicht konspira- Und könnte es zweitens nicht so sein, nahegelegt, sich zu überlegen, ob sie tiv. Die Amerikaner nennen dieses In- daß er nicht wollte, daß die Russen sich nicht geirrt haben könnte. Bemer- strument „back channel“. Solche „back nur von Honecker etwas erfahren? Das kenswerterweise kommt in ihrem Aus- channels“ gab es natürlich nicht nur zwi- wäre sozusagen eine Art Rückversiche- trittsbrief der Punkt – Wienand ein schen Ost und West, sondern auch inner- rung gegen Kurzschlüsse in den ver- KGB-Mann – gar nicht mehr vor. halb des Westens. Dabei handelte es sich schiedenen Verbindungen. Insofern SPIEGEL: Brandt schreibt von einer um eine verdeckte, aber sehr vertrau- könnte es – unterstellen wir mal die Fi- „Verpflichtung gegenüber dem dorti- ensbildende Verbindung, die auf der xierung Brandts auf Wehner – durch- gen Dienst“. Das kann man auf Mos- höchstmöglichen Ebene autorisiert aus sein, daß diese Äußerung von Fa- kau wie auf Ost-Berlin beziehen. Nur: wurde. lin und die Notiz von Brandt, die sich Hans-Jochen Vogel sagt gleichfalls, SPIEGEL: Und außer der Bonner Spitze auf Wehner bezieht, kein Widerspruch Brandt habe vom KGB gesprochen. war auch Nixons Sicherheitsberater Kis- ist. Bahr: Mag ja sein. Jedenfalls war völlig singer über Ihre beiden Moskauer Spiel- SPIEGEL: Sie waren Weggefährte und klar: Wenn es Zweifel gab, mußte man kameraden informiert? Freund Willy Brandts. Kann es sein, diese ausräumen. Zum Teil wird ja, Bahr: Selbstverständ- wenn man jetzt Vorwürfe erhebt, fol- lich. Auch zu Kissinger gendes übersehen: Der eigentliche In- unterhielt ich solch ei- haber des Verdachts, nämlich Brandt, nen „back channel“, hat die Staatsanwaltschaft aus gutem weil der nicht einmal Grund nicht informiert. den US-Geheimdienst SPIEGEL: Für ihn war ja der Vorgang für dicht genug hielt. Es damit abgeschlossen, daß er über Vo- wäre unklug gewesen, gel beim BND-Chef Porzner nachfra- die Amerikaner nicht gen ließ. Und der teilte mit: Uns lie- zu informieren. gen keine Erkenntnisse vor. SPIEGEL: Konspirativ Bahr: Zunächst mal sagt ja der Ge- war anscheinend für richtssprecher, daß der KGB-Verdacht Willy Brandt die Poli- keine Relevanz für das Verfahren ge- tik, die Herbert Weh- gen Wienand hat. Außerdem ist das ner mit Ost-Berlin be- Hauptverfahren gegen Karl Wienand trieb. eingeleitet worden ohne Kenntnis des Bahr: Es kann gar kei- Vermerks. nen Zweifel geben, daß SPIEGEL: Ist Ihnen der Gedanke ge- Brandt auf Wehner – kommen, den Brandt-Vermerk, von dessen Position oder dem Sie eine Kopie hatten, der Staats- Rolle – fixiert war. Er anwaltschaft zu geben, als die bei Ih- wollte – und zwar bis nen im Ermittlungsverfahren Wienand zum Schluß – einfach „Brandt wollte wissen: Hat Honecker vorsprach? wissen: Habe ich sei- namentlich von Guillaume gewußt?“ Bahr: Ich war innerlich darauf einge- nerzeit einen Fehler ge- stellt. Das war ja damals keine förmli- macht, nicht die Macht- che Vernehmung. Hätten die Staatsan- probe gewagt zu haben, als Wehner seine daß seine schwere Krankheit bei ihm ein wälte mich gefragt, ob es sonst irgend- schrecklichen Äußerungen in Moskau übertriebenes Wehner-Syndrom auslö- welche Anhaltspunkte gebe, hätte ich tat . . . ste? geantwortet. Aber ich wußte, daß das SPIEGEL: „ . . . der Kanzler badet gern Bahr: Nein, das sehe ich überhaupt nicht. Gerichtsverfahren bevorsteht. lau“, hat Wehner 1973 in Moskau gesagt. SPIEGEL: Auch nicht unter dem Einfluß SPIEGEL: In Ihrer eidesstattlichen Ver- Außerdem glaubte Brandt, Wehner habe seiner Frau Brigitte? sicherung für das Verfahren Seeba- seinen Sturz als Kanzler 1974 betrieben; Bahr: Ich bin fest davon überzeugt, daß cher-Brandt/Wienand trippeln Sie an er witterte eine Kungelei Wehners mit Willy Brandt bis ganz zum Schluß im der entscheidenden Frage – den angeb- Honecker in der Guillaume-Agentenaf- Kopf völlig klar war. Der Vermerk hat lichen Stasi-Kontakten Wienands – färe. das gewohnte Schriftbild. ganz elegant vorbei. Bahr: Natürlich hatte Brandt den Ver- SPIEGEL: Wie erklären Sie sich dann, Bahr: Stimmt. dacht, daß Wehner Kontakte pflegte, daß Falin, was die Rolle Wienands be- SPIEGEL: Wollten Sie eine neue Aus- über welche die Nummer eins auf unserer trifft, eine ganz andere Deutung des Ge- einandersetzung um Wehner verhin- Seite nicht informiert war. Das herauszu- sprächs gibt? dern? kriegen war für ihn ein Stück seines inner- Bahr: In einem Punkt gibt es keinerlei Bahr: Nein. Diese Sache hat doch mit sten politischen Selbst. Unterschiede. Das, was mir Brandt er- Wehner zunächst mal überhaupt nichts SPIEGEL: Moskaus vormaliger Bonn- zählt hat, brachte mich zu meiner Auf- zu tun. Es gab überhaupt keinen ande- Botschafter Walentin Falin behauptet, fassung, Falin habe gesagt: Jedenfalls ren Vorwurf als den: Wienand ist Wehner habe in den siebziger Jahren die war Wienand kein KGB-Mann. Als Fa- KGB-Mann. Und dieses wollte ich de- Sowjets über deutsch-deutsche Geheim- lin mir 15 Monate später – ohne zu wis- mentieren. diplomatie auf dem laufenden gehalten. sen, daß ich Brandts Vermerk kannte – Ich will es noch ein bißchen anders sa- Dagegen will ein hoher Ex-Geheim- seine Version des Gesprächs gab, war gen: Daß es Kontakte zwischen Wie- dienstmann Ost-Berlins wissen, daß für mich auch klar: Wienand ist kein nand und Menschen der DDR – mögli- Wehner jahrzehntelang die DDR vor ei- KGB-Mann. Sonst hätte ich meine ei- cherweise Stasi-Angehörigen – gegeben ner Achse Bonn/Moskau warnte. Wie desstattliche Versicherung so nicht abge- hat, ist ja nicht bestritten worden. Was geht das zusammen? geben. da aber wirklich war, würde mich na-

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Bahr: Nein. Erstens weiß ich nicht, ob es aus Abschiebung den Reihen der SPD kam. Es gibt ja auch andere Hypothesen. Aber verständlich ist Der lügt mir das nicht. SPIEGEL: Was sind Neue Berichte über Menschenrechts- denn in diesem Kon- flikt die Motive der verletzungen in der Türkei lassen die Witwe? Abschiebung von Kurden noch fragli- Bahr: Dazu habe ich meine Meinung. Aber cher erscheinen als bisher schon. ich denke nicht daran, darüber öffentlich zu in Zwölf-Seiten-Dossier aus dem spekulieren. Außenministerium kann dem SPIEGEL: Bis zuletzt EBonner Innenminister Manfred umgetrieben haben Kanther (CDU) noch viel Ärger ma- Brandt offenbar die chen. Der vertrauliche Bericht handelt Hintergründe des Guil- von den Zuständen in der Türkei. laume-Verrats. Gab es Was Mitarbeiter des FDP-Außenmi- „Der Vermerk ist nicht geeignet, da neue Erkenntnisse? nisters Klaus Kinkel zusammengeschrie- letzte Sicherheit zu geben“ Bahr: Willy hatte mich ben haben, stört den Unionsmann bei gebeten, mit Markus seinen Plänen, türkische Kurden mög- Wolf zu sprechen . . . lichst schnell aus Deutschland in die türlich auch interessieren. Doch man SPIEGEL: . . . ach, das war die von der Heimat abzuschieben. Die AA-Diplo- kann da nicht das Ergebnis des Ge- Witwe monierte fröhliche Hamburger maten lassen trotz mancher Schönfärbe- richts vorwegnehmen. Der Vermerk ist Zecherei, an der auch Falin teilnahm? rei an der bedrohlichen Situation für die nicht geeignet, letzte Sicherheit zu ge- Bahr: Es gab nachmittags Kaffee, Tee Menschenrechte am Bosporus, so ein ben. und zuviel Kuchen, Falin habe ich hoher Beamter, „überhaupt keinen SPIEGEL: Bedauern Sie, daß Brigitte noch nie Alkohol trinken sehen. Zweifel“. Seebacher-Brandt die SPD verließ? Brandt war an der Wiedergabe des Vielfache Menschenrechtsverletzun- Bahr: Auf der einen Seite sage ich: Gespräches sehr interessiert, denn er gen „nach Festnahmen vor allem in schade. Andererseits war dies das logi- wollte erfahren: Hat Honecker eigent- Staatssicherheitssachen“ notieren die sche Ergebnis eines langen Prozesses. lich von Guillaume namentlich ge- Autoren der Analyse. Immer wieder Im Ergebnis ist es so: Sie nimmt den wußt? Aber das Gespräch war nicht komme es zu „Ungesetzlichkeiten un- Namen Brandt mit, aber sie kann die voll befriedigend. Wolf konnte die Fra- tergeordneter Organe“, die „zum Teil“, historische Persönlichkeit Brandts nicht ge nicht beantworten, denn er hat in so versuchen die AA-Diplomaten noch mitnehmen. diesen wichtigen Angelegenheiten Ho- zu entschuldigen, „auch traditions- und SPIEGEL: Wem gehört Willy Brandt? necker nicht vorgetragen. Das hatte mentalitätsbedingt“ seien. Eine Verfol- Bahr: Dem Land und seiner Partei. sich Mielke vorbehalten. gung und Verurteilung der staatlichen Die Partei ist auf ihn stolz. SPIEGEL: Mielke soll doch laut Wolf Täter sei „sehr selten“. SPIEGEL: Brandts Witwe hat ihren selbst den Klarnamen Guillaumes zu- Berichte der Menschenrechtsvereine Austritt mit der Empörung darüber be- nächst nicht gekannt haben. über Folter und Mißhandlungen seien gründet, daß führende Sozialdemokra- Bahr: Das mag sogar sein. In unserem „substantiiert und glaubwürdig“, berich- ten Aufzeichnungen ihres Mannes bei- System würde der BND-Chef dem ten die Kinkel-Beamten weiter. Minde- seite geschafft hätten. Hat sie recht? Kanzler in einem persönlichen Ge- stens 312 Todesfälle in Polizeihaft sowie Bahr: Im Gegenteil. Ich habe dafür spräch auch nur sagen: Wir haben da gesorgt, daß sie nicht verschwinden übrigens einen erstklassigen Mann können und mit einem Vermerk bei ganz dicht da und dort, aber er würde der Friedrich-Ebert-Stiftung registriert keinen Namen nennen. wurden. Das durfte nicht verlorenge- Falin hat in dieser Unterhaltung ge- hen. sagt, in der Sowjetunion sei das völlig SPIEGEL: Meinen Sie das jetzt iro- anders. Stalin kannte die Namen aller nisch? Top-Spione. Und dies sei bis heute – Bahr: Keineswegs. Ich habe mich nur zur Zeit Gorbatschows – so geblie- nicht befugt gefühlt, die offensichtliche ben. Entscheidung Willy Brandts, seine SPIEGEL: Hat Markus Wolf nicht den Frau nicht zu informieren, von mir aus direkten Draht zu Brandt gesucht? nachträglich zu korrigieren. Das wollte Bahr: Wolf hat ihm geschrieben und ich auch nicht. sich gewissermaßen entschuldigt. Das SPIEGEL: Wußten Sie eigentlich, daß hat er gelesen und dem Sinne nach ge- sie nach dem Vermerk suchte? sagt: Das nützt mir nun auch nichts Bahr: Nein. mehr. Brandt wollte diesen tiefen Ein- SPIEGEL: Der Hinweis an die Bundes- schnitt in seinem Leben, nämlich die anwälte auf den Verbleib der ver- Hintergründe seines Rücktritts, aufhel- schwundenen Brandt-Notizen kam of- len – bis ins letzte. Und diesen

fenkundig aus den Reihen der SPD. Wunsch des toten Freundes teile ich. T. HÄRTRICH / TRANSIT Sind Ihnen die Motive des Unbekann- SPIEGEL: Herr Bahr, wir danken Ihnen Asylpolitiker Eggert ten verständlich? für dieses Gespräch. Y „Keine ethnische Verfolgung“

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DEUTSCHLAND „Nur Beruhigungspillen“ Interview mit Bayerns Innenminister Günther Beckstein über die Abschiebung von Kurden

SPIEGEL: In der Asylpolitik ist Bayern verletzungen und Folter von Opposi- türkischen Flughäfen. Selbst in Bayern der Hardliner unter den deutschen tionellen vor. Ist die Türkei für Sie ein kämpfen inzwischen CSU-Bürgermei- Bundesländern. Wenn es nach Ihnen Hort der Demokratie? ster dafür, daß Kurden-Familien im geht, nimmt die Republik demnächst Beckstein: Ich verkenne nicht, daß die Land bleiben dürfen. kaum noch Verfolgte aus anderen Län- Türkei in der Auseinandersetzung Beckstein: Mir ist aus meinem Verant- dern auf. mit der kurdischen Terrororganisation wortungsbereich kein einziger Fall be- Beckstein: Wir tun nichts anderes, als PKK einseitig auf Militär und Polizei kannt, in dem solche Behauptungen die bindenden Gesetze anzuwenden. setzt statt auf politische Lösungen. zutreffen. Ich habe aber Verständnis, Wir machen keine extreme oder ande- Dennoch herrschen außerhalb der daß auch Leute aus der Christlich-So- re Ausländerpolitik. Ich spreche bloß Notstandsgebiete zumindest in der zialen Union Sympathie für mensch- die Probleme an, die andere totschwei- West-Türkei Verhältnisse, die mit vie- lich anrührende Fälle haben. Doch das gen. len Ländern der Welt vergleichbar darf nicht darüber hinwegtäuschen: SPIEGEL: Die CSU-Regierung hat sich sind; dorthin könnten die Kurden je- Der Asylkompromiß wird jetzt in einer nur widerwillig bereit erklärt, den Ab- derzeit gehen. großen Kampagne attackiert, indem schiebestopp für Kurden, den der man ergreifende Ein- CDU-Bundesinnenminister Manfred zelfälle hochstilisiert. Kanther verfügt hat, wie die anderen SPIEGEL: An dieser Bundesländer um einen Monat zu ver- Kampagne beteiligen längern. Geht Ihren christdemokrati- sich sogar die Kirchen: schen Freunden der harte bayerische Sie fordern Korrektu- Asylkurs nicht langsam zu weit? ren am Asylgesetz. Der Beckstein: Der Abschiebestopp war Bischof von Augsburg, doch in erster Linie eine Konzession Viktor Dammertz, hat an den schwächelnden Koalitionspart- erklärt, „übergeordne- ner FDP mit ihrem damals angeschla- tes“ Menschenrecht genen Außenminister. Der FDP-Par- stehe über dem staatli- teitag in Gera hat einen Stopp gefor- chen Recht. Wollen Sie dert und ihn dann – quasi als Beruhi- sich mit der Kirche an- gungspille – auch bekommen. legen? SPIEGEL: Ist für Sie das skandalöse Ur- Beckstein: Ein Bischof teil der türkischen Justiz gegen acht hat in politischen Fra- kurdische Parlamentarier, die für ein gen nicht mehr Kompe- autonomes Kurdistan eintreten und tenz als jeder andere zu langjährigen Haftstrafen verurteilt Christ. Und unter den worden sind, kein Grund, den Kurden Mitgliedern beider Kir- in Deutschland weiter Gastrecht zu ge- chen ist die Meinung währen? zum Asylgesetz keines- Beckstein: Das Urteil ist falsch, aber wegs einhellig. In Asyl-

die Frage ist doch: Droht denjenigen, J. OBERHEIDE / ARGUM fragen gibt es im politi- die wir abschieben, mehr Gefahr seit CSU-Minister Beckstein schen Bereich ein un- diesem Urteil? Es ist mittlerweile of- „In Asylfragen gibt es viel Scheinheiligkeit“ glaubliches Maß an fensichtlich, daß die Entscheidung die Scheinheiligkeit. Da kurdischen Abgeordneten betroffen Von Kinkel erwarte ich, daß er sein ei- spielen Leute mit Desinformation und hat, aber nicht Kurden generell. Eine genes Ministerium ernst nimmt, das Ängsten und treiben mit dem Mitge- allgemeine ethnische Verfolgung der die Lage bei Abschiebungen in die fühl anderer Menschen Politik. Kurden gibt es in der Türkei nicht. Türkei ähnlich einschätzt wie ich. Da- SPIEGEL: Es mutet schon merkwürdig SPIEGEL: Kanther und Ihre Kollegen für muß er auch die Verantwortung an, wenn ausgerechnet ein CSU-Mann in den Ländern wollen zumindest übernehmen, statt Landesminister und die Bischöfe als Kampagnentreiber auf die schriftliche Urteilsbegründung Ausländerbehörden allein zu lassen. und Desinformanten verteufelt. Ist es warten, bevor sie über eine Aufhebung Wir haben im Asylrecht die Beurtei- so abwegig, wenn die Kirchen im Na- des Abschiebestopps befinden. lung der Situation in den Herkunfts- men der Menschlichkeit mehr Flexibi- Beckstein: Für mich ist bereits jetzt of- ländern ganz bewußt dem Bund über- lität in Einzelfällen fordern? fenbar, daß das Urteil keine andere tragen. Der hat mehr Einsicht als ein Beckstein: Ich verteufle keineswegs Beurteilung der Lage erzwingt. Ich Landratsamt – oder sollte es zumindest Kirchen oder Bischöfe, deren Aufgabe werde keine Verlängerung der Ausrei- haben. es ist, über Menschlichkeit zu wachen. sefrist über den jetzt beschlossenen SPIEGEL: Die Wirklichkeit deckt sich Aber unser Asylrecht gewährt eine 28. Februar hinaus mittragen. offenbar nicht mit Ihren Wünschen: weltweit einmalige Art, jeden Einzel- SPIEGEL: Amnesty International wirft Abgeschobene berichten von Miß- fall zu prüfen. Sollen etwa 200 Leute der Türkei massive Menschenrechts- handlungen schon bei der Ankunft auf per Unterschriftenliste entscheiden,

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284 Fälle, in denen Betroffene nach ihrer „momentan in der Türkei eine ganze Verhaftung „verschwunden“ seien, hät- Menge“. wer hierbleiben darf? Das hat mit ten die türkischen Organisationen zudem Seine Überzeugung, daß es in der Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun. registriert. Türkei „keine ethnische Verfolgung“ Wenn der Bundestag mit Dreiviertel- Kinkels Lagebericht können Kanther von Kurden gebe, hätten ihm „alle Ge- mehrheit entscheidet, daß abgelehnte und dessen Kollegen in den Ländern bei sprächspartner, auch die allerkritisch- Asylbewerber abgeschoben werden der Entscheidung über den Umgang mit sten“, übereinstimmend bestätigt. Ge- müssen, dann darf nicht noch mal alles abgelehnten kurdischen Asylbewerbern sprächspartner des Sachsen waren der geprüft werden. In vielen Einzelfällen, kaum unbeachtet lassen. Der Streit um türkische Innenminister Nahit Mentes¸e die ich mir angesehen habe, hat sich den gerade noch einmal bis zum 28. Fe- ebenso wie der Vorsitzende des tür- gezeigt: Da ist richtig entschieden wor- bruar verlängerten Abschiebestopp für kischen Menschenrechtsvereins, Akin den. Kurden wird erneut ausbrechen. Birdal. SPIEGEL: Aber viele Härtefälle fallen Können Kurden, deren Asylantrag Kritik fand Eggert vielmehr für die beim Asylgesetz durch den Rost. von deutschen Behörden abschlägig be- Bedenken des Bonner Außenministers. Beckstein: Ich selbst hatte überlegt, ob schieden wurde, gefahrlos in die Heimat Denn Kinkel möchte die Abschiebekan- man eine Art Kirchenpool installieren abgeschoben werden? Bieten zumindest didaten jedenfalls hierbehalten, bis der kann – für besonders schwierige Fälle, die westlichen Teile der Türkei, um Istan- Staatsgerichtshof in Ankara seine Ur- wenn die öffentliche Hand für diese bul, andere Großstädte oder die touristi- teilsbegründung im Prozeß gegen acht Fälle nicht aufkommen muß. Nach schen Regionen am Mittelmeer für Kur- Abgeordnete der Kurden-Partei DEP Vorgesprächen bin ich aber überzeugt, den eine verfolgungssichere sogenannte vorgelegt hat. daß wir die Menschen überfordern innerstaatliche Fluchtalternative? Die Parlamentarier waren im Dezem- würden. Selbst bei gutem Willen wird Länderinnenminister wie der CSU- ber wegen politischer Äußerungen zu es einer Familie oder einer Pfarrge- Bayer Günther Beckstein wollen da kei- langjährigen Haftstrafen verurteilt wor- meinde auf Dauer zuviel, mehrere Flüchtlinge zu beherbergen. SPIEGEL: Rheinland- Pfalz und Hessen wollen über den Bundesrat er- reichen, daß Familien, die bereits vier oder fünf Jahre in Deutschland le- ben, generell bleiben dürfen. Könnten Sie den Vorschlag mittragen? Beckstein: Nein. Das be- deutet, daß derjenige, der einen cleveren An- walt hat und die Verfah- ren nach allen Regeln der Kunst hinauszögert, mit der Aufenthaltser- laubnis belohnt wird. Die Länder wollen da- durch doch nur vertu- schen, daß sie ihre Ver- pflichtungen aus dem

Asylkompromiß nicht AP einhalten und die Ver- Selbstverbrennung eines Kurden*: „Abschiebung nicht zu verantworten“ fahren immer noch nicht schneller ab- laufen. Solche Willkür und Inkonse- ne Probleme sehen: Zumindest in der den. Begründung der Anklage: Mit- quenz würden das Gefühl der Unge- Westtürkei seien die Verhältnisse „mit gliedschaft oder Unterstützung einer il- rechtigkeit nur verstärken. vielen Ländern der Welt vergleichbar“, legalen, bewaffneten Organisation – ge- SPIEGEL: CSU-Mann Beckstein, der glaubt Beckstein aus dem AA-Dossier meint ist die PKK. letzte Streiter gegen Aufweichungsten- herauslesen zu können (siehe Interview Kinkel will auch erst mal abwarten, denzen im Asylrecht? Seite 26). Auch der sächsische Innen- was aus den von Regierung und Parla- Beckstein: Ich werde in meiner Hal- Chef Heinz Eggert (CDU) beurteilt die ment angekündigten Verfassungsände- tung von Zuschriften aus ganz Menschenrechtssituation beim Nato- rungen wird, die Demokratie und Mei- Deutschland bestärkt. In den nächsten Partner verblüffend günstig. nungsfreiheit stärken sollen. „Wenn da Jahren wird die Zuwanderung aus Ein Abschiebestopp, verkündet seit der FDP-Chef über den Außenminister Nordafrika, Asien und Osteuropa seinem Türkeibesuch Mitte Januar der gesiegt hat“, droht Eggert, „dann wäre noch stärker werden. Deshalb müssen Ex-Pfarrer Eggert, sei „überhaupt nicht das außerordentlich gefährlich.“ wir den Asylkompromiß entschieden notwendig“. Zwar räumte der oberste Der Eifer Eggerts, die Lage in der vollziehen. Abschiebestopps sind da- Asylwächter in Dresden bereitwillig Türkei schönzureden, stößt bei der bei nur Beruhigungspillen fürs Volk. „Demokratiedefizite in der Türkei“ ein. Bonner Opposition wie bei Menschen- Für die Flüchtlinge sind sie trügerisch, Doch gebe es die für Türken wie Kur- rechtsorganisationen auf Empörung. denn am Ende müssen sie doch abge- den gleichermaßen. Zudem bewege sich „Der lügt“, sagt die grüne Bundestags- schoben werden. abgeordnete , die seit * Während einer Kurden-Demonstration auf der Jahren immer wieder mit internationa- Autobahn bei Frankfurt am 22. März 1994. len Beobachtergruppen, wie zuletzt im

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Dezember, in die kurdischen Provinzen und seine Familie hat. Er sei, sagt er, reist. auf einer „Todesliste“ der „Hisbollah“ Beers Fraktionskollege Cem Özde- aufgetaucht, die bei Menschenrechtlern mir, in Deutschland geborener Sohn als staatlich gestützte „Todesschwa- türkischer Einwanderer, war beinahe dron“ gefürchtet und für zahlreiche po- zeitgleich mit Eggert in der Heimat sei- litische Morde und Gewalttaten in der ner Eltern und hat ganz andere Erfah- Türkei verantwortlich gemacht wird. rungen gemacht. Die Situation in der Auch in den westlichen, angeblich Türkei sei „unverändert“, stellte Özde- friedlichen Landesteilen, behauptete mir fest, „Menschenrechtsverletzungen der Exil-Kurde, gebe es Mordanschläge passieren tagtäglich und können alle auf Oppositionelle. „Von einer inner- treffen“. Deshalb seien „Abschiebun- staatlichen Fluchtmöglichkeit zu spre- gen nicht zu verantworten“. chen“ ist auch nach Erkenntnissen von Von dem Menschenrechtler und Eg- Amnesty International „kaum mehr gert-Gesprächspartner Birdal will der möglich“. Kurden müßten selbst in an- türkische Schwabe in einem Telefonat deren Gebieten der Türkei „mit Fest- kürzlich sogar „ausdrücklich“ aufgefor- nahmen, Mißhandlung und Folter rech- dert worden sein, Eggerts Version von nen“. Sie würden „pauschal der PKK- dem gemeinsamen Gespräch zu korri- Unterstützung verdächtigt“, heißt es im gieren: „Genau das Gegenteil“ habe aktuellen Report der Menschenrechts- Birdal dem Christdemokraten erzählt. organisation. Ganz so gepflegt, wie Eggert verbrei- Entgegen der bislang von Bonner tet, können die Verhältnisse in der Tür- Regierungsseite vertretenen Maxime kei tatsächlich nicht sein. Der kurdische bestehe die „Gefahr der Festnahme Autor Yas¸ar Kemal etwa, der im SPIE- und des Verhörs“ nicht nur für ver- GEL (2/1995) „unerträgliche Zwänge meintliche PKK-Anhänger, sondern Kameraleute vor dem Amtsgericht in und Grausamkeiten“ gegen seine praktisch für alle Türken, die mit den Landsleute beklagt hatte, ist vor dem Kurden sympathisieren. Staatssicherheitsgericht in Istanbul we- Die möglichen Folgen beschreibt Justiz gen Verbreitung staatsfeindlicher kurdi- Amnesty kurz und bündig: „Bei diesem scher Propaganda angeklagt (siehe Seite Verhör kann, je nach Verlauf, auch 122). Folter angewandt werden.“ Ein ehemaliger kurdischer Kommu- Eggert glaubt solche Folter-Vorwürfe Das gewisse nalpolitiker, der fünf Jahre lang Amts- zerstreuen zu können. Der Minister, chef einer rund 60 000 Einwohner gro- der auf seiner Türkeireise ein Abschie- ßen Stadt im Südosten der Türkei war be-Abkommen zwischen Bonn und An- Etwas und vor wenigen Wochen illegal sein kara eingefädelt hat, will den unfreiwil- Land verließ, zeigt sich entsetzt über ligen Heimkehrern künftig immerhin Der O.J.-Simpson-Prozeß macht den deutschen Christdemokraten: „Der einen „Vertrauensanwalt sowie einen deutsche TV-Manager begehrlich. glaubt an seine Worte doch selber zivilen unabhängigen Arzt“ an die Seite nicht.“ stellen. Was ein Mediziner allerdings Sie fordern von Bonn die Zulassung Der 38jährige Kurde hat sich nach bei rechtsstaatlich korrekten Verneh- von Gerichtsfernsehen. Deutschland geflüchtet, weil er Angst mungen verloren hat, bleibt Eggerts vor gewaltsamen Übergriffen auf sich Geheimnis. Y er Mann ist sich seiner Wirkung bewußt. Den Kopf halb nach Drechts gewendet, die Augen unter gerunzelter Stirn wachsam seitwärts spähend, sitzt der Angeklagte O.J. Simpson vor den Schranken des Fernse- hens. Die unbewegte Kamera oben rechts im Gerichtssaal von Los Angeles ist nicht zudringlich, aber stets gegenwär- tig. Die gut trainierte Miene des Foot- ballstars und Werbeprofis gehört zum Instrumentarium seiner gewieften An- wälte. Über die Bildschirme von Millio- nen Amerikanern läuft, in monomanem Gleichmaß, ohne die gewohnte rasante Schnittfolge, ein langes Fernsehspiel um Leben und Tod, Schuld und Sühne. In Deutschland, wo ein gestrauchel- ter Football-Akteur von den Cologne Crocodiles oder den Munich Cowboys kein Kamerateam an die Gerichtstür locken würde, gelangte die Permanenz- Übertragung von Simpsons Doppel-

SIPA mordprozeß in den USA breit in die Getötete PKK-Kämpfer in der Türkei: „Unerträgliche Zwänge und Grausamkeiten“ Nachrichtensendungen von ARD, ZDF

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„Das Spektakel ist überhaupt nicht in über Verbrechen an Kindern sendenoder meinem Sinn“, beteuert Karl-Ulrich der Resozialisierung von Angeklagten Kuhlo, 47, Geschäftsführer des Berliner schaden. Dafür sei n-tv zu seriös. Nachrichtensenders n-tv. Dabei ist Kuh- Doch solche Schwüre stoßen bei der öf- lo entschlossen, den Vorreiter zu ma- fentlich-rechtlichen Konkurrenz auf chen. Mißtrauen. Die Privatsender suchten Gerichtsverhandlungen, so die Logik doch nur, mutmaßt Tagesschau-Chef Ul- des Fernsehmannes Kuhlo, seien auch rich Deppendorf in Hamburg, „das Eye- in Deutschland schon stets öffentlich. catching, das gewisse Etwas“ vor Ge- Ergo: „Im Jahre 1995 heißt Öffentlich- richt. keit Fernseh-Öffentlichkeit, und deswe- Ein paar von seinen Kameras hätte gen meine ich, daß natürlich Fernsehka- aber auch Deppendorf gern in den Ge- meras in Gerichtssäle gehören.“ richtssälen: „Ich fände es sehr gut, Gegen Ende dieser Woche will er bei wenn die großen Prozesse aus dem Bun- Bundesjustizministerin Sabine Leut- desverfassungsgericht übertragen wer- heusser-Schnarrenberger (FDP) und den könnten.“ den Bundestagsfraktionen ein Rechts- Vorsichtige Annäherung an das Pro- gutachten abliefern. Der Verfasser, der blem auch beim ZDF. Anstalts-Justitiar ACTION PRESS Hamburg*: „Wie in einem Theaterstück“ COURT TV D. BUTOW / BLACK STAR Angeklagter Simpson im Fernsehen (1994), Reporterpulk beim Simpson-Prozeß: „Man kriecht den Leuten in die Poren“

und Privatprogrammen. Via Satellit er- Münchner Anwalt Mathias Schwarz, gilt Carl-Eugen Eberle schwört zwar: „Keine lebten die Deutschen, was hierzulande zugleich als Vertrauensmann des Me- generelle Berichterstattung, insbesonde- gesetzlich verboten ist: Fernsehaufnah- dienunternehmers Leo Kirch. re bei Strafprozessen.“ Doch immerhin: men aus dem Gerichtssaal. Schwarz argumentiert so: „Wären alle Urteilsverkündungen aller Art, freilich Während herkömmlich im Fernseh- Prozeßbeteiligten einverstanden, stünde ohne zudringlichen Schwenk auf den An- land Bundesrepublik Strafprozesse als der Übertragung nichts entgegen, weil geklagten, möchte auch das ZDF gern Gesellschaftsspiel nachgestellt werden das Persönlichkeitsrecht nicht betroffen senden, ebenso Entscheidungen höherer („Wie würden Sie entscheiden?“), sind wäre. Sind die Beteiligten nicht einver- Instanzen über Rechtsfragen oder Ver- amerikanische Juristen längst dabei, die standen, müßte der Richter im Einzel- waltungsgerichtsprozesse mit TV-ver- Gerichtswirklichkeit TV-gerecht zu in- fall über die Zulassung von Funk und sierten Rechtsprofessoren. szenieren. „Sind Sie eine Art Sex-Ma- Fernsehen entscheiden.“ Mit untrüglichem Gespür für den schine?“ wurde Prominentensproß Wil- Das Drehverbot nach dem Gerichts- Trend forderte vorigen Mittwoch auch liam Kennedy Smith Ende 1991 in sei- verfassungsgesetz hält der Medienjurist der SPD-Medienpolitiker nem Vergewaltigungsprozeß von der für reformbedürftig, wenn nicht für ver- „mehr Transparenz gegenüber Richtern Anklägerin gefragt, und die weltweit fassungswidrig. Es dürfe nicht generell und dem Gericht“ durch mehr Sendefrei- sendende CNN-Kamera sah zu. das Grundrecht der Angeklagten auf heit in laufenden Prozessen. Die Sorge Das Reality-Spiel von Blut-, Sex- und Persönlichkeitsschutz vor dem Grund- mancher Juristen vor Show-Einlagen Drogenrausch macht deutsche Fernseh- recht auf Freiheit der Berichterstattung „eitler“ Richter oder Anwälte teilt Glotz Manager nun mutig. Ein bißchen Ge- rangieren. Auch vor Gericht müsse – nicht. In der Politik, so der Bundestags- richtsfernsehen, fordern einige, müßte wie sonst bei der Pressearbeit – im Ein- abgeordnete, bringe die Eitelkeit von auch hierzulande erlaubt sein – natürlich zelfall zwischen Informationsinteresse Abgeordneten schließlich auch nieman- in netter Form. und Persönlichkeitsschutz abgewogen den auf die Idee, die Kameras im Parla- werden. ment abzuschalten. * Im Oktober 1993 beim Prozeß um das Attentat Kuhlo versichert, er wolle keinesfalls Schon jetzt lassen sich die Kameraleute auf die Tennisspielerin Monica Seles. um der Einschaltquoten willen Prozesse nur mit Mühe aus den Strafgerichtssälen

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drängen. Ganze Scharen von TV- Leuten mitsamt einschüchternder Technik stürmen regelmäßig zur Anklagebank, wenn, oft in Hand- schellen, der Angeklagte herein- geführt wird. Mit verzweifelten und entwürdigenden Versteck- spielen wehren sich Prozeßteilneh- mer gegen die Zudringlichkeit der Fernsehgewalt. Rudolf Gerhardt, langjähriger ARD-Justizreporter, sieht in der geduldeten TV-Praxis, im Ge- richtssaal bis knapp vor dem offi- ziellen Verhandlungsbeginn zu fil- men, „Umwege um das Tabu“ des Gerichtsverfassungsgesetzes. Gerade in der Karlsruher Resi- denz des Rechts wankt das Tabu schon. Bei den Entscheidungen des Verfassungsgerichts über Awacs-Flüge deutscher Soldaten auf dem Balkan oder den Blau-

helm-Einsatz in Somalia drängten M. LUDAK / IMPACT VISUALS sich vorletztes Jahr 30 bis 40 Fern- Kameratürme beim Simpson-Prozeß*: „Auf ewig aufgezeichnet“ sehleute mit mindestens 16 Kame- ras. Ein Pulk von Ü-Wagen umringte der Bundesgerichtshof 1961, werde der „Persönlichkeitsrecht der Beteiligten“ das Gerichtsgebäude. Beweiswert der Aussagen gefährdet. sieht die Hamburger Richterin Monika Kuhlos n-tv ging damals den entschei- 1964 wurde auch der bis dahin gedul- Rolf-Schoderer auch die Unbefangen- denden Schritt weiter: Beim Awacs-Pro- dete Mitschnitt von Urteilsverkündun- heit von Zeugen und Richtern in Ge- zeß ließ sein Aufnahmeteam nach dem gen für Funk und Fernsehen verboten. fahr, „wenn man weiß, daß das abends Abschaltkommando des damaligen Se- Mittlerweile geht es um mehr. Die in der Glotze läuft“. Sie sei daher, so die natsvorsitzenden Ernst Gottfried Mah- technischen Möglichkeiten des Fernse- Strafrichterin, „ganz und gar dagegen, renholz die Kamera heimlich weiterlau- hens, jedes Detail der Rechtsfindung für daß während der Hauptverhandlung fen. die Krimi-Show auszuschlachten, macht überhaupt gefilmt wird“. Laufende Ka- Ausschnitte aus der Urteilsbegrün- Rechtspolitikern und Richtern angst. meras würden „die Beweisergebnisse dung gingen illegal über den Sender, Die Vorstellung „ist schrecklich für verfälschen“, meint auch Heinrich n-tv bekam vom Verfassungsgericht mich“, schaudert Rechtsprofessor Win- Gehrke, Vorsitzender Richter der 29. Hausverbot angedroht. Nach einer Ent- fried Hassemer, Datenschutzbeauftrag- Großen Strafkammer am Frankfurter schuldigung verzichtete Mahrenholz ter in Hessen, „weil man den Leuten in Landgericht, weil die Beteiligten sich darauf. die Poren kriecht“. Es gelte, so Hasse- „vorkämen wie in einem Theaterstück“. Dabei kann sich Kuhlo mit seiner For- mer, „die Rechte der unprofessionell Doch Gerichtsfernsehen läßt sich in derung nach freiem Zutritt zu den Ge- Beteiligten zu schützen, die unfreiwillig Deutschland sehr viel behutsamer als in richtssälen auf die Rechtsprechung des im Gerichtsraum sitzen“, damit sie nicht den USA organisieren. Schon die Re- Verfassungsgerichts berufen. Die Rich- „auf ewig aufgezeichnet und wieder ab- geln des deutschen Strafprozesses ver- ter haben der Meinungs- und Pressefrei- gespielt werden“ können. hindern allzu viele Show-Effekte und er- heit eine „schlechthin konstituierende“ Auch Hassemers Bonner Professo- lauben es, Angeklagte und Zeugen zu Bedeutung für die Demokratie einge- renkollege Gerald Grünwald ist „ganz schützen. räumt. dezidiert“ der Ansicht: „Das Fernsehen TV-Gerichtsreporter Gerhardt, mitt- Im Sommer vergangenen Jahres gab verfälscht den Prozeß.“ lerweile Publizistik-Professor in Mainz, das Gericht einer von ZDF-Justitiar Die Bundesrechtsanwaltskammer plädiert für eine maßvolle Liberalisie- Eberle betriebenen Verfassungsbe- lehnt eine Gesetzesänderung strikt ab. rung. Beim Bundesverfassungsgericht schwerde öffentlich-rechtlicher und pri- Bei Prozessen vor der Kamera bestehe etwa, wo sich die großen Verfahren vater TV-Sender gegen das Landgericht die Gefahr, daß Richter, Staatsanwälte, nicht wesentlich „von einer Verhand- Berlin statt. Hansgeorg Bräutigam, Angeklagte, Verteidiger, Angehörige lung im Parlament“ unterscheiden, soll- Vorsitzender des dortigen Schwurge- und Zeugen „gnadenlos am TV-Pranger ten „Fernsehaufnahmen zulässig sein richts, hatte im Prozeß gegen Erich Ho- stehen oder sich mehr auf ihre Selbst- mit einem Minimum an Irritationen im necker, Erich Mielke und vier andere darstellung als auf den Prozeßverlauf Saal“. Dafür, so der Professor, könnte frühere DDR-Machthaber aus Ord- konzentrieren“, erklärte die Organisati- eine sogenannte Pool-Kamera dienen, nungsgründen Fernsehaufnahmen im on in Bonn. deren Aufnahmen allen interessierten Sitzungssaal auch außerhalb der Ver- Selbst der sonst so öffentlichkeitsbe- Sendern zur Verfügung stünden. handlung untersagt. Das Verfassungsge- wußte Prominentenanwalt Rolf Bossi Das Verfassungsgericht ist solchen richt sah die Rundfunkfreiheit verletzt. fragt sich, wie ein Angeklagter „im Be- Forderungen schon ein kleines Stück Mit dem Bonner Vorstoß von n-tv wußtsein, es gaffen drei Millionen zu, entgegengekommen. lebt eine Debatte wieder auf, die sich sein Innerstes offenbaren soll“. Gegen Proteste konservativer Rechts- vor über 30 Jahren an Fernsehaufnah- Unter Strafrichtern ist die Skepsis ge- theoretiker vereinbarten die Richter mit men von Teilen einer Schwurgerichts- gen jede Art des Gerichtsfernsehens den Fernsehveranstaltern einen Kom- verhandlung entzündet hatte. Wegen nicht minder verbreitet. Neben dem promiß: Der Urteilstenor darf ge- „störender Einflüsse“ der TV-Arbeiten sendet werden – die Urteilsbegründung auf Angeklagte und Zeugen, monierte * In Los Angeles. nicht. Y

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te Umweltministerin Umwelt Angela Merkel (CDU) Gift fürs Klima vergangene Woche, Kohlendioxid-Emissionen in Deutschland 1993* 387 werde sie den Aosis- Vorschlag unterstüt- in Millionen Tonnen Berliner zen. Dabei enthält das Papier im wesentlichen jene Ziele, auf die sich *geschätzt Luftschloß die Deutschen ohnehin schon festgelegt ha- Auf der internationalen Klimakonfe- ben. Die angestrebte Ei- 197 renz in Berlin droht der Bundesregie- nigkeit über ein Berli- 185 rung eine Blamage – Bonner Pannen ner Protokoll sei „Illu- sion“, glaubt Michael 126 häufen sich. von Websky, Klimaex- perte im Umweltmini- er Autoverkehr soll blockiert wer- sterium. Die Bundes- den, künstliche Sanddünen werden regierung sei schon Dentstehen, Besucher sollen mit So- zufrieden, wenn sie larmobilen durch die Hauptstadt kut- wenigstens ein „Man- Private Straßen- Gewerbe, Kraftwerke, schieren und über „Klimaschutz aus fe- dat für Verhandlungen Haushalte und Luft- Industrie, Fernheiz- und ministischer Sicht“ diskutieren. über ein künftiges verkehr Bergbau Industriekraft- Die Action während der internationa- Protokoll“ aushandeln Quelle: Umweltbundesamt werke len Klimakonferenz in Berlin findet al- könne. „Die Bundes- lerdings außerhalb der Tagesordnung regierung will nicht länger Vorreiter im net Umweltministerin Angela Merkel statt – über hundert Umweltgruppen Klimaschutz sein“, fürchtet Hermann- zurückhaltender als der Fraktionschef wollen gemeinsam Zoff machen. Vom Josef Tenhagen vom Klimaforum, einer der Unionsparteien, Wolfgang Schäub- offiziellen Teil des Welt-Treffens der Dachorganisation der Klima- und Um- le. Klimapolitiker droht eher Langeweile – weltverbände. Jetzt gehe es nur noch Der ist dafür, schon bald eine CO2- falls nicht in der kommenden Woche bei um den „Antrag auf die Erteilung eines Steuer im nationalen Alleingang einzu- den Vorverhandlungen in New York Antragsformulars“, spottet der Wissen- führen – als Ersatz für den verfassungs- überraschend doch noch ein Durch- schaftler. widrigen Kohlepfennig. Merkel hält das bruch gelingt. Von den Vorverhandlungen in New so schnell nicht für möglich. Die Sorge, daß der Berliner Gipfel York erhoffen sich die deutschen Unter- Die Klimapolitik der deutschen Gast- zum ergebnislosen Mammutspektakel händler nur noch ein gemeinsames Pa- geber läßt auch in anderen Punkten alle wird, treibt neuerdings auch den Kanz- pier der Europäer – kein großer Schritt Wünsche offen. Zwar müssen laut Kli- ler um. Auf dem Vorgänger-Gipfel in nach vorn. Schon im Dezember hatten makonvention die Industrieländer dar- Rio hatte sich noch als Kli- sich die EU-Länder auf dem Essener über berichten, wie wirksam ihre natio- ma-Vorkämpfer präsentiert; mit großer Gipfel auf vergleichbare Grundsätze ge- nalen Maßnahmen für die Minderung Geste lud er damals die Vertragsstaaten einigt. des Kohlendioxid-Ausstoßes sind – doch ein. Um in Deutschland die CO2-Emissio- daran haben sich die Bonner nicht ge- Daran muß er sich vor kurzem erin- nen möglichst schnell einzudämmen, halten. nert haben. Besorgt um den Verlauf der fordern Umweltverbände schon seit Das Thema kommt im Bericht der „auf absehbare Zeit wichtigsten interna- langem eine CO2-Energiesteuer. Die Bundesregierung nicht mal als Über- tionalen Konferenz auf deutschem Bo- Chancen dafür beurteilt aber ausgerech- schrift vor. den“ mahnte er vergangene Woche sei- Ähnliche Pannen gab es schon häufi- ne Kabinettsmitglieder, sich um das ger. Bei der jüngsten Klima-Runde in Thema zu kümmern. Kohl: „Da schaut Genf blockierten sich das Umweltmini- die Welt auf Deutschland.“ sterium und das Wirtschaftsressort bis Das wird nicht viel nützen. Seit lan- zur letzten Minute im Streit um den gem verhandeln die rund 160 Rio-Ver- Wortlaut des deutschen Positionspa- tragsstaaten vergebens über ein interna- piers. tional verbindliches Zusatzprotokoll zu Trotz vollmundiger Ankündigungen ihrer Konvention. Darin sollen Redukti- des damaligen Umweltministers Klaus onsziele für Treibhausgase wie Kohlen- Töpfer (CDU) legten die Deutschen dioxid festgeschrieben werden. schließlich keinen eigenen Protokollent- Das Projekt ist ein Luftschloß. Nur wurf vor. Für Absprachen mit den ande- wenige Länder wollen sich heute noch ren Europäern blieb keine Zeit. „Die solche Pflichten aufbürden, einen Ent- anderen EU-Vertreter waren stinksau- wurf haben bislang lediglich 36 kleine er“, erinnert sich ein Konferenzteilneh- Inselstaaten wie Trinidad und Barbados mer. vorgelegt. Und selbst diese sogenannten Für den Fall, daß die Gäste aus aller Aosis-Länder werden zur Zeit von Welt in Berlin allzuschnell die Lust an Schwellenländern wie Indien und Brasi- ihrem Thema verlieren, haben die lien bedrängt, ihr Papier zu kassieren. Bonner im übrigen schon vorgesorgt. Nun wollen sich auch die Deutschen Die Bundesregierung will den rund 3000

beim Kampf ums Klima nicht mehr so J. H. DARCHINGER Delegierten kostenlose Bahnfahrten zur weit vorwagen wie bislang. „Nur ge- Gipfel-Gastgeberin Merkel parallel laufenden Industriemesse in meinsam mit den EU-Partnern“, erklär- Illusionen von Einigkeit Hannover spendieren. Y

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KOMMENTAR Der Papst und ich RUDOLF AUGSTEIN

ie, zeugt unsere Überschrift schofs von Evreux, Jacques Gaillot, jegliche Empfängnisverhütung auf der nicht von einem gelinden Grö- sondern ihr Großherr, ihr Sultan, ganzen Welt, sogar in China? Wßenwahn? Der Papst, den ihr Padischah; Er mag den vorehelichen Sex brand- hundert Millionen Menschen erleben, i und weil, dies ist wohl der gewichtig- marken, hier hört wohl tatsächlich kei- und ein Journalist, den nur etliche ste Einwand gegen ihn, seine sei es ner mehr hin, das schadet dann ja tausend Leser dem Namen nach ken- verklemmte, sei es fromme, sei es nicht. Aber am Rande der Kriminalität nen? disziplinierende Sexuallehre ein früherer päpstlicher Jahrhunderte be- Der Dominikanerpater Basilius Fluch für die Menschheit ist. wegt sich, wer die Bevölkerungsexplo- Streithofen sieht es so im Berliner Wer sagt uns denn, daß der Papst sion nicht zur Kenntnis nimmt, son- Tagesspiegel. Die katholische Kirche nur als ein großer Kostüm-Kommuni- dern noch anheizt. und der Papst seien Zielscheibe der kator auftritt, dessen Lieder man hört, Hier ist es zu Ende mit Ehrfurcht, von mir inaugurierten SPIEGEL-Hä- aber nicht befolgt? Natürlich ist er für Achtung und Toleranz. Die Zukunft me. Die neben mir arbeiten, sind die Todesstrafe, wie sein Vorgänger der Menschheit, ihr Überleben steht Mitläufer, Nachahmer oder böswillige Pius XII., der Hitler dem Stalin vorge- wortwörtlich zur Disposition, während Ignoranten. zogen hat. Die Atomkraft, friedlich der Papst sich mit dem Status wieder- Haben wir das verdient? Gewiß oder kriegerisch, beurteilt er ebenfalls verheirateter Geschiedener beschäf- nicht alle meine Kolleginnen und aus der Kirchturm-Perspektive. tigt. Kollegen. Ich aber schon. Ich bin Wer sagt uns, daß niemand hinhört, Mit den viel zu vielen Menschen und nicht tolerant gegenüber einer Institu- wenn der Papst Regierungen und gan- dem unaufhaltsamen Bevölkerungs- tion, die im Februar des Jahres 1600 ze Menschenmengen auffordert, nur ja wachstum hängt alles zusammen: Die den Philosophen Giordano Bruno keine künstliche Empfängnis zu dul- kaum noch durchschaubare Umwelt- und im Laufe der Jahrhunderte Mil- den oder zu praktizieren? Wenn er problematik, die Armut und das An- lionen anderer „Ketzer“ hat verbren- Kondome in Aids-verseuchten Län- alphabetentum – ihrerseits wiederum nen lassen, ohne Reue. dern, etwa in Uganda, verteufelt? Und Beschleuniger der Überbevölkerung. Ehrfurcht vor Heuchelei und Der Apokalyptiker Johannes Machtmißbrauch empfinde ich auf Patmos würde erbleichen. nicht. Achtung vor angemaßter Sir Karl Popper, der Optimis- Autorität ist mir fremd. Wieso mus zur Pflicht erklärt, hat ge- bin ich kirchenfeindlich, wenn gen Ende seines langen Philoso- ich gegen die Papstkirche auf- phenlebens geraten, „aus Grün- trete? Und areligiös? Das hat den der Menschlichkeit darauf mir noch keiner gesagt. Ein dia- hinzuarbeiten, daß nur er- metral Andersdenkender, prak- wünschte Kinder geboren wer- tizierender Katholik, war über den“ – Tableau! Abtreibung! –, viele Jahre mein engster Mitar- denn es sei grausam und führe beiter. Intolerant gegen die In- allzuoft zu psychischer wie auch toleranz, ja, das will ich sein. physischer Gewalt, wenn man Ich bin gegen Papst Wojtyla ein unerwünschtes Kind in die i weil er sich ernsthaft für den Welt setze. Stellvertreter Christi auf Er- Die Zukunft sei offen, meint den ausgibt, als „von Gott ge- der Optimist Popper, wir alle setzt“, um mit Martin Luther könnten sie mitbestimmen. Sie zu reden; ist aber auch offen für jede Art i weil er keine andere Meinung Apokalypse. Mit dieser Kirche, gelten läßt als seine eigene, unter diesem Papst erst recht. mag sie auch dem Fundus des Er, gerade er, hat in seinem „Ratzingerismus“ entnom- Erfolgsbuch den Buddhismus men sein, wie die Pariser Ta- als „negative Heilslehre“ kriti- geszeitung Libe´ration das siert – wohl nicht ahnend, daß er nennt: Dieser Sänger werde den Buddhisten in Sri Lanka, mehr gerühmt als sein Lied; immerhin 70 Prozent der Bevöl- i weil Menschen bei ihm durch- kerung des Landes, demnächst weg auf der Strecke bleiben, seinen „höchsten Respekt“ be- wenn er seine Unfehlbarkeits- zeugen werde. pose in Gefahr sieht. Er ist Wie soll der Vatikan den Dia- nicht der Bruder seiner Brü- log mit anderen Weltreligionen der, nicht der Bruder des Bi- oder auch nur den Protestanten

DPA führen, solange er die doktrinä- * Während der Seligsprechung von Papst Johannes Paul II.* re monolithische Geschlossen- Mutter Mary MacKillop in Sydney. „Friedhof musealer Vergangenheit“ heit praktiziert, gegen die dieser

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Papst doch aus seiner Krakauer Zeit ge- feit sein sollte. Solange er ex cathedra seine Überzeugungen verkündet, die kirchlichen Dogmen verdächtig nahe- kommen, muß er das ihm 1870 von Papst Pius IX. vermachte Unfehlbar- keitsdogma gar nicht einmal in An- spruch nehmen. Der Bischof von Evreux hatte eigene Ansichten, und schon das war zuviel. Aber auch mit den ihm treuen Bischö- fen Lehmann, Kasper und Saier läßt Wojtyla den Dialog lieber durch andere auf unterstem Niveau führen. Die chi- nesischen Katholiken hat er wissen las- sen, sie müßten ihn als Oberhaupt der Kirche anerkennen, sonst dürften sie sich nicht als wirkliche Katholiken be- trachten. Dagegen hätte auch Luther nicht pro- J. H. DARCHINGER Gesundheitsminister Seehofer: „Es droht ein rechtsfreier Raum“ testiert, der es noch nicht mit einem un- fehlbaren Papst zu tun hatte, sondern nur mit Konzilien, die er für fehlbar hielt. Gesundheitspolitik Heute sind „wirkliche“ Katholiken etwa die Bischöfe Dyba (Fulda), Krenn (Sankt Pölten), Haas (Chur), die „auf skandalöse Weise ihre Diözese ruinie- „Schüsse aus der Hüfte“ ren“. Wer spricht so? Bösartige SPIE- GEL-Ignoranten? Nein. In einem Soli- Gesundheitsminister Horst Seehofer (CDU) über die Rinderseuche BSE daritätstelegramm protestierten acht deutschsprachige Theologen derart ge- SPIEGEL: Herr Seehofer, erleben wir habe ich bereits im Sommer 1994 gesagt, gen den „päpstlichen Willkürakt“ der beim Problem der Rinderseuche BSE also vor den Wahlen. Amtsenthebung des Bischofs Jacques Ihre Verwandlung vom harten zum SPIEGEL: Auch eine Übertragung der Gaillot. Unter den achten war der schon nachgiebigen Politiker? Krankheit von infizierten Rindern auf 1979 mit dem Entzug der Lehr- Seehofer: Was meinen Sie denn nun Menschen kann noch nicht sicher ausge- erlaubnis gestrafte Hans Küng. damit? schlossen werden. Deshalb müsse man so Mit der Wojtyla-Kirche geht es in ei- SPIEGEL: Vor Jahresfrist war die Ein- handeln, als ob der „Rinderwahn auf den ne Zukunft ohne Hoffnung. So sagt es fuhr von britischem Rindfleisch wegen Menschen übertragbar wäre“. Das sag- der gemaßregelte sanfte Rebell Eugen der Übertragungsrisiken für Sie noch ten Sie im April 1994. Warum darf nun Drewermann: ein „nicht zu verantwortendes Experi- doch Rindfleisch mit solchem Restrisiko Man kann nicht sein Leben damit ver- ment am Menschen“. Jetzt soll der Im- verkauft werden? bringen, auf die Erlaubnis zum Leben port plötzlich fast vollständig freigege- Seehofer: Dies gilt heute noch. Die Re- von seiten einer Kirche zu warten, die ben werden. geln gehen nach wie vor davon aus, als sei seit Jahrhunderten nur noch den Fried- Seehofer: Der harte Reformer hat im BSE auf den Menschen übertragbar. hof ihrer eigenen musealen Vergan- Sommer bei der Europäischen Union Grundlage der neuen Vorschrift ist ein genheit verwaltet. massive Sicherheitsvorschriften durch- einstimmiges Votum des wissenschaftli- gesetzt. Seither darf Fleisch aus Groß- chen Veterinärausschusses bei der Euro- Kann man es treffender sagen? Man britannien nur importiert werden, päischen Union – einschließlich der in kann nicht. Oder müssen wir jetzt noch wenn es aus Herden stammt, die sechs diesem Ausschuß sitzenden deutschen Drewermanns „Persönlichkeitsstruk- Jahre BSE-frei waren, oder wenn es Wissenschaftler. Die Kommissionsent- tur“ erörtern, was Pater Basilius bei mir sich um schieres Muskelfleisch handelt, scheidung beruht auf diesem Votum. Wir erklärtermaßen nicht will (ich übrigens das keine Gefahr birgt. Nun darf auch sind nach europäischem Recht verpflich- bei ihm auch nicht). Fleisch von Rindern, die nach dem 1. tet, das umzusetzen. PS: Zur Erinnerung: Die letzte Ab- Januar 1992 geboren wurden, hierzu- SPIEGEL: Auch scheinbar gesunde Tiere setzung eines Bischofs war im Jahre lande verkauft werden. können die Seuche in sich tragen. Sie ha- 1983, die des Emmanuel Milingo in Lu- SPIEGEL: Wenn aber eine Übertragung ben den Vergleich mit Aids bemüht. saka, weil er Wunderheilungen prakti- vom Muttertier aufs Kalb nicht auszu- Seehofer: Nach den Bewertungen des zierte. Gaillot wurde nicht nur schlicht- schließen ist, können doch auch solche Aids-Untersuchungsausschusses gab es weg amtsenthoben, sondern zudem Tiere von der Seuche befallen sein. damals in den USA gesicherte Erkennt- auch noch verhöhnt. Er ist zum Titular- Seehofer: Der Hauptgrund für die nisse. Die hätten von den Behörden hier bischof von Partenia in Mauretanien zu- Übertragung ist die Fütterung mit ver- umgesetztwerden müssen.Das sei,soder rückgestuft worden, einer längst unter- seuchtem Tiermehl. Dies belegt die Ausschuß heute, aus wirtschaftlichen gegangenen Gemeinde im Wüstensand. Entwicklung der Fallzahlen von BSE und anderen Überlegungen nicht gesche- Johannes Paul II., „Bruder in Chri- bei Rindern in Großbritannien. Ob es hen. Bei BSE gibt es solche Erkenntnisse sto“, selbstverpackt. noch andere Infektionswege gibt, ist nicht. unbeantwortet. Der Punkt muß wissen- SPIEGEL: Auch damals waren die Warner schaftlich noch geklärt werden. Das in der Minderheit.

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Recht nicht umsetzen, weil uns der Bundesrat Affären daran hindert. Die Kommission oder der Europäische Gerichts- hof aber hindern uns Alles gleichzeitig, eigen- mächtig Schutzvor- schriften zu erlassen. versucht Beides zusammen führt dazu, daß nach Der Hamburger Tropenmediziner dem 6. Februar bei uns Dietrich, schwerer Kunstfehler be- gar kein Recht gilt. Man muß kein Prophet schuldigt, wurde entlastet – und sein, um vorauszusa- gen, daß gewinnsüchti- trotzdem gefeuert. ge Menschen diese Si- tuation zu ihrem Vor- ls sich die Gäste vom Tisch Nummer teil ausnutzen werden. 36 des Hamburger Ratsweinkellers Die Mehrheit im Bun- Aerhoben, waren sie recht fidel: In- desrat nimmt damit in nerhalb von zwei Stunden hatten sie zu Kauf, daß der Ver- viert 17 Gläser Wein (90er Kitzinger) ge- braucherschutz ver- trunken und endlich eine Strategie gegen

A. TESTA / REX FEATURES schlechtert würde. einen ihnen mißliebigen Dienstunterge- Vernichtung BSE-verseuchten Rindfleisches* SPIEGEL: Es sei denn, benen gefunden. „Ich habe ja kein handfestes Argument“ Sie würden doch jegli- Mit dem als „Arbeits-Abendessen“ de- che Einfuhr von Rind- klarierten Treffen begann bei Lachs und Seehofer: Bei BSE haben wir ein ein- fleisch aus Großbritannien imAlleingang Gänseleber ein Intrigenspiel der Sonder- stimmiges Votum der Wissenschaftler. verbieten. klasse, wie es in Deutschland wohl nur Ich müßte, wenn ich mit einem Allein- Seehofer: Wenn ich diese Absicht formal wenige Behörden zustande bringen. gang dagegen angehen wollte, sowohl korrekt bei der Kommission anmelde, Jetzt, zwei Jahre nach der Zusammen- deren Überzeugungen wie auch die der gelten Stillhaltefristen bis zu einem Jahr. kunft, haben es die Ränkeschmiede vom EU-Kommission mit neuen fachlich fun- Das hilft den Verbrauchern nicht. Würde Ratsweinkeller geschafft: Am Montag dierten Argumenten aus den Angeln he- ich ein Import-Verbot einfach in Kraft dieser Woche wird dem Objekt ihrer Be- ben. Die habe ich aber nicht. setzen, hätte ich binnen weniger Stunden mühungen, dem Hamburger Medizin- SPIEGEL: Der SPD-dominierte Bundes- eine Einstweilige Verfügung des Euro- Professor Manfred Dietrich, fristlos ge- rat sieht das anders. Die Länder behar- päischen Gerichtshofs auf dem Tisch. Ich kündigt – Höhepunkt einer Kampagne ren auf einem Import-Verbot im natio- habe ja kein handfestes Argument, das gegen den Chef des berühmten Tropen- nalen Alleingang. nicht schon im Wissenschaftlichen Vete- krankenhauses, mit der die Gesundheits- Seehofer: Der Bundesrat wirft mir vor, rinär-Ausschuß vorgelegen hätte. behörde der Freien und Hansestadt seit ich handelte wegen der Übertragungs- SPIEGEL: Bei Tiertransporten wagt die zwei Monaten bundesweit Aufsehen er- möglichkeit vom Muttertier auf das Bundesrepublik doch auch einen natio- Kalb und damit möglicherweise auch nalen Alleingang. auf den Konsumenten unverantwort- Seehofer: Der Streit um Tiertransporte lich, weil ja auch nach 1992 geborene ist ärgerlich, aber keine Gefahr für den Tiere infiziert sein könnten. Warum hat Verbraucher. Das ist anders, wenn Ver- er dann nicht schon im Sommer ein sol- fassungsorgane sich beim Verbraucher- ches Theater veranstaltet? Denn dieses schutz verweigern. Bei BSE droht ein Risiko hätte auch schon im geltenden rechtsfreier Raum. Recht bestanden. SPIEGEL: In solchen Fällen bleibt Bun- SPIEGEL: Weil die Länder auf ihrem Wi- destag oder Bundesrat also nur die Wahl, derspruch beharren, kann die neue Ver- europäisches Recht zu bestätigen oder ordnung nicht in Kraft treten. Was be- schwere Nachteile in Kauf zu nehmen. In deutet das für die Rindfleischkäufer? dieser Lage sind Verfassungsorgane in ih- Seehofer: Der Konflikt tritt in dieser rer Entscheidung doch nicht mehr wirk- Form erstmalig auf. Ich werde in dieser lich frei. Woche noch einmal mit der EU-Kom- Seehofer: Da ist ein Verfassungspro- mission über die rechtlichen und fachli- blem, das über den Fall BSE hinaus- chen Folgen reden. In jedem Fall werde reicht. Wenn es wegen irgendwelcher ich alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Handelsbestimmungen einen Kampf vor einen wirksamen Verbraucherschutz zu dem Europäischen Gerichtshof gibt – sichern. okay. Das darf aber nicht zu Lücken beim SPIEGEL: Wenn die Europa-Verord- Gesundheits- oder Verbraucherschutz nung nicht umgesetzt werde, behaupten führen. Nun hat es aber in Rechtsfragen Sie, hätten Sie keine Handhabe, gewis- während der letzten Tage genügend senlose Rinder-Importeure zu stoppen. Schüsse aus der Hüfte gegeben. Wenn Seehofer: Dann tritt hypothetisch fol- sich die Rauchschwaden wegen des aktu-

gendes Problem auf: Wir können EU- ellen Streits verzogen haben, müssen wir DPA darüber reden, wiesolche Blockaden auf- Tropenmediziner Dietrich * In England. gelöst werden können. Y Dauerkrach mit der Behörde

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regt (SPIEGEL 49/1994). Die Affäre be- folgte noch eine vierte Expertise aus Göt- hörde hat vor, das Tropenkrankenhaus gann Ende November letzten Jahres, als tingen. schnellstmöglich zu schließen. Bleiben ein von der Behörde beauftragter Gut- Je weiter die Affäre gedieh, desto of- sollen sechs Forschungsbetten – für Pa- achter den Klinikchef für den Malaria- fensichtlicher wurde, daß die Behörde tienten, die den Wissenschaftlern als Stu- Tod von fünf Patienten verantwortlich schon seit Jahren versucht, den unbeque- dienobjekte dienen. machte: Sie seien, so urteilte der (früher men Mediziner zu kujonieren. Dietrich hingegen vertritt das herge- in Berlin tätige) Professor Dieter Eichen- „Ihr glaubt ja nicht“, sagte der für brachte Konzept des Tropeninstituts, das laub aus München, das Tropeninstitut zuständige Referent Forschung und Klinik unter einem Dach i zu spät in die Intensivstation eines an- Reinhard Hollunder 1990 zu Assistenz- vereint –einer der Gründe fürden Dauer- deren Krankenhauses verlegt und ärzten, „was wir schon alles versucht ha- krach. Dabei hat der Mann, obwohl er für i teilweise ohne Einwilligung in eine ben, um diesem Mann das Handwerk zu seine klinische Forschung keine Haus- zwar genehmigte, gleichwohl zweifel- legen.“ Im Wechselspiel mit dem Direk- haltsmittel erhält, erheblichen Erfolg: hafte Arzneimittelstudie mit dem tor des Tropeninstituts, Professor Hans „Von allen deutschen Forschungsgrup- Durchblutungsmittel Trental einbezo- Müller-Eberhard, 68, traktierte er Diet- pen“, ermittelte ein internationaler Zita- gen worden. rich mit Abmahnungen – unter anderem, tionsindex, „werden die Aids-Publikatio- Daraufhin wurde Dietrich erst beur- weil der Chefarzt nen aus seinem Ressort weltweit am mei- laubt, dann suspendiert – eine Maßnah- i seine Klinik an einem Freitag um zwölf sten beachtet.“ Bei Malaria verhält es me, die vor dem Arbeitsgericht keinen Uhr mittags verlassen hatte, ohne sich ähnlich. Bestand hatte. Vor dem Termin im frü- „einen Urlaubs- noch einen Dienstrei- Das wird dem Professor wohl wenig hen Januar war die Behörde nicht bereit seantrag“ gestellt zu haben; nützen – ebensowenig wie das Gutachten des Hildesheimer Intensiv-Mediziners Hans-Peter Schuster, das den Tropenme- diziner schuldfrei spricht. Professor Schuster konstatierte: Vier der fünf verstorbenen Malaria-Patienten der Tropenklinik (die über keine voll- ständige Intensivstation verfügt) seien rechtzeitig verlegt worden. Der fünfte Patient hätte zwar früher überstellt wer- den müssen,aber dadurchwäre sein „Tod mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht verhindert“ worden. Diese Feststellungen stehen inkrassem Gegensatz zum Eichenlaub-Gutachten, mit dem sich die Gesundheitsbehörde zu Anfang munitioniert hatte. Hilfe erhielt die Behörde, deren ranghöchster Beam- ter früher beim Bundesgesundheitsamt (BGA) in Berlin tätig war, schließlich durch ihre dritte Expertise, die sie bei der Göttinger Pharmakologie-Professorin Ursula Gundert-Remy bestellt hatte. Darin kommt die frühere BGA-Mitar-

DPA beiterin zu dem Schluß, daß den Profes- Tropeninstitut in Hamburg: „Dem Mann das Handwerk legen“ sor doch ein Verschulden treffe, jeden- falls was die inkriminierte Arzneimittel- gewesen, zwei von Dietrich beigeschaffte i beim „Schriftverkehr mit der Behörde studie anlangt. Die Planung der Trental- Gutachten zur Kenntnis zu nehmen, die den Dienstweg“ nicht eingehalten ha- Studie, so ihr Fazit, weise „erhebliche den Mediziner entlasteten. be; Mängel auf“. Gutachter Schuster hinge- Fast täglich machte der Fall Schlagzei- i Unterlagen zwei Tage zu spät geliefert gen hält die Studie für „absolut sinnvoll len – etwa als ruchbar wurde, daß die Be- und damit „in nicht akzeptabler Weise und gerechtfertigt“. hördler nach ihrer Gerichtsschlappe ei- Fristen überschritten“ habe; Der Hamburger Pharmakologe Pro- nen Studenten der Philosophie damit be- i öffentlich gemutmaßt hatte, daß „ei- fessor Hasso Scholz vermutet, daß die auftragt hatten, alle Krankenblätter der ne adäquate Patientenversorgung“ Kollegin einem Mißverständnis erlegen Klinik seit 1976 (Dietrichs Eintrittsjahr) im Tropenkrankenhaus „nicht er- sei: „Bei einem zugelassenen Medika- auf Todesfälle hin zu sichten. „Ein ma- wünscht“ sei. ment wie Trental ist es unsinnig, die kabres Suchen nach Argumenten“, rügte In dieser Art verfuhren Hollunder und Richtlinien des BGA für ein noch nicht daraufhin die Welt. Müller-Eberhard, beide Teilnehmer der zugelassenes Mittel zugrunde zu legen.“ Seltsam auch mutet es an, daß der An- (durch die Frau des Direktors bereicher- Andere Experten verwiesen darauf, walt der Witwe eines verstorbenen Mala- ten) Runde im Ratsweinkeller, auch mit daß Trental ein harmloses Medikament ria-Patienten laut Gerichtsakte schon den Assistenzärzten. sei und nicht ansprechbare Patienten laut Anfang 1994 von den Vorwürfen gegen Nachdem sich die Assis in einem Offe- Arzneimittelgesetz auch ohne Einwilli- Dietrich informiert und „in die Erarbei- nen Brief hinter ihren Chef gestellt hat- gung in Studien einbezogen werden dürf- tung der dem Gutachter (Eichenlaub) zu ten, wurden sie mit Abmahnungen be- ten – doch es verschlug nichts. stellenden Fragen eingebunden“ war. droht und daran erinnert, daß manche „Die Gesundheitsbehörde kämpft mit Doch als vorletzte Woche ein weiteres von ihnen lediglich Zeitverträge hätten. allen Mitteln gegen Dietrich“, konsta- von der Behörde bestelltes Gutachten Einem Arzt wurde die zugesagte Ver- tierte Rolf Bialas, der als Arzt und Ham- aus Hildesheim testierte, der beschuldig- tragsverlängerung gestrichen. burger Ex-Senator inMedizin und Politik te Chefarzt habe korrekt gehandelt, Wenn alles nach Plan geht, wird er gleichermaßen bewandert ist. „Das ist al- schien der Fall erledigt – weit gefehlt: Es nicht der einzige bleiben. Denn die Be- les nicht mehr begreifbar.“ Y

DER SPIEGEL 5/1995 35 . J. K. WOJCIK Auschwitz-Besucher Herzog (M.), Trauernde: „Ein persönliches Bedürfnis“

Ben-Tow ist das die „wichtigste Geste ei- Auf der anderen Seite halten die Po- Holocaust nes deutschen Staatsmannes, seit ich len das Begehren der Juden für übertrie- Willy Brandt vor dem Warschauer Ghet- ben und sticheln gegen deren Funktio- todenkmal knien sah“. näre. In Auschwitz, so Staatsminister Der Bundespräsident weiß, daß es bei Andrzej Zakrzewski, seien nicht nur Ju- Ohne Seele den Polen Stirnrunzeln geben wird, weil den ermordet worden. „In den ersten 18 er – wenige Stunden vor dem hochoffi- Monaten waren dort ausschließlich Po- Bundespräsident Herzog imponierte ziellen Staatsakt – einer Alternativ- len gefangen.“ beim Auschwitz-Gedenken durch veranstaltung der Juden beiwohnt. Er Von einer „Polonisierung“ der Feier- nimmt diese Irritation hin. Aus der Um- lichkeiten, wie die Juden behaupteten, kluges Schweigen. gebung von Präsident Lech Wałe¸sa ist zu könne keine Rede sein, sagt Zakrzewski hören, daß die deutsch-polnischen Be- – ob in Auschwitz-Birkenau etwa nicht er 72jährige jüdische Rechtsanwalt ziehungen belastet seien. die Fahnen von 32 Staaten wehten? Arieh Ben-Tow feierte vorige Wochenlang hatten sich die Polen und Die streitenden Parteien blockierten DWoche seinen 50. Geburtstag. die jüdischen Organisationen darüber sich so sehr, daß am Ende der Eklat Im Konzentrationslager Auschwitz-Bir- gezankt, ob das Andenken der jüdischen drohte: Erst in letzter Minute wurde die kenau gedachte der ehemalige Häftling Opfer – 50 Jahre nach dem Holocaust – Gegenveranstaltung im KZ organisiert. seiner Befreiung durch die Russen. angemessen berücksichtigt wird. Friedman: „Sonst hätten wir vor uns „Am 27. Januar 1945 bin ich zum zwei- Die Juden fanden die geplante Veran- selbst nicht mehr bestehen können.“ tenmal geboren worden.“ staltung zuwenig jüdisch-religiös ausge- Seinen polnischen Gastgebern versi- Ein schreckliches, ein schmerzliches richtet. Michel Friedman, Präsidiums- chert Herzog, er sei im Konflikt ums Fest. Vom Tor des Lagers Birkenau mitglied des Zentralrats der Juden in rechte Gedenken neutral. Ansonsten ist kann Ben-Tow, dem die SS die Häft- Deutschland, nennt sie „unprofessio- er der Meinung, daß es nun wirklich lingsnummer 133102 gegeben hatte, die nell“, „historisch bedenkenlos“ organi- nicht Sache der Deutschen sei, „sich in Baracke 16 sehen, in der er mit seinem siert und vor allem „ohne Seele“ vorbe- diesen Streit einzumischen“. Bruder eingepfercht war. Der Bruder reitet. Ob Auschwitz und Birkenau eher ei- starb am 19. Dezember 1943, die Schwe- Es sei eben kein Zufall, vermutet der ne nationale Gedenkstätte der Polen ist stern, die Eltern und Großeltern sind in Christdemokrat, daß in einem Land, oder ein Mahnmal für den Völkermord der Todesfabrik der Nazis vergast, ver- „das geprägt ist von einer antijudaisti- an den Juden, so der Bundespräsident brannt, in alle Winde verstreut worden. schen Kirche, der Antisemitismus tief salomonisch, sei für ihn nicht entschei- Jetzt fürchtet der Überlebende des und breit und salonfähig ist“. dend: „Die Trauer um die Toten hat für Holocaust den Tod durch Vergessen. Auch der Bundestags-Vizepräsident mich Vorrang vor allen anderen Überle- Deshalb ist er überglücklich, daß er am (FDP), der zusammen gungen.“ Tor des Lagers einen Repräsentanten mit seiner Grünen-Kollegin Antje Voll- Nicht nur der Auschwitz-Häftling der Täter, den Präsidenten der Deut- mer zur deutschen Delegation unter Ben-Tow, sondern auch die anderen Ju- schen, Seite an Seite mit den Juden Herzog gehörte, vermißt ein klärendes den verstehen Herzogs stumme Teilnah- sieht. Wort der polnischen Kirche: „Sie war me am Totenritual als offene Parteinah- Roman Herzog nimmt – außerhalb nicht hilfreich.“ Von offenem Antisemi- me für ihre Sache: Herzog neben den des polnischen Staatsprotokolls – an ei- tismus mag der FDP-Politiker nicht re- Repräsentanten der deutschen, europäi- ner jüdischen Gebetstunde teil. Für den. schen, israelischen und amerikanischen

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Juden auf dem langen Weg vom Lager- tor bis zu den zerborstenen Resten der Gaskammern und Krematorien – das ist auch ein Signal. Und so will der Präsident es verstan- den wissen – nicht als Provokation ge- genüber den Polen, sondern „aus einem persönlichen Bedürfnis“, so Herzog zum Vorsitzenden des Zentralrats, Ignatz Bubis. 1945, als Kind von elf Jah- ren, habe er KZ-Häftlinge auf der Stra- ße in Landshut gesehen. „Dieser Ein- druck hat sich mir eingebrannt.“ Selbstverständlich nimmt Herzog tags darauf an der Gedenkfeier teil, „aus Staatsräson“, wie er sagt. „Was würden die Zeitungen in aller Welt schreiben, wenn der deutsche Präsident an dieser Feier nicht teilgenommen hätte?“ Von allen Reisen, die der deutsche Präsident in diesem 50. Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs antreten muß, ist die nach Auschwitz die heikel- ste. Doch die Rolle, die er dort spielen muß, entspricht Herzogs Naturell. Zum erstenmal zeigt der Mann, der bei seiner Wahl zum „unverkrampften“ Umgang mit der deutschen Geschichte Herzog (Pfeil) bei der polnischen Gedenkfeier*: „Aus Staatsräson“ aufgefordert hatte, vor internationalem Publikum, daß und wie dies möglich ist. Altar – in der Königsloge neben dem ein Loblied auf ihren Kriegs-Premier Herzog macht Eindruck – nicht, wie Primas der katholischen Kirche Polens, Winston Churchill, die Bosnier ziehen sein Vorgänger Richard von Weiz- Jo´zef Kardinal Glemp. Herzog bittet wütend aus, als die Serben sprechen, säcker, durch Reden, sondern durch Bubis und den Chef der Sinti und Ro- und die Griechen sind erst gar nicht er- ausdrucksstarkes Schweigen. ma, Romani Rose, in seine Loge. schienen, weil am Mahnmal der Toten Denn auch wenn er nichts sagt, verra- Herzog schweigt auch beharrlich, als auch Mazedoniens Flagge gehißt wor- ten seine Gesten viel. Bei der offiziellen hinter verschlossenen Türen auf der den ist. Feier am vorigen Freitag hält er sich im Krakauer Burg die Fetzen fliegen und Burkhard Hirsch bewundert die Hintergrund. Interviews lehnt er strikt viele Delegationsleiter das Auschwitz- „Gelassenheit“, mit der Herzog es ab: „Dies ist ein Ort des Schreckens, des Treffen zur eigenen Profilierung miß- schafft, bei dem „ganzen diplomatischen Erinnerns und der Trauer – nicht der brauchen. Gewäsch“ nicht aus der Haut zu fahren. Publicity.“ Die Fahrt zur Gebetsfeier Fast jedes Land beklagt mangelnde Und auch , die ihn als legt er im Bus zurück, gemeinsam mit Beachtung der nationalen Interessen Präsident nicht hatte wählen wollen, der deutschen Delegation. im Abschluß-Kommunique´: Die Rus- zeigt sich beeindruckt „vom Schweigen“ Beim abendlichen Konzert in Krakau sen sehen die Rolle der Roten Armee ihres Staatsoberhauptes. zeigt sich der katholische Präsident bei der Befreiung von Auschwitz zu Ignatz Bubis und sein Präside Fried- Wałe¸sa selbstverständlich – Thron und wenig gewürdigt, die Briten vermissen man sind von Herzog so angetan, daß ihnen von anderen jüdischen Delegatio- nen bereits Distanzlosigkeit vorgewor- fen wird. Vor allem polnische Juden sind irri- tiert. Die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, so verlangen sie, dürften auch 50 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz nicht verwischt werden. Bubis rechtfertigt sich, er könne „nicht mit jedem deutschen Politiker den langen Weg“ über der Welt größten Judenfriedhof gehen, „wohl aber mit diesem“. Herzogs Rede am 1. August 1994 zur Erinnerung an den Warschauer Auf- stand ist für Bubis ein Schlüsselerlebnis gewesen: „Er war der erste Präsident, der sich ohne Wenn und Aber beim pol- nischen Volk für die Taten der Deut- schen entschuldigt hat. Sonst hätte ich den gar nicht gekannt.“

FOTOS: AP * Vorn v. r.: Elie Wiesel, Lech Wałe¸sa, Frank- Ehemalige KZ-Häftlinge bei der Trauerzeremonie: Tod durch Vergessen? reichs Sozialministerin Simone Veil.

