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MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Berlin, Briefe, SPIEGEL special

as erste spürbare Ergebnis, das die SPIEGEL-Redakteurin Petra DBornhöft bei ihrer Recherche in Berlin registrierte, war ein harter Schlag auf die Knie. Eine alte Russin hatte den Hieb ausgeteilt – als die SPIEGEL-Frau es nach gestandenen zwei Stunden beim Abendgottes- dienst in der russisch-orthodoxen Kathedrale gewagt hatte, sich endlich mal hinzusetzen. Die Recherche blieb außergewöhnlich: Auf ihren Streif- zügen in den Wochen danach entdeckte Bornhöft, die seit 1988 in Berlin lebt, ein gänzlich neues Berlin – das russi- sche. An die 100 000 Menschen aus dem Osten siedeln mittlerweile in der Haupt- stadt, Intellektuelle und Händler, brave Handwerker und große Schieber, eine Mi- schung, die ihr eigenes Leben entfaltet. Bornhöft sah eine „fremde, aufregende Welt“ inmitten der Metropole, und so ganz allein war da kein Durchkommen. Bei der Verständigung half hier und da die SPIEGEL-Sekretärin Ewa Lidsheim, die aus Ost-Berlin stammt und fließend Rus- sisch spricht. Und einen speziellen Lokal- A. SCHOELZEL Bornhöft, russischer Händler termin übernahm Student Boris aus Minsk. Der schwitzte im SPIEGEL-Auf- trag in der russischen Sauna, an der Seite von Männern, die nur noch mit funkelnden Armreifen und goldenen Halsketten bekleidet waren – Insi- gnien des Wohlstands, den sie im Westen erreicht haben (Seite 60).

st dieses Kruzifix nun bloß ein „Symbol der Macht“, das in den Klassen- Izimmern nichts verloren hat, oder doch „das abendländische Symbol schlechthin“, das Schulräumen gut ansteht? Haben die Karlsruher Verfas- sungswächter „das christlichste Urteil eines deutschen Gerichts“ gefällt oder lediglich „das christliche deutsche Volk beleidigt“? Selten hat ein Stoff die Schreib- und Streitlust -Leser derart beflügelt wie der Richterspruch über den Gekreuzigten in bayerischen Schulen, Titel- Thema des Hefts 33 und Thema eines Gesprächs mit der Verfassungsge- richtspräsidentin Jutta Limbach in dieser Ausgabe (Seite 34). Mehr als 500 Zuschriften gingen bis Ende der letzten Woche dazu ein, und so geballt treten Beifall und Tadel nun auch auf: Der Briefteil präsentiert diesmal – gegen alle Gewohnheit, aber dem Echo wohl angemessen – ausschließlich Eingesandtes zur Kontroverse ums Kreuz.

in Jahr ist es jetzt her, daß SPIEGEL spe- Ecial regelmäßig in jedem Monat erscheint. SPIEGEL-Experten und kompetente Autoren von außerhalb befassen sich seither in jeder Ausgabe mit Schwerpunktthemen aus Politik, Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft, und sie finden ihr Publikum: Die Auflage gedeiht, im zweiten Quartal dieses Jahres wurden durch- schnittlich 134 800 Hefte verkauft. Am Diens- tag dieser Woche erscheint die neue Ausgabe, und rundum behandelt wird darin vieler Leute Reizthema: „Kinder, Kinder – Erziehung in SPIEGEL special 9/1995 der Krise“.

DER SPIEGEL 35/1995 3 .

TITEL INHALT Der Multimilliarden-Kampf der TV-Sender um Zuschauer und Werbeeinnahmen ...... 102 Thomas Hüetlin und Cordt Schnibben über die Geldmaschine Fernsehen ...... 108 SPD: Schwund in den Großstädten Seiten 22, 27 TV-Reklame wird kaum beachtet ...... 120 Die Metropolen sind zum Seismographen für den Niedergang der KOMMENTAR SPD geworden: In Frankfurt, Berlin oder München hat die SPD bis Rudolf Augstein: Hände weg vom Gericht ...... 36 zur Hälfte ihrer Mitglieder verloren, der Wähleranteil sank von über 50 auf 30 Prozent. Nach Ansicht von SPD-Theoretiker Johano Stras- ser hat sich die Partei „vielerorts von der Realität entfernt“ und ist als DEUTSCHLAND Opposition auf „gefährliche Weise schlecht“. Panorama ...... 16 SPD: Talfahrt in den Metropolen ...... 22 SPIEGEL-Gespräch mit Johano Strasser über den Niedergang der Sozialdemokraten ...... 27 Rudolf Scharpings mißratene „Populistische ,Ausbeutung‘“ Seite 34 Deutschland-Tournee ...... 32 Rechtsprechung: SPIEGEL-Gespräch mit Kritik an den Kritikern des Kruzi- Jutta Limbach über die Kritik fix-Urteils übt Jutta Limbach im am Kruzifix-Urteil ...... 34 SPIEGEL-Gespräch. Ihr mißfalle Außenpolitik: Interview mit dem „die populistische ,Ausbeutung‘ Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel des Beschlusses durch den einen über den Balkankrieg und den Westen ...... 41 oder anderen Politiker“. Wer dazu Flughäfen: Ärger über Fummel-Kontrollen ...... 47 aufrufe, dem Gericht die Gefolg- Mönche: Benediktiner planen Golfpark ...... 53 Ausländer: Läßt Ankara in Deutschland schaft zu versagen, rügt die Präsi- morden? ...... 54 dentin, der provoziere einen Ver- Gesundheit: Geschäfte mit einer fassungskonflikt: „Dann braucht fragwürdigen Krebstherapie ...... 56 sich niemand zu wundern, wenn Einwanderer: Berlin wird andere künftig den Boykott ausru-

zum Russen-Zentrum ...... 60 J. H. DARCHINGER fen gegen Gesetze, die ihnen nicht Balkankrieg: Olaf Ihlau über Christian Limbach gefallen.“ Schwarz-Schilling auf Bosnien-Mission ...... 75 Affären: Mauscheln um Spielcasinos in Mecklenburg-Vorpommern ...... 76 Terroristen: Letzter Prozeß um die Russen-Hauptstadt Berlin Seite 60 Schleyer-Entführung ...... 78 Tourismus: Billigreisende auf Sylt unerwünscht ..80 Sie hausen in besetzten Mietskasernen und geben Zigtausende auf dem Ku¯damm aus, sie machen Geschäfte und treffen sich in Künstlerzir- DEBATTE keln: Russische Emigranten erobern Berlin. An die 100 000 Zuwande- Bärbel Bohley über die -Verstrickung rer aus Osteuropa wohnen in der deutschen Hauptstadt – doppelt so vie- der Schriftstellerin Monika Maron ...... 68 le wie in Paris oder London. Nicht Repression oder extreme wirtschaftli- che Not treibt sie in den Westen, sie wollen einfach besser leben. WIRTSCHAFT Konzerne: Industrie unterwandert mit Tarnvereinen die Umweltbewegung ...... 82 Steuern: Die Vermögensteuer ist verfassungswidrig ...... 86 Trends ...... 88 Tarifverhandlungen: Interview mit VW-Personalvorstand Peter Hartz über die Beschäftigungsprobleme des Konzerns ...... 90 Software: Weltweiter Wirbel um Microsoft ...... 91 Unternehmen: Ein deutscher Fleischfabrikant hat Erfolg in China ...... 94 Innovation: Eine Thüringer Firma erfand

das Fieberthermometer ohne Quecksilber ...... 99 LICHTBLICK

AUSLAND S. SAUER / Panorama Ausland ...... 134 Russisch-orthodoxer Gottesdienst China: Frauen – Verlierer der Reformen ...... 136 Israel: Raffinierte Foltermethode gegen Terroristen ...... 140 Saudi-Arabien: Viel Arbeit für den Henker ..... 142 Interview mit dem Mufti von Ägypten über Fummel-Kontrollen nerven Fluggäste Seite 47 die Todesstrafe für Rauschgifthändler ...... 143 Balkan: Renate Flottau über den rüden „Körperdeckend einschließlich Intimbereich“, so die Vorschrift, wer- Empfang der Krajina-Flüchtlinge in Serbien ..... 144 den auf deutschen Flughäfen die Passagiere abgetastet – gründlicher Nigeria: SPIEGEL-Gespräch mit dem als in anderen Ländern. Viele fühlen sich belästigt. Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka über den Kampf gegen die Militärdiktatur ...... 147

4 DER SPIEGEL 35/1995 .

Italien: Michael Schmidt-Klingenberg über den Selbstmord eines grünen Politikers ...... 152 Schweiz: Jüdische Erben suchen nach verschollenen Vermögen ...... 156 Henker gegen Drogen Seite 142 Argentinien: Die Irrfahrt der toten Evita Pero´n ...... 158 Heroin, Kokain und Aufputsch- tabletten – die Drogenwelle WISSENSCHAFT schwappt auch in das streng ab- geschottete Saudi-Arabien. Mit Prisma ...... 160 öffentlichen Enthauptungen wie Medizin: Computer erobern Kliniken zu Zeiten des Propheten will das und Praxen ...... 162 erzkonservative Königreich die Elefanten: Tierschützer protestieren gegen die blutige Auslese in Südafrika ...... 164 Dealer abschrecken. Die Hin- Psychologie: Zweifel am Nutzen richtung mutmaßlicher Rausch- herkömmlicher Tests ...... 166 giftschmuggler aus der Türkei löste einen erbitterten Streit mit TECHNIK dem moslemischen Bruderland

über die islamische Rechtsord- ACTION PRESS Kameras: Marktbelebung durch nung, die Scharia, aus. Hinrichtung in Saudi-Arabien intelligente Filme? ...... 170 Automobile: Der neue Kompaktwagen von Fiat ...... 172 Computer: Student knackt Computer am Krankenbett Seite 162 Verschlüsselungscode im Internet ...... 175 Krankenschwestern tippen Be- KULTUR funde und Verordnungen am Kunst: Bizarre Akt-Visionen von Krankenbett in den PC, Hirn- Egon Schiele in Tübingen ...... 178 stromkurven oder Röntgenbil- Literatur: Dietrich Schwanitz über der werden digitalisiert und über „Unser Spiel“ von John le Carre´ ...... 181 Kabel zur Begutachtung an weit Bestseller ...... 184 entfernte Spezialisten geschickt. Maler: Die Techno-Bilder des Jim Avignon ..... 187 In acht Großversuchen erproben Musiktheater: Alban Bergs „Lulu“ – Experten derzeit die Einsatz- Rettung für die Salzburger Festspiele? ...... 190 möglichkeiten der Computer- Film: „Waterworld“ von Kevin Reynolds ...... 195 technik in deutschen Praxen und Pop: Philologische Doktorarbeit Kliniken. Auch die Krankenver- über Diskjockeys ...... 196 sicherer werden einbezogen. Da- Bücher: Neue Illustrationen für

M. SCHRÖDER / ARGUS tenschützer warnen: „Wir krie- Grimms Märchen ...... 198 Computer auf der Intensivstation gen den gläsernen Patienten.“ Szene ...... 202 Fernseh-Vorausschau ...... 218

SPORT Tennis: Das ganze Steuerdilemma Der Fall Graf: Beweis gefunden Seite 206 der Steffi Graf ...... 206 Interview mit dem ehemaligen Graf-Vertrauten Der Weg aus der Untersuchungshaft wird für Peter Graf immer Horst Schmitt über seine Rolle ...... 208 schwerer: Bei 177,4 Millionen Mark Einnahmen seit 1983 zahlte er Fußball: SPIEGEL-Gespräch mit bis heute nur 10 Millionen Mark Einkommensteuer. Ein Vermerk Theaterintendant Jürgen Flimm über belegt, daß er alle Briefkastenfirmen selbst dirigierte. Fußball, Fankult und seine Freundschaft mit Otto Rehhagel ...... 209

Briefe ...... 7 Impressum ...... 14 Die Romantik des Fußball-Sports Seite 209 Register ...... 214 Personalien ...... 216 Bei Spaziergängen mit Otto Reh- Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 222 hagel, sagt Theaterintendant Jürgen Flimm im SPIEGEL- Gespräch, „kommt man vom Aziza Zadeh ganzen Kunstgebaren runter“. Weil er als Freund aber „nicht er- ist Jazzpianistin – ziehungsberechtigt“ sei, habe er und Titelfigur von den Wechsel des Trainers von EXTRA, dem nach München nicht ver- Kultur-Magazin hindern können. Flimm, der nur für Abonnen- „beim Fußball zu Romantik und ten des SPIEGEL. Nachsicht neigt“, versteht inzwi- Auch im Heft: 400 schen sogar, daß Rehhagel „mit Hinweise auf Kon-

C. KELLER / GRÖNINGER tollen Künstlern ein Super- zerte, Filme, Bü- Flimm, SPIEGEL-Redakteure Ensemble aufbauen will“. cher.

DER SPIEGEL 35/1995 5 Werbeseite

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Sturm im Wasserglas! Es ist ledig- lich ein Gesetz für verfassungswid- rig erklärt worden, das ein Kruzi- fix im Klassenzimmer vorschreibt. Es werden keine Kirchen eingeeb- net und kein Gipfelkreuz wird durch einen Galgen ersetzt wer- den. Gauting (Bayern) JOSEF KUNKEL

Warum erkennt die Mehrheit nicht, daß es hier gar nicht um ein Symbol des Glaubens, sondern um ein Symbol der Macht geht? Hamburg KATJA MAYER

Soll jetzt mit aller Gewalt die Bal- kanisierung Deutschlands voran- getrieben werden, indem man christliche Symbole und Ideale un- terdrückt? Berne (Nieders.) RUDOLF SCHERMANN SPIEGEL-Titel 33/1995 Symbol des Glaubens oder der Macht? Wer heutzutage für das Symbol ei- ner Institution kämpft, in deren Namen von jeher menschenverachtende Willig zu Kreuze kriechen Politik betrieben wird, tut mir ehrlich (Nr. 33/1995, Titel: Das Kreuz mit dem leid. Kruzifix – Abschied von der christlichen Flensburg THIES POPPENDIECK Kultur? und Rudolf Augstein: Gott ohne Kreuz) Und wie ist es denn nun, wenn nur ein Dieses Urteil ist ein weiterer Schritt zur Kind in einer Klasse das Kreuz an der Säkularisierung unseres einst christli- Wand verlangt? Ist das dann keine chen Landes. Soll doch das Kläger-Ehe- schützenswerte Minderheit? paar von Bayern nach Hannover umzie- hen. Dort gibt es in den Schulen keine Hamburg TRUTZ V. TROTHA Kreuze, dafür aber die Chaos-Tage.

Heimerdingen (Bad.-Württ.) Der SPIEGEL hat über Jahre gute Vor- ERHARD KUNERT arbeit geleistet. Wen wundert es, wenn

Jehova in Bayern Kölner Stadt-Anzeiger Werbeseite

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jetzt die Richter in Karlsruhe mithelfen, staatlichen Stellen befürwortet, aber das abendländische Symbol schlechthin vom Schulbeauftragten des christlichen in der Versenkung verschwinden zu las- Dekanatsbezirks Augsburg abgelehnt. sen. Augsburg DR. M. HAFEZI Wilhelmsfeld (Bad.-Württ.) PROF. RUDOLF JANSCHE Toleranz äußert sich in Bayern darin, daß man schon bei einem Bewerbungs- Für die katholischen Stalinisten ist es gespräch nach seinem Glauben gefragt wohl die einzige Form, die „Botschaft wird und als Religionsloser keine Chan- der Liebe“ in die Kinder zu pflanzen, in- ce hat. dem sie ihnen – ungefragt – täglich das Zeithain (Sachsen) ROLAND RICHTER Bild einer Folterung zumuten. Hamburg GÖTZ WEFELMANN Das Kreuz ist das Symbol des christli- chen Abendlandes. Durch das „Kreuz- Wortreich beklagt Stoiber den allgemei- urteil“ der fünf Verfassungsrichter wird nen Werteverfall – gleichzeitig tritt er Gott gelästert, das christliche deutsche den demokratischen Grundwert an sich Volk beleidigt und das Grundgesetz ver- mit Füßen: die Bereitschaft, rechtmäßi- letzt. ge Entscheidungen auch dann anzuer- Würzburg R. SAUER kennen, wenn sie der eigenen Meinung zuwi- derlaufen. Die Chaoten lassen grüßen. Gerstetten (Bad.-Württ.) WILLIBALD PAPESCH

Als der CSU-Vorsit- zende und Bundesfi- nanzminister sich nach langer Ehe scheiden ließ, in Anwesenheit des Bundeskanzlers wieder heiratete und damit gegen katholi- sches Kirchenrecht ver- stieß, herrschte in Bay- ern Grabesstille. Die Tageszeitung Essen DIETHELM LAU Nicht verwunderlich das kompakte Auf- Nehmt den Bayern nicht das Kruzifix, treten der Berufsheuchler in der ersten sonst fehlt ihnen das wichtigste Fluch- Reihe, deren einzige christliche Tugend und Schimpfwort. in der „Nächstenliebe“ zu Spezis, Ami- Ingolstadt PETER PORATH gos, Flicks und Zwicks ihre Grenzen hat. Schiffweiler (Saarl.) KARL-OTTO SCHOMMER Keine Extraweißwürste! Berlin JÖRG SCHWICHTENBERG

In Ländern des Islams beispielsweise ist seines Lebens bedroht, wer als Gast ge- Ein Jesus, der damit einverstanden sein gen dortige, selbst unbekannte Gebote könnte, daß sein Bild irgendwo zwangs- verstößt. In Deutschland jedoch wird weise flächendeckend aufgehängt wird, kein Andersdenkender dem Kreuz un- ist eine Karikatur, zu der ihn Politiker terworfen, nein, er hat gerade unter auf der Jagd nach Wählerstimmen ma- dem Zeichen des Kreuzes die vollste chen. Freiheit zu seiner eigenen Entfaltung. DR. ROIJA WEIDHAS Mertingen (Bayern) ERICH NEUMANN

Ich bin 16 Jahre alt und gehe in die 10. Meine Kinder, beide deutsche Staats- Klasse eines bayerischen Gymnasiums. bürger, müssen wegen ihrer Zugehörig- Nach dem zumindest von den Erwachse- keit zu einem anderen Glauben (hier nen mit großem Entsetzen aufgenom- der Islam) Nachteile in nicht unerhebli- menen Urteil befragte ich meine konfes- chem Umfang auf sich nehmen. Da mei- sionslosen und nicht christlich erzoge- ne Kinder sich gegenüber anderen Schü- nen Mitschüler, ob sie denn das Kreuz lern benachteiligt fühlten, beantragte im Klassenzimmer überhaupt störe. ich die Teilnahme am christlichen Reli- Ausnahmslos alle Schüler meinten, es gionsunterricht. Dies wurde von den sei ihnen egal, unter welchem Symbol

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Werbeseite BRIEFE sie lernen. Für sie spiele es keine Rolle, ob über der Tür des Klassenzimmers ein „blutüberströmter“ Mann an einem Kreuz hänge oder das Logo des Musik- senders MTV, das ihnen im übrigen lie- ber wäre. Marktheidenfeld (Bayern) FLORIAN HABEL

Wann verbietet das Bundesverfassungs- gericht die christlichen Feiertage? Altdorf (Bayern) MAX-PETER GOTTLOB

CDU-Politiker haben zur Finanzierung der Pflegeversicherung den Buß- und Bettag als gesetzlichen Feiertag abge- schafft. Es ist scheinheilig, wenn sie sich jetzt über den Spruch des Bundesverfas- sungsgerichts aufregen. Stuttgart GÜNTHER MÜRK

Da wir heutigen Menschen nicht mehr die mitleidlose Gemütsverfassung des orientalischen Altertums haben, ist die Christus kam nur bis Karlsruhe Süddeutsche Zeitung ständige Konfrontation der Schulkinder mit solchen Exzessen menschlicher „Bessere Schulen“, sind wir als Partner dete und auf Überzeugung angelegte Grausamkeit unerträglich. der Schule nicht mehr gefragt. Entscheidungen trifft. Damit hebt es sich Pettendorf (Bayern) sehr vorteilhaft von dem hirnlosen Polit- Konstanz GERHARD KLINGEBERGER REINHOLD DEMLEITNER quark des Alltags ab. Bayerischer Elternverband Hamburg MICHAEL HARDT Im übrigen hat noch kein Schüler Scha- den genommen, der zu Beginn des Un- Das war wohl das christlichste Urteil ei- Wenn die Kirche auch nur halb soviel Wi- terrichts gebetet und unter dem Kreuz nes deutschen Gerichts. Kritik an die- derstand im Dritten Reich geübt hätte gelernt hat. sem Urteil bedeutet Kritik an der wie jetzt beim Kruzifix-Urteil . . . Darmstadt HANNA HIERSE Grundeinstellung Christi gegenüber An- Denkendorf (Bayern) FABIAN HAGE dersdenkenden und ist folglich Blasphe- 15 Jahre mie. Nun braucht man uns Eltern also wie- Berlin UWE KLAR der! Das Besondere in Bayern ist, daß Mir geht dieses scheinheilige, Nächsten- Eltern immer dann gefragt werden, hiebe austeilende Bodenpersonal Gottes wenn sie die Meinung der Staatsregie- Das Bundesverfassungsgericht ist ja auf die Nerven. rung unterstützen sollen. Weichen sie überhaupt das einzige Verfassungsor- Schwandorf (Bayern) JULIA KRÜGER hiervon ab, wie beim Volksbegehren gan, das durchdachte, sorgfältig begrün- Schülerin

Mir gefällt, daß die Bayern trotz staatli- cher Verordnung das Kreuz nicht vom Nagel nehmen. Jesus war punk, die Bay- ern sind punker. Mannheim GEORG YIALLOUROS

Ungewollt bekräftigen die schäumenden Kritiker des Gerichts in all ihrer Intole- ranz höchst eindrucksvoll die Notwendig- keit und die Richtigkeit dieses Urteils. Bonn JÜRGEN ROTH Humanistische Union

Das Kreuz sollte oder könnte ein Symbol der Liebe und Toleranz sein, ist es aber sowenig wie Hammer und Sichel. Nürnberg PETER LÖW

Es ist ein Irrsinn sondergleichen, einem Häuflein rotbetuchter Juristen den Cha- rakter einer Überregierung zu verleihen. tz, München Müllheim (Bad.-Württ.) PETER STEINBACH

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Werbeseite BRIEFE MNO Wann wird endlich einmal ganz klar her- 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 ausgestellt, daß das Verfassungsgericht CompuServe: 74431,736 . Internet: http://www.spiegel.de gesagt hat, daß der (bayerische) Staat Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006. Telefax (040) 30072898, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. nicht von Amts wegen vorschreiben HERAUSGEBER: Rudolf Augstein 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) darf, daß Kreuze in den Klassenzim- 24 22 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glü- CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust sing, Avenida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro mern hängen müssen? Die Hysterie, . STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild (RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 Rom: Vales- ka von Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) daß jetzt alle Kreuze abgenommen wer- REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, 679 7522, Telefax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, den müssen, ist völlig verfehlt. Wilhelm Bittorf, Peter Bölke, Ulrich Booms, Dr. Hermann Bott, Scheelegatan 4, 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Klaus Brinkbäumer, Henryk M. Broder, Werner Dähnhardt, Dr. Telefax 652 99 97 . Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna Köln GERHARD STANDOP Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. Martin Doerry, Anke 44/24, 00-635 Warschau, Tel. (004822) 25 49 96, Telefax Dürr, Adel S. Elias, Marco Evers, Nikolaus von Festenberg, Uly 25 84 74 . Washington: Karl-Heinz Büschemann, Siegesmund Foerster, Dr. Erich Follath, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, An- von Ilsemann, 1202 National Press Building, Washington, D. C. gela Gatterburg, Henry Glass, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. 20 045, Tel. (001202) 347 5222, Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Die Kruzifixe müssen bleiben, zeigen sie Volker Hage, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawra- Martin Pollack, Schönbrunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. nek, Manfred W. Hentschel, Hans Hielscher, Wolfgang Höbel, (00431) 587 4141, Telefax 587 4242 doch die Freiheit dieses Staates, in dem Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. Jürgen Hoh- ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- die meisten der mündigen Bürger willig meyer, Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Ulrich Jaeger, Hans-Jürgen me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Sabine Kartte, Klaus- Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef zu Kreuze kriechen. Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Cuxhaven DIETER C. GÜNTHER Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Hurme, Bettina Janietz, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Kronsbein, Bernd Kühnl, Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Hans Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Ju- Leyendecker, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Ar- lia Saur, Detlev Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank min Mahler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Schumann, Rainer Sennewald, Karin Weinberg, Matthias Welker, Mauz, Fritjof Meyer, Dr. Werner Meyer-Larsen, Michael Mönnin- Monika Zucht Ich bin einfach nur glücklich und zufrie- ger, Joachim Mohr, Mathias Müller von Blumencron, Bettina Mu- Titelillustration: Stephen Gorman den, daß dieser Staat wieder einmal ge- sall, Dr. Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Noack, Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Peter- Sabine Bodenhagen, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Her- zeigt hat, daß ihm seine Liberalität mann, Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl, Detlef Pypke, Dr. Rolf mann Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, wichtig ist. Rietzler, Anuschka Roshani, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltz- Inga Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, An- wedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Michaela Schießl, dreas M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Bonn PROF. WALTER MÜLLER Heiner Schimmöller, Roland Schleicher, Michael Schmidt-Klin- Seelig, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ruth Tenhaef, Hans- genberg, Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Jürgen Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters Schreiber, Sylvia Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthias Schulz, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Claudius Seidl, VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Dr. Stefan Simons, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, orama, SPD (S. 32), Rechtsprechung, Außenpolitik, Gesundheit: 500 Jahre reichen anscheinend nicht Olaf Stampf, Gabor Steingart, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Dr. Gerhard Spörl; für SPD (S. 22, 27), Mönche, Ausländer, De- aus, um den Gedanken der Aufklärung Barbara Supp, Dieter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg batte, Affären, Terroristen: Clemens Höges; für Flughäfen, Kon- Vehlewald, Dr. Manfred Weber, Susanne Weingarten, Alfred zerne, Steuern, Trends, Tarifverhandlungen, Unternehmen, Inno- auch dem deutschen Gemüt näher zu Weinzierl, Marianne Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Wid- vation: Armin Mahler; für Einwanderer, Tourismus, Titelgeschich- bringen. mann, Erich Wiedemann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter te, Maler, Bücher, Fernseh-Vorausschau: Hans-Dieter Degler; für Zolling, Helene Zuber Software: Uly Foerster; für Panorama Ausland, China, München DR. THOMAS TOSSE Israel, Saudi-Arabien, Nigeria, Schweiz, Argentinien: Dr. Romain REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Leick; für Prisma, Medizin, Elefanten, Psychologie, Kameras, Au- Wolfgang Bayer, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Jan Fleisch- tomobile, Computer: Klaus Franke; für Kunst, Literatur, Bestsel- hauer, Uwe Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Mal- ler, Film, Szene: Dr. Mathias Schreiber; für Tennis, Fußball: Hei- zahn, Walter Mayr, Harald Schumann, Michael Sontheimer, Kur- ner Schimmöller; für namentlich gezeichnete Beiträge: die Ver- Die Bayern verteidigen ihre Holzkreuze fürstenstraße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Te- fasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspie- so verbissen wie die Moslems ihren lefax 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. gel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Gestal- Olaf Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth tung: Volker Fensky; für Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps; Tschador. Niejahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans- Chef vom Dienst: Horst Beckmann (sämtlich Brandstwiete 19, Jork (Nieders.) DR. HEINRICH PASCHOTTA Jürgen Schlamp, Hajo Schumacher, Alexander Szandar, Klaus 20457 Hamburg) Wirtgen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 . : Sebastian Borger, Chri- Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz stian Habbe, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Erik- 567 0271, Telefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bieger, Ge- sen, Cordelia Freiwald, Dr. Andre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk- Ich halte das Verfassungsgerichtsurteil org Bönisch, Richard Rickelmann, Oststraße 10, 40211 Düssel- Helldorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, sogar für religionsfördernd, weil der dorf, Tel. (0211) 93 601-01, Telefax 35 83 44 . Erfurt: Felix Jürgen Holm, Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, Hauke Kurz, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) 642 2696, Tele- Janssen, Günter Johannes, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, An- Schritt, ein Kreuz anzubringen, nun von fax 566 7459 . Frankfurt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bittner, gela Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot- Annette Großbongardt, Rüdiger Jungbluth, Ulrich Manz, Oberlin- Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, den Beteiligten aktiv und bewußt vollzo- dau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Telefax Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Ger- gen werden kann und muß. 72 17 02 . Hannover: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, hard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Anne- 30159 Hannover, Tel. (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . liese Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Anna Petersen, Pe- Köln KARSTEN HENS Karlsruhe: Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, 76133 Karls- ter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Con- ruhe, Tel. (0721) 225 14, Telefax 276 12 . Mainz: Wilfried stanze Sanders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. Schier- Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) horn, Ekkehard Schmidt, Andrea Schumann, Claudia Siewert, 23 24 40, Telefax 23 47 68 . München: Dinah Deckstein, An- Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Stefan Auch wenn parteipolitisches Kalkül und nette Ramelsberger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, Storz, Rainer Szimm, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 . Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, Carsten die Rücksichtnahme auf die ehemaligen Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwe- Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessendorff, An- Kollegen in Karlsruhe dafür ausschlag- rin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax 56 99 19 . Stuttgart: Dr. drea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt Hans-Ulrich Grimm, Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles gebend sein mögen, kann man nur laut- (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 NACHRICHTENDIENSTE: AP, dpa, Los Angeles Times/Washing- hals und zornig ausrufen: Roman, mel- REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, ton Post, New York Times, Reuters, sid, Time de dich endlich und mach deinen Job – Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Kruzifix noch amoil! . 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM Hamburg JORG FOITZIK Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 . DM 182,00. 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(069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; Emotionen angefangen. Kiew, Tel. (0038044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen- München: Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044171) 379 8550, Te- 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, Heusenstamm (Hessen) GÜNTER HARDERS lefax 379 8599 . Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 226 30 35, Telefax 29 77 65 Krutizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner 221 7725, Telefax 221 7724 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 49 vom 1. Januar 1995 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. 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14 DER SPIEGEL 35/1995 Werbeseite

Werbeseite . PANORAMA

Kirchen Gottes Hausverkauf Die Katholiken kämpfen fürs Kreuz, die Protestanten haben andere Sorgen: Die evangelische Kirche sieht sich be- müßigt, Gotteshäuser loszuschlagen. Vor allem in Ostdeutschland brechen die Landeskirchen das Tabu und sto- ßen einzelne Betstätten ab. In Meck- lenburg-Vorpommern stehen drei Dorfkirchen zum Verkauf, in Sachsen offeriert das Landesamt für Denkmal- pflege zwei Gotteshäuser aus dem 17. Jahrhundert. Grund: Für die Sanie- rung fehlt das Geld, für lebendige Frömmigkeit mangelt es an Gläubigen. Die Magdeburger Landeskirche be- schloß, daß „einer nichtkirchlichen Nutzung von Kirchen grundsätzlich

nichts im Wege steht“. Bischof Chri- T. HÄRTRICH / TRANSIT stoph Demke: „Es gibt allerdings zu Kostümfundus der Sächsischen Staatsoper in der Dresdner Garnisonskirche P. LANGROCK / ZENIT H. GUTMANN / FORMAT Sozialwohnungsbau in der Berliner Lutherkirche Motorradmuseum in der Otterbacher Kirche

wenige geeignete Interessenten.“ Denn dürfe der Verkauf auch im Westen kein schen Staatsoper. In Landsberg am so bunt wie etwa in Holland, wo Kir- Tabu mehr sein. In ganz Deutschland Lech dient die Leonardi-Kapelle des chen schon in Schwimmbäder verwan- haben von 25 000 evangelischen Kir- Ursulinenklosters als Blumenladen. delt wurden, soll die Säkularisierung chen 50 einen neuen Herrn gefunden. Andernorts sorgen ehemalige Gottes- hierzulande nicht getrieben werden. In der Spandauer Lutherkirche werden häuser weiterhin für Erbaulichkeit – Elisabeth Lingner, Synodenpräsidentin neun Sozialwohnungen hochgezogen, als Museum für Jagd und Fischerei in der Nordelbischen Kirche, meint, ange- die Dresdner Garnisonskirche beher- München oder für Motorräder im pfäl- sichts der Finanzmisere bei den Kirchen bergt den Kostümfundus der Sächsi- zischen Otterbach.

Öffentlicher Dienst chen Dienst kommen. Bis Ende April läuft der aktuelle Tarif- vertrag mit einem Einkommenszuwachs von 3,2 Prozent. Da- nach, so vermutlich die Schätzung des Finanzministers, wer- Mehr Geld für den Kanzler den die Gewerkschaften Lohn- und Gehaltserhöhungen von mehr als 5 Prozent durchsetzen. Bundesfinanzminister (CSU) rechnet offenbar Vorteilhaft wirkte sich das auch für die führenden Repräsen- für 1996 mit außergewöhnlich hohen Lohnsteigerungen im tanten des Staates aus. Auf das Amtsgehalt von Bundeskanz- Öffentlichen Dienst. Nach seinem Etat-Ansatz nimmt die ler hat Waigel im Haushaltsansatz gleich fünf Zahl der Bundesbediensteten zwar künftig ab, die Planstellen Prozent aufgeschlagen. Kohls Bezüge sollen um 15 000 auf werden um über 11 000auf 215 595gekürzt. Aber dievorgese- dann rund 317 000 Mark wachsen. Bundespräsident Roman henen Ausgabenbleiben mit 41,6 Milliarden Mark nahezu un- Herzog darf sich gar auf 17 000 Mark zusätzlich freuen; er be- verändert. Unterm Strich macht das pro Kopf rund fünf Pro- kommt dann etwa 353 000 Mark. Außerdem stehen dem zent höheren Sold aus. Einen Teil der Kosten verursacht der Kanzler und dem Präsidenten noch jeweils etwa 30 000 Mark Staat selbst, etwa durch höhere Sozialabgaben. Der größte an Ortszuschlägen, Sonderzuwendungen oder Dienstauf- Teil aber muß auserklecklichen Tariferhöhungen im Öffentli- wandsentschädigungen zu.

16 DER SPIEGEL 35/1995 .

DEUTSCHLAND

Republikaner dergang? „Ehrgeizige und geldgierige FDP Rep-Funktionäre“ und die Feinde von Ehrgeizig und geldgierig außen. Sogar Selbstkritik übt Schön- huber an einer Stelle: Abgrenzungen „Das adelt“ Er war der Schrecken vieler Demokra- gegen Rechtsextremisten in der eige- ten, inzwischen ist Franz Schönhuber, nen Truppe seien falsch gewesen. FDP-Generalsekretär Guido 72, nur noch für die Führung der Re- Der Autor bekennt „eine gewisse Sym- Westerwelle, 33, über publikaner bedrohlich: Die ehemalige pathie für den Menschen Mussolini“ Basisentscheidungen in seiner Partei Galionsfigur der Rechtspopulisten hat und schwärmt von den Russen – an das mal wieder ein Buch geschrieben. Dar- „bildschöne Liftgirl“ in einem Mos- SPIEGEL: Herr Westerwelle, die FDP in beklagt Schönhuber die „geringe kauer Hotel etwa erinnert sich Schön- hat jetzt auch, wie zuvor schon die geistige Potenz der Partei“ und mo- huber, der „hoffnungslose Slawophile, SPD, die Basis als Hort der Vernunft kiert sich über „das poltrige Auftreten besonders bei Frauen“. Ansonsten läßt entdeckt. Wollen die Liberalen sich von nicht wenigen unserer Funktionä- er sich weitläufig über die Sitzordnun- am Zeitgeist-Surfen beteiligen? re“. Gemeint sind selbstverständlich gen bei Tafelrunden rechter Führer Westerwelle: Die SPD kennt bisher immer die anderen, etwa sein Nachfol- aus. nur das Instrument der Mitgliederbe- ger Rolf Schlierer („labiler, entschei- Schönhubers Buch erscheint in der fragung. Wir aber wollen einen Mit- dungsschwacher Mann“). Verlagsgesellschaft Berg des bräunli- gliederentscheid. Das heißt, wenn sich Rechtzeitig zur Buchmesse schüttet chen Verlegers Gerd Sudholt, der seit daran mehr als 25 Prozent der Mitglie- Schönhuber unter dem knatternden langem einen Stammplatz im Verfas- der beteiligen, dann ist das, was sie Titel „In Acht und Bann – Politische sungsschutzbericht hält. Zunächst hat- entscheiden, auch der politische Wille Inquisition in Deutschland“ auf mehr te Schönhuber sein Opus dem Verle- der gesamten Partei. als 370 Seiten sein Herz aus. Die Reps, ger Herbert Fleissner angeboten. Der Mit Zeitgeist hat die Sa- räsoniert er, hätten „eine Mischung hätte es gern im Ullstein-Verlag ge- che nichts zu tun, son- aus Don Quichotterie, Burleske und druckt, wollte es aber seinem Partner, dern mit der Belebung Trauerspiel“ geboten. Schuld am Nie- dem Springer-Verlag, nicht zumuten. der innerparteilichen Demokratie. SPIEGEL: Die Basis soll Subventionen ler rechtfertigt die Regierung mit ei- jetzt über den großen nem Urteil des Bundesverfassungsge- Lauschangriff entschei- Versteckte Geschenke richts: 7,5 Milliarden Mark, mit denen den und das Parteitags- bislang die Verbraucher die Steinkohle votum aushebeln? Mit mehr Subventionen und Steuer- direkt über den Kohlepfennig subven- Westerwelle: Wir ha- vergünstigungen denn je will die Bun- tioniert hatten, müßten nunmehr im ben auf Bundesebe- desregierung 1996 Bauern, Bergleute Haushalt aufgeführt werden. So stie- ne zwei Parteitagsbe-

und Industrielle beglücken. Der – noch gen die Subventionen rechnerisch, fak- schlüsse gegen den W. V. BRAUCHITSCH streng vertrauliche – Subventionsbe- tisch nähmen sie aber im Westen ab sogenannten großen Westerwelle richt, der am kommenden Freitag im und stagnierten im Osten auf hohem Lauschangriff. Mehre- Bundeskabinett beschlossen werden Niveau. re Landesparteitage aber haben sich soll, sieht für 1996 Staatsgeschenke im Tatsächlich aber fließen immer mehr für die Abhörmöglichkeit auch in Werte von 42,726 Milliarden Mark Gelder aus Sonderetats. Für die Bau- Wohnungen ausgesprochen – unter en- vor. Bislang reichten im Schnitt 36 Mil- ern etwa weist der neue Subventions- gen rechtsstaatlichen Bedingungen. liarden, um Krisenbranchen und Zu- bericht zwar von 6,7 (1993) auf 4,6 Ich finde, es adelt eine Partei, wenn kunftsbetriebe zu fördern. Die neue Milliarden Mark sinkende Zuwendun- jetzt auf Antrag von mehr als fünf Lan- Freigebigkeit zu Lasten der Steuerzah- gen aus. Darüber hinaus aber fließen desverbänden die Parteibasis entschei- dem Landvolk inzwi- den soll. Der Ausgang ist vollkommen schen über 12 Milliar- offen. den Mark aus der SPIEGEL: Zwei FDP-Prominente sind Brüsseler EU-Kasse Gegner des großen Lauschangriffs: Ju- zu. Die ist zuvor von stizministerin Leutheusser-Schnarren- den Deutschen in ent- berger und Außenminister Kinkel. sprechender Höhe be- Westerwelle: Auch ich habe meine ab- stückt worden, doch lehnende Meinung nicht geändert. Nur die Summe wird nicht muß es doch jeder in der Parteiführung als Subvention ver- ertragen können, wenn die Mitglieder bucht. in einer Urabstimmung zu einem ande- Ganz ähnlich ist es mit ren Ergebnis kämen. dem ERP-Topf, aus SPIEGEL: Soll die Justizministerin des- dem die Regierung avouiert werden? Kohl Finanzhilfen an Westerwelle: Sie hat die volle Unter- die Wirtschaft verteilt. stützung der FDP, ebenso wie die an- Er war 1990 mit knapp deren Minister. Aber wenn Parteimit- 6 Milliarden Mark ge- glieder nur noch absegnen dürften, füllt, 1993 schon mit 9 was Führungsmitglieder vorgeben, wä- und in diesem Jahr mit re das Ende der innerparteilichen De- 13,6 Milliarden Mark – mokratie gekommen. Außerdem ent-

M. LANGE / VISUM samt und sonders ka- scheidet sich am Lauschangriff nicht Kohle-Abbau im Ruhrgebiet schierte Subventionen. Liberalität oder Illiberalität.

DER SPIEGEL 35/1995 17 .

PANORAMA

Barschel-Affäre Neue Spuren in Blut und Urin

eit Jahren beschäftigt sich der MünchnerToxikologeLudwigvon SMeyer immer wieder mit einem der rätselhaftesten Todesfälle der deut- schen Nachkriegsgeschichte. Er ver- sucht aufzuklären, wie der ehemalige CDU-Ministerpräsident Uwe Barschel am 11. Oktober 1987 im Genfer Hotel „Beau-Rivage“ zu Tode kam. Bislang galt Meyer als Frondeur jener Wissenschaftler, die Mord kategorisch ausschlossen. Jetzt besinnt er sich an- ders. In einem knapp 20 Seiten starken Gut- achten für die Lübecker Staatsanwalt- schaft schließt Meyer nicht mehr aus, daß Barschel, dessen Leiche in der Ba- dewanne von Zimmer 317 gefunden worden war, ein todbringender Medi- kamenten-Cocktail eingeflößt wurde. Das geht aus einer seit Ende voriger Woche in München kursierenden Ex- pertise des Instituts für Rechtsmedizin hervor. Mord oder Sterbehilfe scheint nach den neuen Erkenntnissen möglich. Die Lübecker Ermittler hatten Meyer und dessen Kollegen Wolfgang Eisen- menger Material zur Verfügung ge- stellt, das merkwürdigerweise keinem der früheren Gutachter vorlag: Teile der inneren Organe, darunter dieGalle, sowie der gesamte Mageninhalt von Barschel. Zustand und Menge der Stof- fe, erklärte ein Lübecker Ermittler dem SPIEGEL, seien „geradezu sensatio- nell“. Auch stand den Münchner Wis- senschaftlern mehr Urin und Blut zur

Verfügung als bei bisherigen Untersu- STERN chungen. Toter Barschel: Medikamenten-Cocktail eingeflößt? Die Asservate waren den deutschen Er- mittlern überraschend bei einem Be- bletten Pyrithyldion, der Brechreiz- Die Expertise aus München erleichtert such in Genf von Schweizer Kollegen hemmer Diphenhydramin und das der Lübecker Staatsanwaltschaft die ausgehändigt worden. Unklar bleibt, Nervenmittel Perazin – sowie das star- Arbeit im Todesfall Barschel nicht. warum die Körpergewebe nicht früher ke Schlafmittel Cyclobarbital einge- Unter dem Aktenzeichen 705 Js freigegeben worden sind. flößt worden sein: möglicherwei- 33247/87 ermittelt seit Ende vergange- Meyer und Eisenmenger entdeckten in se, nachdem er bereits bewußtlos nen Jahres eine fast zehnköpfige Grup- Galle und Blut Barschels eine hohe Do- war. pe von Polizisten und Strafverfolgern. siseines Arzneimittelwirkstoffs namens Die mit mehr als einem halben Liter Ihre Arbeitshypothese: Mord. Methyprylon. Dieser Wirkstoff wird in gefüllte Blase Barschels deutet nach Grundlage dafür ist ein Gutachten des starken Schlafmitteln wie Noludar ver- Meinung der Gutachter auf lange Be- Zürcher Toxikologen Hans Branden- wendet und kann, so die Schlußfolge- wußtlosigkeit vor dem Tod hin. berger. Der emeritierte Professor war rung der Gutachter, in Verbindung mit Anders als die früheren Gutachter ent- bereits im vergangenen Jahr zu dem Alkohol zu Bewußtseinsstörungen oder deckten die Münchner Toxikologen Ergebnis gekommen, es sei „sehr un- gar Bewußtlosigkeit führen. Das vom Alkohol im Körper Barschels. Es wahrscheinlich“, daß Barschel „noch Schweizer Arzneimittelkonzern Hoff- könnte sich um Rotwein und Whisky handlungsfähig“ gewesen sei, als ein mann-La Roche vertriebene Mittel gilt handeln – leere Flaschen waren im tödliches Medikament in seinen Kör- als Suchtauslöser und wurde 1988 vom Zimmer Barschels gefunden worden. per gelangte. Markt genommen. Die bisherigen Gutachter hatten nur Doch bei der Frage nach dem Motiv Nach der Einnahme von Noludar könn- das Blut auf Alkohol untersucht – eventueller Täter sind die Fahnder kei- ten Barschel drei vergleichsweise harm- Meyer und Eisenmenger machten die nen Schritt vorangekommen. Als Bar- lose Medikamente –die Beruhigungsta- Restbestände im Urin aus. schel-Mörder ist schon über bulgari-

18 DER SPIEGEL 35/1995 sche Killer, russische Geheimdienstler und deren Kollegen aus dem deutschen Osten spekuliert worden, ohne daß es plausible Spuren gäbe. Ein Anfang des Jahres vom Leitenden Oberstaatsanwalt Heinrich Wille einbe- rufener Runder Tisch deutscher Ge- heimdienste ließ die Ermittler ratlos zu- rück. Wille meinte damals erbost: „Die Dienste haben uns belogen und immer nur das zugegeben, was sie wußten.“ Ob tatsächlich der Bundesnachrichten- dienst (BND) oder das Bundesamt für Verfassungsschutz Interna zurückhält, ist nicht bewiesen. Zumindest der BND hat sich,nicht nur nach Meinung der Lü- becker Ermittler, im Fall Barschel mit fragwürdigen Zulieferungen diskredi- tiert. „Wenn Geheimdienste ihre Hand im Spiel haben“, meinte Wille, „erfah- ren wir nie, wie es wirklich war.“ Aufwendige Ermittlungen nach der Rolle der Ost-Berliner Staatssicherheit führten ebenfalls ins Nichts. Weder in Archiven noch bei Vernehmungen von Zeugen ergaben sich Anhaltspunkte für eine Verwicklung der Stasi in den Fall Barschel. Nach ihren bisherigen Erkenntnissen wollen die Ermittler allerdings nicht ausschließen, daß sich der frühere CDU-Ministerpräsident in illegale deutsch-deutsche Technologie-Trans- fers oder in Waffengeschäfte verstrickt hatte und deshalb umgebracht wurde. Sie glauben, Spuren in der ehemaligen Tschechoslowakei gefunden zu haben, doch es mangelt auch da an handfesten Belegen. „Vielleicht wußte Barschel et- was“, so Wille, „was anderen gefährlich werden konnte.“ Mord oder Sterbehilfe? Die Geschichte eines aufgeregten Samariters würde das Durcheinander in Barschels Hotelzim- mer erklären und auch das flüchtige und unprofessionelle Beseitigen von Spu- ren. Der Stuttgarter Anwalt Karl Eg- bert Wenzel hatte jüngst die Lübecker Fahnder auf diese Möglichkeit auf- merksam gemacht. Es gebe Hinweise, so der Anwalt, daß sich am Abend des 10. Oktober 1987 Aktivisten der Deut- schen Gesellschaft für Humanes Ster- ben (DGHS) im „Beau-Rivage“ aufge- halten hätten. Tags darauf war Barschel tot. Fest steht: Damals waren sogenannte Todesengel der DGHS mit Pillen und Rezepturen unterwegs – Spezialisten fürs Töten aus Mitleid. Allerdings: In keiner der von den Staatsanwälten si- chergestellten Todeskladden tauchte der Name Dr. Uwe Barschel auf. Nun soll High-Tech zur Lösung des Rät- sels beitragen. Als nächstes wird Bar- schels Haarbürste mit aufwendiger Analyse nach den Haaren eines Frem- den untersucht. .

PANORAMA

Datenschutz Mahnungen nicht bezahlt, muß damit Brandenburg rechnen, daß sein Auto per Kralle Kuckuck mit Kralle blockiert wird. Gegen diese Praxis, Minister im Zwist pflichtvergessene Bürger wie einst im In Nordrhein-Westfalen werden säu- Mittelalter an den Pranger zu stellen, Im Brandenburger Kabinett liefern sich mige Schuldner öffentlich angepran- protestieren die Landesdatenschützer. zwei Minister einen Kleinkrieg um gert. Wer etwa die Grundsteuer für Vor allem ans Türschloß gepapp- Kompetenzen. Justizminister Hans Ot- sein Haus oder die Müllabfuhr trotz te Pfandsiegel und grelle Zettel to Bräutigam (parteilos) wirft seinem („Vollstreckungsbehör- Kollegen, Innenminister Alwin Ziel de“) auf der Frontschei- (SPD), vor, er habe in einem Strafver- be gehen dem Düsseldor- fahren rechtswidrig Druck auf die fer Datenwächter Horst Staatsanwaltschaft ausgeübt. Dabei Dressler zu weit: Das ging es um ein Trio, das einen türki- grenze an Verletzung der schen Imbiß überfallen hatte. Das In- Persönlichkeitsrechte. nenministerium machte sich bei der Dressler will die betref- Staatsanwaltschaft und dem Justizmini- fenden Städte auffor- sterium für ein „beschleunigtes Verfah- dern, diese Art Schand- ren“ gegen einen der drei, einen Heran- strafe zu unterlassen. In wachsenden unter 21 Jahren, stark. Im Dortmund etwa wurden „beschleunigten Verfahren“ sind die bereits rund hundert Au- Rechte des Angeklagten erheblich ein- tos an die Kralle gelegt. geschränkt. Bräutigam rügte Ziels Ver- Die Verwaltungen halten such, Einfluß auf die Justiz zu üben, als diese Methode, ausste- „wenig hilfreich“. In seiner Antwort hende Gelder einzutrei- zeigte sich der Gescholtene uneinsich- ben, für legitim. „Wer ei- tig. Er kenne „sehr wohl die Aufgaben ne solche Kralle am Rad der Staatsanwaltschaft“. Bei schlimmen hat“, so ein Verwaltungs- Gewalttaten nehme er sich jedoch das

J. DIETRICH / NETZHAUT angestellter, „zahlt ruck, Recht, dieStaatsanwaltschaft über „alle Parkkralleneinsatz in Recklinghausen zuck.“ geeigneten Mittel“ zu informieren.

INTERVIEW

Proteste hier einen handlichen Blitzableiter frei Haus geliefert. SPIEGEL: Haben sich Mahnwachen „Ein neues Wutgefühl“ und Demonstrationen überlebt? Beck: Keinesfalls, aber der politische Der Münchner Soziologe Ulrich Beck: Die politische Stellungnahme Ort ist nicht mehr die Straße, sondern Beck, 51, über Boykotte und kostet den einzelnen wenig bis gar die inszenierte Aktion im Fernsehen. Segeltörns als Protestform nichts, es sei denn, man ist Liebhaber Deshalb sind Segeltörns in der Welt- französischen Champagners. Im Fall risikogesellschaft erfolgreicher als De- SPIEGEL: Herr Beck, segeln Sie zum Shell konnten wir bei Aral tanken und mos im Bonner Hofgarten. Die Fahrt Atomprotest nach Mururoa? mit gestärktem Ökogefühl mit 180 zum Atoll selbst ist bedeutungslos. Beck: Nein, man muß gar nicht mitse- über die Autobahn rasen. Das ist ein Erst durch die öffentliche Inszenierung geln. Im Medienzeitalter sind wir ganz neues Demonstrations- und Wut- eines Bösewichts bekommt die Sache doch alle dabei. Das ist globaler Polit- gefühl: Jeder ist randvoll mit schlech- Bedeutung: Der Kick, den die Men- Boxkampf mit weltweiter aktiver Zu- tem ökologischen Gewissen und kriegt schen dabei spüren, hat ansteckende schauerbeteiligung – über viele Wo- Wirkung. Das ist faszinierender als ein chenrunden bis zum K.o. des französi- Krimi und gleichzeitig eine enorme Po- schen Präsidenten Chirac und seiner litisierungserfahrung, die Schule ma- Grande Nation. Was will man mehr? chen wird. SPIEGEL: Muß Protest heute Spaß ma- SPIEGEL: Die neuen Proteste wenden chen? sich gegen konkrete Übeltäter wie Beck: Spaß ist eine zusätzliche Moti- Shell oder Chirac. Warum gibt es vation. Wie Teilnehmer einer Marlbo- nichts Gleichartiges gegen den Krieg ro-Abenteuer-Tour können sich die auf dem Balkan? Segler neue Welten erobern. Gleich- Beck: Auf das fürchterliche Gemetzel zeitig betreiben sie noch ein Stück in Bosnien gibt es für den einzelnen Weltpolitik und erzielen Aufmerk- keine direkte Einflußmöglichkeit. Gä- samkeit. be es eine weltbekannte serbische Au- SPIEGEL: Deutsche Wirte tragen fran- tomarke, so würde die nur noch von ei- zösischen Rotwein in den Keller, An- nigen Russen oder Griechen gekauft gestellte lassen Faxgeräte und Com- werden. Hier wird deutlich, daß der puter der französischen Botschaften Boykott nur eine Waffe gegen die wirt- überquellen – jeder von seinem Ar- schaftlich potenten Weltmarktstaaten

beitsplatz aus. Wie erklären Sie diese W. M. WEBER und Konzerne ist – nicht gegen die Ha- neuen Formen des Protests? Beck benichtse und Aggressoren der Welt.