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SPIEGEL-Gespräch „Rechte testen das Tabu“ Der Historiker Wolfgang Benz über Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft

SPIEGEL: Herr Professor Benz, 50 Jahre dikator für den Zustand der Gesell- aus der fahrenden S-Bahn geworfen nach der Befreiung von Auschwitz wird schaft. Eine ganze Menge sozialer Frust, werden, ist es allerdings gleichgültig, ob in Berlin um die Errichtung eines Holo- wie er ja seit der Vereinigung besteht, das ein überzeugter Neonazi getan hat caust-Mahnmals gestritten. Der Münch- wird über Antisemitismus und Auslän- oder einer, der nur seine Frustrationen ner Publizist Rafael Seligman hat sich derfeindlichkeit abreagiert. Der Antise- gegenüber der Gesellschaft abreagieren im SPIEGEL entschieden gegen so eine mitismus wurzelt zudem noch in Schuld- will. Einrichtung ausgesprochen. Brauchen und Schamgefühlen wegen Auschwitz, SPIEGEL: Dennoch scheint es ungewiß, wir ein Mahnmal? die sich nicht gegen die Täter, sondern wieweit rechtsradikale Gesinnung die Benz: Gegen ein Denkmal ist nichts ein- gegen die Opfer wenden. Skins antreibt oder ob es sich um das zuwenden, aber ich bin ein entschiede- SPIEGEL: Martin Walser hat vom „Ko- Abreagieren von Aggressionen handelt. ner Gegner eines Holocaust-Museums. stümfaschismus“ Jugendlicher gespro- Benz: Wenn ich auf die Stichwortgeber So eine Gedenkstätte, wie es sie in Wa- chen und behauptet, das Auftreten der blicke, etwa die Nationalzeitung, dann shington gibt, ist in Deutsch- ist das der schiere, klassi- land nicht nur überflüssig, son- sche Antisemitismus. Des- dern schädlich. halb würde ich ganz scharf ei- SPIEGEL: Warum? ne Linie ziehen: Ich bin sehr Benz: Das wäre ein Stück Ent- dafür, daß man die Indoktri- sorgung des Holocaust. In so nierenden an ihrer Tätigkeit einem Museum würde das Er- hindert. Wenn sich einer ein innern an die Massenvernich- Hakenkreuz um den Hals tung sozusagen klinisch rein hängt, eine Glatze schert und hinter Glas und Marmor ge- den rechten Arm hochreißt, bändigt. Wir brauchen aber dann widert mich das zwar keinen synthetischen Ort des an. Ich rufe deswegen aber Gedenkens. Es gibt in nicht gleich nach dem Kadi. Deutschland, anders als in den Wenn der eingesperrt wird, USA, authentische Orte, hat er die ganze Ideologie nämlich die ehemaligen Kon- hinterher bestimmt voll zentrationslager Dachau, Bu- drauf. chenwald oder Ravensbrück, SPIEGEL: Ist der Antisemitis- das sind unsere Gedenkstät- mus in Deutschland verbrei- ten. teter als in anderen europäi- SPIEGEL: Lassen sich Neona- schen Ländern? zis und Skinheads von Denk- Benz: Im Vergleich stehen wir mälern beeinflussen? wahrscheinlich sogar ziemlich Benz: Nein. Aber an die rich- gut da. Im öffentlichen Dis- ten sich die Mahnmale auch kurs ist Antisemitismus in nicht. Denkmäler sind immer Deutschland ja tabu. Wenn Zeichen der Mehrheitsgesell- K. MEHNER sich hier ein Politiker oder schaft und nicht der Außensei- Wolfgang Benz sonst jemand in den Medien ter. Ein Denkmal ist nur ein antisemitisch äußert, ist er Appell an die Gefühle, nicht ist Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der ziemlich schnell das Amt los zu vergessen. Es kann weder Technischen Universität Berlin. Zentrales Thema des und hat Probleme. die Einstellung der Extremen 53jährigen Geschichtsprofessors und seines Instituts ist, SPIEGEL: In der Kulturszene ändern, noch kann es Ver- neben der Erforschung des Nationalsozialismus, der ändert sich das offenbar gera- säumnisse aus der Schul- oder Rechtsextremismus und Antisemitismus in der Bundesre- de. Der Wiener Bildhauer Universitätszeit beseitigen. publik. Alfred Hrdlicka wünscht SPIEGEL: Antisemitismus gibt Wolf Biermann, dessen Vater es nicht nur am rechten Rand, in Auschwitz ermordet wur- sondern, zumindest latent, bis in die Skins sei in Wahrheit gar kein faschi- de, „die Nürnberger Rassengesetze“ an Mitte der Gesellschaft. Ist der Antisemi- stisches Verhalten, sondern Provokati- den Hals. Peter Hacks stellt einen tismus in Deutschland nach der Vereini- onslust, die uns an der Stelle treffen machtgierigen, blutrünstigen und ver- gung stärker geworden? will, wo wir am empfindlichsten schlagenen Verleumder in den Mittel- Benz: Die Zahl der Bürger, die antise- sind . . . punkt seines neuen Stückes und verkün- mitische Einstellungen haben, scheint Benz: . . . das ist aber nur die halbe det, dieser erinnere an den jüdischen größer geworden zu sein. Das ist ein In- Wahrheit. Natürlich ist manch einer Publizisten Henryk M. Broder. Peter wegen der Provokation, wegen der Ri- Handke schließlich sagt über Marcel Das Gespräch führten die Redakteure Karen An- tuale bei den Neonazis gelandet. Für Reich-Ranicki, der Kritiker habe eine dresen und Martin Doerry. diejenigen, die niedergeschlagen oder „Affen-Psychologie“ und sei „ein

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geblich von der übrigen Welt den Deutschen vorgehalten werde. In Wahrheit kam das nicht von außen, sondern war ein Konstrukt der deutschen Gesellschaft, um eine Beschäf- tigung mit der Nazi-Zeit abzu- wehren. SPIEGEL: Kollektivschuld als Instrument der Verdrän- gung? Benz: So ist es. Wenn wir ohne- hin alle schuld sind, brauchen wir uns ja mit der Sache nicht

S. BOLESCH / DAS FOTOARCHIV zu beschäftigen. Dann muß der Skinheads in Bayreuth: „Frustrationen gegenüber der Gesellschaft“ einzelne nicht mehr abwägen, was sein Anteil war. SPIEGEL: Sie sagen, mit Schuld sollten die Lehrer den Schülern nicht kommen. Aber haben junge Deutsche nicht eine besondere Verantwortung, die anders ist als die junger Franzosen oder junger Engländer? Benz: Nicht einmal das würde ich sagen. Ich kann nicht ein 14jähriges Mädchen oder einen 17jährigen Jüngling damit befrachten, daß er eine besondere Ver- antwortung trägt, weil er den deutschen Paß hat. Ich muß ihn aber aufklären über das, was ist und warum das zu wis- sen für ihn wichtig ist. SPIEGEL: Und wie? Benz: In einer Schulklasse hab’ ich mal zu einem schüchternen, pickeligen Jun- gen gesagt: „Stell dir vor, du gehst in ei- ne Disco in Nizza und findest da ein

B. BOSTELMANN / ARGUM ganz nettes Mädchen.“ Der Gedanke KZ-Gedenkstätte Dachau, Besucher: „Zerknirschung und Betroffenheit“ hat ihm schon mal gut gefallen. „Und dann erfährt die, du bist Deutscher, und Grundübel“ – lauter antisemitische Ent- SPIEGEL: Wie sollten wir denn reagie- will nichts mehr von dir wissen. Und du gleisungen. Zerbricht da ein Tabu? ren? kannst dir das gar nicht erklären. Wenn Benz: Von Brechen kann, glaube ich, Benz: Zunächst einmal mit Informatio- du aber weißt, daß sie vielleicht eine jü- noch keine Rede sein. Aber es ist eine nen. dische Großmutter hatte, die deportiert Testserie im Gang; die Rechten testen, SPIEGEL: Das ist beim Thema Ausch- wurde, dann wirst du die notwendige wie stark, wie hart dieses Tabu noch ist. witz nicht ohne Emotionen möglich. Sensibilität haben und mit der Situation Der subtile Antisemitismus in der Kul- Benz: Es kommt auf die Reihenfolge an. eher umgehen können. Die Sensibilität turszene spielt sich unterhalb der Wenn ich als Lehrer vor die Schüler tre- aber kannst du nur aufbringen, wenn du Schwelle ab, wo die Justiz einschreitet. te und sage, liebe junge Freunde, jetzt genug über den Holocaust weißt.“ Man kann das nur immer wieder brand- kommen wir zu etwas ganz Schreckli- SPIEGEL: Wie haben die Schüler rea- marken, wie es im Fall Hrdlicka ja auch chem, jetzt ist Trauer angesagt, und giert? geschehen ist. wenn ich dann auch noch durch meine Benz: Das hat denen eingeleuchtet. Es SPIEGEL: Und warum läuft diese „Test- Miene zu erkennen gebe, heute wird es war das erstemal, daß die einen Zugang serie“ nun an? furchtbar – dann erzeuge ich Abscheu gefunden haben zu der Frage, warum sie Benz: Das hat mit der Entfernung von und Verdruß anstelle von Einsicht. sich mit dem Thema befassen sollen. der Tatzeit zu tun und damit, daß die Wenn ich aber sage, jetzt ist Auschwitz SPIEGEL: Was bewegen Filme wie Stimmen der Opfer, der Überlebenden dran, und das hat sich so und so abge- „Holocaust“ oder „Schindlers Liste“ in schwächer werden. spielt. Und wenn ich mir dann noch ei- den Köpfen Heranwachsender? SPIEGEL: Hängt das auch mit unserer nen Zeitzeugen hole, dann habe ich viel Benz: Die meisten Historiker mögen sol- Art des ritualisierten Gedenkens an mehr Erfolg. Wenn man erst die Emoti- che Filme gar nicht – wegen der Wir- Auschwitz zusammen? on bringt und dann an diese noch mög- kung. Soviel bewegen wir mit unseren Benz: Ja. Das Gedenken wurde an Hi- lichst unscharf die Fakten anhängt, dann Abhandlungen und Fußnoten über Jah- storiker, Moralisten und Pfarrer dele- ist das die falsche Reihenfolge. Der re nicht. giert. An gute Menschen, die die Aufga- Schuldbegriff hat zum Beispiel im Un- Nach dem Film „Holocaust“ war Ende be hatten, zu erinnern, Zerknirschung terricht der heute 12- bis 18jährigen der siebziger Jahre zum erstenmal die und Betroffenheit zu erzeugen. Daß die überhaupt nichts zu suchen. Mit dem ganze Nation emotional angerührt. junge Generation sich dagegen wendet, Schuldbegriff haben sich schon die Vä- „Schindlers Liste“ hat bei einer neuen dafür habe ich Verständnis. Zerknir- ter und Großväter den Zugang verstellt. Generation Nachdenklichkeit erzeugt. schung und Betroffenheit waren immer SPIEGEL: Wie das? Natürlich geht es immer in erster Linie die schlechtesten Vehikel für Pädagogik Benz: Man hat ständig von der deut- über Emotionen. Das halte ich aber und Einsicht. schen Kollektivschuld geredet, die an- nicht für unerlaubt.

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SPIEGEL: Ist das nicht ein Widerspruch es in der Schmuddelecke. Kein ernsthaf- zu dem, was Sie gerade über den ter, seriöser Mensch hat sich damit be- Schulunterricht gesagt haben? schäftigt. Benz: Nein, wenn das den Nährboden SPIEGEL: Kritik wehrt Nolte mit der schafft, daß Menschen Interesse an Formulierung ab, man wolle doch wohl mehr Informationen bekommen, dann nicht die wissenschaftliche Freiheit ein- hilft so ein Film sicherlich mehr, als schränken. wenn ein überemotionalisierter Lehrer Benz: Es konnte dieser Ansammlung die Schüler in die nächstgelegene KZ- von Dilettanten gar nichts Besseres pas- Gedenkstätte treibt und dort vor Ge- sieren, als daß ein Mann wie Ernst Nol- fühlsstau nichts vermitteln kann. te, mit einem einstmals großen Namen, SPIEGEL: Rechtsradikale Vordenker sie zitiert und ihre Thesen aufnimmt. versuchen immer wieder, längst aner- Das ist eine neue Qualität, auch im öf- kannte Forschungsergebnisse, bei- fentlichen Diskurs. spielsweise über die Zahl der Opfer SPIEGEL: Welche Motive sehen Sie bei des Holocaust, in Frage zu stellen. Nolte? Wieweit muß die Wissenschaft darauf Benz: Herr Nolte hat ja die Gabe, sich eingehen? so unklar auszudrücken, daß man ihn im Benz: Was die vorbringen, beruht zum Zweifelsfall nie festlegen kann. Aber größten Teil auf dreister Lüge. Wenn Herr Nolte scheint eine gewisse Sympa- die behaupten, das Rote Kreuz habe thie für die Revisionisten zu haben. festgestellt, es gebe nur 300 000 jüdi- SPIEGEL: Sehen Sie die Gefahr, daß Leuchters abstruse Thesen auf dem Um- weg über Nolte weitere Verbreitung fin- „Ernst Nolte ist den? kein seriöser Benz: Allerdings. Die Technik ist doch ganz einfach. Man behauptet, der Mond Historiker mehr“ sei aus Käse. Die ersten zehn Jahre schlägt sich jeder ans Hirn und sagt, das sche Opfer des Nationalsozialismus, so ist ja Blödsinn. Aber wenn man es oft ist ganz leicht herauszufinden, daß das genug sagt, kommt der eine oder andere Rote Kreuz so etwas nie festgestellt und findet, man könnte ja mal untersu- hat. chen, ob der Mond aus Käse ist. SPIEGEL: Dennoch finden solche Über- Und in einem weiteren Arbeitsgang fin- legungen auch Eingang in wissenschaft- det sich dann schon irgendein Verein liche Zirkel, die als seriös gelten. Den- zur Erforschung der Käsebestandteile ken Sie an den Historiker Ernst Nolte, im Mond. der die Behauptungen des Auschwitz- Dabei wird dann ganz allmählich verges- Leugners Fred Leuchter in die histori- sen, aus welch übler Ecke das kommt. sche Debatte einbezieht. So kann man im Falle des Auschwitz- Benz: Wenn Ernst Nolte den Amerika- Leugnens irgendwann die kleinen Hoch- ner Leuchter zitiert oder die sogenann- stapler und Möchtegern-Historiker a`la ten radikalen Revisionisten, dann ist er Fred Leuchter vergessen und kann die kein seriöser Historiker mehr. Das Ära mit den größeren und besseren Pro- Zeug, das die Auschwitz-Leugner vor- pheten a` la Nolte beginnen. bringen, geistert schon seit den sechzi- SPIEGEL: Herr Professor Benz, wir dan- ger Jahren umher. Nur: Damals blieb ken Ihnen für dieses Gespräch. Y PRINT Mahnmal in Hannover: „Zeichen der Mehrheitsgesellschaft“

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Werbeseite SPIEGEL-ESSAY Deutscher Abschied

GYÖRGI DALOS

urz nach der Währungsunion geschah es. Nach jahre- ten die sozialen und politischen Beschwerden ihrer Brüder langem Einreiseverbot durfte ich wieder in die DDR- und Schwestern aus den Warschauer-Pakt-Zeiten im Ver- KProvinz, nach Thüringen. Ich war entsetzt über den gleich mit den eigenen Problemen als rein psychosomatisch. Zustand der Städte: Im Schatten der vergammelten Gotik er- Das dominierende Gefühl gegenüber den einstigen Plattensee- hoben sich als einzig nennenswerte Bauwerke die brandneuen touristen aus Dresden, oder Wernigerode bleibt der westdeutschen Würstelstände. Die jeweiligen „Straßen der Neid. Völkerfreundschaft“ oder „Jurij-Gagarin-Plätze“ nahmen sich Honeckers Nachfolger schafften es wortwörtlich, über wie Mülldeponien der modernen Verpackungsindustrie aus. Nacht in die Westallianz aufgenommen zu werden, während Einige soeben gegründete Reisebüros boten spottbillige Wo- sich die Nato-süchtigen ehemaligen Ostblockländer mit der chen auf den Malediven an. Ansonsten: grauester Ostblock. schäbigen „Partnerschaft für den Frieden“ trösten müssen. Nyı´regyha´za, Nowa Huta oder Alma-Ata unter schweizeri- Die diesbezüglichen Rivalitäten zwischen Polen, Tschechien scher Okkupation. und Ungarn erinnern, nebenbei gesagt, gespenstisch an die Ei- Unterwegs war ich eigentlich zu einer Tagung im Schoß Et- fersüchteleien der osteuropäischen kommunistischen Führer tersburg bei Weimar. Ich stieg aus dem Zug und entdeckte auf um die Frage, wer unter ihnen der treueste Verbündete Mos- dem Bahnhofsvorplatz einen Kiosk mit dem großen Aushän- kaus sei. geschild „Information“. Als ich näher kam, bemerkte ich ein kleines Pappschild mit der Aufschrift: „Keine Auskunft“. ennoch gibt es eine Errungenschaft der deutschen De- Trotzdem saß hinter dem Fensterchen eine alte Dame, und ich mokratie, die relativ wenig Begeisterung bei den ar- sprach sie an: „Sagen Sie mir bitte, wie komme ich zum Schloß D men Verwandten aus dem sozialistischen Lager aus- Ettersburg?“ Die Dame antwortete, höflich lächelnd: „Ich bin löst. Ich denke an die Gauck-Behörde. Zwar wäre es eine nicht von hier.“ Übertreibung zu behaupten, daß bei uns Klarheit über die Diese Geschichte erzählte ich jedesmal in Ungarn, wenn Rolle und Arbeitsweise dieser Institution herrsche – die Vor- man mich über ostdeutsche Befindlichkeiten am Vorabend der stellungen darüber gravitieren zwischen einer Art seelischer Wiedervereinigung fragte, denn ich meinte, sie sei typisch für Treuhand und Ehrengericht. Eines weiß man jedoch sicher: Es die Zeit. Man lächelte freundlich, und dies war ein eindeutiger handelt sich um die Verarbeitung der letzten Jahrzehnte, und Fortschritt für den unangenehmsten von allen fortschrittlichen dieser Stoff wird in ganz Ostmitteleuropa zunehmend unbe- Staaten. Schwer fiel allerdings die Ortsbestimmung im plötz- liebt. lich fröhlich gewordenen Niemandsland zwischen Schon und Man fragt mich öfters in Ungarn, auch Freunde aus der Dis- Noch. sidentenszene der siebziger/achtziger Jahre: Was soll diese Das waren noch Zeiten, in denen der Konsum für gute Stim- ganze Selbstzerfleischung, dieser politische Striptease? War- mung sorgte und die Einigkeit, wie einst bei Hoffmann von um lassen die Deutschen ihre Vergangenheit nicht endlich ru- Fallersleben besungen, über die Warenwelt hereinbrach. hen? Die Deutschen leiden. Im Ich versuche es ihnen jedes- fünften Jahr ihrer Einheit mal so zu erklären: In dieser scheinen sie gespaltener zu Frage gibt es bei denen drüben sein denn je. Der Regierung ein Zweiparteiensystem. Die Kohl ist es gelungen, die eine stärkere politische Kraft Hälfte der Republik zu fru- heißt Schwamm-Drüber-Par- strieren, ohne die andere zu- tei (SDP), und die schwächere friedenzustellen. In den alten trägt den stolzen Namen Par- Bundesländern beschwert tei der Restlosen Aufklärung man sich über die Steuern, in (PRA). Obwohl ich in den den neuen werden die Ab- beiden einander bitter be- wicklungen beklagt. Viele kämpfenden Parteien Freunde Westdeutsche wären gern die und gute Bekannte habe, kann Nörgler aus dem ehemaligen ich keinen Hehl daraus ma- „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ chen, daß mich als Historiker, wieder los, während ebenso Zeitzeugen und überhaupt viele ehemalige DDRler die neugierigen Menschen das „Kolonialherren“ aus dem Programm der PRA mehr an- Westen am liebsten vertreiben zieht als das der SDP. würden. Und sie versuchen es Wichtiger als Voyeurismus auch mit Wahlzetteln, indem wiegt jedoch bei mir die Ein- sie den Recyclingverein des sicht, daß nicht die Deutschen charmanten Advocatus Dia- es sind, die ihre Vergangen- boli Dr. Gysi unterstützen. heit zum regelmäßigen Er- Um ehrlich zu sein: Die höhen des Adrenalinspie- Bürger anderer osteuropäi- gels mißbrauchen, sondern scher Reformstaaten betrach- daß diese ihnen keine Ruhe

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Werbeseite SPIEGEL-ESSAY läßt. Vor allem, weil diese Vergangenheit – zunächst – keine nibusbahnhof vergebens und verzweifelt auf sie. Zum Glück ist. Sie ist vielmehr Gegenwart, und das sollten Ungarn ein- verließ sie nicht die Geistesgegenwart, und mit Hilfe von sehen. Schließlich prägte unsere Publizistik den scharfsinni- West-Berliner Freunden hat sie späten Abends zu meiner gen Ausdruck „verfluchte vorige Woche“ für die Ära Ka´da´r. Wohnung gefunden. Zweifelsohne stimmt es, daß wir in einer anderen histori- Mich interessieren wenig die über mich angelegten Akten schen Epoche leben als vor fünf Jahren, wir selbst jedoch der DDR-Staatssicherheit, diesem schmutzigsten Papierlager sind dieselben, höchstens tragen manche von uns eine neue aller Zeiten. Auch die Spitzelberichte des von mir ins Ungari- Maske. sche übersetzten Dichterfürsten vom Prenzlauer Berg ließen Ein ehemaliger DDR-Diplomat in Budapest arbeitet in mich kalt, als mir deren Kostproben von Freunden gezeigt derselben Stadt als Versicherungsagent, ein hoher Funktio- wurden. Aber ich möchte einmal jenem Beamten in die Augen när des kommunistischen Jugendverbands Ungarns verdient schauen, der ein elfjähriges Mädchen mit gültigem ungari- sein Brot bei einer westlichen Zahnprothesenfirma. Nicht schen Reisepaß auf der offenen Straße nach West-Berlin aus- daß jemand grundsätzlich etwas gegen Lebensversicherung setzte. Vielleicht würde ich ihn höflich fragen, wie es ihm geht oder Zahnersatz hätte, aber geben wir zu, daß beides Ver- und ob er inzwischen ebenfalls eine Anstellung bei irgendeiner trauenssache ist. Und Vertrauen setzt genaue Grundkennt- Lebensversicherung gefunden hat. nisse voraus. Ich habe einen alten Freund aus Ost-Berlin, einen Chemi- ufarbeitung der Vergangenheit bedeutet für mich kei- ker. Er war kein Dissident, sondern einfach ein Mensch von neswegs allein und nicht einmal hauptsächlich Entlar- Würde und Anstand, der immer und überall ungefähr das zu A vung von geheimen Dokumenten. Was wir in Ungarn sagen versuchte, was er meinte. Einen politischen Prozeß in den letzten vier Jahren erlebten, drehte sich fast ausschließ- hängte man ihm nie an; er wurde nicht einmal von der Be- lich um öffentlich zugängliches Wissen. Der offiziell unter- hörde vorgeladen. Allerdings haben ihn unsichtbare Kräfte stützte Gedächtnisschwund erstreckte sich auf allgemein be- daran gehindert, seine Dissertation zu verteidigen und damit kannte Tatsachen, die jedoch mit der Zeit immer weniger will- beruflich voranzukommen. kommen werden. Nach der Wende wurde sein Institut von einem westdeut- So wurde ein ehemaliger Dissident von seinem fanatisch an- schen mit ähnlichem Profil einverleibt, und mein Freund tikommunistischen Publikum niedergebrüllt, als er behaupte- wurde, anders als ein auf ihn angesetzter Inoffizieller Mitar- te, schließlich hätten die Anwesenden, wenigstens die Männer beiter des MfS, aufgrund fehlender wissenschaftlicher Vor- im Saal, durch ihren Soldateneid in der ungarischen Volksar- aussetzungen nicht von den neuen Herren übernommen. mee, ähnlich wie die Mauerschützen in der DDR, einem Zum Glück kann er jetzt aufgrund seiner OV-Akten bewei- Schießbefehl gehorchen müssen. Anstatt vorenthaltene Tatsa- sen, daß es sich um eine Maßnahme unter dem Code „Orga- chen zu publizieren, wird der Versuch unternommen, Offen- nisierung beruflicher Mißerfolge“ handelt, wodurch wenig- sichtliches wieder zum Geheimnis zu machen. stens eine Schadensbegren- Unlängst habe ich am zung ermöglicht wird. Flohmarkt ein FDJ-Lieder- Die Freunde aus der Es wird viel gejammert, buch ergattert. Unter ande- Schwamm-Drüber-Partei rem fand ich Slogans darin, warnen davor, den unglück- geweint – und vor allem mit den die der Oktoberklub ad no- seligen Spitzel aus jenem tam „Hey li lee lo“ bei sei- chemischen Institut dingfest Zähnen geknirscht nen Veranstaltungen unter zu machen und einer Hexen- Gitarrenspiel verkündete. jagd auszuliefern. Ich bin „Vom Zentralrat ein schar- mit dieser Warnung einverstanden, allerdings unter der Bedin- fer Blick / Und schon sang die Republik“, hieß einer der Sprü- gung, daß die Gerechtigkeit für die Opfer der für die Täter (die che. „Auf Friedenswacht – Jahrzehnte schon – / Stehen wir mit in einzelnen Fällen durchaus ebenfalls Opfer sein konnten) vor- der Sowjetunion“, so tönte der zweite. Und der dritte, beson- angehen soll. Hingegen behaupten die Anhänger der Partei der ders lehrreich vom Inhalt her: „Und auch die Kirchen bleiben Restlosen Aufklärung das wichtige Prinzip, daß die geheime stehn / Wenn unsere Jungs zur Fahne gehn.“ Verfahrensweise der Behörde offenzulegen sei. Kann man diese Kultur, die 40 Jahre, die solche Reime in Die osteuropäischen Diktaturen bewegten sich in dem Zeit- den Köpfen schmiedete, vergessen? Ist das überhaupt bereits raum zwischen Poststalinismus (das heißt nach 1956) und Post- Vergangenheit? Für mich noch nicht. Solange sich mir bei sol- kommunismus in einem Rechtsvakuum. Deswegen macht es chen Texten der Magen umdreht. sich die deutsche Justiz so schwer mit der sogenannten Regie- Andererseits, obwohl keineswegs als lauwarme Zwischen- rungskriminalität, die im Grunde nichts anderes war als norma- position, möchte ich meinen Freunden und Kollegen aus der les Funktionieren einer Diktatur: Ihre Anwendungsversuche PRA sagen, daß sie mit der Zeitgeschichte weder wehmütig muten manchmal an, als hätte jemand Kohlesäcke auf Apothe- noch pathetisch oder gar mit irgendeiner jakobinischen Rigidi- kenwaagen wiegen wollen. tät umgehen sollten. Sie sollen moralisch, aber nicht wie Mo- Es sei mir erlaubt, einen anderen Fall zu erzählen, gewisser- ralapostel argumentieren, ernsthaft, aber nicht unironisch maßen den eigenen. sein. Denn, um ein passendes Zitat von einem unpassenden Im Jahre 1984 hielt ich mich mit einem Stipendium in West- deutschen Autor, Karl Marx, anzuführen: „Die Menschheit Berlin auf, durfte jedoch wegen meiner Ausweisung aus der nimmt lachend von ihrer Vergangenheit Abschied.“ DDR weder nach Ost-Berlin noch über die Transitstrecke nach Immerhin ist der deutsche Abschied von der Vergangenheit Westdeutschland reisen. Für den Sommer lud ich meine Frau traurig, schwerfällig und hoffnungsarm. Es wird viel gejam- und meine Tochter ein. Das Schuljahr des Kindes endete, meine mert, geweint und vor allem mit den Zähnen geknirscht. Ei- Frau konnte jedoch ihren Urlaub noch nicht beginnen. Deswe- nerseits finde ich schade, daß dem so ist. Andererseits, und gen flog das elfjährige Mädchen allein über Schönefeld. hoffentlich wird es einem Menschen, der in seinem Leben mit Bereits im Transitautobus nach West-Berlin entdeckten die den Folgen einer anderen deutschen Vergangenheit zu tun DDR-Grenzbeamten einen Fehler in ihrem Paß, ließen sie aus- hatte, nicht übelgenommen: Es ist immer noch besser, wenn steigen und führten siezurücknach Schönefeld. Der Fehler wur- die Deutschen ein wenig an sich selbst leiden, als wenn andere de behoben, meine Tochter wurde bis zur Grenze gebracht und Völker unter den Deutschen leiden. Y an der Waltersdorfer Chaussee mit ihrem kleinen Koffer allein gelassen. So wartete ich auf dem West-Berliner Zentralen Om- Dalos, 51, lebt als Schriftsteller in Wien und Budapest.

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Sozialdemokraten „Berlin braucht einen mit Bums“ Gabor Steingart über das Duell der Bürgermeisterkandidaten Ingrid Stahmer und Walter Momper

en ersten SPD-Genossen haut es Die große Pose, das haben die beiden Zur Wahl stehen zwei völlig unter- vom Stuhl, kaum daß die Begrü- Kontrahenten bei ihrer Tingeltour schiedliche politische Temperamente: Dßungsworte gesprochen sind. Ein durch die Ortsvereine gelernt, kommt Eine stille Stahmer, die Menschen kurzes Aufbäumen, dann sackt der beim Parteivolk schlecht an. Ebenso „abholen“ will, um dann unterwegs mit Mann, die Hand am Herzen, japsend Profilsucht auf Kosten des anderen. Die allen alles zu bereden, tritt an gegen auf dem Linoleumboden zusammen. Kandidaten sollen sanft miteinander Momper, die Dröhnung. Machtmensch Unruhe im Kreuzberger Seniorenhaus umgehen, Wahlkampf ohne Kampf ist contra ehrliche Haut. an der Stallschreiberstraße. gefragt. Nur so können sie an der Basis Für seinen innerparteilichen Wahl- An diesem Sonntagmorgen wollten Punkte sammeln. kampf, Motto „WM 95“, hat Walter Ex-Bürgermeister Walter Momper und „Klitzeklein“ seien die Unterschiede Momper im Berliner Hilton eigens die die amtierende Sozialsenatorin Ingrid zwischen ihr und Walter, beteuert In- Zimmer 203 und 204 gemietet. Von dort Stahmer, die um den Job des Berliner grid Stahmer, nachdem Arzt und Pa- starten Momper-Fans, eingehüllt in rote Schals, das Markenzeichen des Walter Momper aus besseren Zeiten, ihre Tele- fonrundrufe unter den 24 000 Mitglie- dern. 60 000 Mark an Spenden hätten sie bisher zusammenbekommen, sagt Momper. Sie will mit 12 000 Mark hinkommen. Bescheidenheit soll ihr Markenzeichen sein. „Stimmen für Stahmer“ steht auf den selbstgebastelten Stickern, die ihre Anhänger tragen. Wie in den Wochen zuvor stellt Mom- per wieder Selbstsicherheit zur Schau, pocht auf „klare Führung“, tönt von „Schlacht“ und „Angriff“, wettert „gegen diese ewige Leisetreterei“. In- grid Stahmer plädiert mit rauchig- rauher Stimme, die ihr das Tantenhafte nimmt, für Teamarbeit, weil „das mehr bringt“. „Diese Stadt braucht einen mit Bums“, sagt Momper. „Man kann heute in der Politik nicht einfach so losren- nen“, sagt Stahmer. Applaus bekom-

K. MEHNER men beide. Wahlkämpfer Stahmer, Momper: Turteln im „Doppelpack“ Doch das Wortgetöse des Kraftmeiers klingt merkwürdig hohl. In seinem Be- SPD-Spitzenkandidaten für die nächste tient gemeinsam den Saal verlassen ha- mühen, nur ja nicht provinziell zu wir- Wahl zum Abgeordnetenhaus konkur- ben. Die Differenz zu Ingrid könne man ken, startet Momper jene Streifzüge rieren, sich den Kreuzberger Genossen „nur in Millimetern messen“, schiebt durch die „internationale Metropole stellen. Doch nun ist erst mal der Not- Walter Momper hinterher. Berlin“, bei denen sich auch Diepgen arzt gefragt. Er lobt sie als „hochkompetent“, sie oft im Lächerlichen verliert. Was tun? Sollen sie zu Hilfe eilen? bescheinigt ihm, ein „politischer Kopf“ Wenn der Kandidat anbietet, Berlin Oder einfach weiterreden? Was erwar- zu sein. Listig lächelnd trägt er immer „metropolenmäßig“ umzubauen, gerät ten wohl die rund hundert Zuschauer im wieder sein „Wie Ingrid schon sagte“ ihm unversehens alles zum „zentralen Saal? vor, ebenso stereotyp kontert sie: „Ich politischen Anliegen“. Kleiner geht’s Der kantig-kahle Walter Momper, 49, kann dem Walter da nur zustimmen“ – nicht. Metropolen-Momper backt gern schweigt stur in sich hinein. Schließlich zwei Kandidaten, eine Meinung. So soll die ganz großen Brötchen. hat er sich um den Chefposten der Mil- es scheinen. So sucht er jene Zweifel wegzureden, lionenstadt Berlin beworben, nicht um Seit zwei Monaten turteln sie im die ihn und seine Partei seit der Berlin- die Stelle eines Altenpflegers. „Doppelpack“ (Stahmer) durch die Ber- Wahl vom Dezember 1990 plagen. Da- Die gelernte Sozialarbeiterin Ingrid liner SPD-Bezirke. Am kommenden mals, ein Jahr nach dem Fall der Mauer Stahmer, 52, rutscht dem zusammenge- Sonntag müssen die Genossen per Ur- und zwei Monate nach der deutschen brochenen Alten hippelig auf der Stuhl- wahl entscheiden, wer im Herbst gegen Einheit, kassierte Momper daheim die kante entgegen. Doch dann hält sie in- Eberhard Diepgen, den Regierenden größte Niederlage der Berliner SPD- ne. Schön stumm will sie bleiben. So wie Bürgermeister von der CDU, antreten Geschichte. Die CDU mit Eberhard Walter. soll. Diepgen holte 40,4 Prozent, die Sozial-

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Stahmer bietet den Sieger Diepgen Genossen Linderung. Für welchen Regierenden Bürgermeister würden Der Walter habe ja mit Sie sich in einer Direktwahl entscheiden? vielem recht, pflichtet sie ihm bei. Doch dann ermahnt sie ihn: „Im Eberhard Eberhard Wahlkampf müssen Diepgen 51 Diepgen 49 Berliner wir unsere Senatoren insgesamt aber auch ein bißchen Walter Ingrid 38 39 loben.“ Das gefällt. Momper Stahmer Die Mitglieder sind für jeden Flirt mit der Anhänger der Parteien netten Ingrid zu ha- ben. Mit ihr, die nie zu CDU 5 92 8 88 laut und selten zu lang redet, können sich vie- 24 27 le identifizieren. SPD 67 72 Natürlich ärgert es 74 66 die Kandidatin, wenn FDP 12 30 ihre Sanftmut als Man- gel an Stärke verstan- 17 11 B. 90/Grüne den wird. Aber sie 70 76 nimmt es in Kauf. Bol- 19 20 leriger ist sie nicht zu PDS 61 67 haben. „Wenn ich mit meinem Stil nicht Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe; durchkomme“, sagt sie Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; 1000 Befragte; 9. bis 11. Januar 1995 trotzig, „dann will ich es nicht werden.“ demokraten kamen nur auf 30,4 Pro- Bislang kam sie in der Männerwelt zent. auch so ganz gut zurecht. Als einziges Das schmerzt. Auch heute noch. Mit Mädchen unter Jungen absolvierte sie ihr den zur Übergröße verklärten SPD-Bür- Abitur auf dem Bremer „Gymnasium germeistern Ernst Reuter und Willy Am Barkhof“. 1964 trat die damals Brandt, die in Berlin einst absolute 21jährige in die SPD ein. Mehrheiten für die SPD erkämpften, Die Charlottenburger SPD kürte sie kann er sich nicht messen. „Von einem 1985 zur Spitzenkandidatin. Doch den Willy Brandt“, gesteht Momper, „bin Parteivorsitz der Landes-SPD lehnte sie ich weit entfernt.“ damals ab, obwohl Parteifreunde die Ge- In kleiner Runde spricht er, unge- nossin arg gedrängt hatten. Die damalige wohnt leise, von seinen „bitteren Erfah- Sozialstadträtin in Charlottenburg wollte rungen“ mit der Partei. Von den „nach erst mal gute Fachfrau werden. oben durchgewachsenen 68ern“, die Jetzt will sie mehr. Die Rolle als „Sozi- ihm das Leben schwermachen. altante der SPD“ (Stahmer) hat sie lange Im Kreuzberger Seniorenhaus geht genug gespielt. Die der Generalistin der Gekränkte, der Ende der sechziger probt sie noch – und alle dürfen zuschau- Jahre im Kreuzberger Kiez als Jusochef en. seine Karriere begann, wieder auf die Prahlt Momper mit der Lösung, „Speckschicht der Funktionäre“ los. spricht sie von Problemen. Wo der Mann Viele schütteln den Kopf, auch die klei- mit dem Schal schon die Antwort kennt, nen Kassierer und Schriftführer fühlen sind für sie noch „ein, zwei Fragen unge- sich beleidigt. „Walter“, fragt einer da- klärt“. zwischen, „wie willst du mit denen je- Ob die Genossen ihr die größeren mals wieder zusammenarbeiten?“ Chancen gegen Diepgen und seine Fürsorglich nimmt Ingrid Stahmer ih- CDU-Truppe zutrauen, ist offen. Mom- ren ehemaligen Chef, der sie vor sechs per setzt darauf, daß sich die Sympathie Jahren aus dem Charlottenburger Be- für sie nicht in Stimmen auszahlt. Er will zirksamt in seinen rot-grünen Senat hol- ja nicht geliebt, nur gewählt werden. te, in Schutz. „Auch ich war 1990 da- Gönnerhaft hat er ihr schon einen bei“, sagt sie, „auch ich habe damals Stuhl an seinem Senatstisch angeboten. verloren.“ So kann man mit Demut Mit ihm müsse die Partei die Wahl ge- punkten. winnen, damit sie weiter Sozialsenatorin Doch Momper, mittlerweile Chef ei- bleiben kann. Mompers Slogan: „Wer ner kleinen Immobilien-Entwicklungs- Ingrid mag, muß Walter wählen.“ firma, will keinen Trost. Mit Vorsatz tut Das empört die Dame dann doch. er den Genossen weh, zum Beispiel Auch sie wisse für den Konkurrenten ei- wenn er die Politik der SPD-Senatoren nen geeigneten Posten, nur leider nicht zur „ordentlichen Verwaltungsarbeit“ in Berlin: „Walter“, lobt sie ihn, „du runterredet. Da kommt im Publikum wärst sicher ein guter Bundestagsabge- keine Freude auf. ordneter.“ Y

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Sein Name steht für einen der Bestattungsinstitut, berichtet Dietrich Kirche schlimmsten Stasi-Fälle in der DDR- Hammer, habe lediglich einige Fotoauf- Kirche und zugleich für einen der schil- nahmen herstellen lassen. Darauf habe er lerndsten: Hartnäckig hält sich das Ge- seinen Bruder nicht wiedererkannt: „Der rücht, Detlef Hammer sei am 3. April Leichnam wirkte älter, der Scheitel war Schmerzen 1991 gar nicht verstorben, in seinem auf der falschen Seite gezogen.“ Auffal- Grab befinde sich die Asche einer an- lend sei überdies die rasche Kremierung deren Person. Statt dessen habe sich der sterblichen Überreste gewesen. Nor- im Zeh Hammer mit Hilfe der Stasi und viel malerweise habe man in Magdeburg sei- Geld aus Deutschland abgesetzt, um nerzeit wochenlang auf einen Einäsche- Rätsel um den Tod des früheren Mag- seiner drohenden Enttarnung zu entge- rungstermin warten müssen. deburger Konsistorialpräsidenten hen. Das überraschende Ableben Ham- Eine Forschungsarbeit mit dem Titel mers (Ursache laut Totenschein: „plötzli- und Stasi-Mitarbeiters Detlef Ham- „Spionage gegen eine Kirchenleitung“ cher Herztod“) erregte auch andernorts mer: Lebt der Kirchenmann? hat den Gerüchten um den Tod des inMagdeburg Mißtrauen. Das Bürgerko- Kirchenfunktionärs nun neuen Auftrieb mitee zur Auflösung der Stasi schaltete gegeben. Die Expertise liegt dem Mag- die Staatsanwaltschaft ein. Die ermittelte er Tote lag rücklings auf der Couch. deburger Konsistorium vor. Auch der vier Monate lang, dann schloß der zustän- Im dunkelblauen Anzug, die Arme Bruder des Gottesmannes, Dietrich dige Staatsanwalt die Akten: „Nach dem Detwas angewinkelt, als habe der Hammer, ist überzeugt: „Detlef lebt.“ Ergebnis der Ermittlungen“ sei „Dr. Mann sich nur ein wenig ausruhen wol- Dietrich Hammer glaubt, daß sich Hammer tatsächlich verstorben“. len. sein Bruder eine Zeitlang in Tunesien Die jetzt vorliegende Forschungsarbeit Ein herbeigerufener Arzt identifizierte aufgehalten habe, dann in wechselnden ist zurückhaltender formuliert: Zwar den Leichnam per Augenschein, durch Ländern. Mit früheren Liebespartnerin- müsse die ärztliche Diagnose „plötzlicher Vergleich mit dem Lichtbild des in der nen habe er sich im Ausland getroffen. Herztod“ als letztes Wort gelten, Zweifel Wohnung aufgefundenen Personalaus- An Geld und Frauen, das belegen auch seien jedoch denkbar, etwa wenn man weises. Zwar war bereits die Leichenstar- die Stasi-Akten, hing Hammers Herz „unterstellt, daß die Leiche vertauscht re eingetreten und der Tote im Gesicht schon immer. worden sei“. blau angelaufen. Doch der Mediziner wie Rätsel gibt der plötzliche Tod des Kirchenforscher Schultze selbst glaubt auch zwei anwesende Kirchenleute mein- Geistlichen auch nach Meinung von an den Tod des Konsistorialpräsidenten, ten sicher zu sein: Der Tote, gaben sie bei Kirchenmitarbeitern auf. Oberkirchen- sorgfältig hat er aber auch alles zusam- der Polizei zu Protokoll, seider Konsisto- rat Harald Schultze, Mitherausgeber mengetragen, was für die gegenteilige rialpräsident Detlef Hammer, 41 Jahre der Forschungsarbeit, spekuliert: These spricht. alt und allen wohlbekannt. „Einwirkung von Gewalt ist nicht er- Am Tag vor seinem Tode hatte Detlef Hammer war biszu diesem Apriltag im kennbar. Von einer schleichenden Hammer seinen 41. Geburtstag gefeiert, Jahr 1991 Chef der evangelischen Lan- Krankheit, die den frühen Tod hätte zunächst im Konsistorium, wo er, wie so deskirche in Magdeburg und außerdem, verständlich machen können, weiß kei- oft, „fröhlich war und scherzte“. Schon das kam wenig später heraus, ein Stasi- ner. Daß dieser Tod ,einfach so, ganz vormittags hatte er sich „wegen Schmer- Agent. Über 20 Jahre lang hatte der Kir- natürlich‘ eingetreten sei, will nicht in zen im Zeh“ ins Krankenhaus fahren las- chenmann ein Doppelleben geführt. Par- den Kopf.“ sen. Dort wurde er nur kurz behandelt, allel zu seinem Aufstieg in der evangeli- Tatsächlich muten einzelne Begleit- kehrte jedoch erst am späten Nachmittag schen Kirche war Hammer vomGelegen- umstände des plötzlichen Ablebens von wieder nach Hause zurück. Was er in der heitsspitzel zu einem hauptamtlichen Detlef Hammer merkwürdig an. So Zwischenzeit, immerhin vier Stunden, Major in der Mielke-Truppe avanciert, durften vor der Trauerfeier weder Bru- gemacht hat, ist bis heute ungeklärt. zuletzt als „Offizier im besonderen Ein- der Dietrich noch andere Angehörige Am Abend dann kamen ein paar Ge- satz“ (OibE). den aufgebahrten Leichnam sehen. Das burtstagsgäste, darunter die beiden Töchter Hammers sowie seine Vertraute Marion Staude. Die Kirchenangestellte war eben- falls MfS-Agentin, wie sich spä- ter herausstellte. Nach Schult- zes Recherchen gab sich Ham- mer an jenem Abend „locker und erzählfreudig“. Der Kir- chenchef, der vorhatte, aus sei- nem Job auszuscheiden, berich- tete von seinen Zukunftsplä- nen: Er schwärmte vom Leben auf einer Insel. Als letzte Gäste gingen Ham- mers Töchter gegen 0.30 Uhr. Mit ihnen, berichtet Schultze, führte der Kirchenfunktionär noch eine Art „ganz persönli- ches Abschiedsgespräch“. Anderntags gegen 7.30 Uhr

STRAUBE stand der Kraftfahrer des Kon- sistoriums vor Hammers Woh-

FOTOS: K. nungstür. Zwar brannte das Hammer-Grab, Konsistorialpräsident Hammer (1990): „Locker und erzählfreudig“ Licht, ein Fenster war geöffnet,

54 DER SPIEGEL 5/1995 Oberkirchenrat Schultze: „Ganz persönliches Abschiedsgespräch“ doch niemand ging an die Tür. Erst Stun- Studentengemeinde in Halle bespitzelt, den später schöpften seine Mitarbeiter als Kirchenjurist verriet er später seine Verdacht, gegen 16 Uhr brachen Polizi- Kollegen. sten in Begleitung zweier Konsistorialbe- Nach der Selbstverbrennung des Pfar- amter die Wohnung auf. rersOskarBrüsewitzim Jahre1976liefer- Der damalige Personalleiter der Mag- te er wichtige Informationen. Täglich deburger Kirche, Werner Seidel, will sei- versorgte er damals das Ministerium für nen Vorgesetzten gleich erkannt haben: Staatssicherheit mit Kircheninterna, be- „Der hatte ja kein Allerweltsgesicht.“ einflußte Erklärungen und Beschlüsse Bald kam, wie zufällig, die Hammer- (SPIEGEL 12/1993). Vertraute Staude vorbei. Sie warf ei- Hammer kam rasch voran – in beiden nen kurzen Blick auf den Leichnam und Welten. Mit seinem Führungsoffizier ging wieder. Schultze: „Es heißt, daß handelte er stetig höhere Zahlungen und Vergünstigungen durch die Stasi aus. Zu- gleich beriet er Ausreisewillige und ließ „Die Einwirkung von sichdafür gut entlohnen. Von einerFami- Gewalt ist lie übernahm er günstig ein schönes Haus in Magdeburg, andere überließen ihm nicht erkennbar“ Bargeld. Bald übertraf Hammers Gehalt dassei- sie keine Zeichen der Erschütterung nes Führungsoffiziers bei weitem, er rei- zeigte.“ ste in die Schweiz, nach Dänemark und Erst nach dem Tod des Kirchenchefs sogar nach Tansania. Die Stasi leitete ge- kam seine Stasi-Tätigkeit heraus. Ham- gen ihren Mitarbeiter eine konspirative mer war nicht der einzige Stasi-Mann in Kontrolle ein und überprüfte seine Kon- der Magdeburger Kirchenleitung. Zeit- tostände. Ergebnis: Im Januar 1986 hatte weilig saßen vier Topagenten gleichzeitig Hammer bereits 300 000 Mark auf ost- in dem kleinen gemütlichen Konsistori- deutschen Sparkassenkonten unterge- um, überdies ein halbes Dutzend weitere bracht – für DDR-Verhältnisse eine Inoffizielle Mitarbeiter. enorm hohe Summe. Überdies besaß er Doch der Fall Hammer hat die Kirche zwei Autos, ein Wohnhaus und ein Wo- erschüttert wie kein anderer. chenendhaus am See sowie eine Grafik- Wo immer der Mann auftrat, stets habe sammlung im Wert von mehreren hun- er „den Eindruck großer Echtheit“ derttausend Mark. (Schultze) hinterlassen. Er lachte „phan- Auch im Westen hatte er sich, von der tastisch viel“, half Freunden und Bekann- Stasi unbemerkt, Bankkonten angelegt. ten aus finanziellen Nöten. Nach der Wende soll sein Vermögenetwa Doch zugleich beschaffte er seinem eine Million Mark (West) betragen ha- Führungsoffizier interne Schriftstücke ben. aus der Kirchenzentrale und brachte so- Wenige Monate vorseinem vermeintli- gar komplette Personalakten mit, etwa chen Herztod erstand Hammer nach er- die des Wittenberger Pastors Friedrich folgreichen Währungsspekulationen ei- Schorlemmer. Schon als 20jähriger Jura- ne Jacht – für die Insel, über die er ge- student hatte Hammer die Evangelische schwärmt hatte? Y

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Verstorbene Gräfin Blücher (1993), Sektenchef Fontalba: „Nur reines Schenkergeld ist völlig gelöst“

vermuten jedenfalls die Anverwandten. Die vom Gründer und Oberhirten Sekten Graf Lukas und seine Schwester Livia, der Weißen Quelle, dem ehemaligen beide Nachkommen des preußischen Anthroposophen und Tübinger Wal- Feldmarschalls Fürst Blücher (1742 bis dorfschullehrer Gideon Fontalba 1819), wären Haupterben der Verstor- (bürgerlich: Flachsmann), handschrift- Wie die Geier benen gewesen. lich formulierten „Ziele“ der Artepur- Inzwischen ermittelt jedoch die Stiftung verlieren sich in wolkiger Eine Münchner Gräfin, Erbin von Sie- Staatsanwaltschaft München wegen des Phraseologie: „Förderung des geistig mens-Aktien, vermachte vor ihrem Verdachts auf Betrug und Untreue im lebendigen Dreieinklangs von Wissen- Erbfall Blücher: Es geht um weit mehr schaft, Kunst, Religion. Kulturelles Tod einer obskuren Sekte ein Millio- als ein paar abhanden gekommene Mö- Beleben des Dreiklangs Sozialität, nen-Vermögen. belstücke. Wirtschaft und Politheia“. Nach den Erkenntnissen der Ermitt- Die Sekte, die sich als „Internationa- ler hatte die Gräfin, eine Nachfahrin aus le Lebens- und Geistesschule der kom- er Anrufer klapperte fast ein Dut- dem Siemens-Clan, über die Jahre min- menden Sonnenkultur“ versteht, ver- zend Münchner Bestattungsunter- destens eine Million Mark in Projekte anstaltet nicht nur esoterischen Hokus- Dnehmen ab. Überall stellte er die der Weißen Quelle gesteckt. Im Früh- pokus wie etwa Seminare über den gleiche Frage: „Haben Sie eine Leiche jahr 1993 schließlich transferierte sie, als „Kosmischen Tanz“ oder Schulungen namens Blücher?“ einmaliges Geschenk, fast ihr ganzes „des Johanneischen Lichtmenschen- Bei einem Beerdigungsinstitut in der verbliebenes Vermögen (über 30 Millio- tums“. Diskret werden Fontalbas Jün- Altstadt wurde Lukas Graf Blücher von nen Mark) auf das Konto einer kurz zu- ger auch schon mal aufgefordert, für Wahlstatt, 38, schließlich fündig: Dort vor eingerichteten Stiftung namens den „Geldfluß innerhalb der Schulor- lag der Leichnam seiner Tante, Sibylle „Artepur“ im Steuerparadies Liechten- gane“ zu sorgen. Gräfin Blücher von Wahlstatt, aufge- stein. Dabei unterscheiden die Geheim- bahrt. Das Geld stammte aus dem Verkauf bündler geschickt zwischen „krankem“ Die Gräfin war, 57jährig, am Pfingst- von Wertpapieren: Sibylle Blücher, die Vermögen, das „aus dem allgemeinen montag vorigen Jahres an Krebs verstor- Nachbarn und Kollegen nur als sparta- Wirtschaftsleben“ stamme, und „ge- ben. Zuvor hatte sie sich komplett von nisch lebende Gymnasiallehrerin kann- sundem“ oder „heiligem Geld“, wel- der Umwelt abgekapselt, auch gegen- ten, besaß ein Paket von Stammaktien ches sich von seinem Eigentümer „völ- über ihrer Familie. des Siemens-Konzerns, die sie von ihrer lig gelöst“ habe und deshalb „nur rei- Nach ihrem Ableben stellten Ver- Mutter, einer geborenen von Siemens, nes Schenkungsgeld sein“ könne – wie wandte fest, daß wertvolle Antiquitä- geerbt hatte. die Millionen der edlen Gräfin Sibylle. ten, Gemälde und geschäftliche Akten Als Gräfin Sibylle im August 1993, Die Weiße Quelle hat keinen festen aus ihrer Wohnung verschwunden wa- schon von der Krankheit gezeichnet, ihr Vereinssitz und keine förmlichen Mit- ren – und auch die Leiche. Testament machte und dieses samt Ak- glieder, ihre Anhänger bilden soge- All das sei, glaubt der Neffe, das tienschwund im engsten Familienkreis nannte Quellkreise und versammeln Werk einer obskuren Sekte gewesen: offenbarte, bemerkte sie beiläufig: „Das sich in wechselnden Schulzentren – des Geheimzirkels „Schule der Weißen ist eben weg.“ mal im bayerischen Allgäu, mal in Ba- Quelle“, dem Sibylle Blücher seit An- Doch bis heute läßt sich nicht erklä- den-Württemberg. fang der achtziger Jahre angehörte. Die ren, was mit den verschenkten Siemens- Wie einst Jesus seine Apostel, so Sektenbrüder haben die alte Dame wo- Millionen im Sinne der Stifterin konkret schart Quellen-Chef Fontalba ein Dut- möglich regelrecht ausgenommen – so geschehen sollte. zend Auserwählte um sich. Sie bilden

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den „Hohen Direktkonvent“ und dürfen Von der Opsola Holding flossen an Kriele, den jungen Grafen als „raffgie- Seminare leiten sowie das Schriftwerk die vier Millionen Mark an eine Inter- rigen Nichtsnutz“ dar, der nichts ge- der Sekte verfassen. Art-Gallery & Konferenzhotel GmbH. lernt habe und nur auf ein fettes Erbe Fontalba, für Irdische kaum auffind- Deren Geschäftsführerin ist Eues Ehe- aus sei. bar, hält sich nach Berichten seiner Ele- frau Waltraud, als Steuerberater fun- Gern zitieren Eue-Vertraute eine frü- ven für eine Reinkarnation des Christi- giert Eue-Partner Budde. Im selben here Betreuerin der kranken Gräfin, die an Rosenkreutzer, jenes mittelalterli- Zeitraum erwarb die Inter-Art-GmbH behauptet, Sibylle Blücher sei bis zum chen Ritters, der als Gründer des gehei- vom Multi-Unternehmer Eue ein stattli- Ende „hellwach“ gewesen und habe im- men Rosenkreutzer-Ordens gilt. ches Anwesen im Allgäu, die Fide-Müh- mer wieder ihre Familie verdächtigt: So faszinierend Fontalba auf die Sie- le in Röthenbach. „Die warten nur wie die Geier auf mei- mens-Erbin gewirkt haben mag – der Hier scheint sich ein Kreis zu schlie- nen Tod.“ Freilich sind Betreuerin und Fall Blücher ist offenbar nicht nur ein ßen: Die Fide-Mühle wurde und wird Anwalt selber der Weißen Quelle ver- Sekten-Schnäppchen. Unter Betrugs- von der Weißen Quelle, die sich inzwi- bunden. verdacht stehen derzeit zwei weltliche schen in „Freie Versammelte Arbeits- Auch der junge Graf Lukas sowie sein Vertraute der Gräfin, die womöglich kreise für die Harmonische Entwicklung Vater Nikolaus Graf Blücher gelten als das Millionending eingefädelt haben – von Mensch und Erde“ umbenannt hat, sektenanfällig. Papa Blücher widmet nicht ohne Eigennutz, wie die Strafver- als „Kulturzentrum“ genutzt. sich der Transzendentalen Meditation folger vermuten. Offenkundig haben sich, vermuten und unterstützte bei Wahlkämpfen im ------frühere Anwälte der Gräfin, die Allgäu- letzten Jahr die obskure Naturgesetz------Ermittlungen in Liechtenstein legen nahe, daß Unternehmer Eue die Trans- aktion der Blücher-Millionen wie auch die Gründung der Stiftung in Vaduz vor- bereitet hat. Nachdem die Gräfin ihr Aktiendepot in München eigenhändig War die Stiftung das Fangnetz für die Millionärin?

geräumt hatte, soll der Allgäuer zu- sammen mit ----- für den Transport der Wertpapiere nach Holland gesorgt sowie den dortigen Verkauf organisiert haben. Der Erlös von 33 Millionen Mark sei anschließend, über verschiedene Zwi-

schenstationen, nach Liechtenstein ver- T. EINBERGER / ARGUM bracht worden. Postwendend habe Blücher-Neffe Lukas: Nur auf ein fettes Erbe aus? dann, fanden die Ermittler überdies heraus, eine Vaduzer Fidium Treuhand er Geschäftsleute bei der Artepur-Aus- partei, die mit fliegenden Yogis die Anstalt 3 Millionen Mark Provision beute mit der Sekte arrangiert. Ein Ge- Welt verbessern will. Sohn Lukas kassiert. schäft nach dem Brauch der Sektenleu- schwärmt für Esoterik. Seither verwaltet das Liechtensteiner te: Laut interner Anleitungen sind die Ihre Zweifel am letzten Willen der Unternehmen die Artepur-Gelder treu- „Schulorgane“ auch auf „krankes“ Geld dahingeschiedenen Gräfin aber melde- händerisch – vor allem als Aushänge- „angewiesen“ – zu dessen Beschaffung ten die Verwandten aus irdischen schild nach außen. Tatsächlich ist, laut seien „neue Organisationsformen“ zu Gründen an: wegen der Schenkung- „Mandatsvertrag“, Eue gegenüber der finden. steuer. Bislang ist kein Pfennig Steuern Stiftung weisungsbefugt. Steuerberater Eben diese könnten die Ableger der für die großzügige Zuwendung der al- Budde fungiert nach dem Eintrag im Artepur darstellen. Der Stiftung ist es ten Dame gezahlt worden, bei der Ar- Handelsregister als „Stiftungsrat mit von Rechts wegen nicht erlaubt, Gelder tepur-Stiftung rührt sich nichts. Einzelzeichnungsrecht“. zu investieren. Die Konstruktion aber, Im Ausland aber kann der deutsche Die ersten größeren Abflüsse vom vermutet Lukas Graf Blücher, „war das Fiskus keine Gelder eintreiben. Des- Artepur-Konto haben offenbar wenig Fangnetz, in das meine Tante gelaufen halb hält er sich jetzt an die Erben. mit der Weißen Quelle zu tun. So wur- ist“. Vorletzte Woche forderte das Finanz- de im Frühjahr 1993, noch zu Lebzei- Blücher ist überzeugt, daß sich Eue amt sie bereits auf, bis zum 1. März ei- ten der Gräfin, unter dem Stiftungs- das Vertrauen seiner Tante erschlichen ne Steuererklärung für die Schenkung dach eine Opsola Holding AG instal- habe, etwa durch aufgebauschte Unter- abzugeben. liert und mit zehn Millionen Mark Ka- nehmererfolge und angebliche Sympa- Graf Lukas hat schon ausgerechnet, pital aus dem Stiftungsvermögen aus- thien für die Weiße Quelle. was die Blücher-Hinterbliebenen be- gestattet. Die Firma hatte bis dahin Hingegen stellt Eues Anwalt, der re- rappen müßten: rund 20 Millionen Eue gehört. nommierte Kölner Staatsrechtler Martin Mark, für nichts und wieder nichts. Y

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nun Unmut über die Um- Feminismus triebigkeit der Stiftungs- vorsitzenden Schwarzer und ihrer Getreuen hinter den dicken Tuffsteinmau- Bastille ern: Offenbar hat die Grande Dame des deut- schen Feminismus ihren stürmen Triumphruf, Frauen hätten endlich „einen Turm für Krach um den Kölner Frauenturm: sich allein“ erobert, ein we- nig zu persönlich genom- Mißbraucht die Journalistin Alice men. Schwarzer ein öffentliches Archiv Denn der Öffentlichkeit ist das Gebäude nur stark als Redaktionsbüro? eingeschränkt zugänglich. Lediglich die Bibliothek m alten Hafen zu Köln erhebt sich steht den an weiblicher Hi- ein mächtiger sandfarbener Wehr- storie interessierten Besu- Aturm. Einstmals, im Mittelalter, chern offen. Und auch dort schlugen sich revoltierende Bürger und werden nur wenige Leute klerikale Feudalherren um den Fe- auf einmal eingelassen – stungspfeiler: „Wer den Turm hat, hat mit Anmeldefristen bis zu

die Macht“, sagen die Kölner noch heu- ACTION PRESS mehreren Wochen. Es sei te. Partygäste Dall, Schwarzer* „leichter, die Bastille zu Mittlerweile hält eine streitbare Da- „Die Alice kenn’ ich gut“ stürmen“, als im Frauen- me das alte Gemäuer besetzt: die Frau- turm an Material zu kom- enrechtlerin Alice Schwarzer, 52. Reemtsma steuerte 10 Millionen Mark men, spottet eine ortskundige Forscherin Rund 5,5 Millionen Mark Steuergel- bei und garantierte damit die Finanzie- vom Kölner Frauengeschichtsverein der hat die Berufsfeministin, trotz leerer rung der Einrichtung „auf mindestens über die Einlaßrituale in Schwarzers Ar- öffentlicher Kassen, bei Stadt- und Lan- zehn Jahre“. chiv. despolitikern für den Wiederaufbau des Mit dem Geld wurden bislang 25 000 Zu den übrigen Räumen, insbesondere im Krieg zerstörten Bayenturms losge- Bücher, Zeitschriften und Dokumente der zweiten Etage, hatten selbst Ange- eist. In der alten Festung errichtete archiviert sowie die postmoderne Innen- stellte des Dokumentationszentrums bis- Schwarzer ein gemeinnütziges, im ausstattung des vierstöckigen Gebäudes lang nur in Ausnahmefällen Zutritt: deutschsprachigen Raum „einmaliges“ finanziert, ein Panorama-Büro mit Dort, berichten ehemalige Mitarbeite- Dokumentationszentrum für Frauenfor- Kölns schönstem Ausblick über den rinnen übereinstimmend, verfaßten Re- schung. Rhein inklusive. dakteurinnen der feministischen Zeit- Schon vor Jahren hatte sie zusammen Wenige Monate nach der feierlichen schrift Emma über Monate ihre kämpfe- mit dem Hamburger Mäzen Jan Philipp Eröffnung des „Turms der Frauen“ im rischen Werke. Reemtsma eine Stiftung gegründet. August vorigen Jahres aber regt sich Das „Magazin von Frauen für Men- schen“ (Herausgeberin: Alice Schwar- zer) hatte im vorigen Frühjahr sein teures Innenstadt-Büro aufgegeben, zur selben Zeit übernahm die Feministin den Turm. Als offizielle Adresse der Emma-Redak- tion firmiert seither ein bescheidenes La- denlokal in Fußnähe des Gemäuers. Nach dem Vertrag mit der Stadt Köln, einem Erbbaurechtskontrakt, soll der Bayenturm der Öffentlichkeit zugänglich sein, eine „gewerbliche Nutzung“ der ge- schichtsträchtigen Immobilie ist ausge- schlossen. Überprüft werden muß nun nach Ansicht des Kölner Regierungsprä- sidenten Franz-Josef Antwerpes, ob die Emma-Chefin „in kommerzieller Weise“ Förderzwecke mißbraucht hat. Schwar- zer bestreitet dies heftig: „Die Emma wird nicht im Turm, sondern in der Alte- burgerstraße gemacht.“ Einsparungen beim Mietzins kämen Schwarzer als finanzielle Entlastung für ihre auflagenschwache Zwei-Monats- Gazette (44 000 Exemplare) sehr entge- gen: Dem Blatt droht womöglich der wirtschaftliche Exitus, seit die streitlusti-

J. SCHWARTZ * Bei der Preisverleihung des „Telestar“ im No- Streitfall Bayenturm: „Wer hier arbeitet, muß seine Seele verkaufen“ vember 1994.

62 DER SPIEGEL 5/1995 ge Unternehmerin einen Prozeß gegen Turm lädt, über den einflußreichen Ver- Turmhüterin machte etwa die Kölner den Aktfotografen Helmut Newton ver- leger Alfred Neven DuMont bis hin zur Journalistin Marianne Lange. Nach ei- lor. mittelrheinischen SPD-Bezirksvorsit- nem kritischen Bericht über das Frauen- Um die ihrer Ansicht nach „sexisti- zenden Anke Brunn – „Alice“, wie die Archiv erteilte ihr der Turmvorstand sche“, „rassistische“ und „faschistische“ Frauenrechtlerin liebevoll genannt wird, postwendend „Hausverbot“. Erst unter Neigung des Star-Lichtbildners vorzu- kann mit jedem. erheblichem öffentlichen Druck mußte führen, hatte Schwarzer 19 Fotos abge- Kaum ein buntes Schicki-Bankett, Schwarzer den Bann wieder aufheben. druckt, ohne Newtons Einverständnis. keine Preisverleihung, von „Bambi“ bis Gegenüber ihren Gehilfinnen pflegt Newtons Verlag Schirmer/Mosel ver- zum „Telestar“, ohne die kölsche Vor- Schwarzer offenbar einen rüden Ton. langte 76 000 Mark für die Abdruckrech- zeigefeministin. Auch Regierungspräsi- Seit Gründung der Stiftung 1984 sind te –und gewann vor Gericht. Nur über die dent Antwerpes, dessen Behörde als schon etliche Archiv-Angestellte gegan- Höhe des Strafhonorars wird noch ver- Kontrollorgan über die Mittelvergabe gen. Im Turm werde „absoluter Gehor- handelt. sam“ verlangt, berichten sie, „leiseste Bei der Kommune registriert der Köl- Kritik“ beschwöre „Katastrophen“ her- ner Stadtverordnete Jörg Frank von den Die Emma-Chefin auf. Eine ehemalige Mitarbeiterin: Grünen hingegen eine „totale Beißhem- pflegt im Turm „Wer dort arbeitet, muß seine Seele ver- mung“ gegenüber der Emma-Chefin. Ei- kaufen.“ ne von Frank im Stadtparlament einge- einen rüden Ton Hingegen sieht sich Schwarzer ver- brachte Anfrage wurde nach seinen Re- leumdet und als Opfer einer „lokalen cherchen von der Verwaltung zunächst wacht, erklärt: „Die Alice kenn’ ich gut, Machenschaft“. „verschleppt“ und dann an Frau Schwar- die ist ja überall.“ Die Fäden aber hält sie weiterhin fest zer „weitergeleitet“ – die „alles abstritt“. Der Kölner Forscher Erwin Scheuch in der Hand. So einigte sie sich jetzt mit Immerhin kündigten sich schließlich sieht es nüchtern: „Eine Geschäftsfrau, den Behördenvertretern darauf, den Vertreter von Stadt und Land zu einer die sich durch Beziehungen Vorteile Erbbaurechtsvertrag für den Turm ein Begehung der Schwarzerschen Trutz- verschaffen kann.“ Längst bediene sich wenig nachzubessern. Künftig soll, „zur burg an: Sie fanden im Turm rund ein die Frauenrechtlerin, hat der Grüne praktischen Unterstützung“ des Ar- Dutzend Arbeitsplätze mit Computern Frank beobachtet, „selbst des verfemten chivs, auch der „Förderverein Frauen- und Druckern vor – allerdings verwaist. männlichen Instrumentariums der MediaTurm e. V.“ ständig dort residie- Mit Alice Schwarzer will sich in Köln Macht“. ren dürfen. niemand anlegen. Von Kardinal Joachim Tatsächlich ist Schwarzer in Köln heu- Die Gründungsmitglieder finden sich, Meisner, den Schwarzer schon mal zu ei- te weniger als Männer- denn als Frauen- bis auf eine Ausnahme, im Emma-Im- ner persönlichen Führung durch ihren schreck gefürchtet. Erfahrung mit der pressum wieder. Y

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Justiz Privater Knast? Thüringens Justizminister Otto Kretschmer (SPD), 54, über die Haftbedingungen in seinem Bundesland

SPIEGEL: In vier Jahren sind 36 Gefangene aus Thürin- gens Haftanstalten entwichen. 4 kratzten ein Loch in die Decke und sind bis heute frei. Pennt das Personal? Kretschmer: Ich setze jetzt eine Kom-

MOLLENHAUER / BAVARIA mission ein, die Bauten und Personal- Skilift am Fellhorn qualifikationen untersuchen soll. Fest steht, daß die Gebäude nicht westli- Naturschutz Nr. 1 in Europa“. Das Düs- chen Standards entsprechen. Ich er- seldorfer Wirtschaftsministe- warte Vorschläge, wie das Personal Krasses rium hatte nichts dagegen. besser ausgebildet werden kann. Der Vorsichtshalber bat jedoch Strafvollzug muß menschlicher und si- Beispiel das Verkehrsministerium Be- cherer werden. Nirgends in den Alpen ver- zirksregierung und Land- SPIEGEL: Wie wollen Sie in Gebäu-

kehren so massiert Skilifte schaftsverbände um Prüfung, den, die teilweise seit 1813 als Knast BIERSTEDT / OSTWESTBILD und Bergbahnen wie in Bay- obwohl die zuständige Stadt genutzt werden, einen modernen Kretschmer ern, trotzdem sollen dort Kerpen die Werbung schon Strafvollzug gewährleisten? weitere Anlagen gebaut wer- genehmigt hatte. Weil der Kretschmer: Die Lage hat die DDR verursacht. Damals den. So fällt Mitte Februar Streit um die Tafel, Schilda verwaltete die Polizei die Anstalten. Mit ihren Hunde- die Entscheidung, ob am läßt grüßen, zur Grundsatz- laufanlagen und Zäunen, die unter elektrischer Hoch- 2039 Meter hohen Fellhorn frage avancierte, sollen sich spannung standen, erinnerten die eher an KZ. So etwas bei Oberstdorf ein zusätzli- nun auch noch Mitarbeiter wurde nach der Wende sofort abgeschafft. Heute besteht cher Lift gebaut werden darf. eines Autobahnamts und des ein ganz erheblicher Renovierungsbedarf. Das Gebiet gilt Naturschüt- Oberkreisdirektors zur Be- SPIEGEL: Wer soll das bezahlen? zern ohnehin als krasses Bei- sprechung mit Kollegen aus Kretschmer: Für den Bau von zwei neuen Anstalten und spiel für touristische Über- den anderen Ämtern einfin- die Renovierung der anderen benötigen wir mindestens nutzung. Der geplante Dop- den. Zur Entscheidung könn- 460 Millionen Mark. Deshalb will ich zum Beispiel klä- pelsessellift für 1200 Perso- te ein gleichgroßes Schild ren, ob wir Gebäude privat bauen lassen und dann als nen pro Stunde würde das beitragen, das für das Gewer- Land leasen. Wir wollen aber auch prüfen, ob Aufgaben Naturschutzgebiet „Allgäuer begebiet „Europarc Kerpen“ des Strafvollzugs von privaten Unternehmen wie in den Hochalpen“ queren, in dem wirbt – 200 Meter entfernt, USA oder England übernommen werden können. sich einer der bedeutendsten seit Jahren unbeanstandet. Derzeit läßt die Rechtslage das allerdings noch nicht Überwinterungsplätze der zu. vom Aussterben bedrohten Flughäfen Birkhühner befindet. Die Bahn-Gesellschaft argumen- Abfertigung ein Fehlstart durch Planungs- sichtlich für länger unbenutz- tiert, der Lift werde Skifah- schlamperei. Das neue Ab- bar bleiben. Der Grund: rer bei der Abfahrt von dem blockiert fertigungsgebäude (für 3,5 Laut Baugenehmigung darf Biotop fernhalten. Kommen- Beim Ausbau des Leipziger Millionen Passagiere pro der 110 Millionen Mark teure tar des Liftgegners und Grü- Airports Schkeuditz zum mo- Jahr) wird nach seiner Fertig- „Terminal B“ erst in Betrieb nen-Landtagsabgeordneten dernen Großflughafen droht stellung Anfang 1996 voraus- gehen, wenn eine sechs Kilo- Raimund Kamm: „Wenn meter lange Umgehungsstra- man die Zone schützen will, Planungen für den Ausbau ße für die lärmgeplagte An- braucht man sie nur wirksam A 9 des Leipziger Flughafens rainergemeinde Kursdorf be- abzusperren.“ fahrbar ist; doch bislang sind Halle A 14 nicht einmal die Grundstücke Schilda der Trasse angekauft. In ih- Nordbahn rer Not ficht die Flughafen Fragwürdige GmbH, die dem in rund 150 Werbung Kilometer Entfernung ge- Nördlicher planten Berliner Luftkreuz Als Arbeitsbeschaffungs- Terminal Konkurrenz machen will, Schkeu- maßnahme für nordrhein- ditzer ICE-Trasse jetzt die Straßen-Auflage an. westfälische Behörden hat Kreuz mit Bahnhof Umgehungs- Doch die Kursdorfer wollen straße sich eine Werbetafel an der A 14 für ihren verbrieften Lärm- Autobahn A 4 von Köln in schutz kämpfen. Ihr Rechts- Richtung Aachen entpuppt. anwalt Rainer Wollny aus Überbauung Dort läßt auf 67 Quadratme- Brühl bei Köln, in Kursdorf tern der SPD-Bundestagsab- Kursdorf selbst Grundbesitzer, ist sie- geordnete und Landrat Klaus gesgewiß: „Die Flughafen- Lennartz für seinen Land- Terminal B (im Bau) leute können dann nur noch strich werben: „Erftkreis – in Hungerstreik treten.“ Werbeseite

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„EINSATZ INS UNGEWISSE“ Der Ernstfall ist nahe. Deutsche Soldaten sollen für Uno und Nato auf dem Balkan eingreifen – der erste Kampfein- satz seit Gründung der Nachkriegsrepublik. Mit High-Tech und Heldentum wappnen sich Volker Rühes „Krisenreakti- onskräfte“. Doch der deutschen Außenpolitik fehlt jedes Konzept. Wo sind die Grenzen für deutsche Soldaten?

chwungvoll zieht Oberfeldwebel daß das Hantieren mit Schießgerät und truppen des Heeres, Jagdbomberge- Mario Holzmayr, 27, die Pistole, Granaten ernster zu nehmen ist, als sie schwader der Luftwaffe und Einsatzgrup- SModell P 1, aus dem Halfter und eigentlich wahrhaben wollten: Die Krie- pen der Marine bilden die „Krisenreakti- dreht am Sicherungsflügel. „F steht ge in Bosnien und Kroatien, in Geor- onskräfte“ – eine Armee in der Armee. nicht für Frieden, Männer“, schnarrt gien und Tschetschenien lassen diffuse Mitten in den vielen Feierlichkeiten der Ausbilder, „F heißt Feuer.“ Be- Ängste wuchern. und Gedenkveranstaltungen zum Ende klommen starren die Wehrpflichtigen Und der Ernstfall ist nahe. Der Nato- des Zweiten Weltkriegs, in dem deutsche der 5. Kompanie des Stabs- und Fern- Rat hat am vorigen Mittwoch die Pläne Armeen ganz Europa bekriegt hatten, melderegiments 310 aufs Linoleum. der Generäle akzeptiert: Eine Streit- und vier Jahre nach Wiederherstellung In der Koblenzer Rheinkaserne ste- macht bis zu 40 000 Mann soll den Ab- seiner vollen Souveränität schickt sich hen seit dem 2. Januar 160 junge Män- zug der Uno-Blauhelmtruppen aus Deutschland an, seiner Armee erstmals ner in der Grundausbildung. Wie der- Kroatien und Bosnien decken. Deut- einen Kampfeinsatz zu befehlen. zeit 154 000 Wehrpflichtige in Ost- und sche Soldaten sollen dabeisein – zu Was- Zweck des Einsatzes ist nicht Selbst- Westdeutschland lernen sie das kleine ser mit Minensuchbooten und Schnell- verteidigung inder westlichenAllianz. Er Soldaten-Einmaleins. Gut möglich, daß booten; zu Land mit Sanitäts- und gilt diesmal auch nicht nur humanitären sie es bald anwenden müssen. Stabsoffizieren; in der Luft mit Kampf- Zielen wie die Mission der Sanitäter in Gleich nachdem die jungen Rekruten jets. Kambodscha, wie die Hilfsflüge nach eingerückt waren, wurde ihnen klar, Die Bundeswehr hat sich für den Fall Bosnien oder Ruanda oder die Expediti- der Fälle präpariert. Insgesamt 50 000 on nach Somalia. * Angetreten zum ersten Besuch Kanzler Adenau- Mann stehen künftig zur weltweiten In- Im Krieg auf dem Balkan setzt die Bun- ers bei der gerade gegründeten Bundeswehr. tervention bereit. Ausgewählte Kampf- deswehr sechs bis acht „Tornados“ ein. H. ENGELS Bundeswehr-Ehrenzug in Andernach (1956)*: „F steht nicht für Frieden, Männer“

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Nato seit voriger Woche darauf vor, den erzwungenen Rückzug mit Kampftruppen abzusi- chern. Ihr Balkan-Einsatz kommt früher, als die deutsche Regie- rung glaubte. Bisher galt: Erst wenn der US-Kongreß einseitig das Waffenembargo gegen Bos- nien aufhebt, werden die Uno- Blauhelme das Land verlassen. Nato-Truppen sollten sie – durch Kroatien – zur Adriakü- ste und nach Italien geleiten: frühestens im Sommer. Für Ghali steht fest, daß der Abzug seiner Truppe aus Kroa- tien fast automatisch das

AFP / EPA schnelle und womöglich blutige Uno-Blauhelmsoldat, bosnisches Opfer in Sarajevo: Tabuwort Krieg Ende der Mission in Bosnien bedeutet. Serbiens Präsident Sie bekommen den Auftrag, im Even- klärung, zwei Propellermaschinen vom Slobodan Milosˇevic´ droht, „der Uno- tualfall zum Schutz der Blauhelme Typ „Breguet-Atlantic“ für elektroni- Rückzug könnte ein Kriegsfeuer mit un- scharf zu schießen: zum erstenmal, seit sche Aufklärung, dazu bis zu zwölf vorhersagbaren Folgen entfachen“. die Bundeswehr – auch ein Jubiläum – „Transall“-Transporter. Der Nato-Oberbefehlshaber für Eu- vor 40 Jahren gegründet wurde und Streng abgeschirmt von der Öffent- ropa, George Joulwan, steht jetzt unter überdies außerhalb des Nato-Gebietes. lichkeit, üben die Piloten vom Jagdbom- Zeitdruck. Mindestens acht Wochen Die Tornados gelten als bestens ge- bergeschwader 32 im schwäbischen braucht er, um seine Streitmacht auf eignet, serbische Flugabwehrraketen- Lechfeld seit Wochen den Raketen- den Balkan zu bringen. Stellungen zu zerstören. Die Jagdbom- krieg. Ehe die Deutschen mit von der Partie ber fliegen der Nato-Luftflotte – Trans- Der Befehl zum Abmarsch ist so sein dürfen, muß sich die Regierung porter, Kampfflugzeuge, Überwa- gut wie ausgestellt. Präsident Franjo Kohl/Kinkel die Zustimmung im Parla- chungsflugzeuge – voraus. Dazu kom- Tudjman hat die Uno ultimativ aufge- ment holen. Diese Debatte verspricht men sechs Tornados für optische Auf- fordert, von Ende März an die 15 000 hochgradige Spannung. Denn Bellizi- Blauhelme aus Kroatien abzuziehen. sten und Pazifisten finden sich in allen * In Hammelburg bei einer Übung für den Soma- Auf Wunsch von Uno-Generalsekretär Parteien; die Politiker lassen sich eben- lia-Einsatz im Juli 1993. Butros Butros Ghali bereitet sich die sowenig wie die Schriftsteller und Intel- IMO Minister Rühe, Soldaten*: „Konflikte auch mit militärischen Mitteln beilegen“ Werbeseite

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tel der Politik? Selbstverständlich. Nur in Europa? Keineswegs. „Landesverteidigung unter Einsatz der Streitkräfte im klassischen, konven- tionellen Krieg erscheint zunehmend unwahrscheinlich. Einsatz von Teilen des Militärs außerhalb des eigenen, sich noch im Frieden befindlichen Landes wird eher der Normalfall“, so steht es im neuesten Ausbildungskonzept der Pan- zertruppenschule Munster. Die Verteidigungspolitischen Richtli- nien der Bundesregierung haben der ursprünglich auf Landesverteidigung eingeschworenen deutschen Armee den Schutz Deutschlands „gegen politi- sche Erpressung“ aufgetragen. Außer- dem diene sie, so heißt es bemerkens- wert unscharf, „dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit im Ein- klang mit der Charta der Vereinten Na- tionen“.