20 DER SPIEGEL 35/1995 Werbeseite

Werbeseite SPD-Wahlkampfauftakt 1995 in Berlin, mit Spitzenkandidatin Ingrid Stahmer (Mitte): „Bedrohliche Stimmungslage zwischen

SPD „Verschlissen, verkungelt“ Die SPD, einst beherrschende Kraft in den Metropolen, ist in ihren früheren Hochburgen auf Talfahrt: Die Mitglieder- zahlen haben sich teilweise halbiert, der Wähleranteil sank in Frankfurt, Berlin oder München von über 50 auf fast 30 Prozent. Die Genossen haben den Strukturwandel verschlafen und üben sich in Ratlosigkeit.

Volkspartei bedeutet im Volk zu sein. ben leer. Etliche, die noch als treue Ge- Wie in Hannover geht es so ziemlich SPD-Parteitag Bremen 1991 nossen galten, sind längst keine mehr. überall in den Metropolen der Republik Der Schwund kommt einer Auszeh- mit den Sozialdemokraten immer orkshop im SPD-Ortsverein. rung gleich. Seit 1975 verlor die SPD in schneller bergab. In Frankfurt, Mün- Auf den Tischen liegen stark Hannover, wo die von den Nazis zer- chen, Berlin und Bremen – einst rote Wvergrößerte Stadtteilkarten von schlagene Partei nach dem Krieg unter Hochburgen – liegen ihre Stimmanteile Hannover. „Jedes Haus“, erklärt der Führung Kurt Schumachers wiederer- gerade noch über 30 Prozent. Seminarleiter, „in dem ihr ein SPD- stand, nahezu die Hälfte ihrer einst über Tendenz fallend: Bei der Kommunal- Mitglied findet, bekommt einen 12 000 Mitglieder – und fast 75 000 Wäh- wahl in Stuttgart erreichte die dort oh- Punkt.“ Eifrig machen sich die gestan- ler. nehin schwache Partei 1994 nur noch denen Kommunalpolitiker auf die Su- Aufgeschreckt von den Horrorzahlen, 26,2 Prozent. Und bei der Europawahl che und kleben bunte Kreise auf den müht sich der SPD-Unterbezirk Hanno- vor 14 Monaten votierten in Frankfurt Plan. ver-Stadt derzeit, die Arbeit an der Basis nur noch 27,8 Prozent sozialdemokra- Doch die Ausbeute ist noch magerer wieder anzukurbeln. Die Schocktherapie tisch. Fünf Jahre zuvor waren es noch als erwartet. Ganze Straßenzüge blei- beim Mitgliederzählen gehört dazu. 35,6 Prozent.

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Zehntausende von Mitgliedern haben prägten das Bild einer bürgernahen die Partei bereits verlassen. Viele Bezir- SPD. ke sind hochverschuldet. „Ich habe Inzwischen gerät die Partei in ihren nicht mal das Geld“, sagt die Münchner früheren Hochburgen mehr und mehr in Parteichefin Ingrid Anker, „um Mitglie- die Rolle des Priesters ohne Gemeinde. der-Infos zu verschicken.“ Die klassische Klientel stirbt ihr weg, In Hamburg, wo sich die SPD mit Re- die Grünen hat sie verschlafen. Die sten der Statt Partei an die Macht klam- Großstädte sind zum Seismographen für mert, stehen die Genossen auf den den Niedergang der SPD geworden – Trümmern früherer Popularität. In der und zum Testfeld für ihre Reformfähig- Bevölkerung, so der Parteivorsitzende keit. „In den Metropolen“, so der Wies- Jörg Kuhbier, verbreite sich „eine für badener Soziologe Konrad Schacht, die SPD bedrohliche Stimmungslage „entscheidet sich die Zukunft der SPD.“ zwischen Ablehnung oder Interesselo- Erstes Warnzeichen für den Nieder- sigkeit“. gang war, paradoxerweise, das Ergebnis Sogar im Ruhrgebiet, dem letzten der Bundestagswahl 1972. Die Sozialde- deutschen Sozi-Paradies, laufen die mokraten erreichten damals auf Bun- Kumpels davon. Bei der Landtagswahl desebene mit 45,8 Prozent ihr historisch im Mai brach die an Zahlen zwischen 60 bestes Ergebnis in der Nachkriegszeit, und 70 Prozent gewöhnte Partei schwer kurz danach verloren sie in den Dienst- ein – in der Arbeiterstadt Dortmund leistungszentren München, Frankfurt büßte sie rund 6 Prozentpunkte ein. und Stuttgart. Doch die Funktionäre „Die SPD verliert ihre Leitkompe- übersahen das Menetekel. tenz“, sagt der Essener Kommunikati- Hier machte sich bereits der soziale onswissenschaftler Martin Pape. Wandel bemerkbar, der nach und nach Jahrzehntelang war die Sozialdemo- die SPD-Stammklientel, die Arbeiter- kratie die beherrschende politische schaft, dahinrafft. Industrie- und Ge- Kraft in den Metropolen, sie avancierte werbearbeitsplätze wurden zu Tausen- nach dem Krieg zur Rathauspartei. In den abgebaut, immer mehr Menschen Hannover, Hamburg und Frankfurt la- arbeiteten in den Weiße-Kragen-Jobs gen ihre Ergebnisse häufig über 50 Pro- der Dienstleistungsbranche. zent, im Revier und in Berlin zeitweise Riesige Unternehmenskolosse, jahr- sogar über 60 Prozent. zehntelang quasi Zulieferbetriebe für Angesehene SPD-Bürgermeister wie die SPD, wurden zerlegt und schrumpf- in Bremen, Willy ten zusammen, wie etwa die Werftbe- Brandt in Berlin, Hans-Jochen Vogel in triebe in Bremen. Dort blieben von München, Walter Kolb und Werner 25 000 Arbeitsplätzen nur 6000 übrig.

J. P. BOENING / ZENIT Bockelmann in Frankfurt, Max Brauer In manchen Zentren des Ruhrgebiets Ablehnung oder Interesselosigkeit“ und in Hamburg brachen der Partei große Teile der Basis weg. In Essen etwa gibt es heute keine Zeche mehr, keine Kokerei, keinen Stahlbetrieb. Hier lebt die Partei noch von alten Zeiten. Gleichzeitig erfaßte die Gewerkschaften, stets eine sichere Bank für die SPD, anhalten- der Schwund. Seit 1991 mußten die DGB-Ge- werkschaften zwei Mil- lionen Mitglieder strei- chen. „Langjähriges Gewerkschaftsmitglied gleich SPD-Wähler“, klagt Bremens neuer Bürgermeister Hen- ning Scherf, „die For- mel stimmt nicht mehr.“ Während die Gesell- schaft sich wandelte, blieb die SPD stehen. Ihre Elite rekrutiert sich heute aus denen, die in den siebziger Jah- ren in die SPD ström-

J. H. DARCHINGER ten. Die siebziger Jah- SPD-Bundestagswahlkampf 1972 mit Kanzler Brandt in Rastatt: Das war der Willy-Schub re, das war der Willy-

DER SPIEGEL 35/1995 23 Schub. Scharenweise kamen junge Aka- demiker in die SPD, engagierten sich bei den Jusos – angezogen von dem Charismatiker . Die ehrgei- zigen jungen Leute, häufig Kinder aus einfachen Verhältnissen, lebten vor, was die SPD quer durch die Schichten erreichen wollte: die bildungspolitische Emanzipation, den sozialen und wirt- schaftlichen Aufstieg. Der hannoversche Bezirksvorsitzende Wolfgang Jüttner etwa ist Sozialwissen- schaftler, der Dortmunder SPD-Chef Bernhard Rapkay studierte Mathematik und Volkswirtschaft, der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude Jura. „Etwa ein Viertel unseres Bezirksvor- standes“, so Jüttner, „ist promoviert.“ Die Münchner Parteivorsitzende An- ker, Sozialwissenschaftlerin, unter- schreibt sogar Parteiflugblätter mit dem Doktortitel. Doch für die Partei wurden die Em- porsteiger zum Handikap: Sie verprell- ten die Stammwähler, die kleinen Leu- te. Je schlauer ihre Eliten wurden, desto mehr entfernten sich die Sozialdemo- kraten von ihren Milieus – darin sind sich Hamburger SPD-Rechte wie links- gerichtete Münchner Sozis einig. Ude: „Die Toskana-Fraktion hat die soziale Optik verstellt.“ Gerade mal die Älteren, wie der frü- here Bremer Bildungssenator Horst von „Der Mythos von der Arbeiterpartei muß fallen“

Hassel, 67, erinnern sich noch, „wie die Mutter im Zuber das schwere Drillich- zeug vom Vater schrubbte“. Die Jun- gen, so Hassel, „haben Solidarität nie erfahren, sie haben das höchstens an der Uni gelernt“. Wer, so mosern die Altgenossen, hocke sich denn heute noch an miefige Stammtische oder fahre samstags raus zu den Kleintierzüchtern? „Wir haben niemanden mehr“, klagt Hannovers Be- zirkschef Jüttner, „der auf die Schützen- feste geht.“ Gerade dort, wo sie sich in ewiger Erbpacht wähnten, müssen sie wieder von vorn anfangen, das haben die Groß- stadt-Sozis inzwischen erkannt – bei den Vereinen und den Kleingärtnern. Die Wahlanalysen zeigen, wo die ent- täuschten SPD-Wähler sitzen, die zu Hause bleiben oder rechts wählen: in den einfacheren Quartieren, den Groß- siedlungen des sozialen Wohnungsbaus, einst Errungenschaften sozialdemokra- tischer Politik. Wie ein Gürtel liegen diese Siedlun- gen am Rande Bremens. Dort ist die SPD von einstmals 70 auf 40 Prozent ab- gestürzt. .

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Doch selbst wenn sich die SPD wieder konzentriere. „Wir dürfen nicht zur Par- Hamburg, München – ein Katalog von auf die alten Schichten besinnen würde, tei der Schlechterverdiener werden“, Abfälligkeiten. Tatsächlich geben die reichte das für Mehrheiten nicht mehr sagt ein Münchner SPD-Ratsherr. Mehr- Metropolen-Sozis ein ärmliches Bild ab: aus. Siemuß neue Wählergruppen ansich heiten sind damit ohnehin nicht zu holen. i In Frankfurt befindet sich die Partei ziehen, das aber ist ihr bisher nicht gelun- In Hamburg istdie Partei auf der Suche im freien Fall, seit die rot-grüne Ko- gen. Von Bremen bis München sind die nach dem richtigen Kurs in zwei Lager alition an Personalscharmützeln Sozialdemokraten ratlos, wie sie die zerfallen. Auf der einen Seite die Moder- platzte und SPD-Oberbürgermeister Grätsche aushalten sollen – zwischen den nisierer um Parteichef Kuhbier, auf der Andreas von Schoeler die Direktwahl Schwachen und den vielfältigen Milieus anderen die Traditionalisten um den frü- gegen seine CDU-Herausforderin Pe- der modernen, individualistischen Lei- heren Bausenator Volker Lange. tra Roth verlor. stungs- und Genußgesellschaft. „Uns Während Kuhbier fordert, der „My- i In Hamburg gilt die SPD nach 50jäh- fehlt die Klammer“, so der Dortmunder thos von der Arbeiterpartei muß fallen“, riger Regentschaft als hochgradig sa- Rapkay. wollen die Lange-Anhänger „die alte nierungsbedürftig. Auch hier schei- Franz Maget, Münchner Landtagsab- Identität von gesellschaftlichem Engage- terte Rot-Grün. Die Partei, so Frakti- geordneter und Sozialwissenschaftler, ment und Sozialdemokratie“ wiederher- onschef Günter Elste, befinde sich in hat das Dilemma für sich gelöst. Weil er gestellt sehen. „Traditionelle SPD-The- einer „abwärts gerichteten Sägezahn- die frohe Botschaft für alle noch nicht ge- men“, so heißt es in einem Strategiepa- kurve“. funden hat, führterzwei unterschiedliche pier, „haben auch heute nichts von ihrer i In Bremen hat sich die SPD nach dem Wahlkämpfe. Magets Wahlkreis im Aktualität eingebüßt.“ Schock über die Abspaltung der AfB, die bei der Wahl im Mai auf Anhieb über 10 Prozent der Wählerstimmen holte, in ei- ne Große Koalition geflüch- tet. Die Partei schlug bei 33,4 Prozent auf – das schlechteste Wahlergebnis nach dem Krieg. i In München gelten die Ge- nossen als „rote Schlaffis“ (Abendzeitung), die sich kraftlos über die Runden schleppen. Die wilden Flü- gelkämpfe früherer Jahre sind ausgestanden, dafür sind die Mitgliederzahlen und die Wahlergebnisse im Keller: Bei der Kommunal- wahl im vergangenen Jahr landete die SPD bei 34,4 Prozent, weniger Wähler hatte die Partei zuletzt anno 1948. i In Berlin haben die Sozial- demokraten in 15 Jahren

W. HUPPERTZ / AGENDA sieben Parteivorsitzende Demonstrierende Werftarbeiter*: Die Stammwähler verprellt verschlissen. In der Großen Koalition mit der CDU sind Münchner Norden ist eine Reise durch Die Gründung der Partei „Arbeit für sie noch blasser als der Regierende die Schichten der deutschen Gesell- Bremen“ (AfB), einer rechten SPD-Ab- Bürgermeister Eberhard Diepgen von schaft. spaltung, sehen einige Sozialdemokra- der CDU. Sie beginnt in den schönen und teuren ten schon als erstes Zeichen einer dro- So unterschiedlich das lokale Profil, Altbauten Schwabings bei Künstlern, henden Spaltung. Die AfB, so Hassel, so sehr ähnelt sich die Großstadt-SPD Intellektuellen, Zahnärzten und Rechts- signalisiere womöglich den „Beginn des doch in ihren strukturellen Proble- anwälten. Sie führt über das gemischte, Zerfalls nicht mehr zusammenhaltbarer men. von Arbeitnehmern höherer und niede- Gruppen“. Zu schaffen macht den Sozialdemo- rer Stände beherrschte Viertel Milberts- Die SPD wird häßlich im Kranken- kraten in den Rathäusern vor allem das hofen, wo BMW seinen Sitz hat, an den bett, doch sie ist zu schwach, um aufzu- Ende der finanziellen Freigebigkeit. Al- Stadtrand zu den Sozialwohnsiedlun- stehen. Als in den achtziger Jahren die lerorten ächzen die Städte unter einer gen. Dort holt Maget stets die wenigsten Krise längst unübersehbar war und der gewaltigen Schuldenlast, öffentliche Stimmen. Schimmel am Samt vergangener Jahre Schwimmbäder, Büchereien, Theater Zwei Welten, zwei Strategien: In nagte, verwandten die Sozialdemokra- werden geschlossen. Schwabing talkt Maget locker auf Partys ten noch immer mehr Energie auf die Die Finanzkrise der Städte habe eine und Info-Börsen, in Milbertshofen ar- Pflege ihrer örtlichen Parteibiotope als wichtige SPD-Struktur zerschlagen, „die beitet er die Kleingärten und die auf die Menschen, für die sie eigentlich verläßliche Interessengemeinschaft des Stammtische ab. Politik machen. Verteilens funktioniert nicht mehr“, Viele Genossen fürchten, die SPD „Verschlissen, abgewirtschaftet, ver- sagt der Essener SPD-Fraktionschef verkomme zur Sozialhilfepartei, wenn kungelt, der Seilschaften überdrüssig, Willi Nowack. Zu lange konnten SPD- sie sich zu sehr auf das untere Drittel langweilig“, beschreibt der Göttinger Stadtpolitiker mit vollen Händen ausge- Politologe Franz Walter die Großstadt- ben – und sich mit Jobs und Karrieren * 1992 in Emden. SPD in Bremen, Frankfurt, Berlin, bedienen. Da halfen schon die vielen

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SPD-Mitglieder im Öffentlichen Dienst, in Berlin fast 60 Prozent. Jetzt holen Filz und Klüngel die Ge- nossen ein. Sei es in Mülheim, wo die frühere SPD-Oberbürgermeisterin zum Sozialtarif in einer Wohnung der Stadt lebte, sei es in Essen, wo der Gartende- zernent städtische Mitarbeiter in seinem Privatgarten jäten ließ. Auch der lang- jährige SPD-Fraktionschef fand nichts dabei, gleichzeitig Abteilungsleiter bei der stadteigenen Messegesellschaft zu sein. In Bremen profitierten Sozialde- mokraten jahrelang von üppigen Spen- den der Stadtwerke. Der zurückgetretene Bremer Bürger- meister Klaus Wedemeier, für seine lu- xuriöse Amtsführung berüchtigt, läßt sich auf Kosten der Steuerzahler weiter mit Aufsichtsratsposten, stadteigenem Büro und Personal versorgen. Selbst die Bürgermeister-Ehrenkarten bei Werder Bremen hat ihm sein Nachfolger Scherf überlassen. Der Hamburger SPD-Fraktionschef

Elste ist Geschäftsführer der städtischen FORUM Beteiligungsholding. Solche Kollisionen Bremer SPD-Bürgermeister Scherf: Leibwächter abgeschafft sollen zukünftig ausgeschlossen werden, eine Parlamentsreform ist geplant. eins etwa liest sich, so ein genervtes Mit- mus“ (Elste), dem „Jammern und Jau- Doch die wartet Elste erst mal ab. glied, als gelte es „eine UN-Vollver- len“ (Scherf), den „übellaunigen Misan- Als könne sich die SPD das leisten. sammlung vorzubereiten“: 17 Mitglieder thropen, die Katastrophen-Szenarien Die Mitgliederverluste – teilweise wurde quälen sich durch mehr als 20 Wahlvor- beschreiben“ (Voscherau). die Anhängerschaft seit den siebziger gänge, bis sie beim Punkt „Verschiede- In Hannover war die Kampagne auch Jahren halbiert – haben die Partei aus- nes“ aufatmen können. sonst erfolgreich: Die Mitgliederzahlen gemergelt. Geblieben sind die Alten Kein Wunder, daß Neugierige ausblei- gehen nach oben, 1994 gab es erstmals und die Alt-68er. ben. „An der öffentlichen Mitgliederver- wieder mehr Eintritte als Austritte. Vor allem die SPD in den Großstäd- sammlung“, so der Dortmunder Rapkay, Mit Diskussionsforen, Talk-Runden, ten, wo sich Schulen, Universitäten und „ist nicht mehr viel öffentlich.“ Zukunftskongressen und Wirtschaftsge- Jugendszenen ballen, sind von massiver Was draußen vorgeht, wird vielfach sprächen wollen die Genossen in Frank- Überalterung befallen. Der Alters- nicht mehr wahrgenommen. „Wir haben furt, München und Hamburg den Auf- durchschnitt liegt in der Regel bei 50 festgestellt“, sagt der Hannoveraner schwung herbeizwingen. Die Hambur- Jahren. Thomas Hermann, „daß viele Ortsver- ger haben sich sogar einen Fraktionsbus Im SPD-Unterbezirk Dortmund, dem einsfunktionäre ihren Stadtteil gar nicht gemietet, mit dem sie in die sozialen größten der Republik, ist im 24köpfigen kennen.“ Brennpunkte fahren. Revolutionär ist Vorstand derzeit keiner unter 40. Die Hermann, Sozialwissenschaftler und das nicht. „Es geht alles sehr schwerfäl- Mitglied im Unterbezirksvorstand, lig“, klagt der Hamburger Fraktionschef krempelt mit einer kleinen Crew seit Elste. In Arbeitsgruppen, die auch Die Mitglieder mehr als zwei Jahren die Ortsvereine in Nicht-Mitgliedern offenstünden, seien richten sich am Telefon Hannover um. nur „wenige Leute von außen dazuge- Da wurde etwa ein Verkaufstrainer kommen“, bestätigt auch Frankfurts bis- gegenseitig auf aus der Kaufhausbranche engagiert, da- heriger Parteichef Sieghard Pawlik. mit sich die Mandatsträger im Wahl- Bremen setzt ganz auf Scherf. Der Jüngste in der hannoverschen SPD- kampf nicht mehr hinter den Info-Ti- riesige Ich-umarm’-euch-alle-Henning Ratsfraktion ist 39. „Die Großstadtpar- schen verstecken. Um das „Familienge- will den Bürgern wieder Vertrauen in tei“, so der Politologe Walter, „ist men- fühl“ zu stärken, gibt es jetzt Telefonket- die SPD einflößen. tal hoffnungslos vergreist.“ ten: Die Mitglieder rufen sich regelmäßig Scherf hat erst mal ausgemistet, die Wenn noch junge Leute in die Partei an und richten sich gegenseitig auf. Luxusmöbel seines Vorgängers Wede- eintreten, so zeigt etwa die Statistik in Mit konkreten Stadtteilprojekten wer- meier rausgeworfen. Auch die beiden Hannover, treten sie schnell wieder aus. den Bürger zum Mitmachen animiert. gepanzerten Mercedes-Dienstlimousi- Der Hamburger SPD-Bundestagsabge- Zum Handwerkszeug der Ortsvereine nen samt Chauffeuren sowie die neun ordnete hat es bei seinen gehört neuerdings ein Stadtteil-Atlas mit Leibwächter und zwei Sekretärinnen eigenen Kindern erfahren: „Das, was allen wichtigen Daten über die Sozial- wurden abgeschafft. Zum ersten Emp- 20jährige in den Großstädten bewegt, und Beschäftigtenstruktur, Altersgrup- fang ins neue Rathaus lud der neue Bür- findet bei der SPD nicht statt.“ Die Jun- pen, wichtige Themen. germeister neben Betriebsräten auch gen bevorzugen die Grünen. Der Einsatz hat sich schon gelohnt. Altenpfleger und Punkmädels. Abschreckend auf Sympathisanten Hermann: „Plötzlich merken die Leute: Ob’s reicht, die SPD als dynamische wirkt nicht zuletzt die verkrustete Struk- Das macht ja Spaß.“ Zukunftspartei aufzupolieren, steht da- tur der Parteiarbeit. Den hat die lustarme Partei bitter nö- hin: Der auf vielerlei Posten erprobte Die Tagesordnung zur Jahreshaupt- tig. Selbst abgebrühte Genossen haben Altfunktionär ist im- versammlung eines Frankfurter Ortsver- langsam genug vom SPD-„Negativis- merhin 56.

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SPIEGEL-Gespräch „Rettet die Opposition“ SPD-Theoretiker Johano Strasser über Scharping, Schröder und den Niedergang der Sozialdemokraten

SPIEGEL: In einer Ihrer Erzählungen die SPD als traditionelle Repräsentantin sei interessanter als ein Seminar. Heute taucht ein Bonner Politiker ausgestopft dieser Klientel. Die Sozialdemokraten ist wohl selbst die Uni-Verwaltung span- im Naturkundemuseum wieder auf. Ge- stehen dem vielfach handlungsunfähig nender als die SPD. hört nicht mittlerweile die ganze SPD gegenüber – weil die Spaltung bis in die Strasser: Die Partei hat sich vielerorts ins Museum? Partei hineingeht und sie es nicht von der Realität entfernt. In manchen Strasser: Die SPD fängt tatsächlich an schafft, diese zu überwinden. Ortsvereinen toben Grabenkämpfe zwi- museal zu wirken, weil sie überaltert ist. SPIEGEL: Vor etlichen Jahren haben Sie schen phantasielosen Traditionalisten Aber das Problem haben auch andere noch geschwärmt, jeder SPD-Ortsverein und prinzipienlosen Modernisten. Mit Parteien, sogar die Grünen. Es gibt eine dem, was die eigene Basis und die Men- allgemeine Krise der Politik, weil, unter schen außerhalb der Partei bewegt, ha- anderem, in der globalisierten Ökono- Johano Strasser ben diese Auseinandersetzungen so gut mie die bisherigen Steuerungsinstru- wie nichts mehr zu tun. mente versagen. Alle Parteien haben ei- ist Mitglied der SPD-Grundwerte- SPIEGEL: Also leidet die SPD noch im- nen erheblichen Ansehensverlust durch- kommission und galt in den siebzi- mer unter dem alten Flügelproblem? gemacht . . . ger Jahren als „Chefideologe“ der Strasser: Nein, anders. Den Rechts- SPIEGEL: . . . der vor allem in Groß- Jungsozialisten. Im Juso-Vorstand links-Debatten von einst stehen heute städten die SPD stärker trifft als andere. wandte er sich gegen Dogmatismen oft völlig sinnentleerte Positionskämpfe In Frankfurt hat eine CDU-Politikerin und bekämpfte eine Bündnisstrate- gegenüber. Auseinandersetzungen in- die Oberbürgermeisterwahl gewonnen, gie mit der DKP. Strasser, 56, lebt haltlicher Art, sofern sie überhaupt in Bremen muß die SPD die Macht jetzt heute als freier Schriftsteller und stattfinden, sind sehr häufig nur Spiel- mit der CDU teilen, in Berlin stehen die politischer Autor in einem idylli- material für innerparteiliche Rituale. Chancen auch nicht gut für die SPD. schen Herrenhaus am Starnberger SPIEGEL: Sind die starken SPD-Verluste Strasser: In vielen großen Städten zer- See. Nebenbei reist der promovierte in den Metropolen nicht ein Indiz für fallen die sozialen Zusammenhänge. Philosoph und habilitierte Politolo- den generellen Trend der Sozialdemo- Untere Schichten werden weiter ins Ab- ge quer durch die Republik und refe- kraten? seits gedrängt. Das schwächt vor allem riert vor SPD-Ortsvereinen, in Unter- Strasser: Das kann man so pauschal bezirken und an Universitäten über nicht sagen. Viele Großstädte waren programmatische Überlegungen zu lange Zeit zentrale Schauplätze des un- * Mit Redakteurinnen Annette Großbongardt und Christiane Kohl in Strassers Haus am Starnberger Ökologie und Sozialstaat. gebremsten Wachstums und einer ver- See. antwortungslosen Ausgabenpolitik. Bis F. HELLER / ARGUM Strasser (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Solidarität ist nicht nur ein Kampfbegriff“

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND plötzlich das Geld knapp wurde und die Strasser: Ja, aber das reicht nicht. Solan- beleben, sozusagen die Parteiflügel neu ökologischen Schandtaten, Kehrseite ge diese Partei Leute in Führungsämter erfinden und politische Grundsatzfragen der Entwicklung, allzu offensichtlich wählt, die nicht in der Lage sind, die Pro- für das Publikum beurteilbar und über- wurden. Der einsetzende Umbruch im bleme der Zeit zu erkennen und einiger- schaubar zuspitzen. Fortschrittsdenken erschütterte die SPD maßen diszipliniert auf deren Lösung hin- SPIEGEL: Wir sehen nur flügellahme mehr als andere Parteien. Denn zur Lö- zuarbeiten, geht der Krach weiter. Die Akteure, die der Regierung kaum Paro- sung der ökologischen und sozialen Fra- SPD muß auchdieKraft aufbringen, Leu- li bieten. gen hat die SPD mittlerweile zwar gute te abzustrafen, die in dieser Weise die Strasser: Das ist das Schlimmste, was Ansätze in ihrer Programmatik. Doch Prinzipien der Partei verletzen. man uns vorwerfen kann. Eine Demo- sie ist vor Ort häufig gelähmt durch in- SPIEGEL: Das klingt nach Strafregiment. kratie kann mit einer schlechten Regie- nere Fehden und mangelnde Veranke- Gemeint ist wohl Herr Schröder? rung leben, die wählt sie ab, aber eine rung in der Bevölkerung – alles zusam- Strasser: Schröder ist ein politischer Ge- schlechte Opposition ist auf Dauer viel men eine tödliche Mixtur. neralist mit Spezialwissen zur Bekämp- gefährlicher. Die SPD als Opposition ist SPIEGEL: Ging nicht vor allem die Basis fung politischer Gegner, aber dieses Wis- im Moment auf eine gefährliche Weise in den Arbeitervierteln verloren? sen wendet er vor allem gegenüber den schlecht. Strasser: Ja, da war die SPD am zuver- politischen Freunden an. Solch ein Ver- SPIEGEL: Zurück in die Rathäuser, in lässigsten und am breitesten organisiert. halten ist für die SPD nicht tragbar. denen – noch – Sozialdemokraten regie- Jetzt ist sie zwar noch in den traditionel- SPIEGEL: Aber Herr Scharping wirkt ren. Was läuft da schief? len Strukturen verwurzelt, sie hat aber nicht gerade wie der Traumkandidat. Strasser: Wir brauchen Dolmetscher auch ganz andere Schichten in ihren Strasser: Scharping ist ein Kanzlerkandi- auf allen Ebenen, die die Probleme der Reihen, zum Beispiel das, was man die dat mit geringer Ausstrahlung, mäßig ge- Arbeiterschaft in das Milieu der jun- gen, aufstiegsorientier- ten Lebensqualitäts- gruppen übersetzen. Die wiederum haben auch Ängste, die den anderen Schichten be- greiflich gemacht wer- den müssen. Wo diese Verständigung nicht funktioniert, fällt die SPD auseinander – ein Teil verstummt, der andere reibt sich auf in sinnlosen Querelen. Bei Außenstehenden setzt sich das Bild ei- nes Haufens fest, der völlig unfähig ist, auch nur irgendeine Orien- tierung zu geben. SPIEGEL: Wer soll „Die Herrschaften werden gebeten, im Nachbarring anzutreten!“ Rheinischer Merkur denn Dolmetscher spielen, die Akademi- Lebensqualitäts-SPD nennt. Die SPD liebt von der eigenen Partei – genauso ker und Beamten, die in den Parteibe- als bunteste aller Parteien . . . wie Helmut Kohl, bevor er Kanzler wur- zirken dominieren? SPIEGEL: . . . wirkt heute als farblose- de. Der war mal eine reine Lachnum- Strasser: Politik ist selbst auf der kom- ster aller Vereine. mer für die Medien. munalen Ebene ein hochkompliziertes Strasser: Halt! Die SPD hat wie keine SPIEGEL: Die Wirkung in den Medien Geschäft geworden. Da fällt es Akade- andere Partei eine ungeheure Integrati- ist heute wichtiger als früher. mikern und öffentlich Bediensteten onsaufgabe zwischen den unterschied- Strasser: Das ist eine der verhängnis- leichter als „einfachen“ Leuten, Ämter lichsten Milieus zu leisten – die alten In- vollsten Entwicklungen. Karrieren wer- zu übernehmen. Sie können freier über dustriearbeiter, das relativ abgesicherte den heute vielfach durch die Medien, ihre Zeit verfügen, haben ein Dienstte- ÖTV-Milieu, eine völlig neue Generati- Hand in Hand mit der Politik, gemacht lefon und privilegierten Zugang zu In- on von Ökobewußten. Viele SPD-Funk- – und auch wieder zerstört. Ich glaube, formationen. Es ist nicht zwangsläufig, tionäre haben nicht gelernt, zwischen diesmal wird die Partei in einer gesun- daß Akademiker sich nicht mit anderen diesen Welten zu vermitteln. Wie soll es den Sturheit trotzdem an Scharping fest- Milieus verständigen könnten. Etliche da gelingen, mit einer Stimme zu spre- halten. Der ist zwar kein idealer Kandi- Aufsteiger haben aber die höheren Wei- chen. dat, aber wir haben auch keinen besse- hen der Bildung und Anerkennung of- SPIEGEL: Wollen Sie damit das Gebalge ren. fenbar so mühsam errungen, daß sie das an der SPD-Spitze entschuldigen? SPIEGEL: Brauchte es nicht eine Figur jetzt demonstrativ vor sich hertragen Strasser: Die Troika war von vornher- mit der Ausstrahlung Willy Brandts, um müssen – das erschwert den Dialog. ein eine Fehlkonstruktion. Scharping die SPD zu retten? SPIEGEL: Nach langer SPD-Herrschaft hätte sich mit einem Team von bundes- Strasser: Mit Charisma ist es heute auch regiert vielerorts nur Filz und Kungelei. politisch orientierten Leuten umgeben nicht zu machen. Den Erlöser in der Er- Strasser: Derlei Probleme gibt es auch müssen, nicht aber mit ehrgeizigen Lan- scheinung des Kanzlerkandidaten und in CDU-regierten Rathäusern. Aber der desfürsten wie Schröder und Lafon- Parteivorsitzenden gibt es nicht mehr. Filz schadet der SPD viel mehr als der taine, die immer auch ihre föderalen Auch Willy Brandt könnte das für die Union. Als Anwalt der kleinen Leute Einzelinteressen vertreten müssen. SPD heute nicht mehr sein. Wir müssen werden an die SPD, übrigens zu Recht, SPIEGEL: Die Troika muß weg? die Sachauseinandersetzungen wieder höhere Erwartungen gestellt – denen

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Strasser: Solidarität ist nicht nur ein Kampfbe- griff. Deutschland wird kein liebenswerter Ort, wenn wir ihn zu einer Operationsbasis für quir- lige Singles werden las- sen, wo kinderreiche Fa- milien, Alte und Kranke nur noch eine Last sind. Das ist ein barbarisches Gesellschaftskonzept. Die sogenannten Lei- stungsträger haben viel- fach vergessen, daß Frei- heit, Wohlstand und Le- benssicherheit Leistun- gen der Gesellschaft sind. SPIEGEL: Und da können Sie noch ruhig in Ihrer Idylle am Starnberger See leben? Sie haben ja auch Individualisierung betrie- ben. Strasser: Ich bin nach wie

F. DARCHINGER vor politisch aktiv und SPD-Führer Schröder, Lafontaine: „Den Erlöser gibt es nicht“ denke derzeit darüber nach, mich mit Gleichge- muß sie auch gerecht werden. Viel schlimmste ist die der neoklassischen sinnten wieder stärker zuengagieren. Die schlimmer, wenn die Leute kaum mehr Ökonomen, die verbreiten, wir müßten Lage istextrem kritisch. Im Grunde müß- etwas von der SPD erwarten. nur immer mehr deregulieren, und eine te man eine Bürgerinitiative „Rettet die SPIEGEL: Welchen Anteil hat denn Ihre Fülle von Wohltaten werde über uns Opposition!“ gründen. Generation, die 68er, am Niedergang? ausgeschüttet. Das Problem besteht SPIEGEL: Könnten denn die Großstädte, Strasser: Beim Marsch durch die Insti- aber darin, daß die großen, verläßlichen wo sich all diese Probleme wie im Brenn- tutionen war meine Generation ausge- Wertegemeinschaften mit festen politi- glas bündeln, eine Art Zukunftslabor der sprochen erfolgreich. Doch sie ist den schen Optionen und Einordnung in Kol- SPD werden? von ihr selbst geweckten Erwartungen lektive zerbröckelt sind. Das können Sie Strasser: Ich sehe eher in den kleineren nicht gerecht geworden, dabei eine le- auch bei den Jugendlichen beobachten, und mittleren Städten Signale der Er- bendige, den Menschen und ihren Pro- die, anstatt in eine Partei einzutreten, neuerung. Dort geschieht sehr viel mehr blemen zugewandte Partei zu schaffen. lieber was Konkretes machen und zum Innovatives als in den Metropolen. Bei- Insofern haben die 68er versagt. Zudem Bund für Umwelt- und Naturschutz spielsweise hat Freiburg, SPD-regiert, setzen heute viele aus meiner Generati- oder zu Greenpeace gehen. ein alternatives Energieprogramm mit on ihre ganze Energie darein, Diskus- Sonnenenergie in Gang gebracht, in Hei- sionen zu verhindern, die ihnen womög- delberg hat sich in rot-grüner Zusammen- lich gefährlich werden könnten. „Rot-Grün ist für die arbeit eine bürgernahe Verwaltung in- SPIEGEL: Große politische Fragen wer- SPD die einzig stalliert, wo man alle Behördengänge an den in der SPD regelmäßig zu Rechen- einer Stelle erledigen kann, statt, wie schiebergezänk heruntergeredet – sei es mögliche Konstellation“ sonst üblich, von Amt zu Amt zu laufen. Bosnien, der Atomausstieg oder die SPIEGEL: Beispiele, wo rot-grüne Zu- Verkehrspolitik, ein Feld, auf dem sich SPIEGEL: Nach dem Soziologen Ralf sammenarbeit nicht klappt, überwiegen. SPD-Landesfürsten neuerdings durch Dahrendorf hat die SPD in der Gesell- Strasser: Rot-Grün ist für die SPD die Deals mit Automanagern gegenseitig schaft den Sozialstaatskonsens erreicht – einzig mögliche Konstellation der Zu- überbieten. damit sei ihre Aufgabe erledigt. kunft. Wer die Grünen als Juniorpartner Strasser: Das gehört zum Lächerlich- Strasser: Eine unsinnige These. Das will, muß sie zunächst als Partner akzep- sten, was derzeit passiert. Ein Autogip- Gegenteil ist richtig: Es gibt wachsende tieren. Aber es gibt noch zu viele Vorbe- fel in einer Zeit, in der wir uns aus öko- Ungerechtigkeit und Verteilungsproble- halte gegen die Grünen. Da ist der Copy- logischen Gründen eine weitere Runde me. Wir haben beängstigende Armuts- right-Anspruch bei den linken Sozis, die in der Automobilisierung gar nicht lei- potentiale vor allem in den Städten, glauben, alle linken Themen hätten sie sten können. Das hat mit klarer Pro- wachsende Ghettos, wir haben eine gepachtet, und das Mißtrauen auf der grammatik und ökologischem Wirt- Spaltung der Gesellschaft. Der Sozial- rechten Seite, wo viele Genossen immer schaften nichts zu tun. staat, die geheime Geschäftsgrundlage noch meinen, bei den Grünen handele es SPIEGEL: Programme zählen in der mo- der Demokratie, ist in Gefahr. sich um einen wilden Haufen. dernen Mediengesellschaft immer weni- SPIEGEL: Und die SPD nötiger denn je? SPIEGEL: Könnten Sie sich vorstellen, ger. Gibt es nach dem Ende der Ost- Strasser: Ihre Themen der sozialen Ge- daß Ihr Nachbar Loriot einen Sketch West-Konfrontation nicht einen allge- rechtigkeit stehen auf der Tagesord- schreibt über die SPD? meinen Niedergang der Ideologien, der nung. Um so schlimmer, wenn sie dann Strasser: Wir diskutieren gelegentlich die SPD als klassische Ideologie-Partei so eine schlechte Figur macht. über die SPD. Aber ob ihm da noch was am stärksten trifft? SPIEGEL: Mit dem alten Klassenkampf- einfällt? Ich weiß nicht. Strasser: Die ideologische Quacksalbe- Begriff „Solidarität“ kommen Sie aber SPIEGEL: Herr Strasser, wir danken Ih- rei hat doch Hochkonjunktur! Die heute nicht mehr weit. nen für dieses Gespräch.

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SPD „Rudolf, winken!“ SPIEGEL-Redakteur Hajo Schumacher über Rudolf Scharpings mißglückte Deutschland-Tournee

as, Heringssperma in Quotient aus gefahrenen Kilo- Bayern? Das kann doch metern und gesehenen Men- Wnicht wahr sein. Irritiert schen. starrt auf das Scharping ist Scharping ist Reagenzglas und sinniert: Will Scharping. Seine Mitarbeiter ihn auch noch die Chemikerin müssen jeden Moment des Men- im Boehringer-Werk zu Penz- schelns mühsam einfädeln. Mit- berg mit einer Anspielung auf tags beim Essen im Berggasthof den Unaussprechlichen aus ist es wieder soweit. Das Opfer: Norddeutschland nerven? ein Brautpaar ein paar Tische Erleichtert merkt der SPD- weiter. Vorsitzende schließlich, daß Längst hätte der notorische ihm bei der Besichtigung des Schulterklopfer Helmut Kohl biotechnischen Labors ganz die jungen Eheleute hochleben ernsthaft demonstriert wird, lassen und ihnen die Zusage ab- wie man aus der milchigen gerungen, viele stramme deut- Flüssigkeit einen Strang Gene sche Steuerzahler zu zeugen. zaubert, der sich dann manipu- Der Anti-Entertainer hingegen lieren läßt. schleicht nur zögernd herbei. Das Fernduell zwischen dem „Was machen Sie denn die Chef der Sozialdemokraten und nächsten zwei Jahre?“ Der seinem Widersacher Gerhard Bräutigam: „Erst mal die Hoch- Schröder ist in der paranoiden zeitsreise, nach Sansibar.“ Phase angelangt. Auf der drit- Scharping: „Sansibar? Wir wa- ten und letzten Etappe seiner ren damals mit dem VW Käfer Tournee „Mit Rudolf Schar- in Frankreich.“ Die Braut: ping – unterwegs in Deutsch- „Käfer gibt’s ja nicht mehr so land“ erwähnt der Parteichef viele.“ Scharping: „Tja . . .“ den Namen des unausstehli- Endloses Schweigen. „Noch chen Ministerpräsidenten schon alles Gute“, sagt Scharping ab-

gar nicht mehr. J. OBERHEIDE / ARGUM rupt und geht weg. Der Bräuti- Doch der Niedersachse läßt Scharping im Bierzelt*: „Reden wir miteinander“ gam überlegt derweil, „ob die sich nicht wegschweigen: kein Geste wirklich echt war“. Bürgergespräch, keine Rede, kein In- Selbst öffentliches Biertrinken mutet Einigermaßen gelöst gibt sich der terview, ohne daß nach Schröder ge- bei ihm wie harte Arbeit an. Der SPD-Vorsitzende allenfalls im sicheren fragt würde. Und bei jedem noch so Mann ist bis zur Selbstzerstörung ernst Kreis der Genossen. Im Dachauer Bier- kleinen Hinweis auf den Quälgeist und unpopulistisch. Da sitzt er im Ob- zelt dirigiert er kühn die Indersdorfer flackert es gefährlich hinter Scharpings servatorium auf dem Hohenpeißen- Blasmusik. In München, kaum auf dem Armani-Brille. berg, der bedeutendsten Ozon-Meßsta- Rednerpult, schält er sich gar aus dem Wie schön hätte diese PR-Reise tion Deutschlands, und hätte die Chan- grauen Sakko, wirft es zu Boden, krem- doch werden können. Publicityträchtig ce, die Sommersmogverordnung der pelt die Ärmel auf und hält eine ver- im Sommerloch placiert, wollte sich Regierung detailgetreu zu geißeln. gleichsweise feurige Rede. Kernsatz: Scharping bei Kindern, Küstern und Statt dessen nickt er ein. „Politik darf nicht trockener, staubiger, Konzernen mal wieder wie ein Landes- Nachdem er pflichtschuldig einen langweiliger werden.“ Ja, ja. vater präsentieren und sich und der Meßballon gestartet hat („Muß ich das Stolz stellt er sich nachher ganz vorn SPD Sympathie verschaffen. auch noch?“), strebt er stracks zurück auf die Bühne und läßt sich bejubeln. Das Gegenteil hat er erreicht: Auf zum schützenden Bus, vorbei an Ur- Doch kaum hat er den Hort der Harmo- seiner dreiwöchigen Gewalttour trug laubern, die dem Oppositionsführer nie verlassen, wandelt er schon wieder so Scharping den Zoff mit Schröder bis in gern mal die Hand geschüttelt hätten. steif, als trage er Faßringe um den Ober- den letzten Winkel der Republik. Er fällt in den Sitz, saugt an einer körper. Unter dem Druck, den Norddeut- Zigarette, starrt ins Leere. Da ruft So klingen die Parolen („Ich bin in schen in der Disziplin Publicity über- Fraktionssprecher Sten Martenson: Kampfeslaune“), mit denen sich Schar- trumpfen zu müssen, verkrampfte der „Rudolf, winken!“ Kurz hebt Schar- ping auf den ersten Zusammenprall mit SPD-Boß besonders arg. Das Verspre- ping die Hand und guckt befremdet Schröder seit zwei Monaten im SPD-Prä- chen: „Reden wir miteinander“, das auf die Menschen draußen auf der sidium an diesem Montag einstimmt, von den Plakaten lockt, löst er nicht Straße. Dann hetzt er weiter durchs eher wie Mantras zur eigenen Beruhi- sonderlich oft ein. Voralpenland, als sei Popularität der gung. Scharping schafft es, auch im dichte- „Wenn wir Pech haben“, orakelt ein sten Gedränge verlassen auszusehen. * Am Dienstag vergangener Woche in Dachau. Vertrauter Scharpings über den Kampf

32 DER SPIEGEL 35/1995 zwischen Autist und Exhibitionist, „geht das weiter bis zur Bundestagswahl 1998.“ Das Streitvirus wuchert bereits bis in den bayerischen Landesverband. Der Stellvertreter-Krieg zwischen der Schar- ping-Anhängerin und Landesvorsitzen- den und dem Generalse- kretär Albert Schmid, einem Schröder- Adepten, „ist nur noch mit einem Knall zu klären“, glaubt ein hoher bayerischer Sozialdemokrat. Wie systematisch der Rivale in Bayern vorgearbeitet hat, bekommt Rudolf Scharping auf seiner Tour zu spüren. Schröder besucht den Münchner Me- dienmachthaber Leo Kirch, Scharping diniert mit dem Faxenmacher Ron Wil- liams. Scharping war bei Siemens-Chef Heinrich von Pierer, mit dem Schröder allerdings gelegentlich Tennis spielt. Schröder besucht den Papst und Bischof Tutu, Scharping das Brauerei-Kloster Andechs. Mit aller Mühe kämpft Scharping auf seiner Tournee darum, dem kontaktfreu- digen Niedersachsen wenigstens bei des- sen beängstigender Omnipräsenz in den Chefetagen auf den Fersen zu bleiben. Dafür ist kein Diener zu tief. Die Pro- grammierer von SAP findet er ebenso klasse wie die Genmanipulateure und das Multimedia-Spielzeug von Siemens-Nix- dorf. Irgendwie schrödert Scharping immer hinterher. Unter dem Eindruck des Bonner „Autogipfels“, der den beteilig- ten deutschen Konzernherren, den Uni- ons-Ministerpräsidenten und , vor allem aber dem Initiator Gerhard Schröder viel Publicity verschafft, zieht es auch Scharping zum Automobil. Etwas befremdet registriert die BMW- Führung, daß schnell ein Besuchstermin hermußte, obschon die Einladung zu ei- ner Werksbesichtigung seit bald einem Jahr in Scharpings Büro lag. Gleichwohl eilt Vorstandsvorsitzender Bernd Pi- schetsrieder aus dem Urlaub herbei, um den SPD-Chef an ein paar bunten Tafeln vorbeizuführen, sich mit ihm in einen Oldtimer zu setzen und den Gast wieder verschwinden zu sehen – im Mercedes. „Das war mal ein Anfang“, resümiert Pischetsrieder schmallippig. Schröders Besuch im Mai erschien ihm dennoch sinnvoller als Scharpings Techno-Quik- kie vor laufenden Kameras. Der beken- nende Automann hatte sich nämlich ei- nen ganzen Tag Zeit genommen. Da kam es unter Ausschluß der Presse zum vertraulichen Talk über politische Themen wie Mineralölsteuer und Tem- polimit. „Und sehr kenntnisreiche Fra- gen hat er auch gestellt“, erinnert sich Hans-Hermann Braess, Chef der For- schungsabteilung. Scharping hingegen hat nicht mal mit seinen besten Kunden, den BMW-Mitar- beitern, ein Wort gewechselt. Y

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SPIEGEL-Gespräch „Die Grenzen sind erreicht“ Jutta Limbach über die Kritik am Kruzifix-Urteil und an den Verfassungsrichtern J. H. DARCHINGER Limbach beim SPIEGEL-Gespräch*: „Sollten wir uns etwa der Demoskopie anvertrauen?“

SPIEGEL: Frau Limbach, „eine Schande Richter werden in Leserbriefen als SPIEGEL: Daß sich Richter, die „im Na- für unser Land“, klagen Politiker, sei das „Verbrecher“ beschimpft, „zum Psych- men des Volkes“ Urteile fällen, in Wi- Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungs- iater“ geschickt. Nur Stimmungsmache? derspruch zur Mehrheit des Volkes set- gerichts, „ein schwarzer Tag in der Ge- Limbach: Da will ich mir kein leichtferti- zen, stößt offenbar auf Unverständnis. schichte unseres Volkes“, heißt es aus ges Urteil erlauben. Auch wenn mir die Limbach: Diese Einleitungsformel, die dem Munde eines Kirchenfürsten. Wie populistische „Ausbeutung“ des Be- wir so erst seit 1920 kennen, wird viel- erklären Sie den Proteststurm? schlusses durch den einen oder anderen fach mißverstanden. Man meint näm- Limbach: Da kommt vieles zusammen: Politiker mißfällt. Ich kann nur bestäti- lich, der Wille des Volkes sei danach bei die Betroffenheit religiöser Empfindun- gen: Wir haben noch nie so viele Zu- einer Entscheidung maßgebend. Aber gen, die zum Teil falsche Lesart der Ent- schriften bekommen wie in diesem Fall, das Gericht kann seine Entscheidung scheidung und die überzogene Kritik mehr als 2000. Der bisherige Rekord nicht von der jeweiligen Meinung in der manches Politikers. Aber auch nach dem waren 600 Zuschriften nach einem Ver- Bevölkerung abhängig machen. Sollten Abtreibungsurteil 1993 wurde mit harten fahren, das die Darstellung von Franz wir uns etwa der Demoskopie anver- Bandagen gekämpft. Wir haben, wie Sie Josef Strauß in einem politischen Stra- trauen? Mit dieser Urteilsformel wird sich denken können, im Richterkreis ßentheater betraf. nicht mehr, aber auch nicht weniger ge- auch über die jetzige Kritik intensiv mit- sagt, als daß in einem demokratischen einander diskutiert. Staat das Gericht seine Autorität vom SPIEGEL: Den Nazis seies nichtgelungen, Jutta Limbach Souverän, vom Volk, ableitet. das Kreuz aus der Schule zu entfernen, so SPIEGEL: Aber können Gerichte ganz lauten Stimmen aus der CSU. Das dürfe ist seit einem Jahr Präsidentin losgelöst von der Stimmung im Volk auch einem Gericht nicht gelingen. des Bundesverfassungsgerichts in Recht sprechen? Limbach: Da sind die Grenzen einer sach- Karlsruhe und Vorsitzende des Limbach: Ich würde nicht von Stimmun- lichen Kritik erreicht, wenn man eine Nä- Zweiten Senats. In ihre Amtszeit gen sprechen. Aber die Justiz muß na- he zu der Perversion des Rechts im Natio- fielen mehrere politisch umstritte- türlich auch auf das Denken und Han- nalsozialismus herstellt. Da bin ich und ne Entscheidungen, wie jetzt auch deln der Bevölkerung Rücksicht neh- sind andere sehr empfindlich. Hier ist ein das Kruzifix-Urteil, das der Erste men . . . Verfassungsorgan tätig geworden, wie es Senat fällte. In Nachfolge von Ro- SPIEGEL: . . . auch was den Inhalt einer unser Grundgesetz vorsieht. Das hat je- man Herzog ist Limbach, 61, die Entscheidung betrifft? Oder müssen der zu respektieren, auch wenn er die erste Frau an der Spitze des höch- sich die Richter nur um Verständlichkeit Entscheidung für ärgerlich oder falsch sten deutschen Gerichts. Die Sozi- bemühen? hält. aldemokratin und Mutter von drei Limbach: Im Grunde genommen beides. SPIEGEL: Das Urteil hat offenbar bei vie- Kindern ist Jura-Professorin. Vor ih- Richter sind keine frei schwebenden In- len Leuten einen Nerv getroffen. Die rer Berufung an das Verfassungs- telligenzen, die allein durch einen ope- gericht war sie Justizsenatorin in rativen Vorgang aus dem Grundgesetz * Mit den Redakteuren Rolf Lamprecht und Paul Berlin. oder anderen Gesetzen die Entschei- Lersch in ihrem Karlsruher Amtszimmer. dung ablesen. Das Grundgesetz ist gar