IMO Dem Generalinspekteur Klaus Nau- „Tornado“-Staffel der Bundeswehr: „Auf Optionen angewiesen“ mann sind diplomatische Ersatzbegriffe zutiefst fremd. Der militärische Berater lektuellen nach dem alten Rechts-Links- Flankierung durch glaubwürdige militä- Rühes bemüht das klassische Repertoire Muster in Interventionisten und Nicht- rische Optionen angewiesen.“ Clausewitzscher Begriffe mit Lust an Interventionisten einteilen. Den CDU-Verteidigungsminister der Provokation: Für ihn seien „militäri- Von der Nato sind die Deutschen fest Volker Rühe überkam ein Anflug von sche Mittel Ultima ratio der Politik, also gebucht. Auch Franzosen und Briten Bedenken: Er beklagte, daß nach dem als äußerstes Mittel zu verstehen, was wünschen sich die feuerbereiten Torna- Kalten Krieg und dem Zusammenbruch allerdings nicht heißen darf, daß man sie dos mit dem Eisernen Kreuz im Luft- des Kommunismus Krieg „als Mittel immer nur als letztes Mittel anwendet“, raum über ihren Blauhelmen. der Politik zurückgekehrt“ sei. Nun schreibt der Vier-Sterne-General in der Die Regierungsmehrheit im Bundes- aber bleibe Deutschland nichts anderes Januar-Ausgabe von Soldat und Tech- tag zu organisieren obliegt Wolfgang übrig, als mitzuhalten: „In Zukunft nik. Schäuble. Der CDU/CSU-Fraktions- müssen wir fähig sein, Konflikte auch Für die Generäle und Offiziere in der chef hat sich für den gewünschten Ab- mit Hilfe militärischer Mittel beizule- Bundeswehr, denen die deutsche lauf der Dinge verbürgt. gen.“ Scheckbuch-Diplomatie im Golfkrieg Worum es wirklich geht, wollen So schätzt auch Kanzler Kohl die La- 1991 ein Greuel war und die Krieg nicht Schäuble, Kanzler Helmut Kohl und ge ein. Er gedenkt, die Bundeswehr länger als Sandkastenspiel betreiben Außenminister Klaus Kinkel allerdings „uneingeschränkt“ im „internationalen wollen, ist Naumann der richtige Kame- nicht so genau sagen. Sie hüten sich, von Krisenmanagement“ einzusetzen. rad. „Krieg“ zu reden. Der heißt im Bonner Die Militärs gehen weniger zimperlich Denn für das Offizierskorps ist die und Nato-Sprachgebrauch wahlweise mit dem Tabu-Wort um. Krieg, ein Mit- Welt nach dem Kalten Krieg ein Pulver- „friedenschaffende Maßnahmen“ oder „Krisenbewältigungsfall“; er ist das „äußerste Mittel“ und die „energische Gewehr bei Fuß LUFTWAFFE Prävention“. „Krisenreaktionskräfte“ Niemand will die eigenen Bürger, von Fliegende Verbände denen bekannt ist, daß sie allenfalls der Bundeswehr 1 Staffel Tornado ECR (Elektronischer Kampf Bundeswehreinsätze für den Frieden gut und Aufklärung) finden, in Unruhe versetzen. Niemand 1 Staffel Tornado (Optische Aufklärung) will die Nachbarn, die deutsche Macht- 2 Staffeln Tornado (Jagdbomber) entfaltung nach der Wiedervereinigung 2 Staffeln F4F Phantom (Jagdbomber) mißtrauisch betrachten, kopfscheu ma- HEER Flugabwehrraketen chen. 6 Staffeln Patriot Zu verheimlichen ist es dennoch Luftlandebrigade 25 4 Staffeln Hawk nicht: Krieg im Kleinformat ist in Luftlandebrigade 26 1 Staffel Roland Deutschland – im Einklang mit der Uno Luftlandebrigade 31 und im Auftrag der Nato – wieder Mit- tel der Politik. Gebirgsjägerbrigade 23 MARINE 7. Panzerdivision FDP-Außenminister Kinkel, der no- 6 Fregatten/Zerstörer Panzerlehrbrigade 9 torisch zwischen Resignation und rheto- 15 Minenabwehrfahrzeuge Panzerbrigade 21 rischer Kraftmeierei schwankt, sagte in 13 Schnellboote der Dezember-Debatte im Bundestag 10.Panzerdivision 8 Unterseeboote über die ambivalente deutsche Außen- Panzerbrigade 12 1 Tanker/Versorger politik so: „Wie froh wären wir alle, Panzergrenadierbrigade 30 6 U-Boot-Jagdflugzeuge wenn die Drohung mit diplomatischem Deutsch-französische Brigade 1 Staffel Marinejagdbomber Vorgehen genügte. Politik ist aber öfter, als ihr lieb sein kann, letztlich auf die

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dem der bisherigen Blauhelm-Kom- mandeure haben sie vorgehalten, mit Zwischen allen Fronten den Serben zu sympathisieren. Der in- Auf dem Balkan bereiten die Uno-Truppen den Abzug vor ternationalen Friedenstruppe begeg- nen ihre Kämpfer mit zunehmender Feindseligkeit. ber den Tower des Flughafens von schaftsbereich für die Blauhelm-Ver- Kroatiens selbstherrlicher Präsident Zagreb meldete sich ein Uno- bände ein generelles Fahrverbot, Franjo Tudjman spielt ebenfalls mit ÜSprecher beim Piloten der anflie- nachdem er türkische Uno-Einheiten dem Gedanken an ein neues Abenteu- genden Maschine aus Teheran. Die der angeblichen Parteinahme für die er. Brüsk forderte der Großkroate die Landeerlaubnis werde zwar erteilt, Moslems bezichtigt hatte. Den Blau- internationalen Vermittler auf, sein drohte der Friedenswächter, aber so- helmen vom Bosporus drohte der Land nach dem 31. März zu verlassen. bald das Flugzeug auf dem Rollfeld zum Serben-Chauvi mit Krieg: „Wir be- Begründung: Die Uno störe ihn bei Stillstand gekommen sei, würden seine trachten die Feinde des Abendlandes zukünftigen Unternehmungen. Wenn Leute die Besatzung aus dem Cockpit als Bestandteil der gegnerischen Kräf- Boris Jelzin in Tschetschenien unge- heraus verhaften. te.“ hindert mit seinen Gegnern abrechnen Die Iraner drehten ab. Blitzschnell Als sich die Uno-Wächter ihre Be- könne, sagt Tudjman herausfordernd, verließ der Militärtransporter den kroa- wegungsfreiheit nicht nehmen lassen sei auch er befugt, einen Befreiungs- tischen Luftraum und nahm Kurs auf wollten, nahmen die Serben sie zeit- schlag in den serbisch besetzten Gebie- Budapest. Dort wurde dann die heiße weilig in Geiselhaft. ten Kroatiens zu führen. Die Uno zwischen allen Fronten – selbst ihr Generalsekretär Butros Bu- tros Ghali weiß sich keinen Rat mehr. „Es scheint, wir müssen gehen, wir müssen wirklich gehen“, stotterte der oberste Weltpolizist vorigen Donners- tag in New York, „auch wenn es sehr, sehr schwierig werden wird, vielleicht sogar eine Katastrophe.“ So verworren ist der Konflikt gewor- den, daß Schlichtung niemandem mehr möglich scheint. Die Kroaten wollen die serbisch besetzte Krajina zurücker- obern; die Krajina-Serben dagegen möchten gemeinsam mit ihren bosni- schen Brüdern einen eigenen Staat ausrufen. Belgrad wiederum sucht der- zeit eine Annäherung an Zagreb und strebt die Aufteilung Bosniens in eine kroatische und serbische Einflußsphä- re an. Bosnier und Kroaten, formal in ei- nem Verteidigungsbündnis zusammen- geschlossen, stehen einander auf dem

DPA Schlachtfeld längst nicht mehr bei. Es Britische Uno-Blauhelme: Von den Serben in Geiselhaft genommen ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis die Bündnispartner von heute erneut auf- Fracht in der Nacht zum 17. Januar ent- Statt sich zur Wehr zu setzen und einander losgehen. laden – Waffen für die bosnischen Mos- den Friedenshütern ein klares Mandat Kommandeure hören nicht mehr auf lems, die statt über Zagreb nun über so- zu geben, resignierte die internationale die politische Führung, selbständige genannte Ameisenpfade ins Kriegsge- Staatengemeinschaft. Sie findet sich Kriegsherren und lokale Bandenchefs biet geschleust wurden: ein offener damit ab, ihre 24 000 Mann starke warten auf eine günstige Gelegenheit Bruch des Uno-Embargos. Friedensstreitmacht im Frühjahr not- zum Losschlagen – sie spielen längst Bosnier, Kroaten und Serben nutzen falls abzuziehen. Vor allem die Sicher- ihre eigene Partie in diesem endlosen jeden Weg und jede Gelegenheit, um an heitsratsmitglieder Großbritannien Krieg. schweres Kriegsgerät zu gelangen. Die und Frankreich, die das größte Uno- Den Blauhelmen droht im Schla- Uno-Soldaten als Aufpasser vor Ort Kontingent auf dem Balkan stellen, massel Unheil von allen Seiten – auch müssen dem Treiben meist hilflos zu- drängen auf ein schnelles Ende der und sogar erst recht, wenn sie abrük- schauen; nur selten haben Interventio- Mission, da keine Konfliktpartei zum ken. Denn wenn dann die Kämpfe al- nen wie die in Zagreb Erfolg. Greifen Frieden bereit sei. ler gegen alle wieder aufflammen, wird die nur leicht bewaffneten Friedenshü- Auch die moslemische und kroati- sich keine Kriegspartei um die Sicher- ter doch mal ein, antworten Komman- sche Führung, heißt es aus Paris und heit der verhaßten Uno-Soldaten sche- deure und Soldaten aller Kriegsparteien London, vertraue blindlings auf die ei- ren; Racheaktionen und Geiselnah- häufig mit demütigenden Schikanen. gene Militärkraft. Tatsächlich haben men sind vorhersehbar. So verordnete Bosniens Serbenfüh- die Moslems längst jedes Vertrauen in Um aus dem Wirrwarr unbeschädigt rer Radovan Karadzˇic´ in seinem Herr- die Uno-Truppen verloren; noch je- herauszukommen, benötigen die weit-

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verhalten, sondern agieren bis hin zum UNGARN präventiven Handeln.“ SLOWENIEN Uno-Hauptquartier Was heißt das – Attacken auf islami- Zagreb KROATIEN sche Fundamentalisten, die inzwischen Save E70 große nordafrikanische Staaten wie Al- gerien und Ägypten gefährden? Autoput Donau Für solche Heldentaten ist die Bun- deswehr, entstanden und aufgebaut im Kalten Krieg, nur bedingt tauglich. Sie Banja Luka steckt mitten im Umbau. Bihac´ Belgrad Die neue Aufgabe verändert die Ar- BOSNIEN- Tuzla mee. Sie schafft sich eine gar nicht so HERZEGOWINA kleine, feine Elitetruppe zum weltwei- SERBIEN ten Einsatz – deutsche Ledernacken für Knin die Nato und Uno. Der Rest der Srebrenica 340 000-Mann-Truppe steht unter dem Zepa Kroaten Diktat der knappen Kasse und tut Sarajevo Dienst nach alter Vorschrift für den Moslems Split Goraˇzde Verteidigungsfall. Serben Mostar Die Bundeswehr – bedingt angriffs- von Serben bereit. kontrollierte Schon bei der Musterung wird jetzt Krajina jeder Rekrut gefragt, ob er bereit sei, im Ausland zu kämpfen. Funker Thor- Straßenkorridore MONTENEGRO sten Stiels, 22, hat sofort die Hand ge- Einsatzorte von Uno- hoben und sich gleich für vier Jahre Blauhelmsoldaten 50 Kilometer Dubrovnik verpflichtet. Der Jungsoldat in der Ko- blenzer Rheinkaserne sieht das gelas- sen: „Das ist doch eher Menschenhilfe, verstreuten Uno-Kontingente Hilfe faß und die Blauhelm-Mission nur eine Brunnenbohren und so.“ Daß er sich von außen. Jeder Abzug würde Kroa- von mehreren Varianten. schießend verteidigen würde, versteht ten, Moslems und Serben dazu verlei- Wer wie Naumann den Deutschen Si- sich für ihn von selbst. ten, die geräumten Stellungen sofort cherheit in unsicherer Welt verschaffen Holger Kesselheim, 22, und Chri- selbst einzunehmen und sich zurückge- will, für den ist es keine Frage, „daß stoph Krah, 27, gehören zur Mehrheit lassenes Kriegsgerät zu sichern. man Einsätze deutscher Truppen nicht der Traditionalisten: null Bock auf Bal- Ohne Nato-Deckung ist die Evakuie- auf Europa beschränken kann“. Auch kan. Eine spontane Umfrage in der rung deshalb nicht möglich, weder beim darf Deutschland sich künftig – geht es Rheinkaserne ergab 70 Prozent Neinsa- Abmarsch aus der Krajina noch beim nach dem Willen seines obersten Solda- ger: „Wenn es ernst wird, werden es Bosnien-Rückzug. Den Brüsseler Pla- ten – nicht erst verteidigen, wenn es be- noch mehr“, glaubt Krah. nern graust davor, daß der Rückzug zu droht oder angegriffen wird. Die Deut- Mit blauem Helm in die Welt zu zie- einem Vietnam mitten in Europa gera- schen sollen zum Beispiel einen militäri- hen, erkannte Rühe, könne die Bun- ten könnte. Nach Berechnungen westli- schen Erstschlag nicht ausschließen, um deswehr „einem normalen Wehrpflich- cher Militärexperten wird eine Streit- „Konflikte von Deutschland fernzuhal- tigen nicht zumuten“ – wegen der kur- macht von etwa 40 000 Mann benötigt, ten“, die „im Krisenbogen von Marokko zen Ausbildungszeit. Wenn der Wehr- wenn die gescheiterten Friedenssolda- bis zum Indischen Ozean“ entfacht wer- dienst 1996 auf zehn Monate gekürzt ten mit kompletter Ausrüstung in kur- den. Kurzum: „Nicht mehr reagierend wird, sollen deshalb neben Zeit- und zer Zeit das Feld räumen sollen. Würden sie dabei angegriffen, könn- te die Bundeswehr ihren Nato-Partnern militärische Hilfe nicht versagen. Zu- mindest die Luftwaffe wäre gefragt, wenn es gälte, bedrängte Blauhelme herauszuhauen. So ist es gut möglich, daß den Uno- Truppen eine letzte Demütigung nicht erspart bleibt: Sie könnten ihre etwa tausend gepanzerten Fahrzeuge, die elektronische Ausrüstung und ihre Lo- gistik den Kriegsparteien freiwillig als Beutestücke überlassen –und sich dafür das Recht erkaufen, wie unbeteiligte Zivilisten ausgeflogen zu werden. Diesem Szenario hat Serben-Vor- mann Karadzˇic´ bereits seine Billigung gegeben. „Wir stimmen jedem Uno- Rückzug zu“, spricht der Eroberer mit der Großmut des Siegers, „der zu unse- ren Gunsten ausfällt.“ M. LINDNER / SIGNUM Generalinspekteur Naumann: Lästiger Primat der Politik

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Berufssoldaten nur solche Wehrpflich- Schon beim Start vom italienischen tige in Frage kommen, die freiwillig Stützpunkt Falconara bei Ancona legt für 12 bis 23 Monate dienen wollen – Pilot Torsten Hartwig, 30, die Splitter- für ein kleines Aufgeld zum normalen schutzweste an, zurrt den Fallschirm fest Sold. und läßt sich eine Pistole aushändigen. Ob die Jungsoldaten dann tatsäch- Serben-General Ratko Mladic´ hat sei- lich mitmarschieren, liegt bei ihnen. ne Drohung („Wir schießen jede Ma- Das Grundgesetz verbrieft ihnen das schine ab“) bisher nicht wahrgemacht. Recht, den Kriegsdienst an der Waffe Doch daß irgendein Tschetnik dort un- auch noch nachträglich zu verweigern. ten am Boden am Auslöser herumfum- Der Einsatzbefehl könnte die Rei- melt, ahnt Hartwig, „ist nie auszuschlie- hen lichten: Zwar befürworten 47 Pro- ßen“. zent der Jugendlichen eine Teilnahme Für „besondere Bedrohungssituatio- der Bundeswehr an „militärischen nen“ bekommen die Transall-Mann- schaften 150 Mark Zulage täglich. Das Gebet des US-Militärpfarrers beim Zum Einsatz im Ernstfall Briefing kurz vor dem Start „haben mei- sind nur ne Männer zu schätzen gelernt“, sagt Zwei-Sterne-General Back. wenige Soldaten bereit Die Bundeswehr verändere sich laut- los, meint Bernhard Fleckenstein, Lei- Maßnahmen der Uno gegen Friedens- ter des sozialwissenschaftlichen Instituts störer“, wie die Strausberger Akademie der Bundeswehr in Strausberg: „Für die für Information und Kommunikation neuen Einsätze in aller Welt sind wieder

der Bundeswehr nach Bonn meldete. derbere Typen gefragt“ (siehe Interview SVEN SIMON Aber wenn es darum geht, selbst mitzu- Seite 75). Wehrmachtssoldat Helmut Schmidt* kämpfen, tut sich eine große Lücke auf: Die neuen Helden, von denen Gene- „Mangel an Erfahrung, was Krieg ist“ Nur noch 29 Prozent wären dazu bereit. räle wie Naumann träumen, sollen sich Die Soldaten vom Lufttransportkom- in den „Krisenreaktionskräften“ (KRK) gerüstete Streitkräfte“. Und Generalin- mando in Münster sind schon weiter. für Expeditionen in alle Welt versam- spekteur Naumann resümiert leicht un- Die Mission im Kriegsgebiet gehört für meln. Und die sollen bekommen, was beholfen: „Bei Krisenreaktionskräften sie zum Alltag. gut und teuer ist. Sie stehen nicht mehr ist der Einsatz davon gekennzeichnet, Im Wechsel mit anderen Nato-Einhei- allein und ausschließlich unter Nato-Be- daß man ins Ungewisse hinein handelt.“ ten fliegen die Transall-Besatzungen fehl, sie können ebensogut von der Mithin: Feind, Einsatzgebiet, Kon- von Generalmajor Gerhard Back, 50, Uno, der WEU oder der OSZE ange- fliktlage – alles Unbekannte. seit zwei Jahren über Bosnien. Ständig fordert werden. Für ihre neue Elitetruppe braucht die im Fadenkreuz der Serben, liefern sie Die deutschen Krisenreaktionskräfte Bundeswehr harte Jungs. In einer ver- täglich zweimal bis zu acht Tonnen sollen, so steht es im Weißbuch der traulichen Weisung ordnete der Heeres- Hilfsgüter nach Sarajevo. Seit Serben Bundeswehr 1994, „das gesamte Spek- inspekteur am 25. August 1994 an: „Die die Stadt eingekesselt haben, hält allein trum möglicher Einsätze abdecken, von Ausbildung . . . schließt ausdrücklich diese Luftbrücke die 380 000 Bewohner der modernen Guerilla-Kriegführung die Vorbereitung auf friedenserzwin- am Leben. bis zum Einsatz gegen hochwertig aus- gende Maßnahmen unter den Bedingun- gen des Gefechtes der Verbundenen Waffen ein. Unabdingbare Vor- aussetzung für die Aus- bildung von Truppe und Führern für friedensun- terstützende Einsätze ist der kriegstüchtige Sol- dat.“ „Einen professionel- len Stamm von Kämp- fern“ wünscht sich Nau- mann, „Pflichterfül- lung“ mahnt er an. Es gelte Abschied zu neh- men von „Hedonismus und Egoismus“ in dieser Gesellschaft (siehe Seite 76). Der liberalen Grün- dergruppe der Bundes- FOTOARCHIV wehr, geprägt durch die Generäle Baudissin und de Maizie`re, steht Nau- mann fern. Der Primat der Politik, unter dem H. SCHWARZBACH / ARGUS Rekruten bei der Bundeswehr: Abschied vom Hedonismus? * 1940.

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die demokratische Armee traditionell steht, scheint ihm eher lästig. Die martialischen Ansichten des ge- lernten Artilleristen Naumann, 55, füh- ren immer wieder zu Spannungen mit „Derbere Typen“ seinem Dienstherrn Rühe. Doch der Minister verzichtet darauf, seinen mili- Bernhard Fleckenstein über den Kampfgeist der Soldaten tärischen Ratgeber in die Schranken zu weisen. Denn Naumann genießt die Protektion von Kanzler Kohl. Ihm ver- Professor Fleckenstein, 54, leitet se aus der Einstiegsluke des Flug- dankt er auch seine nächste Beförde- das sozialwissenschaftliche Insti- zeugs springen, das sie ins Krisen- rung: Im nächsten Jahr wird Naumann tut der Bundeswehr in Strausberg. gebiet bringen soll. Rein rechtlich Vorsitzender des Nato-Militärausschus- wäre das möglich. ses, des höchsten militärischen Gremi- SPIEGEL: Herr Fleckenstein, Solda- SPIEGEL: Wie bereitet sich die Bun- ums der Allianz. ten lesen fast täglich von Spekula- deswehr-Führung auf solche Un- Militärs wie Naumann drängen die tionen über Blauhelm-Einsätze der wägbarkeiten vor? Politiker. Sie wollen Fakten schaffen – Bundeswehr. Wie groß ist die Ver- Fleckenstein: Ein Ergebnis des So- so zielstrebig, daß Altkanzler Helmut unsicherung? malia-Einsatzes war, daß die Kom- Schmidt „bestürzt“ ist, wie sich Krieg als Fleckenstein: Die Bundeswehr war mandeure sich eine umfassende Be- Mittel der Politik wieder in die Köpfe immer eine Verteidigungsarmee, treuung der Soldaten durch Psycho- von Regierenden „einschleicht“. die Soldaten hatten einen gesell- logen wünschen. Da erleben ja Sozialdemokrat Schmidt fürchtet, daß schaftlich akzeptierten Auftrag. manche Grausamkeiten, die sie nur Friedens- und Entspannungspolitik im Ziel war die Friedenserhaltung. aus dem Fernsehen kennen. Doch vereinten Deutschland ihren absoluten Dieses Berufsbild wird durch die Vorrang verloren habe, und das ist für Vorbereitungen auf Einsätze außer- ihn ein „bedenkliches Phänomen“, nur halb des Nato-Gebiets massiv at- zum Teil herzuleiten vom Ende der bi- tackiert. polaren Welt des Ost-West-Gegensat- SPIEGEL: Fürchten Sie um die Mo- zes. ral der Truppe? Der Weltkrieg-II-Leutnant Schmidt Fleckenstein: Es gibt drei Typen erklärt sich die neue Unbefangenheit von Soldaten. Der unpolitische aus dem „Mangel an eigener Erfahrung, Kämpfer, der dorthin geht, wo er was Krieg ist“. hingeschickt wird; der loyale „Wenn die Alten Glatzen bekom- Staatsdiener, der den Argumenten men“, beobachtet der frühere stellver- der Politik folgt, und der Individua- tretende Nato-Oberbefehlshaber Gene- list, der sich als Staatsbürger in ral a. D. Gerd Schmückle, 77, „wenn sie Uniform versteht. Für Typ drei ist in den Altenheimen verschwinden, dann die Geschäftsgrundlage verschwun- verharmlost sich das Kriegsbild schon den, unter der er angetreten ist. bei der nächsten Generation.“ SPIEGEL: Und was macht Typ drei? Hans-Dietrich Genscher, vom Jahr- Verläßt er die Bundeswehr? gang ’27 und damit Angehöriger der Fleckenstein: Viele, vor allem Offi- Flakhelfergeneration, hatte sich ganz ziere, sind innerlich auf dem fest vorgenommen, kein böses Wort Sprung. Und viele lassen sich früh über seinen Nachfolger im Auswärtigen pensionieren, andere warten ab. Amt zu sagen. Nun aber glaubt Gen- Das geschieht weitgehend unbe-

scher sein Lebenswerk gefährdet. „Wir merkt. Es gibt keine Untersuchun- J. OBERHEIDE / ARGUM müssen runter von der Zuschauertribü- gen darüber. Ich vermute, daß der Experte Fleckenstein ne“, mit solchen Worten plädierte Au- Führung dieses Thema peinlich ist. „Im letzten Augenblick verweigern“ ßenminister Kinkel wiederholt für mehr SPIEGEL: Hat sich das Bild vom deutsche Verantwortung bei Kriegen Soldaten verändert? selbst bei psychologischer Rundum- und Krisen. Fleckenstein: Die Bundeswehr ver- betreuung bleibt immer ein Restrisi- Das sei „Geschichtsklitterung“, ändert sich lautlos. Für die neuen ko, für das man nicht trainieren schimpfte Genscher. „Im Auslandsein- Einsätze in aller Welt sind wieder kann. satz der Bundeswehr liegt doch nicht ein derbere Typen gefragt. Das Zen- SPIEGEL: Aber bei Bundeswehrsol- Quantensprung der deutschen Außen- trum für Innere Führung entwickelt daten, die sich freiwillig gemeldet politik.“ Ausbildungspläne, die das Kämpfe- haben, ist doch eine hohe Motivati- Auch Kanzler Kohl setzt sich für rische stärker betonen. on zu erwarten? „größere weltpolitische Verantwortung“ SPIEGEL: Was bedeutet das Poten- Fleckenstein: Das würde ich nicht Deutschlands ein und ärgert damit den tial schweigender Verweigerer für überschätzen. Vor 1989 existierte ei- Altmeister der Vieldeutigkeit: „Als hät- einen Auslandseinsatz? ne reale Bedrohung durch den War- ten wir uns davor bisher gedrückt“, mo- Fleckenstein: Das ist ein unkalku- schauer Pakt und damit ein mora- kiert sich Genscher. Deutschland habe lierbares Risiko. Es kann gesche- lisch einwandfreier Auftrag zum nach der Vereinigung nicht mehr Ver- hen, daß viele im letzten Augen- Schutz von Recht und Freiheit. Bei antwortung zu tragen als früher. „Ver- blick verweigern – das ist der Preis, manchen Blauhelm-Einsätzen von kürzt heißt dann neue Verantwortung: den man für eine Armee mitden- heute ist für die Soldaten nicht mehr Auslandseinsatz der Bundeswehr.“ kender Menschen zahlen muß. Wer so klar, für wessen Interessen sie ei- Ein Stück Machtpolitik also neben weiß, ob nicht Soldaten reihenwei- gentlich streiten. der Verantwortungspolitik – freilich auch auf Drängen der westlichen Alli-

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TITEL „Heute geht’s zum Feind“ Wie eine Spezialtruppe der Bundeswehr den Ernstfall probt

er Tornado der Bundeswehr kam nur bis Bihac´. Da traf eine DRakete den Jet. Der Pilot muß- te sich mit dem Schleudersitz retten. Als er mit seinem Fallschirm auf einer Lichtung landete, erwarteten ihn schon die Serben. Sie stießen dem Piloten ihre Gewehrläufe in die Rippen und trieben ihn zu einem na- hen Bauernhof. Dort sitzt der Deut- sche nun seit zehn Tagen in einem Kellerloch, bewacht von Tschetniks. Solche Szenarien zaubern Ulrich Quante, 56, dem Kommandeur der Luftlande- und Lufttransportschule im bayerischen Altenstadt, Glanz in die Augen. „Das wäre was für unse- re Jungs.“ Der zackige Oberst läßt in seiner Schule einen neuen Kämpfertypus drillen, den Kommando-Soldaten.

Trainiert im Häuserkampf, kann er T. EINBERGER / ARGUM Sprengladungen anbringen; er seilt Kommando-Soldaten bei Übung: „Meine Männer sind die besten“ sich aus dem Hubschrauber ab und läßt sich von einem Auto mitschlei- Als die Altenstädter Kaserne im Auch finanziell muß die Truppe fen. Natürlich ist er begeistert von Mai 1993 nach Franz Josef Strauß darben. Seit Jahren fordert sie ver- allem Militärischen. benannt wurde, gab die Belegschaft gebens 2,5 Millionen Mark, um ihre 180 möglichst eiskalte Elitekämp- die neuen Töne vor. „Werft an die Ausrüstung auf den Stand der Ame- fer hat die Bundeswehr in der Abge- Motoren, schiebt Vollgas hinein, rikaner, Briten und Franzosen zu schiedenheit Oberbayerns schon startet los, flieget an, heute geht es bringen. ausgebildet. Sie sollen keineswegs zum Feind“, sangen die Soldaten da Die Eliteeinheit hat ihre Ausrü- nur zu humanitären Einsätzen oder – ein Fallschirmspringer-Lied der stung ersatzweise selbst gebastelt: für Verteidigungsaufgaben einge- Nazi-Zeit. das Helm-Mikrofon, das auf Druck setzt werden. „Operation im Feind- Der Heldenmythos gilt noch etwas der Unterlippe anspringt; die Maga- gebiet“ lautet ihr Auftrag, und er gilt in Altenstadt. 36 Nägel steckten zintasche, die mit einem Ruck zu weltweit. nach einem Trümmerbruch in sei- öffnen ist; die Splitterweste, um die Als im April 1994 Mitarbeiter der nem Oberschenkel, berichtet Quan- sogar US-Kollegen sie beneiden. Deutschen Welle in Ruanda festsa- te mannhaft. 1993 stürzte ein junger Die Feierabende haben die Ram- ßen, packten Quantes Männer schon Springer in den Tod, weil sich sein bos zum Umbau des Heizungskellers ihre 50 Kilogramm schwere Ausrü- Fallschirm nicht öffnete. in ein „Häuserkampfstudio“ ge- stung. Der Kommandeur bedauert Als im vergangenen September nutzt. Auf Knopfdruck schnellen es heute noch, daß Belgier am Ende ein Major aus 40 Meter Höhe rück- Blechsilhouetten hervor. Die imagi- die Geiseln befreien durften: „Da lings auf das Wasser prallte und so- nären Gegner werden mit Farbmuni- hätten wir mal die Qualität unserer fort starb, war es einigen doch zu- tion abgeschossen. Ausbildung beweisen können.“ viel: 17 Mann quittierten den Lieber heute als morgen, so mut- Doch der erste Ernstfall kommt Dienst. Die Selektion ist durchaus maßt ein Offizier aus dem Führungs- bestimmt, da ist Quante zuversicht- gewollt, so ist gesichert, daß nur die zentrum des Bundesverteidigungs- lich: „Und dann sind meine Männer Härtesten bleiben. „Die anderen“, ministeriums zu Recht, „würden die- die ersten, weil sie die besten sind.“ sagt Quante kühl, „sollen lieber ge- se Kerle losstürmen“. Bei einem Motivationsprobleme kennt diese hen.“ Einsatz, weiß der Ministeriale, Truppe nicht, im Gegenteil. „Die Im Verteidigungsministerium wer- „müssen wir denen jede Sekunde auf muß man eher bremsen“, lobt Quan- den die harten Kerls mit gemischten die Finger gucken. Da besteht ein te. Stolz breiten die Kommando-Sol- Gefühlen beobachtet. Um deren erheblicher Nachsteuerungsbedarf“. daten ihr Arsenal aus. Sie beherr- Ego nicht explodieren zu lassen, ver- Minister Volker Rühe verzichtete schen russische, amerikanische, ei- weigern die Bonner den Kämpfern bislang auf einen Besuch in Alten- gentlich alle gängigen Waffen. ein eigenes Abzeichen. „Die haben stadt. Sollten Quantes Kämpfer bei „Feines Ding“, sagt Quante und läßt Probleme mit dem Wort Komman- einem heiklen Einsatz versagen, eine Pistole, Marke Heckler & do“, meint Quante. „Wieso eigent- müßte sich Rühe zuerst verantwor- Koch, durch die Finger gleiten. lich?“ ten.

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ierten, die den Deutschen ihre Zurück- Doch die große Debatte um die Inter- der klassisches Militär noch schwerbe- haltung seit der Vereinigung immer wie- essen des vereinten Deutschland ist die waffnete „robuste“ Blauhelme viel be- der vorhielten. Politik schuldig geblieben. Warum ei- wirken können. „Die Restauration außenpolitischer gentlich sollen deutsche Soldaten rund Woran soll sich der Bundestag orien- Denkmuster, die bis 1945 galten, ist im um den Globus in Stellung gehen? tieren, wenn er – wie vom Bundesver- vollen Gange“, warnt Ernst-Otto Czem- Soll allen Ernstes die „kontinentale fassungsgericht verlangt – demnächst piel, Friedensforscher in Frankfurt. Der Mittelmacht mit weltweiten Interessen“, über jeden einzelnen Militäreinsatz ab- Aufbau der schnellen Eingreiftruppen wie es in den gültigen Verteidigungspo- zustimmen hat? Und wagt es die Regie- in der Bundeswehr und anderen Nato- litischen Richtlinien aus der Feder Nau- rung künftig nein zu sagen – wie gerade Armeen gilt dem Wissenschaftler als manns heißt, Truppen einsetzen zur gegenüber Uno-Generalsekretär Butros Beleg für „eine Renaissance des Militä- „Aufrechterhaltung des freien Welthan- Ghali, der feste deutsche Kontingente rischen“. dels und des ungehinderten Zugangs zu für kommende Blauhelm-Missionen be- Die vielfach beschworene Rückkehr Märkten und Rohstoffen in aller Welt nannt haben wollte? zur „Normalität“ auch durch militäri- im Rahmen einer gerechten Weltwirt- Der FDP-Außenminister und der sche Machtentfaltung – für Deutschland CDU-Verteidigungsminister verfolgen kann es ein Zurück zur Großmachtpoli- ihre eigenen Ziele. Sie sind sich einig, tik oder gar zum Militarismus nicht sein. In Kriegen a` la Bosnien daß ein souveränes Deutschland frei Allerdings deutet Generalinspekteur können auch robuste über den Einsatz seiner Bundeswehr un- Naumann die deutsche Geschichte so, ter Uno- oder Nato-Flagge entscheiden als hätte Kaiser Wilhelm II. den Ersten Blauhelme nichts bewirken soll. Weltkrieg nur als Zuschauer erlebt und Nicht einig sind sich die beiden Kon- Hitler nicht den Zweiten Weltkrieg ent- schaftsordnung“? Die Bundeswehr – trahenten über Umfang und Reichweite fesselt. Schutztruppe ökonomischer Interessen? von Militäraktionen. Kinkel will sich mit Sein denkwürdiges Credo formulierte Oder sollen die Deutschen einfach weltweitem Engagement der Bundes- er im vorigen Herbst vor pensionierten nur Gutes tun in aller Welt? wehr, etwa in Haiti oder Angola, den Kameraden: „Zum erstenmal seit 300 Schon mahnte – ausgerechnet bei der ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat er- Jahren, seit den Tagen Richelieus, ist 125-Jahr-Feier des Auswärtigen Amtes dienern. Rühe möchte einstweilen die Deutschland nicht mehr Gegenstand ex- – Bundespräsident Roman Herzog „die Bundeswehr nur in Europa und Umge- ternen Drucks von Ost und West, son- Klarstellung, Betonung und Wiederho- bung an die Fronten schicken. dern Akteur.“ lung unserer unveränderten außenpoliti- Der Verteidigungsminister legt Wert Der General trumpft auf, als gebe es schen Linie“ als „notwendig“ an. auf den „Konsens mit der Bevölke- bei den Nachbarn, die Deutschland zu Bundesregierung und Nato sind klare rung“. Schritt für Schritt, erst unbewaff- größerer Verantwortung bei Krisen und Konzepte schuldig geblieben, wo sie nete Sanitäter in Kambodscha – wo der Konflikten einladen, nicht gleichzeitig Notwendigkeiten und Grenzen für Ein- Feldwebel Alexander Arndt von einem auch Angst vor neuem deutschen Grö- sätze ihrer Soldaten sehen. Großkon- Heckenschützen erschossen wurde –, ßenwahn: „Wir können und wir müssen flikte wie der Golfkrieg dürften künftig dann bewaffnete Logistiker in Somalia, nun gestaltend handeln. Wir sind nicht eher die Ausnahme sein. Typisch für schließlich Tornado-Jets über Bosnien, mehr im Maschinenraum des Dampfers Gegenwart und Zukunft sind – wie in so könnten sich die Deutschen an die Uno, KSZE, Nato, EU und so weiter, Somalia, Bosnien, Tschetschenien – blu- neue Rolle gewöhnen. sondern auf der Brücke.“ tige innerstaatliche Kriege, in denen we- Weil „politische Vorgaben fehlten“, notierte ein Luftwaffengeneral Anfang 1991, ein halbes Jahr nach der deut- schen Vereinigung, „nahmen wir die militärpolitische Lagebeurteilung selbst vor und leiteten daraus einen veränder- ten Auftrag ab“: Einsätze fern der Hei- mat. Beharrlich versuchen die Militärs seit- her, die Politik auf neue Ziele festzule- gen. Als „Ausweis der Souveränität“ des neuen großen Deutschland, so forderten Obristen und Generäle bei Planspielen schon 1991 an der Hamburger Füh- rungsakademie der Bundeswehr, müsse die Bundeswehr für Einsätze wie im Golfkrieg Gewehr bei Fuß stehen. Nur so könne Deutschland Anspruch erhe- ben, als „lead nation“ (Führungsnation) bei multinationalen Interventionen an der Spitze zu marschieren. Um die Ex- peditionskorps außerhalb der vertrauten Nato-Befehlsstränge zu dirigieren, müs- se ein neues „Führungskommando Bun- deswehr“ her – mit mehr Macht für die Militärs. Von Rühe („Mit mir nicht“) barsch zur Rede gestellt, bestritt Naumann im E. LAUE / ASPECT Überführung des getöteten Soldaten Arndt*: Auch mal nein sagen? * Im Oktober 1993 in Pnom Penh.

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April 1992, damit einen neuen General- Bundeswehroffiziere rückten zu Blauhelm-Einsätze sind „kein Spa- stab zu planen. Mit den Hamburger Stu- Schnellkursen in klassische Blauhelm- ziergang“, weiß Außenminister Kinkel. dien seien „konkrete Realisierungsab- Länder wie Schweden, Finnland und Eine „Gefechtsimpfung“ (battle in- sichten nicht verbunden“. Österreich aus. Feldjäger werden in Dä- oculation) mit scharfen Schüssen über Merkwürdig nur: Die alten Formulie- nemark auf neuen Kurs gebracht, Logi- die Köpfe der Soldaten, so die Uno- rungen finden sich fast wortgetreu in stiker lernen in Norwegen. Die Füh- Richtlinie für Blauhelm-Ausbildung, Naumanns jüngster „Planungsweisung rungsakademie in Hamburg holt sich soll die „Truppen daran gewöhnen, un- zur Weiterentwicklung der Bundes- Ausbilder aus Kanada und Österreich ter Feuer zu funktionieren“. wehr“. Eine der Vorgaben des zur zu Sonderlehrgängen für deutsche Vor dem Abmarsch sollten „Rambos, „Verschluß-Sache“ erklärten Papiers: Stabsoffiziere, die in Uno-Stäben Dienst Choleriker, Heulsusen, Problemflüchter „Für die Führung von Einsätzen außer- tun sollen. und Kriegsgewinnler“ „aussortiert“ wer- halb der Bündnisstrukturen ist ein zen- Ein „Uno-Zentrum“ an der Infante- den, empfiehlt der Blauhelm-Experte trales, teilstreitkraftübergreifendes Füh- rieschule in Hammelburg trainiert Offi- Oskar Hoffmann vom Koblenzer Zen- rungselement einzurichten.“ trum für Innere Führung. Diese Kommandozentrale „Wer nur das Abenteuer solle es Deutschland ermög- oder das große Geld sucht lichen, „im Rahmen von oder auf der Flucht vor sei- multi-nationalen Einsätzen ner Freundin oder seinen die Aufgaben der ,lead na- Gläubigern ist“, tauge nicht tion‘ übernehmen zu kön- als Friedensmissionar. nen“. Solche Motive hatten al- Seit dem 1. Januar 1995 lerdings manch einen in der gibt es – probehalber – im deutschen Somalia-Expediti- „Haus 16“ auf der Bonner on beflügelt. 54 Prozent der Hardthöhe ein „Führungs- jüngeren Zeitsoldaten hat- zentrum der Bundeswehr“ ten als Beweggrund für das mit zunächst 65 Soldaten. Engagement am Horn von Das sei „Bestandteil mei- Afrika „finanzielle Vorteile“ nes Stabes“, erklärte Nau- genannt, gefolgt von „Aben- mann voller Stolz. Immer- teuerlust“ (45 Prozent). Pro hin ein „Mini-Generalstab“, Tag gab es 100 Mark freute sich mit ihm die „Buschgeld“. rechtslastige Welt am Sonn- Welch glückliche Fügung tag. es war, daß die Soldaten in Der oberste deutsche Sol- Belet Hue¨n ihren eigentli- dat macht mehr als jeder sei- chen Auftrag – die Versor- ner Vorgänger Politik. Vori- gung von 4700 indischen gen September sorgte Nau- Blauhelmen – nicht erfüllen mann dafür, daß die Nato mußten, erhellen die inter- eine Anforderung deutscher nen Erfahrungsberichte im Kampfflugzeuge zur Unter- Verteidigungsministerium. stützung des Uno-Einsatzes Dem aus 250 Einheiten zwi- in Bosnien stoppte. Eine schen Rostock und Rosen- Anfrage so kurz vor der heim zusammengewürfelten Bundestagswahl, so die Be- Nachschubbataillon fehlte, gründung, könne die Kohl/ so das Fazit, „ausreichende Kinkel-Koalition in die Bre- logistische Kompetenz“. douille bringen. So hatte der Verband lan-

Sechs Wochen nach der J. NICOLAS / SIPA ge Zeit keine Übersicht, wo Wahl forderte Nato-Oberbe- Soldaten im Manöver: „Unter Feuer funktionieren“ und wann sich welcher Con- fehlshaber Joulwan deutsche tainer mit welchem Inhalt Tornados an – auf einen Wink von Nau- ziere als Militärbeobachter und trimmt befand. Logistiker des Heeres hatten mann, wie der Vorsitzende des Nato- Truppenkontingente auf den Umgang nicht bedacht, daß ihre Paletten nicht in Militärausschusses, Feldmarschall Sir mit hungernden Demonstranten. Dort die Transportflugzeuge der Luftwaffe Richard Vincent, dem Nato-Generalse- lernen die Bundeswehrsoldaten, wie- passen. Immerzu mußte die Ladung um- kretär Willy Claes beichtete. viel Wasser der Körper in heißen Län- gepackt werden. Die Folge: Chaos im Generäle wie Naumann wollen nicht dern braucht („So lange trinken, bis Wüstencamp. nur Milchpulver in afrikanische Hunger- der Urin hell ist“) und wie man sich im Beim nächsten Mal soll alles besser zonen transportieren oder Uno-Inspek- Extremklima fit hält („Leichtes Trai- werden. Anstelle eines bunten Haufens toren im Hubschrauber durch den Irak ning und Ruhepausen unbedingt ein- wurden „Leitverbände“ in den Krisen- fliegen. Sie wollen nicht mehr abseits halten“). reaktionskräften benannt, die Blau- stehen wie im Golfkrieg, sondern mitmi- „Soldatische Professionalität muß helm-Einsätze anführen sollen. Neues schen in der „entfesselten Welt“ (Nau- sich an den Bedingungen von Krieg, Kriegsmaterial soll leicht und zerlegbar mann). Gefahr, Katastrophen und menschli- sein, in Standardcontainer und Flugzeu- „Ich fordere Sie auf, aktiv den Prozeß chem Elend orientieren“, befahl Hee- ge passen – „luftverlastbar“ heißt das der geistigen Umorientierung zu för- reschef Bagger in einer Liste mit neu- neue Zauberwort der Hardthöhenpla- dern“, befahl der amtierende Heeresin- en „Anforderungen an den Offizier“. ner. spekteur Hartmut Bagger seinen Kom- Die Soldaten sollen sich ernsthaft mit Für die „oberste Bundeswehrfüh- mandeuren. Noch sehe er „Defizite in Tod und Tapferkeit auseinanderset- rung“ will Naumann „strategische Auf- der geistigen Grundhaltung“. zen. klärungs- und Führungsfähigkeit“ schaf-

78 DER SPIEGEL 5/1995 . GMBH BLOHM + VOSS AG DEUTSCHE AEROSPACE AIRBUS Neue Marine-Fregatte „Brandenburg“, geplanter Militärtransporter FLA: Mitmischen in der Welt L. CHAPERON / LASA HDW Kampf-Hubschrauber „Uhu“, neues U-Boot S 212: „Weiche und halbharte Bodenziele“

fen. Dazu gehören etwa milliardenteu- und halbharte Bodenziele“ schießen – Die 33 000 neuen Gewehre sind für die re Spionage- und Fernmeldesatelliten. gemeint sind Menschen und ihre Un- Krisenreaktionskräfte reserviert. Auch Für den „strategischen Lufttrans- terstände. Der geschätzte Stückpreis: den neuen leichten „Stahlhelm“ – aus port“ läßt das Wehrressort europäische knapp 50 Millionen Mark. Aramid-Kunststoff – bekommen nur die Konzerne einen neuen Transporter Die Kraftfahrer der Bundeswehr er- KRK-Soldaten. entwickeln. Das Future Large Aircraft halten taschenbuchgroße Satelliten-Na- Das erst kürzlich aufgestellte Luftwaf- (FLA) – Schätzpreis pro Stück: gut 100 vigationssysteme. Sie sollen, so die Be- fen-Aufklärungsgeschwader „Immel- Millionen Mark – wird die 85 betagten gründung, „eine weltweite, sichere mann“ in Jagel bei Schleswig soll zwar Transall ersetzen. Orientierung in unbekanntem Gelände laut Beschluß der Bundesregierung mit Auch die Marine, kleinste Teilstreit- gewährleisten“. Für ihre Lastwagen Tornados Flugabwehrstellungen in Bos- kraft der Bundeswehr, kommt nicht zu werden beschuß- und splittersichere nien ausspähen und fotografieren. Doch kurz. Ihr hat Naumann zusätzlich zu Fahrerhäuser nachgerüstet – eine Leh- die Piloten – bunt zusammengewürfelt neuen Fregatten, U-Booten und 15 re aus den Risiken beim Somalia-Ein- aus verschiedenen anderen Geschwa- Korvetten noch ein Monstrum mit dem satz. dern – hatten noch gar keine Zeit und verharmlosenden Titel „Mehrzweck- Die Soldaten haben laut Heeresin- Gelegenheit für umfassendes Training: schiff“ für den Einsatz auf den sieben spekteur Bagger „Anspruch auf eine Die Aufklärungsbehälter mit Spezialka- Weltmeeren verordnet – fast 200 Me- Ausrüstung, mit der sie im Einsatz be- meras, die unter den Rumpf der Flug- ter lang und 20 Meter breit. Kampf- stehen können“. Trotz Sparzwangs zeuge geklinkt werden müssen, hat die und Transport-Hubschrauber werden könne die Armee „auf Spitzentechno- Luftwaffe noch nicht beschafft. Zum an Bord sein, ein verstärktes Bataillon logie nicht verzichten“. Üben borgte sie sich drei Stück bei der mitsamt Panzern und allem sonstigen Wie sich Flugzeuge und Panzer mit Marine und sechs reparaturanfällige Ex- Wehrmaterial. Es dient zugleich als Laserstrahlen bekämpfen lassen, wird emplare aus Italien. schwimmende Kommandozentrale, als bereits untersucht, berichtet der Präsi- „Die Jungs unter diesen Bedingungen Lazarettschiff und Nachschubdepot. dent des Koblenzer Bundeswehr-Be- auf den Balkan zu schicken“, schimpft Kostenpunkt: eine halbe Milliarde schaffungsamts, Peter Koerner. Ge- ein mitfühlender Offizier eines Nach- Mark, mindestens. meinsam mit den Franzosen entwickeln bar-Geschwaders, sei schlicht „unver- Die Krisenreaktionskräfte sollen vor- die Deutschen außerdem „elektrother- antwortlich“. rangig neues Schießzeug und Fluggerät mische und elektromagnetische Ka- Denn in Kroatien und Bosnien geht es erhalten. Viele alte Rüstungsprogram- nonen“. Der Herr der Rüstung dann, erstmals, für „die Jungs“ um Le- me erhielten schlicht ein neues Eti- schwärmt: „Das könnten die Waffen ben und Tod. kett. So wurde aus dem deutsch-fran- der Zukunft sein.“ „Nun siegt mal schön“, hatte vor zösischen Kampf-Hubschrauber „Ti- Während Spitzenmilitärs und -beam- knapp 40 Jahren Bundespräsident Theo- ger“ ein Unterstützungshubschrauber te vom Waffenstolz der High-Tech-Ar- dor Heuss den ersten Rekruten der („Uhu“). Anstatt mit Lenkraketen ge- mee träumen, lebt die Resttruppe mit frischgegründeten Bundeswehr ironisch zielt Panzer zu knacken, soll er nun, so dem Mangel. Das Geld reicht nicht, mit auf den Weg ins Manöver gegeben. das jüngste Konzept, auch ungelenkte um alle Soldaten mit dem neuen leich- Siegen zu müssen wird auf einmal bit- Raketen im Streufeuer auf „weiche ten Sturmgewehr G 36 auszurüsten. terer Ernst. Y

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WIRTSCHAFT

Banken KONZERN DEUTSCHLAND Skandale und Pannen haben den Ruf des Kreditgewerbes so nachhaltig ramponiert, daß alle Parteien über eine Be- grenzung der Bankenmacht nachdenken. Linke Kritiker wie stramme Marktwirtschaftler sind sich einig: Der Einfluß der Geldhäuser schadet den Aktionären, den Unternehmen und der deutschen Wirtschaft.

egen „die Macht der Banken“ wet- tert , als Prä- Gsident der Deutschen Schutzverei- nigung für Wertpapierbesitz führender Aktionärs-Lobbyist, „seit 20 Jahren“. Konsequenzen hatte das nicht einmal, als der Alt-Liberale noch als Wirtschaftsmi- nister in Bonn amtierte. Ungestört wucherte in Deutschland ein Geflecht aus Interessen und Abhän- gigkeiten, in dem es sich die Vorstände großer Industriekonzerne, mächtiger Versicherungen und nobler Geldhäuser bequem gemacht haben. Vor allem die Banken haben sich so tief in die Fundamente der deutschen Volkswirtschaft gegraben, daß ohne sie oder gar gegen sie nicht mehr viel läuft. Sie besitzen zahlreiche Unternehmen, und sie dominieren, mit Hilfe des Depot- Stimmrechts Hunderttausender von Kleinaktionären, die Hauptversammlun- gen der Industriekonzerne (siehe Gra- fik).

73 Aufsichtsräte, darunter 13 Vorsit- DPA zende, kontrollieren für die Geldbranche Banker Kohlhaussen, Sarrazin, Kopper: „Wie das Politbüro“ die 30 führenden deutschen Aktienge- sellschaften, und ohne ihre Kredite kann i verbietet Banken und Versicherun- nehmensbereich“ sollen verbessert, kein Betrieb investieren oder produzie- gen, dauerhaft mehr als fünf Prozent Aufsichtsräte und Wirtschaftsprüfer ren. branchenfremder Unternehmen zu stärker in die Pflicht genommen wer- Doch erst das Zusammenspiel all die- besitzen und sich an Investmentge- den. ser Faktoren ergibt jene „Machtzusam- sellschaften zu beteiligen; Noch vor der Sommerpause will das menballung“ (Lambsdorff), die dem i überträgt das pauschale Stellvertre- Justizministerium dazu einen Gesetzes- Geld- und Kreditgewerbe in Deutsch- ter-Stimmrecht für die Kleinaktionäre text vorlegen. „Besonders tüchtige Be- land eine weltweit einzigartige Domi- von den Banken auf professionelle, amte“ arbeiteten daran, verheißt Justiz- nanz verschafft. Die werde, so der auf die von den Aktionären gewählte Vertre- staatssekretär . In dieser Kreditbranche spezialisierte Ökonomie- ter; Woche werden Ministerin Sabine Leut- professor Michael Adams, etwa „in den i halbiert die Zahl der gesetzlich zuläs- heusser-Schnarrenberger die ersten Er- USA durchaus als Skandal gesehen“. sigen Aufsichtsratsmandate auf fünf, gebnisse präsentiert. Die Meßlatte dafür Solch kritische – und durchaus markt- wobei das Amt des Vorsitzenden dop- hat die SPD gelegt – hoch. wirtschaftliche – Sicht setzt sich nun auch pelt zählt. Die Geldbranche ist in Aufruhr. Zum diesseits des Atlantiks zunehmend Frühere Versuche, den Bankenein- ersten Mal scheint das System, mit dem durch. „Sehr bald“, schöpft Lambsdorff fluß zu begrenzen, schon 1976 im ersten die Banker und Konzernlenker in ver- Hoffnung, werde sich „hier eine Menge Gutachten der Monopolkommission schwiegener Eintracht den tausendfach ändern“. Die oppositionellen Sozialde- dringend angeraten, scheiterten alle. verschachtelten, undurchschaubaren mokraten bahnen den Weg. Auch ein SPD-Anlauf aus dem vorigen und somit von Outsidern nicht kontrol- Am Freitag vergangener Woche prä- Jahr führte nicht zum Ziel. lierbaren „Konzern Deutschland“ – wie sentierte der SPD-Bankenfachmann Inzwischen aber hat sich auch die ausländische Kapitalanleger spotten – Hans Martin Bury ein Gesetz „zur Ver- CDU/CSU-FDP-Regierung auf die regieren, ernsthaft in Gefahr. besserung von Transparenz und Be- „Begrenzung des dauerhaften Industrie- Skandalöse Patzer und Mißgriffe des schränkung von Machtkonzentration in besitzes der Banken“, so die Koalitions- Geldadels haben die Kritiker des deut- der deutschen Wirtschaft“. Der Vor- vereinbarung vom Herbst, verpflichtet. schen Systems in den vergangenen Mo- schlag „Kontrolle und Transparenz im Unter- naten immer wieder bestätigt. Die Krise

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bler das wirtschaftliche Ergebnis. Die Kreditinstitute, auf Sicherung ihrer aus- geliehenen Gelder bedacht, bremsen und blockieren alles, was riskant ist – mithin vor allem den unternehmeri- schen Ansatz. Als bestgeführte deutsche Aktienge- sellschaft gilt Kritikern wie dem Würz- burger Professor Ekkehard Wenger die BMW AG. Von der Stuttgarter Kon- kurrenz unterscheidet die Automobilfir- ma, die seit über 30 Jahren niemals Ver- luste machte, vor allem eines: Das Un- ternehmen ist mehrheitlich in Familien-

P. LANGROCK / ZENIT besitz, die Banken haben wenig zu mel- Großbanken in Frankfurt: Einzigartige Zusammenballung von Macht den. Nicht selten wird auf den Hauptver- sammlungen deutscher Aktiengesell- Starkes Geld schaften, die von Bankmanagern kon- Beteiligungen deutscher trolliert werden, gegen die Interessen der Eigentümer abgestimmt. Bei Daim- Deutsche Bank Großbanken ler-Benz sorgte Ende 1993 der Banken- block mit Hilfe der eigenen Stimmen Klöckner-Humboldt-Deutz 32% und denen der Depotkunden dafür, daß Philipp Holzmann 26% Dresdner Bank den Aktionären Steuergutschriften in Hutschenreuther 25% Milliardenhöhe vorenthalten wurden. Daimler-Benz 24 % Brau und Brunnen 26% Eine Gesetzesänderung bei der Kör- Südzucker 13% Bilfinger+Berger 25% perschaftsteuer hätte es damals dem Metallgesellschaft 11 % Heidelberger Zement 24 % Unternehmen erlaubt, einen Großteil Karstadt 10 % Oppermann 17 % seiner Rücklagen zunächst steuergünstig Metallgesellschaft 13% an die Aktionäre auszuschütten und an- Continental 10 % schließend durch eine Kapitalerhöhung Fuchs Petrolub 10 % Buderus 10 % wieder aufzufüllen. Mehr als zwei Milli- Hapag-Lloyd 10 % Dyckerhoff 10 % arden Mark hätte die gigantische Steu- Heidelberger Zement 10 % Hapag-Lloyd 10 % ersparaktion den Aktionären gebracht. Leifheit 10 % Doch Daimler-Benz-Chef Edzard Linde 10 % Reuter und sein Oberaufseher, der Westdeutsche Deutsche-Bank-Chef Hilmar Kopper, Phoenix 10 % Landesbank fürchteten, daß die Aktionäre Gewinne Salamander 10 % Thomas Cook 90% und Steuergutschriften vereinnahmen Schmalbach-Lubeca 10 % LTU-Gruppe 34% würden, nicht aber bereit wären, an- Preussag 30% schließend wieder Geld bei Daimler zu investieren. Die Entscheidung, wo sie TUI 30% Commerzbank ihr Geld anlegen, mochten die Konzern- Harpener 20% lenker den Eigentümern lieber nicht Kühnle, Kopp & Kausch 20% Fuchs Petrolub 11 % überlassen – hätten sie doch möglicher- Heidelberger Druckmaschinen 14 % Asko 10 % weise die Quittung für die umstrittene Salamander 11 % Deutsche Babcock 10 % Strategie bekommen, aus einem prospe- Buderus 10 % Gerresheimer Glas 10 % rierenden Autounternehmen einen mit zahlreichen Problemen kämpfenden Karstadt 10 % Hoesch-Krupp 7% Technologiekonzern zu machen. Linde 10 % VEW 6% Gegen die Interessen der Kleinaktio- näre verstießen die Banken auch bei Siemens. Dort genießt die Gründerfa- milie das schwerlich zu rechtfertigende der Metallgesellschaft hat der Deutsche- üppigere Gebühren kassiert. Selbst die Privileg, daß ihre Vorzugsaktien ein Bank-Vorstand Ronaldo Schmitz, Auf- Mehrheit der Wirtschaftsmanager for- sechsfaches Stimmrecht in der Haupt- sichtsratschef des Konzerns, nicht kom- dert inzwischen, so das Fazit einer Capi- versammlung garantieren. Bei Kapital- men sehen; als er schließlich eingriff, tal-Umfrage, was die SPD vorschlägt: erhöhungen müssen die Siemens-Erben verursachte er den eigentlichen Milliar- den Beteiligungsbesitz, die Zahl der für die wertvollen Papiere nicht mehr als denschaden nach Ansicht namhafter Aufsichtsratsmandate und das Depot- die anderen Aktionäre zahlen – ein Ver- Ökonomen erst. Die Milliardenpleiten Stimmrecht gesetzlich zu beschränken. mögensvorteil zu Lasten der vielen klei- des Baulöwen Jürgen Schneider und des Nicht einmal ihren so oft beschwore- nen Anteilsinhaber. Obwohl die Ab- Sportplatzbauers Balsam lädierten das nen ökonomischen Sachverstand kön- schaffung der Mehrfachstimmrechte im Ansehen der Kreditwirtschaft nachhal- nen die Geldhändler noch ins Feld füh- Interesse ihrer Depotkunden liegt, tig. ren: Wissenschaftliche Untersuchungen, schlugen sich die Banken auch mit Hilfe Bei ihren kleinen Kunden genießen etwa an der Universität Mannheim, be- der geliehenen Stimmen stets auf die die Geldhäuser längst keinen guten Ruf legen, was viele Unternehmer schon im- Seite der Siemens-Erben. mehr. Zu offensichtlich werden für im- mer ahnten: je größer der Einfluß von Im Zentrum der Deutschland AG ste- mer schlechtere Dienstleistungen immer Banken auf einen Betrieb, desto misera- hen die Deutsche Bank und die Allianz

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WIRTSCHAFT

mit ihren milliardenschweren Beteili- deutsche Wirtschaft“. Von der Kontrol- gungen. le durch den Kapitalmarkt hätten sich Dem Geldhaus gehört ein Viertel von die Herren vollkommen abgeschirmt. Deutschlands größtem Industrieunter- „Wer fremde Stimmrechte ausübt nehmen, der Daimler-Benz AG. Der und Kreditgeber ist, sollte nicht auch Versicherungsriese hat sich unter ande- noch relevant beteiligt sein“, meint rem bei BASF, Bayer, Schering, Conti- auch der Bonner Handelsrechtler Mar- nental, Veba und RWE eingekauft. Zu- cus Lutter. dem halten Europas größte Versiche- Mit einer zehn Millionen Mark teu- rung und Deutschlands größte Bank er- ren Kampagne wollen sich die Banken hebliche Aktienpakete des jeweils ande- jetzt gegen solche geschäftsschädigen- ren. Verflochten ist die Allianz auch mit den Ansichten wehren. Banker säßen der Dresdner Bank und der Bayerischen nur deshalb in so großer Zahl in den Hypo. Aufsichtsräten, erfahren die Bürger Folge der Überkreuz- und Ringbetei- jetzt aus großen Anzeigen, weil die Un- ligungen ist eine anrüchige personelle ternehmen sie so innig darum bäten. Verfilzung bei den Vorstands- und Auf- Und daß sie das Stimmrecht für ihre Depot-Kunden in den Firmen wahrnäh- men, so Bankenverbands-Präsident „Zwei Dutzend Leute Karl-Heinz Wessel, sei nichts als eine beherrschen die „für die Banken recht kostenintensive Dienstleistung“. deutsche Wirtschaft“ Kopper reagiert, seinem Naturell ent- sprechend, etwas derber auf den neuen

sichtsratsposten. Da kontrolliert Kop- bankkritischen Zeitgeist. Er droht mit L. KUCHARZ per zusammen mit dem Dresdner-Bank- dem Verfassungsgericht. DGB-Chef Schulte Chef Jürgen Sarrazin und Commerz- Wenn der Gesetzgeber die Banken Suche nach dem richtigen Profil bank-Lenker Martin Kohlhaussen die zwänge, Teile ihres Firmenbesitzes zu Arbeit von Daimler-Boß Edzard Reu- verkaufen, argumentiert der Herr über ter. Der sitzt im Aufsichtsrat der Allianz 582 Milliarden Mark Bilanzsumme, Arbeitszeit und überwacht dort die Geschäfte von „würde das bedeuten, Steuern auf nicht Vorstandschef Henning Schulte-Noelle. realisierte Gewinne zu zahlen. Das wür- Der Allianz-Mann wiederum beaufsich- den wir definitiv für verfassungswidrig tigt im Nebenberuf die Deutsche-Bank- halten“. Empörte Faxe Spitze, zusammen etwa mit Siemens- Doch Koppers Drohung geht ins Lee- Oberkontrolleur Hermann Oskar re: Die Möglichkeit einer steuerneutra- Die Gewerkschaften bewegen sich Franz. Der sitzt auch im Allianz-Auf- len Übertragung der quasi erzwungenen im Streit um die Arbeitszeit, doch sichtsrat. Gewinne aus den Firmenverkäufen auf „Wie das Politbüro die DDR“, sagt andere Anlageformen will FDP-Lambs- die Basis murrt. der Aktionärsvertreter und ordoliberale dorff sowieso in das Regierungskonzept Ökonom Wenger, beherrschten „zwei einbauen. Und auch die SPD, so Bury, in paar Rheinland-Pfälzer machten bis drei Dutzend Leute an der Spitze der wolle nicht „Steuern kassieren, sondern ihrem Ärger Luft, und fast das ge- Großbanken und einiger Konzerne die unkontrollierte Macht eindämmen“. Y Esamte Delegiertenvolk auf dem Kongreß der Gewerkschaft Handel, * Banken und Versicherungen (HBV) Mächtiger Einfluß Stimmrechtsanteile der Banken in den Hauptversammlungen stimmte ihrer Resolution zur Kanzler- runde zu. Adressat des Unmuts war der Mann aus den eigenen Reihen, DGB- alle Banken Deutsche Bank Dresdner Bank Commerzbank Chef . Mit seinem Vorschlag, in die Diskus- Siemens 95,5 17,6 12,4 4,5 sion über die Lösung der Beschäfti- Volkswagen 44,1 5,9 6,7 2,4 gungskrise auch über die Vier-Tage- Woche ohne vollen Lohnausgleich und Hoechst 98,5 9,0 32,8 27,7 den Verzicht auf den freien Samstag zu diskutieren, hatte Schulte in der vergan- BASF 94,7 18,6 17,6 4,2 genen Woche die Basis aufgebracht. „Ich spreche dem DGB-Chef die Be- Bayer 91,3 19,0 17,9 4,8 rechtigung ab, solche Vorschläge auf den Tisch zu legen“, zürnte der Mainzer Thyssen 45,4 7,2 9,9 2,0 HBV-Landesvorsitzende Uwe Klemens, VEBA 90,9 13,0 25,3 3,7 höchst ärgerlich sei es für ihn und seine Leute, mitzubekommen, „was da wie- Mannesmann 98,1 15,9 18,8 4,1 der beim Kanzler läuft“. Die Aufregung war unbegründet. Deutsche Bank 94,7 32,1 14,1 3,0 Ganz harmonisch trafen sich Gewerk- schafter und Arbeitgeber am Mittwoch MAN 48,2 7,1 9,5 2,3 vergangener Woche mit Bundeskanzler * in Prozent der vertretenen Stimmen bei den zehn größten deutschen Unternehmen in mehrheitlichem Helmut Kohl. Und am Ende konnten Streubesitz; Stand 1993; Quelle: Inst. für Handels- und Wirtschaftsrecht der Universität Osnabrück (1994) sich die Arbeitnehmervertreter sogar als Sieger fühlen. Drei Milliarden Mark will

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„Das ist in Ordnung so“ Im Regensburger BMW-Werk ist Samstagsarbeit längst die Regel

s ist kurz vor Mitternacht und teil: Zwischendurch hat er auch mal „95 Prozent der Beschäftigten stockfinster. Doch hier drin- fünf Tage frei. sind hoch zufrieden“, schätzt Be- Enen, in der Montagehalle des Der Anstoß zur Vier-Tage-Woche triebsrat Niklas. Geklagt wird nur BMW-Werkes Regensburg, bewe- bei BMW kam nicht von den Gewerk- über die Belastung in der neunten gen sich Roboterarme und Men- schaften, sondern vom Vorstand. Ein Stunde, wenn die Arme schwer schen im gleichen Takt wie tags- raffinierter Schichtplan sorgt dafür, werden. über. Langsam senkt sich die Ka- daß die Beschäftigten zwar nur an vier Drei, vier Arbeiter müssen je- rosserie auf Achsen, Getriebe und Tagen arbeiten. Aber die Maschinen weils unter eine Karosserie gehen, Motor, ein Automat zieht die laufen länger als in anderen Fabriken die an einem Gehänge über ihnen Schrauben an, und Siegfried Schu- (99 statt 80 Stunden in der Woche), schwebt, und über ihrem Kopf bert kontrolliert den Vorgang auf weil regelmäßig auch samstags Autos Schrauben festziehen. „Irgendwann einem Monitor. montiert werden. merkst du deine Schultern nicht Von Schubert ist höchste Kon- Betriebsrat Hans Günther Niklas mehr“, sagt ein junger Arbeiter, der zentration gefordert. Denn manch- kann sich noch gut an die „knüppel- erst seit zwei Monaten dabei ist. mal verrichten die Er will jetzt, wie Maschinen ihre Ar- viele Kollegen, auch beit stundenlang rei- andere Montagear- bungslos, doch dann beiten lernen. Die steht plötzlich alles Beschäftigten kön- still. In wenigen Mi- nen sich dann, so oft nuten muß Anlagen- sie wollen, abwech- bauer Schubert den seln, um einseitige Fehler finden, damit Belastungen zu ver- die Produktion wei- meiden. terlaufen kann. Am Widerstand Kein leichter Job, der Belegschaft liegt besonders wenn es es nicht, daß BMW auf Mitternacht zu- dieses Modell nicht geht. Doch Schubert längst in allen Wer- klagt nicht darüber, ken eingeführt hat – daß er neun Stunden eher schon an einem täglich arbeitet und Problem des Regens- nicht sechs oder sie- burger Systems. ben Stunden wie vie- In der Fabrik muß le Kollegen in ande- an sechs Tagen der

ren Fabriken. Und er W. M. WEBER Woche der 3er BMW beschwert sich auch Betriebsrat Niklas: „Knüppelharte Auseinandersetzungen“ montiert werden. nicht darüber, daß er Sinkt die Nachfrage, alle drei Wochen samstags um 4 Uhr harten Auseinandersetzungen“ vor kann die Werksleitung nicht einfach morgens mit dem Bus ins Werk fah- der Einführung dieser Regel erin- die Samstagsschicht ausfallen lassen, ren muß, um in der Schicht von 5 nern. Vom Management wurde der sonst gerät das gesamte Arbeitszeit- Uhr früh bis 14.30 Uhr zu arbeiten. Betriebsrat massiv unter Druck ge- modell hoffnungslos durcheinander. „Das ist schon in Ordnung so“, setzt. Wenn er dem Arbeitszeitmo- Für den Ausgleich sorgen dann sagt Schubert. Er hat sich, wie das dell nicht zustimme, seien über tau- die Kollegen im BMW-Werk Mün- Gros der 6500 Beschäftigten von send Arbeitsplätze gefährdet. Auf chen, in dem ebenfalls der 3er ge- BMW in Regensburg, längst an ein der anderen Seite mußte er sich von baut wird. Sie arbeiten regelmä- besonderes Arbeitszeitmodell ge- linientreuen Gewerkschaftern ver- ßig fünf Tage in der Woche, nur wöhnt: Seit sechs Jahren gilt für sie spotten lassen. Wenn Niklas die bei Hochkonjunktur ausnahmsweise eine Vier-Tage-Woche. Mal müssen Samstagsarbeit akzeptiere, sei er auch samstags. Auf diese Schicht sie von Montag bis Donnerstag, wohl das letzte Weichei. kann leicht verzichtet werden, wenn dann wieder von Freitag bis Sams- Inzwischen hat sich gezeigt, daß der Absatz stockt. tag, mal in der Früh-, mal in der sich das Modell lohnt. Nicht nur für Betriebsrat Niklas, der in diesen Spätschicht arbeiten. die Firma, die ihre 1,5 Milliarden Tagen mal wieder zahllosen Be- Kommt er am Samstagnachmittag Mark teure Fabrik besser auslasten triebsräten und Gewerkschaftern nach Hause, ist BMW-Arbeiter kann. Sondern auch für die Beleg- Auskunft über das Regensburger Schubert „ziemlich geschlaucht“. Ki- schaft, die mit solchen Arbeitszeiten Modell geben soll, weist deshalb no oder Kegeln am Abend fällt dann wesentlich besser zurechtkommt, als stets darauf hin, daß es nur begrenzt meistens aus. Das ist ein Nachteil Gewerkschaftsfunktionäre sich das übertragbar ist: „Da muß jeder Be- dieser Vier-Tage-Woche. Der Vor- je vorstellen konnten. trieb sein eigenes Rezept suchen.“

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in den Gewerkschaften, die bereit Offen für neue Regelungen sind, alle Tabus wegzuschieben und über alles zu reden“, sagt ein IG-Me- Sind Sie für flexible Arbeitszeitrege- Würden Sie es begrüßen, wenn künftig taller aus der Frankfurter Zentrale. lungen, die individuell ausgehandelt nur noch an vier Wochentagen gear- Aber kaum einer tut es laut. werden? beitet würde und Sie dafür entspre- In den Unternehmen sind viele der chend weniger Lohn erhielten? umstrittenen Tabus längst gefallen. In den meisten Metallbetrieben wird am ja 66 ja 35 Samstag gewartet und repariert, seit nein 31 nein 60 wieder neue Aufträge kommen, wer- den samstags zunehmend Sonder- schichten gefahren. Bei BMW in Re- gensburg sind Vier-Tage-Woche und Wären Sie bereit, auch am Samstag zu Erfüllen die Gewerkschaften noch Samstagsarbeit längst Routine (siehe arbeiten, wenn Sie dafür an einem an- ihren Zweck, oder müßten sie sich ent- deren Tag der Woche frei hätten? sprechend der wirtschaftlichen Ent- Seite 83), Mercedes-Arbeiter in Ra- wicklung grundlegend reformieren? statt treten am sechsten Tag sogar oh- ne Zuschläge an. ja 65 21 erfüllen noch ihren Zweck Auch die von Schulte avisierte Ar- beitszeitverkürzung ohne Lohnaus- nein 33 müßten sich reformieren 74 gleich ist schon Praxis. VW ist der pro- minenteste, aber nicht der einzige Be- Angaben in Prozent; Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; 1400 Befragte; 23. bis 25. Januar 1995; trieb, in dem die Beschäftigten mit an 100 fehlende Prozent: keine Angabe; drastischer Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich ihre Jobs sicher- die Bundesregierung für Langzeitar- es noch keine umfassende Diskussion ten. beitslose ausgeben, mit dem Geld sollen darüber gegeben“, meint HBV-Mann Der Metalltarifvertrag gibt den Un- Lohnkostenzuschüsse von bis zu 80 Pro- Klemens. Ohne Not, klagt Opel-Be- ternehmen die Möglichkeit, die Ar- zent finanziert werden. Ausgerechnet triebsrat Klaus Franz, würden Positio- beitszeiten bis auf 32 Stunden pro Wo- der liberale Wirtschaftsminister Günter nen geräumt – „und das mitten in der che zu senken, ohne Lohnausgleich; in Rexrodt soll Branchendialoge mit Ge- Lohnrunde“. der Chemieindustrie können die Un- werkschaften und Unternehmern mode- In vielen Branchen stehen schwierige ternehmen auf 35 Stunden herunterge- rieren – eine Uralt-Forderung der Ar- Tarifverhandlungen an. Die Metaller hen, ebenfalls ohne Lohnausgleich. beitnehmervertreter. haben bereits die ersten Warnstreiks Der sieche Bergbau erhielt mit der Die neue Harmonie überrascht. Noch angedroht. Vier-Tage-Woche – ohne Lohnaus- vor wenigen Wochen hatten die Arbeit- In der Stuttgarter Verwaltungsstelle gleich – rund 100 000 Jobs. geber mit harten Worten den Abbau so- der IG Metall gingen nach Schultes Die Realität, die die Gewerkschafter zialer Leistungen gefordert, nun kom- Ankündigung meterweise empörte Fa- in den vergangenen Jahren geschaffen men von allen Seiten versöhnliche Zei- xe aus den Betrieben ein; einen ganzen haben, ist längst vielfältiger als ihre chen. DGB-Chef Schulte dachte laut Tag lang habe er nichts anderes zu tun Rhetorik. über einen Kurswechsel nach, und gehabt, als die aufgewühlten Gemüter Eine generelle Lösung kann die erhielt prompt Lob von Arbeitgeber- von Funktionären und Mitgliedern zu Vier-Tage-Woche jedoch nicht sein. präsident Klaus Murmann. Und der besänftigen, seufzte der Hamburger Eine Verkäuferin verdient höchstens Kanzler bemühte sich auffällig um IG-Metall-Bezirksleiter Frank Teich- 3060 Mark im Monat, ein Montagear- die Zuneigung der Arbeitnehmerver- müller nach dem Schulte-Schock. beiter im Norddeutschen hat 3322 treter. Auch Walter Riester, Vize der Me- Mark brutto, 200 Mark mehr ein La- Doch schon bei der nächsten Kanzler- tallergewerkschaft, der anläßlich der gerarbeiter im Großhandel. „Was wol- runde soll Klartext geredet werden – laufenden Tarifrunde durch die Bezir- len wir unseren Leuten denn zumu- über so heikle Themen wie die Flexibili- ke tourt, mußte die um den freien ten?“ fragt eine HBV-Gewerkschafte- sierung der Arbeitszeiten und die Lohn- Samstag und Einkommen bangende rin. „Und was bekommen sie dafür?“ nebenkosten. Basis trösten. Darüber könnten nur die Wer garantiert, daß die radikale Ar- Noch suchen die Tarifpartner nach Tarifparteien und nicht die Bonner beitszeitverkürzung wirklich neue Ar- dem richtigen Profil für die Zeit nach Runde entscheiden, beschwichtigte er: beitsplätze schafft? Die Erfahrung der der Krise. Noch ist unklar, welche ihrer „Die Angst ist unbegründet.“ Beschäftigten in den Unternehmen ist Positionen und Rezepte die Rezession Aber sie ist groß. Die Wirtschafts- eine andere: Abgebaut wird weiter. überdauern werden. Kann heute, wo krise hat von den Arbeitnehmern viel „Die Vier-Tage-Woche schafft keine der Aufschwung einsetzt, den Beschäf- gefordert. Hunderttausende von Ar- neuen Arbeitsplätze“, warnt auch der tigten die Vier-Tage-Woche ohne Lohn- beitsplätzen gingen verloren; um IG-Metaller Frank Teichmüller. Sie ausgleich zugemutet werden? Die Mehr- Schlimmeres zu verhindern, haben die kann allenfalls Jobs sichern – als eine heit der Deutschen ist jedenfalls dage- Beschäftigten zum Teil schmerzhafte von vielen anderen Möglichkeiten, Ar- gen (siehe Grafik). Opfer gebracht. Die realen Einkom- beit flexibler zu gestalten. Hat das Drängen nach regulärer men sind geschrumpft, und immer Der Programmierer mit 7000 Mark Samstagsarbeit überhaupt eine Chance? neue Abgaben fressen tiefe Löcher in brutto im Monat hat andere Interessen Und wer hört noch auf die Arbeitgeber- die Budgets. als der Arbeiter am Band, der Waa- klagen über den Standort Deutschland, In den Reaktionen auf die Kanzler- genhersteller in Albstadt braucht ande- wenn ausgerechnet die Exportwirt- runde spiegelt sich die Zerrissenheit re Organisations- und Arbeitszeitfor- schaft wieder üppige Zuwachsraten der Gewerkschaften. „Wir sind bereit, men als der Autokonzern in Köln. meldet? über alles zu reden“, sagen dieselben „Wir müssen über Neues reden, Mit seinen Vorschlägen hat Schulte Funktionäre, die in der vergangenen aber differenzierter“, sagt Opel-Be- die Funktionäre und Mitglieder in den Woche gegen Schultes Vorschläge pro- triebsrat Franz. „Wir brauchen keine Gewerkschaften verwirrt. „Bei uns hat testierten. „Es gibt immer mehr Leute kollektiven Lösungen mehr.“ Y

84 DER SPIEGEL 5/1995 verhinderten im letzten Moment den Becker, die Krise aus eigener Kraft mei- Konzerne endgültigen Verkauf. stern zu können. Beckers Hausbank, die Der gebürtige Pole, der mit dem Bayerische Hypotheken- und Wechsel- West-Vertrieb der DDR-Kamera Prak- Bank, hat aber längst das Vertrauen in tica zum vielfachen Millionär wurde, den Sohn des Firmengründers verloren Sehr hatte Rollei 1987 zum symbolischen und drängt auf einen Verkauf an Sam- Preis von einer Mark samt 30 Millionen sung. „Wir haben Herrn Becker den Mark Schulden übernommen. Von der Deal sehr schmackhaft gemacht“, bestä- schmackhaft einstigen Vorzeigemarke, die mit der tigt Hypobanker Harald Hofer. Spiegelreflexkamera Rolleiflex Welt- Daß die Samsung-Manager große Plä- Der Mischkonzern Samsung will in ruhm erlangte, war da nicht mehr viel ne in Deutschland haben, zeichnet sich Deutschland zahlreiche Firmen kau- übrig. seit längerem ab. Im Herbst 1992 über- Manderman, der zuvor schon nahezu nahm der Konzern von der Treuhand fen – und mit deren Hilfe an die die gesamten Reste der ehemals stolzen das Werk für Fernsehelektronik in Ber- Weltspitze vorstoßen. deutschen Fotoindustrie aufgekauft hat- lin. Ergänzt wurde das Engagement, das te, gelang es, den Absturz zu stoppen. sich Samsung insgesamt eine halbe Mil- Der bis auf 35 Millionen Mark ge- liarde Mark kosten lassen will, durch ein eutschland ist für die Koreaner aus schrumpfte Umsatz ist wieder auf gut 50 Werk in Tschernitz, das die Glaskolben dem Hause Samsung mehr als Millionen angewachsen, und in der Bi- für die Berliner Fabrik fertigt. Dnur ein verheißungsvoller Markt. lanz stehen schwarze Zahlen. Im vergangenen Jahr liefen schon Nicht im Hauptquartier in Seoul, son- Doch ohne starken Partner, das war rund zwei Millionen Bildröhren in Ber- dern ausgerechnet in der deutschen Nie- auch Manderman klar, hat Rollei keine lin vom Band. Sie gehen vor allem nach derlassung in Sulzbach bei Frankfurt England, wo Samsung hielt Firmenchef Lee Kun Hee eine sein zweites Standbein in flammende Rede, mit der er dem Europa ausbaut. Mischkonzern einen neuen Kurs verord- Der Drang nach Eu- nete. ropa macht durchaus „Klasse statt Masse“ lautete das Fazit Sinn. Im Gefolge des der „Frankfurter Erklärung“, die Lee wirtschaftlichen Auf- per Videoband im ganzen Unternehmen schwungs sind die Löhne verbreiten ließ. Nur mit „einem fest aus- in Korea steil angestie- geprägten Qualitätsbewußtsein“, so der gen. Inzwischen liegen Firmenchef, könne der größte Konzern die Arbeitskosten nur Südkoreas zur Weltspitze aufrücken. wenig unter den engli- Um aus dem „zweitklassigen Unter- schen. nehmen“ einen Spitzenreiter mit Welt- Mit der Produktion in rang zu machen, mag sich Lee nicht al- Europa können die Ko- lein auf billige Arbeitskräfte in Südko- reaner zudem drohende rea und auf das Know-how der eigenen Strafzölle auf wichtige Forscher und Techniker verlassen. Sam- Produkte umgehen. Da- sung will ein Multi mit globaler Präsenz mit will die EU-Kommis- werden, und in diesem Plan spielt sion verhindern, daß Deutschland eine besondere Rolle. die Koreaner weiterhin Expertenteams des aufstrebenden mit Dumping-Preisen die Konzerns, der im vergangenen Jahr fast Märkte aufrollen. 90 Milliarden Mark umsetzte, sind seit Technologisch muß Monaten auf einer ausgedehnten Samsung noch kräftig Deutschlandtour. Sie interessieren sich aufholen, um zur Welt- vor allem für mittelständische Firmen, spitze vorstoßen zu kön- die „ein Produkt haben, das für die Zu- nen. Auch deshalb kunft interessant ist“, erklärt Hendrik macht die Einkaufstour de Jong aus der Sulzbacher Europazen- Samsung-Chef Lee: Starker Drang nach Europa Sinn. Rollei verfügt über trale von Samsung. attraktive Patente zur Rund 20 Betriebe, so ließen die Emis- Chance. In dem Verkauf an die Korea- elektronischen Bildbearbeitung und über säre durchblicken, stehen auf der ner, die seit längerem preisgünstige einen Kundenstamm, der den Koreanern Wunschliste des weitverzweigten Kon- Kleinbildkameras für Rollei montieren, Zugang zu ersten Adressen der europäi- zerns, darunter der sächsische Öko- sieht er deshalb einen „patriotischen schen Industrie verschafft.Und dieAuto- kühlschrank-Hersteller Foron, die Au- Akt“. Samsung hat vertraglich zugesi- radiofabrik Becker soll immerhin in die- toradiofabrik Becker im badischen chert, daß Rollei „als deutsche Firma er- sem Jahr alle Fahrzeuge der BMW-5er- Karlsbad und der Motorradbauer MuZ halten bleibt“. Reihe mit ihrem neu entwickelten Digi- GmbH in Zschopau. Noch in dieser Mit solch „vagen Zusicherungen“ will talradio ausrüsten. Woche werden die Koreaner mit der sich Roland Becker nicht zufrieden ge- Noch sträubt sich Becker gegen den Rollei Fototechnic GmbH in Braun- ben. Der Inhaber der renommierten Verkauf an Samsung. Angeblich hat auch schweig eine der traditionsreichsten Fo- Autoradiofabrik, die vor allem Daimler- der französische Elektrokonzern Thom- tofirmen in Deutschland übernehmen. Benz und BMW beliefert, verhandelt son Interesse. Doch die Zeit drängt. Eigentlich wollte Rollei-Inhaber seit Monaten mit den Koreanern, bis- „Wenn der Junior nicht bald seinen Heinrich Manderman, 72, bereits am lang ohne Ergebnis. Wunschpartner präsentiert“, ahnt ein vergangenen Mittwoch in Frankfurt sei- Obwohl die Firma (300 Millionen Becker-Betriebsrat, „fällt den Korea- ne Unterschrift unter das Vertragswerk Mark Umsatz) schon seit Jahren keine nern das Werk wie eine reife Frucht setzen. Doch steuerrechtliche Details Gewinne mehr erwirtschaftet, glaubt zu.“ Y

DER SPIEGEL 5/1995 85 .