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Werbeseite KOMMENTAR Hände weg vom Gericht RUDOLF AUGSTEIN

an muß es als einmaligen anders nicht konstruiert sein können. abgewichen“. Das mußte Dehler Skandal bezeichnen, daß der Sie unterliegen menschlichen Feh- teuer bezahlen, der Alte aber auch. MVizepräsident des Bundes- lern, und sonst nur dem Himmel. Nach den für Adenauer siegrei- verfassungsgerichts, der Vorsitzen- Das „Supreme Court“ in Washing- chen Wahlen von 1953 erschien de des erkennenden Ersten Senats, ton hat reichlich skandalösere Urteile Dehlers Parteifreund, der BVG-Prä- außerdem der zuständige Berichter- abgeliefert als jemals das ihm nachge- sident Hermann Höpker-Aschoff, statter des so häßlich umstrittenen bildete BVG. Eines dieser mit 6 : 3 auch nicht eben ein begnadeter Ju- „Kruzifix-Urteils“, öffentlich zugibt, Stimmen ergangenen Urteile wurde rist, auf der Bühler Höhe und teilte ein sogenannter „Leitsatz“ sei feh- im abweichenden Votum der Nein- dem Bundeskanzler mit, er könne lerhaft abgefaßt, er müsse ihn nach- Sager als „legalisierter Mord“ be- hinsichtlich der strittigen Verträge träglich „präzisieren“. War’s also zeichnet, mit vollem Recht. für nichts garantieren, wenn Dehler die Schreibstube? Oder die Hitze? Wir sind mit unserem höchsten Ge- Justizminister bleibe. Er heißt Johann Friedrich Hen- richt in Karlsruhe besser gut als Adenauer hatte also mit seiner schel, ist Pastorensohn und 64 Jahre schlimmer schlecht gefahren, auch Skepsis zumindest scheinbar im alt, seine offizielle zwölfjährige wenn es dem Grundsatz allerhöchst nachhinein recht behalten. Er kipp- Amtszeit war am 19. Juli beendet. richterlicher Selbstbeschränkung te Dehler, strich ihn einfach von der So etwas kommt vor. Tatsächlich nicht immer gehuldigt hat. In den An- Kabinettsliste. ist die Begründung recht verständ- fängen der katholischen Republik am Einen tödlichen Feind hatte er lich. Rhein war das etwas anders. nun mehr, aber Dehlers Rache, so Über die Bedeutung ihrer Leitsät- Damals sah man sich der Bedro- hitzig sie auch ausfiel, genoß der ze sollten sich die Karlsruher Rich- hung ausgesetzt, daß die zwei Senate Abgeschobene kalt, von dem frei- ter aber endlich einmal klarwerden. von verschiedenen Verfassungsorga- willig aus dem Amt des Innenmini- Der Leitsatz sei nicht Bestandteil nen in Sachen der Adenauerschen sters geschiedenen Gustav Heine- des Urteils, meinte der frühere Ver- Westverträge angerufen wurden. mann noch kälter sekundiert. Beide fassungsrichter Helmut Simon, son- Den Senaten unterstellte man, sie servierten 1958 im zum dern nur ein „Hilfsmittel der Publi- könnten gegensätzlich urteilen, der Entsetzen der Christen-Union ihre kation“ (eine Krücke für faule oder eine galt als der „rote“, der andere als Abrechnung als Fünfsterneköche. dumme Journalisten also). Bei der der „schwarze“ Senat, Gott allein So schlimm steht es um Karlsruhe Auslegung, so Simon, spiele er kei- weiß, ob zu Recht oder nicht. heute nicht mehr. Immerhin, ein ka- ne Rolle. Bundespräsident Theodor Heuss, tholisches oberstes Gericht ist dort Die Praxis sieht anders aus. Ge- nicht der standfesteste Politiker des einmal gewesen. Zwar muß man gen den Leitsatz eines der beiden Jahrhunderts, hatte in Karlsruhe ein sich wundern, daß höchste Richter Senate können spätere Richter nur Gutachten bestellt, das von beiden ihre eigenen Urteile hinterher inter- schwer frontal angehen. Die Be- Senaten zusammen hätte erstattet pretieren. Das sollten sie nicht tun. gründungen können sie leichter un- werden müssen. Die roten Roben Auch in Talkshows sollten sie nicht terlaufen, und das dient gewiß der wußten um die Gerüchte. Sie füllten auftreten. unerläßlichen Fortentwicklung des die Lücke und setzten neues Recht, Aber jede Veränderung der Rechts*. Leitsätze sind, wie schon indem sie beschlossen, kein Senat Karlsruher BVG-Ordnung, wenn ihr Name sagt, eben nicht nur Jour- dürfe von einer noch so knappen Ent- auch noch so gut gemeint, kann nalistenkrücken. scheidung des Plenums abweichen. nach aller Erfahrung die bestehen- Wer immer beklagt, daß beim Nichts sprach dafür, daß eine noch den Übel nur noch verschlimmern. Kruzifix-Urteil nur eine Stimme den so knappe Mehrheit die Adenauer- So bedeutet eine neue Verfahrens- Ausschlag gegeben habe, auch ich schen Westverträge ablehnen würde. weise für die Besetzung des Gerichts fand das beklagenswert, muß aber Der Alte aber wollte nicht das gering- oder eine Zweidrittelmehrheit für sehen, daß allerhöchste Gerichte ste Risiko eingehen. Er fuhr zu jedes Urteil eines Senats hier immer Heuss, und der Bundesjustizminister nur Kungelei zwischen den beiden * Ich bin mit jener Verfassungsbeschwerde Thomas Dehler wagte es, seinen ho- großen Parteien. Eine vorherige gegen ein Urteil des Bundesgerichtshofs, wo- hen Parteifreund an dessen Dienst- Anhörung wie in den USA wäre bei nach ich eine Berichtigung zugunsten des und Amtseid zu erinnern. Heuss uns genauso entsetzlich wie dort. F. J. Strauß selbst hätte unterschreiben müs- sen, in der Hauptsache gescheitert. Unter knickte ein und zog das Ersuchen zu- Vom Aufruf zum zivilen oder pas- der maßgeblichen Beteiligung des damaligen rück. siven Ungehorsam angesichts eines Verfassungsrichters, des späteren Präsiden- Dehler aber tat noch mehr. Er klaren Textes wollen wir gar nicht ten des BVG, Wolfgang Zeidler kam ich aus der Klemme und nicht in Beugehaft. Dieser schickte mit seinem Staatssekretär erst reden. Will man die Gesetzes- hohe Richter wurde als „Himbeer“-Zeidler be- Walter Strauß (der in der SPIEGEL- Untreue der Bürger erzwingen – bit- kannt, weil er vor halbwegs geschlossenem Affäre noch eine unrühmliche Rolle te, so kann man das machen. Kreis gesagt hatte, eine Leibesfrucht sei nach der Empfängnis nicht viel anderes als spielen wird) von der Bonner Haupt- Ich sehe nur eine Lösung: Das ein himbeerähnliches Gebilde. 1987 ehren- post an besorgte Rechtsanwälte ein Plenum des Bundesverfassungsge- voll verabschiedet, nahm er eine Berufung offenes Telegramm, in dem es hieß, richts erklärt sich mit 16 : 0 Stimmen nach Bologna an, schwärmte schon von Ita- lien, stürzte aber während einer Bergwande- das Gericht sei „in einer erschüttern- für verfassungswidrig und löst sich rung tödlich ab. Ehre seinem Andenken. den Weise von dem Wege des Rechts auf.

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nicht so präzise, daß solch eine rein logi- sam zu machen oder eine falsche Formu- berufen. Kritik ist in Ordnung, aber sche Operation möglich ist. lierung zu berichtigen. das hat eine andere Qualität. Und SPIEGEL: Gehört es zu den Aufgaben SPIEGEL: Frau Limbach, Karlsruhe hat dann braucht sich niemand zu wundern, der Richter, friedensstiftend zu wirken? zuletzt vor allem mit zwei Entscheidun- wenn andere künftig den Boykott ausru- Limbach: Ja. Aber die Entscheidung ei- gen heftigen Anstoß erregt. Erst mit dem fen gegen Gesetze, die ihnen nicht ge- nes Konflikts führt auch zu Enttäu- Urteil, daß Soldaten als Mörder bezeich- fallen. schungen, die zu lautstarken Protesten net werden dürfen, dann mit dem Urteil, SPIEGEL: Politiker aus der Union wer- führen. Ich orientiere mich an einem daß Sitzblockaden straffrei bleiben. Ist fen dem Gericht Verfassungsbruch vor. Satz des Rechtsphilosophen Hermann das Verfassungsgericht zu liberal? Der Grundsatz der Gewaltenteilung sei Heller: „Für die Gerechtigkeit eines Ur- Limbach: Es ist eine ungeschriebene An- verletzt, weil es sich Aufgaben des Ge- teils ist es wichtig, daß der Urteilende standsregel, daß Mitglieder des einen Se- setzgebers anmaße. nicht an seine absolute Objektivität nats sich nicht zu einer Entscheidung des Limbach: Diese Kritik ist widersprüch- glaubt, denn dann wird er sich die erfor- anderen in der Öffentlichkeit äußern, lich. Wenn die Politiker zu zerstritten derliche Selbstkritik bewahren.“ Ich weder beifällig noch abfällig. Ganz allge- oder zögerlich sind, spielen sie gern dem muß auch das Rechts- und Rollenver- mein ist hier zu sagen, daß das Gericht Gericht Konflikte zu. Mag dies doch die ständnis anderer mitbedenken. auch den Mut haben muß, eine unpopu- Kritik unpopulärer Entscheidungen er- SPIEGEL: Gehört zur nötigen Selbstkri- läre Entscheidung zu fällen, wenn es an- tragen. Denken Sie an die Blauhelmein- tik, daß die Formulierung höchstrichter- ders einer Wertentscheidung des Grund- sätze der Bundeswehr oder die jüngsten licher Erkenntnisse besser sein könnte? gesetzes nicht gerecht werden kann. Steuerrechtsentscheidungen. Diesen Limbach: Die Sprache der Juristen ist al- SPIEGEL: Versteht sich das Verfassungs- Aufgaben hätte sich gerne der Gesetz- les andere als volkstümlich. Als eine Ne- gericht dabei hin und wieder als Motor geber stellen können. Doch sobald das benfolge der Kritik wird im Hause sehr gesellschaftlichen Fortschritts? Bundesverfassungsgericht angerufen G. STOPPEL Karlsruher Verfassungsrichter*: „Nachgedacht, was man tun kann, um die Urteilsgründe noch luzider zu schreiben“

ernsthaft darüber nachgedacht, was man Limbach: Das Verfassungsgericht kann wird, kann es, im Gegensatz zum ameri- tun kann, um die Urteilsgründe noch lu- selbst gar keine Initiative ergreifen, das kanischen Supreme Court, nicht sagen, zider zu schreiben, um eine Entschei- heißt, es wird nur tätig, wenn es angeru- die Sache sei ihm zu politisch. Es hat dung und deren Gründe in der Öffent- fen wird. Es muß auf gesellschaftliche den Konflikt zu entscheiden. lichkeit verständlich zu machen. Entwicklungen Rücksicht nehmen. SPIEGEL: In manchen Entscheidungen SPIEGEL: Aufgabe des Gerichts ist es, Denken Sie an die Entscheidung zum in- aber werden sogar Vorgaben gemacht, Urteile zu fällen – nicht Urteile auszule- formationellen Selbstbestimmungs- wie der Gesetzgeber vorzugehen hat, gen, wie das diesmal geschieht. recht, die durch technologische Neue- beispielsweise mit der Beratungsrege- Limbach: Wir diskutieren derzeit über rungen herausgefordert worden ist. lung beim Paragraphen 218. Geht das diese alte Regel: „Ein Richter spricht SPIEGEL: Hat das Gericht mit dem Kru- nicht zu weit? durch sein Urteil und hat es nicht in der zifix-Urteil seine Autorität aufs Spiel ge- Limbach: Sie berühren da einen sehr Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Die Kri- setzt? Provoziert es einen Verfassungs- problematischen Punkt. Ich selber mei- tik hat er anderen zu überlassen.“ Aber konflikt? ne, in solchen Fragen muß der Gesetz- nicht nur im Bundesverfassungsgericht Limbach: Den Konflikt provozieren geber der zentrale politische Akteur hat sich bisweilen die Notwendigkeit er- doch diejenigen, die dazu aufrufen, dem bleiben. Das Parlament ist repräsentativ geben, auf ein Fehlverständnis aufmerk- Verfassungsgericht die Gefolgschaft zu zusammengesetzt. Dort ist die politische versagen, die den Boykott ankündigen Willensbildung in einer breiteren Aus- * Erster Senat, der das Kruzifix-Urteil fällte. und sich sogar auf ein Widerstandsrecht einandersetzung möglich als in einer re-

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lativ homogenen kleinen Schar von acht entscheiden, wenn es so massiv einge- ständnis der Kandidat oder die Kandi- Juristen. schüchtert wird? datin hat, wie er oder sie die wichtigen SPIEGEL: Sie plädieren für größere Zu- Limbach: Ich kann für alle Kollegen ver- gesellschaftlichen Probleme sieht. rückhaltung? sichern, daß sie weder durch Ängste SPIEGEL: Im Streit um das Kruzifix-Ur- Limbach: Daß das Verfassungsgericht noch durch Loyalitätszwänge, noch teil wird wieder der Wunsch nach partei- bisweilen auch deutlich macht, wie eine durch Beförderungsopportunismus in politischer Linientreue der Richter verfassungsgemäße Lösung aussehen ihren Urteilen motiviert werden. Mich deutlich. Ist mehr Transparenz eine könnte, ist im Falle großer Unsicherheit beunruhigt nur, daß die Bevölkerung stärkere Garantie für Unabhängigkeit? nicht immer zu vermeiden. Aber ich bin glauben könnte, wir ließen uns ein- Limbach: Der Verdacht, parteipolitische durchaus für starke Zurückhaltung. Die- schüchtern. Zwänge könnten maßgebend sein, hat seFrage wird auch bei fast jeder Entschei- SPIEGEL: Derzeit wird auch wieder über sich empirisch nie belegen lassen. Eine dung im Kreis der Richter heftig disku- die konspirative Art der Richterwahl in Partei, die einen Betonkopf vorschlüge, tiert. Es ist schwierig, die Grenze zwi- einem geheimen Wahlausschuß disku- wäre auch nicht gut beraten. Ein solcher schen Rechtsprechung und politischer tiert. Sollte statt dessen eine öffentliche Mann oder eine solche Frau wäre Gestaltung eindeutig zu markieren. Anhörung stattfinden? schnell isoliert. Einer Partei muß daran SPIEGEL: Der Finanzminister Theo Wai- Limbach: Ich habe Verständnis für solch gelegen sein, als Richter gute Juristen gel ignoriert bisweilen Entscheidungen – einen Wunsch. Ich fände es aber nicht vorzuschlagen und Menschen, die zuhö- im Steuer- und Familienrecht –aus Karls- gut, wenn die Anhörung nur dazu dien- ren, lernen und durch Argumente über- ruhe. Es fehlen aber die Zwangsmittel. te, durch Botschaften aus der Intim- zeugen können. Sonst wird ihr Kandidat Eine Lücke im Gesetz? sphäre eine Person zu zerreden . . . keinen Einfluß in seinem Senat haben. Limbach: Gewiß haben wir auch feststel- SPIEGEL: . . . wie das in den USA ge- SPIEGEL: Das Kruzifix-Urteil fand im len müssen, daß aufgegebene Fristen schehen ist im Fall des schwarzen Rich- Ersten Senat eine 5:3-Mehrheit. Ist ein überdehnt wurden, daß eine angemahnte ters Clarence Thomas. Quorum von 6:2, wie der CDU-Rechts- Neuregelung noch nicht gefunden ist. Limbach: Es müßte eine sachliche An- experte meint, besser? Mein Vorgänger Roman Herzog hat im- hörung sein, in der man eine Auskunft Limbach: Dieser Vorschlag wird immer mer gesagt: „Das Bundesverfassungsge- darüber erhält, welches Verfassungsver- wieder aus den Kreisen belebt, die eine richt hat keinen Gerichts- Entscheidung als ärger- vollzieher.“ Es kann auch lich empfinden. Diejeni- nicht mit Bußgeldern dar- gen, die gegenwärtig über auf hinwirken, daß einem eine Änderung des Ab- Urteil Folge geleistet stimmungsverhältnisses wird. Doch in der Mehr- diskutieren, haben sich zahl aller Fälle ist Karls- manchesmal über eine ruhe der Respekt nicht Entscheidung in ihrem versagt worden. Sinne mit einer 5:3-Mehr- SPIEGEL: Die bayerische heit gefreut. Landesregierung will SPIEGEL: Konservative nach dem Kruzifix-Urteil Kritiker beklagen, auch ein Gesetz einbringen, das Verfassungsgericht das alles beim alten be- beweise „Wertebeliebig- läßt, um ein zweites Ver- keit“. Sind christliche fahren in Karlsruhe in Werte oder die Aufklä- Gang zu bringen. Miß- rung Grundlage des achtung des Gerichts? Grundgesetzes? Limbach: Prinzipiell sind Limbach: Soviel ist klar: Entscheidungen des Das Grundgesetz ist von

BVG nicht unumstöß- H. SCHWARZBACH / ARGUS beidem geprägt. Und ich lich. Das Gericht hat Bundeswehr-Kampfausbildung: „Unpopuläre Entscheidung“ sehe auch mit großem In- selbst einmal deutlich ge- teresse, in welch enga- macht, daß eseinefürver- gierter Weise auf einmal fassungswidrig erklärte über das christliche Sym- Norm mit Rücksicht auf bol des Kreuzes und seine den gesellschaftlichen Wirkkraft in dieser Ge- Wandel oder neue Er- sellschaft diskutiert wird. kenntnisse anders beur- Genauso wichtig sind teilen könnte. nach der Verfassung Fra- SPIEGEL: Aber die Bay- gen der Liberalität und ern haben gleich Revision Rechte von Minderhei- verlangt. ten, die auf die Aufklä- Limbach: Das ist schon rung zurückgehen. Das fragwürdig. Denn hier Grundgesetz ist die Ver- geht es ja nicht um das fassung eines pluralisti- Motiv, daß Recht nicht schen Gemeinwesens. Es versteinern darf. Ich war- hat für alle Mitglieder un- te sehr gelassen ab, was serer Gesellschaft Aussa- die bayerische Regierung gekraft, gleich welcher tun wird. Die jüngsten Religion sie angehören. Töne klingen viel sanfter. SPIEGEL: Frau Limbach,

SPIEGEL: Wie unabhän- K. HILL wir danken Ihnen für die- gig kann ein Gericht noch Blockade vor US-Raketendepot (1983): „Konflikt entscheiden“ ses Gespräch.

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Außenpolitik „Einfluß für die Zeit danach“ Interview mit dem Frankfurter Friedensforscher Ernst-Otto Czempiel über den Balkankrieg und den Westen

SPIEGEL: Herr Czempiel, der französi- sche Präsident Jacques Chirac vergleicht die westliche Reaktion auf den Balkan- krieg mit der Appeasement-Politik ge- genüber Hitler. Trifft der Vergleich zu? Czempiel: Nein, überhaupt nicht. Euro- pa macht etwas sehr Vernünftiges, es versucht zu vermitteln und zu helfen, damit die Konfliktpartner zueinander- finden. Mehr kann man von außen bei einem Bürgerkrieg nicht tun. Die Paral- lelen zu 1938/39 liegen nahe, sind aber falsch. SPIEGEL: Selbst Erhard Eppler und , einst Protagonisten der Friedensbewegung, rufen dazu auf, ent- weder mit Waffengewalt einzugreifen oder die Schwächeren, die Bosnier, zu bewaffnen. Czempiel: Beides hilft nicht. Wir haben in Vietnam, in Afghanistan und in So- malia gelernt, daß bei einem Bürger- krieg militärische Intervention von au- ßen zu nichts führt – außer zu noch mehr Toten. Und die Bosnier mit noch mehr Waffen zu versorgen ist überflüssig. Sie sind reichlich bewaffnet. Man muß den

Konfliktparteien helfen, die Waffen aus GAMMA / STUDIO X der Hand zu legen. Kroaten-Präsident Tudjman (3. v. l.)*: „Wer ethnisch säubert, verdient keine Hilfe“ SPIEGEL: Vier Jahre hat die deutsche Friedensbewegung geschwiegen, jetzt tel – aber wir müssen mehr über solche SPIEGEL: Warum hat der Westen den rufen viele Pazifisten zu den Waffen. „Soft Power“, über nichtmilitärischen richtigen Zeitpunkt verpaßt? Wie erklären Sie dieses Umdenken? Druck nachdenken, anstatt gleich nach Czempiel: Eine Ursache liegt in dem Czempiel: Jeder von uns ist entrüstet Militärschlägen zu rufen. Noch besser überholten Denken, daß sich Regie- über das Morden. Aber wir reden hier wäre es, bei solchen Konflikten recht- rungen und internationale Organisa- nicht von Menschen, die abends vor zeitig vorher politisch zu intervenieren tionen nicht in die inneren Angelegen- dem Fernseher sitzen, die Greueltaten als nachher militärisch. heiten anderer Staaten einmischen sehen und die verständliche Reaktion entwickeln: Da muß jetzt aber mal draufgeschlagen werden! Wir reden von Ernst-Otto Czempiel Politikern, und die müssen zwischen ih- rem Gefühl und der politischen Tat den leitet die Hessische Stiftung Friedens- und Verstand einschalten. Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt, das SPIEGEL: Haben Eppler und Fischer den größte Institut dieser Art in Deutschland. Der Verstand verloren? emeritierte Professor für Politikwissenschaft, Czempiel: Sie haben ihn vielleicht nicht 68, ist hierzulande einer der bedeutendsten richtig bemüht. Wir haben doch ganz Forscher über Internationale Beziehungen. Mit andere Mittel zur Verfügung, um uns seinen Studien über Kriegsursachen und Frie- einzumischen – zum Beispiel wirtschaft- densstrategien trug er dazu bei, daß die Frie- liche. Gegen Restjugoslawien haben wir densforschung mittlerweile als seriöser Wis- massive Sanktionen eingesetzt. Warum senschaftszweig anerkannt wird. Nach dem tun wir nicht Ähnliches gegenüber den Fall der Mauer sagte Czempiel voraus, daß der Kroaten, die 160 000 Serben aus der Umbruch in Osteuropa und das Ende der diszi- Krajina vertrieben haben, und sagen ih- plinierenden Konfrontation der Supermächte nen: Wer ethnisch säubert, wird hinter- zu einer Vielzahl kriegerischer Regionalkon- her keine Mark Aufbauhilfe bekom- flikte führen würden. Waffenlieferungen an men. Das ist ganz sicher kein Allheilmit- Diktaturen vergleicht er mit staatlicher Aufrü-

stung von Verbrecherbanden. M. DARCHINGER * Bei einem Frontbesuch.

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dürfen. Man darf zwar notfalls Krieg Dies ist gescheitert, weil sich Gesell- SPIEGEL: Sind damit auch die Träu- führen. Aber bis heute verbietet die schaften heute nicht mehr unter eine me vom Weltpolizisten Uno ausge- Uno-Charta, sich mit friedlichen Mit- Herrschaft beugen, die sie nicht akzep- träumt? teln präventiv einzumischen. tieren. Das werden wir auch in Ruß- Czempiel: Das wäre nur gut so. Die Uno SPIEGEL: Welche vorbeugenden Mittel land und anderen Staaten der ehemali- wurde geschaffen, um die Ursachen der wären das? gen Sowjetunion erleben. Wir müssen Kriege zu bekämpfen. Der Umgang mit Czempiel: Nehmen wir das klassische uns auf eine Welle der Selbstbestim- Bürgerkriegen ist neu und extrem Beispiel Südafrika. Die USA haben mung einstellen. schwierig. Die Uno wird niemals selbst maßgeblich zur Überwindung des SPIEGEL: Bei der Assoziierung der Frieden erzwingen können. Apartheidsystems beigetragen, weil sie Osteuropäer hat die Europäische Uni- SPIEGEL: Die Uno als machtloser Frie- in amerikanischen Unternehmen am on von allen Staaten verlangt, den densengel? Kap die Rassentrennung aufgehoben Schutz von Minderheiten in Nachbar- Czempiel: Wer den Krieg aus der Welt haben. So könnte man durch die richti- schaftsverträgen zu regeln. Doch die schaffen kann, besitzt Macht. Die Uno ge Plazierung von Investitionen, durch Regierungen in Paris und London kann das Übel an der Wurzel bekämp- den Verzicht auf Militärhilfe, durch die wollten selbst nicht mitmachen. fen. Meist ist es nicht der Diktator von Förderung demokratischer Organisatio- Czempiel: Es war richtig und gut, daß nebenan, der einen Krieg auslöst, son- nen, Parteien und Verbände, durch die die Europäische Union diese Bedin- dern die Anarchie des internationalen Einbindung in internationale Organisa- gungen gestellt hat. Vor allem Briten Systems: Wechselseitige Vorurteile und tionen zur Demokratisierung beitragen und Franzosen fürchten sich natürlich Ängste führen die Staaten zu Aggressio- und im Konfliktfall Einfluß neh- men. SPIEGEL: Was keine diplomatische Ak- tion der letzten vier Jahre geschafft hat, bewirkt der Einmarsch der Kroa- ten in die Krajina: bessere Friedens- chancen. Beweist das nicht, daß es nur mit Waffengewalt geht? Czempiel: Ich bezweifle, daß dadurch der Friede näher gekommen ist. Im Moment gibt es nichts weiter als ein neues Schlachtfeld, auf dem diesmal die Kroaten gesiegt haben. Die Kraji- na-Serben sind aus ihren Stammsitzen, in denen ihre Familien seit 500 Jahren „Ethnische Autonomie – Westeuropa ist da kein Vorbild“

lebten, vertrieben worden. Sie werden das nicht einfach geschehen lassen. Vertreibungen wirken, wie wir aus ei- gener Erfahrung wissen und im Nahen Osten immer wieder erleben, jahrzehn-

telang nach. AFP SPIEGEL: Der Westen hat dem kroati- Französische Fremdenlegionäre in Somalia (1993): „Frieden lernen lassen“ schen Angriff doch mit klammheimli- cher Freude zugesehen. davor, das Thema ethnischer Autono- nen, Aufrüstung und Krieg. In der Uno Czempiel: Die richtige Reaktion der mie aufzuwerfen – wegen der Nordiren lernen die Staaten zu kooperieren, Europäer und Amerikaner gegenüber und der Korsen. Westeuropa ist da Informationen auszutauschen, friedli- Tudjman hätte die Drohung sein müs- kein Vorbild. chen Ausgleich zu suchen – genauso sen: Ihr müßt den Serben das Bleiben SPIEGEL: Auf dem Balkan haben sich wie in Regionalorganisationen wie der oder sofort die Rückkehr ermöglichen die Russen – zeitweise auch die Briten OSZE*. Nur so lassen sich Kriege auf und ihnen ein kulturell und politisch und Franzosen – auf die Seite der Ser- Dauer verhindern. autonomes Leben in Kroatien bieten – ben geschlagen. Amerikaner und SPIEGEL: Die OSZE kann kaum für Si- sonst könnt ihr hinterher nicht mit fi- Deutsche protegieren Bosnier und cherheit in ganz Europa sorgen. Den nanzieller und ökonomischer Hilfe Kroaten. Ist Europa auf dem Weg zu- Polen, Ungarn oder Tschechen ist rechnen. Dann bleibt die Europäische rück zur Koalitionen- und Allianzenbil- der Beitritt zur Nato sogar wichtiger Union für euch dicht, dann gibt es kei- dung wie im vorigen Jahrhundert? als die Aufnahme in die Europäische nen Kredit und keinen Handel. Czempiel: Alle Europäer, aber auch Union. SPIEGEL: Geht es nicht um viel mehr – Rußland und die USA, kochen auf Czempiel: Eine Militärallianz wie die um Chauvinismus, Gewalt und ethni- dem Balkan wie vor hundert Jahren ih- Nato ist nach außen gerichtet – auf die schen Terror, der sich mitten in Euro- re eigene Suppe. Obwohl sie gemein- Abwehr eines Angreifers. Konflikte pa durchsetzt? sam daran interessiert sind, daß der zwischen den Mitgliedern müssen mit Czempiel: Jugoslawien war der Ver- Krieg aufhört, verfolgen sie daneben anderen Mitteln gelöst werden. Da hat such der Tito-Kommunisten, verschie- klassische nationale Macht- und Inter- dene Ethnien mit harter Hand in ei- essenpolitik. Sie suchen Einfluß für die * Organisation für Sicherheit und Zusammenar- nem Nationalstaat zusammenzuhalten. Zeit danach. beit in Europa.

DER SPIEGEL 35/1995 43 Werbeseite

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Werbeseite DEUTSCHLAND die Nato, anders als die OSZE, nichts zu ein verläßlicher, nachweisbarer Mecha- komm raus zur Demokratisierung und bieten. nismus. Erhöht die Nato den Druck auf Liberalisierung Rußlands beizutragen. SPIEGEL: Die Osteuropäer suchen in der Rußland, wird die Freiheit dort nach un- SPIEGEL: Und die Polen blieben solange Nato vor allem eins: Schutz vor einem ten gehen. Fällt der Druck, weil Koope- im Niemandsland zurück? unberechenbaren Rußland. ration herrscht, wie sie der Westen mit Czempiel: Sie müssen deshalb nicht Czempiel: Nach 50 Jahren Abhängigkeit der „Partnerschaft für den Frieden“ an- schutzlos bleiben. Die Nato könnte eine und Knebelung durch den Sowjet-Kom- geboten hat, werden jene Kräfte in Ruß- Sicherheitsgarantie abgeben – ohne munismus ist dieser Reflex verständlich, land gefördert, die an einer Demokrati- gleich den schweren Fehler zu begehen, aber die Form der Abhilfe falsch. Eine sierung westlichen Stils interessiert sind. die Nato auszuweiten. Durch Heranfüh- Ost-Erweiterung der Nato schafft genau Mit der OSZE könnte jene Organisation ren an die Europäische Union, durch die Probleme, die sie lösen soll. gekräftigt werden, in der alle zusammen kräftige politische und wirtschaftliche SPIEGEL: Der deutsche Verteidigungs- Hilfe kommen die Osteuropäer auch minister Volker Rühe hat die Ost-Er- raus aus der Grauzone zwischen Ost weiterung bereits als „unumkehrbar“ „Auf Teufel komm und West. Sie sind dann Teil Westeuro- bezeichnet. raus die Demokratie in pas. Czempiel: Ich hoffe, die Nato überlegt SPIEGEL: Wegen des Wirtschaftsgefälles es sich noch mal. Rußland muß ihr Vor- Rußland fördern“ zu den ehemaligen Ostblockstaaten wird rücken als aggressiven Akt verstehen. es wohl noch ein Jahrzehnt dauern, bis Es wird mit Aufrüsten, Kooperations- gleichberechtigt über die europäischen die Europäische Union erweitert wird. verweigerung und Druck auf seine Dinge beraten. Darf man die Osteuropäer so lange war- Nachbarn antworten. Dann hätten die SPIEGEL: Haben Polen und Ungarn als ten lassen? Osteuropäer wirklich wieder Grund, freie, westlich orientierte Völker kein Czempiel: Wenn wir diesen Ländern Angst vor Rußland zu haben. Und der Anrecht, Mitglied der Nato zu sein? helfen wollen, müssen wir Konzessionen Westen müßte sich sagen lassen, dies Czempiel: Das ist keine Frage des machen – vor allem bei der Agrar- und befördert zu haben. Rechts, sondern des Nutzens. Osteuro- Subventionspolitik der Union. SPIEGEL: Warum ist das zwangsläufig pa wird erst dann Sicherheit vor einem SPIEGEL: Das wäre für die Westeuropä- so? Die Nato richtet sich nicht gegen Wiederaufleben des Moskauer Imperia- er wesentlich teurer und schmerzhafter Rußland, sondern bietet ihren Mitglie- lismus haben, wenn Rußland ein demo- als eine Nato-Erweiterung. dern Schutz vor Rußland. kratisch und marktwirtschaftlich orien- Czempiel: Selbstverständlich. Aber wie Czempiel: Der Grad der Freiheit in ei- tiertes Land ist. Also kann doch – und teuer und schmerzhaft war der Ost- nem Lande ist umgekehrt proportional das müssen auch die Polen verstehen – West-Konflikt? Er hat doch Billionen zum Druck auf seine Grenzen. Dies ist die Strategie nur heißen: auf Teufel verschlungen.

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Flughäfen In den Schritt Die Fummelei der Kontrolleure geht vielen Fluggästen auf die Nerven, manche fühlen sich durch die Hand- arbeit belästigt.

or der Schleuse im Flugsteig A des Frankfurter Flughafens liegt ein VSchweißwölkchen in der Luft. Der Mann vom Sicherheitsdienst ist, deutlich wahrnehmbar, seit Stunden in hartem körperlichem Einsatz. Seine Magnetsonde hat er beiseite ge- legt, nun wühlt er mit beiden Händen in den Achselhöhlen des Fluggastes, die Hände fahren die Jacke herunter, und dann greift er, im Auftrag des Bundesin-

nenministers, dem Passagier herzhaft SPIEGEL-TV zwischen die Beine. Personenkontrolle am Münchner Flughafen: Nur die Handarbeit bringt¯s So muß es sein. „Körperdeckend ein- schließlich Intimbereich“ muß der Kon- Die Arbeit ist „körperlich anstren- zig/Halle GmbH die Installation von trolleur laut einer Anordnung des gend“, weiß Rolf Oberndörfer vom Duschen abgetrotzt. Bonner Innenministeriums die Fluggäste Luftamt Südbayern und Sicherheitschef Die Fluktuation in dem Gewerbe ist durchsuchen. Nur mit Handarbeit, das auf dem Münchner Flughafen. 150 bis hoch, die Bezahlung dürftig. Die Sicher- hat er in dreiwöchiger Schulung gelernt, 200 Passagiere hat ein Kontrolleur pro heitsleute werden nach dem Bundes- lassen sich all die Geräte zutage fördern, Stunde abzufertigen: Laut Vorschrift angestelltentarif VII bezahlt – ob sie, mit denen einer an Bord Ärger machen führt eine Hand die Magnetsonde, die wie in München, Beschäftigte einer pri- oder gar die „widerrechtliche Inbesitz- mit einem Piepsen metallische Gegen- vaten Gesellschaft sind oder, wie in nahme von Luftfahrzeugen“ erzwingen stände anzeigt, die andere Hand tastet Leipzig, Angestellte des Bundesgrenz- könnte. Eine gewissenhafte Fachkraft den Körper ab. Jeder zweite Fluggast schutzes. geht auch einem Baby an die Pampers. In soll besonders sorgfältig befummelt wer- Sie kommen aus allen Berufen: Lkw- einer dicken Windel könnten ja, das hat den. Fahrer und Friseusen sind darunter, ihm sein Ausbilder beigebracht, Waffen 150- bis 200mal pro Stunde sich in Bäcker mit Mehlstaub-Allergie und ost- versteckt sein. Hüfthöhe herabzubeugen oder gar in deutsche Ingenieure, die keinen ande- Der Mann von der Frankfurter Avia- die Hocke zu gehen wirkt schweißtrei- ren Job gefunden haben. Begehrt ist die tion Security am Flugsteig A hat schon bend. Mit diesem Argument hat der Fummelarbeit vor allem bei ehemaligen mal eine Abmahnung wegen zu laxer Bundesgrenzschutz der Flughafen Leip- Stasi-Mitarbeitern. Aus der 600köpfigen Kontrolle erhalten. Seitdem arbeitet er – für 2200 Mark netto, einschließlich Schichtzulage – streng nach Vorschrift. Das dauert. Derweil wächst die Schlange vor der Schleuse, die Ungeduld nimmt zu. „Beamtenärsche“, knurrt leise ein Handy-Träger, Anfang 30. Die Fummelei an deutschen Flughäfen geht vielen Passagieren offenkundig auf die Nerven, auch Lufthansa-Chef Jürgen Weber kann den Sinn der Sache nicht er- kennen. Sicherheitskontrollen seien not- wendig, sagt Weber, aber „viele unserer Fluggäste fragen sich, weshalb sie so ab- gegrabbelt werden, wo es in anderen Ländern ohne dieses Gefummel geht“. Allzu körpernahes Abtatschen zieht zuweilen lautstarke Kontroversen nach sich, vor allem wenn genervte Passagiere auf ruppiges Personal stoßen. „Da gibt ein Wort das andere“, sagt Hasko Pausti- an vom Grenzschutzpräsidium Nord in Bad Bramstedt. Vielflieger klagen über

den harten Griff in Berlin-Tegel und den R. NELSON / PICTURE GROUP / FOCUS Geruch in Düsseldorf-Lohausen. Personenkontrolle in den USA: Fast überall geht es ohne Gefummel

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Werbeseite Truppe der SGM Sicherheitsgesellschaft am Flughafen München mbH etwa wur- den 70 Stasi-Leute entfernt. Den wenigsten macht die Arbeit an der Sicherheitsschleuse Spaß. Der Job ist „manchmal etwas eklig“, berichtet einer inFrankfurt: „Sieglauben nicht, wieviele Hosen feucht sind.“ Fast alle Passagiere lassen sich ergeben betatschen, einige aber fühlen sich durch den Griff in den Schritt oder dasAbtasten des Gesäßes – hinter der Geldbörse, wo eine Pistole stecken könnte – belästigt. „Die Tätigkeit ist konfliktbeladen“, sagt Oberndörfer. Praktisch nirgendwo sonst in der Welt, außer in Israel, werden Fluggäste so be- fummelt wie in Deutschland. Fast überall im Ausland gehen die Passagiere einfach durch ein Tor, das mit einem akustischen Signal auf metallische Gegenstände rea- giert – falls der Passagier nicht vorher Schlüsselbund, Kugelschreiber und Münzen auf ein Tablett gelegt hat. Das Wiesbadener Bundeskriminalamt (BKA) hat die in den USA und in fast al- len anderen Staaten üblichen – und als si- cher anerkannten – Magnet-Tore gete- stet und für wenig zuverlässig befunden. Die ringförmige Handsonde, diedicht am Körper entlang geführt wird, zeigt nach BKA-Erkenntnis wesentlich genauer metallische Gegenstände an. In der Bun- desrepublik ist die Handsonde vorge- schrieben. Auch der Bundesgrenzschutz, der auf allen deutschen Flughäfen – außer Bay- ern und Nordrhein-Westfalen – kontrol- lieren läßt, lobt die Handsonde. Wolfram Schwering-Sohnrey, Polizeidirektor im Bundesgrenzschutz, ist im Ausland „so oft mit dickem Schlüsselbund in der Ta- sche durchs Tor marschiert“ und hat „keinen Piepser gehört“. Die Passagiere müssen die Kosten aufbringen

Ihm und seinen Kollegen ist aber auch die Handsonde nicht zuverlässig genug. Nur dieHandarbeitbringt’s,lehrt Schwe- ring-Sohnrey, verantwortlich für die Si- cherheitslage auf den Flughäfen Leipzig und Erfurt: „Die richtige Sicherheit kommt durch die Hand.“ Darum muß der Kontrolleur tief in der Aktentasche wühlen, auch wenn auf dem Bildschirm des Durchleuchtungsgeräts nichts Verdächtiges erschienen ist. Min- destens jedes fünfte Gepäckstück muß manuell überprüft werden, lautet eine Anweisung des Bonner Innenministers. Über die Durchsuchungen ist eine Strich- liste zu führen. Derartige Gründlichkeit schafft Ar- beitsplätze. In Frankfurt, Deutschlands größtem Flughafen, haben über tausend

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Sicherheitsleute einen Job gefunden, im deutschen Sprachschatz gibt, „auch Vor allem in München empfiehlt mehr als 80 Millionen Mark jährlich im strafrechtlichen Bereich“. sich frühzeitiges Erscheinen an der Si- kostet das Personal und das technische Fürs Anblaffen rächen sich die Kon- cherheitsschleuse. Im Extremfall kann Gerät. Die aufwendige Fummelei an trolleure gern durch besondere Gründ- dort der Aufenthalt eine halbe Stunde deutschen Flughäfen, juxt Lufthansa- lichkeit. Darüber beschwerte sich ein dauern. Chef Weber, sei wohl in Wahrheit Zeit-Redakteur bei der Frankfurter Das SGM-Personal schafft an den „eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“. Flughafengesellschaft: Wegen der bös- sieben Schleusen vor dem Terminal A Die Kosten müssen die Passagiere willigen Sicherheitsleute habe er seinen im Schnitt 1000 Passagiere pro Stunde. aufbringen: Bei Linienflügen ist die Abflug verpaßt und beinahe auch noch Jetzt, in der Hauptreisezeit, drängeln „Luftsicherheitsgebühr“ – auf den mei- die nächste Maschine. manchmal bis zu 1900 Fluggäste stünd- sten Flughäfen 6,50 Mark – im Ticket- Wenige Minuten vor Abflug wollte lich ins Terminal. Preis enthalten, bei Charterflügen müs- der Mann von der Zeit ganz schnell München kontrolliert am schärfsten. sen die Touristen in der Regel die Ge- durch die Kontrolle und reagierte wohl Jeder Laptop muß auf die Präzisions- bühr zusätzlich zum Flugpreis zahlen. waage: Stimmt das Gewicht nicht aufs Für jede startende Maschine muß Gramm genau mit den Daten des Her- die Fluglinie die Anzahl der Passagiere „Na, haben Sie stellers überein, wird der Computer der Flughafengesellschaft melden. Die die Bombe vom Sprengstoff-Detektor Egis unter- Sicherheitsgebühren sind an das sucht. Auch die körperliche Untersu- Bonner Innenministerium zu zahlen nicht gefunden?“ chung ist härter als auf anderen Flug- und fließen von dort an den jeweiligen häfen. Sicherheitschef Oberndörfer Flughafen zurück. etwas unwirsch auf den körperlichen will seinen Leuten demnächst noch Die Abgabe wurde im Sommer 1990 Einsatz. Daraufhin wurde auch sein einmal einschärfen, „daß der Intimbe- eingeführt, kostete damals 3,50 Mark Handgepäck äußerst sorgfältig durch- reich nicht ausgespart werden und stieg schnell auf 5 Mark. Gegen sucht. darf“. den „Fummel-Fünfer“, wie die Gebühr Die Sicherheitskraft fingerte einen Wesentlich ergebener als Geschäfts- seitdem im Lufthansa-Jargon heißt, Elektrorasierer heraus und fragte, was reisende nehmen Touristen die Fum- klagte die deutsche Staatslinie verge- das sei. Patzige Antwort: „Eine Bombe, melei hin. Dafür quälen Charter-Kun- bens bis zum Bundesgerichtshof: Für das sieht man doch.“ Die Antwort miß- den die Kontrolleure mehrmals täglich die Sicherheit an Bord habe nicht der fiel, verdächtige Kundschaft wird zu ei- mit dem Standard-Scherz: „Na, haben Staat aufzukommen, entschieden die nem gläsernen Verschlag geführt, wo Sie die Bombe nicht gefun- Richter, sondern die Fluggesellschaft. das Sprengstoff-Aufspürungsgerät Egis den?“ Im November wird der einstige steht. Der Redakteur jedenfalls wurde Unmut kommt allenfalls hoch, wenn Fummel-Fünfer auf vielen Flughäfen so intensiv gefilzt, daß die Maschine oh- der Sicherheitsdienst verhältnismäßig abermals teuer. Er klettert von 6,50 ne ihn nach Hamburg flog. harmloses Zeug aus den Hosentaschen Mark auf 8 Mark in der Touristen holt: die München, in Berlin- Tüte mit Wunderkerzen, Schönefeld und Saar- das große Taschenmes- brücken gar auf 9,50 ser oder die 400-Milli- Mark. liter-Farbspraydose. So Bei diesen Preisen, so etwas darf nach den Ge- ist zu vermuten, können fahrgut-Vorschriften des die Passagiere noch zeit- Bundesverkehrsmini- raubender gefilzt wer- sters nicht in ein Flug- den. Bereits jetzt blok- zeug und wird daher kiert das Gefummel an konfisziert. den Sicherheitsschleusen Richtig gefährliches zu den Hauptreisezeiten Gerät finden die Kon- am Morgen und am spä- trolleure höchst selten – ten Nachmittag eine im Westen zumindest. schnelle Abfertigung. Ostdeutsche mit ihrem Wer es besonders eilig gesteigerten Sicherheits- hat, wird oft besonders bedürfnis wollen schon gründlich abgeklopft: In eher bewaffnet in den ihrer Ausbildung lernen Flieger. die angehenden Sicher- Im vorigen Jahr kram- heitsleute, daß die Ge- ten Leipziger Grenz- schichte von der gleich schutzangestellte 38

startenden Maschine ein SPIEGEL-TV Schußwaffen, 122 Stück fieser Trick von Terrori- Sicherheitschef Oberndörfer*: „Intimbereich nicht aussparen“ Munition, 863 Wurfster- sten sein könnte, die auf ne und ähnliche Ge- diese Weise durch die Kontrolle schlüp- Auch die nächste Maschine hätte er schosse sowie 1436 Dosen Tränengas- fen wollen. beinahe verpaßt. Aus der Abflughalle Spray aus Jacken, Hosen und Handta- Wenn ein Passagier auf die letzte Mi- zurück, mußte er wieder durch die Si- schen. Auch Ostdeutsche maulen über nute angehetzt kommt und ausgiebig cherheitsschleuse, und erneut legte er die Flughafen-Kontrollen – aber anders durchsucht wird, gibt es zuweilen Ärger. sich mit einem Kontrolleur an; abermals als ihre Landsleute im We- Da verliert mancher eilige Köfferchen- wurde sein Handgepäck sorgfältig sten. Träger die Contenance, auch die Ge- durchwühlt. Grenzschutz-Direktor Schwering- schäftsfrau pöbelt. Seine Leute, erzählt Sohnrey: „Hier beschweren sich die Oberndörfer, hätten sich schon alle Be- * Mit sichergestellten Waffen und gefährlichen Passagiere, daß sie nicht gründlich ge- schimpfungen anhören müssen, die es Geräten. nug kontrolliert wurden.“ Y

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Über dem Ammersee, in der hügeli- Mönche gen Moränenregion, die ihre Ordensah- nen einst in eine idyllische bäuerliche Kulturlandschaft verwandelt haben, soll nach den Plänen der Mönche der Bete „Landschafts- und Golfpark Andechs“ entstehen. Für das Vorhaben müßten 240 Hektar Land drangegeben werden, und verdiene davon 85 Hektar für eine Golfanlage mit 18 Löchern samt Klubhaus, Übungswie- Die Benediktiner des Klosters se und Sandbunkern. Andechs wollen einen luxuriösen Den lieben Gott sehen die Brüder aus dem weltberühmten Bier-Kloster dabei Golfplatz bauen – koste es auch ihre auf ihrer Seite. „Die Tradition der Be- eigene Kulturlandschaft. nediktiner“, sagt Pater Anselm Bilgri, Prior und Cellerar von Andechs, „be- stand immer darin, das zu tun, was opti- on Löchern müßten die Ordensbrü- male Erträge gebracht hat.“ der an sich genug haben: Eine hefti- Das wären in diesem Fall, hofft Pater Vge Detonation hatte unlängst das Anselm, 41, rund 150 000 Mark im Jahr, Gelände um das Kloster Andechs die ein künftiger Pächter des Golfplat- erschüttert, am nahen Eglsee klaffte zes zu zahlen hätte. Da läßt der Kloster- plötzlich ein kreisrunder Krater im verwalter durchaus eine freie Überset- Erdboden, 8 Meter tief und 20 zung der Ordensgrundregel „Ora et la- Meter im Durchmesser. Ein Meteo- bora!“ („Bete und arbeite!“) gelten: rit habe, so dachten zunächst Geo- „Bete und verdiene!“ physiker, den Berg der Benediktiner Pater Anselm kann dem Golfprojekt im bayerischen Oberland nur knapp sogar noch einen seelsorgerischen Nut- verfehlt. zen abgewinnen. Bei der gottgefälligen Das Loch entpuppte „Erziehung zu sinnvol- sich als Werk eines ler Freizeitgestaltung“ wirren Sprengmei- biete sich den Kirchen sters, der ohne Geneh- die „Chance zukünfti- migung erkunden woll- ger Dienstleistungen“. te, wie hoch das Ein verheißungsvoller Grundwasser dort Markt für Geistliche, steht. Die Information denen ansonsten die könnte sich demnächst Gläubigen weglaufen: als nützlich erweisen: durch Golf zu Gott. Die Andechser Mön- Vorrangig geht es che betreiben derzeit den acht cleveren ein Bauprojekt, das Mönchen aber eher Naturschützer erbost, darum, das Kloster aus weil es die Landschaft seiner finanziellen Mi-

weit mehr verunstalten EINBERGER / ARGUM sere zu retten. Die würde als der Krater. Cellerar Pater Anselm fromme Firma schreibt W. M. WEBER Kloster Andechs: Durch Golf zu Gott .