WIRTSCHAFT TRENDS

Kreide stehende Kässbohrer Energie vor der Pleite zu bewahren, würde erreicht. „Wenn das Russen-Plutonium Volvo-Angebot in Ordnung ist“, so ein Kommissionsex- nach Hanau? perte, „dann kann das lau- Russische Energiepolitiker fen.“ haben mit dem deutschen Elektrokonzern Siemens ei- Metallgesellschaft nen abenteuerlichen Plan entwickelt: Sie wollen in Sorgfaltspflicht der fast fertigen Mischoxid- Brennelemente-Fabrik in verletzt Hanau russisches Waffenplu- Bei den verlustreichen US- tonium zu Brennelementen

DPA Ölgeschäften der Metallge- für Kernkraftwerke verarbei- Kässbohrer-Busse sellschaft hat sich auch ten. Präsident Boris Jelzin das bisher noch amtieren- soll bei Bundeskanzler Hel- Kässbohrer zunächst einmal gestoppt. de Vorstandsmitglied Die Berliner Kartellwächter Hans-Werner Nolting Willkommener monieren, daß Kässbohrer/ pflichtwidrig verhalten. Mercedes zusammen über Zu diesem Ergeb- Interessent die Hälfte des deutschen nis kommt ein Sonder- Für den angeschlagenen Ul- Busmarktes beherrschen gutachten von Wirt- mer Bushersteller Kässboh- würden. Mit Volvo hat sich schaftsprüfern. Die rer gibt es eine neue Überle- nun in Brüssel ein alter Mit- Prüfer bescheinigen benschance. Volvo hat die interessent an Kässbohrer ge- Nolting, er sei seiner EU-Kommission wissen las- meldet. Für die Kommission, „Sorgfaltspflicht nicht sen, daß das Unternehmen die ohne den Widerstand aus ausreichend nachge- zu einem Übernahmeange- Deutschland die Verbindung kommen“. Als Mitglied bot bereit ist. Wegen Beden- mit Mercedes zugelassen hät- des Board of Directors ken des Bundeskartellamts te, sind die Schweden will- der MG Corp. habe hatte Brüssel Anfang des kommene Interessenten. Das sich Nolting spätestens Jahres eine Übernahme der Hauptziel, die mit mehreren im Oktober 1993 aktiv

Ulmer durch Mercedes-Benz 100 Millionen Mark in der dafür einsetzen müs- U. SCHMIDT sen, daß die für den Hanauer Brennelementewerk Konzern existenzbe- Dasa drohenden Geschäfte redu- mut Kohl mit dem Argument ziert werden würden. Nolting werben, daß der Bomben- ist das einzige Mitglied des stoff auf diese Weise für kri- Riesengeschäft mit China MG-Vorstandes, das bereits minelle Plutoniumhändler unter dem Ende 1993 fristlos unhantierbar wird. Finan- Manfred Bischoff, designier- entlassenen Heinz Schimmel- ziert werden könnte das Vor- ter Vorstandschef der Daim- busch im Amt war. haben durch den Verkauf der ler-Benz Aerospace (Dasa) Brennelemente an Kraft- in München, hat bereits vor Verlage werksbetreiber in Südkorea seinem Amtsantritt im Mai oder Taiwan. Der Deal hätte seinen ersten großen Coup „Feuer“ kommt für alle Seiten Vorteile: Die gelandet. Zusammen mit ei- Russen könnten ernsthaften nem staatlichen chinesischen erst im April Abrüstungswillen beweisen, Luftfahrtunternehmen wird Der Hamburger Großverle- die Deutschen würden hel- die niederländische Dasa- ger Heinz Bauer will mit ei- fen, die von dem Waffenplu- Tochter Fokker einen Dü- nem neuen Nachrichtenma- tonium ausgehenden Gefah- senjet entwickeln, bauen gazin die Zukunft seines ren zu vermindern. Siemens und auch über eine gemein- Konzerns sichern. Das Ob- wiederum könnte seine Ha- same Vertriebsgesellschaft jekt (Arbeitstitel: „Feuer“) nauer Fabrik nutzen, und die

verkaufen. Das vornehmlich T. GEIGER kommt am 17. oder 24. April Stromproduzenten müßten für Kurzstrecken geplante Bischoff auf den Markt. Bereits im nicht weiter eine Investitions- Regionalflugzeug soll lang- vergangenen September hat- ruine finanzieren. Einziger fristig die Modelle „Fokker 70“ und „Fokker 100“ erset- te Bauer das Objekt vorge- Haken: Die Fabrik hat zen. Bereits im Jahr 2000 soll der neue Jet zum ersten Mal stellt, den ursprünglich für erhebliche Genehmigungs- mit Passagieren abheben. Der Milliarden-Deal mit den Herbst 1994 avisierten Start schwierigkeiten. Selbst wenn Chinesen, den sich eigentlich US-Flugzeughersteller er- aber immer wieder verscho- in Hessen der Atom-Freund hofft hatten, soll Fokker langfristig wieder in die Gewinn- ben. Nach schlechten Tester- Manfred Kanther die rot-grü- zone bringen. Erst unlängst waren die Pläne von British gebnissen sei das Konzept ge- ne Koalition am 19. Februar Aerospace gescheitert, ein ähnliches Projekt mit Unter- ändert worden, berichten besiegen sollte, dürfte es eine nehmen aus Taiwan zu realisieren. Nun wollen sich die Mitarbeiter. Nun will das Genehmigung nur als Be- Briten mit dem italienisch-französischen Konsortium Wochenmagazin mit den standteil eines großen Ener- ATR zusammentun. Schwerpunkten News, Kul- giekonsenses mit den Sozial- tur und Wissen starten. demokraten geben.

86 DER SPIEGEL 5/1995 Werbeseite

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WIRTSCHAFT

die um ihren Arbeitsplatz bangen, eine Sparverträge oder Immobilien zu ver- Arbeitslose scheinbar traumhafte Absicherung vor kaufen sind. finanzieller Not. Der „Vereinszweck, Mitmenschen, Einem Empfänger von Arbeitslosen- die durch unverschuldete Arbeitslosig- geld fehlt rund ein Drittel seines frühe- keit in wirtschaftliche Not geraten sind, Soviel Elend ren Einkommens – wer nur die Arbeits- durch nicht rückzahlbare Finanzleistun- losenhilfe bezieht, ist noch schlechter gen zu unterstützen“, klingt edel. Doch Ein Verein verspricht Arbeitslosen dran. Die AGF verspricht, die Differenz die AGF verfolgt noch ein weiteres Ziel: goldene Zeiten. Er will die Differenz zwischen der staatlichen Stütze und dem über einen außenstehenden Vertrieb früheren Nettoeinkommen auszuglei- Mitgliedschaften profitabel zu verkau- zwischen dem letzten Lohn und dem chen. „Es gibt soviel Elend hier“, barm- fen. Arbeitslosengeld zahlen. te der AGF-Vorsitzende Günter Bon- Von Anfang an war klar, daß AGF- gartz aus Übach-Palenberg bei Aachen. Mitglieder über einen Strukturvertrieb Während seriöse Unternehmen wie gekeilt werden sollten. Den organisiert twas mitleidig sah Rudolf Harlos die Allianz die Risiken einer zusätzli- Rudolf Harlos, ein ehemaliger Mitarbei- den Mann an, der ihm im Frankfur- chen Arbeitslosenversicherung für ter der Vertriebsfirma AWD, die für Eter Queens Hotel erzählte, er kom- „nicht kalkulierbar“ halten, verweist beinharte Verkaufsmethoden berühmt me als selbständiger Außendienstler auf AGF-Chef Bongartz auf das Gutachten ist. 20 000 Mark im Monat. „Bei uns“, lock- eines Versicherungsmathematikers, der In dem neunstufigen Vertrieb von te Harlos, „können Sie 150 000 im Mo- ihm alles genau ausgerechnet habe. Harlos + Partner verdient der Klinken- nat verdienen.“ Den Namen des Rechenkünstlers ver- putzer auf der untersten Stufe 125 Mark Für gutes Geld, so versprach Harlos rät Bongartz nicht, auch nicht den des für jedes angeworbene Mitglied, das den Zuhörern im Queens Hotel, sollten „Gedankengebers“, der auf die Idee dann 713 Mark Aufnahmegebühr zahlen seine Helfer ein gutes Werk tun: Arbeit- kam, einen gemeinnützigen Verein zu muß. Der größte Teil der Einnahmen geht an die höheren Ränge der pyrami- denförmig aufgebauten Organisation. Wenn der Drücker so viele Mitglieder gekeilt hat, daß diese wiederum andere Mitglieder werben, steigt er in der Hier- archie auf. Das kann bei neuen Struktur- vertrieben, die ein neuartiges Produkt verkaufen, mitunter sehr schnell gehen. Schon auf Stufe fünf – Regionalge- schäftsstelle – verdient ein Verkäufer von AGF-Mitgliedschaften laut „Karrie- replan“ mehr als 30 000 Mark pro Mo- nat. Dann geht es weiter mit 90 000 Mark, Stufe sieben bringt 270 000 Mark, und ganz oben an der Pyramide stehen die Landesdirektoren mit über 800 000 Mark, über ihnen der Direktor mit 1,2 Millionen pro Monat. Aber die höchst- dotierten Stufen, so ist zu vermuten, sind bereits besetzt. Bei Strukturvertrieben ist in den obe- ren Rängen sehr viel Geld zu verdienen – vorausgesetzt, die Verkäufer in den unteren Ebenen schaffen ordentlich ran. Schon 200 000 Mitglieder spülen dem Vertrieb über 140 Millionen Mark in die Kasse. Die Furcht vor Arbeitslosigkeit

R. MEISEL / VISUM wird der AGF wohl viele Mitglieder zu- Arbeitsuchende (in Hamburg): Arbeitslos bei vollem Lohnausgleich? treiben; schließlich seien die Leistungen des Vereins, so der Vorsitzende Bon- nehmer, die ihren Job verlieren, finan- gründen: „Darüber wurde strengstes gartz, „ein Produkt, das im Markt ge- ziell voll absichern. Stillschweigen vereinbart.“ fragt ist“. Vom nächsten Monat an will Harlos Einer der „Gedankengeber“ war Doch der Traum von der Arbeitslosig- mit seinen Verkaufstruppen etwas ganz Friedhelm Holtkamp, früherer Verkäu- keit bei vollem Lohnausgleich geht nur Neues unters Volk bringen, „einmalig in fer von Bausparverträgen. Sein Wahl- dann in Erfüllung, wenn von allen Ver- Deutschland“. Für ein paar hundert spruch: „Sie haben es dann geschafft, einsmitgliedern nur ganz wenige ihren Mark pro Jahr – zehn Prozent eines Mo- wenn Sie mehr Geld haben, als Sie Job verlieren. Sonst ist nämlich nicht ge- nats-Nettoeinkommens, mindestens 400 ausgeben können.“ nug Geld auf dem Treuhandkonto der Mark – können Arbeitnehmer Mitglied Der gemeinnützige Verein könnte AGF bei der Deutschen Bank Übach- in einem spendierfreudigen Verein wer- ihn und seine Partner diesem Ziel Palenberg. den, der Arbeitslosen ein sorgenfreies schnell nahebringen. Vereinsvorstand Und wo kein Geld da ist, kann kein Leben verspricht. Bongartz sowie seine beiden Stellver- Geld verteilt werden. So steht’s auch im Die „Aktion Gemeinnützige Förder- treter, Friedhelm Krüppel und Hans- Kleingedruckten: „Die Leistungen des vereinigung e.V. Verein für nicht rück- Albert Ohnesorge, sind bewährte Ver- Vereins werden aus jeweils vorhande- zahlbare Finanzleistungen“ (AGF) offe- triebsprofis, die wissen, wie Lebensver- nem Vereinsvermögen und Spenden ge- riert den vielen Millionen Deutschen, sicherungen oder Investmentfonds, leistet.“ Y

90 DER SPIEGEL 5/1995 Werbeseite

Werbeseite . R: KLOSTERMEIER / VISION Beamten-Kritiker Dürr: Jeder Vorschlag wird mit Wutgeschrei beantwortet

Beamte Die Angst beim Mikado Bahn-Chef Heinz Dürr über die Reform der staatlichen Verwaltung

r hat sich mir eingeprägt, dieser gilt: Wenn alles sauber testiert, im Dutzende solcher Beispiele kommen Morgen des 13. Dezember 1990. Regelwerk korrekt abgewickelt, vom mir in den Sinn, wenn ich die gegenwär- EOberste Etage des Bundesverkehrs- Rechnungshof geprüft ist und alle han- tige Debatte um den „schlanken Staat“ ministeriums. Die Bonner Rheinaue zu delnden Personen formal entlastet verfolge. Natürlich, „schlank“ oder neu- Füßen, das Siebengebirge im Hinter- sind, dann interessiert der wirtschaftli- deutsch „lean“ klingt gut, ein Schön- grund. Der Bundesminister Dr. Fried- che und unternehmerische Erfolg kaum heitsideal suggerierend. Wohl auch des- rich Zimmermann vor der Bundesflagge mehr. halb gibt es unendlich viele Detailvor- in seinem Dienstzimmer nimmt mir den Ein Beispiel aus meinen Anfangsmo- Eid ab, „den Nutzen des deutschen Vol- naten bei der Bahn in Sachen Haushalts- kes zu mehren und Schaden von ihm zu recht: Ich diskutiere mit meinen Fach- Heinz Dürr wenden“. leuten eine Neubaustrecke; Kosten rund Dann Entgegennahme der in Leder acht Milliarden Mark. Ich frage, warum will den Staatsbetrieb Bahn in ein gebundenen Urkunde – Unterschrift: eine vorhandene Alternative mit etwas marktwirtschaftlich funktionieren- Bundespräsident Richard von Weizsäk- längerer, aber durchaus noch passabler des Unternehmen verwandeln. Für ker – mit der Bestellung in das öffent- Reisezeit nicht geprüft werde, die im- die Umwandlung in eine Aktienge- lich-rechtliche Amtsverhältnis als merhin drei Milliarden Mark kostengün- sellschaft Ende 1993 hatte er sich „Vorsitzer des Vorstandes der Deut- stiger ist. Der entgeisterte Kommentar seit seinem Amtsantritt unermüd- schen Bundesbahn“. Nun war ich also des verantwortlichen Mannes: „Herr lich engagiert. Bekannt wurde Dürr, Behördenchef; allerdings mit dem Ziel, Dürr, wollen Sie die drei Milliarden der Mehrheitseigner des gleichnamigen die Behörde so schnell als möglich abzu- Straße in den Rachen werfen?“ Stuttgarter Herstellers von Lackier- schaffen. Denn ich wollte ja „den Nut- Der Mann hatte die Mechanismen des anlagen, als Verhandlungsführer zen des deutschen Volkes mehren“; und Haushaltsrechts verinnerlicht. Geld, das der baden-württembergischen Me- das ging bei der Bahn ausweislich der nicht ausgegeben wird, bekommen er- tallarbeitgeber in spektakulären Ta- vergangenen Jahrzehnte in der Behör- stens andere, und zweitens wird der rifkämpfen der siebziger Jahre. denstruktur nicht. Haushaltsansatz im nächsten Jahr 1980 trat er an die Spitze des Im Gegenteil. Der Staat – nicht nur entsprechend gekürzt. Da mußte ich schwer angeschlagenen AEG-Kon- der Bund, auch Länder und Kommunen mit dem Versuch scheitern, gemäß mei- zerns, der 1985 von Daimler-Benz – muß als Unternehmer versagen, wenn nem Eid „den Nutzen des deutschen übernommen wurde. Überraschend er seine Unternehmen mit den Fesseln Volkes zu mehren und Schaden von akzeptierte Dürr 1990 das Angebot des Öffentlichen Dienst- und des Haus- ihm zu wenden“; was im konkreten von Bundeskanzler Helmut Kohl, haltsrechts knebelt, wenn er dieses auf Fall hieß, mit dem Geld des Steuerzah- Chef der chronisch defizitären Mißtrauen und Kontrolle ausgelegte In- lers sparsam und effizient zugleich um- Bahn-Bürokratie zu werden. strumentarium anwendet. Denn danach zugehen.

92 DER SPIEGEL 5/1995 WIRTSCHAFT schläge zum Thema, Ge- gehören nicht in das Öf- samthaftes kaum. Denn fentliche Dienst- und das zu komplex, miteinander Haushaltsrecht. Diese verwoben, sich gegensei- Feststellung hat nichts tig abstützend ist der mit „kapitalistischer Staatsapparat. Wer re- Ideologie“ zu tun. Sie hat det, gewinnt, zumindest aber sehr viel zu tun mit öffentlich; wer handelt, dem Auftrag des zitierten dem droht der Zorn der Eides. Denn den Nutzen organisierten Interessen: zu mehren und Schaden Die Angst des Mikado- abzuwenden verlangt als spielers vor dem Ziehen erstes, sich für die effi- des schwarzen Stäb- zienteste Lösung einer chens. Aufgabe zu entscheiden. Es ist bei diesem The- Das Öffentliche ma wie immer bei kom- Dienstrecht ist aber ex- plexen Problemen: Der trem rationalisierungs- Diagnose müssen die feindlich, weil der Stel- Grundsatzentscheidun- lenkegel für die Zemen- gen folgen, dann können tierung der überkomme- die Einzelheiten geklärt nen Strukturen sorgt. Ei- werden. Das umgekehrte ne der Wirtschaft ver- Verfahren anzuwenden gleichbare leistungsge- hieße, den scheuklap- rechte Bezahlung ist un- penbewehrten Besitz- möglich; Karrieren wer- standswahrern die Ab- den – überspitzt formu- lehnungsgründe frei liert – ersessen. Bei der Haus zu liefern. Denn Bundesbahn mußte ich anhand von vorgeblich mir oftmals die Geneh- kaum lösbaren Einzel- migung von drei Bundes- heiten wird alsbald der ministerien einholen, um „Beweis“ für die Un- Vergütungen oder Be- durchführbarkeit grund- lohnungen für besondere legender Veränderungen Leistungen zahlen zu erbracht. dürfen. Die zu treffende Der in den vergange- Grundsatzentscheidung nen Wochen aufgekom- beim „schlanken Staat“ mene Vorschlag, das be- lautet: Soll der Staat als Amtsweg Stern stehende System einfach Unternehmer auftreten mit Leistungsanreizen oder nicht, kann er als Unternehmer im nämlich „nur zur Wahrnehmung hoheits- anzureichern, führt allerdings nicht wei- Sinne der Marktwirtschaft erfolgreich rechtlicher Aufgaben oder solcher Auf- ter. Denn diese Prämien wären bald sein oder nicht? gaben, die aus Gründen der Sicherung stillschweigend geduldeter Einkom- Keine Frage, unsere Gesellschaft des Staates oder des öffentlichen Lebens mensbestandteil. In die Personalkosten funktioniert ohne staatlich organisierte nicht ausschließlich Personen übertragen der öffentlichen Haushalte würde ledig- Leistungen nicht. Die riesigen Probleme werden dürfen, die in einem privatrecht- lich ein zusätzlicher Treibsatz einge- bei der Sanierung Ostdeutschlands ha- lichen Arbeitsverhältnis stehen“. Das baut. ben gezeigt, von welch elementarer Be- Wörtchen „nur“ zeigt, daß der Gesetzge- Der Vorschlag ist auch deshalb un- deutung eine gewisse staatliche Infra- ber eine restriktive Anwendung wollte. tauglich, weil er geflissentlich die Kehr- struktur ist. Deshalb kann schlanker Eine solche Grundsatzentscheidung seite der Medaille ausblendet, die Mittel Staat nicht bedeuten, jede Behörde wie hätte zur Folge, daß der staatliche Wild- der Disziplinierung bei Fehlverhalten. eine wachstumsorientierte Garagen- wuchs erheblich beschnitten werden Nein, das Besoldungssystem im Öffent- GmbH der Turnschuhgeneration zu or- könnte. Die Deutsche Bundesbahn lichen Dienst muß grundsätzlich und ganisieren. etwa hatte Ende 1993 rund 130 000 ergebnisorientiert reformiert wer- Aber es gibt keine klare Trennung zwi- Beamte beschäftigt. Als im Zuge den. schen klassischen Staatsaufgaben und der Bahnreform unternehmerische Der zweite Knackpunkt beim Thema wirtschaftlicher Betätigung des Staates. Aufgaben getrennt wurden, blieben Verschlankung des Staates ist das Haus- Klassische Aufgaben sind beispielsweise nur rund 1000 Beamte für hoheitliche haltsrecht. Es widerspricht mit seiner Justiz, Polizei, Bundesgrenzschutz, Fi- Aufgaben übrig. Kameralistik fundamental einer wirt- nanzverwaltung, Bundeswehr oder Aus- Die Fragen seien erlaubt: Durfte nach schaftlichen Unternehmensführung. Es wärtiges Amt. Zöge sich der Staat auf dem Bundesbeamtengesetz eigentlich kennt keinerlei unternehmerische Er- derartige Kerngebiete zurück, würde ein Fahrkartenverkäufer, ein Schaffner, fordernisse. nicht jeder Vorschlag zur Verschlankung ein Lokführer oder ein Fahrdienstlei- Haushaltspläne sind und sollen Aus- mit Weh- und Wutgeschrei beantwortet. ter überhaupt Beamter werden? Viel- druck des politischen Willens von Parla- Wäre diese Grundsatzentscheidung leicht wurden manche Beamte, obwohl ment und Regierung sein. Das Budget- getroffen, dann würde auch die ausge- sie nur den Berufswunsch Eisenbahner recht ist das vornehmste Recht des Par- uferte Diskussion um das Berufsbeam- hatten? laments; vielleicht könnte man sogar sa- tentum versachlicht. Dann würden Be- Der Staat muß sich auf seine hoheitli- gen, ein zentraler Pfeiler des demokrati- amte ausschließlich gemäß dem Paragra- chen Aufgaben konzentrieren; Aktivitä- schen und sozialen Rechtsstaats. Daran phen 4Bundesbeamtengesetz eingesetzt, ten mit wirtschaftlichen Zielsetzungen darf nicht gerüttelt werden. Aber muß

DER SPIEGEL 5/1995 93 Werbeseite

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WIRTSCHAFT

ungsparagraphen geraten ist, der wird welche Fragen zum Haushaltsrecht und bei künftigen Entscheidungen wieder seinen Konsequenzen, zum Unterneh- den Pfad der „haushaltsrechtlichen Tu- mer „Vater Staat“? gend“ gehen – auch wenn es wirtschaft- Alle wollen öffentlich den schlanken lich widersinnig ist. Staat, so liest man. Wirklich alle? Und Niemand möge kommen und sagen, wollen sie ihn jetzt oder erst, wenn sie in das sei bewußte Schwarzmalerei oder Pension sind? Man sollte da nicht so si- moderne Bürokratenverfolgung. Meine cher sein. Um so wichtiger ist es, anzu- Kritik richtet sich ohnehin nicht gegen fangen. Denn die angemahnten Grund- den einzelnen, sondern gegen das Re- satzentscheidungen wird es nur geben, gelwerk. Nicht die Menschen im Staats- wenn eine psychologische Bresche in die apparat tragen die Schuld an der Beharrungsmentalität des Staatsappara- Ineffizienz, das Regelwerk zwingt tes geschlagen wird. sie dazu. Ich arbeite bei der Bahn mit Diese Bresche muß die Politik schla- kompetenten früheren Staatsdienern gen. Minister, Staatssekretäre oder Tei- zusammen. le von Bürokratien einzusparen bringt Auf diesem geschilderten Nährboden finanziell nicht viel in die Kasse, hilft gedeihen dann allerdings die exotisch- aber vielleicht bei der Psychologie. sten Blüten. Ein Beispiel: Die Bahnre- Tatsächlich geht es um wesentlich

T. RAUPACH / ARGUS form wird den Staatshaushalt und damit Schaffner bei Kontrolle die Steuerzahler bereits in den ersten Ende der Beamtenlaufbahn zehn Jahren um rund 100 Milliarden Es geht um mehr Mark entlasten. Eine unstrittige Zahl. als ein paar Stellen deshalb der sogenannte Vollzug des Trotzdem warnte der Bundesrechnungs- Haushalts derart starr, unflexibel und hof vor dem Vorhaben. Wenn die Bahn- an der Spitze ineffizient sein, wie beispielsweise alle reform Erfolg habe, dann sei davon aus- Jahre wieder beim „Dezember-Fieber“ zugehen, daß die Deutsche Bahn AG mehr als um ein paar Stellen an der sichtbar? weniger Leute beschäftige. Dadurch Spitze. Es geht um einen langfristigen Gerade die für unsere Volkswirtschaft aber entstünden dem Staat Lohnsteuer- Prozeß. so extrem wichtigen Infrastrukturinve- ausfälle. Des weiteren sei zu befürchten, Wenn man es mit dem schlanken stitionen sind langfristige Projekte, die daß die AG preiswerter einkaufe, wo- Staat ernst meint, dann müssen die Ent- nicht nach Jahresscheiben beurteilt und durch wiederum Steuerausfälle bei den scheidungen jetzt getroffen werden: Die eingeleitet werden können. Auch der Lieferanten entstünden. Noch irgend- hoheitlichen und wirtschaftlichen Auf- Staat braucht für seine Projekte eine un- ternehmerisch angelegte Investitions- planung, er braucht Rückstellungen und Der Staat als Unternehmer Wichtige Firmen in Bundesbesitz; Risikovorsorge. Angaben: jeweils letzter Stand Das Haushaltsrecht ist auf Kontrollfä- higkeit aufgebaut. Das Mißtrauen, das Anteil des Beschäftigte Jahresumsatz in den Handelnden entgegengebracht Bundes Milliarden Mark wird, ist riesengroß, alles muß prüffähig 100% 363 000 27,8 und „rechnungshoffest“ sein. Nicht die Postdienst Ergebnisse zählen, etwa daß die Ein- nahmen größer sind als die Ausgaben, Deutsche Bahn 100% 303 000 24,0 sondern wichtig ist, daß die Vorschriften (einschließlich Reichsbahn) eingehalten wurden. Und die haben es in sich! Es gibt un- Telekom 100% 251 000 59,0 überschaubar viele Aufsichts-, Einwir- kungs-, Genehmigungs- und Ein- 35,68% 60 500 17,7 spruchsrechte aller erdenklichen Bun- Lufthansa des-, Landes- und jetzt auch Europagre- mien und -behörden. Dieses Netzwerk Saarbergwerke 100% 21 500 5,5 bewirkt das Gegenteil dessen, was der Bürger sich unter einer wirksamen Bü- * rokratie vorstellt. Postbank 100% 18 000 83,6 Sollte trotzdem mal ein Staatsdiener vom Mut zu raschem, effizientem und Flughafen 25,87% 12 000 2,1 kreativem Handeln am Rande der Zu- Frankfurt/Main lässigkeit des Vorschriftendickichts be- fallen werden, dann begibt er sich in Ge- Deutsche Gesellschaft für Tech- 100% 7900 1,6 fahr. Denn zu solchem positiven Han- nische Zusammenarbeit (GTZ) deln gehört eine kalkulierbare Portion Risikobereitschaft, dem Akteur müßte Kreditanstalt für 71% 1615 250,0* eine Fehlertoleranz zugestanden wer- Wiederaufbau den. Autobahn 100% 480 0,3 Dazu sind die Kontrolleure des Staa- Tank & Rast AG tes aber nach dem Haushaltsrecht nicht befugt. Wer einmal in die Mühlen der Deutsche Investitions- und 100% 277 2,1* Rechtfertigungsschriften, der drohen- Entwicklungsgesellschaft (DEG) *Bilanzsumme den Regreßansprüche und Veruntreu-

96 DER SPIEGEL 5/1995 gaben müssen getrennt werden. Und sei es nur, um zu erreichen, daß die wirtschaftlichen Aktivitäten vom Re- gelwerk des Öffentlichen Dienst- und des Haushaltsrecht befreit werden. Gleichzeitig muß in allen nichtho- heitlichen Bereichen die Beamtenlauf- bahn geschlossen werden. Es dürfen keine neuen Beamten hinzukommen. Denn die Korrektur der exzessiven Verbeamtung der Vergangenheit ist ei- ne Aufgabe von Jahrzehnten. Bei der Bundesbahn wurden die letzten Beam- ten 1992 als Bundesbahnassistenten eingestellt. Diese 50 Menschen werden, unterstellt man ein durchschnittliches Pensionsalter, im Jahre 2034 ausschei- den. Wo immer möglich, müssen Staats- unternehmen verkauft werden. Mit den Erlösen sollten allerdings die Finanzmi- nister nicht nur Haushaltslöcher stop- fen. Die Hälfte beispielsweise könnte in Rückstellungsfonds für die Pensions- verpflichtungen fließen. Da es solche Rückstellungen bisher nicht gibt, ge- fährden die künftigen Pensionsver- pflichtungen die investive Tätigkeit des Staates. Die Politiker und die Gesellschaft müssen heute die Kraft zu diesem lang- fristig angelegten Umstrukturierungs- und Sanierungsprogramm aufbringen. Sowenig wie es einem Unternehmen auf Dauer bekommt, wenn immer nur auf die nächste Quartalsbilanz gestarrt wird, sowenig wird es unserem Land auf Dauer bekommen, wenn Wahlter- mine und die jeweils aktuelle Mei- nungsumfrage zum Maßstab politischer Entscheidungen werden. Es wird den nächsten Generationen wohl kaum zu erklären sein, die Sanie- rung des Staatsapparats sei am Apparat gescheitert. Warum ich ein solches Er- gebnis nicht für ausgeschlossen halte? Als ich mit anderen um die Bahnre- form rang, als wir unsere Argumente wieder und wieder auf den Tisch leg- ten, kommentierten kundige Thebaner irgendwann resignierend: „Das ist wirt- schaftlich alles wohl richtig, aber poli- tisch nicht durchsetzbar.“ Da es dann zum Schluß doch hinrei- chend viele Menschen gab, vor allem auch in der Politik, denen es mit dem Versprechen, „den Nutzen des deut- schen Volkes zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden“ Ernst war, wur- de die Bahnreform im Dezember 1993 im Bundestag und im Bundesrat verab- schiedet. Das Ringen um die Bahnreform, das Engagement der Mitstreiter und das Ergebnis haben sich mir ebenso einge- prägt wie die Szene im Dezember 1990 vor der Deutschlandfahne. Diese Er- fahrung stimmt mich optimistisch, daß der Staatsapparat schlank wird, daß ei- ner das schwarze Stäbchen zieht. Y Werbeseite

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MODERNES LEBEN SPECTRUM

Pop Barbie, die blonde und blauäugi- Keiner besser ge Plastikpuppe, möchten weiße Mädchen aussehen. Ihr Schön- als Johnny heitsideal ist meßbar: 1,70 Meter „Wo ist zu Hause, Mama?“ groß, nicht mehr als 110 Pfund fragte Johnny Cash 1959, sta- Gewicht. Für schwarze Teenager tioniert in Landsberg am sind Körpermaße Nebensache. Lech, schwindlig vor Heim- Die Schönheit ihres Wunsch- weh und trotzdem tapfer ge- Mädchens liegt mehr im persönli- nug, sein Glück mit deut- chen Stil. Es muß intelligent sein,

schem Gesang zu versuchen. SAGA / FOCUS gut mit anderen klarkommen und Cash vermutete, zu Hause genau wissen, was es will – etwa sei irgendwo „auf der großen wie Whoopi Goldberg. Beide

Straße“ oder „hinter die SYGMA N. R. SCHIFF / Antworten machen die Wissen- blauen Berge“. Dieser alte Plastikpuppe Barbie Schauspielerin Goldberg schaftler nicht froh. Weil 70 Pro- Song muß nun als Name für zent aller schwarzen Mädchen eine CD („Wo ist zu Hause, Teenager sich nicht genug um ihre Pfunde kümmern, Mama?“ / Trikont) herhal- fürchtet die Ernährungswissenschaftlerin ten, auf der der bayerische Sheila Parker, daß sie als Erwachsene Blut- Dichter Franz Dobler die Barbie gegen Whoopi hochdruck bekommen. Die weißen Mäd- besten deutschen Under- Wie sieht ein vollkommen schönes Mäd- chen dagegen sind unglücklich, weil sie ih- ground-Bands der neunziger chen aus? Das wollten Forscher an der Uni- rem Barbie-Ideal nicht entsprechen; nur je- Jahre versammelt hat. versität Arizona von amerikanischen Mäd- de zehnte findet ihr Gewicht in Ordnung. Bands, die keine Angst vor chen wissen. Das Ergebnis der dreijährigen „Sie glauben“, klagt Anthropologin Mimi Studie: Schwarze und weiße Teenager be- Nichter, „mit einem perfekten Körper be- schreiben ihr Schönheitsideal gänzlich un- kommen sie einen perfekten Freund – und terschiedlich – es gibt zwei Traumbilder damit das Leben, das sie in den Magazinen vom vollkommenen „American girl“. Wie sehen.“

zählt nicht mehr zur Avant- Comics die Augen sehen und nicht garde. Auch die nach der Ha- lächeln“, mit ihren Comics waii-Insel Maui benannten Miststück Schwierigkeiten haben könn- Boards sind in den Alpen ten. Ein kleiner, engagierter längst heimisch geworden. Ei- mit Salatgurke Verlag hat sich nun getraut,

LFI / PHOTO SELECTION ne Münchner Firma stößt jetzt „Mist“ ist das Lieblingswort die Geschichten deutschen Sänger Cash in die östliche Hemisphäre vor der stets schlecht gelaunten Leserinnen und Lesern zu- und hat ein Freestyle-Board Bitchy Bitch. Ob sie samstags gänglich zu machen („Verpiß der deutschen Sprache haben nach dem verblichenen SED- mit Kopfschmerzen auf- Dich, Wichser!“ Edition Co- – trotz der Verwüstungen, Generalsekretär benannt. wacht, ihr Rendezvous-Part- mic Speedline, Verlag Tho- die Liedermacher und Auf der Lauffläche steht in ner die Parfümnote „Abfluß- mas Tilsner; 19,80 Mark). Deutsch-Rocker angerichtet Frakturschrift „Honecker“, frei“ bevorzugt oder sie haben. „Auf der Flagge, die eingerahmt von martiali- wieder mal keine Tam- wir hier hochziehen, steht schem Stacheldraht. Der Her- pons dabei hat – die zik- das: Sing’, wie du willst, aber steller weistpolitische Absich- kige Einzelgängerin fin- erzähl’ mir keinen Scheiß“, ten weit von sich. Vielmehr det immer einen Grund, schreibt Dobler. Und tat- stelle der Name „Honecker“ sich unmöglich aufzu- sächlich können Bands wie eine Verballhornung des Kon- führen und herumzukei- Die Sterne, F.S.K., Die kurrenten „Nidecker“ dar. In fen. Für Mist könnte Braut haut ins Auge, Funny Chile hat Profi-Snowboarder manch ein konservati- van Dannen und Bernd Be- Tommy Brunner das Brett ge- ver Sittenwächter die gemann ironisch-lässige Tex- testet. Sein Urteil: ein echtes Abenteuer der abge- te basteln und sich mit sehr Freestyle-Board, für den drehten Comicfigur hal- schlauen, sehr witzigen Zei- Wettbewerb allerdings nur ten, die ihre erotischen len herumschlagen, die oft bedingt geeignet. Bei einer Gelüste gelegentlich mit

nach Kleinkunst klingen. Al- Länge von 151 Zentimetern Salatgurken befriedigt. TILSNER / EDITION COMIC SPEEDLINE les ganz okay. Nur: Die gro- wird das Modell für die Ge- Dabei hat die amerika- Comicfigur Bitchy Bitch ße Kunst von Johnny kriegt wichtsklasse bis 70 Kilo- nische Autorin Roberta keiner hin. gramm empfohlen, ist also Gregory nicht viel anderes Großverlage wie Carlsen schon für einen Fahrer vom gemacht, als die Welt eines oder Ehapa, ängstlich darauf Freizeit Typ Gysi problematisch. Im Robert Crumb („Sally Wab- bedacht, ihre überwiegend kapitalistischen Handel gilt belarsch“) oder Gilbert Shel- männliche Kundschaft nicht Honi im Honi als Ladenhüter. Ein ton („Freak Brothers“) aus zu verschrecken, ließen die Sporthaus in Hamburg hat das weiblicher Perspektive zu be- Finger von dem brisanten Sonderangebot Modell noch kein einziges Mal trachten. Gregory räumt al- Stoff. Womit Bitchys Chan- Wer auf einem Snowboard verkauft. Dabei ist „Honek- lerdings selbst ein, daß Män- cen, zur Kultfigur zu werden, mit tropischem Wellendekor ker“ für 648 Mark im Sonder- ner, die es nicht mögen, wohl eher gestiegen sein durch den Schnee gleitet, angebot. „wenn Frauen ihnen direkt in dürften.

100 DER SPIEGEL 5/1995 Werbeseite

Werbeseite . STAR SHOOTING Skyline von Downtown Los Angeles: Ein guter Ort für Schafe oder Kühe

Mythen DIE WÜSTE BEBT SPIEGEL-Autor Claudius Seidl über Mike Davis’ Buch „City of Quartz“ und die Geheimnisse von Los Angeles

ines Tages, in gar nicht allzu ferner nigen Hölle glichen: von der Skid Row Vielleicht aber finden die Archäolo- Zukunft, werden ein paar Archäo- rund um den Broadway beispielsweise, gen auch dieses wundersame Manu- Elogen sich in das trockene Tal verir- dem Viertel der Obdachlosen und Ab- skript, welches jeden Leser dem Ge- ren, das zwischen den San-Gabriel-Ber- gestürzten, wo die Penner den Knüppel heimnis von Los Angeles ein wenig nä- gen und der Küste des Pazifischen Oze- der Polizei so heftig fürchten mußten herbringt: Mike Davis, 48, Soziologe, ans liegt. Sie werden im Sand buddeln wie die Knarren der Gangster; wo die Mythologe und einer der letzten beken- und zwischen dürren Sträuchern sto- Parkbänke so geformt waren, daß kei- nenden Linken, hat es geschrieben und chern, und womöglich finden sie dort ner darauf schlafen konnte; jenes „City of Quartz“ genannt, und im Un- ein verrostetes Autoradio, ein Päckchen schmutzige Quartier, in das sie immer tertitel kündigt er an, er grabe in Los Uzi-Munition oder eine vergammelte wieder zurückgescheucht wurden, wenn Angeles die Zukunft aus – ein Archäo- Mickymaus. Und dann werden sie dar- sie in eine bessere Gegend flüchteten. loge der Dinge, die noch kommen wer- über spekulieren, ob es hier einst eine den. Strafkolonie gab oder den verlorenen Denn in der Geschichte von Los An- Außenposten einer zurückgebliebenen Die Mega-Stadt geles, so suggeriert der Autor, verbirgt Zivilisation. sich der Bauplan für die künftigen Me- Die Hauptstadt des 20. Jahrhunderts Los Angeles dehnt sich über fünf tropolen. Im Stadtplan zeigen sich schon aber werden sie woanders vermuten. Landkreise aus, etwa 200 Kilometer die Fronten kommender Konflikte. Und Denn von den Wolkenkratzern in in Ost-West-Richtung und circa 150 ihr Bruttosozialprodukt erwirtschaftet Downtown Los Angeles wird bloß blei- von Norden nach Süden; sie hat die Stadt vor allem mit Lügen, Legen- ben, was an ihnen nagte: viel Sand und mehr als 15 Millionen Einwohner – den und Illusionen. Spuren von Asbest. Von den Villen in und ringt heute schon mit den Pro- Es war, als alles anfing, ein guter Ort Bel Air werden die nächsten Feuerstür- blemen, die auf andere Metropolen für Schafe oder Kühe, das bißchen Was- me nur einen Haufen Asche lassen. Und erst noch zukommen werden. Inner- ser reichte für ein Dorf, und die Grün- die gigantischen Boulevards schluckt halb der Stadtgrenzen sind 40 Pro- der Roms oder San Franciscos hätten beim nächsten großen Beben der Sankt- zent der Bewohner lateinamerikani- hier höchstens für eine Nacht ihre Zelte Andreas-Graben. scher Herkunft, 14 Prozent sind aufgeschlagen. Doch der Boden war bil- Die Forscher werden nichts wissen Schwarze, und der Zuzug aus Viet- lig, und wer ihn teuer verkaufen wollte, von dieser Stadt, die einstmals eine der nam und Korea steigt stetig. Alle mußte die Kunden belügen. schönsten war: geheimnisvoller als New Prognosen besagen, daß die Lati- Es waren Bodenspekulanten, welche York, weil man sie nie überschauen nos im Jahr 2010 die Weißen als die Legende vom südkalifornischen Pa- konnte und hinter jedem Hügel neue größte Bevölkerungsgruppe ablösen radies erfanden, und ein paar Schrift- Reize ahnte; unwiderstehlich in der werden. Das Stadtporträt „City of steller mit einem Faible für Fata Morga- Dämmerung, wenn bunte Lichter, wie Quartz“ des Soziologen Mike Davis nas halfen ihnen dabei: Längst vergesse- Make-up bei einer Frau, den Schimmer ist im Verlag der Buchläden Schwar- ne Autoren wie Helen Hunt Jackson der Oberflächen noch verstärkten. ze Risse/Rote Straße erschienen und Charles Fletcher Lummis entwar- Die Forscher werden auch nichts fin- und kostet 45 Mark. fen, vor etwa hundert Jahren, das Bild den von jenen Gegenden, die einer son- eines glücklichen Landes, in dem fast

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GESELLSCHAFT

immer die Sonne schien, wo das Klima mild und der Boden fruchtbar war und wo ein reiches spanisches Kulturerbe nur darauf wartete, daß es von Angel- sachsen übernommen würde: Platz ge- nug, daß jeder sich sein eigenes Haus hier baue, und doch kein Ort für Schwarze, Gelbe und Latinos. Die Illusionen steigerten, weil viele sie glaubten, den Wert der Immobilien enorm – und als in dieser Gegend, die eigentlich unbewohnbar ist, schon Mil- lionen Menschen lebten und das Was- ser, das sie verbrauchten, weit entfernte Täler austrocknen ließ, hörte die Stadt trotzdem nicht auf, ihren eigenen My- thos zu reproduzieren. Selbst das, was Davis „Noir“ nennt, die düsteren Romane der Dreißiger, die

schwarzen Filme der Vierziger, die Sto- STILLS / STUDIO X rys von James M. Cain und Raymond Feuer in Malibu (1993): Die bösen Geister und die üblen Träume Chandler, die Thriller „Double Indemnity“ Und doch existiert, oder „The Big Sleep“ diesseits des Wahns und oder „The Blue Dahlia“, der Illusionen, ein wirkli- die alle von den Sünden, ches Los Angeles mit den bösen Geistern und materiellen Machtstruk- den üblen Träumen die- turen. Der Unterschied ser Stadt erzählten, de- zu anderen, altmodi- mentierten nicht das schen Städten, wie Mike Bild: Sie gaben ihm mehr Davis ihn beschreibt, be- Tiefe, mehr Schärfe und steht darin, daß die Bil- Schattierung; sie fügten der und die Träume nicht zum eher ländlichen Ausdruck dieser Herr- Idyll die urbanen Ele- schaft sind, sondern de- mente – und machten ren eigentliches Terrain. Los Angeles auch für Was aus denen wird, Großstädter attraktiv. die niemals mitträumen

Und jene, die in dieser A. F. P. durften, das hat Davis Stadt längst leben, sind Randalierende Angelenos (1992): Kriege sind möglich hartnäckig recherchiert – trotzdem in der Wirk- und wer will, kann sein lichkeit nicht angekom- Buch auch als Protokoll men: Von oben her be- der kalifornischen Klas- trachtet, von den Hügeln senkämpfe lesen: Die der besseren Wohnge- Gründer der Boomtown biete, gleicht das Stra- hatten einen Haß auf alle ßennetz im Tal auch heu- Linken und Gewerk- te mehr dem Stadtplan schaftler, und ihre Nach- seiner selbst als einer folger sind der Tradition realen Häuserlandschaft immer treu geblieben. – nur daß die Straßenli- Die Bewohner des ari- nien sich im Unendlichen schen Utopia wollten verlieren: Es gibt nichts nichts wissen von soziali- jenseits von Los Ange- stischen Utopisten, de- les. ren Experimente in der Die Mexikaner, in den Mojave-Wüste buchstäb- ärmeren Vierteln, leug- lich versandeten. Und nen die Undurchlässig- Louis B. Mayer, der

keit der Mauern und ma- E. SANDER / GAMMA LIAISON / STUDIO X als Chef des Metro- len die Welt, in der sie Sunset Boulevard in Beverly Hills: Luxuriöser Knast Goldwyn-Mayer-Studios wohnen wollen, auf kah- Amerikas bestbezahlter le Wände. Und die Graffiti, mit denen vom literarischen „Arroyo-Kreis“ der Manager war, wurde vom angelsächsi- schwarze Gangs ihre Reviere markie- Jahrhundertwende, der Los Angeles ins schen Establishment nicht in den Golf- ren, weisen darauf hin, daß ihre Kriege, Utopia der arischen Rasse verwandeln klub aufgenommen; denn Juden hatten allem anderslautenden Pistolenlärm wollte, über den mittelmäßigen Science- keinen Zutritt – was schon immer ty- zum Trotz, auch im Reich der Zeichen fiction-Schreiber und Esoteriker L. Ron pisch war für diese Stadt. toben. Hubbard, der zum Stifter der Scientolo- Das Neubauviertel auf dem Bunker Eine ganze Stadt im Irrealis – kein gy-Sekte wurde, bis hin zu irren Mör- Hill, wo japanisches, europäisches und Wunder, daß die Spinner und Sektierer dern wie Charles Manson, der sich auch Ostküsten-Kapital einen Wolkenkratzer sich hier schon immer heimisch fühlten: für eine Art von Messias hielt. neben den anderen türmt, ist als Zita-

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GESELLSCHAFT

delle angelegt, mit mächtigen physi- es ihm nicht, die Unterdrücker genau zu bezahlte Arbeitsplätze gab. Und weil schen und psychologischen Barrieren benennen. Denn die Macht in Los An- das nicht gelungen ist, weil die Träume wider die Penner und anderes Gesindel. geles hatte, wie die Topographie der populärer, die Legenden bunter und Und Mike Davis findet es nur konse- Stadt, niemals ein Zentrum; sie war im- tröstlicher waren, deshalb spielen sich quent, daß eines der schönsten hohen mer chaotisch organisiert: Hier haben die Kämpfe nur noch in der Welt der Häuser als Luxusgefängnis für Drogen- sich Hausbesitzer gegen die Spekulan- Fiktionen ab. barone dient – den Herren geht es nicht ten zu „Sowjets“ zusammengeschlossen; Die Unruhen und Plünderungen im viel schlechter als den Bewohnern von hier haben Rechte für langsames Frühjahr 1992 beispielsweise hatten ma- Bel Air und Beverly Hills, die sich sel- Wachstum und Linke für rauchende terielle Not als Ursache, und die Män- ber unter Arrest gestellt haben. Schlote gekämpft, und seit sich die Wirt- ner, die bei den Straßenkämpfen star- Zu jener Zeit, da in Berlin die Mauer schaft dieser Stadt, mehr als die jeder ben, blieben tot, auch als die Fernseh- fiel, zogen die Reichen von Los Angeles anderen, zunehmend globalisiert, wer- kameras wieder ausgeschaltet wurden. immer höhere Mauern, immer dichtere den weltweite ökonomische Konflikte Aber daß den Schwarzen von Los Ange- Stacheldrahtzäune um ihre gepflegten zum Gegenstand der kommunalen Poli- les ein bißchen mehr davon blieb als ab- Siedlungen, die nun gegen jede Belage- tik: Hier streiten japanische gegen ame- gebrannte Häuser und verwüstete rung durch Schwarze und Braune ge- rikanische Interessen, internationale Schnapsläden, das verdanken sie nicht wappnet sind. Wer in einer ärmeren Ge- Konzerne gegen das einheimische Esta- ihren Fäusten oder Fackeln. Das ver- gend bauen muß, stülpt die Architektur blishment, mexikanische Tagelöhner ge- danken sie eher jenen Hip-Hop-Musi- nach innen und zeigt der Straße ei- gen die Computer-Industrie. kern, die sich selbst als schwarzer CNN ne kahle, abweisende verstehen und den Zorn Front, wofür Frank ihrer Leute in mythi- Gehrys Goldwyn-Bi- sche Dimensionen er- bliothek das ausdrucks- hoben. vollste Beispiel ist. Und Wer die ganze Wahr- während Parks und heit über Los Angeles Plätze verdrecken und erfahren will, der kann verkommen, verlagert sich, sagt Davis, den sich der öffentliche Blick in die Geschichts- Raum in gutbewachte bücher sparen. Er wird, Shopping-Malls, deren da die Stadt vor allem Wärter jeden verscheu- eine Erfindung ist, in chen, der aussieht, als den fiktiven Storys alles sei er nicht zum Einkau- finden: in Polanskis fen gekommen. Wenn Film „Chinatown“ et- mehr als drei Leute zu- wa, der vom Kampf sammenstehen, erregen ums Wasser erzählt; in sie Verdacht – und bald John Carpenters Sci- werden sich die Angele- ence-fiction „Die Klap- nos, die sich das lei- perschlange“, der in sten können, nur noch New York spielt und im Cyberspace verabre- doch eine Zukunft

den. PHOTOFEST schildert, die in Los An- Die Viertel der Filmszene aus „Blade Runner“: Menschen, so künstlich wie ihre Stadt geles gerade verwirk- Schwarzen und Latinos licht wird: die Innen- aber, South Central oder East L.A., wo Los Angeles ist nicht bloß die Stadt, stadt als Festung und Gefängnis; oder in es kaum noch Industriearbeitsplätze und in welcher die Dritte Welt direkt an die Ridley Scotts „Blade Runner“, der das auch sonst nicht viel zu verdienen gibt, Erste grenzt; in seinen Bezirken liegen künftige L.A. beschreibt als Terrain sind sich selbst und dem Verfall überlas- Korea neben Armenien, Mexiko neben der Replikanten: künstlich hergestell- sen. Und wenn, wie im Sommer 1992, Vietnam, Louisiana neben Samoa, und ter Menschen, deren Bewußtsein ein die Verzweiflung sich in Gewalt entlädt, zwischen all diesen Stämmen sind wie- Chip voller synthetischer Erinnerungen dann spart die Stadt sich trotzdem das der Kriege möglich. Und wenn sich ei- und digitalisierter Empfindungen be- Geld für Sanierung und Infrastruktur ner von Bunker Hill ein paar Kilometer herrscht; Menschen, die endlich so ge- und spendiert lieber dem notorisch bru- nach Osten bewegt, von den High-Tech- worden sind wie die Stadt, in der sie hau- talen und rassistischen Los Angeles Po- Kommandozentralen zu den Vierteln sen. lice Department ein paar Millionen der Latinos, wo, aus Not, noch Natura- Und natürlich kann er sich „City of mehr. Manche Machtstrategen planen lienwirtschaft herrscht, wird der Weg im Quartz“ besorgen, das ein soziologisches sogar, einen geostationären Satelliten in Raum zur Reise zurück durch die Zeit. Fachbuch sein will und doch viel mehr ge- den Himmel über der Stadt zu schießen, In dieser Stadt folgt nicht die Zukunft worden ist: „Es ist mehr Cyberpunk, als der die gefährlichen Gegenden überwa- auf die Vergangenheit, die beiden exi- es irgendein Werk der Fiktion jemals sein chen und den chaotischen Perspektiven stieren vielmehr, bloß ein paar Blocks könnte“, sagt Amerikas berühmtester von Los Angeles einen Fluchtpunkt ge- weit entfernt, nebeneinander her. Nur Science-fiction-Autor William Gibson. ben soll – so wie einst absolutistische die Gegenwart ist hier nicht zu Hause. Was die Zukunft seiner Stadt angeht, Herrscher alle Straßen auf ihr Schloß Die Klassenkämpfe, von denen Davis macht sich Davis wenig Hoffnungen. Sie zulaufen ließen. erzählt, hatten als Bezugspunkt weder wird verdursten in der Wüste, ersticken Die Wiederherstellung einer hierar- Rathaus noch Bezirksverwaltung. Es an ihrem Dreck oder von der nächsten chischen Ordnung aber wird wohl nicht ging darin zuerst ums Realitätsprinzip; Sintflut ins Meer gespült. Doch das We- gelingen, und das, folgt man Mike Da- es ging darum, diese Stadt, in der es vie- sen von Los Angeles hat noch nie in des- vis, ist das Zukunftweisende an dieser len schlechtging, aus dem Reich der sen Mauern gewohnt. Es war in den Fil- Stadt: Der Mann beschreibt das Schick- Träume zurückzuholen auf den Boden, men und Büchern, die hoffentlich die Ka- sal der Unterdrückten, und doch gelingt wo es miese Wohnungen und schlecht- tastrophen überstehen werden. Y

104 DER SPIEGEL 5/1995 Werbeseite

Werbeseite Fotografie Pur und unverschämt wirken die Fotos von Wolfgang Tillmans – so, als seien sie fast im Vorbeigehen aufgenommen. Mal sind sie unscharf, mal scheint der Bildausschnitt ver- rutscht, mal wirkt der Hintergrund, als sei er voller störender Details, die vom Wesentlichen ablenken. Natürlich ist die Spontaneität nur ein kalkulierter Effekt, sind viele der Bilder gestellt; Tillmans aber treibt ihnen nicht das Leben durch eine ästhetische Über- inszenierung mit extremen Verwischun- gen oder schrägen Perspektiven aus, wie dies seit Jahren die Modefotografie ver- sucht. Tillmans’ Fotos, von denen eine Auswahl jetzt als Bildband erschienen ist, sind so lebendig, weil sie Spektaku- läres unspektakulär zeigen*. Zunächst hatte Tillmans, 26, mit Fo- tokopien experimentiert. Nach seinem Umzug von Remscheid nach Hamburg begann er, mit der Kamera für Stadtma- gazine zu arbeiten, bekam Aufträge von britischen Szene-Zeitschriften wie i-D und stellte immer wieder in Galerien aus. 1990 zog er nach England um. „Es ging mir nicht darum, ausgefalle- ne Fotos zu machen“, sagt er, „sondern darum, etwas auszudrücken“ – eine Stimmung, ein Lebensgefühl, Zustände von Rausch, von Chaos. Oder einfach zu zeigen, wie ein paar Leute ziemlich viel Spaß haben. Seine Fotos, die vom 24. März an in der Zürcher Kunsthalle (und im Sep- tember im Frankfurter Portikus) ausge- stellt werden, präsentieren daher einen Lars subjektiven, distanzlosen Blick auf das Unbemerkte und Zufällige, auf Subkul- tur und Nachtleben. „Das sind keine Dokumentationen von Jugendkultur, wie manche Kritiker behaupten“, er- klärt Tillmans, der mittlerweile in New York lebt. Seine Bilder seien die „künst- lerische Arbeit mit Menschen, die ich mag; die zum Beispiel für die Schwulen- oder Technoszene stehen und das mit ihren Klamotten zeigen“. Für die sind seine Werke am Ende auch bestimmt: Damit seine Protagoni- sten einen echten Tillmans erwerben können, verkauft der Fotograf nicht nur großformatige Abzüge als Einzelstücke, sondern, für einen Bruchteil des Preises, auch limitierte Auflagen kleinerer Grö- ßen. „Das ist für mich Demokratie“, sagt er, „Tillmans für alle.“ Y

* „Wolfgang Tillmans“. Benedikt Taschen Verlag, Alex & Alex, London, 1993 Köln; 160 Seiten; 29,95 Mark.

106 DER SPIEGEL 5/1995 GESELLSCHAFT

Alex & Lutz, Bournemouth, 1992

Suzanne & Lutz, Bournemouth, 1993

Julia, Hamburg, 1991 Remscheid, 1991 Tillmans-Bilder: „Es geht mir nicht darum, ausgefallene Fotos zu machen, sondern darum, etwas auszudrücken“

DER SPIEGEL 5/1995 107 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

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GESELLSCHAFT

Fernsehen Schöne Kinder ARD und ZDF verlieren junge Zu- schauer, die Privaten sahnen ab: Ums Kinderzimmer ist eine Schlacht der Medienmultis entbrannt.

er zu spät kommt, den bestraft das Leben. Und das ist, meint WSiegmund Grewenig, 41, Leiter des Kinderfernsehens beim WDR, nicht

nur bei den Erwachsenen so. „Wir kön- THOMAS + THOMAS nen nicht noch zwei Jahre warten“, Pro-Sieben-Kindersendung „Familie Feuerstein“: „Hart umkämpfter Markt“ warnt er, „sonst läuft uns die kommer- zielle Konkurrenz davon.“ ben) oder Lucky Luke (RTL) ausstrah- beim WDR, die zusammen mit RTV Den TV-Mann treibt um, daß die öf- len oder ihre Kinder-Klubs Bim Bam den Käpt’n Blaubär Club und andere fentlich-rechtlichen Sender, verpflichtet Bino (Kabel 1) und Vampy (RTL 2) öff- Kindersendungen produzieren, debat- zur Fernsehgrundversorgung der gesam- nen, haben die Öffentlich-Rechtlichen tieren intern über ein Engagement beim ten Bevölkerung, bei vielen der jüngsten das Nachsehen. „Uns fehlen einfach die Privatsender Nickelodeon. „Wir beob- Zuschauer mittlerweile als Langweiler Sendeflächen“, klagt Grewenig. achten die Entwicklung in der Medien- verschrien sind. Am liebsten würde Und neue starke Konkurrenz steht landschaft sehr aufmerksam“, sagt Ste- Grewenig eine eigene Station für die schon vor der Tür. Der US-Medienriese phan Piltz vom WDR vieldeutig. Bei Kleinen gründen. Viacom, dem der Pop-Sender MTV, das den Kontrolleuren sondierte RTV be- Denn sofern Einschaltquoten nach Filmstudio Paramount und der Video- reits vorsichtig das Terrain – mit Erfolg. den jüngsten Statistikpleiten überhaupt Riese Blockbuster gehören, will in Die nordrhein-westfälische Medien- noch taugen, muß den Anstaltsleitern Deutschland einen Ableger seines Kin- anstalt, wo der Lizenzantrag für Nickel- bei ARD und ZDF Hören und Sehen derkanals Nickelodeon pflanzen. Ge- odeon liegt, will eine Allianz von WDR vergehen. Scharenweise haben die Kids planter Start: spätestens Ende des Jah- und Viacom fördern. Dies sei, so Direk- ihre Programme abgeschaltet: Fast drei res. tor Norbert Schneider, die „Konstrukti- Viertel des TV-Konsums, so die Markt- An dem Projekt beteiligt sich, Alarm on der Zukunft, öffentlich-rechtliches anteile im vierten Quartal 1994, widmen für ARD und ZDF, einer der führenden Qualitäts- und kommerzielles Marktbe- die 6 bis 13 Jahre alten Zuschauer den Kinderspezialisten der Bundesrepublik: wußtsein zusammenzubringen“. Schnei- Kommerzfunkern. der schwäbische Spielehersteller Ra- der: „Aus dieser Ehe können nur schö- Wenn die Privaten stundenlang Trick- vensburger AG (rund 400 Millionen ne und kluge Kinder entstehen.“ serien wie Familie Feuerstein (Pro Sie- Mark Umsatz, 1500 Beschäftigte). Gut Für die altehrwürdigen öffentlich- ein Dutzend Kinderserien rechtlichen Anstalten wäre ein solcher der Tochtergesellschaft Pakt möglicherweise die letzte Chance, Ravensburger Film + TV den Nachwuchs künftig überhaupt noch GmbH (RTV) flimmern zu erreichen. Selbst neue Bemühungen derzeit oder in naher mit den speziellen Jugendsendungen Zukunft über die Schir- Logo und X-Base beim ZDF fruchteten me, darunter „Urmel aus nicht: Die Shows ziehen eher die älteren dem Eis“. RTV beteiligt Zuschauer an, weil das Programmum- sich mit zehn Prozent an feld nicht stimmt. dem Viacom-Projekt. Ih- Nur an den Wochenenden, wenn sich re Sendungen wollen der Kobold Pumuckl oder Disneys die Ravensburger künftig Mickymaus in der ARD kurz hinterein- auch an den Nickelode- ander auf dem Bildschirm tummeln, on-Kanal liefern. „halten wir bei den Marktanteilen mit“, RTV-Geschäftsführer so Grewenig. Kinderfernsehen sei halt Peter Hille und Viacom- ein „hart umkämpfter Markt“, sagt Manager Jeffrey Dunn Wolfgang Fischer, Berater der RTL- sehen ein gemeinsames Muttergesellschaft Compagnie Luxem- Ziel: „Wir sind gegen bourgeoise de Te´le´diffusion. jede Gewaltverherrli- Die Spielzeugindustrie und andere chung.“ Branchen rennen den Privatsendern mit Womöglich werden die Werbespots die Türen ein: Die „Be-

WDR beiden Partner noch un- gehrlichkeit“ (Fischer) der kleinen Zu- ARD-Kindersendung „Käpt’n Blaubär“ erwarteten Zuwachs er- schauer für Barbie-Puppen oder McDo- „Uns fehlen die Sendeflächen“ halten: Fernsehmanager nald’s Fast food ist groß. Hinzu kommt

110 DER SPIEGEL 5/1995 der Handel mit Begleitprodukten wie haben, sollen die Öffentlich-Rechtli- Tatsächlich hatte der Telefoncompu- Figuren, Videos und CDs. chen, meinen viele TV-Manager, lieber ter Ferngespräche registriert, die von ih- Das ist erst der Anfang des Booms. rasch Kompromisse schließen. rem Apparat – nicht aber, so sagt sie, Die CLT und der US-Medienmulti Dis- WDR-Grewenig empfiehlt deshalb von ihr – geführt worden waren. „Ich ney, einer der größten Vergnügungs- die Kooperation mit Viacoms Kanal geriet in Panik. Wie sollte ich meine Un- konzerne, präsentieren demnächst Su- Nickelodeon, der auf billige Action-Se- schuld beweisen?“ berichtet sie. Gön- per RTL. Ein Werbeagenturchef und rien verzichtet und der Vermischung nerhaft bot der Chef ihr an, selbst zu ein Ex-Manager des Münchner Film- von Werbung und Programm wehren kündigen, damit sei „die dumme Sache und Fernsehgrossisten Leo Kirch planen will. Grewenig: „Das ist noch die öffent- vergessen“. Die Sekretärin unter- ein weiteres Objekt („Fun-TV“). Und lich-rechtlichste aller privaten Lösun- schrieb. Kirch selbst drängt auf den Start des gen.“ Y „Nur in der Arbeit wohnt der Frie- Kinderkanals Premiere 2, wie Mitarbei- den“, schrieb einst Theodor Fontane – ter referieren. für den gewöhnlichen Werktätigen Kirchs Vorratslager für den geplanten Arbeit schon bislang oft ein frommer Wunsch. Pay-TV-Sender ist mit Lizenzware In Zeiten, in denen „verschlankte“ Per- („Biene Maja“) gut gefüllt. Für Kinder- sonalstände ins Schlingern geratene Un- sendungen hat Kirch ein eigenes Label ternehmen und den Standort Deutsch- („Junior“), für das in seinen Sendern Dumme land sichern helfen sollen, scheint es, als heftig geworben wird. Die Videos mit werde in Büros und Verwaltungen nun Pippi Langstrumpf und anderen Kinder- mit neuem Ingrimm gekämpft. helden sind in jedem Kaufhaus zu ha- Sache Das Hinausgraulen von kaum Künd- ben. baren, um Arbeitsgerichtsprozesse und Kirchs Premiere-Mitgesellschafter, Moderne Rationalisierung: Chefs Abfindungen zu umgehen, gilt als modi- der deutsche Medienkonzern Bertels- ekeln unliebsame Mitarbeiter per scher Management-Kniff – eine Art mann und vor allem der französische Chef-Mobbing reiße da ein, befand der Sender Canal Plus, zögern jedoch mit „Bossing“ raus – und sparen so die Rheinische Merkur, „richtig müßte es ei- dem Start eines Kinderkanals (geplanter Abfindung. gentlich ,Bossing‘ heißen“. Monatspreis: 20 Mark), obwohl sie Zwar sind die Bossing-Strategien nur längst eine Lizenz haben. Sie fürchten, schwer von bewährten Methoden der ebenso wie Premiere-Geschäftsführer ie war sich keiner Schuld bewußt. Mitarbeiter-Vergrätzung zu unterschei- Bernd Kundrun, das finanzielle Risiko. Fleißig, pünktlich und „immer da, den, aber sie häufen sich: Mehr als eine Falls zu viele Konkurrenzprogramme, Swenn jemand brüllte“, sei sie gewe- Viertelmillion Arbeitnehmer würden in die wie Super RTL kostenlos zu sehen sen, sagte Sabine H., Sekretärin in ei- der Bundesrepublik jährlich von ihren sind, um die gleiche Zielgruppe rangeln, nem Berliner Verlag. Trotzdem wurde Vorgesetzten mit Psychoterror und will Kundrun verzichten. Der Leiter des sie – „wegen Umstrukturierungen“ – Schikanen getriezt, will der schwedische Kinderprogramms hat das Haus ohne- versetzt; und plötzlich schwanden ihre Mobbing-Forscher Heinz Leymann er- hin verlassen. Kundrun: „Wenn zwei Aufgaben von Woche zu Woche. mittelt haben. 37 Prozent aller Büro- werbefinanzierte Kinderkanäle im „Nichts mehr mit Managerin im Vor- Quälereien fänden demnach „von oben Herbst kommen, muß man sich schon zimmer – zuerst war ich nur noch Tipp- nach unten“ statt – meist, damit die Un- sehr überlegen, ob man gleichzeitig ei- se, dann hatte ich gar nichts mehr zu tergebenen freiwillig ihren Arbeitsplatz nen weiteren als Pay-Programm lancie- tun.“ Sabine H., nach 14 Jahren schwer räumen. ren will.“ kündbar, wurde aufgefordert, sich nach „Derzeit grassiert Bossing geradezu“, Die Beschaffung zusätzlicher Serien einem neuen Arbeitsplatz umzusehen. behauptet die Berliner Diplom-Psycho- und Videos, sofern nicht von Kirch, be- Und weil sie nicht freiwillig gehen woll- login Rita Elisabeth Metzner vom Lan- reitet ohnehin Probleme. Die ARD will te, hieß es plötzlich, sie sei faul und füh- desbildungswerk der DAG Berlin-Bran- ihre Produktionen nicht verkaufen. Und re unerlaubt Privatgespräche. denburg. Vor allem in den neuen Bun- die Ravensburger entschieden sich lie- ber für Nickelodeon. „Dort können wir mitgestalten“, sagt RTV-Chef Hille. Im übrigen sei ein Kinderkanal im Monats- Abo über „viele, viele Jahre“ hinweg unwirtschaftlich. Durch die öffentlich-rechtlichen An- stalten geistern derzeit viele Ideen, wie die Attacken der Privaten abgewendet werden könnten. Doch ein Gesamtkon- zept fehlt. Nach dem Vorbild des ZDF plant nun auch der Bayerische Rund- funk eine Nachrichtensendung für Kin- der. Der WDR will den Klassiker „Sendung mit der Maus“ um einen „Club der Mäuse“ erweitern. NDR-Intendant Plog streitet für ei- nen eigenen Kinderkanal, notfalls als Pay-TV. Kosten: 80 bis 120 Millionen Mark im Jahr. Bei ihrer Tagung diese Woche in Saarbrücken wollen die Inten- danten über solche Pläne beraten. Bevor alles zu spät ist und die Priva- ten endgültig die Kinderzimmer erobert „20 Blatt, Herr Köber! Das ist Veruntreuung von Firmeneigentum!“

DER SPIEGEL 5/1995 111 . H. P. STIEBING / ZENIT Berliner Psychologin Metzner: „Regelrechte Rausekel-Programme“ im Osten

desländern gebe es „regelrechte Raus- ßen geforscht. Die gibt’s fast überall. ekel-Programme“, mit denen Wessi- Kleine Fehltritte, in guten Zeiten ge- Chefs übergroße Ossi-Belegschaften ab- duldet, kosten in schlechten Zeiten bauten. den Job. Da ist der Versicherungsvertreter aus i Alte Spesenabrechnungen – ein paar Brandenburg, der darüber klagt, daß er Kilometer zu viel aufgeschrieben, „plötzlich nur noch abgegraste Bezirke weil man sich ja mal verfahren kann zugeteilt bekam“ – resigniert willigte er – sind im nachhinein Belege für Be- in seine Entlassung ein. trug, also ein Kündigungsgrund. Da erfuhr eine Verkäuferin im sauer- i Krankmelden mit Formfehler – nor- ländischen Plettenberg, sie habe ihren malerweise kein Problem, wenn der Chefs nichts zu sagen, sie komme schließ- gelbe Zettel erst am dritten Krank- lich aus der DDR. Irgendwann war ihr heitstag vorliegt – ist für Entsor- Lagerschlüssel verschwunden, für die gungskandidaten ein Grund zur Ab- „grob fahrlässige Handlung“ gab’s eine mahnung. Abmahnung. Die Frau fühlte sich „regel- i Zu spät kommen, zu früh gehen, zu recht schikaniert“ – und suchte sich eine lange Mittagspause machen – um neue Stelle. der Kreativität willen sonst erlaubt – Viele andere tun sich mit dem Wechsel gilt plötzlich als Faulheit. zum neuen Job schwerer, was den Kampf um den Arbeitsplatz verschärft. Die Zahl der Klagen vor deutschen Arbeitsgerich- Ist der Krach erst da, ten hat sich in jüngster Zeit deutlich er- zeigen sich beide Seiten höht: 1993 stieg in Niedersachsen, Hes- sen und Bayern die Zahl der Prozesse um meist wenig zimperlich bis zu 20 Prozent an. Bundesweit wurden 478 000 Verfahren angestrengt (im Vor- So feuerte die Siemens AG in Mün- jahr waren es noch 402 000). In rund der chen mehrere mittlere Manager frist- Hälfte der Fälle ging es um Kündigungs- los, weil sie angeblich mit falschen schutz, wie das Bundesministerium für Zeitabrechnungen betrogen hatten. Arbeit und Sozialforschung konstatiert. Ihr Zuspätkommen hatten die Ge- Die Bossing-Methoden reichen vom kündigten mit der Taste „komme Betrugsvorwurf bis zum „sozialen Lyn- dienstlich“ (kd) protokolliert, was chen“ – dabei wird der Betreffende so heißt: Kundenbesuch, Außentermine, lange als unfähig dargestellt, bis er den Heimarbeit. Korrekterweise hätten sie Druck nicht mehr erträgt. sich jedesmal eine Erlaubnis holen Andere Firmen betreiben eine „darwi- müssen; doch der verbreitete Brauch nistische Auslese“, beobachtet Psycholo- war es, das nicht zu tun – mit verhäng- gin Metzner. „Da werden ganzen Abtei- nisvollen Folgen. lungen unerfüllbare Leistungen abver- Auffällig dabei: Alle Betroffenen langt. Was dazu führt, daß die Leute sich waren über 50 Jahre alt, lange bei Sie- gegenseitig rausbeißen, und der Boß mens und bis dahin vorbildlich, also muß sich nicht mal die Hände schmutzig fast nicht kündbar. Doch angeknackst machen.“ Die Schwächsten gehen von al- vom Betrugsvorwurf, gaben die mei- leine. sten widerstandslos auf. Zeigt sich der oder die zu Entlassende Resultat: Mit der „Zeit-Bombe“ widerspenstig, wird nach Regelverstö- (Manager Magazin) war der Konzern

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GESELLSCHAFT

gleich einen ganzen Haufen teurer Betriebsleiter vor: „Wenn Sie nicht ge- Recht auf Kündigung samt Abfindung Leute billig los. Selbstverständlich be- hen wollen, können Sie von jetzt an in ab. Die Arbeitgeberin beeindruckte harrt man bei Siemens darauf, die ver- sämtlichen Filialen nach dem Rechten das nicht. meintlichen Betrüger hätten ihre Bosse sehen.“ Der derart Drangsalierte Der Hausmeister drohte zunächst: „menschlich unheimlich enttäuscht“. „hatte keine Lust, dämlich durch die „Wenn Sie mich nicht entlassen und Andere Chefs arbeiten subtiler: Un- Gegend zu gammeln“ – und ließ sich zahlen, dann werde ich kriminell und tergebene werden durch den Verlust vorzeitig pensionieren. ziehe Sie da mit rein“. Als das nicht von Statussymbolen (Dienstwagen, Ist der Krach erst da, gehen beide wirkte, schoß er mit einem Gasrevol- Mobiltelefon, Spesenkonto) abgestraft Seiten meist wenig zimperlich mit- ver auf seine Chefin. Das Arbeitsver- oder auf sinnlose Dauer-Reisen ge- einander um. Ein Münchner Haus- hältnis endete natürlich ohne Abfin- schickt; so schlug der Geschäftsführer meister etwa wähnte sich als „Bossing- dung – mit einer Anklage wegen ver- eines Münchner Unternehmens seinem Opfer“ – und leitete daraus ein suchten Totschlags. Y

Feiertage muß das Innenministerium dieUnter- inzwischen von Teufel ab. Denn im schriften prüfen. Frühjahr nächsten Jahres steht die Haben die Bürokraten keine Ein- Wahl des neuen Stuttgarter Land- wände, werden in den Gemeindeäm- tags an. Ohr am Volk tern und Rathäusern demnächst Li- Die baden-württembergischen sten ausliegen, in die sich nicht nur CDU-Abgeordneten im Bundestag Die Baden-Württemberger wollen Kirmesfreunde eintragen. sannen schon mal vorsorglich dar- ihren Pfingstmontag wiederha- Sportvereine, Jugendgruppen und über nach, wie die Union das Familienverbände wollen auf Turnie- Volksbegehren für eigene Zwecke ben. re, Zeltlager und besinnliche Pfingst- „instrumentalisieren“ könne, so Ot- treffen nicht verzichten, Hoteliers to Hauser, Chef der Landesgruppe enn Walter Weitmann an das und Gastwirte um Ausflugsgäste und in Bonn. Ein Vorschlag: Die Bür- nächste Pfingstfest denkt, er- Wochenendurlauber kämpfen. ger sollen selbst Feiertage, die ge- Wgreift ihn schon jetzt heiliger Das Volk will seinen freien Pfingst- strichen werden könnten, auswäh- Zorn. Der Präsident des Verbandes tag wiederhaben und lieber, wie die len. der Schausteller und Marktkaufleute meisten Deutschen, außer in Sach- Der frühere Stuttgarter Innenmi- in Baden-Württemberg beschwört sen, auf den tristen evangelischen nister und jetzige CDU-Bundes- nicht nur eine Spaltung der Nation in Buß- und Bettag im November ver- tagsabgeordnete Dietmar Schlee festlich feiernde Deutsche ringsum zichten. forderte den Ministerpräsidenten und schuftende Werktätige im eige- Selbst die Arbeitge- öffentlich auf, „den nen Ländle. Mehr noch fürchtet der ber, denen allein der Feiertagsirrweg“ zu Schwabe für sich und die Seinen ums neue Arbeitstag nützt, verlassen und den Geld. sind sauer: Da der Fehler „anständig und Der Pfingstmontag war bislang in Pfingstmontag auch aufrecht“ zu korrigie- Baden-Württemberg vielerorts Kir- künftig schulfrei sein ren. Teufels Ver- mestag und wegen des meist schönen soll und Arbeitneh- kehrsminister Her- Wetters eine lukrative Einnahme- mern an diesem Tag, mann Schaufler, auch quelle für das Schausteller-Gewer- wenn sie es wünschen, Präsident des Landes- be. Urlaub zusteht, fürch- fremdenverkehrsver- Doch 1995 sollen die Süddeut- tet die Industrie Chaos bandes, setzte noch schen an diesem Tag arbeiten: Als und Einbußen bei der eins drauf: Er werde einziges Bundesland hat Baden- Produktion. das Volksbegehren Württemberg den Pfingstmontag ab- Dabei wollte der An- unterstützen, ließ er

geschafft, um die Pflegeversicherung stifter des Unheils, der STOPPEL + KLINK seine Wähler wissen. zu finanzieren. streng katholische Mi- Teufel Spaß am CDU-in- Um den Feiertag im Frühling doch nisterpräsident Erwin ternen Streit haben noch zu retten, hat Weitmanns Ver- Teufel, eigentlich nur den Protestan- die Sozialdemokraten. Sie wollten band, der das ambulante Gewerbe, ten etwas Gutes tun. Er schlug den ursprünglich auch in Baden-Würt- Schiffschaukelbetreiber und fliegen- Pfingstmontag als Opfer an die Pfle- temberg im Interesse einer bundes- de Händler vertritt, zu einem Volks- geversicherung vor, damit die Evan- einheitlichen Regelung den Buß- begehren aufgerufen. Bekommen gelischen „ihren einzigen spezifi- und Bettag opfern, drangen beim die Initiatoren rund 1,2 Millionen schen Feiertag“ (Teufel) im Jahr Koalitionspartner CDU damit aber Unterschriften zusammen, muß das nicht verlieren. nicht durch. In der Abstimmung Landesparlament über das im ver- Doch nicht einmal die Oberhirten enthielten sie sich schließlich. gangenen November erlassene Fei- danken es Teufel. Die Kirchen seien Die passende Mahnung an Teu- ertagsgesetz neu beraten. gegen jede Feiertagsstreichung, ver- fel zur Umkehr fand SPD-Lan- Die Aussichten stehen gut. Auf kündete der Landesbischof und deschef Ulrich Maurer in der Märkten und Volksfesten haben die Ratsvorsitzende der Evangelischen Bibel, beim Evangelisten Lukas, Schausteller in den letzten Wochen Kirche Deutschlands, Klaus Engel- Kapitel 15, Vers 7: „Der Herr bereits 30 000 Unterschriften gesam- hardt. freut sich über einen reuigen Sün- melt. Das langt längst, um ein Auch viele CDU-Politiker setzen der allemal mehr als über 99 Ge- Volksbegehren zu beantragen. Nun sich – das Ohr dicht am Volk – rechte.“

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AUSLAND

Israel SEHNSUCHT NACH TRENNUNG Apartheid in Palästina: Nach dem jüngsten Terroranschlag will Israel sich mit strikter Abschottung vor Attentaten islamischer Fundamentalisten schützen. Doch die geplante Befestigung – ein Eiserner Vorhang im Heiligen Land – schafft neue Konflikte. Die jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten fühlen sich ausgegrenzt.

er elektronisch gesicherte Zaun tag bei Netanja nördlich von Tel Aviv, Trennungszaun zu entwickeln. Ge- verläuft durch Täler und über die 19 Israelis das Leben kostete, ver- schätzte Bauzeit: acht Monate; die Ko- DBerggipfel, Videokameras über- kündete der Premier noch am blutbesu- sten werden mindestens 350 Millionen wachen unübersichtliche Stellen. Bei delten Tatort: „Es geht nicht anders, wir Mark betragen, die Gehälter für 2000 Tageslicht fliegen Helikopter das weit- brauchen die Trennung.“ zusätzliche Wächter nicht gerechnet. läufige Gebiet ab, in der Dunkelheit Künftig soll kein Palästinenser mehr Der Abgrenzungsplan entspricht dem streifen Hundestaffeln und Soldaten mit aus dem Gazastreifen oder dem West- Verlangen der terrorgepeinigten israeli- Nachtsichtgeräten durch das Gelände – jordanland unkontrolliert nach Israel schen Bevölkerung. Aber er bedeutet Kontrolle total. eindringen können. Seit der historischen auch das Ende einer Hoffnung. 16 Mo- Keine Szene aus Nordkorea oder vom Begegnung zwischen Rabin und PLO- nate nach dem Handschlag zwischen Eisernen Vorhang, der bis 1989 Europa Chef Jassir Arafat im September 1993 Rabin und Arafat im Garten des Wei- teilte, sondern die Vision des israeli- fielen 123 Israelis Terroristen zum Op- ßen Hauses in Washington, in dem die schen Ministerpräsidenten Jizchak Ra- fer, die zumeist über die Grüne Linie New York Times ausgerechnet das bin, 72. Von Mehola im Norden, vorbei gekommen waren. 20 000 Palästinenser, „nahöstliche Äquivalent zum Fall der an Jerusalem bis hinunter nach En Gedi schätzt die Regierung, stehlen sich täg- Berliner Mauer“ sah, kommt Rabins

palästinensische Selbstverwaltung J jüdische Siedlungen O derzeitige Grenze zum Mehola R Westjordanland Nablus D möglicher Verlauf A des Zaunes N von Israel zusätzlich Ariel I beanspruchte Gebiete E Jericho N 30 km I S Jerusalem Gazastreifen R A Kirjat Arba Totes Gaza E Hebron Meer L En Gedi Sicherheits-

REUTER zaun in Arbeit Israelischer Ministerpräsident Rabin: „Frieden bedeutet Sicherheit“

am Toten Meer im Süden will der Re- lich an den Kontrollposten der gierungschef einen aufwendigen Sicher- Armee vorbei auf israelisches von Israel vorgesehener Datenverbindung heitsstreifen durch das Heilige Land zie- Staatsgebiet, um dort als Tage- Trennungszaun zu Überwachungs- hen, eine undurchlässige Grenze, die Is- löhner zu arbeiten. zentralen raelis und Palästinenser auf ewig schei- Damit, so Rabin, soll nun den soll. Schluß sein: „Frieden bedeutet Die Demarkationslinie erscheint Ra- für Israel Sicherheit vor Ter- bin als einzige Lösung für „Israels Si- ror.“ Wenn die Juden aber kei- cherheitsproblem Nr. 1“, den Terror fa- ne Sicherheit haben im Juden- natischer Friedensgegner, die bei ihren staat, wäre der Zionismus ge- blutigen Kamikaze-Aktionen auch das scheitert. eigene Leben opfern. Erschüttert über den An- Nach der Bombenattacke der beiden schlag, beauftragte der Premier „Märtyrer“ der Terrororganisation Isla- eine Kommission, Pläne für ei- Sensoren mischer Dschihad am vorletzten Sonn- nen etwa 380 Kilometer langen

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verlorene Inseln im künftigen Palä- stinensergebiet liegen; eigene Zu- fahrtstraßen, die selbst wiederum eingezäunt werden müßten, sollen die Anbindung an Israel sichern. „50 Jahre nach Auschwitz will Ra- bin 140 000 Juden in Ghettos stek- ken“, wetterte Amnon Domb, Sprecher des von Orthodoxen und Rechten beherrschten jüdischen Siedlerrates. Er sah sich schon als Opferlamm: „Ist das Blut der Sied- ler etwa weniger rot als das anderer Juden?“ Der Zaun bedeutet auch das En- de aller Sehnsüchte nach jenem Erez Israel, dem großen jüdischen Staat, der nach den Plänen der Na- tionalisten vom Mittelmeer bis zum Jordan reichen sollte. Bei den Palästinensern stößt der Plan gleichfalls auf Widerstand. Sie können nicht hinnehmen, daß ein künftiges jüdisches „Groß-Jerusa- lem“ tief in ihren Staat hinein- reicht. Gefallen finden Arafat und seine Berater nur an einer Folge des Ra- bin-Projekts: Die Terroristensper- re bekäme unweigerlich den Cha- rakter einer internationalen Gren- ze zwischen zwei unabhängigen

REUTER Staaten. Die Idee der Abschot- Bombenanschlag in Netanja: „Gute Zäune schaffen gute Nachbarn“ tung, hofft deshalb der PLO-Chef und selbsternannte Präsident Palä- Entwurf einer Kapitulation vor dem zentig unmöglich“, warnen Militärex- stinas, könnte die Entstehung seines ei- Geist der Gewalt gleich: Zerstoben schei- perten vor allzu großem Vertrauen in genen Staates beschleunigen – den Ra- nen alle Träume eines friedlichen jüdisch- die Abschottungspolitik. bin bisher noch strikt ablehnt. palästinensischen Zusammenlebens. Zudem schürt der künftige Verlauf „Wenn die Juden für sich leben wol- Selbst Israels Außenminister Schimon der Barriere die Wut der Extremisten len, so ist das ihr gutes Recht“, kom- Peres, Architekt der Aussöhnung, der im jüdischen wie im palästinensischen mentierte Arafat-Sprecher Marwan Ka- von einem „gemeinsamen Wirtschafts- Lager. Zwar soll der Rabin-Limes nach rafani das israelische Abgrenzungsbe- raum Nahost“ schwärmte, schwenkte Vorstellungen des Premiers „keinesfalls dürfnis. Die Palästinenser hätten nicht vergangene Woche auf Apartheidkurs endgültigen Charakter“ bekommen, die Absicht, die Juden „zu Zusammen- um. Sein Stellvertreter Jossi Beilin be- aber zwangsläufig steckt er die voraus- arbeit und Koexistenz mit dem palästi- kräftigte: „Es gibteine Sehnsuchtnach ei- sichtlichen Grenzen eines künftigen Pa- nensischen Volk“ zu zwingen. ner Trennungslinie zwischen unseren bei- lästina ab. Für den früheren General- Sogar die radikale islamische Wider- den Völkern.“ Und: „Gute Zäune schaf- stabschef steht dabei fest, daß sich die standsbewegung Hamas, die Israels Exi- fen gute Nachbarn.“ Israelis nicht auf ihr Territorium vor Be- stenzrecht immer noch nicht anerkennt, Haben die islamischen Extremisten ginn des siegreichen Sechstagekriegs sagte ihre „volle Unterstützung“ zu – al- den Elendsstreifen Gaza und das West- von 1967 zurückziehen werden. lerdings nur unter zwei Bedingungen: jordanland damit endgültig ins Ghetto Rund zehn Prozent des noch weitge- vollständige Räumung aller Siedlungen gebombt? Oder sucht der angeschlagene hend besetzten Westjordanlandes sollen und Anerkennung des Staates Palästina. Rabin mit seiner populistischen Idee nur für immer zu Israel gehören, jüdische Beide Forderungen sind für Rabin auf die erregte israelische Öffentlichkeit zu Siedlungen dicht am alten Kerngebiet absehbare Zeit nicht erfüllbar. beruhigen? würden annektiert. Ein Korridor zum Mitte vergangener Woche ließ der Selbst eine strikte Trennung schützt Jordan, der die Siedlungen in der Regi- Premier erst einmal auf Druck der rech- nicht unbedingt vor Terror. Die streng on Ariel mit ihren 33 000 Bewohnern ten Opposition weitere Siedlungen billi- bewachte und befestigte Grenze zum Li- mit einbezieht, soll quer durch den Nor- gen. Das Kabinett entschied den Neu- banon im Norden hat das Eindringen von den des Westjordanlandes gezogen wer- bau von 3000 Wohneinheiten rund um Guerilla-Kämpfern ebensowenig verhin- den. Jerusalem – für Arafat eine Provokation dern können wie der Zaun, den die Ar- Der Zaun würde nicht nur Palästinen- (siehe Seite 117). Zugleich bereitete Ra- mee bereits um das autonome Palästinen- ser aussperren, sondern auch Siedler bin die Siedler im Westjordanland scho- ser-Gebiet in Gaza gezogen hat. Und isolieren – ohnehin schon erbitterte nend auf einen Rückzug ins israelische auch unter den 900 000 Arabern, die als Gegner von Rabins Friedenskurs. Die Kernland vor: Staatsbürger in Israel leben, ließen sich Juden müßten in ihren abgeschnittenen Ein Trennungszaun, wie immer er wohl Rekruten für den Krieg der Funda- Wohngebieten wie in Wagenburgen le- aussehe, erklärte der Premier, bedeute mentalisten finden. ben. für jüdische Siedler in dicht besiedelten „Die hundertprozentige Sicherung“ ei- Zitadellen militanter jüdischer Siedler arabischen Landstrichen in jedem Fall ner Demarkationslinie sei „hundertpro- wie Kirjat Arba oder Efrat würden wie „ein Ende der Vermischung“.