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seit Jahren rote Zahlen in sechsstelliger Minuten später betraten die beiden Höhe, trotz der gutgehenden Kloster- Ausländer Polizeiobermeister Daniela Bockmeyer brauerei (Biermarke: „Andechser Dop- und Thomas Becker, gerufen von einem pelbock“) und der jährlich anderthalb Gast, das Lokal. Die Räuber nahmen sie Millionen Besucher, die in den Kloster- sofort unter Feuer. Bilanz des Gefechts: kneipen Zeche machen. Die klostereige- Präzise Polizist Becker wurde verwundet, die ne Landwirtschaft bringt unterm Strich drei TKP/ML-Mitglieder Nurettin To- die Verluste ein. puz, 31, Mustafa Akgün, 29, und Musta- Kirchenintern haben die Mönche des- Treffer fa Aksakal, 47, starben. Nur Hüseyin halb kaum Widerstand gegen das profa- Gülec, ein hoher Funktionär der TKP/ ne Vorhaben zu fürchten. Pater Anselms Eine tödliche Schießerei deutet ML in der Bundesrepublik, überlebte Vorgesetzter, Abt Odilo Lechner von darauf hin, daß sich oppositionelle verletzt. Andechs und St. Bonifaz zu München: Die Obduktion der Leichen brachte „Die Errichtung eines Golfplatzes kann Türken und ihr Staat zunehmend überraschende Erkenntnisse: Die räube- ich mit gutem Gewissen vertreten.“ Und auch in Deutschland bekriegen. rischen Marxisten kamen durch wenige, über einem Abt rangiert nur noch der gutgezielte Schüsse ums Leben. Aksakal Papst. starb durch einen Schädelsteckschuß, Bislang haben die Mönche mit ihrer ie Gäste der Kneipe „Hardcore“ Topuz durch einen Schuß ins Herz, und Golfarena nur beim zuständigen Regio- im rheinland-pfälzischen Germers- Akgün traf eine Kugel in den Brustkorb nalen Planungsverband München noch Dheim zockten am Neujahrsmorgen und eine ins Herz. Keine der Kugeln kein Gehör gefunden. In der Region süd- gegen halb vier Uhr noch um Kleingeld, stammte aus Waffen vom Kaliber 9 Mil- lich der Landeshauptstadt gibt es bereits als vier dunkelhaarige Männer das Lo- limeter, wie sie die Polizisten bei sich 21 Golfplätze. Weitere Parcours lehnt kal betraten. Das Quartett zückte Re- trugen. Alle Kugeln hatten den Durch- der Verband in allen Gebieten ab, die volver und eine Maschinenpistole und messer 7,65 Millimeter. von „hoher ökologischer Bedeutung und bedrohte die über 20 Anwesenden – al- Angesichts der „präzisen Treffer“ (ein landschaftlicher Qualität“ sind oder be- lesamt Türken, und auch die Angreifer Fahnder) gingen Experten davon aus, sonderen Erholungswert bieten. gaben sich als Landsleute zu erkennen. daß der Schütze „ein knallharter Profi“ All das trifft auf Andechs zu. Gleich- Sie seien Mitglieder der in der Heimat gewesen sein müsse. Doch keiner der wohl dreht Pater Anselm den Spieß um: verbotenen Türkischen Kommunisti- Türken wollte etwas gesehen haben. Bei den Scharen von Andechs-Besu- schen Partei/Marxisten- chern, argumentiert er, fielen doch die Leninisten (TKP/ML), paar Golfer „nicht mehr ins Gewicht“. brüllten sie, und woll- Auf alternative Sanierungsvorschläge ten Geld für ihre Orga- eines aus Umweltschützern, Bio-Bauern nisation eintreiben, Ba- und der Genossenschaftsbank gebilde- res oder Schmuck. ten Arbeitskreises, der sich mit den Mön- Nur einer der Über- chen zu einer Kooperative für ökologi- fallenen, wie auch die sche Landwirtschaft und Vermarktung vier kein Stammgast, zusammenschließen wollte, reagierte das blieb ruhig. Fehmi T., Kloster überhaupt nicht. 36, rutschte unter einen Aus diesem Kreis erwachsen den Golf- Tisch und legte seine planern nun energische Gegner. Die Al- Pistole griffbereit ne- ternativen sorgen sich um den Erhalt des ben sich, eine Ceska, Andechser Idylls. Notfalls wollen sie vor Kaliber 7,65 Millime- dem Kloster demonstrieren, Green- ter. Erschossene Oppositionelle Topuz, Akgün, Aksakal, peace hat ihnen Unterstützung zugesagt. Statt mit den Alternativen verbünde- ten sich die Mönche mit professionellen Golfplanern: der Firma Ratio Golf aus Pullach und dem Architekten Götz Mecklenburg. Der behauptet von sich: „Ich habe noch jede Baugenehmigung für einen Golfplatz bekommen.“ Die Profis frisierten das ursprüngliche Modell der Benediktiner zu einer „sa- vannenartigen Landschaft“ (Mecklen- burg) mit etwas Öko-Fläche und Biotop – für Rechtsanwalt Wolfgang von No- stitz, Sprecher des alternativen Arbeits- kreises, „eine reine Mogelpackung“. Da- mit freilich hoffen die geistlichen und weltlichen Golfprospektoren nun beim Planungsverband durchzukommen. Bei der Präsentation seines Plans rede- te Mecklenburg dann noch den Bedarf herbei: „Wenn die politische Situation in unserem Lande so bleibt wie heute“, so der Architekt über den CSU-Staat Bay-

ern, „stehen wir in den nächsten Jahren FOTOS: S. MORGENSTERN vor einem Golfboom.“ Tatort in Germersheim: Schmuck oder Bares

54 DER SPIEGEL 35/1995 Die Schießerei in Germersheim, die ab den überraschten Staatsanwälten im Montag dieser Woche in einem Prozeß pfälzischen Landau mit Hilfe des türki- vor dem Landgericht Landau aufgerollt schen Konsulats und eines Rechtsan- werden soll, ist ein Indiz dafür, daß die walts der Todesschütze: Fehmi T., den militanten Auseinandersetzungen zwi- die Behörden seitdem zur Tarnung in der schen türkischen Oppositionellen und ih- Akte 7126 Js 8/95 als Mister „X“ führen. rem Staat in der Bundesrepublik eskalie- Er habe, gab der Türke zu, jeweils auf ren. die Köpfe der Angreifer geschossen. Als Auf der einen Seite überfallen TKP/ sich einer der am Boden liegenden ge- ML-Mitglieder Landsleute wie in Ger- troffenen Kommunisten immer noch be- mersheim und versuchenso, ihren Kampf wegte, habe er eben erneut zwei „Schüs- gegen das Regime in der Türkei zu finan- se auf den Kopf“ abgefeuert. zieren. So hatte eserst wenige Tage zuvor Die Behörden ermitteln zwar nun ge- eine ähnliche Aktion in der Heidelberger gen ihn wegen Totschlags, beantragten Gaststätte „Auerhahn“ gegeben. aber keinen Haftbefehl, angeblich rei- Auf der anderen Seite, glauben Ge- chen die Beweise dazu nicht. Zu einem heimdienstler, steuere die Türkei „Hit- Prozeß gegen ihn wird es wohl kaum kommandos“ in Deutschland, so ein Ver- kommen. Der Leitende Oberstaatsan- fassungsschützer, „um wichtige Opposi- walt Hans-Jürgen Sack: „Wir gehen hier tionelle zu liquidieren“. von Notwehr aus.“ Tatsächlich feierten türkische Zeitun- Gerhard Härdle, Anwalt der Familie gen den Tod der TKP-Mitglieder. Vor al- Topuz, hält Sacks Argumentation für lem Topuz, der drei Tage vor dem Über- „nicht haltbar“, es sei eine „regelrechte fall als Asylberechtigter anerkannt wor- Hinrichtung“ gewesen. In einer Verneh- den war, galt als wichtiger Funktionärder mung gab der Schütze an, wenn sein Ma- Partei. gazin nicht leer gewesen wäre, hätte er Er war im Mai 1993 nach mehrwöchi- „auch noch den Fahrer gesucht, der die ger Folter im Istanbuler Polizeigefängnis Männer gebracht hat, und diesen er- aus der Türkei geflohen. Nach dem An- schossen“. Härdle: „Diese Aussage macht deutlich, daß hier sogar ein Tötungs- drang vorliegt.“ Der Arbeitslose Feh- mi T., der seit einigen Jahren in der Südpfalz wohnt, war zuvor Mit- glied einer Sonderein- heit der türkischen Mi- litärpolizei in der Stadt Yozgat. Er galt dort nicht nur als linientreu- er Soldat, sondern vor allem als exzellenter Schütze. Überlebender Gülec: Regelrechter Tötungsdrang „Möglicherweise wurde dem Quartett im Hardcore gezielt eine Falle gestellt“, mutmaßt deshalb ein Fahnder. Nach Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz hatten sich im Okto- ber 1994 Mitglieder der TKP/ML in Köln getroffen und dort Anweisungen ihres Zentralkomitees zur Erpressung von türkischen Geschäftsleuten erhal- ten. Das hatte sich rumgesprochen, Tür- ken wußten also längst, daß mit Über- fällen zu rechnen war. Und Topuz’ Ge- Tatwaffe Ceska nossen waren im Pfälzischen und Nord- „Ein knallharter Profi“ badischen besonders aktiv. Nur was der Schütze bewaffnet im Hardcore zu su- hörungsbericht des Bundesamts für die chen hatte, ist bis heute nicht geklärt. Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Der Überlebende Gülec muß sich war Topuz mit Stromschlägen traktiert nun wegen schweren Raubes vor Ge- worden. Einige seiner Familienangehö- richt verantworten. Der Ex-Militärpoli- rigen hat die türkische Militärpolizei er- zist Fehmi T. ist als Zeuge geladen. schossen. Doch schon jetzt steht fest: Er muß Vier Tage nach dem Gemetzel in der nicht persönlich erscheinen, die Behör- Kneipe „Hardcore“, inzwischen in den fürchten einen Racheanschlag auf „Heaven“ umbenannt, meldete sich bei Mister „X“. Y .

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daß der teure Immunstoff nicht wirkt haften Therapien Glauben – und fallen Gesundheit und sogar gefährlich ist. „Bei diesen Scharlatanen und üblen Profiteuren in Produkten“, lautet das Fazit einer Un- die Hände. Das geltende Arzneimittel- tersuchung des Medizinischen Dienstes recht läßt die gewähren. Die Lücken im der Krankenversicherung in Bayern, be- Gesetz muß der Gesundheitsminister Wir stünden gehörige „Zweifel an Qualität, schließen. Seehofer aber schloß bis heu- Wirksamkeit und Unbedenklichkeit“. te nicht. Die gleichen Bedenken hat das Bun- So floriert das Geschäft, das Ärzte Papiertiger desamt für Sera und Impfstoffe (Paul- und Labors mit Krebskranken machen, Ehrlich-Institut) schon im Februar 1994 ungestört. Innerhalb kürzester Zeit wur- Dubiose Laboratorien machen Krebs- Bundesgesundheitsminister Horst See- den, so zählten die Kassen, rund 4000 kranken mit windigen Präparaten hofer (CSU) in einem Brief auf 14 Sei- Patienten mit den bedenklichen Arznei- ten vorgetragen. „Wegen gravierender mitteln traktiert, für schätzungsweise 80 Hoffnung – und schröpfen sie. Mängel bei der Herstellung und Prüfung Millionen Mark. sowie zweifelhafter Qualität“ riet das Dafür werden eigens Medizin- ie Diagnose fiel schrecklich aus: Bundesamt seinem Dienstherren drin- GmbHs gegründet. Etliche Hersteller Krebs, ein Nierenzellkarzinom, gend, „das Inverkehrbringen derartiger hegen die Absicht, nicht nur Klinikärz- DOperation dringend notwendig. Arzneimittel zu verhindern“. Denn bei te, sondern auch niedergelassene Medi- Dabei stünden die Chancen auf Heilung, der autologen Immuntherapie drohe et- ziner für die fragwürdige Tumorimpfung so eröffnete der Chefarzt seinem Patien- wa die „Übertragung von Viren“. zu begeistern. „Daher“, fürchtet der ten schonungslos, nicht eben glänzend, Normalerweise beweist Seehofer Ge- Medizinische Dienst der Krankenversi- kaum besser als halbe-halbe. Denn die spür dafür, wann es richtig ist, Alarm zu cherung in Bayern in einem internen üblichen Verfahren – Chemo-, Radio- schlagen. Diesmal reagierte er wie ein Bericht, „ist eine enorme zahlenmäßige oder Hormontherapien – nach der Ope- Bürokrat. Er begnügte sich damit, ein Steigerung zu erwarten.“ ration setzten diesem Tumor nicht zu. neues Gutachten beim Bundesamt zu Das ist auch für Seehofers Beamte Der Kranke sei also danach, wie es so bestellen, Termin: Ende 1995. nichts Neues. Pharma-Referatsleiter passend heißt, „schulmedizinisch austhe- rapiert“. Dann wartete der Arzt mit einem schwachen Hoffnungsschimmer auf. Da gebe es etwas ganz Neues, die autologe Immuntherapie. Dabei werde der Tumor entfernt, und Teile davon würden an ein Labor eingesandt. Dort würden einzelne Zellen in einen Impfstoff verwandelt; das Serum bekomme der Kranke gespritzt. Gehe alles gut, würden sich körpereigene Abwehrstoffe auf jede Krebszelle, die sich fortan bilde, stürzen. Der Patient verstand wenig und schöpfte Hoffnung. Zumal der Chefarzt von günstigen Erfahrungen mit der auto- logen Therapie berichtete. Erste klini- sche Ergebnisse seien positiv ausgefal- len, Untersuchungen sächsischer Urolo- gen hätten einen „deutlichen Überle- bensvorteil“ für die mit dem Impfstoff aus ihren eigenen Zellen behandelten Pa-

tienten gezeigt, Nebenwirkungen seien PRINT nicht aufgetreten. Minister Seehofer, Krebspatient: „Abhilfe dringend erwartet“ Allerdings habe die Sache einen Ha- ken, so meinte der Chefarzt zu seinem Er blieb auch untätig, als sämtliche 16 Wolfgang Hartmann-Besche: „Wir küm- Patienten, die Krankenkasse komme für Gesundheitsminister der Bundesländer mern uns drum“ – aber in aller Ruhe. die Therapie nicht auf. Natürlich zögerte im November 1994 an ihn appellierten, Nun gibt es nicht nur Ärzte und La- der Patient keine Sekunde, selbstver- sich endlich um die ominösen Therapeu- bors, die aus der Krankheit ein Geschäft ständlich war er bereit, für sein Überle- tika zu kümmern, „um eine unmittelbare machen wollen. Da sind auch seriöse ben 20 000 Mark selbst aufzubringen. oder mittelbare Gefährdung der Gesund- Wissenschaftler, die sich mit der proble- Warum die Kasse sich sperrt, die Ko- heit von Mensch oder Tier zu verhüten“. matischen Therapie befassen. An den sten für den Impfstoff zu übernehmen, Zur gleichen Zeit wies der Bundesaus- Medizin-Hochschulen, etwa in Hanno- verschwieg der Doktor vorsorglich. schuß der Ärzte und Krankenkassen See- ver oder Heidelberg, suchen Immunolo- In den Jahren 1991 und 1992 waren bei hofer schriftlich auf die schwerwiegen- gen nach neuen Anti-Krebs-Therapien. den Kassen die ersten Anträge auf Be- den Probleme mit den „Immuntherapien „Theoretisch durchaus attraktive Ge- zahlung solcher Immuntherapien einge- aus Körpermaterial der Patienten“ hin. sichtspunkte“ sieht denn auch das Deut- gangen. Zunächst kamen sie prompt da- „Abhilfe von Ihnen, sehr geehrter Herr sche Krebsforschungszentrum in Heidel- für auf. Das ist erst anders, seitdem Be- Minister“, werde „dringend erwartet“. berg in dieser Therapie. Nur in der Praxis richte eigener Fachleute vorliegen und Auf Abhilfe läßt der Minister mit dem sei der Durchbruch eben nicht gelungen, seit führende Krebsspezialisten Grund Sinn für Populismus weiter warten. die Wirksamkeit „nicht erkennbar“. zur Skepsis gaben. In ihrer Not schenken Schwerkranke, An Heilung mit der autologen Thera- Vor allem die Allgemeinen Ortskran- konfrontiert mit einer niederschmettern- pie ist noch nicht zu denken, die Frage, kenkassen sind mittlerweile überzeugt, den Diagnose, auch schon mal zweifel- „ob ein therapeutischer Nutzen zumin-

56 DER SPIEGEL 35/1995 dest wahrscheinlich ist“, beantwortet zulassungspflichtigen Problempräparate Stefan Meuer, Leiter der Abteilung an- vorzugehen. Denn eine Herstellungsge- gewandte Immunologie im Heidelber- nehmigung, immerhin, müssen die La- ger Zentrum, „mit Nein“. boratorien beantragen. Darüber zu Verkauft, verordnet, gespritzt werden entscheiden ist wiederum Sache der die zum Teil recht abenteuerlich behan- Länder. Und die müssen sich mit dem delten Tumorzellen gleichwohl. Es gibt Bundesamt „ins Benehmen“ setzen, keine Prüfung, es gibt keine Zulassung wie es das Gesetz vorschreibt. der Methode. Das Arzneimittelrecht Die zuständigen Beamten aber müs- nimmt Produkte von der Zulassungs- sen die Herstellung von Produkten er- pflicht aus, die nicht serienmäßig herge- lauben – mögen sie noch so unsinnig stellt, sondern speziell für den einzelnen sein –, wenn die Produktionsräume Patienten gemischt oder gefertigt wer- „sauber und für den Zweck geeignet“ den. sind und die damit befaßten Personen die nötigen formalen Voraussetzungen mit- bringen. So will es Riskantes Verfahren das Gesetz. „Wir von der Arzneimittelüber- Umstrittene Methode in der Krebsbekämpfung: wachung sind Papierti- Bei der „aktiv-spezifischen ger“, sagt Hanspeter vom Tumor werden Höcklin, Ministerial- entnommen Immuntherapie“ wird dem Patienten krankes Gewebe rat im niedersächsi- Gewebeextrakte entnommen und ihm in schen Sozialministeri- Zellen veränderter Form gespritzt. Zellmembranen um. In Duderstadt und Kaiserslautern, in München, Dessau und Gelsenkirchen, über- das entnommene zusätzliche Material wird all legte sich das Bun- inaktiviert durch Behandlung desamt quer. Überall ionisierende Zugabe von jedoch – mit wenigen Bestrahlung Virus-Partikeln Ausnahmen – geneh- Beimengung Zytostatika migten die Landesbe- Einfrieren/ von Zytokinen, Vitaminen etc. hörden die Herstel- Auftauen lung der umstrittenen Erhitzen Impfstoffe, obwohl sie Ultraschall selber sähen, so der Hannoveraner Höck- mögliche Risiken* lin, „wie die Firmen anschließend das Land Impfmetastasen abklappern und Ärz- Schwächung des Immunsystems, ten ihre zweifelhaften, dadurch verstärktes Tumorwachstum Autoimmunkrankheiten aber lukrativen Ideen Infektionen durch Bakterien und Viren anbieten“. Änderung des genetischen Materials Bei allen Betriebs- durch Bestrahlung und Viren besuchen fand das *Quelle: Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Bundesamt „höchst unbefriedigende Zu- stände“ vor. Da wür- Das ist bei den Immunpräparaten den Tumore „mit lebendem Geflügel- der Fall: Sie werden ja individuell, pestvirus“ behandelt, mit Cäsium 137 meist aus Tumorzellen des jeweiligen bestrahlt, werde ihnen sogar Urin bei- Patienten, gewonnen. Und auch die gemischt. Dem Gesundheitsminister in Ärzte, die sie spritzen, können sich auf Bonn meldeten seine Wissenschaftler einen gesetzlichen Ausnahmezustand auch, „daß selbst einzelne Geschäfts- berufen. Wo die Schulmedizin nicht leitungen die Unzulänglichkeiten ihrer weiterweiß, ist ihnen ein „Heilversuch“ Produkte zugeben“. erlaubt, auch wenn der Ausgang unge- Im Hause Seehofer ist man durchaus wiß ist. guten Willens. Man will ja helfen und Beide gesetzlichen Besonderheiten künftig „Rezepturarzneimittel“ ebenso sollen Forschen und Experimentieren der Überprüfung, Zulassung und ermöglichen. Dabei allerdings hat der Überwachung unterstellen wie Fertig- Gesetzgeber die Geschäftemacher produkte. Allein – weder den Beamten übersehen. Und solange das Recht noch ihrem Chef ist bislang, wie See- nicht geändert wird, sind auch die em- hofers Pharmaspezialist Hartmann-Be- sigsten Gesundheitsbeamten machtlos. sche verlegen zugibt, „eine geeignete Im Detail listete das Paul-Ehrlich-In- juristische Definition“ eingefallen, um stitut dem Gesundheitsminister seine „Scharlatane und Profitmacher von se- Bemühungen auf, gegen die nicht riösen Forschern abzugrenzen“. Y Werbeseite

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DEUTSCHLAND D. KONNERTH / LICHTBLICK Petersburger Revue am Berliner „Fürst Oblomow“-Theater: In der fremden Großstadt ein kleines Rußland aufgebaut

Einwanderer Rückkehr nach Charlottengrad Keine andere europäische Metropole zieht so viele Zuwanderer aus dem Osten an wie die deutsche Hauptstadt. Berlin ist zu einem Zentrum russischer Emigranten geworden. Die knapp 100 000 Mitglieder der bunten Kolonie verfolgen nur ein Ziel – ein dauerhaft besseres Leben im Westen.

ie Party beginnt nach Mitternacht. gekommene Mietskasernen mehrheit- Mann hat ein Gemälde zum „Auktions- Zügig füllt sich die winzige Bar, die lich in russischer Hand. Ihren Lebens- preis von fünf Millionen“ erstanden und Dkeinen Namen und keine Lizenz unterhalt verdienen die Jugendlichen will es nun „mit hübschem Gewinn“ in hat. Fast jeden der jungen Stammgäste aus Kiew, St. Petersburg und Odessa Moskau verkaufen: „Die neuen Banker begrüßt Barkeeper Vassja mit einem kur- mit Gelegenheitsjobs als Fahrradboten. dort sind ganz scharf auf teure Kunst.“ zen „Priwjet“ – das Publikum spricht rus- In den „Thermen“ am Berliner Euro- Der Schreibtisch von Friedrich Go- sisch, tschechisch, polnisch oder franzö- pa-Center nahe der Gedächtniskirche renstein, 63, ist übersät mit engbeschrie- sisch. Deutsch kommt nur noch auf der herrscht sonntags russischer Hochbe- benen Zetteln. Im Herbst soll sein neues Preistafel für Getränke vor. trieb. Auf Marmorbänken schwitzen äl- Werk „Der Platz“ erscheinen, eine Ab- Silberfolien hängen von der bröckeln- tere Herrschaften im „römisch-russi- handlung über die „Wurzeln der russi- den Stuckdecke in der Parterrewohnung schen Dampfbad“. Goldene Armspan- schen Probleme“. Beschäftigt mit den eines Ost-Berliner Altbaus herab. Um gen, mächtige Ohrringe und Halsketten großen Menschheitsfragen, haust der das rosafarbene Poster einer russischen mit orthodoxen Kreuzen funkeln im aus Kiew stammende Schriftsteller in ei- Schönheit hat jemand Stacheldraht ins Dunst. Tätowierungen aus der Häft- ner West-Berliner Sozialwohnung, die Mauerwerk gedrückt. Die durchgesesse- lingszeit zieren manches Männerbein, er nur im Notfall verläßt. Sein bevor- ne Couchgarnitur und ein paar Chrom- links ein Freudenmädchen, rechts die zugter Gesprächspartner im „geistigen stühle stammen vom Sperrmüll, wie es Freiheitsstatue. Dreieck zwischen Rußland, Judentum sich für Hausbesetzer gehört. Nach dem Saunagang streifen die und Deutschland“ ist Perserkater Chris, Vassja Linezki, 26, aufgewachsen in ei- Herren schneeweiße Bademäntel über der seinen Herrschaftsbereich geruchs- ner Moskauer Akademikerfamilie, kam und besprechen im Restaurant der An- stark markiert hat. 1990 mit einem Rucksack voller Bücher lage Geschäfte. Ein kahlköpfiger Kunst- Die Russen sind da. Keine andere eu- in die deutsche Hauptstadt und zählt zu händler preist seine Kenntnisse: „Bei ropäische Metropole zieht seit dem Zu- den ersten russischen Hausbesetzern in Renoir-Bildern kostet der Akt von hin- sammenbruch des Ostblocks so viele Berlin. Mittlerweile sind zwei herunter- ten immer mehr als der von vorn.“ Der russische Zuwanderer an wie die deut-

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Trödlerin Dimant: Mord und Totschlag in der Händlerszene

werden nicht mitgezählt. Auch „Spreekanal“ regelmäßig ein russisches die Zahl der schon zu DDR-Zei- Fernsehprogramm ins Kabelnetz. Barkeeper Linezki ten zwecks Heirat nach Ost-Ber- Schon hofft das deutsche Berlin, ver- Deutsch nur noch auf der Preistafel lin zugezogenen Sowjetbürger narrt in den Glanz der Metropole wäh- ist unbekannt. Und wie viele il- rend der zwanziger Jahre, auf eine Re- legal nach Deutschland gekom- naissance des „russkij Berlin“ der Wei- men sind oder vergeblich einen marer Republik. Damals trugen mehr Asylantrag stellten und nun im als 300 000 Russen dazu bei, daß Ber- Untergrund leben, wagt keine lin als kulturelles Zentrum Europas Behörde zu mutmaßen. galt. Die Migranten haben sich – Reichlich Gelegenheit, den Mythos heute wie vor 70 Jahren – in der zu beschwören, bieten im September fremden Großstadt ein kleines die Festwochen „Moskau-Berlin/Ber- Rußland aufgebaut. Fast alle lin-Moskau“. Dutzende Konzerte mit Bedürfnisse kann der Berliner weltberühmten Künstlern werden nicht Russe inzwischen bei Landsleu- minder bekannte russische Komponi- ten befriedigen. Ob er seine sten feiern. Theater, Debatten, Lesun- Schuhe besohlen lassen will, ei- gen satt; im Martin-Gropius-Bau lockt nen neuen Haarschnitt braucht eine große Kunstausstellung über die

FOTOS: A. SCHOELZEL oder den Hausarzt konsultieren westdeutsch-russischen kulturellen Be- „Ostrow“-Chefredakteur Syssojew muß – immer wird er, sofern ge- ziehungen zwischen 1900 und 1950. Heimatgefühl per Computer wünscht, in seiner Mutterspra- Russophile Berliner werden vier Wo- che bedient. Sogar ein Kinder- chen lang täglich zwischen bis zu acht sche Hauptstadt. Und wohl keine ande- garten und eine kleine, privat finanzier- Veranstaltungen auswählen können. re Einwanderergruppe schillert so viel- te russische Schule haben sich in Berlin Das Mammutprogramm will an Tra- farbig wie die Emigrantenszene aus der etabliert. Wer den Partner fürs Leben ditionen anknüpfen. In der deutschen GUS: Nach Berlin drängt es bunte Vö- sucht, annonciert unter der Rubrik Zwischenkriegszeit trieben Bürgerkrieg gel und brave Handarbeiter, ehrgeizige „Klub der einsamen Herzen“ in der ein- und Revolution die russische Intelli- Künstler, kluge Intellektuelle, gewitzte zigen russischen Zeitung Deutschlands, genzija zum Exodus. Ihr erstes Ziel Händler und ganz große Schieber. der dreiwöchentlich in Berlin erschei- war Berlin, wo sie die Kultur des zer- Schätzungsweise 70 000 bis 100 000 nenden Jewropazentr (Auflage: 40 000). störten Zarenreichs am Leben hielt. ehemalige Sowjetbürger leben mittler- Die jüdische Gemeinde – zwei Drittel Allein 2200 Bücher wurden zwischen weile in der Stadt, weitaus mehr als in ihrer 10 000 Mitglieder stammen aus der 1918 und 1924 von 86 russischen Verla- Paris oder London. Genaue Zahlen GUS – organisiert soziale und kulturelle gen in Berlin produziert, mehr als in kennt niemand. In der amtlichen Stati- Angebote. Im SFB-Radio MultiKulti Petrograd oder Moskau. stik fehlen etwa einige zehntausend moderiert ein Moskauer Journalist täg- Die letzte noch lebende Akteurin Rußlanddeutsche aus Kasachstan oder lich ein 20minütiges Magazin in seiner dieser Epoche ist die Lyrikerin Vera Sibirien, sie gelten als Deutsche und Muttersprache. Seit kurzem speist der Lourie´. Die vier großen Räume ihrer