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AUSLAND

Palästinenser „Märtyrer sterben nicht“ SPIEGEL-Redakteur Jürgen Hogrefe über den Todeskult der Terrorbewegung Islamischer Dschihad

ein Mensch fährt nach Schadscha- ja, wenn er nicht unbedingt muß. KDas schlammige Viertel am Stadt- rand von Gaza ist noch trostloser als der Rest der zerlumpten Stadt. Doch heute scheint jeder nach Schadschaja zu wol- len. Wo die Menge sich am dichtesten drängt, flattern hoch über den Köpfen Wimpelreihen in den Farben Palästinas: Schwarz-Weiß-Grün-Rot. Aus schep- pernden Lautsprechern dröhnt Musik, der Platz hängt voller Transparente. Schadschaja feiert ein Freudenfest – den Tod von Anwar Mohammed Sukkar. Gestern noch war der 23jährige ein Namenloser, heute ist er ein Märtyrer, beneidet und geliebt. Gestern hat sich Anwar Sprengstoff um den Bauch ge- bunden und – gemeinsam mit einem Kampfgenossen – an einer Straßenkreu-

zung bei Netanja 19 Israelis in den Tod FOTOS: J. FAIA gerissen. Heute ziert sein Porträt, auf Vater Sukkar (mit dem Bild seines toten Sohnes): „Er haßte die Juden“ ein großes weißes Laken gemalt, die Vorderseite des Elternhauses. ster, und ihm sagen, wie stolz er sein Umwege ins Paradies, wo sie das schön- Sein Vater Mohammed, 49, weiß im- muß, Vater eines Märtyrers zu sein. ste Leben haben, das man sich denken mer noch nicht, wie ihm zumute sein „Was Anwar gemacht hat, richtete kann.“ soll. Als er die Nachricht vom selbst- sich gegen die Feinde, es war Gottes Anwars älteste Schwester fand mor- mörderischen Attentat seines Sohnes er- Wille“, tröstet ihn ein Nachbar. Auch gens einen Brief ihres Bruders unter fuhr, fiel er in Ohnmacht. Wenn man Scheich Abdallah Schami hat ihn be- dem Kopfkissen. „Ich werde Vergeltung ihn allein ließe, würde er auch jetzt lie- sucht. „Märtyrer sterben nicht“, sagte üben an den Söhnen der Affen und ber weinen. Aber alle wollen ihm die der Scheich, ein Führer des Islamischen Schweine, den ungläubigen Zionisten, Hände schütteln, sogar der Bürgermei- Dschihad in Gaza, „sie kommen ohne den Feinden der Menschheit“, kündigte der Attentäter darin an. „Ich werde meine heili- gen Brüder treffen und alle Märtyrer im Para- dies. Vergib mir.“ Anwar ist ein Kind der Intifada, aufgewach- sen mit Steineschleu- dern gegen die israeli- schen Besatzer. Einmal, als er 18 war, mußte ei- ne israelische Gewehr- kugel aus seinem Bein entfernt werden. Zwei- mal nahmen die Israelis ihn fest. „Ich habe Angst um ihn gehabt“, sagt sein Vater Moham- med, „er war immer vorneweg.“ Vor drei Monaten erst erfuhr Mohammed, daß sein Sohn sich be- sonders radikalen isla- mistischen Kämpfern Trauerfeier für den Attentäter in Gaza: „19 Ungläubige auf einen Streich“ angeschlossen hatte –

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dem Islamischen Dschihad. Arafats Po- lizei, die jetzt in Gaza für Ruhe und Ordnung sorgen soll, hatte Anwar des- wegen festgenommen und warnte den Vater. „Optimist bleiben“ Die Kampfzellen des Islamischen Dschihad operieren abgeschottet von- PLO-Chef Jassir Arafat über den gefährdeten Friedensprozeß einander; auch die Familie soll kein Wort erfahren. Nach außen führen die Mudschahidin, die Todesmutigen, ein SPIEGEL: Nach dem Attentat von cherheitskräfte ihre Arbeit aufge- unauffälliges Leben. Anwar arbeitete Netanja will Israel einen Grenzzaun nommen haben, sank die Verbre- am Tag vor seiner Bluttat wie immer in um die besetzten Gebiete errichten. chensquote entscheidend – übrigens der väterlichen Tischlerwerkstatt. Wie Zugleich sollen die jüdischen Sied- eine Grundvoraussetzung für die Ab- alle in der Nachbarschaft haßte er „die lungen rund um Jerusalem ausge- haltung von freien Wahlen. Juden ganz, ganz stark“, erinnert sich baut werden. Ist der Friedensprozeß SPIEGEL: Was muß geschehen, um sein Vater – nichts Besonderes in Scha- am Ende? den festgefahrenen Friedensprozeß dschaja. Ungewöhnlich an dem Jungen Arafat: Israelis und Palästinenser ha- wieder flottzubekommen? sei nur gewesen, „daß er immer und im- ben das Recht, für sich zu leben. Arafat: Das ewige Hinausschieben mer in der Moschee gewesen ist“. Aber machen wir uns nichts vor: der Wahlen – sie sollten schon im Juli Vergebens stellte Mohammed seinen Wer jetzt noch jüdische Siedlungen 1994 stattfinden – ist verheerend für Sohn zur Rede. „Warum bist du gegen baut, kann nicht ernst genommen die Glaubwürdigkeit des gesamten werden, wenn er behauptet, Friedensprozesses. Noch setzen wir mit den Palästinensern Frie- alles daran, um rasche Lösungen für den schließen zu wollen. die wichtigsten Probleme zu finden. SPIEGEL: Ist Ihr Vertrauen in Wenn der Geist von Oslo sich nicht in die Aufrichtigkeit und den Luft auflösen soll, muß Israel seine Friedenswillen Ihrer Nobel- Friedensvereinbarungen sofort voll preis-Partner Jizchak Rabin erfüllen – ohne Wenn und Aber. Dar- und Schimon Peres erschüt- unter läuft nichts, basta. tert? SPIEGEL: Das Ergebnis könnte aber Arafat: Wir haben gewaltige ganz anders aussehen, als Sie es sich Schwierigkeiten. Israel sträubt wünschen. Hamas hat angekündigt, sich einzuhalten, was wir ver- die Wahlen boykottieren zu wollen; einbart haben. Die Verhand- die islamischen Extremisten wollen lungen sind festgefahren. verhindern, daß der Friedensprozeß SPIEGEL: Wo hakt es denn? ein demokratisches Gütesiegel er-

J. SCHICKE Arafat: Es geht vor allem um hält. PLO-Chef Arafat die Wahlen für die gesetzge- Arafat: Ich habe zuverlässige Infor- „Niemand darf ausgegrenzt werden“ bende Versammlung, den palästi- mationen, daß Hamas an den Wahlen nensischen Autonomierat, und um teilnehmen wird. Die Islam-Parteien Verhandlungen?“ fragte er. Sei nicht den vertraglich festgelegten Abzug haben sich doch auch in Jordanien genug geschossen worden? Warum er der israelischen Besatzungsarmee und in anderen arabischen Ländern nicht „wie alle in der Familie für Ara- aus palästinensischen Bevölkerungs- die Chance nicht entgehen lassen, fats Fatah“ sein könne? zentren. Außerdem warten wir im- sich dem Volk zu stellen und ihre Ver- Unruhe erfaßt die Trauergemeinde. mer noch darauf, daß uns längst treter ins Parlament zu entsenden. Zwei vermummte Gestalten gießen überfällige Machtbefugnisse in ver- SPIEGEL: Werden Sie denn wirklich Benzin auf eine israelische und eine schiedenen lebenswichtigen Berei- allen politischen Parteien erlauben, amerikanische Flagge. Die Menge chen übertragen werden. sich zu beteiligen – Kommunisten johlt, als die Flammen lodern. Flug- SPIEGEL: Aber muß sich nicht auch ebenso wie den Fundamentalisten blätter gehen hastig von Hand zu die PLO den Vorwurf gefallen las- von Hamas? Hand. „Wir werden nicht aufhören, bis sen, Israels Sicherheitsinteressen Arafat: Ja, alle politischen Parteien ganz Palästina frei ist – vom Meer bis nicht genügend berücksichtigt zu ha- müssen das Recht haben, sich dem zum Fluß“, heißt es darauf. ben? Rabin verlangt, daß Sie energi- Volk zu stellen; niemand darf ausge- Die Polizei greift nicht ein. Arafats scher gegen die religiösen Extremi- grenzt werden, auch wenn manche Is- Autonomiebeamte haben sich davon- sten der islamischen Hamas-Organi- raelis das gern hätten. gemacht, nachdem sie von Jugendli- sation und der Terrorgruppe Islami- SPIEGEL: Und was ist, wenn die israe- chen angeschrien worden waren. scher Dschihad vorgehen. lischen Truppen sich nicht alsbald aus „Sukkar ist der Mann der Männer“, Arafat: Jeder weiß, daß die palästi- den Palästinenserzentren im Westjor- riefen sie, und: „19 Ungläubige auf ei- nensischen Sicherheitsdienste fest danland zurückziehen und die von Ih- nen Streich.“ entschlossen sind, in den uns über- nen ersehnten Wahlen in weite Ferne Vom Meer bis zum Fluß, dem Jor- antworteten Autonomiegebieten, al- rücken? dan – im Gegensatz zur friedensberei- so im Gazastreifen und im Raum Je- Arafat: Ich möchte Optimist bleiben. ten PLO, die den Judenstaat aner- richo, für Recht und Ordnung zu Aber ich warne: Wenn die Versöh- kannt hat, will der Islamische Dschi- sorgen, wie uns auch US-Präsident nung zwischen Palästinensern und Is- had immer noch den „Staat der Zioni- Bill Clinton bestätigte. Im übrigen raelis scheitert, werden die negativen sten ausradieren“. Die Befreiung Palä- kann kein Land der Welt Terroran- Folgen für den gesamten Nahen stinas werde der Funke sein für die Ei- schläge mit hundertprozentiger Si- Osten und den Weltfrieden spürbar nigung der ganzen arabischen und isla- cherheit unterbinden. Seit unsere Si- sein. mischen Welt, hat „der Doktor“ ge- schrieben, wie Fathi Schakaki, der in

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AUSLAND

Damaskus lebende Chef der islamisti- schen Organisation, respektvoll von Japan seinen Anhängern genannt wird. Der Titel seines Buchs klingt wie ein Kurz- programm der Untergrundbewegung: „Chomeini – die islamische Alternative Das Erdbeben spielte und Lösung“. Bei den Jugendlichen, die in den Jahren der Intifada groß geworden sind, zündet derlei besser als Arafats russisches Roulette Aufforderung zur Geduld. Für die Kinder aus den Flüchtlingslagern sind SPIEGEL-Redakteur Tiziano Terzani über die Bewältigung des Desasters Arafat und seine PLO nichts als Büttel der Zionisten. „Marsch, Marsch auf Jerusalem“, skandieren die Trauergä- rme Japaner: Sie weinen nicht, sie eigentlich ein kleiner Luxusdampfer, ste und „Sieg, Sieg bis zum Ziel!“ Ein jammern nicht, sie verzweifeln pendelt ununterbrochen über die Bucht Poster verheißt: „Wir werden Israel er- Anicht. So sind sie erzogen. Sie von Osaka, beladen mit Menschen, die schüttern bis in die Grundfesten.“ scharren in den Trümmern, verbrennen Verwandten und Freunden Verpflegung Mohammed, der Vater des neuen ihre Toten und besichtigen mit aus- bringen. Niemand an Bord spricht über Helden von Schadschaja, ruht sich von druckslosem Gesicht ihre eingestürzten das Unglück, niemand tauscht Erlebnisse Häuser. Als fühlten sie nichts, als woll- oder leidvolle Erfahrungen aus. Als das ten sie auch im vorbeigehenden Beob- Schiff in den Hafen einläuft, starren alle „Wir haben ein Treffen achter kein Gefühl, kein Mitgefühl er- Augen auf die verlassene Mole, auf die mit dem Blut, rot wecken. verbogenen Kräne, die Container, die Kobes Einwohner haben die schlimm- wie Bauklötze eines Spielzeugkastens zu wie die sinkende Sonne“ ste Katastrophe seit dem Krieg erlebt. Hunderten auf den aufgebrochenen und Aber es fließen nur wenige Tränen, es zerklüfteten Flächen liegen. Das un- all dem Händeschütteln und Umarmen erhebt sich kein Schrei, nicht einmal ein heimliche Schweigen wird nur durchbro- aus. Er hat sich auf einen der weißen Schrei des Zorns über die verspätete chen durch die schrillen Schreie der Mö- Plastikstühle für die Trauergäste ge- und oft nutzlose Hilfe. Überall herrscht wen. setzt. Über eine Brache zwischen zwei diszipliniertes, eisiges Schweigen. Der Landgang istwieeine Reise in eine Häusern haben Nachbarn und Freunde Es ist nicht leicht, nach Kobe zu ge- andere Zeit, inder sich der Mensch seiner ein Zeltdach gespannt. An den langen. Für den Superschnellzug aus unendlichen Verwundbarkeit noch be- Stützpfählen hängen Kränze aus Palm- Tokio ist Osaka neuerdings Endstation. wußt war. Hochhäuser aus Stahl und wedeln, mit Blumen besteckt. Irgend Die Brücken sind zusammengekracht, Glas liegen darnieder, als wären sie aus jemand hat ein ungelenkes Bild ge- und die Autobahn, die hoch über den Papier gebaut gewesen. Andere stehen malt, das den Märtyrer mit einer Ka- vielstöckigen Häusern verlief, liegt wie noch, aber gefährlich schief; wiederum laschnikow zeigen soll. ein totes Tier auf der Flanke. Ihre beto- andere sind um mehrere Stockwerke in Beifall braust auf, als zwei Ver- nierten Pfeiler, so dick, daß sechs Män- sich zusammengesackt. Manche Hoch- mummte ein Transparent festzurren: ner sie kaum umfassen können, sind wie häuser sehen aus wie Betrunkene, die „Wir haben ein Treffen mit dem Blut, Streichhölzer geknickt. versuchen, sich gegenseitig zu stützen. rot wie die sinkende Sonne.“ Am schnellsten kommt man jetzt nach Der Asphalt istvoller Beulen und Spal- Mohammed hört seinem zweiten Kobe über das Meer. Die „Sylphide“, ten, Kantsteine sind zerkrümelt wie Zuk- Sohn zu, der ringsum erzählt, auch er habe anfangs um seinen Bruder weinen müssen. Das habe sich schlagartig ge- ändert, als er im Fernsehen „das ver- gossene Blut und das zerfetzte Fleisch der Juden“ gesehen habe: „Da war ich glücklich. Nun bin ich stolz auf meinen Bruder.“ Heißer, bitterer Kaffee wird ge- reicht, wie üblich bei Trauerfeiern. Ei- nige Jungen bieten süße Datteln aus Pappkartons an. Zu Mittag wird es Lammfleisch und gewürzten safrangel- ben Reis geben – kostenlos für alle. „Schöner als eine Hochzeit“, strahlt Vater Mohammed, in dem allmählich der Stolz erwacht. Er könnte sich eine solche Feier niemals leisten. „Das alles bezahlt der Islamische Dschihad“, er- klärt er den Männern, die um ihn her- um auf den weißen Plastikstühlen sit- zen, rauchen und sich mit ihm freuen. Einer, der ihn trösten will, macht ihm noch einmal klar, welche Wonne es ist, ein Märtyrer zu sein: „Sofort in

den Himmel. Er sitzt direkt bei Allah AFP / DPA im Paradies.“ Y Obdachlose in Kobe: Die Nation wirkte in keiner Weise geschockt

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ker. Es gibt Stadtteile, die vollkommen einge- ebnet wurden; in ande- ren sind die Häuser auf der einen Straßenseite eingestürzt, die auf der anderen stehengeblie- ben. In manchen Blocks liegen einige Gebäude in Schutt, während an an- deren nicht einmal ein Riß zu sehen ist, als hätte das Erdbeben russisches Roulette gespielt. „Wir leben! Ruft an unter der Nummer . . .“ oder: „Mutter ist tot. Bin untergekommen bei . . .“, steht auf handge- schriebenen Zetteln, die unter ein Stuhlbein ge- klemmt worden sind. Kobe hatte rund an- derthalb Millionen Ein- wohner. Viele sind geflo- hen. Die Dagebliebenen

kampieren in Schulen, V. SICHOV / SIPA PRESS öffentlichen Gebäuden Nottelefone in Kobe: „Mutter ist tot. Bin untergekommen bei . . .“ oder Zelten. Tagelang ist die Stadt ohne Elektrizität, ohne Gas aber der Protest ist dünn. „Gegen Erd- Verletzten. Nur ein paar tragbare Toi- und Wasser geblieben, das Leben schien beben, Blitz und deinen eigenen Vater letten stellten die Helfer in die öffentli- auf eine elementare, mittelalterliche kommst du nicht an“, sagt ein japani- chen Parks. Daseinsform zurückgeworfen. Die Men- sches Sprichwort. Das Volk fügt sich in Die wenigsten schienen die Dringlich- schen in diesem Land voll futuristischem seine Abhängigkeit von den oberen In- keit der Lage wirklich begriffen zu ha- Spielkram, wo selbst Toiletten wie Pilo- stanzen mit dem gleichen Fatalismus, ben. Soldaten warteten oft tatenlos auf tenkabinen aussehen und Heizkörper mit dem es eine Naturkatastrophe hin- Befehle oder fegten die Zigarettenstum- per Computerstimme an das Nachfüllen nimmt. mel vor ihren Zelten weg, statt nach von Petroleum gemahnen, mußten sich Japaner werden von frühester Jugend Verschütteten zu graben. Wohl wurde auf der Straße an zerbrochenen Wasser- an gedrillt, sich gemäß der Rolle zu das Erdbeben zum nationalen Drama: leitungen waschen und nachts an Feuern verhalten, die ihnen zugeteilt ist. Indi- Die Fernsehkanäle stellten ihre Unter- erwärmen, die mit Holz aus den Ruinen vidualismus hat keinen Platz in einem haltungsprogramme ein und sendeten angefacht wurden. System, dessen oberste pädagogische Dauerreportagen aus Kobe. Doch die Viele Opfer hätten gerettet werden Maxime nach wie vor heißt: „Der Na- können, wenn die Hilfsaktionen schnel- gel, der herausragt, wird eingehäm- ler und effektiver angelaufen wären. In mert.“ Innerhalb eines Regelsystems Nagata, einem der am schwersten ge- mit festgelegten Plänen und Zielen sind troffenen Stadtviertel, kamen die ersten jedem Japaner seine Pflichten und Ver- Feuerwehrwagen viele Stunden nach antwortungen bekannt. Doch das Erd- dem Erdbeben, die ersten Ärzte gar erst beben von Kobe fügte sich nicht in die einen Tag danach an. vorgesehenen Schemata und Verhal- Die Rettungsmannschaften waren tensnormen. Es gab keinen Notstands- schlecht ausgerüstet. Es fehlten Suchge- plan, die herrschende Einstellung ver- räte, die auf Körperwärme unter Trüm- hinderte Improvisation. Die Beamten merbergen reagieren oder das Scharren blieben in ihrem Rollenverständnis ge- und Klopfen eines Verschütteten regi- fangen; keiner wollte eine Entschei- strieren. Die japanische Industrie, die dung treffen, während Tausende auf die Erde mit ihrer Elektronik über- Hilfe warteten. schwemmt, hat von diesen Apparaten Als sich die schwerfällige Bürokratie für den eigenen Zivilschutz nur wenige nach zwei Tagen endlich aufgerafft hat- zur Verfügung gestellt. te, rollten Soldaten, Feuerwehrleute Womöglich wollten die Japaner sich und Polizisten mit blitzblank geputzten eine Demütigung ersparen, als sie ange- Fahrzeugen ein, die Uniformen frisch botene Hilfe aus dem Ausland zuerst gebügelt, mit Atemschutzmasken vor ablehnten und dann nur halbherzig zu- dem Mund und Armbinden, die ihre ließen. Französische und schweizerische Rollen beschrieben. Doch sie brachten Rettungsmannschaften wurden zu Or- den Menschen oft nicht viel mehr als ei- ten geführt, wo die Trümmer bereits mit ne Schüppe, um die Trümmer von den

Bulldozern abgetragen worden waren. Bürgersteigen zu schaufeln. Was fehlte, R. ISHIKAMA / SYGMA Jedem ist klar, daß die Behörden ih- waren Behelfsunterkünfte für die Ob- Teeausgabe für Erdbebenopfer rer Aufgabe nicht gewachsen waren, dachlosen und Feldhospitäler für die Kein Schrei desZorns über die verspäteteHilfe

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AUSLAND Es fehlt die Kreativität Das Beben hat die deutschen Firmen in Japan wenig getroffen – manche wittern neue Chancen

in Jahr lang holte sich Peter Bürger stets eine blutige Nase beim Kara- Ete mit den Japanern. Dann merkte er, daß der Kampf im Kopf stattfindet. „Ich habe einfach nicht mehr an den Zauber von ihrer Überlegenheit ge- glaubt“, sagt der Abteilungsleiter der Deutschen Industrie- und Handels- kammer in Tokio. Der Erfolg war durchschlagend: „Der Japaner fiel ein- fach um.“ Wie der Kämpfer mit dem Schwar- zen Gürtel seine Angstsperre abbaute, so müssen auch die deutschen Unter- nehmer ihre Komplexe gegenüber den japanischen Konkurrenten nur able- gen, meint Bürger, „dann kriegen wir sie bei den Hosen“. Sind mit den zerstörten Straßen und Bahnlinien, den zerborstenen Contai- ner-Terminals nun auch die berühmten Netzwerke von „Just in time“ und „Lean production“ zerrissen? Können die Deutschen es den Konkurrenten aus Japan nun endlich mal zeigen?

Für die deutschen Konzerne wäre C. PARSON das „ein Riesending“, sagt Folker Zerstörtes Autohaus: Die Familien deutscher Mitarbeiter haben Angst Streib, der bis vor kurzem für die Com- merzbank in Tokio war. Mit Glasfaser- Besonders unter den Ehefrauen und und Fensterbrüche voll funktionsfähig. kabeln oder Umwelttechnik könnten Familien der deutschen Siemens-Mitar- Besonders das Pharma-Werk „fährt die Firmen beim Aufbau der zerstörten beiter „geht die Angst um“, weiß Ralph jetzt volle Pulle“, sagt Bayer-Chef Knut Infrastruktur helfen – und verdienen. Gündling, Chef der japanischen Sie- Kleddehn, weil die obdachlosen Erdbe- Dirk Vaubel von der Unternehmens- mens-Niederlassung. Die Rucksäcke benopfer einen starken Bedarf an Grip- beratung Roland Berger & Partner in mit der Notausrüstung für Erdbeben pe- und Schnupfmitteln haben. Tokio sieht das ganz anders: „Für die waren in Tokio am Wochenende nach Für seine Mitarbeiter, von denen 35 deutsche Wirtschaft wird es schwieri- dem Desaster ausverkauft. Unter ihren ihre Häuser verloren, richtete der Che- ger, weil aus Angst vor einem Beben Betten haben viele Deutsche jetzt eine mie-Konzern einen Hilfsfonds mit 100 niemand mehr hierher will.“ Die Japa- Axt verstaut, um im Ernstfall die einge- Millionen Yen (1,5 Millionen Mark) ner dagegen, glaubt der Wirtschaftsbe- klemmten Türen einschlagen zu kön- ein. Ein eigenes Krisenzentrum mit rater mit seiner Erfahrung von 25 Jah- nen. Die Vorräte an Wasser, Lebens- mehreren Depots stellt die Versorgung ren im Land, haben den Schock von mitteln und Bargeld wurden aufge- der Mitarbeiter sicher. „Der organisa- Kobe in einem halben Jahr vergessen. stockt. torische Ablauf bei den Japanern war zu Eine schon lange geplante Konferenz Bei dem Erdbeben in Kobe sind die Anfang katastrophal“, sagt Kleddehn, von Siemens in Kyoto, am Rande des deutschen Firmen noch glimpflich da- „einerseits sind sie überorganisiert, an- Erdbebengebiets, ist plötzlich zum Pro- vongekommen. Ein Vertriebsbüro von dererseits fehlt die Kreativität im Ein- blem geworden. Ob es denn wirklich Siemens brannte aus, ein anderes fiel satz.“ ratsam sei, gerade jetzt dort zu tagen, ein. Die Mitarbeiter kamen nicht zu Die japanische Industrie traf das Be- muß sich der Chef der japanischen Sie- Schaden. Das Gebäude eines Merce- ben heftiger. Die Stahlwerke von Ka- mens-Gesellschaft von seinen Kollegen des-Benz-Händlers brach total zusam- wasaki, Sumitomo und Kobe Steel sind aus Europa und Amerika fragen lassen. men. beschädigt, Software-Fabriken von Die Siemens-Leute in Tokio sind Beim Brand der Holzhäuser in der In- NEC und Mitsubishi liegen still. Hosi- recht glücklich, daß sie gerade in der nenstadt von Kobe wurden auch die Zu- den, eine Fabrik für Flüssigkristall- Woche nach der Katastrophe von Kobe lieferer der Otto-Sumisho Inc. zerstört. Bildschirme, ist „zeitweise geschlossen in ein völlig neues Gebäude umziehen, Die japanische Tochter des Otto-Ver- wegen Reinigung der Räume“. das ihnen eine größere Überlebens- sands kaufte bei den kleinen Sweat- Bedroht ist auch die ausreichende chance verspricht. Dennoch überlegen Shops Kunstlederschuhe. Versorgung mit Sake. Kobe ist mit rund etliche deutsche Siemens-Mitarbeiter Drei Pharma- und Farben-Fabriken 50 Brennereien traditionell das Zen- im stillen, ob sie nicht lieber in die Hei- von Bayer in der Umgebung von Kobe trum der japanischen Reisschnapsher- mat zurückkehren sollten. und Osaka blieben bisauf ein paar Risse stellung. Viele kleine Fabriken stürzten

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Nation wirkte in keiner Weise ge- schockt, nicht unmittelbar Betroffene ein, den anderen fehlt das nötige Was- sität Berlin. Er erlebte das Beben wäh- standen oft gleichgültig neben dem Un- ser. rend eines Forschungssemesters in sei- glück ihrer Mitbürger. Alle großen Autohersteller mußten ner Heimat. „Der Ruf des japanischen Jahrhundertelang haben die Japaner kurz nach dem Beben ihre Produktion Management-Systems“, meint der mit Naturkatastrophen auf ihren von einschränken, obwohl manche Werke Wirtschaftsfachmann Park, „hat in Ko- Erdbeben geschüttelten Inseln gelebt, weit vom Katastrophengebiet entfernt be sehr viel Schaden davongetragen.“ im Schatten von Vulkanen, die immer sind: Die produktionsgerechte Anlie- Vorsorge, vorausschauendes Den- wieder ausbrechen. Die Vorstellung, ferung von Zubehörteilen („Just in ken und Gruppengeist sind in Japan nur daß das Leben ein flüchtiger Augenblick time“) funktionierte nicht mehr. Wie auf den Unternehmensgewinn ausge- ist, hat sich tief in ihre Seele gegraben, in einer Kettenreaktion pflanzte sich richtet, glaubt der Professor, nicht auf sie hat Ethik und Ästhetik bestimmt so- der Lieferstopp fort. Mitsubishi und die Gesellschaft. wie die gleichmütige Einstellung zum Daihatsu konnten keine Teile in ande- Aber auch inden Unternehmen funk- Tod. re asiatische Werke schicken, weil der tioniert das Modell nicht mehr so recht. Es ist auch dies Gefühl, auf unsiche- Hafen von Kobe zerstört ist. „Die Deutschen und Europäer ziehen rem Grund zu leben, das zu ihrer Füg- Die Anfälligkeit dieser Netzwerke an euch vorbei“, warnt Park seine samkeit beiträgt, das sie bereitwillig könnte die japanischen Autohersteller Landsleute. schuften und dem einzigen Gott opfern veranlassen, ihre Produktion noch „Probleme, die bisher nur schwelten, läßt, den sie kennen: Japan. mehr als ohnehin geplant in Länder kommen jetzt heraus“, sagt der Karate- wie Korea zu verlegen, vermutet der kämpfer Bürger. Die Zerstörung der Tokioter Professor Tetsuo Abo, ein billigen Hinterhoffabriken im Zentrum Anleitung zu einem Spezialist für die Internationalisierung von Kobe etwa machte der Nation erst neuen Versuch, der Fahrzeugindustrie: „Das würde klar, daß dort Zehntausende von illega- unsere Wettbewerbsfähigkeit ernsthaft len Einwanderern von den Philippinen die Natur zu zähmen erhöhen.“ In einem halben Jahr, so oder aus Korea ausgebeutet wurden. Abo, ist das inländische Transportsy- Insgesamt vermutet die Regierung eine Kobe war tagelang sich selbst überlas- stem wiederhergestellt. Die beschädig- halbe Millon Illegale im Land. sen. Auf den Straßen standen Autos, ten Fabriken in Kobe sind für ihn Der Sachschaden des Erdbebens, Motorräder und Fahrräder, die keinen „kein essentielles Problem“. derzeit auf 75 bis 150 Milliarden Mark Besitzer mehr hatten. Aus zerborstenen „Wir sind ein Volk, das über solche geschätzt, ist nur mit 3 Milliarden Mark Schaufenstern quoll Ware aller Art. Dinge nicht reflektiert“, sagt Sung-jo versichert. Der ungedeckte Rest Doch niemand hat geplündert oder ge- Park, Professor an der Freien Univer- kommt zum großen Teil auf den ohne- stohlen. Im Stadtviertel Nagata lagen hin hochverschuldeten Staat vor einer eingestürzten Fabrik große zu. Die tatsächliche, offiziell Haufen eleganter weißer Sportschuhe. nicht zugegebene Staatsver- Wie viele Obdachlose trugen nur Pan- schuldung liegt nach Mei- toffeln – aber keiner rührte die Schuhe nung vieler Japan-Kenner an, die im strömenden Regen verrotte- bei 80 Prozent des Bruttoin- ten. landsprodukts (in Deutsch- Diese Disziplin, die es den Japanern land 53 Prozent). verbietet, festgelegte Regeln zu brechen „Japan ist im Klub der sa- oder ihre Gefühle zu offenbaren, macht turierten Staaten angekom- sie zu imponierend widerstandsfähigen men“, sagt Gerd Bissen von Menschen. der WestLB in Tokio, „aber Bei allem Fatalismus ergeben sie sich die Rolle müssen sie erst nicht so leicht in ein widriges Schicksal. noch verstehen.“ Mit bisher Manche sprechen bereits von der „groß- ungewohnten Erscheinun- artigen Gelegenheit“, Kobe noch mo- gen wie Konjunkturzyklen derner und rationeller wieder- oder einer chaotischen Re- aufzubauen. Immerhin blieben viele gierung kommen die Japa- Gebäude – wie das Rathaus – völlig un- ner schlecht zurecht. Der versehrt; deren Strukturen werden nun Bankchef weiß: „Das ist untersucht und kopiert: Anleitung für nicht mehr das Modell der einen neuen Versuch, die Natur mittels nächsten Dekade.“ Technik zu zähmen. Doch der Japaner Park Auf der Rückfahrt nach Osaka über warnt die deutschen Unter- verstopfte Landstraßen ist japanischer nehmer vor allzu frohem Kampfgeist schon wieder am Werk. Ar- Übermut. „Ganz subtil und beiter reparieren Telefonkabel, Strom- heimlich“ werden seine leitungen und Masten. Jeder trägt Uni- Landsleute jetzt überall ver- form und einen Helm in der Farbe, die breiten, wie schlecht es ih- seine Funktion definiert. nen geht und um Nachsicht Das Erdbeben von Kobe und seine und Geduld bitten, vermutet Opfer sind bereits zu Nummern in einer der Professor. Am Ende Statistik geworden. Hartnäckig und von

P. ROBERT / SYGMA aber „gehen die Japaner im- keinem Zweifel berührt, sind die Ja- Erdbebenschäden in Kobe mer stärker aus der Krise paner entschlossen, sich dem brüllen- „Die schwelenden Probleme kommen heraus“ hervor“. Y den Ungeheuer, das sich im Inneren ihrer Erde verbirgt, immer wieder zu stellen. Y

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AUSLAND

für den angesehensten Schriftsteller der alle Anschuldigungen als „puren Hohn“ Türkei Türkei geplant, Yas¸ar Kemal, 71. Der zurück. Literat, dessen Werke in mehr als 30 Tatsächlich hatte er mit keinem Wort Sprachen übersetzt wurden und der als einen Kurdenstaat gefordert. Ausdrück- einziger türkischer Autor auch schon für lich verwies Kemal darauf, daß es in der Strafbare den Nobelpreis nominiert war, hatte in Türkei „nur ganz wenige Kurden“ gebe, einem SPIEGEL-Beitrag (2/1995) den „die einen unabhängigen Staat haben Kurdenkrieg der Regierung in Ankara wollten“. Lediglich als akademische Gedanken als „Feldzug der Lügen“ und den Staat Frage hatte der Autor hinzugefügt: als „System unerträglicher Zwänge und „Und wäre es nicht ihr gutes Recht, Hunderte von Künstlern und Intellek- Grausamkeiten“ verurteilt. Prompt ge- wenn sie danach verlangt hätten?“ Das tuellen provozieren ihre Verhaftung riet Kemal als vermeintlicher Vorkämp- reichte den eifrigen Juristen. fer für einen eigenen Kurdenstaat in die Die international mit Entrüstung auf- – aus Solidarität mit dem Dichter Fänge der berüchtigten Staatssicher- genommene Anklage stützt sich auf ein Yas¸ar Kemal. heitsgerichte. umstrittenes Paragraphenwerk: das Wie kaum ein anderer Bericht löste 1991 erlassene „Gesetz zur Bekämpfung die Kritik in der Türkei einen Sturm der des Terrors“. Dessen weitgefaßte Be- ie Schriftstellerin Pinar Kür stand Empörung aus. „Es gibt keinen ge- stimmungen dienen den Sicherheitsor- noch nie vor Gericht; auch der Au- schäftstüchtigeren Ränkeschmied als ganen als eine Art Freibrief für Verhaf- Dtor Murathan Mungan hat bislang Yas¸ar Kemal“, giftete die größte Tages- tungen und Gewaltanwendung. Artikel noch nichts verbrochen. Und Orhan Pa- zeitung des Landes, Hürriyet. „Jetzt se- 8, auf den sich die Kemal-Ankläger be- muk, dessen Bücher in der Türkei seit gelt er mit dem Wind im Rücken, der rufen, verbietet „schriftliche und münd- Monaten auf den Bestsellerlisten ste- gerade in Europa bläst.“ Das Konkur- liche Propaganda, Versammlungen, Kundgebungen und Demonstrationen, die, auf welche Weise, in welcher Ab- sicht und mit welchen Ideen auch im- mer, darauf abzielen, die unteilbare Einheit von Staat, Staatsgebiet und Na- tion der Republik Türkei zu zerstören“. Höchststrafe: fünf Jahre Gefängnis. Kein Anlaß ist den 17 Staatssicher- heitsgerichten zu nichtig, Kritiker der Repressionspolitik einzubuchten. Bei dem Rechtsanwalt Ahmet Zeki Okc¸uo- glu genügte es, daß bei einer Podiums- diskussion das Wort „Kurdistan“ fiel. Schon wer den Aufruf „Hört auf mit dem Krieg in Kurdistan“ unterzeichnet, muß mit einem Verfahren rechnen. „Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, ja der Gedanke allein gelten als Terroris- mus“, beklagten im vergangenen Jahr 75 Verleger in einem offenen Brief an den Justizminister die rabiate Ein- schränkung der Rede- und Meinungs- freiheit. Frankreichs Außenminister Alain

REUTER Juppe´, derzeit Ratsvorsitzender der Eu- Angeklagter Schriftsteller Kemal*: „Ich bereue keine Zeile“ ropäischen Union, warnte vor einer wachsenden Entfremdung zwischen Eu- hen, ist gleichfalls ein unbescholtener renzblatt Türkiye stempelte den SPIE- ropa und der Türkei mit ihrer immer Bürger – womöglich nicht mehr lange. GEL gleich ab „als Türkenfeind und gnadenloseren Kurdenverfolgung; er In einer seltenen Demonstration von Feind des Islam“. forderte von Ankara, „die Grundregeln Zivilcourage begingen Pamuk und Kol- Ministerpräsidentin Tansu C¸ iller, so der Demokratie zu respektieren“ – bis- legen am Montag vergangener Woche wurde berichtet, habe Kemal einen lang vergebens. eine schwere Straftat. Gemeinsam mit „Strolch“ geschimpft. Sogar der frühere Allein 1994 führten die Staatssicher- über 100 Dichtern und Denkern, Ministerpräsident und linke Oppositi- heitsgerichte 7531 Prozesse, darunter Schriftstellern und Schauspielern setz- onspolitiker Bülent Ecevit, 1982 selbst viele gegen angebliche Separatismus- ten sie ihre Namen symbolisch unter ei- wegen eines kritischen SPIEGEL-Bei- Förderer; 106 Oppositionelle sitzen we- nen Artikel, der für die Ankläger am trags über die Militärjunta in Haft ge- gen Separatismus-Propaganda in Haft. Staatssicherheitsgericht von Istanbul ein nommen, geißelte Kemal als Nestbe- Tausende Fälle sind noch anhängig, „Aufruf zum Separatismus“ ist. schmutzer, der es darauf anlege, „die Tendenz steigend. Die voraussichtlich folgenschwere Türkei vor ausländischen Institutionen Die Selbstbezichtigungsaktion der Unterschriftensammlung, in der sich schlechtzumachen“. Kemal-Anhänger, die Ankara öffentlich Künstler und Intellektuelle landesweit Das Staatssicherheitsgericht in Istan- unter Druck setzen wollen, könnte zu als „Gedanken-Verbrecher“ (Flugblatt) bul, das Kemal am vorigen Montag zum über 1000 neuen Ermittlungsverfahren outen, war als Solidaritätsbekundung erstenmal verhörte, will ihm wegen führen. Wer aus Solidarität mit Kemal „Propaganda gegen die Unteilbarkeit „Gedanken-Straftaten“ gesteht, füllt * Am Montag vergangener Woche auf dem Weg des Staates“ den Prozeß machen. Der deshalb gleich eine Vollmacht für seinen zum Staatssicherheitsgericht in Istanbul. Autor („Ich bereue keine Zeile“) weist künftigen Verteidiger aus. Y

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Tschetschenien Mit den Ratten im Keller SPIEGEL-Korrespondentin Martina Helmerich bei den Verteidigern von Grosny

ausgebrannte Gebäude. Rauchsäulen stehen am Horizont. Die Stadt stirbt. Im Keller hausen an die hundert Be- waffnete im Schichtwechsel auf Matrat- zen; mit Daunendecken, die sie im Nachbarhaus requiriert haben, schützen sie sich gegen die durchdringende Kälte. Ihre Kost besteht aus Konserven, Brot und Tee. Den Genuß von Alkohol hat Maschadow streng verboten. Stolz erzählt Ramsan, daß er einen Tag nach Kriegsbeginn zum erstenmal Vater geworden sei. Seinen Sohn hat er noch nicht gesehen. Die Frau hat sich mit dem Kind zu Verwandten in ein Bergdorf geflüchtet. Anführer seiner Gruppe ist Schabrail Dochajew, 30, von Beruf Bauarbeiter, ein Nachbar Ramsans aus dessen Hei- matstadt Gudermes östlich von Grosny. Heute erwartet Dochajew Nachschub von zu Hause, Proviant und frische Kämpfer. Am verabredeten Treffpunkt paßt er den Bus ab, den der Militärkom- mandant von Gudermes geschickt hat.

S. LEHMAN / SABA Die jungen Kampfeswilligen laden Ausgebombte Bewohner von Grosny: Scharfschützen in den Fensterhöhlen Brot, Dosen mit Nudeln in Tomatenso- ße und einen großen Leinensack voll Zi- ie einzige Glühbirne, die den stik- Präsidentenpalast noch nicht endgültig garetten, Streichhölzern und Kerzen aus kigen Keller in trübes Licht taucht, erobert. Tatsächlich erwies sich das Fo- dem klapprigen Fahrzeug. Dann mar- Dflackert, verlischt, leuchtet wieder to in einer Moskauer Zeitung, das eine schiert die Kolonne durch die zerstörte auf. Dann ist es völlig finster, und die russische Trikolore auf der Spitze der Stadt zu der vom Stab bestimmten Ver- Leibwache entzündet rasch zwei Ker- Ruine zeigte, als Montage. „Der Präsi- teidigungsposition. zen, die auf dem Tisch bereitstehen. dentenpalast hat keinerlei strategische Ihr Anführer trägt als einziger einen „Gießt Treibstoff nach“, befiehlt As- Bedeutung“, sagt der tschetschenische Stahlhelm. Immer wieder hält er an, lan Maschadow seinen Leuten, die im Generalstabschef. mustert mit einem Feldstecher jede Nebenraum das Notstromaggregat be- Maschadow kennt seinen Gegner. Er Häuserzeile, bevor er den Trupp block- dienen. Der Generalstabschef der hat bis 1992 als Oberst in der Sowjetar- weise weiterlotst. In den ausgebrannten Tschetschenen in Grosny organisiert mee gedient und eine Division in Li- Fensterhöhlen könnten sich russische nach wie vor den Widerstand seiner tauen befehligt, während sein Staats- Scharfschützen verborgen halten. Über Kämpfer in der Stadt, die angeblich un- chef Dschochar Dudajew damals in Straßen, Plätze und den Bahndamm mit ter Kontrolle der Russen steht. Estland eine Luftwaffendivision kom- freiem Schußfeld geht es im Laufschritt. „Sie bringen unsere besten Söhne um mandierte und am baltischen Drang Häuserruinen bieten Deckung. Ab und und behaupten, wir seien alle Bandi- zur Unabhängigkeit Gefallen fand. zu grummelt Artillerie. ten“, stößt Maschadow hervor. „Ge- Jetzt stehen die ehemaligen Sowjetoffi- Die Marschroute, die mehrere Kilo- stern wollten uns die Russen ein Ultima- ziere auf der anderen Seite der Barri- meter lang ist, säumen Wachposten der tum stellen, wir sollten unsere Waffen kaden. Tschetschenen, Sturmgewehre über den übergeben. Zum Teufel habe ich sie ge- Die tschetschenischen Verteidiger Schneehemden geschultert, Patronen- schickt, der Krieg geht weiter.“ kontrollieren nach Maschadows Anga- gürtel kreuzweise über der Brust. Die Am Tag zuvor hatte Maschadow den ben noch immer zwei Drittel der Stadt: meisten kennen sich, begrüßen einander Präsidentenpalast aufgeben müssen, wo „Wir haben mehr Freiwillige, als wir mit Salam und umarmen sich wie Brü- sich sein Stabsquartier befand. Doch er zur Zeit brauchen.“ der. ließ 20 „Smertniki“, freiwillige Todes- Einer von ihnen, Ramsan Mitajew, Einwohner der Stadt nutzen eine Feu- kandidaten, zurück. Sie wollten weiter 22, hat seit dem 26. Dezember Grosny erpause, um sich Nahrung, Wasser und ausharren und lieber umkommen, als nicht mehr verlassen. Mit seinen Ka- Brennholz zu beschaffen. In einem dem Artilleriefeuer und dem Bomben- meraden hat er sich einen Kilometer Hauseingang macht sich ein Mann mit hagel der Russen zu weichen. südöstlich des Präsidentenpalastes ver- einem Beil zu schaffen. Er hackt Tür- Wenn Maschadow die Wahrheit schanzt. Von seinem Posten aus starrt blätter klein. Andere reißen die Holz- spricht, haben die Invasoren auch den er im Schneetreiben auf zerbombte, verkleidung von Schuppen ab. Dann ko-

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ben. Die Burschen tummelten sich be- reits auf den Kriegsschauplätzen Molda- wien und Georgien. Igor hofft, daß sich der Tschetsche- nien-Krieg noch lange hinzieht, Krieg ist seit zwei Jahren seine Hauptbeschäfti- gung. Der Umgang mit Waffen stärkt sein Selbstbewußtsein, die rauhe Män- nerwelt gibt ihm soziale Wärme. „Die Unso bleibt in Tschetschenien“, verkün- det er, „solange die Beziehungen zwi- schen unseren Führern und Dudajew so gut bleiben.“ Die Verbindung nach Grosny hat Anatolij Lupinis, 57, geknüpft. In Kiew zu Hause, organisiert der graubärtige Ukrainer alle Kampfeinsätze der Unso- Abenteuertouristen außerhalb der ukrainischen Grenzen. Ihn treibt politi- sches Kalkül, vom Haß auf russischen Imperialismus angefacht. Lupinis hat fast sein halbes Leben in sowjetischen Lagern zugebracht: 23 Jahre. Zum viertenmal ist er in Grosny. Er

M. HELMERICH / DER SPIEGEL rühmt sich bester Beziehungen zur Tschetschenische Kämpfer in Grosny: „Mehr Freiwillige, als wir brauchen“ tschetschenischen Führung bis hinauf zu Dudajew. Diesmal lautet sein Auftrag, chen sie auf Behelfsöfen im Freien ihre aus dem Baltikum, aus Afghanistan und einen sicheren Korridor zu erkunden, Mahlzeit. Gas, Elektrizität und Wasser der Ukraine erhalten. „Alles gelogen“, über den sich noch mehr Ukrainer nach gibt es in Grosny seit Wochen nicht erregt sich der Ukrainer. „Ich bin auf ei- Tschetschenien einschleusen lassen. mehr. Zerschossene Gasleitungen bren- gene Kosten nach Tschetschenien ge- Der Weg, den Lupinis ausgetüftelt nen mit meterhohen Flammen ab. kommen. Man stellt mir hier Unter- hat, führt über Kiew nach Baku. Emis- Die letzten Bewohner der Stadt, de- kunft und Verpflegung, das ist alles.“ säre der tschetschenischen Regierung nen es nicht gelungen ist, in die Berge zu Sein Landsmann Igor, 21, aus Chmel- haben in der aserbaidschanischen fliehen, sind meist Russen oder Ukrai- nizki, blond und zwei Meter groß, Hauptstadt einen Anlaufpunkt: Ihr ner. „Wir sitzen mit den Ratten im Kel- pflichtet ihm bei. Er hat schon den Bür- Partner ist eine ultrarechte, offiziell ler“, sagt bitter Wassil Tkatschenko, 56. gerkrieg in Abchasien auf seiten der Ge- nicht zugelassene Bewegung, die sich Die Rentnerin Nadeschda Tichonowna, orgier mitgemacht. Jetzt ist er dem Stab nach türkischem Vorbild Graue Wölfe 72, wurde ausgebombt, dann geriet auch nennt. Lupinis duzt sich mit der Keller, in dem sie untergekommen Aserbaidschans Vizepre- war, in Brand. Ein Bombensplitter traf mier Abbas Abbassow, der Kiew sie an der Hüfte. Nirgends läßt sich Ver- RUSSLAND heimlich Geld für den bandszeug auftreiben. Mit Lappen hat tschetschenischen Unab- K sie das Blut gestillt. UKRAINE a hängigkeitskampf sammelt. sp „Wir verteilen jeden Tag Brot an die isc Abbassow: „Mein Herz ist he Menschen in den Kellern“, sagt Docha- Grosny Dagestan s M in Grosny.“ eer jew. „Trotzdem hassen sie uns, weil wir Chassawjurt Sammelpunkt für Freiwil- weiterkämpfen.“ Sie hassen aber auch Tschetschenien lige ist das Hotel „Juschno- die Russen, weil sie die eroberten Häu- je“ an der Aserbaidschan- GEORGIEN ser nach Männern im kampffähigen Al- Me ASERBAI- Allee. Dort finden sich warzes er Baku ter durchkämmen. Wen sie finden, der Sch DSCHAN tschetschenische Studenten ist seines Lebens nicht mehr sicher, auch ARMENIEN ein, die aus der Türkei zu- wenn er unbewaffnet ist. rückkehren und in ihre Hei- Dochajew soll mit seinen Leuten den TÜRKEI 250 km mat, die formal zur Russi- Vorstoß der Russen auf den Süden der schen Föderation gehört, Stadt aufhalten. Dort, jenseits des Flus- nicht einreisen dürfen. Sie ses Sunscha, sind in Kellern und Haus- des tschetschenischen Präsidenten Du- werden illegal über die Grenze gebracht, aufgängen Kampfeswillige verschanzt, dajew für Spezialaufgaben zugeordnet. ebenso wie die Kämpfer aus der Ukraine. die keine Tschetschenen sind, aber zu Auch er erhalte kein Geld für seinen Für die Passage an russischen Kon- allem entschlossene Feinde der Russen: Einsatz, „die Waffen aber, die ich im trollposten vorbei sorgen Lesginen, eine Freischärler, die aus anderen Ländern Kampf erbeute“, erklärt Igor stolz, „die weitere kaukasische Völkerschaft, die der früheren Sowjetunion und deren gehören mir“. auf beiden Seiten des Grenzflusses lebt. Kolonien den Tschetschenen zu Hilfe Beide Ukrainer sind Mitglieder im Sie nutzen die neue Marktlücke und bie- kommen. rechtsradikalen Bund Ukrainische Na- ten Schlepperdienste an. Für 50 Dollar Einer von ihnen ist der Ukrainer tionale Selbstverteidigung (Unso). Das pro Mann führen sie kleine Gruppen Saschko, ein drahtiger Mann über 40. ukrainische Strafgesetzbuch verbietet durch das mehrere Kilometer breite Seit Beginn der Gefechte kämpft er mit. paramilitärische Formationen, deshalb Flußtal, umgehen die Grenzposten und Bis zu 1000 Dollar Sold pro Kampf- tarnen sich die Nationalisten in einer leiten auf der russischen Seite die Kriegs- tag, so behauptet der russische Geheim- Wehrsportgruppe. Sie sind immer dort willigen weiter in Richtung Tsche- dienst, würden „gedungene“ Söldner zur Stelle, wo sie Zugang zu Waffen ha- tschenien. Nur bei Nacht wagen sich Ver-

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wegene, die das Kopfgeld sparen möch- nen jeder Greuel zuzutrauen ist, wo- gewitzelt: „Wir beginnen mit der Bom- ten, auch ohne Begleitung durch das möglich ein Atom-U-Boot im Eismeer bardierung in fünf Minuten.“ hüfthohe Wasser. gekapert, um den dritten Weltkrieg aus- Diesmal prahlte Rußlands Präsident Nach vier Autostunden ist die Stadt zulösen? Boris Jelzin munter, gleich nach Or- Chassawjurt in der zur Russen-Föderati- Die Geheimdienste der Nato konfe- tung des unidentifizierten Flugobjekts on gehörenden Republik Dagestan er- rierten eilends in einer Ringschaltung. auf Rußlands Radarschirmen habe er reicht, 25 Kilometer vor der tschetsche- Sie kamen einhellig zu der Meinung, zum erstenmal den kleinen schwarzen nischen Grenze. Dort befindet sich der Rußlands Strategische Raketenstreit- Koffer benutzt, den ihm 1991 hochdra- Sitz des Nationalrats der in Dagestan le- kräfte seien noch immer das Beste vom matisch der gestürzte Michail Gorba- benden Tschetschenen. Stadt und Um- Besten, eine „Elite innerhalb der Elite“ tschow übergeben hatte. Das Gepäck- land von Chassawjurt sind überwiegend (BND-Einschätzung): Kaum denkbar, stück trägt ein Adjutant ständig hinter von Tschetschenen bewohnt – die Gren- daß sie eine ernste Bedrohung erkann- Jelzin her, es birgt Knopftasten, die – ze im Kaukasus hatte Stalin einst unab- ten, wo in Wirklichkeit nur harmlose zusammen mit den Knöpfen in zwei hängig von den Siedlungsgebieten gezo- Routine herrschte. weiteren Koffern – Rußlands Atomra- gen. Hier sammeln sich die Flüchtlinge aus Grosny, und von hier aus gelangen die Kriegsfreiwilligen nach Tschetschenien. Die Erinnerung an Schamil, den Frei- heitskrieger wider die russischen Erobe- rer im vorigen Jahrhundert, ist überall präsent. „Schamil und Dudajew – Hel- den des Kaukasus“, prangt als Plakat am Eingang der Baracke, die den tsche- tschenischen Nationalrat von Chas- sawjurt beherbergt. Die Grosny-Flücht- linge bekommen eine warme Mahlzeit und den Einweisungsschein für ein Quartier. 170 000 Menschen sind aus Tschetschenien geflohen; die Hälfte wartet in Chassawjurt auf einen Frie- den, während die Ukrainer ins Gefecht ziehen. In einer Baracke harrt Lisa Nassaje- wa, 61, auf Nachricht von ihrem Mann,

der Grosny verteidigt. Seit ihrer Flucht AFP / DPA aus der Stadt vor vier Wochen hat sie Jelzin mit Befehlskoffer: Unidentifiziertes Objekt nichts von ihm gehört. Sie wartet auf den Sieg. „Wenn wir Denn es war so, wie Radio Eriwan zu keten zum Start freigeben: Der bei Rußland bleiben müssen“, versi- Sowjetzeiten Hörerfragen beantworte- Kremlherr gibt den Teil eines Codes chert Nassajewa unbeirrt, „kehre ich te: Von den norwegischen Lofoten war ein, eine weitere Zeichenfolge fügt der nach Grosny nicht zurück. In so einem zwar ein Geschoß aufgestiegen, aber Generalstabschef hinzu, wo immer er Tschetschenien will ich nicht leben.“ Y nicht eine Rakete zu Rußlands Zerstö- sich mit seinem Koffer gerade aufhält, rung, sondern eine zur Erforschung des den Rest gibt der Verteidigungsminister Nordlichts. Sie flog auch nicht nach drauf – eben jener frustrierte General Rußland Osten auf Rußland zu, sondern nach Pawel Gratschow, der seit Wochen den Norden, Richtung Spitzbergen. Das mörderischen Feldzug gegen Grosny Ding wurde nicht abgeschossen, son- kommandiert. dern fiel um 9.48 Uhr von ganz allein Danach muß jede einzelne Rakete Stalins Marke und wie geplant ins Nordmeer. noch einen gesonderten Einsatzbefehl Die norwegische Regierung hatte empfangen. Das ganze System hat sei- Falscher Raketenalarm in Moskau: schon am 21. Dezember Moskau nach nen Namen nach einer Lieblingszigaret- Boris Jelzin hantierte mit dem Atom- den international üblichen Regeln über tenmarke Stalins – „Kasbek“, benannt das Flugvorhaben unterrichtet. Die Bot- nach einem Berg im heißbegehrten Kau- knopf. schaft blieb unbeachtet – vielleicht feier- kasus. ten die zuständigen Hoheitsträger ja Nie würden Russen eine Rakete star- in tumber Hobbyflieger wie Mathi- gerade Stalins 116. Geburtstag. Lei- ten, sagen Landeskenner, weil sich auch as Rust war es nicht, sondern eine stete sich jemand einen Scherz, wollte die Elite der Elite nicht sicher sei, wo ihr Emilitärische Angriffsrakete, die irgendwer Rußlands Abwehrbereit- gegen den Westen und China gerichte- vorigen Mittwoch aus Richtung Nord- schaft rühmen, prüfen oder blamie- tes Teufelszeug im Ernstfall unverse- europa direkt aufs Vaterland zuflog ren – obwohl unter den Militärs in hens niedergeht. Jelzin hat den Knopf und von den russischen Luftverteidi- West wie Ost derlei frivoler Umgang denn auch gar nicht gebraucht, sondern gern, diesmal hellwach, um 10.30 mit dem atomaren Potential als Tabu nur telefoniert: „Ich habe sofort Kon- Uhr mit Abwehrraketen abgeschossen gilt? takt mit dem Verteidigungsministerium wurde. Fröhliche, leider mächtige Zivilisten aufgenommen, mit all diesen Generä- So meldete es jedenfalls kurz darauf aber neigen zu Spielereien auch mal mit len, die ich brauche, und wir verfolgten die private Moskauer Agentur Interfax, dem Weltuntergang: US-Präsident Ro- die Flugbahn der Rakete.“ gestützt auf eine „hochrangige Militär- nald Reagan hatte zum Beispiel in einer Demnach ist in dem Köfferchen wo- quelle“, so lief es „urgent“ um die Welt. Mikrofon-Sprechprobe 1984 ein Gesetz möglich nur ein Handy. Oder vielleicht Alarm: Hatten die Tschetschenen, de- zur Ächtung Rußlands verkündet und ein Fläschchen? Y

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hörden, die Pässe der Heim- Österreich Kraft: Gar nicht so schwer. Des geht kehrer entsprächen nicht schon . . . den amtlichen Richtlinien. Marizzi: Wann wir Spenden kriegen – wir Gleichzeitig soll Bonn finan- „Bester Zugang“ haben 600 000 Mitglieder. Wenn’s hoch zielle Hilfe für jeden Abge- hergeht, kriegen wir an Spenden ein- oder schobenen leisten – zahlbar Ein illegal abgehörtes Gespräch zwischen zweitausend Schilling. Dann sind das einige an Belgrad. Mit dem Geld dem Abgeordneten Hermann Kraft, Wehr- hunderttausend Schilling, nie mehr. Und sollen 100 000 Wohnungen experte der konservativen ÖVP, und sei- die werden verbucht. Aber glaubst du, daß im Kosovo gebaut werden. nem sozialdemokratischen Parlaments- ich von einem Kompensationsgeschäft auch Doch ob die den Rückkeh- kollegen Peter Marizzi erschüttert die Gro- nur einen Schilling nimm? Wie soll ich denn rern zugute kommen, ist ße Koalition. Durch Provisionen aus Rü- das verbuchen? Erst recht net hundert Mil- zweifelhaft. Präsident Slobo- stungskäufen wollten sie die Parteikassen lionen. dan Milosˇevic´ will serbische füllen. Das Magazin News druckte Auszü- Kraft: Es geht schon. Die gehören ja nicht Flüchtlinge aus Kroatien und ge: euch allein. Bosnien im Kosovo ansie- Marizzi: Da mußt du mir von An- deln, um so die Dominanz fang an erzählen, wie so was geht. der Albaner zu schwächen. Angenommen, du bist nimmer im Parlament, krank oder sonst was. USA Mich interessiert, wie man so etwas abwickeln kann . . . Habts ihr Superbomber schon Zugang zu den Engländern? Kraft: Besten Zugang. Haben wir. im Angebot Das rennt schon. Mit allen Mitteln versucht Marizzi: Haben die angedeutet, die unter Umsatzrückgang daß die was tun können, sollte die leidende Rüstungsindustrie Produktauswahl Richtung briti- neue Aufträge zu ergattern.

CONTRAST CONTRAST sches Flugzeug erfolgen? Das Luft- und Raumfahrt-Un- Marizzi Kraft Kraft: Sie wollen also auf jeden Fall ternehmen Northrop Grum- den Transporter. man lockt derzeit das Vertei- Marizzi: Angenommen, die Engländer krie- Marizzi: Wieviel springt denn da raus aus digungsministerium mit ei- gen das ganze Paket – Regierungsflugzeug, dem Transporter? . . . Ich frage dich, wie nem Ausverkauf ganz beson- Kampf- und Transporthubschrauber. Das bringst du das Geld indiePartei? Da mußt du sind fünf Milliarden. Davon zwei Prozent. ja zumindest mit dem Generalsekretär re- Das sind hundert Millionen. Wie bringen den . . . Da wissen ja zuviel Leut’ davon. die das Geld nach Österreich? Hundert Wenn einer plaudert, is’ man erpreßbar. Zu Millionen transferieren ist ja net möglich. so was würd’ der Vranitzky nie zustimmen. Wie stellst du dir das vor? Das ist unheim- Kraft: Davon müssen ja nicht sehr viel wis- lich schwer. sen.

Türkei Kemal Atatürk verächtlich Balkan gemacht zu haben. Die aufla- Zerbricht die genstarke Tageszeitung Sa- Belgrads Islam-Front? bah giftete den bosnischen Pokerspiel

Präsidenten gar als Kriegs- SIPA PRESS Die USA bedrängen die Re- profiteur an, der Hilfsgelder Die Regierung Rest-Jugosla- Stealth-Bomber B-2 gierung des Nato-Partners auf Schweizer Privatkonten wiens verzögert die Rück- Türkei, einen Wechsel im Prä- in Sicherheit gebracht habe. kehr von Tausenden Kosovo- derer Art. Für einen Stück- sidentenpalast der umkämpf- Der türkischen Regierungs- Albanern, die aus Deutsch- preis von 570Millionen Dollar ten Republik Bosnien-Herze- chefin kommt die Washing- land in ihre Heimat abge- will das Unternehmen der Air gowina diplomatisch zu unter- toner Bitte womöglich nicht schoben werden sollen. Meist Force 20 weitere radarun- stützen. Die westliche Vor- ungelegen. Tansu C¸ iller will behaupten die Belgrader Be- sichtbare Stealth-Bomber macht fürchtet, Alija Izetbe- die Fundamentalisten vom Typ B-2 verkaufen. Das govic´ könne unter den Einfluß im eigenen Land zur ist kaum mehr als ein Viertel islamischer Fundamentalisten Rechenschaft ziehen. des Preises, den das Verteidi- geraten. Inzwischen gibt es er- Der Führer der türki- gungsministerium für die er- ste Anzeichen, daß Washing- schen Wohlfahrtspar- sten 20 Super-Jets bezahlen tons Wunsch in Istanbul Ge- tei und enger Freund mußte. Experten warnen hör findet, obwohl die Türkei von Izetbegovic´, Nec- gleichwohl vor dem Haken bei die bosnischen Glaubensbrü- mettin Erbakan, hat diesem Sonderangebot: Die der bislang mit Waffenliefe- Spendengelder in Hö- abgemagerte Grundausfüh- rungen im Gesamtwert von 40 he von mehreren Mil- rung des Bombers, welche die Millionen Mark unterstützt lionen Mark fürdie be- Firma liefern will, müßte für hat. So häufen sich Kommen- drängten bosnischen viele hundert Millionen Dol- tare, die Izetbegovic´ „gravie- Moslems sammeln las- lar nachgerüstet werden, um rende politische Fehler“ vor- sen. Doch nur etwa die gleiche Einsatzfähigkeit

werfen und ihn bezichtigen, 200 000 Mark sind in REUTER wie die der früheren Modelle den türkischen Staatsgründer Sarajevo eingetroffen. C¸ iller, Izetbegovic´ zu erlangen.

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Werbeseite .

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USA Söhne der Freiheit SPIEGEL-Reporter Matthias Matussek über amerikanische Bürgermilizen und ihren Kampf gegen den Staat

melt, als der Feldkaplan von Amerikas „verlorener Seele“ spricht. Die Milizenbewegung, die mittlerwei- le an die 200 000 Sympathisanten zählt, ist eine Art Freiluftturnen mit reaktio- närem Gebetbuch. Sie ist durchdrungen von amerikanischer Gründerromantik – es waren Milizen, die den Freiheits- kampf gegen die englischen Kolonial- herren aufnahmen und die Unabhängig- keit gegen den Britenkönig erstritten. Nun aber wird die Freiheit von innen bedroht. Die Gegner sind Liberale, Atheisten, Wohlfahrtsschnorrer, Politi- ker, Washington und immer wieder und vor allem: der Präsident. Die Feierabendverbände geben sich die phantasievollsten Namen. Da sind die kalifornischen „Bewaffneten Bürger für eine verantwortungsbewußte Erzie- hung“ oder die Aktionsgruppe „Freiheit um jeden Preis“ aus Nevada. Den stärk- sten Zulauf hat die Miliz in Michigan, in

A. STERZING der Männer wie Gefängniswärter Barry Showmaster Donahue, Milizionäre: „In welchem Busch lebt ihr eigentlich?“ Cote mitmarschieren, der die „Freiheit liebt und der Politik mißtraut“ und mitt- chon morgens um vier sind die bei- Natürlich läßt sich Phil Donahue, der lerweile schon eine eigene kleine Grup- den Männer aufgebrochen aus ih- populärste Silberscheitel im amerikani- pe befehligt. Srem verschneiten 300-Seelen-Nest schen Plapper-TV, diese jüngste Bizar- Die Milizenprosa ist pathetisch oder in den Bergen Montanas. Drei Stunden rerie der konservativen Kulturrevoluti- sentimental. Sie zitiert die Verfassung dauert die Fahrt mit dem Jeep zur näch- on nicht entgehen. Während das Saalpu- und Abraham Lincoln, und auch sten Landebahn. Von dort zum näch- blikum mit dem Slogan „Amerikaner die abenteuerlichsten Beschuldigungen sten Flughafen. Dann weiter nach New kämpfen gegen Amerikaner“ angeheizt werden mit großer historischer Geste York zum Sondereinsatz. Ihr Kampf- wird, begrüßt der Talkmaster seine Gä- vorgetragen. ziel: die Seele der Nation. Sie treten in ste in der Garderobe. der Donahue-Fernsehshow auf. Neben den Kriegern aus Montana hat Bob und John sind Milizionäre – bei- er noch Milizionäre aus Michigan und Wut auf Washington de Familienväter, beide geschieden, bei- Ohio ins NBC-Studio im New Yorker de mittlerweile verheiratet mit ihrer Rockefeller Center eingeladen. Diese macht viele US-Bürger zu militanten „Sache“. Sie sehen die Freiheit bedroht sind in olivgrünen Kampfuniformen er- Oppositionellen. Weil anonyme Be- und haben, wie Amerikas Gründerväter schienen, schwer um die Hüften, grim- hörden ihr Leben angeblich immer vor über 200 Jahren, bewaffnete Einhei- mig der Blick. Sogar einen Feldgeistli- stärker regulieren, rufen sie zur Not- ten gebildet, um für den Ernstfall gerü- chen haben sie mitgebracht. wehr gegen „Staatswillkür“ auf. stet zu sein. Den Ernstfall? Donahue ist links, die Milizen sind Zehntausende Unzufriedene schlie- Die beiden Krieger stehen nicht al- rechts. Donahue hat Routine, die Mili- ßen sich paramilitärischen Gruppen lein. In die Zehntausende geht die Be- zen haben wahnhafte Überzeugungen. an. Nun trainieren sie für den Tag, wegung kleiner Leute, die glauben, daß Donahue kann Tränen und Wut und an dem sie ihre Freiheit mit Waffen- Amerika auf dem falschen Kurs ist. Sie Gelächter orchestrieren wie keiner gewalt verteidigen wollen. Die Bür- wollen nicht länger ohnmächtig sein. sonst. Die Milizen wirken neben ihm gerwehren sind allerdings nur die Sie legen Waffenlager an. Sie robben eher lächerlich. Leichte Beute für das reaktionäre Spitze einer populisti- durchs Gelände. dienstälteste Schlachtroß im TV-Talk- schen Revolte, die auch weite Teile Rechter Haß auf Politik und Wohl- show-Parcours. Sollte man meinen. des weißen Mittelstands erfaßt und fahrtsstaat gehört zum guten Ton in je- Doch an diesem Nachmittag will Do- den Republikanern im vorigen Jahr der zweiten Radioshow, Haß ist ein Pro- nahues Spott („In welchem Busch lebt einen phantastischen Wahlsieg be- gramm geworden, das Wahlen gewinnt ihr eigentlich?“) zunächst nicht zünden. schert hat. Waffennarren, Rechtsra- – die Milizen sind die logische nächste Viele im Saal sind merkwürdig fasziniert dikale und enttäuschte Wohlstands- Eskalationsstufe. Die Linke ist tot – nun von den Milizionären im Studio. Leute bürger vereint ihr Haß auf Präsident kommt die rechte Guerilla im virtuellen wie John, ein pensionierter Holzhändler Bill Clinton. Bürgerkrieg. aus Wyoming, der zustimmend mur-

128 DER SPIEGEL 5/1995 Ausbildungslager der Bürgerwehr in Michigan: Romantische Träume vom Freiheitskampf der Gründungsväter

In einer staatsweiten Rekrutierungs- aktion versammelte sich kürzlich die „Konstitutionelle Miliz von Texas“ zu ei- ner Feierstunde am Märtyrer-Fort Ala- mo. Mit würdevollem Mummenschanz hielt der Milizenführer seine Ansprache vor ein paar Dutzend Freiwilligen und Touristen. Mädchen legten Blumenge- binde zum Andenken an die Gefallenen nieder. Worauf eine Beschwerdeliste verlesen wurde, eine Travestie auf die be- rühmte „List of Grievances“ der Unab- hängigkeitserklärung. Zu den Schikanen, die die texanischen Feierabendsoldaten „nicht länger dulden wollen“, gehören unter anderem die So- zialversicherungsabgaben und Gesetze zum Umweltschutz. Außerdem sind sie gegen militärische Interventionen in Län- dern, die „uns und unserem Gott fremd“ sind. Freizeitsoldaten im Manöver: Haß gehört zum guten Ton Die Ermittlungsbehörden halten die meisten Milizionäre nur für verirrte Pa- und Computer-Netzwerke ausgetauscht patriotische Seele rührt: Der amerikani- trioten, harmlose Spinner. Selbst die An- werden. sche Freiheitskampf begann schließlich ti-Defamation League, die rassistische Wer sich an die Propagandisten etwa als ein Aufstand gegen Steuern. Es war und antisemitische Gruppen beobachtet, des „American Patriot Fax Network“ eine Steuererhöhung, die den vorigen befand: „Technisch fallen sie nicht in die wendet oder an die der „Fed-Up Ameri- Präsidenten die Wiederwahl kostete, Kategorie der Haßgruppen.“ can Hotline“, betritt einen Zaubergar- und der politische Kampf um Steuern Sie hetzen nicht gegen Juden, sondern ten politischer Paranoia, in dem alles ein wird womöglich auch den jetzigen erle- gegen Washingtons Bürokratie. Sie pre- Geheimnis ist und alles auf verrückte digen. digen keinen Rassismus, sondern Wider- Art klar. Hier blühen der prächtig-un- Für die Milizen ist Steuer nur ein an- stand gegen Gatt und andere Freihan- begründete Argwohn und die Poesie der deres Wort für Staatswillkür und Per- delsverträge. Sie beschmieren keine Verschwörung, und oft ist es nur ein version der Verfassung. Darüber hinaus Friedhöfe, sondern organisieren Briefak- winziger Kick, ein kleiner Effet, der jedoch gibt es die miliztypische zusätzli- tionen gegen Waffenkontrollgesetze. konventionelle konservative Positionen che Prise Irrsinn. Ein Mitglied der Darüber hinaus verästeln sich ihre ver- ins Irrwitzige überdreht. „Söhne und Töchter der Freiheit“ aus schiedenen Programme in den phanta- Da ist der Kriegstanz um das Totem Nevada etwa meldete sich jüngst mit Be- stischsten Spekulationen, die über Fax „Steuer“, das in Amerika immer an die weisen dafür, daß das amerikanische Fi-

DER SPIEGEL 5/1995 129 AUSLAND

vers 14jähriger Sohn. Am nächsten Tag belagerten Hundertschaften von FBI und Polizei das Grundstück. Weaver und sein Freund wurden angeschossen, Weavers Frau starb im Kugelhagel. Weaver gab schließlich auf. 15 Revolver und Gewehre wurden sichergestellt. Für die Milizen liegt der Fall klar: Washing- ton mordete Patrioten. Daß Präsidenten Verbrecher und Verschwörer sind, die gegen das eigene Volk putschen, ist geradezu ein Be- standteil amerikanischer Folklore. Nach Ansicht mancher Milizionäre soll zum Beispiel US-Präsident Roosevelt von dem Angriff auf Pearl Harbor 1941 schon vorher gewußt haben. Er habe da- für gesorgt, daß die US-Kriegsschiffe miteinander vertäut wurden, um den Schaden zu vergrößern. Warum? Die Antwort klingt verblüffend marxistisch: „Das Großkapital hatte seine Gründe.“ Für die Freaks vom rechten oder lin- Bürgertruppe beim Appell: Kleine Leute, die glauben, daß Amerika . . . ken Rand war der Präsident schon im- mer eine dämonische nanzamt die eigene Bevölkerung für Figur, die Schuld trägt „über 150 ausländische Mächte“ aus- am Elend der Welt spioniere. und vor allem an der Besonders seit der Verabschiedung eigenen Not. Doch mit des jüngsten Waffengesetzes hat die Be- Clinton hat die Präsi- wegung Zulauf. Mit Millionen von Kon- dentenhetze eine neue servativen sind sich die Milizen in Qualität gewonnen: den Grundsätzen einig: Waffe in Bür- Längst kursieren Vi- gerhand ist Verfassungsrecht, Ein- deos, die Clinton Ko- schränkungen sind Anschläge auf die kainhandel, Kindes- Freiheit. entführung und Mord Die Milizen drehen nur ein wenig wei- vorwerfen. Daß in den ter an diesem Credo: Washington, so letzten Monaten gleich behaupten sie, wolle das eigene Volk mehrere Attentate entwaffnen, um es wahlweise an die aufs Weiße Haus ver- Russen, die Vereinten Nationen oder übt wurden, mag Zu- die satanischen Mächte der Finsternis zu fall sein. Tatsache ist, verschachern. daß genug labile Waf- Natürlich haben sie Beweise. Auf fenfans herumlaufen, Highway-Schildern in Michigan zum die den Präsidenten Beispiel wollen sie bereits geheime Mar- für eine Schießbuden- kierungen ausgemacht haben, die frem- figur halten, um die es den Truppen die Orientierung erleich- nicht schade wäre. tern sollen. Ist es vor diesem Hinter- Als gemeinschafts- grund nicht geradezu heilige Bürger- . . . auf falschem Kurs ist: Schießstand der Miliz stiftende Kulturlei- pflicht, Waffen zu horten und sich auf stung wurde der Präsi- den Ernstfall vorzubereiten? agenten und dem Feuertod der Sekten- dentenhaß in den sechziger Jahren von Auch wenn die Milizen zunächst nur jünger gilt Koresh unter Milizionären als den Linken entdeckt. Tom Carson, ein als reaktionäre Faschingsvereine gelten, Märtyrer, der für die Freiheit starb. Kolumnist der Village Voice, erinnerte so gibt es doch Beispiele dafür, daß eine Ein anderer Freiheitsheld ist Randy sich kürzlich, wie „wundervoll es war, paranoide Mobilmachung gegen einge- Weaver aus Idaho, ein Rassist, der Nixon zu hassen – man liebte das Leben, bildete Feinde in eine Katastrophe füh- Schwarze für Untermenschen und Juden wenn man Nixon haßte“. Der Artikel ren kann. Der Feind, der sich nicht ein- für Abkömmlinge des Satans hält. Auch erschien in einem Nachruf auf die Lin- stellen möchte, wird auf diese Weise er war überzeugt davon, daß das letzte ke, die darin für „erledigt“ und „tot“ er- herbeigebetet. Die Krise, die sich nicht Gefecht mit den Armeen des Teufels un- klärt wurde. mehr ertragen läßt, wird auf die Spitze ausweichlich sei. Nun scheint es, daß die subversive getrieben, um endlich Entspannung zu Weaver war wegen illegalen Waffen- Energie der linken Subkultur auf der haben. handels angeklagt worden. Statt im Janu- rechten Seite wieder auftaucht. „Die Der Armageddon-Irrsinn des David ar 1991 zum Gerichtstermin zu erschei- Regierung kontrolliert alles. Sie macht Koresh in Waco (Texas) war so ein Fall. nen, verbarrikadierte er sich, bis an die dich fertig. Aber wir werden uns weh- Überzeugt davon, daß die Entschei- Zähne bewaffnet, mit Familie und ren. Der Tag wird kommen, da werden dungsschlacht zwischen Gut und Böse Freund in seiner Blockhütte in den Ber- Kugeln wertvoller sein als Gold“: Das bevorstehe, legten die Koresh-Jünger gen Idahos und erwartete die Polizei. ist nicht Black-Panther-Romantik aus riesige Waffenlager an. Seit der Stür- Bei einem ersten Feuergefecht im Au- den sechziger Jahren, sondern Miliz- mung der Kommune durch Bundes- gust 1992 starben ein Marshal und Wea- Schwärmerei aus den Neunzigern. An-

130 DER SPIEGEL 5/1995 Werbeseite

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ders als die Apo jedoch ist die Milizenbe- Typen endlich die Fotos wegnehmen. zurück, Geschlagene. Im Schauspiel der wegung zunächst nur abstrakte Mobilma- Doch als die Sendung wiederaufgenom- öffentlichen Aggressivität haben sie den chung, ein ständiges Manöver, das ein va- men wird, bringt sich Bob Fletcher kürzeren gezogen. ges Unbehagen viel eher ausdrückt als selbst um den Sieg. Er begeht einen ka- Der Feldgeistliche macht Mut bei Le- zielgerichteten Aktionismus. Es ist die pitalen Fehler – er greift Donahue per- berwurstschnitten. John Trochmann aus Kultur der Empörung, von der jede Talk- sönlich an. „Es sind Liberale wie Sie, Montana umarmt den schwarzen Kame- show lebt, ein Modus der leeren Erre- die Lügen verbreiten und das Land rui- raden aus Ohio, auf dessen Visitenkarte gung, der Radiomoderatoren wie Rush nieren“, poltert er. Damit ist er gelie- die Berufsangabe „Schützer der Verfas- Limbaugh reich macht und den Milizen fert. sung“ steht. Das Fiasko schweißt zusam- Mitglieder aus der Mitte der Gesellschaft Nun erinnern sich die Fans im Saal ih- men. Schon kurz darauf, als die Kämp- zuführt. rer Loyalitätspflicht gegenüber dem fer von der Limousine der TV-Anstalt Natürlich hat diese Kultur auch den Star. Donahue mag ein Liberaler sein, ins Hotel gebracht werden, wird aus der Journalismus angeregt: Nicht Aufklä- aber er ist eine Berühmtheit. Und er Niederlage eine Heldenlegende. rung, sondern Gehässigkeit ist oft das bringt sie ins Fernsehen. Dafür bedan- „Wir sind in die große Stadt gekom- Ziel, eine Aggressivität, die nichts be- ken sie sich. men, um aufzuklären“, erklärt Troch- wegt, sondern nur noch mitsich selber an- Das Talkshow-Gesetz ist das des ri- mann mit biblischem Pathos, würdevoll gibt. tualisierten Abschlachtens. Nun also unter seinem Patriarchenbart: „Wir sind Der Wahltriumph der Republikaner, werden die Milizionäre zur Beschimp- ausgelacht worden, aber nun klebt kein das wird auch deren neuer Messias Newt Blut an unseren Händen. Wir sind nicht Gingrich zu spüren bekommen, ist eine verantwortlich für das, was kommen Folge dieser Kultur – kein Mandat, son- Der Kampf um wird.“ dern nur ein Entertainmenterfolg, eine Steuern rührt an die Bob Fletcher, ein kleiner, agiler ehe- Belohnung für die aggressiven Parolen. maliger Vertreter, lächelt grimmig. Si- Die Mehrheit derjenigen Wähler, die ge- patriotische Seele cher, die Sendung war ein Desaster. Na- gen die Demokraten stimmten, waren türlich ist Donahue Teil der Verschwö- nicht in der Lage, deren wichtigste Geset- fung freigegeben. „Euch möchte ich rung. Der Feind ist mächtig. Er, Flet- zesvorlagen zu nennen. Sie wollten nicht meine Kinder nicht anvertrauen“, ruft cher, kann ein Lied davon singen. Seit unbedingt die Republikaner, sondern einer und schaut sich beifallheischend er dem Feind auf die Spur gekommen einfach den Wechsel. um. „Laßt euch mal untersuchen“, sagt ist, hat der zweimal versucht, ihn zu tö- Die Kampfstiefel, die an diesem Nach- ein anderer. ten. Der letzte Anschlag war eine Gift- mittag in der Phil-Donahue-Show auftre- Ein Mädchen meldet sich. Es stottert attacke mit Rohine, einer Substanz, mit ten, demonstrieren, wie sehr die politi- und wird rot vor Aufregung, und dann der „sie“ schon William Casey, den ehe- sche Debatte an Seriosität verloren hat bringt es schließlich heraus: „Habt ihr maligen CIA-Chef, umgebracht haben. und durch absurdes Theater ersetzt wur- keine Arbeit?“ Der Saal johlt, und das Gelacht haben sie in der Donahue- de. Bob Fletcher aus Montana ist in Mädchen strahlt in die Kamera, glück- Show – diese Ahnungslosen! Im Hotel- Fahrt. Mit Schautafeln und Fotos unter- lich, daß es sich getraut hat. zimmer werden dem Reporter geheime mauert er seine Gewißheit, daß russische In nur zehn Minuten sind alle Gelän- Dokumente präsentiert, unter anderem Kommandos die Vereinigten Staaten be- degewinne der Milizionäre dahin. Wäh- eine Cornflakes-Packung, die eine Kar- reits infiltriert hätten. rend sich das Publikum nach Ende der te des amerikanischen Kontinents in In einer Werbepause verliert Donahue Sendung in Zweierreihen anstellt, um verschiedenen Farben zeigt. Die Farben die Contenance. Er herrscht seinen Sen- Donahue die Hand zu drücken, ziehen bezeichnen die Provinzen, in welche die deleiter an: Man solle diesen Montana- sich die Milizionäre in den Gästeraum künftige Weltregierung das versklavte Amerika aufteilen wird. Der Feind tarnt sich. Aber er ist auch arrogant und hinterläßt Spuren. „Schon mal auf die Ein-Dollar-Note geguckt?“ murmelt Fletcher im Hotelrestaurant, nachdem er sich vergewissert hat, daß keiner mithört. Er kramt eine aus der Tasche. „Was steht da, gleich neben der Freimaurer-Pyramide?“ Er nickt grim- mig. „Richtig: Novus Ordo Seclorum. Das ist Latein. Es heißt: Neue Weltord- nung. Das ist es, was sie anstreben.“ Sie – das ist Clinton im Verein mit den Rus- sen, den Vereinten Nationen und wahr- scheinlich Phil Donahue. Trochmann und Fletcher aus Monta- na aber werden sie nicht mundtot ma- chen können. „Wir werden uns weh- ren“, sagt Fletcher. Sie haben bereits damit angefangen – da die Donahue- Show die Rechnung begleicht, haben sie einfach das Teuerste bestellt. Und dann toasten sie sich zu, die bei- den Milizionäre, die am frühen Morgen ihr Dorf in Montana verlassen haben, um Donahue zu bekämpfen und die Na-

A. STERZING tion zu warnen. „Up his ass“, sagt Bob. Heimatkrieger Fletcher: „Wir werden uns wehren“ „Up his ass“, antwortet John. Y

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Die Enthüllungen kommen vor allem das zum Genuß von Privilegien berech- Tschechien dem größten Koalitionspartner gelegen, tigen. der Demokratischen Bürgerpartei Unter dem Druck der öffentlichen (ODS) von Ministerpräsident Va´clav Meinung wurde Cˇ erma´k zwar als Klaus- Klaus, zu dessen Parteifreunden der Ge- Stellvertreter geschaßt, aber gleich wie- Dinner heimdienstchef gehört. Die ODS ist der als Berater verpflichtet. „Es fehlen nämlich selbst wegen ihrer Finanzie- nicht nur die wichtigsten Kontrollme- rungsmethoden ins Zwielicht geraten. chanismen, sondern, schlimmer noch, mit Klaus Im November vorigen Jahres hatte die jedes Unrechtsbewußtsein der Politi- Klaus-Partei zu einem großartigen ker“, klagt Jaroslav Ortman, Fraktions- Korruptionsskandale erschüttern Sponsorendinner geladen – Preis pro vorsitzender des oppositionellen Linken das Vertrauen der Tschechen in ihre Gedeck: 100 000 Kronen (5500 Mark). Blocks. Unter den zahlungsfreudigen Gästen Der Chefberater von Klaus, Jirˇı´ Regierung. befanden sich nicht nur private Unter- Weigl, spielt die Skandale herunter. nehmer, sondern auch Manager staatli- „Wir leben nun einmal in einer Über- izepremier Jan Kalvoda, Vorsitzen- cher Firmen. Industrieminister Vladimı´r gangsperiode, in der Milliarden aus der der Demokratischen Bürgeralli- Dlouhy´ (ODA) drohte daraufhin, er staatlichem Besitz in private Hände Vanz (ODA), sah einen „Koalitions- transferiert werden.“ Er plädiert für krieg“ heraufziehen. Die Spione des Großzügigkeit: Die Reformen dürften Feindes wähnte er schon mitten im eige- „Der hat gestohlen, nicht „durch allzu detaillierte Gesetze“ nen Lager. Der Geheimdienst treibe ein der muß weg gebremst werden. „undurchsichtiges politisches Spiel“, in- Die zahlreichen Affären haben das dem er illegal belastendes Material über aus der Politik“ Bild vom angeblich musterhaften Re- Spitzenpolitiker sammle, tadelte Kalvo- formstaat Tschechien ziemlich beschä- da. werde die Bilanzen der Staatsbetriebe, digt. So glauben laut einer Umfrage nur Geheimdienstchef Stanislav Deva´ty´ deren Vertreter so großzügig öffentliche noch 25 Prozent der Bürger, daß „die wies die Anschuldigung empört zurück. Mittel verpraßten, strengstens prüfen, Mehrheit unserer Politiker uneigennüt- Doch Landwirtschaftsminister Josef um herauszufinden, wo die Kosten „für zig und moralisch handelt“. Lux, Vorsitzender der Christlich-Demo- das Dinner mit dem Premier“ versteckt Immer deutlicher zeigt sich, daß die kratischen Volkspartei (KDU-CˇSL), seien. Grundlage der Reformen, die Repriva- will „ähnlich beunruhigende Signale“ Schon vorher war herausgekommen, tisierung von Staatsvermögen, nicht aus- wie Kalvoda empfangen haben. daß der stellvertretende Vorsitzende der reichend gegen Korruption und Betrug abgesichert war – clevere Ge- schäftsleute mit guten Bezie- hungen machten ihren Schnitt. Besonders peinlich: Ausge- rechnet der Direktor der Zen- trale für die Kuponprivatisie- rung, Jaroslav Lizner, wurde dabei erwischt, wie er in einem Lokal eine Bestechungssumme von 8,3 Millionen Kronen ent- gegennahm. Nach der Verhaftung versi- cherte Klaus, die Affäre sei ein „isolierter Einzelfall“. Lizner selbst nannte die Geldannahme eine „ganz normale Geschäfts- transaktion“. Kein Wunder, daß da viele Tschechen vermuten, im Ver- lauf der Privatisierung könnten TK ˇ C noch ganz andere Summen ver- Präsident Havel, Premier Klaus: Seltsame Ehrenerklärung schoben worden sein. Der großzügige Umgang der Politi- Die Politiker haben den Verdacht, daß ODS, Petr Cˇ erma´k, von der Prager ker mit Geld sei gegenwärtig „unser die Agenten eine Affäre ausschnüffelten, Mercedes-Vertretung der Brüder Hel- wichtigstes Problem“, sagt der Schrift- fürdieODA und KDU-CˇSL seit Wochen big eine Luxuslimousine zur Verfügung steller Ludvı´k Vaculı´k, der 1968 mit sei- angeprangert werden. Mit fragwürdigen gestellt bekommen hatte. In der ODS nem „Manifest der 2000 Worte“ zu den Methoden hatten sie versucht, ihre Par- fand zunächst niemand etwas dabei. wichtigsten Verteidigern des Prager teikassen zu füllen: Die ODA nahm bei Zwei Jahre war Cˇ erma´k auf Kosten Frühlings gehörte. der Kredit- und Investitionsbank, deren der Helbigs gefahren – die inzwischen In einem offenen Brief an Klaus er- Besitzer inzwischen wegen anderer Un- von der deutschen und der tschechi- klärt der Altdissident, er könne sich regelmäßigkeiten verhaftet wurde, ein schen Polizei wegen Betrugsverdachts nicht damit abfinden, Betrügereien als Darlehen von 52 Millionen Kronen (2,8 gesucht werden. „notwendige Begleiterscheinungen“ der Millionen Mark) auf – und beglich es Klaus sprang seinem Stellvertreter Umgestaltung hinzunehmen. dann durch ein faules Dreiecksgeschäft. mit der seltsamen Ehrenerklärung bei, Auch Pater Va´clav Maly´ sieht in den Die KDU-CˇSL lieh sich unter ähnlich du- dieser habe den Wagen nicht als Pri- vielen Korruptionsfällen eine Gefahr. biosen Umständen beiderselben Bank ei- vatperson benutzt, sondern als stellver- „Wir müssen offen sagen, der hat ge- ne beträchtliche Summe. tretender ODS-Chef – als würde ihn stohlen, der muß weg aus der Politik“,

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Werbeseite . J. LANGEVIN / SYGMA GAMMA / STUDIO X Beerdigung des ermordeten Rajiv Gandhi 1991, Witwe Sonia: „Wir brauchen einen charismatischen Führer“

fordert der katholische Priester, der blicheneKunstwerke –meist indische Mi- wirtschaftliche Revolution gepriesene bei der samtenen Revolution 1989 als niaturen. Reform brachte zunächst nur Nachteile Sprecher des Bürgerforums zu einer Jetzt soll Gandhi, 47, ihr Geschick bei für das Millionenheer der Armen – die moralischen Autorität aufstieg – ge- größeren Renovierungsarbeiten bewei- Mitglieder der unteren Kasten und die meinsam mit dem heutigen Staatspräsi- sen: Enttäuschte Anhänger und rivalisie- Unberührbaren. Weil Rao Subventionen denten Va´clav Havel. rende Führer hoffen, daß die Frau mit kürzte und Preiskontrollen lockerte, Auf diesen setzen die enttäuschten dem magischen Namen die Herrschaft wurden Reis und Benzin teurer. Bürgerrechtler ihre letzte Hoffnung. der Kongreßpartei rettet. Auch bei Indiens mächtiger moslemi- Von seinem ehemaligen Kampfgefähr- Nur die Erbin des legendären Clans, scherMinderheit –die rund110Millionen ten fordert Maly´: „Jetzt wäre es höch- der unter Jawaharlal Nehru, dessen Anhänger Mohammeds galten traditio- ste Zeit, daß Havel endlich ganz kon- Tochter Indira Gandhi und deren Sohn nell als Stütze der säkularen Kongreßpar- kret zu bestimmten Problemen Stel- Rajiv 37 Jahre lang in fast schon mon- tei – verlor Rao an Rückhalt. Er hatte lung bezieht.“ Doch der drückt sich archischer Erbfolge die Geschicke des es 1992 zugelassen, daß fanatische Hin- noch: „Die Demokratie ist nicht ge- Landes bestimmte, dus die Moschee von fährdet, es gibt keine Krise.“ Y könne den Machtver- Ajodhja zerstörten. fall noch aufhalten, Völlig in Verruf ge- glauben Abgeordnete riet der Ministerpräsi- Indien und Funktionäre. „Wie dent durch allzu große im Reflex greift die Nachsicht bei einer Kongreßpartei in Kri- Reihe von Korrupti- senzeiten auf die Gan- onsskandalen. „Der Frau mit dhi-Dynastie zurück“, Eindruck entstand“, schreibt der Londoner rügte Rao-Rivale Ar- Independent, und indi- jun Singh, „daß aus Schatten sche Kommentatoren der Liberalisierung der beschwören die Witwe, Wirtschaft eine Libe- Eine Italienerin soll die marode Re- endlich als Nothelferin ralisierung der Kor- gierungspartei retten: Rivalisierende einzugreifen. ruption wurde.“ Um das Schicksal der Nur halbherzig ließ Politiker werben um die Gunst von abgewirtschafteten Re- der Regierungschef

Sonia Gandhi. gierungspartei zu wen- BALDEV / SYGMA nach den Schuldigen den, müßte Sonia Gan- Premier Rao des Börsenschwindels dhi allerdings wahre von Bombay suchen: eu-Delhis berühmteste Witwe Wunder vollbringen: Der Sympathiebo- Dort hatten 1992 mehrere Aktienmakler pflegt ein ausgefallenes Stecken- nus, mit dem Ministerpräsident Narasim- Banken und Anleger um 1,3 Milliarden Npferd. Sonia Gandhi, Ehefrau des ha Rao, 73, nach der Ermordung von Dollar betrogen. Die Opposition warf 1991 ermordeten indischen Premiers Ra- Rajiv Gandhi 1991 die Wahlen gewann, Rao vor, er decke mit seinem Zaudern jiv, restauriert Gemälde. Hinter den von ist längst aufgezehrt. Parteifreunde, dieinden Skandalverwik- Bougainvillea bewachsenen Mauern ih- Raos ehrgeiziges Modernisierungspro- kelt seien. res Hauses an der Janpath-Straße 10 rei- gramm bescherte dem laut Verfassung Mit gnädiger Nachsicht übersah Rao nigt und retuschiert die gebürtige Italie- noch immer „sozialistischen“ Staat eine auch monatelang die Machenschaften nerin mit behutsamen Pinselstrichen ver- liberale Wirtschaftsordnung.Aber dieals seines Ernährungsministers, der im ver-

136 DER SPIEGEL 5/1995 AUSLAND gangenen Jahr durch schleppende Im- len beide um die Sympathie der angese- dung kosten – sie macht die konfliktgela- portgenehmigungen eine Explosion des henen Rajiv-Witwe. „Ihr Eintritt in die denen Verhältnisse Indiens für den Tod Zuckerpreises verursachte – Mehrkosten Politik wäre für das Land ein Gewinn“, ihres Mannes verantwortlich. „Ich war für Indiens Staatskasse: rund 800 Millio- versuchte Singh die Italienerin zu kö- wütend und empört über ein System, das nen Dollar. dern, „wir brauchen einen charismati- meinen Mann als Opferlamm verlangte“, Die Wähler liefen der Kongreßpartei schen Führer.“ schrieb sie in ihrer 1992 erschienenen in Scharen davon. Erst erlitt sie im bevöl- Ob die Umworbene als Kandidatin zur Biographie „Rajiv“. kerungsreichsten Bundesstaat Uttar Pra- Verfügung steht, ist indes völlig offen. „Sonia Gandhi ist wie eine Sphinx“, desch eine empfindliche Schlappe, dann Schließlich hatte sich Sonia Gandhi vehe- sagt ein Parteimitglied, „niemand kennt verlor sie Ende vorigen Jahres die Macht ment gegen die politische Karriere ihres ihre wahren Absichten.“ in zwei Landesregierungen, darunter Ra- Mannes gewandt, den sie als Studentin in Bei einem Auftritt im vergangenen Ju- os Heimat, der südindischen Kongreß- Cambridge kennengelernt hatte; nach ni, wo Parteianhänger in Delhis Talkato- Hochburg Andrha Pradesch. dessen Ermordung schlug sie alle ihr an- ra-Stadium ihr frenetisch zujubelten, gab Seither ist die Position des Premiers an getragenen Parteiämter aus und küm- sie erstmals die selbstgewählte Abstinenz der Spitze der Kongreßpartei gefährdet. auf. Inzwischen hat sich die scheue Erbin Wenn binnen Wochen in fünf weiteren der Gandhi-Dynastie zur moralischen In- Bundesstaaten gewählt wird, drohen „In Krisenzeiten greift stanz innerhalb der Kongreßpartei ge- neue Niederlagen. Zu spät reagierte der die Partei auf die wandelt; ihr Haus wurde zum Pilgerort angeschlagene Rao: Ende Dezember für ehrgeizige Politiker. entließ er drei Affären-Minister. Gandhi-Dynastie zurück“ Manche argwöhnen, daß ihr Ehrgeiz Die längst überfällige Kabinettsumbil- dem Aufstieg ihrer Tochter gilt – die wird dung konnte Raos schärfsten innerpartei- merte sich um ihre zwei Kinder. Seither demnächst 25, Mindestalter für eine Par- lichen Rivalen nicht davon abhalten, sich war sie „eine kleine Frau mit riesigem lamentskandidatur. gegen den Premier inStellung zu bringen: Schatten“, so der Kolumnist Sumir Lal. Die Opposition hat dagegen begon- Sozialminister Arjun Singh, 64, trat de- Diese Aura beruht fast ausschließlich nen, am makellosen Ruf der Witwe zu monstrativ zurück und empfahl sich zu- auf dem Mythos des Namens, nicht auf ih- kratzen. Sie halten ihr vor allem die aus- gleich als Alternative für die Parlaments- rer persönlichen Ausstrahlung. Öffentli- ländische Herkunft vor. „Wenn wir denn wahlen im nächsten Jahr. che Ansprachen meidet die Italienerin, unbedingt einen italienischen Premier Rao reagierte, indem er dem Heraus- weil sie nur schlecht Hindi spricht. Bisher haben müssen“, höhnte der regierungs- forderer vergangene Woche „zeitweilig“ war sie nur bereit, in wohltätigen Stiftun- kritische Indian Express, „dann doch lie- die Parteimitgliedschaft entzog – der gen mitzumachen. Der Sprung indie akti- ber einen arbeitslosen Berlusconi – der Rausschmiß dürfte folgen. Seither buh- ve Politik würde sie viel innere Überwin- hat mehr Erfahrung.“ Y

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WISSENSCHAFT PRISMA

gelüftet. Die Netze, so bar“. Auf diese Weise sollte kalkuliert, sollte die Anlage berichten die Forscher, der Brennstoff-Kreislauf ge- Gewinn abwerfen. Diese sind aus zwei verschie- schlossen werden: Das in den Hoffnung wurde, wie der denen Spinnfäden ge- Brennstäben erbrütete Pluto- New Scientist meldete, nun webt: einerseits den fe- nium wurde auf chemischem erheblich gedämpft – auch sten, den Speichen eines Wege herausgelöst und in wenn die deutschen AKW Rades gleichenden ra- neuen Brennstäben mitverar- angeblich eine Konventional- dialen Fäden und ande- beitet. Ende letzten Jahres strafe in Höhe von umge- rerseits den superelasti- aber kündigten die beiden rechnet 250 Millionen Mark schen, spiralförmigen deutschen Energiekonzerne zahlen müssen. und zusätzlich mit Kleb- RWE und Bayernwerk be- stoff überzogenen Fang- reits abgeschlossene Aufträ- Meerestechnik fäden. Diese Fäden ge über die Wiederverarbei- dämpfen zugleich durch tung ihrer Brennelemente in Schatzsuche ihren Luftwiderstand der britischen Anlage Thorp beim Aufprall eines In- in Sellafield. Der Abnahme- mit Bohrschiff sekts die Schwingungen vertrag mit der französischen Gegen Ende des Zweiten

HEILMANN / ZEFA des Netzes, verhindern Anlage in La Hague wurde Weltkriegs versenkte ein Spinnennetz dadurch, daß es zer- nicht verlängert. „Uran ist deutsches U-Boot den US- reißt, und geben der auf dem Weltmarkt billig zu Frachter „John Barry“ im Materialforschung Spinne die Gelegenheit, ihre haben, die Wiederaufarbei- Arabischen Meer. In dessen Beute schneller zu erreichen. tung ist sehr teuer“, so be- Laderäumen waren drei Mil- Geheimnis Die Kunst, die jeden Stahl an gründete jetzt Nor- Festigkeit übertreffenden sei- bert Eickelpasch, Si- gelüftet dendünnen Fäden zu spinnen, cherheitschef des be- Für Spinnen ist es eine Über- haben die Tiere mutmaßlich troffenen Kernkraft- lebensfrage: Das von ihnen schon vor 400 Millionen Jah- werks Gundremmin- gesponnene Netz muß fest ren entwickelt. Die ersten gen, die Entschei- genug sein, um die relativ Netze entstanden vor 180 Mil- dung. Allein bei der große Masse eines schnell an- lionen Jahren, als die Krabb- britischen Anlage fliegenden Insekts festzuhal- ler anfingen, in Sträuchern Thorp entfallen durch ten; andererseits darf das und Bäumen auf Beute zu lau- die Kündigung der Netz nicht so fest sein, daß ern. Verträge für die die Beute wie von einem Atomreaktoren von Trampolin zurückgeschleu- Atomenergie Gundremmingen und dert wird. Die beiden briti- Krümmel Aufarbei-

schen Biologen Fritz Vollrath Abkehr von der tungsaufträge über P. VALDY / IFREMER und Donald T. Edmonds von insgesamt 550 Ton- Geborgene Münzladung der John Barry der Universität Oxford ha- Aufarbeitung nen, rund 20 Prozent ben zusammen mit der Stati- Jahrzehntelang galt die Wie- der Thorp-Aufträge für die lionen für Saudi-Arabien be- kerin Lorraine H. Lin in ei- deraufarbeitung abgebrann- Jahre 2004 bis 2014. Vom stimmte Münzen verstaut, ner Computersimulation das ter Brennstäbe für die Atom- Jahr 2004 an, so hatten die außerdem, wie vermutet Geheimnis der Spinnennetze wirtschaft als „unverzicht- Thorp-Manager ursprünglich wird, Silberbarren im Wert von umgerechnet 40 Millio- nen Mark. Nun haben Mee- Monderkundung ne Tiefe von rund 13 Kilometern. Teile des restechniker des französi- Kraterrands waren auf früheren Fotogra- schen ozeanographischen In- fien von der erdabgewandten Seite des stitutes „Ifremer“ das in 2600 Loch im Rücken Mondes zu sehen, aber nicht eindeutig als Meter Wassertiefe liegende Ein kosmischer Gesteinsbrocken von rund Kraterrand zu identifizieren gewesen. Das Wrack „aufgeschnitten wie 200 Kilometern Durchmesser hat vor schät- Alter des Einschlags schätzten die Forscher eine Sardinenbüchse“ (so zungsweise vier Milliarden Jahren ein riesi- anhand der kleineren Krater, die seit dem Cheftechniker Pierre Valdy) ges Loch in die Rückseite des Mondes ge- großen Einschlag auf der Oberfläche des und mehr als die Hälfte der schlagen. Ausgehend von den von der US- Riesenkraters entstanden sind. Münzen mit einem Gewicht Raumsonde Clementine im von 17 Tonnen geborgen. Frühjahr letzten Jahres zur Die Franzosen entwickelten Erde gefunkten Aufnah- für das Unternehmen eine men, haben die Wissen- neue Technik: Sie arbeiteten schaftler eine topographi- von einem Bohrschiff aus; sche Karte erstellt, die erst- anstelle des Bohrkopfes hat- mals die Ausmaße dieses ten sie an der Spitze des größten Kraters im Son- Bohrgestänges eine 50 Ton- nensystem erkennen läßt. nen schwere, fernsteuerbare Der „Südpol-Aitken-Kra- Zange installiert. Bei der ter“ hat einen Durchmes- Bergungsaktion im Herbst ser von rund 2500 Kilome- räumten die Franzosen einen

tern, nahezu ein Viertel JOHNS HOPKINS UNIVERSITY / NASA von vier Laderäumen leer. des Mondumfangs, und ei- Topographische Karte der Mondrückseite Weitere Fahrten zum Wrack sind geplant.

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Werbeseite . GAMMA / STUDIO X J. CLOTTES / SIPA Neuentdeckte Höhlenmalereien (Hyäne, Pferde) bei Vallon-Pont-d’Arc: „Bestiarium von großer Frische“

Archäologie HÖHLENWUNDER IM KARST Rhinozerosse in Angriffsstellung, Löwen, Pferde und Auerochsen in wildem Lauf – „nur noch staunen“ konnten fran- zösische Höhlenforscher, als sie durch Zufall einen Felsdom mit prähistorischen Wandmalereien entdeckten. Seit 20 000 Jahren hatte kein Mensch mehr die steinzeitliche Bildergalerie betreten.

ean-Marie Chauvet, 42, Höhlenfor- Clottes, Prähistoriker und Höhlenmale- zeitlichen Erbes mit sich: Die Schweiß- scher aus Leidenschaft, hat in den rei-Experte im Pariser Kulturministeri- wolken und Ausdünstungen der Besu- JGrotten des südostfranzösischen um. Andererseits sei, angesichts so chermassen drohten schon Anfang der Arde`che-Tals schon ungezählte span- grandioser Kunst, jeder Vergleich mü- sechziger Jahre die 1940 entdeckten nende Stunden verbracht. Ein „unbe- ßig: „Mißt man etwa van Gogh oder Höhlenbilder bei Lascaux im südwest- schreibliches Glücksgefühl, das man si- Monet an Leonardo da Vinci?“ französischen Departement Dordogne cher nur einmal im Leben hat“, ist Clottes ist, außer den Entdeckern, zu ruinieren. dem eher bescheidenen, zurückhalten- der einzige, der bislang Zutritt zu der Dort werden heute nur noch fünf Be- den Speläologen nun bei seiner jüng- neuen Fundstätte hatte: Anders als frü- sucher täglich eingelassen, die übrigen sten Expedition widerfahren. here spektakuläre Höhlen soll das un- (pro Jahr rund 350 000) müssen sich mit Auf einem Streifzug durch die Karst- terirdische „prähistorische Museum“ Reproduktionen auf einer nachgestell- landschaft um das Dorf Vallon-Pont- (Chauvet) bei Vallon-Pont-d’Arc unver- ten Felsenszenerie begnügen. In der Py- d’Arc hat Chauvet einen Schatz ent- sehrt bleiben – abgeschottet gegen zu- renäenhöhle von Niaux zertrampelten deckt, der von Kennern als „Jahrhun- dringliche Speläologen und schaulustige Touristen den lehmigen Höhlenboden dertfund“ gefeiert wird: unterirdische Touristen. mitsamt seinen wertvollen Spuren. Der Gänge und Hallen mit Hunderten von Denn der Kontakt mit neugierigen unterseeische Eingang zur Grotte von roten und schwarzen Tierabbildungen, Eindringlingen bringt, erfahrungsge- Cassis bei Marseille wurde deshalb, bald mit Abdrücken von Händen und mäß, unweigerlich den Verfall des stein- nach der Entdeckung 1991, mit Fels- abstrakten Gravierun- brocken und einem in gen. Beton gegossenen Gitter Ganze Herden von verschlossen. Rentieren, Wildpferden, Zum Schutz der ural- Wisenten, Auerochsen, ten Hinterlassenschaf- Raubkatzen und Rhino- ten in der pittoresken zerossen sprangen Chau- Arde`che-Region, die wie vet und seinen beiden ein Käse von Kavernen Begleitern „regelrecht durchlöchert ist und als von den Wänden entge- klassischer Fundort gilt, gen“, als sie am 18. De- war Chauvet, als behörd- zember vergangenen licher Denkmalpfleger, Jahres erstmals in die auch am Tag der Entdek- Kalkhöhle eindrangen. kung auf Patrouille. Ein Die steinzeitliche Bil- merkwürdiger Luftzug dergalerie, seit schät- aus dem Kalkfelsen alar- zungsweise 20 000 Jah- mierte den Höhlenkund- ren von keinem Men- ler und seine Archäo- schen mehr betreten, sei logenfreunde Eliette in ihrer Pracht und Viel- Brunel-Deschamps und falt einzig der berühmten Christian Hillaire.

Höhle von Lascaux ver- AFP / DPA Einen ganzen Tag gleichbar, sagt Jean Entdecker Chauvet, Brunel-Deschamps, Hillaire: „Närrische Freude“ brauchten die drei, um

140 DER SPIEGEL 5/1995 . J. CLOTTES / SIPA Rhinozeros-Darstellungen in der „Chauvet-Höhle“: Heiligtum von Großwildjägern oder Stätte der Magie?

sich einen Eingang freizulegen. Dann die Schuhe aus und gingen nur auf einem Gerhard Bosinski, Altsteinzeit-Forscher robbten sie durch einen Tunnel bis zu ei- Tropfstein-Pfad voran, der archäologisch am Römisch-Germanischen Zentralmu- nem Schacht, warfen ihre Strickleiter ohne Wert war.“Das übrigeBodengelän- seum in Mainz. Denn immer noch rät- aus und gelangten so in die Grotte, ein de deckten sie mit Plastikfolien ab. seln die Wissenschaftler über Funktion urzeitliches Palais aus breiten Gängen Die Umsicht des Trios, dessen Sensa- und Bedeutung der prähistorischen Bil- und riesigen Sälen, die bis zu 70 mal 40 tionsfund erst einen Monat später, am derhöhlen. Metern messen. 18. Januar, in Paris durch Kulturminister Die Meisterwerke von Vallon-Pont- Beim Anblick der farbigen Kolossal- Jacques Toubon persönlich bekanntge- d’Arc entstanden wahrscheinlich vor gemälde seien sie „närrisch vor Freude“ geben wurde, hat für die Wissenschaft rund 17 000 bis 20 000 Jahren, in der re- und in einem „ästhetischen Schock“ ge- wohl einzigartige Voraussetzungen ge- lativ kurzen altsteinzeitlichen Kulturstu- wesen, sagt Hillaire. Dennoch bremsten schaffen. Die „Chauvet-Höhle“ bietet fe des „Solutre´en“, die nach der Fund- die drei ihren Enthusiasmus: „Als wir den Gelehrten ein künstlerisch reiches stelle La Solutre´ in Südwestfrankreich im Lehmboden die deutlichen Abdrük- Steinzeit-Ambiente, das mit allen Spuren benannt wurde. Während Eismassen, ke von Bärentatzen mitsamt den Ballen von Mensch und Tier makellos erhalten die sich von Skandinavien und den Al- sahen“, berichtet Chauvet, „zogen wir ist: „Wir erwarten viel“, kommentiert pen voranwälzten, die Regionen des heutigen Deutschland zur Polarwüste machten, fanden steinzeitliche Groß- Bedeutende steinzeit- wildjäger in Frankreichs milderem Sü- liche Fundstätten in Lyon den ein Refugium. Südfrankreich und Lascaux: vor rund Grenoble Die Sippen, so Bosinski, „wohnten je- 17000 Jahren

R weils für längere Zeit in dorfartigen

Nordspanien und ihre h ô

Datierung Bordeaux n Siedlungen und lebten von Tierherden, e die die prärieartige Graslandschaft Ga r o durchzogen“. Pferde und Rentiere, Nas- n ne Grotte Chauvet hörner, Mammute und Wisente wurden FRANK- Vallon-Pont-, mit Wurfspeeren und Speerschleudern d Arc: vor rund erlegt; bis zu 35 Zentimeter lange, fein REICH 17 000 bis Marseille Toulouse 20 000 Jahren gearbeitete Flintsteinklingen in Blatt- form künden vom Geschick der Solu- tre´en-Leute, die, mit Schönheitssinn be- Cassis: vor rund gabt, für ihre Werkzeuge auch verschie- Altamira: vor etwa 16 000 bis 28 000 denfarbiges Quarzgestein und Jaspis 14 000 bis 20 000 Jahren verwandten. Jahren Von „überraschender Güte und her- Niaux: vor rund vorragend gut erkennbar“, so urteilt 12 000 bis 14 000 100 km Jahren Joachim Hahn von der Universität Tü- SPANIEN bingen, sind auch die (bislang nur in ei- nem Film gezeigten) Tierporträts, mit

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WISSENSCHAFT

denen die Steinzeitjäger die Wände der fundenen Abbildungen zustande ge- Chauvet-Grotte schmückten: Die Far- kommen sind. Medizin ben und Konturen sind außerordentlich Den Sinn herauszufinden ist ebenso klar – „da kann man nur mit offenem schwierig wie bei den roten Punkten, die Mund staunen“. auf die Arde`che-Karstwände gemalt Der Tübinger Archäologe und „Höh- sind: Handelt es sich um abstrakte Sym- Opfer lenausgräber“ (Hahn über Hahn), der bole, um Zeichen für Bilder, die noch sich auf eigenem Territorium bislang mit folgen sollten, oder sind die Punkte altsteinzeitlichen Farbspuren begnügen schon mit Schrift in Verbindung zu brin- verweigert mußte, schließt wie seine französischen gen? Auch hier hinterließen die Maler Kollegen eine Fälschung aus – obwohl in einen Code – „den Schlüssel dazu“, so Wie Sonnenstrahlen die Haut rui- der Dordogne wie auch in Spanien gele- Archäologe Hahn, „haben wir nicht“. nieren und Krebs auslösen, haben gentlich schon falsche Steinzeitmaler am So ist bislang auch im dunkeln geblie- Werk waren. ben, welchem Zweck üppig ausgestatte- Wissenschaftler jetzt im Detail Die teils ausgemalten, teils nur in te Plätze wie die Chauvet-Grotte über- erforscht. Umrissen abgebildeten Tiere der Ar- haupt dienten: Waren sie gemeinsames de`che-Höhle seien „von großer Frische, Heiligtum verschiedener Jägergruppen, wenngleich nicht ganz so voluminös und ein Ort, in dem Initiationsriten began- enibel stanzten die Forscher ihren schwungvoll wie diejenigen von Las- gen wurden, eine Stätte für Magie und hautkrebsgefährdeten Patienten caux“, meint Hahn. Das Bestiarium um- Mythos? Von Kulthandlungen könnte Pbräunlich verhornte Hautfetzen faßt dafür Tiere, die in anderen europäi- ein Bärenschädel zeugen, der auf einem aus Kopf und Nacken, von Armen und schen Höhlen selten oder gar nicht vor- altarähnlichen Gesteinsblock liegt. Gro- Händen. kommen: ße Hoffnungen bei ihren mühevollen Ein Schwarm von Laborfachleuten isolierte anschließend die Erbsubstanz aus den verdächtigen Gewebestück- chen. Dann surrten in den Labors des Howard Hughes Medical Institute bei Boston und der Yale University in New Haven die Apparate zur Genanalyse. Als die Ergebnisse der Genfahndung einliefen, hatte die Forschertruppe von Annemarie Ziegler und Douglas Brash den wissenschaftlich exakten Beweis für einen Zusammenhang in Händen, an dem längst niemand mehr zweifelt: „Sonne macht Hautkrebs.“ Aufgespürt hatten die Forscher nicht weniger als 35 unterschiedliche Gen- defekte in den verhornten Hautfetzen (Keratosen), die den Ärzten als Krebs- vorstufen gelten. Ausnahmslos fanden sich die Erbschäden der Hautzellen in dem Gen p53, das als Tumorbremse be- kannt ist. Alle Zellen zeigten die typi- EDITING schen Eigenschaften einer Genschädi- gung durch UV-Strahlung.

SCHULLER / Endlich sei es gelungen, begeisterte Kalksteinfelsen in der Arde`che: Durchlöchert wie ein Käse sich der US-Molekularbiologe Alexan- der Kamb, die Sonnen-UV-Strahlung 50 Rhinozerosse, einen Uhu, unter- Versuchen, die Vorstellungswelt der durch „eine plausible Ereigniskette“ – schiedliche Katzentiere. Mit rötlichen Steinzeitmenschen zu erhellen, setzen über Defekte im p53-Gen – mit dem oder schwarzen Mineralfarben sind au- die Archäologen nun in die Erforschung Entstehen des Plattenepithelkarzinoms ßerdem, im stürmischen Lauf oder ein- des intakten Höhlenbodens. zu verknüpfen. ander angriffslustig gegenüberstehend, Nachdem die Höhle vor Klimaverän- Schon lange galt der kurzwellige, Pferde, Auerochsen, Löwen, Steinbök- derungen durch eindringende Luftzüge energieknisternde UV-Anteil im Son- ke, Hirsche und auch eine Hyäne wie- geschützt worden ist, sollen Fußabdrük- nenlicht den Hautärzten als Ursache der dergegeben – insgesamt 300 Tiere wur- ke, Tierknochen, Reste von Werkzeugen dramatisch ansteigenden Zahl von den bislang an den Höhlenwänden ge- und Fackeln geborgen, fotografisch und Hautkrebsfällen. Mit einprägsamen zählt. Elemente der Landschaft, in der zeichnerisch dokumentiert und analy- Sprüchen („Die Haut vergißt nie“) pre- das Wild lebte, fehlen wie in anderen siert werden: „Arbeit für viele, viele Jah- digt die Zunft der Dermatologen seither Grotten auch hier gänzlich. re“, sagt Chauvet. gegen den Bräunungswahn, der die „Ich war hier“ – das könnten nach Während Bürgermeister Jean-Pierre Deutschen Jahr für Jahr zu Millionen an Hahns Auslegung die ockerfarbenen Ageron sein 2000-Seelen-Dorf bereits als die sonnenglühenden Strände im Süden Abdrücke von Händen bekunden. Man- zweites Lascaux sieht, hat der Präfekt der treibt. chen der steinzeitlichen Hände fehlen Region strenge Maßnahmen zur Spuren- Ähnlich wie der gefürchtete schwarze einzelne Finger oder Fingerglieder – sicherung getroffen. Rund um die Uhr Hautkrebs (Melanom) greifen auch Verstümmelung, bedeutsames oder wachen Gendarmen vor der Fundstätte, zwei weitere Hautkrebsarten um sich: scherzhaftes Versteckspiel? Im Experi- den Eingang verschließt eine Stahltür mit Seit 1980 haben sich die Fälle von Basa- ment versucht der Forscher nachzuvoll- der Aufschrift: „Unter Denkmalschutz – liomen und Plattenepithelkarzinomen ziehen, wie solche auch andernorts ge- der Kulturminister“. Y verdoppelt.

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Bremse gelockert Ein Selbstmord-Gen schützt die Haut vor Strahlenschäden

1 UV-Licht 2 3 34 gesunde Hautzellen

Krebszellen abgestorbene Hautzelle mit Hautzelle ohne Hautzellen abgeschwächtem p53-Gen p53-Gen HAUTKREBS (PLATTENEPITHELKARZINOM) 1 Auf starke Bestrahlung mit UV- 2 Übermäßige UV-Strahlung kann 3 Im Lauf der Zeit können sich 34 Wie aus den Hautzellen, die Licht reagieren gesunde Hautzel- jedoch auch das p53-Gen in Mit- die vorgeschädigten Hautzellen in das Strahlenschutz-Gen verloren len mit Sonnenbrand. Dabei schal- leidenschaft ziehen. Strahlenver- gefährliche Zelltypen verwandeln, haben, schließlich Krebszellen tet ein bestimmtes Gen („p53“) in sehrte Hautzellen mit defektem die über gar keinen Strahlen- werden, ist noch weitgehend unge- den geschädigten Zellen eine Art p53-Gen – und damit stark abge- schutz mehr verfügen. Diese Haut- klärt. Sicher ist nur, daß beim Selbstmordprogramm ein. Sie schwächtem Strahlenschutz – ster- zellen ohne funktionsfähiges p53- Ausfall des p53-Gens auch die sterben ab und lösen sich als ben nicht ab; sie leben weiter und Gen gelten als Vorform künftiger Tumorbremsen im Genprogramm schuppiges Gewebe von der Haut. vermehren sich. Krebszellen. der Zellen gelockert werden.

Rund 800 000 Amerikaner, so rech- der heute 30jährigen künftig nochmals samte Erbgut komplett verdoppelt wur- nete die American Cancer Society ih- eine Krebswelle zu erwarten. de. ren bräunungswütigen Landsleuten Nach den Laborermittlungen der In den sonnenverbrannten Hautzellen vor, seien 1993 an diesen minder ag- Schweizerin Ziegler und ihrer US-Kolle- wandelt sich das Tumor-Suppressorgen gressiven Hautkrebsen erkrankt – gen läßt sich beim Spindelzellkarzinom zum hilfreichen Todesengel: Es aktiviert Quittung für die Sonnensünden von nun erstmals der Verlauf der Krebsent- sogenannte Selbstmordgene im Zell- Jahrzehnten. stehung nachzeichnen. kern, die dafür sorgen, daß die von der Auf Plattenepithelkarzinom lautet Schon der erste Sonnenbrand im Sonne angesengten Hautzellen rasch zu- der Dermatologenbefund jährlich auch Kleinkindalter, so glauben die Forscher grunde gehen und abgestoßen werden. bei 20 000 Bundesbürgern; jeder zwan- aufgrund ihrer neuesten Erkenntnisse, Folge des zellulären Massensterbens zigste davon stirbt an der Erkrankung. könnte die fatale Ereigniskette auslö- nach einem Sonnenbrand: Die oberste Die Hautkrebsepidemie habe ihren sen. Ein einziger Volltreffer der ener- Zellschicht der Haut pellt sich ab. Höhepunkt längst noch nicht erreicht, giestarken Sonnen-UV-Strahlen vermag Doch manche der Hautzellen, so die schätzt der amerikanische Dermatologe das p53-Gen einer Hautzelle funktions- jüngste Entdeckung von Ziegler und Martin Weinstock, auch ohne das Me- unfähig zu schießen – ein folgenschwe- Kollegen, verweigern den Opfergang – lanom sei „Hautkrebs schon jetzt häu- rer Defekt mit paradox erscheinender es sind jene Zellen, bei denen der figer als alle anderen Krebsleiden zu- Wirkung: Die gengeschädigte Zelle ist Selbstmordauslöser, das p53-Gen, sammen“. künftig fürs Überleben im UV-Gewitter durch das UV-Bombardement außer „Die Fallzahlen steigen exponen- bestens gerüstet. Gefecht gesetzt wurde. Jedes weitere tiell“, klagen die Krebsexperten Zieg- Den Zellbiologen gilt das intakte UV-Bad spült mehr wachstumsfreudige ler und Brash im Fachblatt Nature; p53 als „Wächter des Genoms“; es be- Mutanten in die Haut. Häufen sich spä- weil die UV-Strahlung die gefährlich- wahrt die Zelle vor den fatalen Folgen ter auch in anderen Genen dieser Zellen sten Treffer schon in der Kindheit der fehlerhafter Erbinformationen. Auch verhängnisvolle Defekte, beginnt das Patienten lande, sei in der Generation stoppt es die Zellteilung, bis das ge- Krebswachstum (siehe Grafik). Die Fallzahlen würden „bei allen Hautkrebsen künftig noch weiter stei- gen“, prophezeit auch der Hautmedizi- ner Eckhard Breitbart, Chef des derma- tologischen Zentrums im niedersächsi- schen Buxtehude; inzwischen allerdings zeigten Erziehungsversuche der Derma- tologen bei den Sonnenpilgern Wir- kung. Zwar schwellen die Urlauberströme unvermindert an. Doch Hautspezialist Breitbart beobachtet, was den medizi- nisch bedenklichen Sonnenkult angeht, „hochsignifikante Verhaltensänderun- gen in der Bevölkerung“. Künftig wol- len die Mediziner ihre Aufklärungskam- pagnen verstärken; besonders wichtig ist ihnen der UV-Schutz für Kinder. Die Angst vor dem Ozonloch in der Stratosphäre kommt den ärztlichen Auf- klärern zustatten. „Deutsche, die ver- brutzeln“, hofft Breitbart, werde man

STEVENS / GAMMA / STUDIO X an den Urlaubsstränden künftig immer Sonnenbadende: „Die Haut vergißt nie“ seltener antreffen. Y

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WISSENSCHAFT

Tiere Zwingburg für Nager Sie neigen zu Krebs oder Diabetes, leiden chronisch an Rheuma, Fettsucht oder Epilepsie: Rund 1700 verschiedene Mäusestämme mit jeweils bestimmten Gendefekten werden in der größten Mäusezuchtanstalt der Welt im US-Staat Maine planmäßig produziert und als Versuchstiere für die Bioforschung in 33 Länder verschickt.

ls Freddie im Sterben lag, sollte es verschiedene Mäusestämme gezüchtet nen Stämme, die in langen Kataloglisten ihm noch einmal richtig gutgehen. worden – darunter dicke oder nackte, aufgeführt werden. Für die Standard- ASechs junge Weibchen wurden ihm winzige und notorisch nervöse Mäuse, kreuzung B6AF mit schwarzem Fell, de- ins Sägemehl gelegt. Sie kuschelten sich solche mit hohem Blutdruck oder Dia- ren Vertreter für besonders massenhaf- mit ihren warmen Leibern an ihn und betes, Mäuse, die nach wenigen Lebens- ten Nachwuchs sorgen, werden pro Tier sorgten dafür, daß er wohlig entschlum- wochen an Lungenkrebs erkranken, 5,70 Dollar berechnet. merte. oder andere, die ohne ein funktionsfähi- Eine acht Wochen alte Maus vom So alt wie Freddie war noch nie eine ges Immunsystem zur Welt kommen. Stamm C57BL hingegen kostet 76,90 Maus geworden. Das Tier lebte 1742 In Tausenden von schuhkartongroßen Dollar. Sie gehört, wie TJL-Produkti- Tage und erreichte damit, nach mensch- Plastikbehältern wuseln rund 800 000 onschef Philip Standel erläutert, zu ei- lichem Maßstab, vergleichsweise ein Al- Mäuse umher, die in einer klimatisier- nem Stamm, der „eine gewisse Zurück- ter von 156 Jahren. ten fußballfeldgroßen Halle sowie Dut- haltung bei der Vermehrung an den Tag Was Freddie so hochbetagt werden zenden anderer „Mäuseräume“ von den legt“ – kein Wunder: Die C57BL ließ, wurde nie restlos geklärt. Womög- 560 TJL-Beschäftigten gezüchtet und kommt mit dem Zuchtmerkmal „mehr- lich war es der gesundheitsfördernde versorgt, erforscht und in alle Welt ver- fache Krebsbildungen an den Verdau- Einfluß der kargen, kalorienarmen schickt werden. ungsorganen“ zur Welt. Das macht sie Kost, die ihm zeitlebens gereicht wurde. Dreimal wöchentlich rollen Schwerla- zeugungsunlustig, dafür aber zu einem Möglich ebenso, daß Freddie nur ein ster mit speziell abgepufferter Ladeflä- unentbehrlichen Versuchstier in der „genetischer Ausreißer“ war, eine ex- che vom Hof der Mäusezwingburg; sie Krebsforschung. treme Ausnahmeerscheinung, wie sie in bringen ihre Fracht zum rund 500 Kilo- Gegründet wurde das Labor 1929 na- der Mäusewelt gelegentlich vorkommt. meter entfernten Flughafen von Boston. he dem Acadia Nationalpark von dem Wie auch immer, Freddies Hütern, Etwa 750 000 TJL-Mäuse waren es letz- amerikanischen Genetiker und damali- dem amerikanischen Genetiker David tes Jahr, die an Universitäten, Pharma- gen Präsidenten der University of Harrison und seinen Kollegen am The firmen und genetische Forschungslabors Maine, Clarence Cook Little. 19 Jahre Jackson Laboratory (TJL) in Bar Har- in 33 Ländern verschickt wurden. zuvor hatte Little begonnen, mittels In- bor (US-Staat Maine), ist es nicht gelun- Der Preis pro TJL-Maus richtet sich zucht „erbreine“ Mäuse heranzuziehen. gen, unter den Nachkommen des Mäu- nach den Produktionskosten der einzel- Diese Methode, jeweils Brüder und semethusalems ein ähnlich langlebiges Exemplar her- anzuzüchten. So mußte Freddies Al- tersrekord als Mißerfolg in den TJL-Annalen ver- bucht werden. Ausgerech- net bei jener Maus, die wichtige Hinweise auf eine Verlängerung auch der menschlichen Lebens- spanne hätte geben kön- nen, hatten die TJL-Wis- senschaftler versagt – da- bei genießen sie seit Jahr- zehnten einen weltweit untadeligen Ruf: Das selt- same Institut ist in der bio- medizinischen Forschung berühmt für die Lieferung von Labormäusen, die sich durch besonders prä- gnante Eigenschaften aus- zeichnen. In der größten Mäusefa- brik der Welt, gelegen auf den Klippen des Mount

Desert Island im Nordat- N. FEANNY / SABA lantik, sind bisher 1700 Versand von Labormäusen am TJL: „Altersleiden wie bei unserer Oma“

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„bewirkt sie im Organismus der Maus ziemlich genau dasselbe wie beim Men- schen.“ Deshalb bietet das durchschnittlich zweieinhalb Jahre währende Mäusele- ben gleichsam im Zeitraffer ein ideales Modell für ein acht Jahrzehnte währen- des Menschenleben. An der Maus kön- nen die Wirkungen von Medikamenten und deren Spätfolgen getestet werden. Der Ausbruch von Krankheiten und ihr Verlauf lassen sich an der Maus ebenso beobachten wie die Auswirkungen ge- netischer Defekte. Obendrein ist mit Mäusen kostengün- stig zu experimentieren. Im Vergleich zur TJL-Standardmaus sind Versuche mit einer Laborratte 10mal, mit einem Pavian gar 60mal teurer.

R. HOWARD / DAS FOTOARCHIV Vor allem dem hochentwickelten Ge- Zuchtmodell Nacktmaus: Aids-Forscher als Großabnehmer spür der TJL-Mitarbeiter, Mäuse mit genetischen Defekten zu erkennen und Schwestern zu Eltern einer neuen Mäu- Paigen, „erkranken an menschlichen die ausgesonderten Mutanten durch seschar zu machen, führt dazu, daß nach Leiden.“ Die Nager werden herz- und Züchtung zu erhalten und zu vermeh- 20 Generationen Mäuse mit nahezu zuckerkrank, sie bekommen Gallenstei- ren, verdankt die Mäusefabrik in Bar identischen Erbanlagen entstehen. ne, Kröpfe und Schlaganfälle, leiden un- Harbor ihre Weltgeltung. Einmal pro Der Vorteil für die Forschung: Bei ter pathologischer Fettsucht oder wäl- Woche werden die Tiere in neue, sterili- Experimenten mit den genetisch ge- zen sich, geschüttelt von epileptischen sierte Gehege mit sauberen Holzspänen normten Inzuchtmäusen wird ausge- Krämpfen, am Boden. schlossen, daß unterschiedliche Erban- Wenn Mäuse alt werden, so TJL-Mit- lagen die Ergebnisse von Untersu- arbeiter Jeffre Witherly, „geht es ihnen Am Putztag chungsreihen beeinflussen. Da zudem nicht besser als unserer Oma“: Sie wer- eine fieberhafte Jagd unabhängig voneinander verschiedene den schwerhörig und schwachsichtig, Wissenschaftler mit jeweils genetisch werden geplagt von Rheuma und den auf Abweichler identischen Mäusen arbeiten können, Wechseljahren; sie kommen in die lassen sich die Ergebnisse ihrer Versu- „Mausepause“, wie das Klimakterium umgesetzt. Dies ist der einzige Tag in che miteinander vergleichen. weiblicher Mäuse am TJL genannt wird. der Woche, an dem der stechende Ge- Daß die Maus zum meistverwendeten Tatsächlich sind 85 Prozent der Gene ruch von Mäusekot und -urin aus den Testtier in der biomedizinischen For- von Mäusen und Menschen identisch. Produktionsräumen entweicht. schung avancierte, hat gute Gründe. „Wenn wir einer Maus eine menschliche Am Putztag gilt das besondere Inter- „Mäuse“, sagt TJL-Direktor Kenneth Erbanlage einpflanzen“, so Paigen, esse der Mäusehüter – im TJL sind es überwiegend Frauen – den derzeit 4000 Zuchtpaaren und ihren Nachkommen. Jedes Tier wird beim Umsetzen auf phy- sische und, soweit möglich, auch auf psychische Besonderheiten untersucht. Auffällige Tiere werden nach dem Entwöhnen von der Muttermaus, also nach etwa zwei Wochen, aussortiert und der Zucht zugeführt. Hält sich die beob- achtete Mutation über mehrere Genera- tionen, wird das Tier nach allen Rich- tungen katalogisiert. Seine Hirnströme werden gemessen, der Hormonhaushalt wird überprüft, das Blut untersucht und eine Genanalyse erstellt. „Goldwaschen“ nennt Hope Sweet, die seit 30 Jahren im TJL Jagd auf Mäu- semutanten macht, ihre wöchentliche Inspektion Tausender von Nagern. Eine Art Jagdfieber erfaßt sie dabei: „Man weiß nie, was der Tag bringt, wenn man morgens zur Arbeit geht.“ Gefunden haben Sweet und ihre Kol- leginnen unter anderem den „Starga- zer“. Diese männliche Maus fiel da- durch auf, daß sie regelmäßig innehielt und den Kopf wie in Trance gen Him-

R. HOWARD / DAS FOTOARCHIV N. FEANNY / SABA mel hob. Der 1985 entdeckte Sternguk- Neugeborene Maus, Tiefkühlen von Mäuse-Embryonen: 1700 Mutanten ker dient inzwischen als Versuchsmodell

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TECHNIK

zur Erforschung genetischer Defekte bei bestimmten Epilepsieformen. Die aufmerksamen Mutantenjägerin- nen entdeckten auch die am ganzen Körper kahle Nacktmaus, die ohne Thy- musdrüse und mit ausgeprägter Immun- schwäche zur Welt kommt. Ein modifi- ziertes Modell, genannt „der nackte Flitzer“, wird regelmäßig von Aids-For- schern bestellt. Nur für rund ein Viertel der 1700 Mäusemutanten, die am TJL entdeckt wurden, besteht derzeit wissenschaftli- cher Bedarf. Um die selten oder gar nicht benötigten Stämme zu erhalten und Platz für die laufende Produktion zu schaffen, werden von jedem Stamm Em- bryonen aus jeweils acht Zellen in flüssi- gem Stickstoff bei minus 196 Grad tief- gefroren. Stämme, die fürs erste keine Abneh- mer finden, scheiden erst dann aus der

Produktion aus, wenn sichergestellt ist, K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL daß die eingefrorenen Embryonen er- Konstrukteur Mattheck am Monitor, beim Baumstudium: „Der Baum beherrscht, folgreich aufgetaut und von einer Mäu- seleihmutter ausgetragen werden kön- trum Karlsruhe vom Computer entwik- nen. In den fünf Tiefkühltanks lagern Computer kelte Modell ein Leichtbau-Design. Was derzeit mehr als eine Million Mäuseem- aber noch wichtiger ist: Der neue Ent- bryonen. wurf ist weitaus bruchsicherer als bisheri- Erst seit einigen Jahren haben die ge Konstruktionen. Mutantenjäger vom TJL ernsthafte Tricks „Re-Design“ nennt Mattheck seine Konkurrenz bekommen. Seit es möglich Methode: Ob Fahrradpedale oder ortho- ist, Gene anderer Säugetierarten in das pädische Prothesen, Pleuelstangen, Bril- Erbgut von Mäusen einzuschleusen – al- der Natur lenbügel oder Motorventile – all diese so sogenannte transgene Mäuse zu „Verschleißteile“ könnten mit SKO und schaffen – oder Gene gezielt durch Mit Computer-Programmen, die dem CAO deutlich haltbarer gemacht wer- „Knockout“ auszuschalten, gab es in Wachstum von Bäumen oder Kno- den. Zusammen mit Dietrich Hempel, vielen Instituten „geradezu eine Bevöl- dem Chef der Unfallchirurgie am Allge- kerungsexplosion derartiger Mäuse- chen abgeguckt sind, entwirft ein meinen Krankenhaus in Hamburg- stämme“, wie das Fachblatt Nature Physiker stabilere Maschinen. Barmbek, gelang Mattheck unter ande- schrieb. rem auch die Verbesserung eines Kno- Genforscher, Mäusezüchter und Me- chennagels. diziner hoffen, daß die wachsende Zahl ügig baut sich auf dem Monitor ein Eingesetzt wird dieser „Y-Nagel“ bei unterschiedlicher K.o.-Mäuse sowie rechteckiger Block auf. Durchzo- komplizierten Oberschenkelfrakturen. transgener Nager die biomedizinische Zgen ist er mit einem Netz feiner Li- In rund zwei Prozent der Fälle kommt es Forschung kräftig anschieben wird. nien, das ihn in lauter kleine Klötzchen bei den Implantaten zu Materialbrüchen. „Wir sind im Frühstadium der bislang aufteilt. Der Patient muß erneut unters Messer. weitestreichenden wissenschaftlichen Kaum ist der Rechner mit seiner Auf- Mit Hilfe von Matthecks CAO-Metho- Revolution“, glaubt TJL-Direktor Pai- bauarbeit fertig, läßt Claus Mattheck de und Hempels medizinischem Know- gen. sein „Soft Kill Option“-Programm how wurde das bisher verwendete Mo- Daß die Mäusefabrik in Maine dabei (SKO) auf den Brocken los. Nach und dell „re-designed“. Beide Varianten eine Schlüsselrolle spielen wird, scheint nach löst das Programm mit dem mörde- wurden einem Vergleichstest unterwor- bereits entschieden. Die staatlichen Na- rischen Namen große Teile des Klotzes fen. Das Ergebnis: Während der alte Na- tional Institutes of Health (NIH) haben auf. Übrig bleibt ein löcheriges Fach- gel-Typ bei 300 000 Durchgängen auf- die Mäusemacher von Maine mit der werk, das an einen quergelegten Hoch- gab, mußte für den neuen Nagel der Ver- Massenproduktion von High-Tech- spannungsmast erinnert. such nach vier Millionen Schwingbela- Mäusen beauftragt. Damit soll sicherge- Dann schaltet Physiker Mattheck auf stungen abgebrochen werden – die näch- stellt werden, daß die „mächtigen Mäu- ein Programm namens „Computer ste Arbeitsgruppe brauchte die Testma- se“ (Nature) allen interessierten For- Aided Optimization“ (CAO) um. Es schine. schern zugänglich sind – zu erschwingli- rundet in dem Strebenwerk die spitzen Seit drei Jahren implantiert Chirurg chen Preisen. Winkel und bringt die runden Löcher in Hempel nur noch den Nagel neuen Typs, Wie sinnvoll der NIH-Schachzug war, eine mehr ovale Form. bislang ohne Komplikationen. Er ist ergibt sich aus einem Preisvergleich. So Unter den Steuerbefehlen des CAO- nicht nur robuster, sondern auch rund 60 verlangt das Gentechnikunternehmen Programms hat sich das Gebilde in ei- Prozent billiger als herkömmliche Mo- GenPharm für die K.o.-Maus p53, die in nen Kranausleger verwandelt. Mit sei- delle. In vielen anderen Technikberei- der Krebsforschung eingesetzt wird, ei- nen sanften Übergängen und gerunde- chen, meint Mattheck, lasse sich mit sei- nen Stückpreis von 100 Dollar. Bei der ten Ecken wirkt es wie ein Jugendstilor- nen Computer-Programmen gleichfalls Nonprofit-Firma TJL ist das gleiche Mo- nament. Geld und Material sparen. dell für 60 Dollar je Mäusepaar zu ha- Verglichen mit gebräuchlichen Kran- Vor allem übergewichtig ausgelegte ben. Y auslegern, ist das am Forschungszen- Bau- und Maschinenteile sind dem Physi-

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wachsen, daß an ihren „Kerben“ keine nen Kerbspannungen vollständig abge- Kerbspannungen auftreten. baut sind. Mattheck studierte die Botanik- Zur Neubildung von Holz steht dem Lehrbücher, um den Trick der Bäume Baum das Kambium zur Verfügung, je- zu erfahren. Doch dort fand er so gut ne Schicht zwischen Baum und Borke, wie nichts über „Baum-Mechanik“. Al- die über die teilungsfähigen Zellen ver- so zog er mit seinen Mitarbeitern in fügt. Könnten Entwürfe für Bau- und den Wald, um das Konstruktionsge- Maschinenteile wie Bäume wachsen, heimnis der Bäume zu ergründen. überlegte Mattheck, so ließen sich Er- Baum für Baum wurde vermessen, müdungsbrüche bei Maschinenteilen der Datensatz für jeden Baum einer vermeiden. Spannungsanalyse unterzogen. Aus Analog zur „biologischen Gestaltopti- dem anfangs von den Kollegen belä- mierung“ der Bäume entwickelte Matt- chelten Unternehmen entwickelte sich heck sein CAO-Verfahren, mit dem er mit rund 10 000 untersuchten Bäumen Konstruktionsentwürfen gleichsam ein die weltweit größte Feldstudie, die je- „virtuelles Kambium“ verpaßte. Dabei mals in Sachen Baum-Mechanik unter- stand ihm ein bei Konstrukteuren be- nommen worden war. liebtes und weitverbreitetes Verfahren Was die Karlsruher Forscher heraus- zur Verfügung: die Finite-Elemente- fanden, klang zunächst wenig aufre- Methode. Mit ihr lassen sich Bauteil- gend. Um Materialbrüche zu vermei- Entwürfe auf dem Monitor in kleine den, wächst der Baum so, daß auf ihn Unter-Einheiten, die Finite Elemente, aufteilen und dadurch besser berech- woran ein Heer von Ingenieuren scheitert“ nen. Werden bei einer im Computer simu- ker ein Dorn im Auge. Um Ermüdungs- lierten Belastung die inneren Klötzchen brüchen im Material vorzubeugen, wer- starr gehalten, so reagieren die äußeren den gefährdete Konstruktionselemente Elemente wie ein Baum-Kambium. Sie oft extrem wuchtig ausgelegt, damit sie „wachsen“ so lange, bis auftretende im Dauerbetrieb auch Maximalbela- Kerbspannungen verschwunden sind. stungen standhalten – „Verschwen- Auf diese Weise wurden im Karlsru- dung“, findet Mattheck. Bislang jedoch her Forschungszentrum inzwischen über sind überdimensionierte Bauteile der 200 Konstruktionen mit Erfolg „re-de- Hauptschutz gegen die gefürchteten Er- signed“. Auf Matthecks Lizenznehmer- müdungsbrüche. Ihre Ursache haben sie Liste finden sich neben in- und ausländi- in den sogenannten Kerben, etwa Bohr- schen Forschungseinrichtungen Autofa- löchern, Verzweigungen oder Übergän- briken wie Hersteller von Rasierappara- gen von kompakten zu hohlen Bauele- ten. menten. Die Autofirma Opel will 1996 einen Während eine Maschine arbeitet, ent- Wagen auf den Markt bringen, in dem wickelt sie enorme Kräfte, die in allen einzelne Teile, so etwa die Motorauf- ihren Teilen wirken. Ähnlich wie ein hängung, durch die neuen Entwurfsver- Fluß an Engstellen schneller strömen fahren bis zu 25 Prozent an Gewicht ver- muß, um die nachdrängenden Wasser- lieren. Das neue Modell wird dadurch massen zu bewältigen, verstärkt sich insgesamt 10 Prozent leichter sein. auch der Kraftfluß an den Kerben. Den Auch Hühnerknochen – Mattheck: dabei entstehenden „Kerbspannungen“ „ein High-Tech-Produkt“ – dienen dem

ist das Material auf Dauer nicht gewach- M. SCHRÖDER / ARGUS-FOTOARCHIV Technik-Reformer neuerdings als Stu- sen. Vom feinen Haarriß bis zum Ermü- Chirurg Hempel mit Y-Nagel dienobjekte. Seine Leichtbauweise ver- dungsbruch ist es dann nur noch eine Vom Astloch gelernt dankt das Hühnergebein der Fähigkeit, Frage der Zeit. Knochenmaterial, das keinen Dauerbe- Genau hier setzen die neuen Ent- einwirkende Kräfte, etwa Stürme oder lastungen mehr ausgesetzt ist, abzubau- wurfsverfahren aus Karlsruhe an. Durch Schneelast, gleichmäßig auf seine ge- en. Nach diesem Vorbild entwickelte „Gestaltoptimierung“ wird an konstruk- samte Oberfläche verteilt werden. Ma- Mattheck das SKO-Programm, mit des- tiv notwendigen Kerben das Design so terialengpässe, die angreifende Kräfte sen Hilfe aus einer Konstruktion alle geändert, daß keine Kerbspannungen zu Spannungsspitzen bündeln, gibt es Teile entfernt werden, die nicht zur Sta- mehr auftreten. Die Idee für seine neu- beim gewachsenen Holz nicht. Der bilität beitragen. en Methoden hat Mattheck den Bäumen Baum erfüllt das „Axiom konstanter Erst wenn er die Tricks der Evolution abgeschaut. „Der Baum“, erklärt er, Spannung“ (Mattheck). naturgetreu im Computer-Speicher ha- „beherrscht, woran ein Heer von Inge- Den entscheidenden Kick erhielt die be, glaubt Mattheck, werde das neue nieuren trotz Computerkraft täglich Studie durch Untersuchungen an auf- Konstruktionsverfahren universell ein- scheitert.“ fälligen Verwachsungen. Verletzungen, setzbar sein. Das kann noch dauern, Was dem passionierten Jäger bei sei- wie Risse oder Wildverbiß, gefährden doch mit seinen Fortschritten ist der nen Streifzügen durch die Wälder aufge- die Standfestigkeit des Baums. Physiker sehr zufrieden. fallen war: Jedes Astloch, jede Astgabel Um seinen festen Stand zu sichern, Mattheck, der zu DDR-Zeiten von eines Baums ist, technisch gesehen, eine überwuchert der Baum die kritischen der Bundesregierung aus dem Gefäng- Kerbe. Aber selbst unter dem Wind- Stellen mit „Wund-Holz“. Es entste- nis in Cottbus freigekauft wurde, gratu- druck von Orkanen brechen die aller- hen Beulen, Rippen und Wülste. Die liert den Wessis: „Die haben Glück ge- meisten Bäume an diesen möglichen Wundheilung dauert so lange an, bis habt. Die hätten sich ja auch eine Pflau- Bruchstellen nicht. Bäume sind so ge- die durch Baum-Blessuren entstande- me einkaufen können.“ Y

DER SPIEGEL 5/1995 147 Werbeseite

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KULTUR

Geschichte „WIR BRAUCHEN VERTRAUEN“ Der Historiker Christian Meier über die Notwendigkeit eines neuen nationalen Selbstbewußtseins

O Deutschland, wie bist du zerrissen / Und nicht mit dir allein! gungen, aus Erwartungen, auch aus einem Wissen voneinan- In Kält’ und Finsternissen / Läßt eins das andre sein. der. Und hätt’st so schöne Auen / Und reger Städte viel; Tät’st du dir selbst vertrauen / Wär’ alles Kinderspiel. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist in Deutschland heute gestört, nicht nur weil sich Ost- und Westdeutsche weit eutschland 1952“ heißt dieses Gedicht von Brecht. Fast auseinandergelebt haben und nun dagegen sträuben, in engere könnte es auch von 1995 sein. Ja, ob nun gleich Kinder- Beziehungen zu kommen, sondern aufgrund der neuen Situa- Dspiel oder nicht, mit dem „Tät’st du dir selbst vertrauen“ tion der Welt, des Zusammenbruchs der Blöcke, der Fort- ist eine Bedingung formuliert, auf die es heute weit mehr an- schrittshoffnungen auch, die seit dem Krieg immer wieder auf- kommt als damals. flackerten, wegen der „Entwegung“ der Gesellschaft, der all- Wir brauchen das Vertrauen zu uns selbst. Aber wir haben, gemeinen Ratlosigkeit und Lethargie. so scheint es, allen Grund, es uns vorzuenthalten. Wenn die Dinge aber so stehen, ist die Frage aufgeworfen, Keine Frage, daß darunter das Funktionieren der deutschen wer diese Gesellschaft ist und was sie will. Das ist besonders Gesellschaft, ihre Fähigkeit, Konflikte auszutragen und darin der Fall, wenn es sich um eine so sensible und mit geradezu die eigene Einheit zu erfahren, ja daß darunter die Demokra- verstörter Ungewißheit über sich selbst ausgestattete wie die tie leidet: die Möglichkeit der Gesellschaft nämlich, Maßstäbe deutsche handelt. Wo andere vieles an sich naiv nehmen, müs- zu setzen und einzuschärfen, Sachen zu verfechten, Alternati- sen wir uns stets in Frage stellen. Mit dem Selbst-Bewußtsein ven zu entwickeln. Die Stärke jener Politiker, für die es vor al- fehlt notwendig das Selbst-Vertrauen. lem um persönliche Beziehungen und Macht geht, ist ja die Ende der siebziger Jahre sprach Norbert Elias vom „noch Kehrseite der beängstigenden Schwäche nicht nur der Intel- ausstehenden Aufbau einer Nation in der Bundesrepublik“. lektuellen, sondern der Gesellschaft insgesamt. Genau das ist heute um so mehr für das vereinte Deutschland Zu einer Demokratie gehört, nach allgemeiner Erfahrung, fällig: ein Nations(neu)bildungsprozeß. ein gewisses Zusammengehörigkeitsbewußtsein derer, die in Es geht um mehr als bloße Staatszugehörigkeit. Demokratie ihr verfaßt sind. Es ergibt sich nicht nur aus der gemeinsamen setzt voraus, daß der einzelne nicht nur Schützling, Nutznießer Herkunft, sondern auch aus den gemeinsamen Grundüberzeu- und zu gewissen Pflichten Herangezogener ist, sondern zu ei- ner identifikatorischen Teil- habe am Gemeinwesen ge- langt. Nach wie vor, auch in der Europäischen Union, ha- ben die Nationen ihre Funktion als Verantwor- tungsgemeinschaften. In ih- nen allein können sich grö- ßere Meinungs- und Wil- lensbildungsprozesse ab- spielen, auch solche der Fortbildung der mentalen Infrastruktur. Wenn die EU demokratisch organisiert sein soll, so geht das nur vermittels der Nationalstaa- ten, denn eine europäische Gesellschaft, die eine De- mokratie tragen könnte, ist nicht in Sicht; eine „Nation Europa“ zum Glück auch nicht. Freilich, was Nationen sind, ist nach Ort und Zeit sehr verschieden. Zumin- dest im Westen hat das alte, potentiell aggressive Nati- onsverständnis ausgespielt, es geht nicht mehr um

A. PACZENSKY / ZENIT Machtgewinn auf Kosten Freudenfeier bei der Wiedervereinigung (1990): „Alte Klamotten werden aufgemöbelt“ anderer, die einzelnen se-

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hen sich für ihr Selbstbe- wußtsein und ihre Zukunft nicht mehr auf nationale Größe angewiesen. Viel- mehr sind die Nationen in vielerlei Formen der Zu- sammenarbeit eingespannt, entwickeln vielleicht gar ei- nen gewissen Wettbewerb unter sich – im Hinblick auf die Aufgaben, die sich Eu- ropa und der Menschheit stellen. „Nation“, diese Formu- lierung Thomas Manns von 1945 gilt auch heute, „ist ein revolutionärer und freiheit- licher Begriff, der das Menschheitliche einschließt und innerpolitisch Frei- heit, außenpolitisch Europa meint.“ Allerdings ist die Bestim- mung der Zugehörigkeit in- nerhalb der Nation in ge- wissen Grenzen offen. Ab- stammung kann nicht das einzige Merkmal dafür sein.

Nationen können geradezu DER SPIEGEL einen Teil ihrer Identität Diktator Hitler (1935): „Vielfache Abtötung einfacher Menschlichkeit“ darin finden, daß sie ihr Bürgerrecht anderen relativ weit öffnen; was zugleich bedeutet, daß sie ein sehr hohes Maß chem Widerstand, letztlich ganz opportun, daß sie nicht an Assimilationsfähigkeit, also auch an Selbstvertrauen besit- Deutschland, sondern nur BRD und DDR sein konnten, Tei- zen – so daß eine gewisse Homogenität insofern garantiert ist, le von Blöcken, in denen das Nationale weniger wichtig war. als das Ganze sich gleichbleibt oder nur leicht verändert. Auch sind die postnationalen Konzeptionen vermutlich ge- rade deswegen so beliebt, weil sie dem Bedürfnis nach Flucht ei den Deutschen beginnt die Frage nach der Nation heute vor dieser Vergangenheit so gut genügen. Wie sich ja wohl Bmit dem Zweifel, ob sie überhaupt eine sein wollen – und der ihnen entsprechende Individualismus gern die Schwäche nicht vielleicht doch eher eine multikulturelle Gesellschaft in deutscher Nationalität nutzbar macht, um sich kollektiver einer postnationalen Welt. Ihre neue Lage irritiert sie zutiefst. Verantwortung überhaupt zu entziehen. Ist also ihre erste Aufgabe vielleicht doch die Selbstaufgabe? Wenn uns aber kaum etwas anderes übrigbleiben wird, als Doch könnte ein postnationales Zeitalter nur anbrechen, eine Nation zu sein: Wie können wir dann den Anschluß an wenn auch die anderen auf ihre Nationalität verzichteten – was unsere Geschichte wiederfinden, jene historische Dimension sie nicht tun – , und wie eine multikulturelle Gesellschaft, die wiederherstellen, die das Bewußtsein einer Nation zu seiner diesen Namen verdient, in Deutschland heute möglich und vor eigenen Vergewisserung, wenn nicht zu seiner Befestigung allem: wie sie politisch hinreichend handlungsfähig sein könn- braucht? Können es sich die Deutschen leisten, ihre Ge- te, ist überhaupt nicht abzusehen. So bedeutet die Unsicher- schichte zu verneinen – oder doch als ein Niemandsland an- heit über den nationalen Status der Deutschen vor allem eine zusehen, das sie nicht mit den „Augen der Identität“ zu be- große Schwäche. trachten vermögen? Brauchen sie, brauchen speziell die Her- Indes ist diese Unsicherheit nur allzu gut zu erklären. Sie er- anwachsenden unter ihnen nicht irgendeine Stütze in ihrer streckt sich vornehmlich auf unsere jüngere Vergangenheit Geschichte, auf die sie wohl nicht gleich Nationalstolz, aber und resultiert daraus. Denn zwischen uns und dem größten wenigstens ein gewisses nationales Selbstbewußtsein gründen Teil unserer Geschichte liegt die nationalsozialistische Periode können? Deutschlands, der Zweite Die Antwort, die auf die- Weltkrieg und – um nur das se Frage üblicherweise ge- Äußerste daran zu bezeich- geben wird, läuft auf ein nen – Auschwitz. Wir sind Christian Meier Retuschieren an der deut- das Volk, das mit dem schen Vergangenheit hin- schlimmsten Großverbre- gehört zu den wenigen deutschen Historikern, deren Werke aus. Die Untaten werden chen der Geschichte behaf- nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen gelesen werden. teils geleugnet, teils verklei- tet ist. Meier, 65, schrieb Bestseller wie „Cäsar“ (1982) und nert; das zumeist geübte Die deutsche Teilung hät- „Athen“(1993) und unterrichtet an der Universität München Verfahren besteht in ihrer te unter anderen Umstän- Alte Geschichte. Daneben meldet sich der Gelehrte immer Relativierung: Schließlich den zu einer Belebung des wieder publizistisch zu Wort. Meier will die aktuelle Debatte gab es auch sonst Massen- deutschen Nationalbewußt- über die Nation nicht den Rechten überlassen und stellt sich mord und Großverbrechen. seins führen müssen. Nach hier der Frage: Dürfen die Deutschen trotz Auschwitz so et- Oder man meint einfach, Auschwitz aber war das un- was wie Stolz auf ihre Vergangenheit empfinden, kann esal- wir müßten aus dem „Schat- möglich. Da erschien es den so noch ein nationales Selbstbewußtsein geben? ten der Vergangenheit“ Deutschen, nach anfängli- heraus, diese also irgendwie

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zuden Akten legen. Ein „Schlußstrich““ müsse endlich gezogen ner bewußt zu sein. Gewiß ist die Geschichte dessen, was den werden – wie es übrigens schon seit den späten vierziger Jahren irreführenden Namen Vergangenheitsbewältigung trägt, voll heißt. So wird der Anschluß mehr oder weniger durch eine By- von Versagen; von Halbheiten, Entgleisungen und bitteren pass-Operation gesucht. Versäumnissen. Aber man darf nicht übersehen, wie unge- Darin äußert sich eine Verkennung des ganzen Ausmaßes, mein schwierig – und wie unüblich in der Weltgeschichte – es der ganzen Einzigartigkeit der deutschen Verbrechen und des ist, daß sich ein Volk nach einer Niederlage nicht in eigenem Kulturbruchs, der durch sie erfolgt ist. Seitdem ist die Weltge- Stolz verschanzt, sondern sich nach relativ sehr kurzer Zeit schichte gründlich anders als zuvor, und darüber kommt man offen mit seiner Vergangenheit, mit seinen fürchterlichsten auch 50 Jahre danach nicht so leicht hinweg. Deswegen ist gera- Verbrechen auseinandersetzt. So stellte diese Geschichte ins- de diese Vergangenheit nicht zum Vergehen zu bringen, obwohl gesamt eine beachtliche Leistung dar. die Weltgeschichte bis in unsere Tage hinein wirklich genügend Was wir damit gewonnen haben, ist nicht wenig. Alles Ge- große Verbrechen kennt; aber eben nicht ein solches. rede vom mangelnden „aufrechten Gang“ der Deutschen, Die Folge jener Antwort sind daher regelmäßig Peinlichkei- von ihrer „kollektiven Schuldbesessenheit“ (Michael Stür- ten, die berechtigte Erregung verursachen und dann zu neuen mer) halte ich für baren (und gefährlichen) Unsinn. Es ist nur Peinlichkeiten führen, indem man zu beflissenen Beteuerungen Ausdruck mißglückter Verdrängung, zugleich der deutschen politischer Korrektheit genötigt wird. Jeder größere Versuch, Lust, Opfer zu sein, um so die nationale Untugend des diese Vergangenheit einzuebnen, hat mit ihrer Belebung geen- Selbstmitleids besser ausleben zu können. Gerade das Einste- det, zuletzt beim Historikerstreit, und das wird auch weiterhin hen für die deutsche Geschichte einschließlich ihrer schlimm- so sein. Wenn zur sten Teile ist eine der Nation eine gewisse wichtigsten Vorbe- „Würde“ gehört, so dingungen dafür, daß erweisen sich die Ver- wir unsere Geschich- suche zur Vergangen- te wieder mit den Au- heitsretuschierung re- gen der Identität se- gelmäßig als kontra- hen können. produktiv. Sie hat nicht rein Ich behaupte, daß zufällig, obzwar kei- wir kein einigermaßen neswegs notwendig, haltbares, vernünfti- nach Auschwitz ge- ges und vor allem kein führt. All das, was würdiges Verhältnis Hitler seine Erfolge zum schlimmsten Teil ermöglichte, die Be- unserer Geschichte reitwilligkeit, ohne gewinnen werden, be- viel darüber nachzu- vor nicht weithin voll- denken, was das be- zogen, begriffen und deutet, effizient und angenommen wird, mit großem Einsatz was Auschwitz bedeu- seine Politik, seine tet und daß es ein zen- Kriegführung, seine traler, lebendiger Teil Vernichtungspläne unserer Geschichte ist auszuführen, die viel- und bleiben wird. fache Abtötung einfa-

Die Hoffnung auf H. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV cher Menschlichkeit den Schlußstrich sollte Türkische Hochzeitsfeier (in Essen): Nationale Selbstaufgabe? hat seine Wurzeln aufgegeben werden. in dieser Geschichte. Was so gern als vor- All das, was sie an läufig erscheint, sollte als endgültig angenommen werden. Es ist Großem, an Glänzendem hervorgebracht hatte, hat uns, aufs nicht so, daß wir „noch nicht wieder“ ein unbefangenes Verhält- Ganze gesehen, nicht davor bewahrt. nis zu unseren namenlosen Untaten haben, sondern wir werden Es war ja nicht, um nochmals Thomas Mann zu zitieren, ein ein solches Verhältnis in irgend absehbarer Zeit gar nicht gewin- böses, sondern das fehlgegangene gute Deutschland, das da nen können. am Werk war. Aufs vielfältigste im Sinne des Regimes, viel breiter, als oft zugegeben, an seinen Verbrechen beteiligt, und oparadox esklingen mag: Gerade dieAnerkennung dergan- sei es, daß es sie, indem es die Fronten verteidigte, möglich S zen Ungeheuerlichkeit und der Nachwirkung, dieAuschwitz machte. für uns hat, ist die Brücke, über die wir den Zugang zu unserer Nur, was von hinten gesehen so deutlich ist (da alles unter Geschichte gewinnen können. Nur durch sie kann deren zwang- die Perspektive dieser Verbrechen rückt), war den Zeitgenos- hafte Beziehung auf Auschwitz gelöst werden. sen zumeist nicht klar. Von ihnen haben sich sehr viele, viel- Alles historische Bewußtsein geht von der Gegenwart aus. leicht die meisten, nach den Maßen nicht der Zeit, sondern Diese entscheidet darüber, was aus der Geschichte in welcher des Herkommens bewährt, haben tapfer und aufopferungsvoll Weise aufgenommen wird. Sie trifft notwendigerweise eine und in gutem Glauben gekämpft, und viele haben dabei ihr Auswahl, auch wenn diese nicht einfach beliebig sein kann. Sie Leben gelassen. setzt Akzente. Und letztlich zielt alles auf eine Ortsbestimmung Es ist da der Handlungsaspekt, der Bereich, den der einzel- zwischen Vergangenheit und Zukunft. ne überblickt, vom Beteiligungsaspekt zu unterscheiden, der Das kann nur ausden Stärken, jedenfalls den moralischen und die Anteile sichtbar macht, die gerade ein totalitäres Regime intellektuellen Stärken der jeweiligen Gegenwart heraus ge- von allen und jedem für sich in Anspruch zu nehmen pflegt. schehen. Das heißt im Fall des heutigen Deutschland aus dem Wir haben sehr vieles in aller Klarheit zu verurteilen, aber vie- Neuanfang nach dem Krieg, dem Aufbau der Demokratie, ja les andere auch gleichsam aus den Fängen des Regimes, in die des Landes, der Öffnung nach Westen, der Weitung des Hori- es nachträglich geraten ist, zu befreien. zonts –und eben ausder Bereitschaft, sich dem schlimmsten Teil Es muß angesichts so vieler Millionen Opfer von Krieg und der eigenen Geschichte ohne Wenn und Aber zu stellen und sei- Vernichtung in manchen Ohren wie Hohn klingen, wenn man

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sagt, daß viele Deutsche auch verführt mehr Gelassenheit gerecht zu werden waren (und zugleich an der Verfüh- versuchen. rung teilhatten). Aber es ist keines- Um nur zwei umstrittene Beispiele wegs falsch. Sie haben sich zwar weit anzuführen: Die unglückliche Nach- über Gebühr als treu, wehrlos und an- wirkung des friderizianischen Preußen fällig erwiesen – aber damit ist noch muß uns nicht daran hindern, den in- nicht all das, was viele als einzelne ta- ternational bewunderten Philosophen ten, leisteten und litten, entwertet. auf dem Thron, der zugleich Feldherr Eifer und Bereitwilligkeit, Schwäche und Staatsmann, ein aufgeklärter Ge- und Verkennung sind auf verhängnis- stalter seines Staates war, als einen volle Weise in die Umstände eingegan- Großen der deutschen Geschichte an- gen, unter denen man dann gehandelt zunehmen, in all seiner Gebrochen- hat. Aber wenn es gelingt, andere heit, Einsamkeit, seinem Glanz und Werte zu setzen und andere Umstände seinen Nöten, seiner ungeheuren Lei- zu schaffen, so rückt die Überlieferung stung und seinen Starrheiten. Sowenig der deutschen Geschichte und die Prä- wie man das Genie Bismarcks über gung von dort in ganz andere Zusam- dessen Versagen bei der Integration menhänge. Eben dies ist geschehen. des Reiches übersehen sollte. Der Aufbau nach dem Krieg, auch Aber man könnte auch viele andere der Demokratie, hätte nicht so gut ver- Beispiele nennen, von den großen Kai- laufen können, wenn nicht Vorausset- sern des Mittelalters und manchen ih- zungen gegeben gewesen wären, die rer großen Widersacher bis zu den teilweise tief in der deutschen Ge- Verschwörern des 20. Juli (und manch schichte angelegt waren: in Rechtswis- einem kommunistischen Widerstands-

senschaft und Philosophie, in der libe- BPK kämpfer). Man kann an die Städte des ralen Bewegung des 19. Jahrhunderts, Geschichtsheld Friedrich der Große Mittelalters, die Hanse, die Fugger in Traditionen der Arbeiterbewegung, Glanz und Starrsinn und Welser, aber auch an die ganze fernerhin der alten deutschen Parla- Geschichte von Philosophie und Wis- mente – und dahinter stehen Bedin- senschaft, Dichtung und Baukunst, gungen, die bis hin zu den Bauernkriegen wie nicht zuletzt zur Technik und Industrialisierung, auch an Toleranz denken – Reformation zurückreichen, auch zur Kultur der deutschen überall gäbe es Anlaß genug, um die eigene Geschichte wieder Städte. zur eigenen zu machen. Zusammen mit preußischem Staatsethos und der großen Dabei ist Nationalgeschichte, entsprechend der Rolle der Arbeitsbereitschaft, aber auch einer langen Bildungsgeschich- Nationen heute, relativ immer kleiner zu schreiben. Die Wirk- te wurden die Deutschen dadurch befähigt, die Chance, die lichkeit des modernen Europa fordert zunehmend einen neu- sich ihnen nach Zusammenbruch und Befreiung bot, voll aus- en Horizont der Geschichte, den europäischen. Und sie erfor- zunützen. Und die Teilung trug im Westen dazu bei, daß ne- dert auch ein Bewußtsein der Geschichte der Welt – von dem ben (und teilweise vor) den Norddeutschen die West- und wir noch weit entfernt sind, das von uns aber längst erwartet Süddeutschen sich viel stärker zur Geltung brachten als bis da- werden kann. Allein, sowenig wie die europäischen Nationen hin, neben den Protestanten die Katholiken. sich in Europa auflösen, sosehr sie dessen Teile (und die der Nimmt man hinzu, daß schließlich Menschheit) sind, sowenig können sie auch die Arbeit an der NS-Vergangen- auf die eigene Geschichte verzichten. heit beste Traditionen deutscher Gei- Sie darf nur nicht isoliert werden, war stesgeschichte aufnehmen konnte, so dies ja auch nie. zeigt sich, wie sehr wir noch in der Kontinuität deutscher Geschichte ste- osehr wir es uns wünschen sollten, hen, trotz und wegen des tiefen S wir haben keine Aussicht, eine Bruchs. „normale Nation“ zu werden. Ande- Anknüpfungspunkte gibt es genug. rerseits können wir aber auch schlecht Etwa an Versuche, sich aus tiefer Not die „Ausnahmenation“ spielen; schon wieder herauszuarbeiten, nach dem gar nicht, indem wir mit veränderten Dreißigjährigen Krieg oder in Preußen Vorzeichen neuerdings die Welt zu be- nach 1806, an jenen großen Ansatz ei- lehren versuchen. ner neuen Integration, einer Erneue- Notwendig ergibt sich also eine rung überhaupt, der dann nur zu früh Spannung: Weithin spielen sich unser um seine politischen Aussichten ge- Leben, auch unsere Beziehungen zu bracht worden ist. Wenn der Bundes- anderen längst „normal“ ab. Und das kanzler nicht weiß, auf wen sich die nimmt mit dem Aufwachsen neuer Ge- Denkmäler von Scharnhorst und Bü- nerationen zu. Nur eben schafft die low neben der Neuen Wache in Berlin Vergangenheit besondere Bedingun- beziehen, so braucht das historische gen für uns. Bei bestimmten Gelegen- Gedächtnis der deutschen Gesellschaft heiten sind sie maßgebend, Gedenkfei- ihn sich dabei nicht zum Vorbild zu ern etwa, danach tritt wieder die nor- nehmen. male Tagesordnung in Kraft, wo man Man wird zwar nicht mehr, wie frü- auf weiteste Strecken von unseren au- her, große Persönlichkeiten der eige- ßergewöhnlichen historischen Umstän- nen Geschichte offen verherrlichen den so wenig bemerkt, daß immer wie-

können; in keinem westlichen Land ist A. MESSERKLINGER der der Eindruck entsteht, nun sei alles das so einfach mehr der Fall. Doch Geschichtsheld Bismarck „erledigt“ – bis man dann neuerdings kann man sehr wohl auch ihnen mit Genie und Versagen aufgeschreckt wird.

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Diese Spannung wurde, solange die großen Blöcke bestan- Darunter sind nach meinem Urteil nicht zuletzt diejenigen der den, gern dadurch überspielt, daß man sich gleichsam in vor- Bildung und Fortbildung deutscher Nation zu nennen, das drin- derster Front einreihte in den Kampf um Entspannung, Frie- gende Problem der Integration, das nur sehr zum Teil Sache der den, Menschenrechte, Demokratie. Universalistische Ideale Politiker, weit mehr die der Intellektuellen und der ganzen Ge- ließen sich, speziell in den achtziger Jahren, relativ gut in Poli- sellschaft ist. Das setzt sich fort über das Auflösen unendlich vie- tik übersetzen. ler Verkrustungen, Besitzstände, dogmatischer Verhärtungen; Jetzt, nach dem Ende des „Altweibersommers“, erweist es nicht zuletzt jener Selbstzufriedenheit, die heute unter uns so sich als mißlich, daß man bei uns seit Jahrzehnten nicht mehr sehr verbreitet ist. Vieles wäre im Verhältnis zwischen Ost und über das Nationale nachgedacht und die Vorstellungen davon West leichter, wenn es einen gemeinsamen Zukunftswillen gä- weitergebildet hat. Da werden folglich alte Klamotten wieder be. aufgemöbelt, und in gleichem Takt lähmen alte Schreckbilder Wie wichtig war für die Gründung der Bundesrepublik die Vi- die Phantasie auf der Gegenseite – wie wenn alles wieder zu sion der Demokratie, fürdie bestimmte Vorstellungen von Frei- werden drohte, wie es früher einmal war. heit, Menschenwürde und Selbstbestimmung sprachen und mit Ein ganzer zentraler Platz in unserer politischen Wirklich- der sich große, genaugenommen: zu große Hoffnungen verban- keit scheint geräumt zu sein, da die, die sich auf ihm versam- den! Und welche Rolle spielt es andererseits für die innere Ver- meln sollten, teilweise die Flucht ins Privatleben angetreten einigung, daß Demokratie heute kaum mehr als ein Gewurstel haben, teilweise nach Europa, teilweise auch in die Resignati- ist, für das bestenfalls einige gute Erfahrungen glaubwürdig vor- on. So ist die Agora gleichsam für Geländespiele freigegeben gebracht werden können! und wird entspre- Einiges mehr ließe chend genutzt. sich aber, so ist meine Übrigens auch von vielleicht altmodische der Regierung. Wie Meinung, für die De- hatte es doch einmal mokratie schon ins Feld bei Humboldt gehei- führen. Nur muß man ßen? „Der Bürger ist es, wie die Dinge heute am besten daran, wo stehen, beweisen: in er durch möglichst der Erledigung eines viele Bande mit sei- Riesenpensums, das nen Mitbürgern ver- aus einer außerordent- eint ist, aber durch lichen, möglicherweise möglichst wenige an noch erheblich wach- die Regierung geket- senden außenpoliti- tet.“ Davon sind wir schen Problematik er- relativ weit entfernt. wächst, aus dem schrei- Und doch organi- enden Mißverhältnis siert sich künftig eher zwischen den westli- mehr als weniger Ver- chen Nationen und der antwortung in den übrigen Welt, aus des- Nationalstaaten, zu- sen zunehmend spürba- mal die EU sich bis- rer werdenden Folgen, her auch nur bei den Migrationen zum Schönwetter bewährt Beispiel. Aus den alar- hat. mierenden ökologi- Damit aber kann Frankfurter Allgemeine schen Mißständen. Aus jene Spannung zwi- den gesellschaftlichen schen Normalität und Zerklüftungen, die et- historischer Ausnahmesituation der Deutschen heute ganz neu wa infolge der Arbeitslosigkeit, ja: der Überflüssigkeit vieler fruchtbar gemacht werden. Ohnehin erwächst uns eine bedeu- Millionen entstehen. Nicht zuletzt dem Problem der gleichmäßi- tende Verantwortung aus der Größe des vereinten Landes so- gen Durchdringung des Landes mit Wohlstand, Sicherheit, ja wie aus seiner Lage an der Grenze zu den so schweren Bela- Administration (auf daß nicht mafiaähnliche Abhängigkeiten stungen ausgesetzten, soviel Aufmerksamkeit und Hilfe bean- die Form von Herrschaftsverhältnissen annehmen). spruchenden ostmitteleuropäischen Staaten. Mit dieser Ver- Über all das kann heute kaum auch nur recht nachgedacht antwortung läßt sich diejenige, die uns aus unserer Geschichte werden, weil alles Nachdenken auf die Folgerung hinausliefe, zuwächst (nicht nur der von ’33 bis ’45), aufs natürlichste ver- daß wir vieles herzugeben, auf vieles zu verzichten hätten, wenn binden, als Ansporn einerseits, aber auch als Anlaß, jene wir auf Lösungen sinnen würden. Schließlich liegen uns unsere „respektable Bescheidenheit“ zu üben, die uns nach Adenauer Besitzstände auf der Haut wie ein Nessushemd und lähmen alle ansteht. Phantasie. Hier ließen sich Konsequenzen aus unserer Vergangenheit Kurz gesagt, es gibt Anlaß genug, unsere Demokratie neu zu ziehen. Sie bestünden nicht nur in der Vermeidung von Feh- beleben, zu stärken, vielleicht gar auszubauen. Und dazu ge- lern, sondern auch in dem Versuch, der Welt, der wir auf be- hört, daß wir wissen, wer wir sind, alsNation, und das heißt auch sondere Weise geschadet haben, um so mehr zu nutzen, in im Hinblick auf unsere Geschichte; daß uns etwas aufgegeben Maßen und ohne Aufdringlichkeit. ist, daß wir etwas zu verantworten haben, in vielen Zusammen- Nicht daß wir Musterschüler sein sollten: Aber zu zeigen, hängen, aber wesentlich auch in dem unseres Staates. Wir brau- daß man etwas eingesehen hat, was auf der Hand liegt, ist kein chen Vertrauen zu uns, also einen Neuanfang. Strebertum. Und ein wenig aufmerksamer über sich selbst und Vielleicht könnte die alte Vision des 18. Jahrhunderts, daß seine Umstände Rechenschaft zu geben, das könnte doch durch die Nationen die Menschheit vorangebracht wird, inso- wohl verlangt werden, entspricht außerdem guter alter deut- fern einen Sinn haben, daß in deren Konzert manche Probleme, scher Tradition. Das aber heißt, nicht zu fliehen, weder vor vor denen wir stehen, halbwegs gelöst werden und daß zumin- der Vergangenheit noch vor den Aufgaben, die sich heute und dest einiges von dem, was wir erworben haben, etwa an Tole- morgen stellen. ranz, an Liberalität, an Offenheit, sich verteidigen läßt. Y

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Ausstellungen Beutekunst Christos Generalprobe Nazi-Diebesgut in Moskau Andere gestalten Wände, Unergründlich sind die Tresore sowjetischer Kunst- Decken, allenfalls Räume. Kriegsbeute – und die Seelenzustände ihrer Bewacher. Er aber legt keine Hand an, Beiläufig und ohne Anzeichen von Scham informierte wenn er nicht ein ganzes Walerij Kulitschow, Abteilungsleiter im Moskauer Kul- Bauwerk kunstvoll verfrem- turministerium, jetzt eine New Yorker Beutekunst-Kon- den darf. Der bulgarisch- ferenz über einen bislang geheimen Schatz von 132 Ge- amerikanische Verpackungs- mälden, die hauptsächlich aus zwei jüdischen Privat- artist Christo, 59, ist ein char- sammlungen stammen. Sie waren von den Nazis in Un- manter Gigantomane. Jetzt garn konfisziert und von den Sowjets weiterverschleppt hat er als Gefälligkeit für worden. Bis heute wird den Ungarn jede Inspektion ver-

einen Freund und Samm- ACTION PRESS wehrt. Dafür sollen die Bilder, darunter Werke von El ler, den württembergischen Sellers Greco, Goya und Degas, laut Kulitschow bald im Mos- Schraubenfabrikanten Rein- kauer Puschkin-Museum ausgestellt werden. Über das hold Würth, dessen Kunst- Film dem Ministerium angeschlossene Verlagshaus Kultura quartier in Künzelsau aus- und die US-Gesellschaft Global American Television ga- staffiert. Fußböden und Fanpost ben die Russen erste Ge- Treppen – insgesamt 900 mälde-Reproduktionen Quadratmeter – sind mit hel- von Charles frei. Offenbar versuchen lem Baumwollstoff ausge- Der britische Komiker Peter sie, nicht nur in diesem legt, die Fenster mit braunem Sellers (1925 bis 1980) spiel- Fall, eine Vermarktung Packpapier verdeckt (bis 4. te auch die Rolle des Hof- von Bildrechten ohne Juni). Die Atmosphäre des narren im Buckingham Pa- Rücksicht auf legale Ei- drapierten Raums soll „von last. Das beweisen zahlrei- gentümer. Ruhe und Heiterkeit ge- che Erinnerungsstücke, die prägt“ sein. Das Provinz-Pro- jüngst in Los Angeles bei jekt dient Christo jedoch nur Sellers Schwiegermutter auf- als Generalprobe: Kurz nach getaucht sind. Zur Memora- dem Ende der Schau will er bilien-Sammlung, so berich- mit der Verhüllung des Berli- tet der Londoner Observer, ner Reichstags Kunstge- zählen 25 Briefe von Prinz schichte machen. Dort darf Charles an Sellers; den er- er seine Lust am Monumen- sten schrieb der königliche talen richtig ausleben: Rund Fan schon mit 18 Jahren. Er 75 000 Quadratmeter Silber- bedankt sich darin für einen stoff werden gebraucht, um langen Abend mit Sellers- den historischen Klotz futuri- Platten, über die er „bis stisch zu gewanden. zum Umfallen“ gelacht ha- be. In einer Kinovor- stellung des „Rosaro- ten Panthers“ will der Prinz sogar vor Prusten

das Kleid seiner Nach- GLOBAL AMERICAN TELEVISION GLOBAL AMERICAN TELEVISION barin naß gemacht ha- In Moskau verborgene Gemälde von El Greco, Degas ben. In der Sammlung finden sich außerdem Privatfilme von Sellers; Musik pin-Schnipseln. „Klassik zum einer zeigt Charles, wie Entspannen“ nennt sich die er beim Tanz mit einer Alle CD-Reihe, sie bietet auch Cousine ein starkes „Bei jedem Wetter: Mozart!“ Hinken vortäuscht. Wetter und für den Fall der Fälle: Der seltsamste Fund, „Ohne Musik wäre das Le- „Tschaikowski – Zum Ster- ein deutsches Buch aus ben ein Irrtum“, sprach ben schön“. Barbarei, so dem Jahre 1935, ent- Friedrich Nietzsche, und das wird der Liebhaber die (mitt- hält neben Propagan- Schallplattenlabel Decca lerweile allerorten grassie- dareden der Nazis etwa sieht das auch so: Warum rende) Stückelei aus heraus- 100 Fotografien des nicht gleich für jede Lebens- gerissenen Sinfonie- und So- „Führers“ – für Sellers, lage die richtigen Töne? naten-Sätzen bejammern; der Hitler immer wie- „Vor dem Erwachen“ ein Recycling wird die Decca sa- der in Filmen spiel- paar Häppchen von Mahler, gen. Denn so kommt Abge- te, ein wichtiges und Albinoni, Massenet; „Mor- nudeltes nochmals unter die nach Aussage seiner genstimmung“ mit einem Leute. Wieder Nietzsche: Schwiegermutter hoch- Patchwork aus Grieg und „Ich weiß keinen Unter- geschätztes Studienob- Bach; „Zärtliche Begegnun- schied zwischen Tränen und Christo jekt. gen“ zu Offenbach- und Cho- Musik zu machen.“ Solcher?

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Für München restauriertes Friedrich-Gemälde „Gebirgige Flußlandschaft“ (1830/35) von vorn, von hinten beleuchtet:

SPIEGEL: Jedenfalls scheint die Ausstel- Ausstellungen lung, die wohl als deutsches Prestige-Un- ternehmen gedacht war, in London vor allem Ressentiments geweckt zu haben. Sie wollte nicht nur eine bestimmte „Entsetzliche Verdrehung“ Kunstepoche in Deutschland dokumen- tieren, sondern zugleich deren Nachwir- Christoph Vitali über eine umstrittene Romantik-Schau kungen im gleichen Land – so, als ob in Deutschland permanent Romantik herrschte. Steckt dahinter nicht die arg SPIEGEL: Herr Vitali, ist Caspar David Geborgenheit in der menschlichen Ge- romantische Idee vom spezifischen Friedrich schuld am Holocaust? sellschaft, auch als nationale Befriedung Volksgeist? Vitali: Schwachsinn. – in ihren Bildern und Texten erscheint Vitali: Daran ist sicher etwas. Tatsächlich SPIEGEL: Den hat immerhin der angese- das als eine unerreichbare Utopie. Die war aber die Romantik keine ausschließ- hene Londoner Independent verbreitet. Nazis haben dann dreist behauptet, in lich deutsche Erscheinung, und die deut- Dessen Kunstkritiker meinte ja, die ihrem Staat sei dieses Glück erreicht. sche Romantik hat auch internationale durch Hitler „in der Praxis“ vollzogene Das war eine willkürliche Pervertierung, Folgen gehabt. Nur kann man nicht alles „Reinigung der Welt“ sei durch Friedrich ein absichtliches, komplettes Mißver- auf einmal zeigen. Unsere britischen Kol- schon auf der Leinwand vorbereitet ge- ständnis. legen hatten ein verständliches Interesse wesen. Der Ausstellung „Der Geist der Romantik in der deutschen Kunst“, die Sie jetzt nach München holen, warf er Christoph Vitali vor, diesen Zusammenhang zu vertu- schen. beschwört die Tradition der Roman- Vitali: Ich begreife nicht, warum der Arti- tik an der Stätte ihres ärgsten Miß- kel so ernst genommen worden ist und brauchs: im Münchner Nazi-Bau warum kürzlich auch noch das deutsche Haus der Kunst, das er seit 1993 Fernsehen diesen Herrn einen solchen leitet. Der 54jährige Schweizer, zu- Dünnschiß hat von sich geben lassen, daß vor an der Spitze der Frankfurter einem richtig elend werden konnte. Schirn-Kunsthalle erfolgreich, über- SPIEGEL: Gibt es denn gar keine Verbin- nimmt eine Ausstellung, die voriges dung zwischen Romantik und Drittem Jahr unter dem Titel „The Romantic Reich? Spirit in German Art“ in Edinburgh Vitali: Die Polemik erinnert mich an Hei- und London zu sehen war. Von briti- ner Geißlers alte Behauptung, vom Pazi- schen Museumsleuten konzipiert fismus der dreißiger Jahre führe ein di- und von deutschen Firmen gespon- rekter Weg nach Auschwitz. Wenn man sert, wurde sie von der Kritik als solche Tiraden genügend dreht und wen- konfus und mißverständlich ge- det, kann man immer auch ein Quent- zaust. In München wird die Ausstel- chen Wahrheit darin finden, aber sieblei- lung vom 4. Februar bis zum 1. Mai ben doch entsetzliche Verdrehungen. gezeigt. Vitali und sein Mitarbeiter SPIEGEL: Was heißt das für Friedrich und Hubertus Gaßner haben sie erwei- Hitler? tert, neu gegliedert und ihr die Über- Vitali: Die Romantiker ersehnten eine schrift „Ernste Spiele“ gegeben.

Vereinigung mit dem Kosmos und die W. M. WEBER

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entlang bis in die Gegenwart ge- führt werden. SPIEGEL: Zum Beispiel an wel- chen? Vitali: Ein Ausstellungskapitel wird „Hymnen an die Nacht – Traum und Unbewußtes“ hei- ßen, ein anderes „Nationale My- then“ behandeln, ein drittes dreht sich, unter dem Schlag- wort „Chiffrenschrift“, um künstlerische Geheimzeichen. Am Ende steht dann die rätsel- hafte Steinordnung „Das Ende des 20. Jahrhunderts“ von Jo- seph Beuys. SPIEGEL: Mancher Kritiker hat sich schon in London heftig ge- wundert, was da alles, etwa von Dada bis zum Bauhaus, romanti- schen Geist ausstrahlen sollte. Vitali: Deswegen werden wir den

STAATL. MUSEEN KASSEL kunsthistorischen Längsschnitt Mythischer Kreislauf der Tageszeiten auf Schwerpunkte konzentrie- ren, also beispielsweise den Ex- daran, Kunstwerke aus zwei Jahrhun- Vitali: Vor heimischem Publikum kann pressionismus betonen und auch nicht derten vorzustellen, die ihrem Publi- und muß man natürlich anders spielen; fünf verschiedene Einzelwerke der kum noch kaum bekannt waren. das wollten wir schon, bevor in London „Zero“-Gruppe zeigen, sondern einen SPIEGEL: Das Auswärtsspiel ist verlo- die Kontroversen ausbrachen. Wir kön- einzigen Lichtraum von Otto Piene. ren. Können Sie hoffen, auf eigenem nen größere Kenntnisse voraussetzen SPIEGEL: Was ist das Romantische dar- Platz, in München, die Scharte auszu- und darum die Ausstellung stärker an? wetzen? nach Motiven gliedern, statt das Mate- Vitali: Das wird in der Beziehung zu rial chronologisch aufzureihen. Zu- Friedrich und Runge ganz deutlich wer- * Von Oskar Martin-Amorbach. gleich wird die Zahl der gezeigten den, für die das Licht und der Kreislauf Kunstwerke auf etwa 500 annähernd der Tageszeiten mythische Bedeutung verdoppelt. hatten. Es ist ein Glücksfall, daß wir aus SPIEGEL: Wie leiten Sie den Besucher Kassel Friedrichs einziges erhaltenes durch die Bilderflut? Transparentbild bekommen, das dort im Vitali: Er wird in einem zentralen Depot aufbewahrt war und jetzt für uns Raum einen – für München entschie- restauriert worden ist. Das Bild zeigt ei- den verstärkten – Komplex aus Werken ne bergige Flußlandschaft im Morgen- Friedrichs, Runges und anderer Ro- licht oder bei Nacht, je nachdem, ob es mantiker sehen und von dort aus an von vorn oder von hinten beleuchtet acht unterschiedlichen Themensträngen wird. VG BILD-KUNST / BONN / 1995 Nazi-„Sämann“ (1937)*, „Ende des 20. Jahrhunderts“ von Beuys (1983/84): Unerreichbare Utopie der Geborgenheit

DER SPIEGEL 5/1995 157 SPIEGEL: Was ist von dem Kapitel „Nationale Mythen“ zu erwarten? Vitali: Dahin gehört Karl Friedrich Schinkels Gemälde einer gotischen Ka- thedrale genauso wie Lyonel Feinin- gers in Holz geschnittene „Kathedrale des Sozialismus“ und Anselm Kiefers düsteres Architekturbild „Die Trep- pe“, das an unser Ausstellungsgebäu- de, das Haus der Kunst, erinnert. SPIEGEL: Und Nazi-Kunst? Vitali: Die bildet ein schwieriges Kapi- tel für sich. Es ist der Londoner Aus- stellung ja nicht nur vorgeworfen wor- den, sie beschönige die politischen Konsequenzen der Romantik, son- dern auch umgekehrt, daß sie über- haupt Beispiele von NS-Malerei zeig- te. SPIEGEL: Fanden Sie das überzeugend gemacht? Vitali: Nein, das war mir zu halbherzig und zu verwirrend. In einem Raum mit dem Titel „Kunst im Dritten Reich“ „Die Herausforderung der Nazi-Bilder mußten wir annehmen“

hingen Bilder einer mehr oder minder entschiedenen inneren Emigration – von Otto Dix und Franz Radziwill – zusammen mit Richard Oelzes in Paris gemalter Alptraumvision „Erwartung“, aber auch mit einem Familienidyll und einem Sämann von Nazi-Malern. SPIEGEL: Wäre es nicht konsequent ge- wesen, solche Propagandawerke ein- fach wegzulassen? Vitali: Schon 1985 sind die Londoner Veranstalter der Ausstellung „Deut- sche Kunst im 20. Jahrhundert“ dafür geprügelt worden, daß sie die Politik ganz draußen hielten. Nein, ich finde es richtig, jetzt auch die Pervertierung und Instrumentalisierung romantischer Ideale miteinzubeziehen. SPIEGEL: Wie halten Sie es in Mün- chen? Vitali: Hier in Hitlers „Haus der Deut- schen Kunst“ gab es gar keine andere Entscheidung: Wir mußten die Heraus- forderung annehmen. Also zeigen wir eine Gruppe von acht Nazi-Bildern mit deutlichen Motivbezügen auf die Ro- mantik, Bilder, die alle schon einmal in diesem Haus zu sehen waren. SPIEGEL: Werten Sie diese Schinken nicht unnötig auf? Vitali: Nein, denn wir hängen sie in ei- nen Korridor mit der Wandgliederung und den originalen Lampen von 1937, nicht in die eigentliche Ausstellung. Wir nehmen die Bilder aus dem Zu- sammenhang der Kunst heraus, um zu zeigen: Adolf Hitler ist kein legitimer Erbe Caspar David Friedrichs, sondern nur ein Erbschleicher. Y

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KULTUR

Bücher Ein lautes Lied der Freiheit Eva Demski über das muntere Anarchistenleben der Amerikanerin „Boxcar“ Bertha

Demski, 50, lebt als Schriftstellerin in Frankfurt am Main. Zuletzt veröffent- lichte sie den Essayband „Land & Leu- te“ (Verlag Schöffling & Co.).

ie erfährt, daß ihr Liebhaber aufge- hängt werden soll, weil er einen SMord begangen hat. Und die Schwangere setzt alles dran, um bei der Hinrichtung anwesend sein zu können. Nicht aus Grausamkeit, sondern weil sie dem Leben nie ausweicht, auch nicht seinem Ende. „Boxcar“ Bertha nennt sie sich nach den Güterwagen, die durch Amerika fahren und nebenbei Menschen trans- portieren, von denen Bertha sagt: „Die Reichen können Globetrotter werden, aber wer kein Geld hat, wird Hobo.“ Bertha ist ein Hobo*, und sie führt uns in das krisengeschüttelte Amerika der zwanziger und dreißiger Jahre. Ihre Mutter ist Anarchistin, und Bertha VERLAG

wächst in der Gesellschaft jener auf, die SÜDDT. von den orthodoxen Linken verachtet Reisende Hobos* in den USA (1929): „Nie auf einen Spaß verzichtet“ wurden und für die Rechten der leibhaf- tige Gottseibeiuns waren. bunte und aufregende Geschichte ist Ihrem Vater, den sie erst viele Jahre Das unter anderem erklärt auch, war- fast vergessen. Die Anarchisten Spa- später kennenlernt, macht sie Vorwürfe um man so wenig über sie weiß – ihre niens und Frankreichs, Rußlands und wegen seines Stillhaltens und bekommt Amerikas sind, samt ihrer verschütte- zur Antwort: „Alle Männer sind deine ten, im Untergrund lebendigen und Väter und deine Brüder, und alle Kin- trotz aller Verteufelung haltbaren Philo- der werden deine Söhne und Töchter sophie, neu zu entdecken, und einen sein.“ Bertha ist bis heute lebendig, weil Anfang kann man mit der furiosen Ge- sie den besten Chronisten ihrer schönen schichte der Bertha Thompson machen. Freiheitsgeschichten findet, der sich In Berthas Amerika war noch keine denken läßt: Ben Reitman. Rede von Political Correctness. Noch Der „König der Hobos“, Arzt, Kämp- war jene neue Schwächlichkeit nicht fer für das Recht auf Abtreibung, war entstanden, in deren Verlauf sich der lange Jahre der Geliebte der legendären Glaube verbreitet zu haben scheint, Anarchistin Emma Goldman. Reitman man könne unter den Segeln von Kalo- hat Berthas Geschichte aufgezeichnet, rientabellen und Cholesterinwerten, und es ist das Gegenteil jener Ikonen- dem Nikotin die Rolle des Teufels zubil- haftigkeit entstanden, die exemplarisch- ligend, auf Strömen von Mineralwasser linke Lebensgeschichten oft so langwei- dem Tod entkommen. lig macht**. Güterwagen-Bertha reist durch ein An die völlige Abwesenheit von Vor- ganz anderes Land, sie raucht und säuft, urteilen, moralischen Regeln und gesell- sie liebt und stiehlt, und ihrer Mutter, schaftlichen Einschnürungen muß der die sich ihre Männer frei und fröhlich Leser sich erst gewöhnen, soviel Neu- aussucht, wie sie ihr gefallen, verdankt gier, Reisewut und explodierende Le- sie die verblüffend einfache Lehre: „Wir bensfreude nimmt einem leicht die Luft. wurden niemals beschämt, weil es nichts Das Psychologisieren und die konstante gab, was wir als Schande gelten ließen.“ Frage nach dem Urteil der anderen hat sich schon zu tief ins allgemeine Be- * Amerikanisch für: Wanderarbeiter, Landstrei- wußtsein gegraben, als daß dieses laut cher. herausgesungene Lied der Freiheit ohne ** „Boxcar Bertha. Eine Autobiographie“. Aufge- UPI / BETTMANN weiteres zu ertragen wäre. zeichnet von Ben Reitman. Aus dem Amerikani- Bertha-Biograph Reitman (1926) schen von Manfred Allie´. Ammann Verlag, Zürich; Bertha lebt in den harten Zeiten der „König der Hobos“ 296 Seiten; 39,80 Mark. Weltwirtschaftskrise, ihre Familie, so

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chaotisch sie sich in bürgerlichen Augen Buch, sind die anarchistischen Grund- ausnehmen mag, gibt ihr ein unerschüt- sätze ein bißchen schwer zu verwirkli- terliches Vertrauen in die eigene Kraft. chen, aber man wäre kein wahrer Anar- Nach der Jahrhundertwende sind in chist, wenn man auf Grundsätzen behar- Amerika viele dieser erweiterten Fami- ren würde. lien entstanden, communities, in denen Anarchisten haben eine viel größere die Blutsbande nichts, der Respekt vor Rolle gespielt, als die Geschichte ihnen der Freiheit des anderen und die anar- zugestehen mag – nicht nur in Amerika, chistischen Formen des Zusammenle- wo politische Vorstellungen traditionell bens alles bedeuteten. Berthas Mutter weniger in Parteien als in freien, mitein- verschwand einmal für ein ganzes Jahr und wußte ihre Kinder in guter Obhut. Die Kinder gehörten niemandem au- ßer sich selber, aber jeder in der Gruppe BESTSELLER fühlte sich für ihr Wohl verantwortlich. Als Bertha mit knapp 17 beschließt, wie BELLETRISTIK tausend andere per Güterwagen das Land zu erobern, verabschiedet sich ih- Gaarder: Sofies Welt (1) re Mutter von ihr mit den Worten: „Ich 1 Hanser; 39,80 Mark bin immer ein grober Klotz gewesen. Ich habe niemals Moral gehabt, und ich Grisham: Der Klient (2) habe euch auch keine beigebracht. Aber 2 Hoffmann und Campe; ich war eine glückliche Mutter . . . 44 Mark Denkt daran, ich habe niemals irgend- welche Opfer für euch gebracht, und ich Pilcher: Das blaue Zimmer (3) habe nie auf einen Spaß oder ein Ver- 3 Wunderlich; 42 Mark gnügen wegen euch verzichtet.“ So wird in aller Unschuld der wichtig- Høeg: Fräulein Smillas (4) ste Gesellschaftsvertrag des christlichen 4 Gespür für Schnee Abendlandes und der Familie gebro- Hanser; 45 Mark

Follett: Die Pfeiler (5) Ein Hurenleben 5 der Macht aus sexueller Neugier, Lübbe; 46 Mark doch ohne Illusion Noll: Die Apothekerin (8) 6 Diogenes; 36 Mark chen: das schlechte Gewissen, auf dem alles aufgebaut ist. Begley: Lügen in (6) Dennoch ist die Geschichte der Box- 7 Zeiten des Krieges car Bertha ein vollkommen unromanti- Suhrkamp; 36 Mark sches Buch, und die schönen und bitte- ren Varianten des Lebens werden nicht Forsyth: Die Faust Gottes (9) in Exotik verpackt. Das ist gewiß Reit- 8 C. Bertelsmann; 48 Mark man zu verdanken, der nie vergißt, daß all die merkwürdigen Jobs und seltsa- Crichton: Enthüllung (7) men Begegnungen nichts als Alltag sind, 9 Droemer; 44 Mark wenn auch ein nicht durch Konventio- nen gezähmter Alltag. Kishon: Ein Apfel (12) Bertha arbeitet als Spülmädchen und 10 ist an allem schuld Sprechstundenhilfe, als Sekretärin, in Langen Müller; 36 Mark einer Abtreibungsklinik, sie kommt in den Knast und wieder in die Freiheit der 11 de Moor: Der Virtuose (11) Güterzüge und der weiten Reisen. Bei Hanser; 34 Mark Jacksonville lebt sie in einem Hobo- Camp, „Camp Abgebrannt“, wie sie es 12 King: Schlaflos (13) nennt, und äußert sich begeistert über Heyne; 48 Mark die Menüs, deren Hauptbestandteile ge- klaute Hühner sind. Sie lernt den Eh- 13 Garcı´a Ma´rquez: Von der (10) renkodex des Bettelns und Stehlens, sie Liebe und anderen Dämonen liebt es zu trinken und läßt sich von ei- Kiepenheuer & Witsch; 38 Mark nem großen anarchistischen Agitator verführen. 14 George: Denn keiner ist (14) Diesem Mallettini – „er war für mich ohne Schuld eine göttliche Gestalt“ – begegnet sie Blanvalet; 44 Mark immer wieder und findet nichts Besitz- Clancy: Gnadenlos ergreifendes daran, wenn sie diesen 15 Hoffmann und Campe; 49,80 glücklichen Zufällen sanft und kräftig Mark nachhilft. In der Liebe, das zieht sich wie ein wahrhaft roter Faden durch das

160 DER SPIEGEL 5/1995 ander lose verbundenen Gruppen aus- Von dieser dem verachteten System gelebt wurden. Viele von diesen Dör- abgetrotzten Individualität erzählt Ber- fern oder Gemeinschaften gingen auf tha. Ein Kabinettstück der Vorurteilslo- die Initiative emigrierter russischer An- sigkeit ist ihre Beschreibung der Prosti- archisten zurück, denen schon früh klar tution, die sie sich wie einen x-beliebi- war, daß sie mit dem autoritären und ni- gen Beruf aussucht – kein Wort über ge- vellierenden Sozialismus weder würden sellschaftliche Zwänge – und deren Ge- leben wollen noch dürfen. Mit dem kor- setze und Alltag sie mit der ihr eigenen rupten kapitalistischen System schienen Neugier kennenlernt. Arrangements möglich. Natürlich erst, nachdem sie sich in ei- nen Zuhälter verliebt hat – es ist nun mal passiert, nicht zu ändern, die Liebe macht Gesetze so schnell, wie sie sie auch vernichtet. Und wenn es denn nun schon so ist, kann man genausogut eine SACHBÜCHER Schule des Lebens daraus machen: „Ich werde herausbekommen“, gesteht sie Wickert: Der Ehrliche (1) einer Bekannten, „warum Frauen sich 1 ist der Dumme von ihren Gefühlen versklaven lassen.“ Hoffmann und Campe; 38 Mark Nicht ein einziges Mal verfällt sie, Carnegie: Sorge dich (2) trotz ihres illusionslosen Blicks auf das 2 nicht, lebe! Hurenleben, in jenen Die-Gesellschaft- Scherz; 44 Mark hat-mir-das-angetan-Ton, in dem dieses N. E. Thing Enterprises: (3) Thema gemeinhin behandelt wird. Sie 3 Das magische Auge III verbirgt weder ihre Eitelkeit, ihren Spaß Ars Edition; 29,80 Mark an der Freudenmädchenkostümierung noch ihre sexuelle Neugier. 4 N. E. Thing Enterprises: (4) Es war immer eine anarchistische Ei- Das magische Auge II genschaft, im Gegensatz zu allen großen Ars Edition; 29,80 Mark Ideologien, Religionen und sonstigen Ogger: Das Kartell (6) Menschheitsrettungsversuchen, eben je- 5 der Kassierer ne Menschheit nicht anders haben zu Droemer; 38 Mark wollen, als sie ist. Nicht Gleichheit war N. E. Thing Enterprises: (5) das Ziel, sondern der Respekt vor den 6 Das magische Auge Unterschieden. Deshalb bleiben Parti- Ars Edition; 29,80 Mark kel dieses Denkens so hartnäckig in der Scholl-Latour: Im (7) Welt, ohne bei jenem Namen genannt 7 Fadenkreuz der Mächte zu werden, der von links und rechts mit C. Bertelsmann; 44 Mark der gleichen Unerbittlichkeit diffamiert und verfolgt wurde. Johannes Paul II.: (8) Unter einem Anarchisten stellt man 8 Die Schwelle der sich heute noch den Karikaturen-Fin- Hoffnung überschreiten sterling mit Schlapphut vor, der unter Hoffmann und Campe; 36 Mark schwarzer Pelerine eine Bombe mit Carnegie & Assoc.: Der Erfolg brennender Lunte hervorholt. Tatsäch- 9 ist in dir! lich kämen keine Bürgerinitiative, keine Scherz, 39,80 Mark Autonomiebewegung und keine ver- Ogger: Nieten in (9) nünftige Erziehung ohne die Gedanken 10 Nadelstreifen aus, die weltweit in den anarchistischen Droemer; 38 Mark Bewegungen entstanden sind. Mandela: Der lange (11) Schon vor mehr als 20 Jahren hat 11 Weg zur Freiheit Hans Magnus Enzensberger in einem S. Fischer; 58 Mark Interview – auf sein damals sensationel- les Buch „Der kurze Sommer der Anar- Friedrichs, mit Wieser: (10) chie“ angesprochen – gesagt, er habe in 12 Journalistenleben keiner politischen Gruppe jemals so Droemer; 38 Mark spannende Menschen gefunden wie bei 13 Paungger/Poppe: Vom (14) den Anarchisten. richtigen Zeitpunkt Boxcar Bertha ist ein prachtvolles Hugendubel; 29,80 Mark Beispiel für die spannenden Menschen, Ditzinger/Kuhn: (13) „die entstehen, wenn sie wachsen dür- 14 Phantastische Bilder fen, wie sie wollen“ (Enzensberger). Südwest; 14,90 Mark Berthas Lebensbericht endet, als sie 21st Century Publishing um die 30 Jahre alt ist, eine strahlende 15 3D – Die Dritte Dimension Person, von den Einsamkeiten und Ars Edition; 19,80 Mark Ängsten des Älterwerdens noch weit entfernt. An ihrer Mutter mag sie gese- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom hen haben, daß diese Ängste nichtig Fachmagazin Buchreport sind, wenn es gelungen ist, das richtige Leben im falschen zu führen. Y

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KULTUR

auf deutsch) von Verlag zu Verlag. Als zeichnung. Denn auch der schurkische Krimis er endlich veröffentlicht wurde, begei- Lehrer ist nicht bloß ein zynischer Kil- sterte er die Kritiker weit mehr als die ler, Marke einsamer Wolf, der Men- Leser. Green war, wie er rückblickend schen beiläufig umbringt; er ist zugleich sagt, „pleite und ziemlich am Ende“. ein Kunst- und Musikliebhaber, der Der Killer Der Autor, der sein Alter ver- Violinkonzerte von Vivaldi hört, medi- schweigt, um sich „mit einer Aura von tiert und seine Kumpels mit Sätzen des Geheimnis“ zu umgeben, hielt sich mit Philosophen Laotse nervt. hört Vivaldi diversen Jobs über Wasser und schrieb „Wer seine eigene Angst durchschau- unverdrossen weiter. Die Idee für An- en kann, wird von ihr befreit“, zitiert Zerzauste Romantikerin gegen fie- nies Story kam ihm beim Lesen einer der praktizierende Taoist etwa oder: sen Mafiakiller – mit dieser Konstel- Zeitungsmeldung. Den Rest hat er sich „Der Meister war den ganzen Tag ge- ausgedacht. reist, ohne das Haus zu verlassen.“ lation gelang dem amerikanischen „Die Geschworene“ erzählt in knap- Green hat für seinen Reißer sowohl Autor George Green ein Bestseller. per Sprache von Annie, die sich als Ju- die Gewohnheiten des Mobs als auch ry-Mitglied verpflichten läßt, im Prozeß die Lehren des Taoismus erkundet. Nur gegen Louie Boffano, den Mafia-Boß gelegentlich neigt der Lehrer zu pathe- nnie Laird ist alleinerziehende aus Westchester County. Der ließ einen tischem Abschweifen, meist drückt Mutter und Bildhauerin, und sie ist seiner Geschäftspartner und dummer- Green aufs Tempo. Seine Protagonisten Anicht besonders tough. Auf Sex weise auch dessen kleinen Enkel um- sind weniger grüblerische Sinnsucher, kann sie verzichten, auf die Kunst nicht. bringen. Finsterling Boffano hat schon die über Leben und Tod räsonieren, als Sie fällt kaum auf, wenn sie verträumt viele Menschen umlegen lassen – wenn- gewöhnliche Menschen, die um Geld, durch New York wandert: eine zerzau- gleich er den Tod des Kindes ein wenig Karriere und Überleben kämpfen. ste Schönheit, die Männer erst nach bedauert, lassen ihn die beiden Morde Die überraschende Wende in Greens dem dritten Blick fasziniert, eine komi- eigentlich kalt. Thriller ergibt sich durch die allmähliche sche Romantikerin, Verwandlung des soge- die fast nie Zeitung nannten Bösen: Der Leh- liest oder in die Glotze rer, ein fanatischer Jäger, guckt. Und die des- der nicht von seiner Beute halb, was so böse Din- läßt, verhält sich zuneh- ge wie Habgier, Kor- mend merkwürdig. Zu- ruption oder gar Mord nächst sieht es so aus, als angeht, nicht so recht sei er eine Killermaschine auf dem Laufenden ist. und habe sein Selbst liqui- Annie ist „Die diert, um sich emotions- Geschworene“ in ei- und mitleidlos seiner Auf- nem Mafiosoprozeß, gabe zu widmen. die Heldin in dem Gleichzeitig aber leidet gleichnamigen Psycho- der geniale Psychopath un- thriller von George ter seiner – uneingestande- Green*. Das Buch, ge- nen – Einsamkeit. Er ist ein rade auf deutsch er- verstörter Desperado, der schienen, ist drauf und eine grausige Kindheit hin- dran, ein ähnlicher Er- ter sich hat. Wenn er über folg zu werden wie die sich, das Leben und die Justizromane von John Menschen um sich herum

Grisham. N. FEANNY / SABA die Kontrolle verliert, ver- Greens Krimi steht Bestsellerautor Green: Lustvoller Psychoclinch der Geschlechter fällt er in tödliche Panik. auf Platz 19 der deut- Der Auftrag läuft erst mal schen Bestsellerliste – und bevor das Lästig ist nur, daß es da eine Menge schief, und so wird die verletzliche, Buch in den USA überhaupt auf den Indizien gibt. Und die reichen aus, um schutzlose Annie für ihren Widersacher Markt kam, waren die Rechte für 15 ihn vor Gericht zu bringen. Boffanos zunehmend bedrohlich. Je näher er ihr Länder verkauft. Columbia Pictures si- Lieblings-Killer Vincent, genannt „der kommt, desto mehr verwirren ihn ihre cherte sich für 1,5 Millionen Dollar die Lehrer“, soll seinen Chef vor der dro- Aufrichtigkeit und ihre Unschuld, ihr Filmrechte. henden Verurteilung bewahren. Die unberechenbares, weil chaotisches Ver- Dem Amerikaner Green ist dieser Er- naiv wirkende Annie scheint Vincent halten, ihre wachsende Kraft. Nach etli- folg, erschrieben in einem Jahr, fast un- ein geeignetes Erpressungsopfer zu sein. chen Morden und einer Flucht durch die heimlich. „Nie hätte ich damit gerech- Er spioniert ihr Leben aus, verwanzt USA kommt es in Guatemala zum Show- net, so schnell zu Geld zu kommen“, ihr Haus und setzt die Geschworene un- down. sagt er, „obwohl ich natürlich wußte, ter Druck: Entweder sie plädiert für Dieser Kampf Frau gegen Mann ist ei- daß das Buch guter und spannender Le- „nicht schuldig“ und kann das auch den ne moderne Version von David gegen sestoff ist.“ anderen Geschworenen verklickern – Goliath und ein lustvoller Psychoclinch Bis vor einigen Jahren lief es bei oder der Lehrer wird sie und ihren Sohn der Geschlechter. Green mit der Schreiberei ziemlich Oliver, 12, töten. Pläne für die nächste Zeit hat Green mies. Acht Monate trug der Mann sei- Green erzählt seine Geschichte mal reichlich: Er möchte Filmdrehbücher nen ersten Roman „Der Höhlenmensch aus der Perspektive Annies, mal aus der schreiben und auch Regie führen, außer- von New York City“ (erscheint im Mai des Lehrers. Was den Roman so span- dem, so sagt er in aller Bescheidenheit, nend macht, ist Greens psychologisch weiterhin „derart spannende Bücher * George D. Green: „Die Geschworene“. Droemer genaue, durch Intelligenz und emotio- schreiben, daß die Leute sie einfach Knaur, München; 412 Seiten; 39,80 Mark. nale Wärme bestechende Charakter- nicht aus der Hand legen können“. Y

162 DER SPIEGEL 5/1995 Werbeseite

Werbeseite .

Esoterik Potsdamer Mysterium Ein cleverer New-Age-Manager plant eine private „Friedensuniversität“ – ein Fall von Hochstapelei?

n seinem Dienstwagen erhielt Ignatz DPA Bubis, Vorsitzender des Zentralrats Uni-Gründer Schwarz-Schilling, Krone-Schmalz, Morawetz: Grundlage des Seins Ider Juden in Deutschland, einen überraschenden Anruf. Gründung einer Friedensuniversität“ Thomas Gandow, Sektenbeauftragter Ob er tatsächlich im kommenden Sep- (FGF). Mißtrauische Beobachter ver- der evangelischen Kirche in Berlin- tember an einer Potsdamer „Sommer- muten dahinter jedoch einen Fall von Brandenburg, rät zur „Distanz“ gegen- universität“ dozieren werde, wurde er Hochstapelei, ausgeheckt vom Vereins- über Morawetz und Co. gefragt. Bubis verneinte verdutzt – es vorsitzenden Uwe Morawetz, 29. Schon im November vergangenen war ihm unbegreiflich, wie er auf die Der präsentierte letzten Dienstag auf Jahres war der Vorstand des etwa 750 Dozentenliste der obskuren Akademie einer Pressekonferenz stolz einen neuen Mitglieder zählenden Vereins, bis auf gekommen war. Vorstand, darunter die ARD-Modera- den flotten Uwe, geschlossen zurückge- Ähnlich erging es anderen Prominen- torin Gabriele Krone-Schmalz und Er- treten. Ex-Vorständler Ellis Huber, ten: Sachsens Innenminister Heinz Eg- vin Laszlo, den Mitgründer des Club of Präsident der Berliner Ärztekammer, gert, Regisseur Richard Attenborough Rome. Auch im Kuratorium nur illustre rügt den Vorsitzenden als „idealisti- („Gandhi“), auch die Mode-Fabrikantin Namen: Sabine Christiansen, Horst- schen Traumtänzer“. Nachdem Mora- Britta Steilmann – sie alle waren auf Eberhard Richter, Luise Rinser . . . wetz ohne Absprache 300 000 Mark wundersame Weise als Lehrkräfte an ei- Morawetz, ein kahlköpfiger Yuppie Schulden bei Mitgliedern und Freunden ne „Friedensuniversität Potsdam“ beru- aus dem West-Berliner Kiez, hat sich des Vereins gemacht hat, sagt auch die fen worden. Dorthin, wo über so hinter- nach einem abgebrochenen Germani- ehemalige Vorständlerin Manina Las- gründige Themen wie „Die Geschichte stikstudium als Manager in der New- sen-Grzech: „Morawetz ist ganz einfach der Zauberei“ oder „Mysterien der Age-Szene etabliert. 1991 organisierte unseriös im Umgang mit Finanzen“, Frauen“ debattiert und in ernsten er das Potsdamer Esoterik-Festival „Die sein „Drang, alle Veranstaltungen der „Studiengängen die intuitiven und emo- Kraft der Visionen“, an dem etwa der FGF in Nobelquartieren abzuhalten“ sei tionalen Grundlagen des menschlichen US-Schamane Brant Secunda und ein ruinös für den Verein. Seins“ ausgelotet werden sollen. Sufi-Mystiker namens Pir Vilayat Inayat Morawetz schwärmt derweil unver- An „Menschen aus allen Bevölke- Khan teilnahmen. Zur parapsychologi- drossen vom „inneren Frieden“, den sei- rungsschichten“ soll sich dieses Potsda- schen Erbauung war auch die selbster- ne Uni beschere. 25 Nobelpreisträger, mer Mysterium wenden. Interessenten nannte Hexe Zsuzsanna Budapest her- die angeblich honorarfrei mitwirken, werden schon heute aufgefordert, Kurse beigeeilt, die laut Programmheft „die sollen zu Vorträgen anreisen – fragt sich im September für 460 Mark pro Woche spirituelle Dimension in die Frauenbe- nur, wohin: Noch hofft der New-Age- zu buchen. Die Anstalt selbst allerdings wegung eingebracht hat“. Manager, die Säle „entweder umsonst soll erst am 1. Oktober in der Berliner Unter dem Vereinsnamen „Netzwerk oder kostengünstig zur Verfügung ge- Deutschlandhalle ins akademische Le- der Kulturen“ engagiert Morawetz stellt“ zu bekommen. ben treten. Wunderheiler und Therapeuten, die Nach einem potenten Sponsor hat Verbreitet werden die vollmundigen Kurse in den „geistigen Gesetzen“ ertei- Morawetz vergebens gefahndet, und Verheißungen vom „Förderverein zur len. Daneben amtiert er als Geschäfts- auch die Politik läßt ihn noch hängen. führer einer „Astrodata Immerhin, so erklärt er kleinmütig, GmbH“, die „astrologi- „haben wir Menschen im Senat, die sich sche Textanalysen“ für unser Projekt interessieren“. vertreibt. Wohn- und Erst kürzlich hat er, womöglich in Geschäftssitz zugleich weiser Voraussicht, den Antrag durch- ist die Schöneberger gebracht, wonach der Vorstand nur für Akazienstraße 27. Ne- grobe Fahrlässigkeit hafte. Bei diesem ben einer esoterischen Coup erwählte er gleich eine neue Fi- Buchhandlung haust nanzexpertin: Marie-Luise Schwarz- dort auch die 1991 ge- Schilling, Gattin des Ex-Postministers, gründete Förderge- die auch schon mit einem übersinnlichen meinschaft der Frie- Schmöker über die „Ethik des Kauf- densuniversität – der manns“ hervorgetreten ist. Begriff Universität ist Auf Fragen nach der aktuellen Fi- in Brandenburg nicht nanzlage des Fördervereins weiß sie vor- geschützt. erst keine Antwort. Man möge sich

L. KREIBOHM doch an erfahrene Herrschaften richten, Esoterik-Freunde Pir Vilayat Inayat Khan, Morawetz* * Im Mai 1991 beim Festival zum Beispiel den Vorsitzenden Mora- Parapsychologische Erbauung „Die Kraft der Visionen“. wetz. Y

164 DER SPIEGEL 5/1995 KULTUR

Welterfolg. Ins Arabische wie ins He- noch im Ausland vollständige Nach- Verlage bräische wurde es übersetzt, ins Russi- drucke des Buches“. Zweck der Übung sche, Polnische, Tschechische, Rumäni- ist, der „Gefahr des Mißbrauchs“ sowie sche und, seit Jahren schon, in ziemlich der „unkritischen Verbreitung national- alle westeuropäischen Sprachen; Eng- sozialistischen Gedankenguts“ entge- Gedealter land hat sogar eine kritisch kommentier- genzuwirken und eine „Schädigung te Edition. deutschen Ansehens“ zu verhindern. Wer Hitler erkennen wolle, schreibt Wie in einem Dutzend Fällen vorher Stoff darin der Londoner Historiker D. C. hatte Bayern auch in Schweden interve- Watt, „der muß ,Mein Kampf‘ studie- niert und die Restauflage beschlagnah- Streitfall „Mein Kampf“: In aller Welt ren“. Der Haken an dem Kreuz: Nicht men lassen. Schwedens Schriftsteller- wird Hitler gelesen, in Deutschland jeden Hitler-Leser beseelt reiner For- verband protestierte heftig gegen die scherdrang; den braunen, antisemiti- Aktion, sah Gefahr für die Pressefrei- ist das Buch tabu. Soll sich das än- schen Kolonnen in aller Welt gibt die heit und die „freie Debatte“, wenn ein dern? Betriebsanleitung zum Holocaust ganz „historisches Dokument, das für unsere andere Kicks. europäische Geschichte ausschlagge- Also besser in den Giftschrank mit bend war, der Beurteilung entzogen er allzu spät verstorbene Autor der Schwarte? Vergangene Woche spitz- wird“. dieses Buches war der Deutschen te sich der latente Streit um Hitlers Hin- Die Presse sprang bei, deklarierte den Dmächtig, des Deutschen nicht so terlassenschaft zum politischen Kon- bayerischen Anspruch zum „reinen Bü- ganz. „Die Eier des Kolumbus liegen zu flikt. Anlaß: eine schwedische „Mein rokratenmist“ und griff zu einem pyra- Hunderttausenden herum“, schrieb er Kampf“-Edition; Kontrahenten: der midalen Vergleich: Dies sei so, als etwa, oder: „Das Ziel der weiblichen schwedische Schriftstellerverband und „wolle Ägypten das Urheberrecht an Erziehung hat unverrückbar die kom- der Freistaat Bayern; Streitsache: die den Büchern Moses beanspruchen“. mende Mutter zu sein.“ „Mein Kampf“-Urheberrechte. Und des Landes größte Zeitung, Ex- Er konnte auch anders. „Die Sünde Die liegen, seit der Abwicklung des pressen, fragte: „Will Deutschland wie- wider Blut und Rasse ist die Erbsünde Dritten Reiches, beim bayerischen der herumkommandieren?“ Im März dieser Welt und das Ende einer sich ihr Staat, und der gestattet „weder im In- geht die Sache vor Gericht.

Deutscher Raubdruck Arabische Ausgabe Polnische Ausgabe Schwedische Ausgabe ergebenden Menschheit.“ So- Was den Schweden recht ist, mit: „Ein Staat, der im Zeitalter sollte den Deutschen auch recht der Rassenvergiftung sich der sein. Doch im Reich der Dämo- Pflege seiner besten rassischen nen bleibt, dank der Bayern, Elemente widmet, muß eines „Mein Kampf“ tabu; nicht ein- Tages zum Herrn der Erde wer- mal das Münchner Institut für den.“ Zeitgeschichte darf „Mein Im Stalingrad-Jahr, 1943, hat- Kampf“ in seine kritische Hitle- te Adolf Hitlers „Mein Kampf“ riana-Edition aufnehmen. Fol- eine Auflage von 10,24 Millio- ge: Der Lese-Stoff wird gedealt. nen Exemplaren erreicht. Es Ein gewaltiger grauer Markt gab das Werk als „Kartonierte hat sich etabliert, ein Netz Ausgabe“, als „Volksausgabe“, aus Raubdruckern, Versand- als „Dünndruckausgabe“, als händlern, Spezial-Antiquaren, „Geschenkausgabe in Leinen“ Bauchladen-Hiwis; der Absatz sowie „in Halbleder“. Gab es steige, berichtet die Branche, auch zehn Millionen deutsche die Preise klettern. Leser? Fundgruben sind die Floh- Kaum. Doch 50 Jahre nach Englische Ausgabe Hebräische Ausgabe marktseiten rechter Blättchen. dem Tod des Völkermörders ist Editionen von Hitlers „Mein Kampf“ Neben „Urlaub bei Kameraden „Das Buch der Deutschen“ ein Betriebsanleitung für den Holocaust in Kroatien“ bietet sich an:

DER SPIEGEL 5/1995 165 „,Mein Kampf‘, 280,-“, plus Telefon- nummer. Oder anderswo: „,Mein Kampf‘, Jubiläumsausgabe 1989 zum 100. Geburtstag Adolf Hitlers, goldbe- druckte, rote Leinenausgabe, mit gro- ßem geprägtem Hoheitsadler. Höchst- gebot nicht unter 600,- DM.“ Folgt Postfach. Raubdrucke wie diese Jubiläumsaus- gabe ordert der Kunde weitaus billiger etwa bei einem Verlag im dänischen Alborg; der bot das Prachtstück schon für 100 Mark an. Tycoon der Branche ist ein Mann, der sich Gerhard Lauck nennt, im US-Staat Nebraska residiert und „Mein Kampf“-Raubdrucke schon für 45 Mark pro Stück versendet. Bleibt noch der Gang zum Antiquar des Vertrauens, Hüter jener Reste der Zehn-Millionen-Auflage, die den Autor überlebten. Meist Käufer um die 30 fän- den sich da ein, so wird berichtet, und sie legten schöne Summen hin: Je nach Jahrgang und Ausstattung des Originals von 500 bis 1000 Mark; Raubdrucke, da auch zu haben, gehen für 80 bis 140 Mark weg. So kann sich jeder Neonazi sein Kopf- kissenbüchlein besorgen, um „die ganze Weltgeschichte zu verstehen“ und den „Inbegriff einer klaren, verständlichen Weltanschauung“ einzuziehen (Neona- zi-Postille Index). Dem kritisch Interes- sierten bleibt nur der Weg zum Dealer oder zu einer wissenschaftlichen Biblio- thek. Die Situation ist grotesk. Der renom- mierte Hitler-Forscher („Hitlers Welt- anschauung“) Eberhard Jäckel, Histori- ker an der Uni Stuttgart, moniert den „bedenklichen Umstand, daß der Staat auf diesem Wege Zensur ausübt“; es sei „hinderlich und zu bedauern“, daß eine kritische Ausgabe von „Mein Kampf“ nicht zur Verfügung stehe. Das Buch le- ge den „verbrecherischen Charakter Hitlers überzeugender offen als viele Kommentare“. „Das Buch der Deutschen“ – war es das je? Der Historiker Werner Maser behauptete 1981, die Geschichte wäre „zweifellos anders verlaufen“, hätten die Deutschen ihren Hitler „rechtzeitig“ gelesen und „ernst genommen“. Ein englischer Professor, immerhin, tat es. Im Juli 1939 veröffentlichte der Ox- ford-Historiker R. C. K. Ensor ein „Pamphlet“ mit dem Titel „Herr Hit- ler’s Self-Disclosure in ,Mein Kampf‘“ (Hitlers Selbstenthüllung in „Mein Kampf“). Ensor las den Fahrplan, den Hitler aufgestellt hatte, und schrieb nie- der, wie die Züge fahren werden – hin zu Krieg und Greuel. Wie ein Kartenspieler, schrieb Ensor, habe Hitler sein Blatt offen auf den Tisch gelegt; aber die anderen Spieler seien „zu faul“, einen Blick darauf zu werfen. Das Blatt ist noch immer nicht vom Tisch. Y

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KULTUR

verzweifelten Gehversuch aufraffte, Komponisten noch einen Funken Hoffnung, daß sein Körper durchhalten und der Konzertbe- trieb ihn endlich erhören würde. Schließlich war die Uraufführung sei- Lazarus im ner siebten Sinfonie 1968 ungewöhnlich erfolgreich verlaufen: Jubel in Stock- holm, Plattenaufnahme, Preise, danach Hexenkessel Auftragskompositionen. Er sei nun ein Mann, hatte der Komponist damals zy- Später Erfolg für die nachtschwarze nisch angemerkt, „der herumgeht und Brachial-Sinfonik des Schweden dankbar dafür ist, daß die Leute ihm nicht länger in die Fresse hauen“. Allan Pettersson – bei einem Kon- Doch als Pettersson im Juni 1980 zertmarathon an Rhein und Ruhr. starb, war er auch im hohen Norden längst wieder passe´ und auf der Szenerie der Neutöner und Postmodernisten als ühsam erhebt sich der Alte von Exot ausgegrenzt, ja kaum noch wahr-, seinem Messingbett, tappt mit geschweige denn ernstgenommen. Mdem Stock, Schritt für Schritt, Seit Herbst letzten Jahres allerdings durchs Zimmer, sucht Halt an Möbeln ist der skandinavische Außenseiter groß und Wänden – ein Schmerzensmann, im Kommen. Hochrangige Orchester, ein Hiob. Chöre, Dirigenten und Solisten, Kam- „Man muß kämpfen“, sagt der Sieche mer-Ensembles und Streichquartette ge- und ächzt die Treppe hinab, „wenn du ben ihm die Ehre; in 27 nordrhein-west- um Hilfe fragst, bist du schon verloren.“ fälischen Städten steht er noch bis zum Er fühle sich wie ein „Käfer, der auf kommenden Sommer bei 63 Konzerten den Rücken gefallen“ sei – erst im Roll- auf dem Programm; ein ganzes Bundes- stuhl, dann moribund im Hospital, zu- land hat seine Kulturarbeit harmoni- letzt bewegungsunfähig auf dem Kran- siert, um ihm aufzuspielen – eine Pio- kenlager. Chronische Arthritis, Nieren- niertat sondergleichen für ein Lebens- schwund, Krebs. werk ohnegleichen. Vielleicht hatte der schwedische Nun brodelt, tobt und wütet vielerorts Komponist Allan Pettersson 1976, als er zwischen Bielefeld und Bonn eine sich vor der Fernsehkamera zu seinem „Dampfwalzenmusik“ (Die Welt) aus dem Vergessen, deren Exzesse den Hörern so gewalttätig un- ter die Haut gehen, daß manch einer aus dem Saal flüchtet – Petterssons Tonsprache ist meist eine gnadenlose Nerven- säge. Kolossal wie Anton Bruck- ner, maßlos wie Gustav Mah- ler, grell und schroff wie Dmi- trij Schostakowitsch hat der Stockholmer Sonderling Pet- tersson 16 Sinfonien aufge- wuchtet: langsame, meist pau- senlose, bis zu 90 Minuten ge- dehnte Lamentos, in denen sich seine Lebens- und Lei- densgeschichte entlädt. So bitter und bizarr, so un- beherrscht und egomanisch wie dieser schwedische Laza- rus hat sich noch kein Kompo- nist seine Verzweiflung von der Seele geschrieben. Petters- sons Leitmotiv blieb stets „mein eigenes Leben, das ge- segnete, das verfluchte“, sein ganzes Œuvre wurde – wie sein Dasein – eine einzige Quäle- rei. Mit Musik nahm er Rache für sein Schicksal. In kalten Kellerlöchern des

G. KÄLLSTRÖM früheren Stockholmer Slum- Komponist Pettersson (1978) viertels Södermalm wuchs der „Faustschlag ins Gesicht“ Junge auf. Der Vater war alko-

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holsüchtiger Schmied, die Mutter eine frömmelnde Straßensängerin, Allan das Schmuddelkind einer kaputten Ehe. Auf einer Geige, die er sich mit dem Verkauf von Weihnachtspostkarten zu- sammengespart hatte, schulte er sich selbst im Saitenspiel. Mit 19 schaffte er die Aufnahmeprüfung ins Stockholmer Konservatorium. Als Stipendiat ging er ein Jahr nach Paris und begann 1940 sei- nen Broterwerb als Bratschist in Stock- holms Philharmonischem Orchester. Mitte der vierziger Jahre glückte ihm mit den 24 „Barfußliedern“ ein Schla-

ger: Der Zyklus aus romantisch-folklori- LIPNITZKI-VIOLLET / STUDIO X stischen Gesängen voll wohlklingendem Pettersson-Lehrer Honegger (1949) Wehleid und privater Nostalgie blieb Gegen alle Moden der Moderne sein bisher populärstes Werk. Anfang der fünfziger Jahre, nach neu- erlichen Paris-Studien bei Arthur Ho- negger, Darius Milhaud und dem Zwölf- ton-Apostel Rene´ Leibowitz, entschied Pettersson, fortan nur noch zu kompo- nieren, und zwar gegen alle Moden der feinen Avantgarde-Zirkel. Die wahre Moderne, polemisierte der Tonsetzer, finde sich nicht auf den „geheiligten Festivals der Internationa- len Gesellschaft für Neue Musik“, son- dern in der „Seele der einfachen Men- schen“. Der „Mensch von heute“ sei „ein kleines Kind, das irgendwo auf die- ser Erde verhungert“, die „Musik von heute“ sei „das Weinen dieses Kindes in einer Messe für Aasgeier“. Von einer unheilbaren Gelenkentzün- dung gepeinigt und gelähmt, verklump- te Pettersson im Hexenkessel seines

stets massig besetzten Orchesters Dur, KEYSTONE Moll und Dissonanzen zu immer härte- Pettersson-Lehrer Milhaud (1963) ren Klangbrocken und schleuderte eine Immer härtere Klangbrocken Sinfonie nach der anderen heraus. Unerschüttert von der Ratlosigkeit zeigen, ob das Publikum für diesen Pi- des Publikums, wechselte Pettersson natubo der Philharmonien empfänglich vom Elendskünder mit missionarischer geworden ist. Menschenliebe („Ich bin gar kein Kom- Hörer außerhalb der Musikszene an ponist, ich bin eine rufende Stimme“) Rhein und Ruhr sind von dem Test nicht zum Brachial-Sinfoniker, der seinen ausgeschlossen. Denn wenn der Groß- Hörern „einen Faustschlag ins Gesicht“ versuch am 14. Juli in der Kölner Phil- versetzen wollte. harmonie mit Petterssons Chorwerk Mit dem körperlichen Verfall wuchs „Vox humana“ ausklingt, legt im nie- seine schöpferische Aktivität. Seine dersächsischen Georgsmarienhütte die zehnte Sinfonie schrieb Pettersson be- cpo-Musikproduktion letzte Hand an reits „im Tunnel des Todes“; manchmal die 14 CDs ihrer „Pettersson Edition“. notierte der Invalide seine Einfälle auf Cpo-Manager Burkhard Schmilgun Mullbinden. hält – logisch – die Stunde „dieses un- „Tief beschämt“ gestand der Dirigent glaublichen Menschen und ungewöhnli- Gerd Albrecht 1988 seine Entdeckung, chen Komponisten“ für gekommen. daß es „dort oben in Stockholm einen Nicht nur in Deutschland, sondern auch kleinen armen Bratscher“ gegeben ha- in Schweden und USA beobachte er be, „der wie ein Vulkan Sinfonie nach „eine erstaunliche Nachfrage“ nach Pet- Sinfonie herausgespieen“ habe. Zusam- terssons schwerblütiger Bekenntnismu- men mit dem Hamburger Operninten- sik: „Das ist fast wie damals bei Mah- danten Peter Ruzicka und dem Wupper- ler.“ taler Generalmusikdirektor Peter Gülke Der nämlich war einst als jugendstili- machte sich Albrecht zum rührigen Für- ger Spätromantiker verpönt, heute ist er sprecher des schwedischen Eigenbröt- sinfonischer Bestseller. Die Werke des lers. Viel Echo fand das Trio nicht. Spätestromantikers Allan Pettersson Doch jetzt, beim Pettersson-Mara- sind nichts anderes als finstere Mahlerei thon in Nordrhein-Westfalen, wird sich aus dem irdischen Jammertal. Y

168 DER SPIEGEL 5/1995 Werbeseite

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KULTUR

körperten Charaktere haben eine Film Wahrheit, die sich von der glatten Oberflächenpolitur Hollywoods, Auf- merksamkeit erheischend, unterschei- det. Im Reich der Toten Wie überhaupt der Film, seine Ge- schichte, sein Plot das Kunststück SPIEGEL-Redakteur Hellmuth Karasek über den Film „Nachtwache“ fertigbringen, gleichzeitig mit atembe- raubender Thriller-Konsequenz auf das mörderische Ziel zuzustürzen und sich ekrophilie, wörtlich: die Liebe zu Bornedals Film ist ein Meisterwerk doch atmosphärische Episoden zu lei- Leichen, gilt als unheimlichste der der Beschränkung (wie auch „Psycho“ sten, die scheinbar nichts mit dem grau- Nsexuellen Perversionen, weil die ja eigentlich ein Low-Budget-Film war). sigen Gang der Dinge zu tun haben. Tabuverletzung besonders schwer, die Im Grunde begnügt er sich mit einem So stehen zwei der Helden, angehen- überwundene Ekelschwelle besonders Schauplatz, dem pathologischen Insti- de Juristen kurz vor dem Examen, hoch ist. Der giftige Todeshauch und tut, der Leichenhalle der Kopenhagener nächtens betrunken vor dem Hans- Grabesmoder, der dieser Lustverirrung Gerichtsmedizin, deren gruselige und Christian-Andersen-Denkmal, werfen anhaftet, macht sie zu einer (oft verdeck- klaustrophobische Atmosphäre der Film dem Märchendichter eine Bierflasche ten und getarnten) Sehnsucht des Thril- mit effektivem Realismus und der nöti- an den Kopf und erzählen einander, lerkinos. gen Detailversessenheit einsetzt. daß der „Schweinehirt“-Dichter für je- Es gibt höchst sublimierte Formen fil- Die Schauspieler sind so unbekannt de Masturbation einen schwarzen Strich mischer Nekrophilie, Alfred Hitchcocks wie unbekümmert, die von ihnen ver- in sein Tagebuch gezogen hatte. Vor- „Vertigo“ („Aus dem Reich der Toten“) oder Otto Premingers „Laura“, und nie- mand Geringerer als Bun˜uel hat grandio- se schwarze Messen der Totenliebe, be- spritzt mit ein paar Tropfen katholischen Weihwassers, im Kino gefeiert. Man könnte überspitzt sagen, daß auch jeder Film zwanghaft mordender Lust,al- so „Psycho“ wie „Frenzy“, die Nekrophi- lie im Tod des Sexualobjekts zum Ziel hat. Aber miteiner sounheimlichen Kon- sequenz, wie dies jetzt der Film „Night- watch – Nachtwache“ als Spirale des Grauens und Käfigder Unentrinnbarkeit vorführt, war das eigentlich noch nie zu sehen. Dabei kommt dieser Film nicht aus den Schreckenslaboratorien Hollywoods, kein Gruselspezialist wie John Carpen-

ter, Jonathan Demme oder David Lynch FILM führt Regie, und kein US-Riesenbudget ermöglicht die Schockereffekte spru- ATLAS

delnder Blutfontänen. FOTOS: Nein, „Nightwatch“ kommt aus dem Thriller „Nightwatch“*: Wieder etwas faul im Staate Dänemark fünf Millionen Einwohner zählenden Ländchen Dänemark, das dem Vorurteil eher die Assoziation „putzig“ als „grus- lig“ entlockt. Der Regisseur, ein Debü- tant, kam ohne Stars und großes Geld aus; es istim Grunde einkleiner Film, der sich anschickt, die großen Kinos zu er- obern. Kopenhagen als auswegloses La- byrinth des Schreckens und Grauens – das soll dem 35jährigen Regisseur und Autor Ole Bornedal erst mal jemand nachmachen. Auf den ersten Blick scheint es ähnlich absurd, wie in Brook- lynHeidi oder dielila Kühe von Milka an- zusiedeln. Endlich ist wirklich wieder et- was faul im Staate Dänemark. Daß der dänische David den Goliath Hollywood auf seiner ureigenen Domä- ne, dem modernen Psycho-Thriller, so erfolgreich herausfordern konnte, liegt auch hier, wie beim biblischen Vorbild, an der Wahl der Waffen.

* Mit Waldau, Gråbøl, Bodnia, Andersen. Waldau und Gra˚bøl in „Nachtwache“: Liebe unter Leichen

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Werbeseite KULTUR ausgegangen ist eine Kneipenszene, in der die beiden mit ihren Freundinnen sitzen und sich nicht so recht trauen, sie vor den Belästigungen zweier Rowdys zu schützen, klägliche intellektuelle Feiglinge. Zur Frage, wer der Mörder und Leichenschänder ist, trägt dies ge- wiß wenig bei, wohl aber zur stimmigen Atmosphäre, aus der dann doch die Lö- sung erwächst – als schier endlos sich steigerndes Grauen. Dabei beginnt alles so harmlos und unspektakulär. Die beiden Juristen Martin (Nikolaj Coster Waldau) und Jens (Kim Bodnia) feiern mit ihren Freundinnen Kalinka und Lotte, Schau- spielerin die eine, angehende Pastorin Wiederauferstehung als zynischer Studentenstreich die andere, den Geburtstag Martins. Der ist dabei, einen neuen Job anzutre- ten, Nachtwächter in der Morgue. Da kann er nachts arbeiten und büffeln und tags in die Vorlesungen. Da die beiden Jungs wissen, daß sie bald von ihrem Beruf aufgesogen, durch die bevorste- hende Heirat ins Normalleben gezogen werden, schlagen sie nebenbei noch ein wenig über die Stränge – makaber und lustig, verzweifelt und zynisch. Es nimmt also nicht wunder, daß Jens Martin bei seinem Leichenjob ge- schmacklose Streiche spielt, sich als To- ter auf die Bahre legt, um Wiederaufer- stehung zu feiern. Und auch Martin ist kein Trauerkloß, wenn er seine Freun- din (Sofie Gra˚bøl) zwischen den Toten an die Wand stemmt – hat er sonst je- desmal eine panische Angst, wenn er allnächtlich allein durch die Leichenhal- le muß, so gewinnt er zu zweit aus dem Grusel einen sexuellen Kick: einmal quicklebendig unter Toten vögeln! Oder ist er in Wahrheit ein kranker Perverser? Oder ist es sein Freund, der ihm auch noch mit einer armselig rauschgiftigen Nutte (Rikke Louise An- dersen) einen Streich auf deren Kosten spielt, eher widerlich als lustig? Doch was die beiden auch treiben, aufbegehrende Nihilisten vor der Schlußkurve ins spießig-bürgerliche Le- ben: Stets ist Martin am Ende allein mit seinem Nachtjob unter den Leichen, ih- rer Stille, ihrem Verwesungsgeruch. Und während er mit seiner Stechuhr die nächtlichen Stationen kontrollierend ab- schreitet, prägen sie sich der Erwartung der Zuschauer als mögliche Fixpunkte des Entsetzens, als wahrscheinliche Or- te schrecklicher Überraschungen ein. Was passiert, wenn die rote Warnlam- pe aufleuchtet, von einem schrillen Alarmsignal begleitet? War dann ein Toter nur ein Scheintoter, hat sich je- mand einen bösen Spaß gemacht? Oder ist jemand, lebendig unter den Toten, in Not, weil die Tür von innen nicht zu öff- nen ist und die Temperatur unter den gerade frisch Verblichenen der eines Kühlschranks gleicht? Und was geschieht, wenn mehrfach blinder Alarm ausgelöst wird, der jedes- mal herbeieilende Arzt aus dem Kran- kenhaus neben dem Totenhaus den Stu- denten für einen Psychopathen hält, was geschieht, wenn es, gesetzt den Fall, auf einmal unerwartet ernst ist? Und ist der Arzt nicht von seinem Drogenmiß- brauch längst so zerrüttet, daß er . . . Wie jeder gelungene Thriller spielt auch dieser seine Geschichte schier mu- sikalisch durch: als ein in immer neuen Variationen wiederkehrendes Thema. Denn nur so kann das Publikum in sei- nen Erwartungen bestätigt, düpiert, ausgetrickst und gleichzeitig einbezogen werden. So wird man, während man auf die immer gleichen Rundgänge mitge- nommen wird, zum Komplizen und Mit- wisser, zum Mitleidenden und Mitopfer, bis „Nachtwache“ in einer neuen Volte alle bisher aufgebauten Gewißheiten zerschlägt, Helfer in Feinde, Feinde in Freunde verwandelt (oder doch in Fein- de?) und die Situation immer ausweglo- ser zuspitzt. Jedenfalls ist das Finale furios. Und es trifft mit sadistischer Konsequenz den Zuschauer, indem es ihm mit dem Ge- fühl des Wissens der wahren Zusam- menhänge die Gewißheit der eigenen Ohnmacht gnadenlos vor Augen führt. Es ist die Ohnmacht vor dem verhäng- nisvollen Lauf der Welt, die ein Thriller wie „Nachtwache“ in jedem Zuschauer wachruft. Welch subtiler Mittel auch für seine (notwendigerweise) gröbsten Effekte sich dieser Film bedient, wird durch eine Fotografie deutlich, die im Aufenthalts- raum des Totennachtwächters hängt, von einem seiner Vorgänger angepinnt. Es ist das erschreckende Bild eines ge- fesselten, hilflos gemachten Mannes, der ähnlich wie ein Toter jedem Be- trachter total ausgeliefert ist. Und tat- sächlich wird gegen Ende ein anderer, ein Handelnder des Films hier ähnlich gefesselt sein. Doch das Bild, das an die Kraft der Fotografien in der Hoteleinsamkeit von Stanley Kubricks „Shining“ erinnert (die wohl auch zitiert), ist gleichzeitig ein berühmtes historisches Foto: das des Garfield-Attentäters Charles Guiteau in seiner Todeszelle – die Aufnahme des Präsidentenmörders, eine nekrophile Ikone unter anarchischen Studenten, wird zum Zeichen, das die untergründi- ge Stimmung dieses Films signalisiert. „Nachtwache“ endet dann doch in einer gutbürgerlichen, gutdänischen Hoch- zeit. Doch man sollte sich dadurch nicht täuschen lassen. Y .

KULTUR

Blatt in eigener Sache. Da ist was dran: Presse An allen Ecken und Enden fehlt Geld. Der Verlag hat große Mühe, die Proble- me der Branche mit steigenden Papier- preisen und stagnierenden Werbeein- Leicht schief nahmen zu lösen. Jede Woche verliert die taz zudem Neue Krise bei der Tageszeitung, rund 50 Abonnenten, die Auflage klek- dem Leibblatt von Ökos und Alterna- kert seit langem bei rund 60 000 Exem- plaren. Der Verkauf verlagseigener Pro- tiven: Ihr ist wieder mal ein Chefre- dukte – das Velo einer Bremer Fahrrad- dakteur abhanden gekommen. manufaktur, ein Parteien-Monopoly- spiel namens „Raffke“, ein schmucker Stahlthermobehälter („taz, die Fla- en Redakteuren, die sich Donners- sche“) – bringt wenig. tag voriger Woche um 18 Uhr zur Nach der neuen Chefkrise fürchten DKrisensitzung trafen, wollte der viele Mitarbeiter neue Fehlschläge. Es Chef nur noch knapp bemessene Zeit gebe „eine leichte schiefe Ebene nach widmen: In anderthalb Stunden müsse unten“, erklärt ein taz-Mann. Die Ei- er, „tut mir leid, Leute“, zum Geburts- gentümer, eine Genossenschaft aus Mit- tagsempfang des 90 Jahre alten Schau- arbeitern und Freunden des Blattes, spielers Bernhard Minetti, sagte Arno schieben einen Verlustvortrag von über Widmann, 48. Nach der so abgekürzten Debattier- runde vertagten sich die Mitarbeiter der Berliner Tageszeitung (taz) auf diese Woche. Sie müssen ein Problem lösen, das ihnen Widmann bescherte: Der Chefredakteur hatte gekündigt. Wieder einmal muß die Redaktions- spitze des chaotisch-unkonventionellen Blatts neu besetzt werden. Die Zeitung, 1979 als Zentralorgan der Sponti- und Alternativszene gegründet, kommt aus den Turbulenzen nicht heraus. Widmanns Vorgänger Georgia Tor- now, 46, und Michael Sontheimer, 39, hatten es immerhin noch auf jeweils über zwei Dienstjahre gebracht. Nach nur sieben Monaten jedoch nahm Lese- junkie Widmann seinen Abschied. Voller guter Vorsätze war der taz- Mitbegründer vorigen Sommer nach ei- C. SCHULZ / PAPARAZZI nem Ausflug zum Mode-Glanzmagazin taz-Abgänger Widmann Vogue und Arbeiten für die Frankfurter „Meine Reform ist gescheitert“ Allgemeine zurückgekehrt. Widmann wollte aus den tazlern, die sich vor allem fünf Millionen Mark vor sich her. Auf als Schreiber sehen, Redakteure ma- der Haben-Seite steht die taz-eigene Im- chen. Sie sollten sich um Sprache und mobilie in der Berliner Kochstraße. Zeitungsoptik bemühen. Womöglich gibt es im Herbst eine Das war des Guten denn doch zuviel. neue Solidaritätsaktion, bei der neue Eine „Redigier-Combo“ (Redaktions- Abonnenten gewonnen werden sollen. schnack), die Seiten und Texte bearbei- Auf den verwaisten Chefposten könnte, ten sollte, fand kein Wohlgefallen. Wid- so kolportieren Insider, der ehemalige mann mußte sogar einige Kollegen für Wochenpost-Chefredakteur Mathias die Trocken-Arbeiten zwangsverpflich- Greffrath rücken. ten, einer der Erwählten entschloß sich Widmann wird nach Hamburg wech- zum Boykott. Am Ende zog der Chef seln – zum Wochenblatt Die Zeit (Aufla- sein Projekt zurück. ge: 477 000). Am Freitag voriger Wo- Auch platzte Widmanns Plan, gestan- che verkündete Chefredakteur Robert dene Journalisten von außen zu gewin- Leicht seiner Truppe, nach langer Suche nen – kein Wunder bei taz-Gehältern habe er in Widmann den Leiter des Kul- von durchschnittlich 2100 Mark netto. turressorts gefunden. „Meine Reform ist gescheitert“, ge- Ihren neuen Ober-Feuilletonisten stand Widmann desillusioniert. Offen- hatten die Zeit-Schreiber zu seinem taz- bar habe er kaum Chancen gesehen, an- Chefdebüt als „unberechenbar, tabulos gesichts „der gewachsenen taz-Struktu- und garantiert ideologiefrei“ charakteri- ren und der finanziellen Engpässe seine siert. Er sei, so die Zeit ungewöhnlich Vorstellungen in einer angemessenen süffisant, ein „jugendlicher Heinz Er- Frist umzusetzen“, kommentierte das hardt im roten Seidenhemd“. Y

174 DER SPIEGEL 5/1995 Werbeseite

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Geld will, vorm Traualtar. Fernsehen Otto und seine Film-Frie- sierer, das Frankfurter Gag- und Drehbuchtrio Gernhardt, Eilert & Sabbelphilipp Knorr, aber schnitten die Szenenteile mit dem Origi- nal-Pastor heraus, ersetz- am Altar ten ihn durch den „Pfarrer von St. Pauli“ und drehten Komiker-Ötzi Otto tritt noch einmal alles mit sogenannten Rük- kendoubles der Brautleute an: als außerfriesischer Eindringling nach. in Edgar-Wallace-Krimis. So blicken nun Hellmut und Karin treuherzig zu a wäre selbst dem dicken Hitch- dem – o Gotto – falschen cock die Zigarre aus dem Mund Geistlichen auf und spre- Dgefallen: Bei Scotland Yard warten chen ergriffen ihr Jawort, Sir John und Inspektor Craig auf den obwohl der Friesengeistli- dritten Earl of Emerson, der Licht ins che ganz neue Fragen Dunkel in den Edgar-Wallace-Fall um stellt. „Mein Sohn, willst die Morde der „Blauen Hand“ bringen du diese deine Braut an soll. Es klopft, die Tür geht auf, und mich abtreten?“ Lange: herein tritt – nicht der adelige Infor- „Ich will!“ – „Und du, mei- mant, sondern das merkwürdigste Rot- ne Tochter, würdest du bit- käppchen, seit es Rumpelstilzchen gibt: te den Mund halten, wenn Otto. sich erwachsene Männer Der Friesenscherz erzählt den beiden unterhalten?“ Dor: „Ich

was vom Oberförster und dem bösen FOTOS: RTL will!“ Wolf, die gemeinsam die Großmutter Komiker Otto: „Zuverlässig in den Wahnsinn“ Am Ende der denkwür- aus Geldgier in den Wahnsinn treiben digen Zeremonie sieht sich wollen. Und zwar mit Tropfen im Tee, Filmen muß so gut wie jede (bundes-) das junge Eheglück im Besitz eines Ge- die laut Beipackzettel „zuverlässig in deutsche Nachkriegsfilmgröße dem ost- brauchtwagens, eines Schnellkochtopfs den Wahnsinn treiben“. Nebenwirkun- friesischen Leinwandschänder zu Willen und von 48 Liter Lebertran für „498,50 gen: „Vergrößerung der Augen, der sein – von Fuchsberger bis zur Flicken- DM“, während das geschäftstüchtige Ohren und des Mundes.“ Fragen Sie Ih- schildt, von Heinz Drache über Gert Ottili Product placement zelebriert ren Arzt oder Apotheker. Fröbe, Dieter Borsche und Eddi Arent („Eine Hochzeit ohne Magnum ist kei- Dergestalt vorgeführt werden von bis zu Lil Dagover und Ingrid Steeger. ne Hochzeit!“), und die Gemeinde diesem Montag an im Privat-TV-Sender Besonders hart trifft es gleich in der stimmt schmelzend den Langnese-Hit RTL nicht nur die Akteure des 1967 ge- ersten von insgesamt 13 Folgen der „Like Ice in the Sunshine“ an. drehten Edgar-Wallace-Schockers „Die RTL-Show das Film-Brautpaar Hellmut Präsentiert werden die frischen Witze blaue Hand“. Nein, in „Otto – die Se- Lange und Karin Dor. In dem Schwarz- zu angestaubten Bildern als Bühnen- rie“, mit der Sabbelphilipp Waalkes weißstreifen „Der Fälscher von Lon- show. Das dezent eingesetzte Lachen nach elf Jahren Pause auf die Bildschir- don“ stehen er als Millionenerbe und sie vom Band schafft Live-Atmosphäre, me zurückkehrt, treten sie alle noch mal als ahnungslose Nichte des perfiden Dr. und der unreifbare Mittvierziger jodelt an: In circa 250 Szenen aus 32 Wallace- Blonberg, der nur an das angeheiratete und hoppelt wie einst in besten Fern- sehzeiten. Um den neuen Otto in die alten Fil- me zu montieren, nutzte Mitregisseur Bernd Eilert kostspielige Computer. Der EDV-Aufwand für die im einzel- nen bis zu 30mal geschnittenen Wallace- Sequenzen trieb, zum Verdruß von Pro- duzent Hans-Otto Mertens, die Produk- tionskosten von „Otto – die Serie“ auf zehn Millionen Mark hoch – die teuer- ste deutsche Fernsehcomedy aller Zei- ten. Sämtliche 32 von Horst Wendlandt produzierten Wallace-Filme (in voller Länge) und rund 1000 von den Autoren in die engere Wahl genommene Aus- schnitte mußten allein für die Erstellung der Sketch-Drehbücher digitalisiert werden. Erforderliches Speichervolu- men des Computers Avid: 39 Gigabyte (das entspricht 22 300 Buchseiten). Die Folge: Mehr als einmal gingen – unter sauren Produzententränen – Cutterin „Otto – die Serie“: Teuerste deutsche Fernsehcomedy aller Zeiten Julia von Frihling die Festplatten aus.

176 DER SPIEGEL 5/1995 Bei den Dreharbeiten im norddeut- Für andere, namentlich Verstorbene, Sorgen bereitet dem Otto im Glück schen Heide-Luftkurort Bendestorf war wurden Stimmdoubles eingesetzt. Mit nur der massive Werbeblock, mit dem Kollege Avid ebenfalls unentbehrlich. der Stimme des Hamburger Schauspie- der Spaß nach dem ersten Drittel jeder Öffnet sich die Tür von Sir Johns Scot- lers Jens Wawraczek gelingt es denn Sendung für fünf lange Minuten aufhört. land-Yard-Suite nun nach rechts oder auch dem jungen Klaus Kinski, den Waalkes: „Dann ist die Stimmung am links? Eine von vielen Dreh-Fragen, de- Seidentuch-Schneuzer zu entlarven: Boden.“ Pläne, den Komiker auch in ei- ren sekundenschnelle Beantwortung oh- das, in die Szene einmontierte, stark nige der kommerziellen Spots einzumon- ne den Zugriff auf die verbliebenen 250 erkältete Familienmitglied „Baby Ot- tieren, eine Art Otto-Versand, fanden zur Verwaalkesierung bestimmten Wal- to“. Zur Strafe wird der Denunziant die RTL-Verantwortlichen gar nicht gut: lace-Ausschnitte ebensowenig möglich „Werbung ist bei denen ’ne heilige Kuh“, gewesen wäre wie die Realisierung der lernte Waalkes-Manager Mertens. Sisyphus-Serie überhaupt. „Es kommt darauf an, daß Direkt hinter den Otto-Sendeplatz hat Der Ehrgeiz der Macher beließ es man gut aussieht RTL den ebenfalls 13teiligen Schnell- nicht beim Erfinden passender komi- schuß „Corinna“ gesetzt und preist die scher Repliken auf die Originaldialoge. und genügend Geld hat“ niederschmetternd „lustige Familiense- Den Krimi-Akteuren wurden zum Teil rie“ nun im Doppelpack mit dem ambi- neue Texte in den Mund gelegt, manche von dem total verrotzten Baby-Mon- tionierten Friesen-Lachwerk an. RTL- Filmhandlung aufs aberwitzigste umge- ster – eine der gelungensten Waalkes- Serieneinkäufer Erhart Puschnig, der deutet. So mausert sich „Das indische Verwandlungen – unter den Tisch ge- „Otto – die Serie“ gemeinsam mit Ehe- Tuch“, im gleichnamigen Film die niest. frau Monika betreut hat, hofft auf Inter- Würgwaffe des Mörders, zum „kostba- In den knapp 25minütigen Show-Fol- esse „auch bei unserem Sitcom-Publi- ren Seidenschal“ von Detektiv-Anwalt gen kommt der Zuschauer kaum mehr kum“, will sich aber auf keine Einschalt- Heinz Drache, der die versammelte Er- zum Atem- oder Bierholen. Ständige zahlen festlegen. bengemeinschaft hochnotpeinlich be- Zwerchfellpräsenz ist gefordert. An- Was schlußendlich passiert, wenn der fragt, wer da hineingeschneuzt habe. dernfalls gehen wichtige Verbraucher- „inspirierte Blödler“ und „letzte Statt- Zur Freude der Perfektionisten im informationen verloren („Plörr-Bräu – halter der Ideologiekritik“ (der Philo- Otto-Team halfen etliche Schauspieler das Bier, das nur im Dunkeln soph Peter Sloterdijk über Otto) auf die beim Neusynchronisieren ihrer alten schäumt“) oder Sinn-Botschaften wie „dumpfe aufgeklärte Masse“ (der Dra- Rollen mit; neben Drache und Monika die Absage an Schönheit, Reichtum matiker Botho Strauß über das RTL-Pu- Peitsch vor allem der ausgiebig durch und Ruhm: „Es kommt doch nur dar- blikum) trifft, mag auch Programmchef den Friesenkakao gezogene Joachim auf an, daß man gut aussieht, genü- Marc Conrad nicht vorhersagen. Fuchsberger („Inspektor Higgins“). gend Geld hat und jeder einen kennt.“ Vielleicht zischt’s. Y .

KULTUR

Pop Gänsehaut total Nette Menschen singen nette Lie- der: Vom Kölner Hausboot aus hat die irisch-amerikanische „Kelly Fa- mily“ den Musikmarkt gekapert.

ie Wangen rot, die taillenlangen Haare flattern in der Abendson- Dne, Zopf-Pullover, Blumenmu- ster, Stirnband, Gitarre – neun junge Leute, die leuchten vor Lebensfreude, mit derben Schuhen im grünen Gras. Da werden Träume wahr von Love

und Peace und Irish Moos. FOTEX So soll es sein. Vier junge Frauen und fünf Buben mit Nachnamen Kelly

stehen auf dem Cover der jüngsten M. SCHRÖDER / „Kelly Family“-CD für all das und ei- Kelly Family auf ihrem Schiff: „Es wäre leichter, wenn wir naiver wären“ niges mehr: Die amerikanische Musik- Mischpoke irischer Abstammung, dieses Erfolges eingestellt haben. Die on, die sich umgehend auszahlte: Für wohnhaft in Köln, ist derzeit der Über- Selbstauskunft der Kellys dazu klingt den Lebensunterhalt trug die Familie raschungshit. schön schlicht wie ihre Songs: „Ehrli- zwischen Amsterdam und Cordoba Mit schlichten Weisen aus Rock-, cher Erfolg mit ehrlichem Entertain- volkstümliches Liedgut vor, von „Old Folk- und Schlagerelementen versetzte ment“. MacDonald“ bis „Muß i denn zum die Geschwister-Combo im vergange- Vielleicht ist da sogar was dran. Denn Städtele hinaus“. nen Jahr fast zwei Millionen Fans in was die Popfamilie derart furios ver- Besonders gut kamen die Straßen- rauschartige Kauf- und Jubelzustände. marktet – nette Menschen singen nette musikanten beim deutschen Fußgänger Die CD „Over The Hump“ („Über Lieder, und wo man so singt, da laß dich an. Einfach herzig, dieser pausbackige den Berg“) wurde in fünf Monaten 1,4 ruhig nieder –, leben die Stars in der Kinderchor. Da stehenbleiben hieß die Millionen Mal verkauft und steht seit Wirklichkeit vor. Uhr anhalten, irgendwann zwischen zwölf Wochen an der Spitze der deut- Über 20 Jahre ist es her, daß der Quäker- und Nachkriegszeit. Die Mäd- schen Charts. Gesamtumsatz des Fami- Gymnasiallehrer Daniel Kelly, heute chen trugen selbst zum Skifahren knö- lienunternehmens 1994: weit über 50 64, zu Hause in Michigan/USA den chellange Wollröcke, die Jungen sahen Millionen Mark. Fernseher aus dem Fen- in ihren Knickerbocker- Bilder wie bei den Beatles. Hysteri- ster warf, weil er „Angst hosen aus wie Emil und sche Teenies verbringen die Nächte bekam vor dem ameri- die Detektive, Erich vor und nach Konzerten in Schlafsäk- can way of life“. Mit Kästners Lausbuben- ken vor der Bühne: „Die neun“, Frau und Kindern zog er bande aus dem Jahr schluchzt Silke, 16, „sind Teil meines aus, der europäischen 1928. Lebens.“ Kultur hinterherzurei- Der notorische Froh- Während der Auftritte werfen die sen. Seither trotzen die sinn der Kellys und Mädels Teddybären und bekennen sich bekennenden Anachro- der simple Charme ih- auf Transparenten zu sehr persönlichen nisten Versuchungen rer Spielfreude verhal- Gefühlen: „Paddy, ich liebe nur dich“ wie Auswüchsen der fen den romantischen – gemeint ist Patrick Kelly, 17. Von Konsum- und Überfluß- Eigenbrötlern schon in den 15 000 in der Dortmunder Westfa- Gesellschaft. den siebziger Jahren zu lenhalle beispielsweise wurden im ver- Fünfzehn Kinder woll- einem einträglichen gangenen Jahr 200 Mädchen ohnmäch- te Mutter Barbara, nach Plattenvertrag. Doch tig. Das Teenieblatt Bravo, das in an- dem zwölften starb sie der querköpfige Patri- derthalb Jahren 37mal über die Grup- an Krebs. Allen eine arch zog ein Nomadenle- pe schrieb, erschauerte: „Gänsehaut- akademische Karriere zu ben im Doppeldecker- stimmung total“. finanzieren, hatte Vater Bus dem Trubel des Sie singen für die Liebe, den Frie- Kelly nicht das Geld. Massenmusikgeschäfts den, den lieben Gott, gegen Ökomüll, Lesen und Schreiben vor. Gewalt und Porschefahren – ein nicht brachte er ihnen selbst Abermals acht Jahre ganz neues Programm, aber so selbst- bei, außerdem lernte der tourten die Kellys um bewußt und kompromißlos durch- Nachwuchs singen, tan- die Welt, Akkordeon,

schnittlich vorgetragen, daß Trendfor- zen und Instrumente T. STACHELHAUS Flöte, Tambourin in den scher die Suche nach dem Geheimnis spielen – eine Investiti- Vater Kelly (1988) Händen, ein Lied auf

178 DER SPIEGEL 5/1995 den Lippen und den Lebensunterhalt im Hut. Seit 1988 leben und arbeiten neun Geschwister und der Rauschebart- vater auf einem Hausboot im Kölner Rheinhafen. Die Familie hat das Un- mögliche geschafft: sich vom kommer- ziellen Musikbetrieb fernzuhalten und dennoch ein Millionengeschäft zu ma- chen. Die Söhne und Töchter texten, kom- ponieren, produzieren in eigener Regie. Vom Volkslied sind sie etwas abge- rückt, nun tragen schnulzige Rockmelo- dien die Kelly-Botschaft zum Publikum. „Rote Rosen wachsen in meinem Herzen“, singt einer, ein anderer wünscht sich, er „wäre ein Engel“, ei- ner will „frei sein, mit der Seele in mei- nen Händen“. Denn darin sind sich alle neune einig: Das wichtigste an den Songs sei, so die musikalische Leiterin Kathy Kelly, 31, „daß sie Herz und See- le haben“. Der große Zampano im Hintergrund ist nach wie vor Papa Kelly. Das ganze Anspruchslos, aber mit sich selbst rundum zufrieden komplizierte Marionettenspiel eines multinationalen Pop-Konzerns, der nach den Idealen einer Aussteiger- Kommune lebt, hält der Clanchef in der Hand. Der Alte, der nach einem Schlagan- fall vom Schiff aus regiert, liefert mit seinem Familienidyll inmitten von Orientierungslosigkeit und allgemei- nem Beziehungschaos eine Hoffnung, daß es doch anders geht. Die Kellys werden vergöttert, weil ihr meist ju- gendliches Publikum ihnen abnimmt, daß sie leben, wie sie musizieren – an- spruchslos, aber mit sich selbst rundum zufrieden. Kein Wunder, daß Scharen von Zuhörern skandieren: „We want the Kellys.“ Ob das Stilleben von der glücklichen Großfamilie stimmt, ist vermutlich egal. Die Fans wollen, daß es stimmt. Zwei erwachsene Kinder sind ausge- stiegen, ein behindertes lebt in den Vereinigten Staaten. Käpt’n Kelly schirmt seine Kölner Arche gegen alles ab, was sie oder ihr Bilderbuchbild bedroht. Nur eine Bra- vo-Redakteurin darf aufs Schiff, Fotos macht seit Jahren derselbe Hoffoto- graf. Ein Stuttgarter Manager muß vor jeder Auskunft in Köln rückfragen. „Alle Babies auf der Welt“, singt Barbie Kelly, 19, „lachen und spielen, warum machen wir es nicht alle ein- fach wie sie?“ Ihr Vater hat darauf schon vor Jahren eine Antwort gehabt: „Sicher wäre es leichter“, sprach Dan Kelly, „wenn wir naiver wären.“ Y

DER SPIEGEL 5/1995 179 .

SPORT W. WITTERS IOC-Präsident Samaranch, Ehefrau Maria Teresa: Eine teure Vase zum Billigpreis

Olympia RUNTER VOM OLYMP Entrüstet weist IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch stets Vorwürfe der Bestechlichkeit zurück. Der Untersu- chungsausschuß zur gescheiterten Berliner Olympiabewerbung wird erstmals Beweise liefern. Die Präsidentengattin ließ sich eine wertvolle Vase einpacken und mahnte sogar mehrfach die Lieferung an.

indringlich verpflichtete Hanna- Olympias das Porzellan als Geschenk galt als ungeschriebenes Gesetz: Ohne Renate Laurien die Runde in der angeboten. Bestechung kein Olympia. EFührungs- und Verwaltungsakade- Zuerst hatte man Skrupel wegen des Doch jetzt droht den olympischen mie des Deutschen Sportbundes zur hohen Preises und wollte dem Gast nur Kassierern die Inquisition. Der in der Verschwiegenheit. Dann lud die Präsi- ein ähnliches, aber nicht ganz so wert- vorletzten Woche eingesetzte Untersu- dentin des Berliner Abgeordnetenhau- volles Ausstellungsstück versprechen. chungsausschuß des Berliner Abgeord- ses ihre Wut über die offensichtlich un- Und dann habe es noch acht weitere netenhauses will nicht nur klären, wer in beholfenen und unsensiblen Mitstreiter Wochen gedauert, schimpfte Hanna der Hauptstadt für die teure und ver- ab. Laurien weiter, ehe Frau Samaranch das korkste Bewerbung verantwortlich war. Wenn Berlin die Olympischen Spiele versprochene Paket mit der Handarbeit Einige Mitglieder der parlamentari- im Jahre 2000 bekommen wolle, klärte aus Berlin daheim in Spanien habe aus- schen Kommission wollen auch wissen, Laurien die hochrangigen Sportfunk- packen können: „Mehrfach mußte ich mit welchen Geschenken und Gefällig- tionäre und deren Vertraute auf, dürfe sie am Telefon beschwichtigen, so gede- keiten versucht wurde, die IOC-Mitglie- sich die deutsche Hauptstadt eine Pan- mütigt fühlte sie sich.“ der auf Berlin einzustimmen. ne wie die bei der Gemahlin des IOC- Maria Teresa Samaranch konnte es Die Zeugen – selbst IOC-Mitglieder Präsidenten nicht noch einmal erlau- sich leisten, das Präsent unverfroren werden vorgeladen – sollen zudem über ben. Ab sofort sei jedes Mitglied des einzufordern. Sie durfte sich darauf ver- die in Berlin gesammelten Informatio- Internationalen Olympischen Komitees lassen, daß ihre Begehrlichkeit nie pu- nen vorangegangener Bewerbungskam- (IOC) so „wichtig wie Kohl, Bush und blik werden würde – aus Angst vor der pagnen sowie die Methoden der Kontra- Gorbatschow zusammen“. Allmacht ihres Gatten Juan Antonio in henten um die Ausrichtung der Spiele Frau Samaranch, erklärte die CDU- der Welt des Sports. Zwar wundern sich im Jahre 2000 aussagen. Politikerin später, habe sich bei einem alle Städte, die sich um die Ausrichtung Das zu erwartende Sittengemälde Besuch der Königlichen Porzellan-Ma- Olympischer Spiele bewerben, wie dürfte besonders für den IOC-Präsiden- nufaktur (KPM) in Berlin unmißver- selbstverständlich IOC-Mitglieder und ten peinlich werden. Wann immer die ständlich auffällig in eine mehrere tau- deren Ehefrauen fürstliche Behandlung, Bestechlichkeit seiner Organisation kri- send Mark teure Vase verguckt. Aber Luxus und Geschenke erwarten. Doch tisiert wurde, verwies Samaranch, 74, erst nach langem, peinlichen Schwei- selbst die abenteuerlichsten Anfragen auf die „Redlichkeit und Integrität“ der gen hätten die Begleiter der First Lady wurden bisher diskret erfüllt. Weltweit IOC-Mitglieder. Er „vertraue ihnen

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hundertprozentig“. Nur vorsorglich ha- gen – wenn es sein muß, auch unter Eid Vor allem das tatsächliche Herzeleid be er vor vier Jahren neue Regeln auf- – Auskunft darüber, der zumeist ältlichen IOC-Herren ist stellen lassen – IOC-Mitglieder dürfen i wer die Einladung an die Tochter des aufklärungsbedürftig. Berlin-Werber, danach nur Geschenke annehmen, die südkoreanischen IOC-Mitglieds Un darunter Peter Männing, Geschäftsfüh- nicht teurer als 200 Dollar sind. Yong Kim für ein Gastspiel mit den rer des Olympia-Förderkreises, behaup- Der Einkaufsbummel seiner Ehefrau, Philharmonikern bezahlt hat, ten, daß einem IOC-Mitglied eine Ope- der im Untersuchungsausschuß zur i wer IOC-Mitgliedern, die im Haupt- ration im anerkannten Deutschen Herz- Sprache kommt, entlarvt die ganze beruf hochrangige Militärs sind, Ge- zentrum von Professor Roland Hetzer Scheinheiligkeit der IOC-Welt – die sprächspartner gleichen Dienstranges spendiert worden sei. Dabei habe es Rechnung ging an die Berliner Senats- aus der Bundeswehr besorgt hat, sich, so ein Mitarbeiter der Marketing kanzlei; überwiesen wurden schließlich, i wie der Forderung eines afrikani- GmbH, um den Kenianer Charles Nde- so eine KPM-Sprecherin, 394 Mark. schen IOC-Mitglieds nach drei Sätzen ritu Mukora, 59, gehandelt. Lange hatte es so ausgesehen, als Mercedes-Radkappen, die in seiner „Unfug“ nennt das dagegen ein Be- würde über die Nehmerqualitäten des treuer aus der Olympia GmbH. Mukora IOC-Trosses für immer geschwiegen. habe sich bei seinem Besuch „zwar als Nach der verlorenen Wahl hatte Berlins „Wer sich ans Limit hält, Schlitzohr erwiesen“, doch am Herzen Chef-Bewerber Axel Nawrocki in einer kann Olympia hätten es zwei Herren gehabt, „die nicht großangelegten Schredder-Aktion wich- aus Afrika kommen“. Die hätten sich tige Unterlagen vernichten lassen. nicht bekommen“ auf Kosten der Berliner ihre Bypass- Nicht zuletzt deshalb wurde der Un- Operationen nachuntersuchen lassen. tersuchungsausschuß eingesetzt, der Heimat so oft gestohlen würden, Möglich ist angesichts der Berliner nun sogar die Möglichkeit bietet, das nachgekommen wurde, Stümperei aber auch, daß die eine Hand bisher stets im dunkeln gebliebene Trei- i warum nur 8 der 62 IOC-Mitglieder, nur nicht wußte, wen und wo die andere ben der Olympia Marketing GmbH zu die Berlin besuchten, das Drei-Tage- operieren ließ. Unstrittig aber ist, daß erforschen. Diese Gesellschaft war ge- Limit einhielten; andere aber, wie der die angefallenen Behandlungskosten die gründet worden, um Bürokratie und Libyer Mohammed Attarabulsi, 57, 200-Dollar-Grenze überschreiten, die parlamentarische Kontrolle zu umge- gleich sieben Tage Berlin mit Luxus- sich das IOC nach außen als Selbstbe- hen. „In dieses Nest werden wir reinste- hotel, Chauffeur und Dinner-Einla- schränkung auferlegt hat. „Wer sich chen“, kündigt Axel Hahn (FDP) an, dungen genossen. wirklich an das Limit hält“, sagt ein Ber- und dabei solle das IOC „nicht sakro- Ein ganz spezielles Kapitel wird wohl liner Betreuer der IOC-Delegationen, sankt auf seinem Olymp bleiben“. dem beklagenswerten Gesundheitszu- „der kann Olympia nicht bekommen.“ Jetzt habe man die Möglichkeit, „al- stand des IOC-Zirkels gewidmet, denn Besonders viel Porzellan der olympi- len Schweinereien nachzugehen“, sagt das oberste Sportgremium der Welt schen Heuchler dürfte durch die Ver- die sportpolitische Sprecherin von gleicht offensichtlich einem Feldlazarett nehmung des Berliner Unternehmens- Bündnis 90/Die Grünen, Judith Demba. auf Reisen. „Mindestens jeder zweite“ beraters Nikolaus Fuchs zerschlagen Aufgrund neuer Gutachten bereitet sie der 62 Besucher, sagte Brigitte Schmitz, werden. In der Frühphase der Berliner zudem eine Verfassungsklage gegen den Leiterin der Internationalen Abteilung Bewerbung hatte dieser einen „Bericht Senat vor, weil der Regierende Bürger- der Berliner Olympia GmbH, gegen- über Sondierungen in Athen“ angefer- meister Eberhard Diepgen die Parla- über einem Buchautor, habe einen tigt und Intimes aus dem Innenleben des mentarischen Anfragen zu Olympia „ärztlichen Check-up“ gewünscht, einen IOC-Zirkels zusammengetragen. stets mit Ausflüchten beantwortet habe. Termin vermittelt bekommen – und Aus der Bewerberstadt für 1996 hatte Jetzt wollen die Kritiker von den Zeu- dann vergessen, zu bezahlen. Berlin delikate Informationen über allzu J. STRAHM / IOC D. KONNERTH / LICHTBLICK J. STRAHM / IOC Berlin-Werber Nawrocki, Gäste Mukora, Attarabulsi: „Jeder so wichtig wie Kohl, Bush und Gorbatschow zusammen“

DER SPIEGEL 5/1995 181 menschliche Vorlieben und Schwächen bekommen. Die Aufzeichnungen, die es offiziell nie gegeben hat, existieren im- mer noch. Darin wird Richard Carrion, 42, aus Puerto Rico als „Playboy“ einge- stuft, Sajjed Walid Ali, 83, aus Pakistan sei „immer betrunken“. Und „bei vie- len“ werde die Entscheidung „durch Annahme von Vorteilen beeinflußt“. Käuflich seien „die meisten Vertreter aus Osteuropa, zahlreiche aus Südame- rika“. Namentlich benannt sind in der Fuchs-Studie unter anderen Jean- Claude Ganga, 59, aus dem Kongo oder Paul Wallwork, 53, aus Samoa. Der Untersuchungsausschuß will den Wahrheitsgehalt des Berichts prüfen und die „mündlichen Ergänzungen“, die dieser verspricht, abfragen. Die zu erwartenden Enthüllungen lohnen den Aufwand, zumindest für den deutschen Steuerzahler. Die deutschen Olympier begannen bereits wieder, von einer neuen Bewerbung zu träumen. Da das IOC aber nichts mehr fürchtet als Indiskretionen, dürften bis weit ins nächste Jahrtausend hinein keine Olym- pischen Spiele mehr nach Deutschland vergeben werden. Y

Schach Der Irrsinn ist zurück Seit dem Ende der Ära Bobby Fischer mangelte es der Profiszene an illu- stren Spinnern. Gata Kamsky und Vater Roustam schließen die Lücke.

igel Short hatte sich auf einen stil- vollen Abend gefreut, als er nach Neiner Partie im spanischen Linares Größen der Schachwelt zum Dinner traf. Plötzlich hastete ein Mann durch das gediegene Restaurant direkt an den Tisch des Vize-Weltmeisters. Den ersten Teil seiner lautstarken Be- schimpfung ertrug Short noch wider- spruchslos. Als sein Gegenüber jedoch drohte: „Ich bring’ dich um“, alarmierte der verängstigte Brite die Polizei, die den Tobenden auf die Wache bat. So wurde aktenkundig, was Roustam Kamsky, Vater des derzeit hoffnungs- vollsten Schachtalents Gata Kamsky, 20, unter Fürsorge versteht. Nachmit- tags hatte Short gegen Gata gespielt und ihm – vom fortwährenden Husten des Erkälteten gestört – ein Glas Wasser empfohlen. Der Vater sah darin einen Regelverstoß („Short hat Gata abge- lenkt“), der Gewalt rechtfertige.

182 DER SPIEGEL 5/1995 .

SPORT

noch in Leningrad wohnten, klagte der Vater, Kasparow habe aus Konkurrenz- gründen „Gata schon fertiggemacht, als der noch zwölf war“. Aus Angst habe Kasparow den Schachverband, das Re- gime, ja jeden Sowjetbürger gegen sie aufgebracht: „Die ganze UdSSR war ge- gen uns.“ Nicht allein der Feldzug gegen den Weltmeister trieb die Kamskys in die Isolation. Trainer, die sich einst um das Ausnahmetalent kümmern wollten, ver- zweifelten nach wenigen Wochen am Vater: „Dieser Mensch steht daneben, weiß alles besser und redet über Dinge, von denen er nichts versteht.“ In den USA verscherzte sich das Duo brachiale schon bald nach der Umsied- lung 1989 alle Sympathien, als es auch

BETTMANN den US-Schachverband verdächtigte, Ex-Weltmeister Fischer*: Das Irrationale zum Ideal erhoben Kamskys Aufstieg stoppen zu wollen. Daß der Uramerikaner Benjamin Besessener als Tennisväter und Eis- achteten Brettsport wieder weltweites Franklin Schach einst als „Quell sittli- laufmütter wütet der Tatar durch die Medien-Interesse sicher: Gata, den Ex- cher Bildung“ lobte, ficht Roustam Turniersäle der Welt. Morddrohungen perten mit dem bizarren Amerikaner Fi- nicht an: „Alles Mafia, alles Ganoven.“ gehören inzwischen zu Roustam Kam- scher vergleichen, macht geniale Züge; Seit Monaten versucht er nun, der skys Repertoire: Einem Journalisten, Roustam sorgt für die Skandale, die in PCA eine Unterschlagung von Preisgeld von dem er sich falsch beschrieben fühl- den letzten Jahren fehlten. nachzuweisen. Sein Plan, die Offenle- te, wollte er auflauern, um ihn niederzu- Wie einst Fischer, Boris Spasski, gung der Bilanzen gerichtlich zu erzwin- stechen. Anatolij Karpow und Wiktor Kor- gen, scheiterte bisher. Bis zur Verhand- Wehe, wenn Kamsky kommt. Robert tschnoi erheben die Kamskys mit Beses- lung hatte Kamsky drei Anwälte ver- Rice, Präsident der Profiorganisation senheit und Verfolgungswahn das Irra- schlissen, die ihm einhellig vom Prozeß PCA, fürchtet: „Er ist imstande, alle er- tionale zum Ideal. „Freunde kosten Zeit abgeraten hatten, dann wurde er von denklichen bizarren Dinge zu tun und zu und lenken ab“, lautet Kamskys Credo, der Richterin abgewiesen. sagen.“ „wir haben Feinde.“ Vor allem der Haß Entschlossen wacht Roustam Kamsky Nicht einmal der eigene Sohn ist vor auf Kasparow („Er ist Stalinist“) macht darüber, daß niemand seinem Sohn zu dem ehemaligen Boxer sicher. Nach ei- den Rückfall in die Zeit des Kalten nahe kommt. Bei Turnieren kocht er ner Niederlage gegen die Ungarin Judit Krieges deutlich, als Schach den Kon- meist selbst, da er der offiziellen Ver- Polga´r erhielt Gata eine schallende Ohr- flikt der Weltpolitik symbolisierte. pflegung mißtraut. Zumindest aber feige. Den ehemaligen Weltmeister Mi- Der Weltmeister ist die zentrale Figur sorgt er dafür, daß beide allein am Tisch chail Tal barmte es: „Armer Junge.“ in Roustam Kamskys Theorie von der sitzen. Vom Rahmenprogramm hält er Der Erfolg, glaubt Vater Kamsky, Weltverschwörung. Als die Kamskys seinen Sohn („Gata muß üben, er hat gibt ihm recht. Im vergangenen Jahr besiegte Gata nahezu die komplette Schachelite, war hinter Champion Garri Kasparow zweitbester Spieler der Welt. Der jähzornige Alte trieb den schüchter- nen Jungen, der Brillengläser wie Glas- bausteine trägt, als einzigen Spieler gleich in beiden Weltmeisterschaftszy- klen bis in die Endrunde. Vom kommenden Wochenende an bestreitet der kleine Kamsky das Halbfi- nale um den Titel des Weltschach- bundes Fide. Gegner im indischen Sanghi Nagar ist der Russe Walerij Sa- low; der Sieger kämpft im Sommer ge- gen Anatolij Karpow oder Boris Gel- fand, die das zweite Halbfinale austra- gen. Bereits Anfang März trifft Kamsky im PCA-Kandidatenfinale auf den Inder Viswanathan Anand. Der Sieger fordert im September in Köln PCA-Champ Garri Kasparow heraus. Schafft der Wunderknabe den Sprung auch nur in eines der Finals, ist dem zu- letzt allenfalls noch von Liebhabern be-

* 1971 beim Schaukampf gegen den Amerikaner B. HOOK Larry Evans (r.). Vater Kamsky, Sohn: Für den Ölscheich die Schädel rasiert

DER SPIEGEL 5/1995 183 .

SPORT

keine Zeit“) ebenso fern wie vom Tele- Gatas Einkünfte (1994 etwa 100 000 Ein eigenartiges Verhältnis wie das fon: „Ich rede für ihn.“ Dollar allein aus PCA-Turnieren), klagt zwischen Vater und Sohn Kamsky hat Der Vater antwortet bei Interviews, der Vater, hätten postwendend die Trai- viele Schachkarrieren bestimmt. Der bestimmt Speiseplan wie Tagesablauf ner kassiert. In der Hoffnung, einen Öl- Freudianer Reuben Fine, in den dreißi- und liest dem Sohn mit den schwachen scheich als Sponsor zu gewinnen, ent- ger Jahren einer der weltbesten Spieler, Augen aus Schachbüchern vor. Gata hat deckten Vater und Sohn den Islam, die sah im König, „unersetzbar, aber keine Freunde, treibt kaum Sport, geht Religion ihrer Vorväter, und ließen sich schwach und schutzbedürftig“, den Pe- nicht ins Kino. Fernsehen ist auf eine Mi- die Schädel rasieren – die chronische nis des Knaben. Die Niederlage, also nimaldosis reduziert. Auf die Frage, was Geldnot blieb. der Fall des Königs, erzeuge Kastrati- er außer Schachspielen gern machen wür- Dennoch kaufte Roustam Kamsky in onsangst. Des Gegners König stehe für de, antwortet er: „Schachspielen.“ Erwartung großer Siege und potentieller den Vater, den der ödipal gepolte Kna- Gata, sagt sein Übervater stolz, „ist Geldgeber ein Haus in Brooklyn auf be vernichten wolle. Schon 1931 schrieb rein wie Glas“. Im Alter von acht Jahren Kredit. Um Geld bei der Renovierung der Psychoanalytiker Ernest Jones: hatte er seinen Sohn zum Schach ge- zu sparen, mußte der feingliedrige Kna- „Das unterbewußte Motiv, welches die bracht, obwohl der „erst nicht wollte“. be sogar eine Spitzhacke in die langen, Spieler antreibt, ist der grausige Wunsch Seitdem trainiert er den Filius bis zu 14 zarten Finger nehmen, den verwilderten nach Vatermord.“ Stunden am Tag, bisweilen assistiert von Garten aufreißen und etliche Kubikme- Hat einer seinen Vater früh verloren, den Großmeistern Roman Dzindz- ter Erde bewegen. Weil jetzt die Hypo- vermuten Psychologen eine andere Va- ichashvili und John Fedorowicz – sofern theken drücken, „muß Gata einfach riante: Weil die Phantasie vom Vater- Geld im Haus ist. Weltmeister werden“. mord scheinbar Wirklichkeit wurde, la-

Mit Joghurt und gegen den lieben Gott Mal Komödie, mal Tragödie – die Marotten der Großmeister, die am Schach zerbrachen

ie eingehende Beschäftigung neue Sorte bedurfte einer schriftli- mit dem Mikrokosmos der 64 chen Genehmigung. Dkleinen Quadrate hat das Le- Doch nicht nur Spitzenkräfte ver- ben vieler Spieler nicht nur positiv lieren den Kampf gegen die Macht beeinflußt – die sozialen Kontakte des Schachs. Der Wahn, das Spiel reduzierten sich seit frühester Ju- beherrschen zu wollen, hat schon gend auf die Schachszene. viele Talente ins Elend getrieben. Dieses eindimensionale Dasein Starke Spieler, die nie ganz den führte in vielen Fällen zu Abson- Sprung in die geldwerten Ränge derlichkeiten, häufig an den Rand schafften, vegetieren als Sozialfälle, des Wahnsinns und endete mitunter spielen für ein paar hundert Mark gar in geistiger Umnachtung. Gage in kleinen Klubs oder im Cafe´ Paranoia oder tiefe Depressionen für ein Stück Kuchen. Die Manie, sind allerdings keineswegs Folgen schätzt der Hamburger Diplompsy- des modernen Profischachs. Schon chologe Enno Heyken, „gefährdet im 13. Jahrhundert verlor der Sara- Tausende“. zene Buzeccia, der als erster Blind- spieler in die Geschichte einging, den Verstand. Wilhelm Steinitz, der erste offizielle Weltmeister, wähnte sich bei seinen letzten Par- tien im Duell mit dem lieben Gott. Weltmeister Aljechin Alexander Aljechin, Anfang der Hotelzimmer verwüstet dreißiger Jahren nahezu unschlag- bar, verwüstete nach Schlappen ein gewaltiges Steak für ihn bereit- sein Hotelzimmer. Der notorische stand. Trunkenbold erstickte an einem Im Weltmeisterschaftsmatch 1978 Stück Fleisch, das seinem Glücks- gegen den Russen Anatolij Karpow bringer, einer schwarzen Katze na- protestierte der aus der UdSSR ge- mens Nabucco, zugedacht war. flohene Wiktor Kortschnoi, als sich Die Marotten der jüngeren Profi- der moskautreue Karpow während generation tragen eher komödianti- des Spiels auffällig unterschiedliche sche Züge. Der Amerikaner Bobby Sorten Fruchtjoghurt servieren ließ: Fischer, der schon mal die Höhe Die Farbe lasse auf geheime Bot- seines Stuhles um wenige Millime- schaften des Betreuerstabes schlie- ter korrigieren ließ, trat nur an, ßen. Fortan durfte Karpow nur mehr Weltmeister Steinitz wenn er sicher war, daß nachher Heidelbeerjoghurt löffeln. Jede Paranoia zum Karriereende

184 DER SPIEGEL 5/1995 ste ein unbewußter Schuldkomplex auf den jungen Spielern, die sich, quasi als Selbsttherapie, intensiv mit Schach be- fassen. Die Weltmeister Spasski, Fi- scher und Kasparow wuchsen ohne Va- ter auf. Im Fall Kamsky haben Beobachter je- doch eine ganz pragmatische Erklärung: Schach bedeutet für Gata Erholung; nur am Brett sei der Knabe vor dem alten Herrn sicher. Allerdings ist Gatas Spiel von der vä- terlichen Ideologie geprägt. Unbere- chenbar, wie auf der Flucht vorm Rest der Welt, hetzt er die Figuren über die Felder. Einen eigenen Stil hat der Ju- nior aber nicht kultiviert: „Ich will eine generelle Richtung vermeiden, ich än- dere mein Spiel dauernd.“ Besonders irritiert die Konkurrenz die psychische Stabilität des Vatersöhn- chens. Mit unbewegter Miene sitzt er stundenlang da, selbst gegen Routiniers zeigt er keine Nerven: „Vaters Unter- stützung hilft mir, nicht nervös zu wer- den.“ PCA-Präsident Rice glaubt, daß Rou- stam Kamsky sich „wie ein Monster aus dem Krieg der Sterne mit negativer Energie auflädt“. Hinter der rohen Art vermutet Rice kaltes Kalkül. Was der Sohn am Brett nicht dürfe, besorge der Vater: bei zartbesaiteten Gegnern die Unsicherheit zu schüren. Psychologische Kriegführung gehört seit jeher zum Schach. Nasebohren, Schmatzen, kaum unterdrücktes Rülp- sen, Rempeln gegen den Spieltisch, halblaute Selbstgespräche – jede Art, den Gegner zu irritieren, ist den Profis recht. Und Roustam Kamsky steht fest in dieser Tradition. Vor dem PCA-Halbfi- nale in Linares verlangte er vom Veran- stalter, eine Mauer zwischen den beiden Spieltischen zu errichten. Weil die For- derung ebenso abgelehnt wurde wie Kamskys Ansinnen, getrennte Wege zur Toilette zu bauen, lauerte der Vater je- dem Spieler beim Austreten auf. „Sie haben sich geheime Zeichen gegeben“, argwöhnt Roustam noch heute. „Para- noide Züge, Märtyrerkomplex“, atte- stierte ihm dagegen der Technische Di- rektor des Turniers im Abschlußbericht. Daß die rüde Taktik dennoch fruch- tet, befürchtet vor allem der Stab des empfindsamen Anand. Rastlos versu- chen seine Betreuer, ihn mit mentalem Training auf die im März anstehende Psychoschlacht einzustimmen. Doch Anands führender Berater, der Deut- sche Frederic Friedel, fürchtet: „Er stemmt sich dagegen, aber innerlich nimmt ihn die aggressive Masche mit.“ Ist der Inder erst einmal ausgeschal- tet, wähnen sich die Kamskys fast am Ziel. Gata, hofft der Vater, werde dann im Finale den Erzfeind Kasparow „zer- quetschen wie eine Fliege“. Y

DER SPIEGEL 5/1995 185 . PERSONALIEN

urt Masur, 67, Dirigent, ter der Überschrift „Hausbe- KLeiter des Leipziger Ge- setzer Spilker“ dem Ex-Man- wandhausorchesters und der datsträger in einer Pressemit- New Yorker Philharmoniker, teilung vorgeworfen, er nutze zählt zu den „100 smartesten noch immer eine der preis- New Yorkern“. Diese Aus- werten 134 Bonner Abgeord- zeichnung erhielt der Musi- neten-Wohnungen (Miete: ker als einziger Deutscher DM 6,83 pro Quadratmeter), neben vielen Stadtgrößen, die streng nach Parteien- aber auch solch bekannten proporz vergeben werden: New Yorkern wie dem Regis- „Dieses Apartment, das der seur Martin Scorsese („Taxi PDS entsprechend der Ent- Driver“), dem Jazz-Saxopho- scheidung der Raumkommis- nisten Sonny Rollins, der sion des Ältestenrates am Pop-Artistin Madonna oder 27. 10. 94 zugesprochen wor-

dem ehemaligen US-Außen- R. MAAS / SIPA den war, hält der Jurist Spil- minister Henry Kissinger. Masur, New Yorker Philharmoniker ker nach wie vor besetzt.“ Li- Die Liste der 100 hat das stig formulierte der Alt-Lin- Stadtmagazin New York in noß, hart zu arbeiten“: „Vie- acques Chirac, 62, konser- ke weiter: „Es fragt sich, ob der jüngsten Ausgabe zusam- le seiner Musiker nahmen Jvativer Bürgermeister von seine Parteifreunde wissen, mengestellt. An Masur lobt blutdrucksenkende Mittel, Paris und Bewerber um das daß er sich von der PDS be- die Redaktion, daß er zwar um mit dem Streß zurechtzu- Amt des französischen günstigen läßt? Entspricht es wenig über amerikanische kommen.“ Das hat sich nach Staatspräsidenten, freut sich gar den Beschlüssen der Musik wußte, als er vor drei Meinung des Blattes gelohnt: über seine wiederentdeckte CSU, solche Kungeleien mit Jahren sein Amt antrat, aber Masur „erhält großartige Re- linke Vergangenheit. Der der PDS zu machen?“ Die „als Deutscher den Ruf ge- zensionen“. Alt-Kommunist Raymond Pressemitteilung übergab Casas erinnerte sich in seinen Reents gar nicht erst der Öf- jetzt erschienenen Memoiren fentlichkeit, sondern gleich an den damals 19jährigen der Geschäftsführung der Chirac: Eines Sonntags, am CDU/CSU-Fraktion. Die 14. Januar 1951, als er im fei- alarmierte die Parteizentrale nen Pariser Viertel Saint- der CSU in München – mit Germain die kommunisti- Erfolg. Der ehemalige Justi- sche Zeitung Humanite´ Di- tiar der CSU-Landesgruppe manche verkaufte, sprach ihn erhielt Anweisung, seine ein „junger sympathischer Bonner Billigwohnung umge- Mann“ an: „Soll ich dir hel- hend zu räumen. fen, Genosse?“ Beim ersten Mal habe der Neuling sechs ary Larson, 44, amerikani- Exemplare verkauft, aller- Gscher Cartoonist, verab- dings in einem anderen Be- schiedete sich von rund 1900 zirk, weil er von seinen Zeitungen und, wie „bourgeoisen Eltern“ nicht Newsweek vermutet, aus dem gesehen werden wollte. Erst „Alltag von Millionen“. Der beim zweiten Treffen stellte Zeichner von sprechenden sich der Helfer vor: Jacques Amöben, Parasiten, Regen- Chirac, Enkel eines engagier- würmern und anderem redse- ten Radikal-Sozialisten, ei- ligen Getier, von einsamen nes „wirklichen Linken“. Insel-Bewohnern, Forschern, Der Kandidat, dem jetzt ein Memoiren-Band zuging, be- dankte sich bei Casas empha- tisch: Die Erinnerungen sei- en geprägt von „Ihrem Ideal „Rode Draad“-Werbeposter von Freiheit, Ihrer Treue zu Frankreich und zu den argot Alvares, 36, Chefin vom „Rode Draad“, der Ge- humanistischen Werten, die Mwerkschaft der holländischen Huren, startete mit Berufs- Frankreich immer verkörpert kolleginnen eine Imagekampagne. Auf Postern und in Zei- hat“. tungsanzeigen werben die Damen für diesen „typischen Frau- enberuf“. So sind die gestiefelten Beine eines Strichmädchens arl-Heinz Spilker, 73, abgebildet samt dem Spruch: „Gute soziale Kontakte erforder- KCSU-Politiker, der dem lich“. Ein anderes Motiv zeigt einen nackten Mädchenhintern Bundestag seit 1969 bis zur mit Kette und Vorhängeschloß: „Von neun bis fünf geöffnet“. vergangenen Legislaturperi- Als durchlaufender Slogan steht auf den Plakaten: „Prosti- ode angehörte, verzichtete tue´e. Gewoon een beroep“ (Prostituierte. Ganz einfach ein unter sanftem Druck auf ein Beruf). Daß „unser Beruf ein bißchen aus dem Rahmen fällt“, begehrtes Abgeordnetenpri-

gibt Margot Alvares zu, „aber das tut der Beruf des Gynäkolo- vileg. Der PDS-Pressespre- D. LAMONT / MATRIX / FOCUS gen oder Totengräbers auch“. cher Jürgen Reents hatte un- Larson

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verdurstenden Wüstenwan- derern und langnasigen All- tagsmenschen, der auch in Genosse Deutschland ein begeistertes Publikum bediente, fühlt sich Staatsmann „müde“ und ausgebrannt. Bevor er mit seinen Werken auf dem „Friedhof der me- diokren Cartoons“ lande, so der Zeichner des ver-rückten Blödsinns „Die andere Sei- te“, lege er lieber seinen Zei- chenstift zur Seite. Doch die Liebhaber seiner wöchentlich sechs bis sieben stets frei ste- henden, bunt zusammenge- würfelten Cartoons dürfen hoffen. Schon einmal, 1988, nahm Larson eine 14 Monate dauernde Auszeit. Damals druckten die Zeitungen alte Cartoons noch einmal. DPA Ehepaar Schröder (in Hessen III) arry Rowohlt, 49, Über- Hsetzer, Zeit-Kolumnist erhard Schröder, 50, nieder- („Pooh’s Corner“) und Kin- Gsächsischer Ministerpräsident, derbuchautor, hat Freude an läßt auch im neuen Jahr keine Fern- einem neuen Job. Zur Zeit sehkamera aus. Nach Auftritten bei steht er in Köln für vier Fol- Gottschalk („Gottschalk“) und Küp- gen der Hans-W.-Geißendör- persbusch („Zak“) zeigte sich Schröder nebst Gattin Hiltrud, 46, vorvergangene Woche auf Hes- sen III in der Quasselshow „3 Zim- merKücheHolger“. Das Paar sollte in der Kulisse eines Badezimmers „Szenen einer Ehe“ improvisieren, Thema: „Einladung nach Oggers- heim“. Besondere Erschwernis: Herr Schröder spielt Frau Schröder und umgekehrt. Textauszug: Sie als er: „Liebe Hillu, also du

mußt mir einen Riesengefallen tun. D. KRÜGER / WDR Ich weiß, du möchtest nicht so ger- Rowohlt in der „Lindenstraße“ ne, aber es wäre schon ganz gut, wenn du mitkommen würdest.“ fer-Dauerwurst „Lindenstra- Er als sie: „Du kannst von mir al- ße“ als Stadtstreicher Harry les erwarten, ’ne Scheidung mach’ vor der Kamera. Rowohlt zu ich eher, als daß ich zu dem gehe. seinem Auftritt in der er- Du weißt genau: Dieser Mann ist für folgreichen ARD-Serie (im mich ein ästhetisches Problem.“ Durchschnitt über sieben Sie als er: „Du mußt dir einfach Millionen Zuschauer): „Ich mal überlegen, wer schon alles in liebe jeden Scheiß, der Geld Oggersheim gewesen ist: Jelzin war bringt und mich von der Ar- da, Bill Clinton, Mitterrand.“ beit ablenkt.“ Fan der „Lin- Er als sie: „Du immer mit dei- denstraße“ war der Verleger- nem verdammten Ehrgeiz. Du bist sproß durch seine Cousine nicht so bedeutend wie Bill Clinton geworden, die ihn nur besu- oder Mitterrand und wirst es im chen wollte, wenn er zu Hau- übrigen auch nie, wenn du so wei- se die Sendung einschaltete. termachst, vor allem so nicht.“ Damals überzeugte den bär- Sie als er: „So geht das einfach tigen Hamburger, daß nir- nicht. Ich denke, es ist auch an der gendwo „die Gören so Zeit, daß unsere Genossen über- schnell dahingerafft wur- zeugt werden müssen, daß ich auf den“. So leidet Rowohlt auch der Weltbühne als Staatsmann be- nicht an übertriebener Iden- stehen kann.“ tifikation mit seiner Rolle: „Ich bin doch nur Schwenk- futter für die Kamera.“

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Gestorben

Rose Fitzgerald Kennedy, 104. Gäbe es eine Dynastie in den USA, das langjäh- rige Oberhaupt des Kennedy-Clans wä- re Königin-Mutter gewesen. Tochter ei- nes Bostoner Bürgermeisters, Frau ei- nes Botschafters und Selfmade-Millio- närs, Mutter eines Präsidenten und zweier Senatoren sowie Großmutter

zweier Abgeordneter im Washingtoner TELEBUNK Repräsentantenhaus – keine andere amerikanische Familie ist so tief in Bühne zurück – diesmal ohne Schminke Amerikas Gegenwartsgeschichte verwo- und Fummel, aber mit nicht mehr soviel ben wie die Kennedys. Tragödien, die Erfolg. Reiner Kohler (Foto, l.) starb am den Clan genauso begleiten wie der poli- 18. Januar in Tuttlingen an Krebs. tische und wirtschaftliche Erfolg, mach- ten einen Teil des Mythos aus. Der älte- Jean Tardieu, 91. Als feinsinnig verspon- ste Sohn von Rose Kennedy und eine nener Lyriker und Essayist hat er sich Tochter starben bei Flugzeugabstürzen. stets abseits der festen Gruppierungen des französischen Literaturbetriebs be- wegt, aber die Launen der Mode haben ihn dann doch für ein Weilchen an die Rampe gerückt: In den fünfziger Jahren, als das „absurde Theater“ blühte, fand sich Tardieu in der Nachbarschaft Iones- cos und Becketts, und seine zahlreichen Einakter, in denen er als eleganter Wort- spieler und Sprach-Fallensteller Purzel- bäume schlug, erwiesen sich auch auf deutschen Kellerbühnen als erfolgrei- ches Spielmaterial. In seinem Brotberuf alsKulturmanager hat Tardieu über Jahr- zehnte in leitenden Positionen beim fran- zösischen Rundfunk als Anreger viel für neue Literatur und Avantgardemusik ge- tan. Jean Tardieu starb vergangenen AP Freitag bei Paris. Die Söhne John, der Präsident, und Ro- bert, Senator und Präsidentschaftsbe- Berufliches werber, wurden ermordet. Auch zwei ihrer 30 Enkelkinder hatte Rose Kenne- Dagmar Berghoff, 52, wird bei der ARD- dy bereits überlebt, als sie am 22. Januar Tagesschau in Hamburg Nachfolgerin auf dem Familiensitz in Hyannisport auf von Werner Veigel, der aus gesundheitli- Cape Cod den Folgen einer Lungenent- chen Gründen zurücktrat. Berghoff hatte zündung erlag. vor fast 20 Jahren als erste Frau im Spre- cherteam der meistgesehenen Nachrich- Reiner Kohler, „Gordy“, 50. Eine Frau tensendung begonnen. Die mit dem im Anzug kann Mode machen, ein Mann im Fummel verliert seinen Job. Auf der Bühne aber ist alles anders: Da dürfen die Kerle stöckeln und verrucht sein und Frauenkleider tragen, und das Publikum findet es schön. Gordy, bür- gerlich Reiner Kohler, war zusammen mit Mary (Georg Preusse) der erfolg- reichste Glitzermann dieser Art in den achtziger Jahren. Die beiden tourten durch Europa und wackelten mit den Hüften; Gordy, gelernter Koch aus Schwaben, war meist zuständig für Bar-

bra Streisand und Marilyn Monroe. DPA 1988 machte sich Mary davon, um solo aufzutreten, Gordy blieb mit kaputten „Charisma einer Schleiflack-Kommo- Wirbeln und schwerer Arthrose zurück de“ (SPIEGEL 33/1986) ausgestattete – das Stöckeln bekam ihm offenbar ARD-Mitarbeiterin krönt jetzt ihre Kar- schlecht. Er trat einige Jahre nicht auf riere damit, wieder einmal die erste und mußte schon Nachrufe auf sich sel- Frau zu sein, nun als Chefin des Spre- ber lesen; 1990 meldete er sich auf der cherteams.

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Werbeseite .

30. Jan. bis 5. Febr. 1995 FERNSEHEN

MONTAG Campion in ihrem Erstling 19.25 – 21.00 Uhr ZDF (Australien 1989) den Machtkampf zweier unglei- Das kalifornische Quartett cher Schwestern. Kay (Ka- Trügerische Fernsehkamera: ren Colston) ist ein lebens- Wer hätte beispielsweise ge- scheues Mauerblümchen, dacht, daß Dieter Zimmer – Sweetie (Genevieve Lemon) jener spröde Mann aus dem fett, egozentrisch, gierig und ZDF-Wahlstudio („Können leicht wahnsinnig. Campions wir die erste Hochrechnung Debüt fiel in Cannes als ge- haben?“) – auch ein so er- schmacklos durch. Doch der folgreicher Romanautor ist, Film folgt mit seinen stili- daß seine Werke verfilmt sierten Bildern einer Traum- werden? Das ZDF zeigt als logik. Die Süddeutsche Zei- Dreiteiler (Teil II, III: Mitt- tung entschlüsselte die Bot- woch, 19.25 Uhr, Samstag, schaft: „Unter der fauligen 20.15 Uhr) Zimmers Ge- Haut des Alltags schlum-

schichte vom bildungshungri- mern die Sehnsüchte. Aber COLUMBIA gen Lehrerehepaar (Herbert es gibt im Film niemanden, Szenenfoto aus „Hinter dem Rampenlicht“ Herrmann, Susanne Uhlen), der sie weckt.“ das sich während einer Ende ist ein Abschied in gro- 23.00 – 0.30 Uhr West III ßem Stil, eine bühnenwirksa- USA-Reise mit einem chao- 0.00 – 2.00 Uhr Vox Rote Sonne tischen Gemüsehändler (Sil- me Apokalypse zu dem Si- van-Pierre Leirich) und des- Hinter dem Rampenlicht mon-&-Garfunkel-Hit „Bye Der Berliner Regisseur Ru- dolf Thome verfolgt einen sen Freundin (Edda Leesch) Die Goldene Palme und vier Bye Love“. Traum: „Ein Kino, das aus- in Irrungen und Wirrungen Oscars erhielt 1980 Bob Fos- sieht wie die Filme von Hawks verstrickt. Eberhard Feik ist ses („Cabaret“) Musicalfilm und Godard. Ein Kino, das als Wurstfabrikant in seiner vom arbeits-, nikotin- und DIENSTAG Spaß macht. Ein Kino, das letzten Rolle zu sehen. tablettensüchtigen Regisseur 17.30 – 18.00 Uhr Nord III einfach ist und radikal.“ Radi- (Roy Scheider), der unzähli- kal sind die Heldinnen dieses ge Frauen verschleißt und Deutschland, deine Biere 20.15 – 20.45 Uhr RTL Films, männliche Phantasie- schließlich einem Herzin- Kabarettisten verzapfen eini- geburten aus dem Geist der Otto – die Serie farkt erliegt. „All That Jazz“ ges, manchmal führt der Weg späten sechziger Jahre. Peggy Friesierte Edgar-Wallace-Fil- heißt der Originaltitel, was von der satirischen Würze (Uschi Obermaier), Christi- me, Otto als Kopiefant, soviel wie „all der tägliche zur Stammwürze. Hanns ne, Sylvie und Isolde, vier ge- Humor aus der Festplotte. Streß“ bedeutet. Fosses Dieter Hüsch, Weißbart der pflegte Töchter der Emanzi- Nur schade, daß sich kalt und Werk gliedert sich in drei deutschen Brettlbarden, pation, schubsen ihre Liebha- schwer die schlaue Hand der Abschnitte: den Blick hinter führt durch die maßvollen ber vom Balkon oder legen sie Reklame über Edgar Waal- die Kulissen des Showbiz. Geschichten über das Bier. mit Handfeuerwaffen um. Sie kes legt: Ein Fünf-Minuten- Er zeigt den Erfolgsmen- wollen mit keinem Mann län- Werbeblock nach zehn Minu- schen bei seinem anstren- 20.00 – 22.00 Uhr DSF ger als fünf Tage leben – dann ten (siehe Seite 176). genden morgendlichen War- muß er sterben. Doch der ming-up mit Duschen, dröh- Fußball Schwur wird auf eine harte nender Barockmusik und FC Barcelona – Werder Bre- 20.15 – 21.50 Uhr 3Sat Probe gestellt, weil Peggy we- Tablettenkonsum, bis der men. Zwar nur ein Freund- gen eines Jungen (Marquard Sweetie Held in der Stimmung ist, schaftsspiel, aber dafür, hal- Bohm) den Mordtermin ver- Klug, witzig und voller unbe- um zu produzieren. Die rest- leluja, nicht in der Halle. paßt. Thome, der kühle Cine- rechenbarer Erzähl-Purzel- lichen Abschnitte schildern ast, bekommt die abstruse bäume schildert die neusee- den Infarkt und schließlich 20.15 – 21.04 Uhr ARD Geschichte in den Griff. Die ländische Regisseurin Jane den Tod des Regisseurs. Das Wir sind auch nur ein Volk Zeit: „Die Zwischenräume Und was für eins: Die amü- des Erzählens sind Leerstel- sante Serie von Jurek Becker len für assoziative Phantasie. – heute letzter Teil – erwies Meilenweit ist Thomes Kino sich mit durchschnittlich 3,7 vom üblichen Fast food ent- Millionen Zuschauern als fernt. Bei ihm muß man schon Quotengrab. kauen, bevor man schlucken kann.“ 22.15 – 22.45 Uhr ZDF 23.15 – 0.40 Uhr Hessen III Im Zeichen der Schuld Heike Mundzeck berichtet in Der fünfte Freitag – ihrer Reportage vom bedrük- Melancholia kenden Schweigen der in Is- David (Jeroen Krabbe), ein rael lebenden Nazi-Opfer, deutscher Kunstkritiker Mitte das die Kinder schwer bela- 40, lebt seit 20 Jahren in Lon- stet hat. „Wir Kinder trauten don und schiebt trotzdem

TELEBUNK uns nicht zu fragen“, gesteht Frust. Verlorene Träume ha- „Sweetie“-Darsteller Lemon, Colston einer der Porträtierten. ben Furchen um seinen Mund

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hinterlassen. Doch Kritika- Seitensprünge mit seiner alten unter. In einem Luxushotel KIOSK sters Elend währt nicht ewig: Freundin nicht hinwegtrösten begegnet sie der reichen Ein Manfred (Ulrich Wild- können. Vivian Naefe (Regie) Arztwitwe und alternden gruber) aus alten Apo-Tagen und Klaus Poche (Buch) lie- Schönheit Laure (Ste´phane ermuntert ihn zu einem poli- ßen sich zu dieser traurigen Audran). Betty erzählt Laure Konzern tischen Attentat. Er erledigt Komödie von dem Buch Chri- ihr gescheitertes Leben. Die und Vielfalt den Mord an einem chileni- stian Nürnbergers anregen, Beichtschwester, welche die Die Länderchefs Edmund schen Folterer, tötet den der seine Frau, die „Mona Li- gescheiterte Frau aufnimmt, Stoiber (Bayern) und Kurt Hamburger Auftraggeber sa“-Moderatorin Petra Ger- erfährt Undank, denn Betty Biedenkopf (Sachsen) und zieht sich in ein italieni- ster, über eine Zeit-Annonce geht mit Laures Liebhaber setzen zum Sturm auf die sches Landhaus zurück. Hei- kennengelernt hatte („Wun- ins Bett. Die Witwe wird ei- ARD an. Die föderale Ar- terer wird er von solchen Ak- der erhoffe ich mir von einem nes Tages tot aufgefunden. beitsgemeinschaft sei tionen nicht. Am Debüt gefühlvollen, sanftmütigen Claude Chabrols Verfilmung ein „konzernähnliches (1989) des Filmkritikers und Weib, das recht hübsch und einer Simenon-Vorlage Gebilde“ geworden, dies Besitzers eines angesehenen ruhig ein bißchen mollig sein (Frankreich 1992) ist weder habe zu einer „nachhalti- englischen Verleihs, Andi darf“). Den Mut zu bissiger eine Psycho-Studie noch ein gen Beeinträchtigung der Engel, störte die professio- Satire bringen Autor und Re- Soziogramm, sondern die tatsächlichen Vielfalt“ ge- nellen Betrachter die bloß gisseurin nicht auf. Sie trauen Beschreibung einer Frau, die führt, schreiben die Uni- behauptete Trauer des Hel- sich nicht, die Konsequenzen ihr Geheimnis bewahrt. onspolitiker in einem den, die nie nachzufühlen Thesenpapier. Das Duo sei. glaubt, der WDR aus dem SPD-Land Nordrhein- Westfalen sei wie ei- MITTWOCH ne „Konzernleitung“, die 17.55 – 18.45 Uhr ZDF Donauprinzessin Drei anmutige Flußtöchter hüten im Rhein den versun- kenen Nibelungenschatz. Aber in der Donau paßt nie- mand auf, damit gnädig ver- schwundene Seichtlast wie diese Serie um eine Donau- krampfschiffsbraut (Gaby Dohm) nicht wieder auf- WDR

H. GUTMANN treibt. Stoiber, Biedenkopf „Man(n) sucht Frau“-Paar Maranow, Waltz 20.15 – 21.44 Uhr ARD „weite Bereiche der in- einer Abschaffung des ro- DONNERSTAG zwischen zentralistischen Man(n) sucht Frau mantischen Liebesideals 16.00 – 17.00 Uhr RTL ARD kontrolliert“. Das Sy- Chris (Christoph Waltz), ge- durchzuspielen. Statt dessen stem der ARD müsse nervter Sohn einer 68er Mut- bemitleiden sie den Helden, Hans Meiser „wieder vom Kopf auf die ter, unengagierter Leser- einen unheilbaren Narzißten, „Und plötzlich sah ich rot – Füße gestellt werden“: briefredakteur und früh er- der so schrecklich allein un- gewalttätige Partner“. Dann Das Erste Programm sol- müdeter Junggeselle, sehnt ter den Weibern ist. Waltz sah ich wieder fern. le verschwinden, die Drit- sich nach Eheglück. Passio- bietet eine prächtige schau- ten Programme seien nierter Leidenschaft oder un- spielerische Leistung: So 20.15 – 22.00 Uhr Nord III auszubauen. Dafür müß- kalkulierbarer Liebe miß- überzeugend fahrig agierte ten neue Mehrländeran- traut er als Leitstern für die schon lange niemand mehr Schtonk stalten (Vorbild: NDR, Partnerwahl, sonst hätte er ja im deutschen Fernsehspiel. Erst vor kurzem ist Helmut MDR) geschaffen werden. gleich seine schöne Freundin Dietls Satire über die fal- Ungeniert argumentieren (Bettina Kupfer) heiraten 21.45 – 22.30 Uhr ARD schen Hitler-Tagebücher in Stoiber und Biedenkopf, können. In einen muffigen der ARD gesendet worden. die Rundfunkräte der Ehekäfig will Chris aber auch Aufgegeilt und Aber solche Sternstunden Sender – meist politisch nicht. So gibt der rationalisti- unbefriedigt kann man gar nicht oft genug besetzt – hätten dann sche Träumer eine Heirats- Granteln gegen Hanteln: Ge- sehen. wieder mehr Einfluß auf annonce auf und erhält eine ro Gemballa mokiert sich das Programm. In dem schöne Bescherung: 200 Be- über die muskeltrainierenden Konzept, das die Zeit- werberinnen, zwischen de- Kunden in den Fitneßtem- FREITAG schrift TV Today an die nen es sich zu entscheiden peln der „Körperfallenstel- 20.40 – 22.25 Uhr Arte Öffentlichkeit brachte, gilt. Doch Kalkül und Liebe ler“. wird zudem vorgeschla- wollen nicht zusammenpas- Die tödliche Maria gen, die Rundfunkgebüh- sen. Chris landet schließlich 23.00 – 0.40 Uhr ARD Die Hausfrau (Nina Petri) er- ren von Land zu Land zu als Hausmann an der Seite ei- stickt schier an ihrem trostlo- staffeln und dem ZDF ner erfolgreichen Anwältin Betty sen Leben, das daraus be- eventuell einen größeren (Maja Maranow) in einer Betty (Marie Trintignant) ist steht, der tyrannischen Gat- Anteil abzutreten. spießigen Ehe, über deren fertig, ihr Haar verfilzt, sie ten (Peter Franke) den An- Tristesse ihn gelegentliche stürzt den Whisky nur so hin- zug herauszulegen und den

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bettlägerigen Vater (Josef Petersens US-Debüt (1991) waltig: 23 Panzer, 9000 Origi- Bierbichler) zu versorgen. am Anfang. Erst danach be- naluniformen und -waffen so- DIENSTAG Doch dann entdeckt die Un- ginnt das Grauen: Die Frau wie „die größte existierende 23.00 – 23.35 Uhr Sat 1 terdrückte ihr Herz für den (Greta Scacchi) trägt ein paar Schneemaschine“ (Presse- SPIEGEL TV Nachbarn (Joachim Kro´l) und Schrammen davon, der heft) wurden eingesetzt, drei REPORTAGE Mann (Tom Berenger) lan- Tonnen Sprengstoff und erhebt sich gegen die Unterjo- Models – das Geschäft mit chung. Das Filmdebüt des det auf der Intensivstation, 100 000 Schuß Munition ver- den schönen Menschen Berliners Tom Tykwer, 29, wo sein Gesicht mit mehre- braucht, 12 000 Statisten und zählt zu den größten kommt sehr ernst daher – und ren kosmetischen Eingriffen fünf Dutzend Stuntleute Wachstumsbranchen. Die ist doch besser in Szene ge- rekonstruiert werden muß. wirkten mit. Selbst die Un- Agenturen zwischen New setzt als vom jungen deut- Der Unfall hat zudem sein terwäsche, die die Schauspie- York, Paris und Tokio set- schen Film gewohnt. zen Milliarden Dollar um. Ulrich Stein berichtet über 23.25 – 1.25 Uhr ARD die Verkaufsstrategien der Das Appartement Branche und beobachtet in Paris die Arbeit der Star- Wie der karrieregeile kleine fotografin Bettina Rheims. Angestellte einer Versiche- rung (Jack Lemmon) dem lü- sternen Vorgesetzten sein MITTWOCH günstig gelegenes Apparte- 22.10 – 23.00 Uhr Vox ment für amouröse Abenteu- SPIEGEL TV THEMA er ausleiht, gehört trotz vieler Die Macken des Chefs: Wiederholungen zu den un- Zwischen Leistungsdruck verwüstlichen Hollywood- und Leidensdruck – wie Komödien. Billy Wilders Film gehe ich mit den Neurosen (USA 1959) erhielt fünf Os- des Vorgesetzten um? cars. TOBIS Szenenfoto aus „Tod im Spiegel“ FREITAG 0.30 – 2.00 Uhr Sat 1 21.55 – 22.30 Uhr Vox Sklavin für einen Sommer Gedächtnis ausgelöscht. Die ler (Dominique Horwitz, Se- Frau muß seinen Erinnerun- bastian Rudolph, Jochen SPIEGEL TV In der Schmuddelwelt des INTERVIEW Sexfilms überwintert kolonia- gen auf die Sprünge helfen, Nickel, Martin Benrath) tru- le Überheblichkeit: In diesem man fährt in ein Hotel, wo gen, war original. Dennoch Vor 18 Jahren erschoß die Streifen bringt sich ein italie- sich beide einmal geliebt ha- fiel das Werk bei vielen Kriti- Schauspielerin Ingrid van nischer Schriftsteller aus ben. Doch bald entdeckt der kern durch. Die Zeit: „Den Bergen ihren Liebhaber. Abessinien eine Lustsklavin Mann, daß irgend etwas zwi- geduldigen Blick auf das Nach fünf Jahren Haft ge- als Souvenir nach Hause mit. schen beiden nicht stimmt. Elend von Stalingrad, der al- lang ihr ein Fernseh- Petersen inszenierte dieses lein diesen Film rechtfertigen Comeback. SPIEGEL-TV-In- Spiel aus Andeutungen, könnte, opfert Vilsmaier für terview sprach mit der 63jährigen auf Mallorca SAMSTAG Rückblenden und halben Ge- eine Handvoll Knaller mehr . . . Keine der fünf, über Liebe, Knast und 19.10 – 20.00 Uhr RTL 2 ständnissen mit sicherer Hand und kaltem Blick. Er sechs Hauptfiguren, um die Geld. Mit Leib und Seele erzeugt Spannung, keine An- sich ,Stalingrad‘ zusammen- Auferstehung im Zeitalter teilnahme. zieht, wird wirklich zur Per- SAMSTAG des TV-Recycling: Das ZDF son, jede ist nur die abstrakte 21.55 – 23.45 Uhr Vox Ergänzung der anderen, ein verhökerte die Serie mit dem SPIEGEL TV SPECIAL dicken katholischen Pfarrer SONNTAG Bube im Kartenspiel, ein Läufer auf dem Brett der Tödliche Viren – die unter- (Günter Strack) an den Pri- 20.15 – 21.45 Uhr ZDF vatsender RTL 2. Schlacht.“ schätzte Gefahr. Sind Af- Das Ende eines Sommers fenviren, BSE und Aids die neuen Seuchen des Die Rosamunde-Pilcher-Fil- 22.45 – 1.00 Uhr Nord III 20.15 – 22.00 Uhr RTL me, heute einer vom bösen 20. Jahrhunderts? Die 100 000 Mark Show Erbschleicher (Diego Wall- Gier raff) und der schönen Schot- Erich von Stroheims 1924 an Ulla Kock am Brinks Quäl- SONNTAG tin (Iris Junik), brachten den Originalschauplätzen gedreh- show mit neuen Folgen. Eine 21.55 – 22.35 Uhr RTL Mainzern mit acht bis zehn ter Stummfilm gilt als Mei- Sendung ohne Charme und Millionen Zuschauern einen lenstein der Kinogeschichte. SPIEGEL TV MAGAZIN Schnörkel, die genau zum Quotenerfolg. Da ist das Der exzentrische, detailver- Eingeschränkt tauglich – Kampf der Jugend um Vier- Volk (siehe Dienstag). sessene Regisseur füllte 42 die Bundeswehr zwischen tel-Noten-Punkte paßt. Filmspulen, was einer Spiel- Uno und Nato / Konzern- zentrale Knast/Block A – 20.15 – 22.30 Uhr Premiere dauer von mehr als sieben 22.20 – 0.15 Uhr Pro Sieben Stunden entspräche. Der die Telefongeschäfte der Stalingrad Produzent jedoch ließ das kurdischen Heroinmafia / Tod im Spiegel Der Aufwand für diesen 20 Mammutwerk zusammen- Klingeln, würgen, hupen, Ein schrecklicher Autoun- Millionen Mark teuren Film schneiden, und so blieb es in prügeln – rasende Aggres- fall, sonst oft das Ende eines von Joseph Vilsmaier einer 132-Minuten-Fassung sivität im Straßenverkehr. Thrillers, steht in Wolfgang (Deutschland 1992) war ge- erhalten.

192 DER SPIEGEL 5/1995 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus der Rheinischen Post: „Der amtie- Zitate rende Präsident der Uno-Vollversamm- lung, Essy, forderte die Mitgliedsländer Die Süddeutsche Zeitung zu Lea Roshs der Vereinten Nationen auf, Japan mit Auftritt in „Aspekte“ und zum SPIEGEL- allem, was in ihrer Macht stehe, zu hel- Beitrag GEDENKSTÄTTEN: GENUG BEMIT- fen. US-Präsident Clinton hat Experten LEIDET von Rafael Seligmann, der ein des Katastrophenschutzes entsandt. deutsches Holocaust-Memorial ablehnt Bundespräsident Herzog und Bundes- (Nr. 3/1995): kanzler Kohl übersandten der japani- schen Führung Beileidstelegramme.“ Lea Rosh kanzelte den Schriftsteller Ra- fael Seligmann ab, der im SPIEGEL ei- Y ne andere Position eingebracht hatte zur Notwendigkeit, sich zu erinnern. Nahm ihm das Wort, stellte ihn für dumm hin, wollte nicht wahrhaben, daß man ande- rer Meinung sein könne als sie, die gro- ße Lea. In aufgeblasener majestätischer Pose thronte sie vor dem Mikrofon und beendete unhöflich und in eigener Machtvollkommenheit den Auftritt: „Acht Minuten! Schluß!“ herrschte sie Seligmann an. (Die offensichtlich über- Aus „Deutschland für Kinder“ (Ars edi- forderte Moderatorin erlaubte ihm spä- tion) ter, zu Ende zu reden.)

Y Die Aachener Volkszeitung zum SPIEGEL- Aus einer Fernsehankündigung in der Artikel MUSIK: AACHENS OPER – EIN AS- FAZ-Sonntagszeitung: „Der einzige KET UNTER LAUTER VERSCHWENDERN Freund der völlig zurückgezogen leben- (Nr. 4/1994): den Dame ist plötzlich tot. Der homose- xuelle Mucki (Ulrich Wildgruber) wollte Im SPIEGEL Berücksichtigung zu fin- gerade verreisen, als Lore ihn daheim den, passiert dem Theater Aachen auch mit durchschnittener Kehle vorfindet.“ nicht alle Tage – vor allem nicht als Vor- bildfunktion. Die bundesweite Erwäh- Y nung verdankt das kaiserstädtische Haus seinem Generalintendanten Elmar Ottenthal. Der Satz „vom Propheten, der nichts im eigenen Land gilt“ kommt einem da nicht von ungefähr in den Sinn. Denn während Ottenthal in der ei- Aus dem Reutlinger Generalanzeiger genen Stadt immer noch mit seinen Um- strukturierungsplänen in Sachen Musik- Y theater des öfteren gegen Mauern an- Aus einer Betriebsanleitung für Laser- rennen muß, vermerkt der SPIEGEL: drucker der Firma Panasonic: „Wenn „Ein deutscher Intendant meldete ,LEBENSDAUER ENDE‘ auf der An- Überfluß“ und spricht vom „Aachener zeige erscheint, wissen Sie, daß die Le- Wirtschaftswunder“. bensdauer Ihres Druckers vorüber ist und einwandfreies Funktionieren nicht länger gewährleistet wird.“ Der SPIEGEL berichtete ...... in Nr. 4/1995 PANORAMA – POLITI- Y SCHE BILDUNG über die Bundeszentrale für politische Bildung, die mit Steuergel- dern die CDU-nahe Konrad-Adenauer- Stiftung unterstützen will. Aus dem Delmenhorster Kreisblatt Das Bundesministerium des Innern Y „mißbilligte“ vergangene Woche in ei- nem Brief an den Präsidenten der Bun- Aus einem Flugblatt der CDU-nahen deszentrale für politische Bildung Gün- Studentenorganisation RCDS: „Der ter Reichert das beabsichtigte Verfah- Frankfurter RCDS benötigt keine ren. Begründung: Die parteinahen Stif- ,Quote‘ in dieser Hinsicht. Frauen, die tungen hätten auf alle Mittel seitens der hochschulpolitisch engagiert sind und Bundeszentrale verzichtet, und es sei ih- besser aussehen als , wur- nen nach einem Urteil des Bundesver- den und werden immer die Gelegenheit fassungsgerichts verwehrt, „eine Veran- dazu geboten und stets Chancengleich- staltung nur für einen begrenzten Perso- heit gewährt.“ nenkreis“ anzubieten.

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