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Wilmersdorfer Altbauwohnung hat die branche. Und unter russischen Jugendli- Greisin an russische Studenten vermie- chen entwickelte es sich zum „Volks- tet, sie selbst wohnt, umgeben von Erin- sport, bei Zwischenhändlern eine nerungsfotos, im Durchgangszimmer. schnelle Mark zu machen“, erinnert sich Jahrelang hat sie ihre Memoiren zu Pa- die Verkäuferin eines Electronic-Shops. pier gebracht, jetzt sucht sie einen Ver- Sie selbst schmiß damals den Job als leger für die Lebensgeschichte, die 1901 Zahnarzthelferin und bewachte für 15 in St. Petersburg beginnt. Mark Stundenlohn vor der Kaserne im Nach der Flucht an die Spree im Jahre brandenburgischen Wünsdorf die Stän- 1921 begegnete die junge Lourie´ allen de fliegender Händler. Großen. Sie feierte rauschende Atelier- Wen die Geschäfte nicht locken, der feste mit den Malern Iwan Puni und El kommt aus Abenteuerlust. Geld ist so Lissitzky oder philosophierte mit den ziemlich das letzte, was Vassja interes- Schriftstellern Boris Pasternak, Ilja Eh- siert. Neugier pur blitzt aus seinen grü- renburg oder Wiktor Schklowski. nen Augen. Weg wollte der Moskauer Lourie´s enger Freund, der exzentri- Philosophie-Student schon lange, raus sche Schriftsteller Andrej Bely, poin- aus „dem engen Käfig“, Westeuropa tierte 1924 die Stimmung in „Charlot- kennenlernen. Bloß wohin? tengrad“, der Gegend um den Kur- Als das russische Fernsehen im fürstendamm, in dem Zweizeiler: Herbst 1990 über Straßenschlachten um „Nacht! Tauentzien! Kokain!/ Das ist besetzte Häuser in der Ost-Berliner Berlin!“ Mainzer Straße berichtete, stand das Russen wie Bely wunderten sich über Reiseziel fest. „Freie Wohnungen, Mu- den Gleichmut der Berliner. Bei ausge- sik und Leute, die uns vielleicht verste- dehnten Streifzügen durch die Stadt hen“, so stellten sich Vassja und drei sann der Literat darüber nach, womit er Freunde das andere Leben im Westen deutsche Passanten provozieren könne. vor – und los ging’s, mit einem Touri- Kopfstand oder absurde Sprüche – stenvisum in der Tasche. alles vergebens. „Der Berliner ist Bei aller Unterschiedlichkeit der durch nichts zu überraschen“, notier- Gründe, das Heimatland zu verlassen, eint die meisten russischen Migranten die jüdische Herkunft. Während es vor Das Zauberwort 60 Jahren in Deutschland das Todesur- heißt für teil bedeutete, sich als Jude auszuwei- sen, verspricht der Eintrag im Paß heute Russen „Business“ ein relativ sicheres, auf jeden Fall aber angenehmeres Leben, als es in der aus- te er. „Alle Verrücktheiten werden einandergebrochenen, offen antisemiti- übertroffen von dem nüchternen All- schen Sowjetunion der Fall war. tagsberlin.“ Seit Februar 1991 erhalten in der Wie in den zwanziger Jahren nehmen Bundesrepublik Juden aus der früheren die Berliner die neuen Nachbarn aus UdSSR, wie einst die vietnamesischen dem fernen Rußland ziemlich ungerührt Boat people, als sogenannte Kontin- auf und beobachten mit einer Mischung gentflüchtlinge Aufenthaltsrecht. Da aus Resignation und Wurschtigkeit, wie Berlin mittlerweile seine Quote erfüllt ihre Stadt zunehmend verostet. hat, werden derzeit allerdings nur noch Die Russen, die heute kommen, sind sogenannte Härtefälle im Rahmen der nicht die Ärmsten der Armen. Men- Familienzusammenführung aufgenom- schen aus der Mittelschicht, die noch ge- men. Wer die notwendigen Nachweise nug Kraft haben, wollen im Westen ein- nicht besitzt oder nicht bezahlen kann, fach besser leben, effektiver lernen und muß in die Illegalität abtauchen. mehr Geld verdienen. Mit dem Judentum werden viele Ju- Typisch ist das Motiv der Psychologin den erst nach der Einreise vertraut. Für Galina Paderina, die Murmansk auf der die Wohlhabenden ist das Chanukka- Halbinsel Kola verließ, „damit meine Fest im schicken Hotel Inter-Continen- Söhne eine gute Ausbildung erhalten“. tal der gesellschaftliche Höhepunkt im In vier Jahren haben die Kinder sich so Dezember. Der regelmäßige Besuch in perfekt die fremde Sprache angeeignet, einer der fünf Synagogen bleibt die Aus- daß der 9jährige Mischa mit Auftritten nahme. am Deutschen Theater die Familienkas- Den meisten geht es wie Vassja, der se auffüllt. Sein Bruder, ein 16jähriger in Moskau keinerlei Beziehung zur jüdi- Gymnasiast, ist sich sicher: „Nach dem schen Religion hatte. „Ich ging in eine Studium werde ich Businessman.“ sowjetische Schule und war natürlich bei „Business“ ist für Russen das Zauber- den Pionieren“, sagt er. Von der Rege- wort, seit während der Wendetage zoll- lung für Kontingentflüchtlinge hörte er freie Geschäfte mit den in der DDR sta- erst in Berlin und nahm sie gern in An- tionierten sowjetischen Truppen extre- spruch. me Gewinne versprachen. Ärzte schlos- Der neuen Generation prominenter sen ihre Praxen, Wissenschaftler wech- Künstler und Schriftsteller dient Berlin selten in die boomende Im- und Export- freilich nur als Zwischenstation für eine

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Lesung am Literarischen Colloquium, Heimcomputer im Prenz- ein Studienjahr am Berliner Wissen- lauer Berg. Namhafte Au- schaftskolleg oder einen Auftritt im toren schicken Beiträge Theater „Fürst Oblomow“, das etwa mit aus Rußland. Nur stößt der Petersburger Revue „Weiße Näch- die Verbreitung an sprach- te“ die Kultur Osteuropas wiederbele- liche Grenzen, da bisher ben will. Im Exil der zwanziger Jahre kein Geld für Übersetzer pflegten gebildete Russen das „Bewußt- aufzutreiben war. sein einer community und verstanden Die arbeitslose Physike- sich als kulturelle oder politische Bot- rin Svetlana Kouznetsova schafter“, markiert der Historiker Karl leitet eine im vergangenen Schlögel einen fundamentalen Unter- Jahr gegründete „Förder- schied zur Vergangenheit*. Die Nach- initiative Berlin-Moskau“, fahren haben keine Mission, sie kämp- die regelmäßig in ihrem fen um nichts, außer für sich selbst. Wohnzimmer tagt und Entsprechend zersplittert ist die russi- Konzerte, Lesungen und sche Intellektuellen-Szene. Sie zerfällt Ausstellungen organisiert. in Küchenklubs und halböffentliche Zir- Im Oktober wollen sie ei- kel. Im Jüdischen Kulturverein treffen nen russischen Musiksalon sich vorwiegend ältere Kulturschaffen- eröffnen. Doch untereinander ha- ben die Gruppen keinen Autos für Kontakt. Während in der 200 000 Mark bezahlen Weimarer Republik die russischen Intellektuellen Russen bar in kürzester Zeit ein „Haus der Künste“ ins Le- Delikatessengeschäft Aga (1924): Renaissance der de, die nun von der Sozialhilfe leben ben riefen, das schon bald und mit dem Problem fertig werden wie ein Magnet auf Künstler und alle gläsernen Eingangstür des „russischen müssen, in Deutschland „keine Leser Debattierwütigen wirkte, ist heute ein Hauses“ spüren viele Russen jenen oder kein Publikum mehr zu haben“, attraktives Zentrum russischer Kultur „sowjetischen Geist“, vor dem sie aus wie der Schriftsteller Alexander Laiko nicht in Sicht. der Heimat geflüchtet sind. berichtet. Über ein Jahr feilten Profis Dabei gäbe es Räume genug. Ein ehe- Bis 1990 blieb die Zahl der Russen und Amateure an Texten für die vor mals sowjetischer Monumentalbau, an in Berlin überschaubar gering. In kurzem in Berlin erschienene erste Aus- Berlins künftiger Luxusmeile Friedrich- West-Berlin waren nach dem Krieg gabe der 300seitigen Literaturzeitschrift straße gelegen, böte Platz en masse. Das beinah alle Spuren der ersten russi- Studia. „Haus der Wissenschaft und Kultur der schen Emigration ausgelöscht. Streng Bereits das vierte Heft des literari- Russischen Föderation“ konnte nach kontrollierten die Alliierten den Zu- schen Almanachs „Ostrow“ (Die Insel) der Wende gerettet werden vor der Gier zug: Noch 1975 waren nur 174 ehema- illustriert Chefredakteur und Grafiker eines Immobilienspekulanten aus Jel- lige Sowjetbürger gemeldet. Wjatscheslaw Syssojew derzeit am zins Kabinett. Doch schon hinter der Erst in den achtziger Jahren, als die UdSSR Juden die Ausreise erlaubte, wuchs die Zahl der Flüchtlinge. Auf legalem Weg konnten Russen nur in die DDR gelangen. Wer nicht Ange- höriger der sowjetischen Nomenklatura oder der Streitkräfte war, brauchte da- zu allerdings einen Trauschein und mußte sich einem peinlichen Verhör unterziehen. So kam die Journalistin Irina Schabowski 1972 nach Ost-Ber- lin, nachdem sie zuvor in Moskau den damaligen stellvertretenden Chefredak- teur des Neuen Deutschland, Günter Schabowski, geehelicht hatte. Gern gesehen war derlei grenzüber- schreitende Liebe nicht. Bei offiziellen Empfängen wurde selbst die Ehefrau des prominenten Berliner Politbüro- Mitglieds Schabowski von den Sowjets abschätzig gemustert. Eine Heirat ins Ausland galt quasi als Vaterlandsver- rat. Auch die ostdeutschen Nachbarn waren den Russinnen zumeist nicht wohlgesonnen, nur wagten sie nicht, LICHTBLICK

* Karl Schlögel (Hrsg.): „Russische Emigration in

S. SAUER / Deutschland 1918 – 1941“. Akademie-Verlag, Bischof Feofan: Beerdigungen wie in Mafia-Spielfilmen Berlin; 430 Seiten; 88 Mark.

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Diesel C 220 entschieden hat, Preis rie von einem Raubmörder erschossen 62 000 Mark. Die junge Frau zieht aus wurde. Flüchtig kannte Madame Di- ihrer Umhängetasche einen Gefrierbeu- mant auch das letzte Berliner Opfer, tel, prall gefüllt mit großen Scheinen, einen im März ermordeten 27jährigen und verschwindet zwecks Geldübergabe Kaufmann. Ein Killer hatte den Weiß- im Hinterzimmer. Wenig später erwirbt russen mit zehn Kugeln getötet. ein Mann aus Almaty in Kasachstan Am Tag der Beerdigung auf dem mal eben einen S-Klasse-Benz für über russisch-orthodoxen Friedhof parkten 200 000 Mark. etliche Luxuslimousinen in der Tegeler Nicht nur die Berliner, auch die Zu- Wittestraße. Durch ein weißes Blu- wanderer aus Rußland, die in Berlin menmeer schritten die in edles schwar- heimisch geworden sind, stören sich an zes Tuch gewandeten Trauergäste zur den Allüren der Emporkömmlinge mit Kirche. Sänger begleiteten die Zere- dem Hang zur großen Geste. Sie fürch- monie. ten, daß deren schlechter Ruf auf sie Für Bischof Feofan, Oberhaupt der abfärbt, und registrieren besorgt, daß russisch-orthodoxen Kirche in Deutsch- mit den Neureichen immer mehr krimi- land, sind solche Totenfeiern kein un- nelle Geschäftemacher auftauchen. gewöhnliches Spektakel. Beerdigungen Fast jeder Laden- oder Restaurantbe- von Mitgliedern der 2000köpfigen Ber- sitzer russischer Herkunft hat bereits liner Gemeinde ähnelten „schon mal Besuch von den Geldeintreibern der Spielfilmen über die italienische Ma- Mafia erhalten. Selbst in Vassjas Haus- fia“, sagt der Kirchenmann. Kritik am besetzer-Bar tauchten schon zwei Spä- Lebenswandel der Verstorbenen ver- her auf. Die Typen kriegten schnell sagt sich Feofan – im Tod seien alle spitz, daß dort nichts zu holen ist. Gottes Kinder. ULLSTEIN „russkij Berlin“

ihre Vorbehalte offen zu zeigen. Das hat sich gründlich geändert, wie eine Szene im Supermarkt an der Ost-Berli- ner Wilhelmstraße belegt: In der Schlange vor der Kasse plaudern vier junge, elegante Russinnen in ihrer Muttersprache. Oben auf dem Ein- kaufswagen haben sie zwei Lagen Toi- lettenpapier gestapelt. Plötzlich fragt eine ehemalige DDR- Bürgerin laut von hinten: „Seit wann brauchen Russen Klopapier?“ Peinli- che Stille. Langsam dreht sich eine Russin um und erwidert in akzentfrei- em Deutsch: „Seit ihr aufgehört habt, uns den Arsch zu lecken.“ Die Aggressionsschwelle ist gesun- ken, seit auffällig viele „Dollar-Rus- sen“ Berlin besuchen. Über 26 000 rus- sische Gäste buchten im vergangenen

Jahr Berliner Hotelzimmer, die mei- A. SCHOELZEL sten für einen ausgedehnten Wochen- Lyrikerin Lourie´: Von Petersburg nach Wilmersdorf endeinkauf. Beliebt ist das traditions- reiche Kaufhaus des Westens: „Pünkt- Ihre Forderungen versuchen die Ungläubige sehen die Dinge weniger lich am ersten Tag des Schlußverkaufs Schutzgelderpresser mitunter äußerst gelassen. Ungefragt entschuldigt sich kommen die Russen mit Übersetzer brutal durchzusetzen. Elf Tötungsde- Vassja dafür, „daß diese Typen die und kaufen cash unser Lager leer“, er- likte hat die Polizei seit 1991 aufgeli- deutsche Gastfreundschaft verletzten“. zählt eine Verkäuferin der Pelzabtei- stet, soviel wie bei keiner anderen aus- Ihn drängt es in die Normalität. lung. ländischen Minderheit in Berlin. So sucht Vassja, der fehlendes war- Boutiquen und Juweliere rund um Für die aus Riga stammende Ra- mes Wasser im Haus „nicht für den Kurfürstendamm haben sich längst schel Dimant, 51, war 1994 ein trauri- ein Zeichen von Würde“ hält, einen auf die neue Kundschaft eingestellt ges Jahr. „Viele Verwandte und Be- Job, um der Existenz als zeitweiliger und beschäftigen russischsprachiges kannte kamen ums Leben“, seufzt die Grünpfleger fürs Sozialamt zu ent- Personal. Bei Mercedes-Benz in der Edeltrödlerin, die sich in der russi- fliehen. Bald will er sein in Moskau Friedrichstraße verkauft sogar ein Rus- schen Händlerszene auf dem Markt an abgebrochenes Philosophie-Studi- se die Autos. 90 Prozent der Kunden der Straße des 17. Juni als „Madame um an der Freien Universität fortset- kommen aus Moskau oder Kiew, Geld Dimant“ einen festen Platz erobert zen. „Für die Bar muß ich allerdings spielt keine Rolle, gezahlt wird bei hat. vorher noch einen eingetragenen Übernahme. Der Kummer begann, als ihr Schwa- Verein gründen“, hat er sich vorge- So nickt ein junger Russe in Shorts ger, Berlins prominentester Händler nommen. und Lacoste-Hemd seiner Begleiterin für Ikonen und andere Antiquitäten Vassja ist in Deutschland angekom- kurz zu, nachdem er sich für einen aus Rußland, in seiner Ku’damm-Gale- men. Y

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Oppositionelle Das Herz der Stasi Bärbel Bohley über den Fall Monika Maron

er in diesen heißen Tagen ins berühmte Sommerloch externen liegen im dunkeln, denn die Akten der Hauptverwal- gekippt wurde, hatte es wieder mal leicht. Denn alle tung Aufklärung (HVA), bei der auch M. M. angebunden Wliegen irgendwo am Strand und haben den Kopf voll war, sind mit durch die Blödigkeit der Bürgerbewegung 1990 Sonne. Die Reaktionen auf miese Neuigkeiten halten sich in vernichtet worden. Grenzen. Wer aber hiergeblieben ist und Zeitung liest, hat sei- Doch wer konnte damals schon ahnen, daß sich vielleicht ne kalte Dusche abbekommen. Denn in diesem Jahr ist völlig gerade in der HVA das Herz der Stasi befand? Heute wissen unerwartet die Schriftstellerin Monika Maron in dieses Loch wir, daß die Spionage, „das Auskundschaften bzw. Verraten gefallen. Und wie beim Dominospiel sind gleich einige vor lau- politischer, ökonomischer und wissenschaftlich-technischer ter Zuneigung hinterhergepurzelt. Weil M. M. eine sympathi- Geheimnisse“ (Meyers Lexikon von 1976), besser abgesichert sche Frau ist, die sich in den letzten Jahren mit durchaus ei- war als die Arbeit nach innen. Hier hat auch noch die Vernich- genwilligen Artikeln und Büchern hervorgetan hat, hat sie na- tung der Akten funktioniert. türlich auch etliche Freunde und Verehrer, die wieder einmal Die Spionage gegen die DDR war eines der gefährlichsten bereit sind, nicht alles genau zu nehmen. Verbrechen und konnte mit dem Tode bestraft werden. Und Aber das ist menschlich, wir haben alle unsere Freunde. was war umgekehrt die Spionage für die DDR? Sie war im of- Und wir kennen das ja schon von anderen, deren Mitarbeit für fiziellen Jargon „Kampf an der unsichtbaren Front“ für den die Staatssicherheit bekannt wurde. Auch Mielke bekommt Endsieg des Sozialismus. Schon allein deshalb wurde die An- Reverenzen, Modrow seine Rosen und Stolpe seine Treue- werbung von Agenten für den Einsatz im Ausland sorgfältig schwüre. Was bedeutet das schon? vorbereitet. Viel interessanter sind die Argumente, mit denen auch in So blauäugig war die HVA nicht, daß sie auf Treu und diesem Fall die Geneigten auf den Vorwurf der Zusammenar- Glauben einem unternehmungslustigen Mädel ein tolles beit mit der Stasi antworten: alles nicht so schlimm gewesen, Abenteuer im Westen anbot. Wer für diese Truppe fast zwei hat niemandem geschadet, Privatsache. Jahre lang Gesprächspartner war, mußte schon davor etliches Nach fünf Jahren Akteneinsicht wissen alle, die es wissen aufweisen, um für eine dauerhafte Zusammenarbeit in Frage wollen, daß die Staatssicherheit eine menschenverachtende zu kommen. Der wurde auf Herz und Nieren geprüft. Die Maschine war und daß sie sich selbst vor Vernichtung von Le- Schmalzstullen, die Monika Marons Mutter für Stasi-Chef ben und Persönlichkeit nicht gescheut hat. Die „toten Seelen“, Erich Mielke geschmiert hat, haben die Tochter jedenfalls Ergebnis von Anordnungen, Auflagen, Zersetzungsmaßnah- nicht geradewegs in die HVA schlittern lassen. men, Haft, sind allein Beweis genug. Aber wie viele Schweine- Daß M. M. mit der HVA mehr verband als ein bißchen reien sind verborgen geblieben? Abenteuerlust, dafür spricht auch ein anderes Detail. Für die Bis jetzt sind fast nur die internen Aktionsfelder des Mini- HVA hatte eine M. M. im Westen nur Bedeutung, wenn sie steriums für Staatssicherheit (MfS) durchleuchtet worden, die bereit war zu verschweigen, über wen und mit welchem Auf-

Die Verstrickung der Schriftstellerin Monika Maron, 54, in die Machenschaften der Stasi hat einen Streit dar- über ausgelöst, wie solche Kontakte zu bewer- ten sind. Maron hat von 1976 bis 1978 über Diplomaten und Journalisten aus dem We- sten Berichte geschrieben. Als Gegenleistung durfte die Autorin, die später selbst von der Sta- si observiert wurde, in den Westen reisen. Ihre Mitarbeit erklärt sie heute mit Abenteuer- lust. Wie alle enttarnten Spitzel, räumte sie die Zuträgerei erst ein, nachdem ihre Akte aufge- taucht war, obwohl sie zuvor solche Unaufrich- tigkeit der DDR-Bürger stets gegeißelt hatte. Auf die Frage, warum sie geschwiegen hat, sag- te die Stieftochter des ehemaligen hohen SED- Funktionärs Karl Maron: „Warum soll ich mich zum Fraße vorwerfen?“ Weil Unehrlichkeit allen schade, antwortet ihr nun Bärbel Bohley, 50. Die Bürgerrechtlerin, bei der sich Kanzler Kohl

VISION-PHOTOS vergangene Woche mit anderen einstigen Op- positionellen traf, wurde wegen ihres Eintre-

A. KULL / tens für demokratische Freiheiten in der DDRin- H. FLOSS Bürgerrechtlerin Bohley haftiert. Schriftstellerin Maron

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trag sie dorthin gekommen ist. Der erste und letzte Befehl hieß bereits die nächsten angefaulten Lebensläufe, die nicht durch auf jeden Fall immer: schweigen! Und den hat M. M. tatsächlich die Betroffenen selbst, sondern auch nur von den Medien auf- eingehalten, bis sie zur Aufdeckung dieses dunklen Punktes in gedeckt werden. Vielleicht kann nicht anders das trübe Bild ihrem Leben gezwungen wurde. Ganz gleich, was tatsächlich der ostdeutschen Intellektuellen geklärt werden. passiert ist und wie viele Berichte sie tatsächlich geschrieben hat Auf der einen Seite ist die Identifizierung mit dem alten und ob sie tatsächlich niemandem geschadet hat, dieses aufer- DDR-System so groß gewesen, daß man manche Gemeinheit legte Schweigen hat sie befolgt. Daß sie gezwungen wurde, es zu mitmachte. Auf der anderen Seite möchte man sich am lieb- durchbrechen, empfindet sie als Nötigung. Aber ihre Geschich- sten von der Lüge, dem Schlamm, der Erniedrigung distanzie- te gehört genauso zum Reinigungsprozeß der Gesellschaft wie ren, indem man sich selbst betrügt und vormacht, ein anderes viele andere. Wenn Monika Maron es heute dabei bewenden Leben geführt zu haben. Frei wird man allerdings erst sein, lassen möchte, zu sagen, „es stimmt, es war unehrenhaft, mit ih- wenn man bereit ist, die volle Verantwortung für seine Taten, nen zureden“, dann istdas nur diehalbe Wahrheit. Sieistfürdie auch für die unterlassenen, zu übernehmen. Stasi in den Westen gefahren und hat Berichte geschrieben. „Die unheilbare Natur der Versündigung, die sich ausbrei- Daß esmehr waren alsdie zwei, die sich in den erhaltenen Sta- tet wie eine Krankheit“ (der Schriftsteller Primo Levi), läßt si-Unterlagen über Monika Maron befinden, geht aus den Ak- uns nicht los. Wir alle sind davon berührt. Die Befehlsgeber ten eindeutig hervor. Wieviel und worüber sie en de´tail an ihre ebenso wie die, die nur mitmachen wollten oder die den Be- Auftraggeber wirklich berichtet hat, ist bis jetzt unbekannt, fehlen gefolgt sind. Aber auch die, die zugesehen haben, sind eben weil die Akten der HVA vernichtet wurden. Das vorlie- beteiligt gewesen. Selbst die, die sich dagegen gewehrt haben. gende Material ist wohl Wir empfinden Scham nur deshalb erhalten ge- darüber, daß Menschen blieben, weil es in einer überhaupt fähig sind, anderen Stasi-Abteilung sich so inhuman zu ver- verwahrt wurde. halten. Sie haben die Lü- Entschuldigend führt ge zu ihrer Arbeit, zu ih- M. M. an, daß sie nichts rem Leben gemacht. über Freunde berichtet Diese Scham verbindet habe, sondern nur über uns, und wir wollen Leute, die im Westen sie unterdrücken. Levi wohnten und deshalb für schrieb: „Unsinnig zu die HVA interessant wa- glauben, sie könne durch ren. Trotzdem waren die menschliche Gerechtig- Berichte keinen Deut le- keit getilgt werden. Sie gitimer, denn mit denen ist eine unerschöpfliche arbeitete man nicht zu- Quelle des Bösen: Sie sammen, weder nach in- zerbricht Körper und nen noch nach außen, Seele der Betroffenen, vor allem nicht zu einer löscht sie aus und ernied- Zeit, in der Wolf Bier- rigt sie. Sie fällt als mann ausgebürgert wur- Schande auf die Unter- de, Jürgen Fuchs, Gerulf drücker zurück, schwelt Pannach, Christian Ku- als Haß in den Überle- nert, Rudolf Bahro im benden fort und wuchert

Knast saßen, Robert Ha- ACTION PRESS weiter auf tausend Ar- vemann Hausarrest hatte Sturm auf die Berliner Stasi-Zentrale* ten, gegen den Willen al- und Tausende wegen ih- ler, als Rachedurst, als rer Sympathieerklärun- „Die HVA-Akten sind durch eine moralisches Nachgeben, gen für Havemann und Blödigkeit vernichtet worden“ als Verleugnung, als Mü- Biermann verfolgt wur- digkeit und als Ver- den. zicht.“ Aber esistnoch „unehrenhafter“ von ihr, mit mir und meinen Wenn man aber nicht müde werden will, bleibt nichts wei- Freunden heute über die Stasi zu reden, ohne uns ihre „halbe“ ter, als sich in das Streitgespräch einzumischen, auch auf die Wahrheit mitzuteilen und sich zur vollen zu bekennen. Sieistder Gefahr hin, daß man eins in die Fresse bekommt. Es ist natür- Meinung, wir würden uns von diesem Thema nicht lösen kön- lich leichter, sich dabei als Freund zu gerieren, indem man al- nen, obwohl es doch viele andere gebe. Dabei hält sie selbst ei- les eine Nummer herunterspielt, nicht so schlimm findet, alles nen wichtigen Komplex der Stasi bedeckt und ist noch gekränkt auf die böse Öffentlichkeit oder Vergangenheit abschiebt und darüber, daß ihre „Affäre“ doch ans Licht gekommen ist. Händchen hält. Meine Scham über Monika Marons heutiges Verhalten be- Aber woher nehmen diese Freunde eigentlich die Gewiß- drückt mich mehr als die Fakten, die mir bisher aus ihrer Ge- heit, daß sie damit auch nur im geringsten etwas Gutes tun? schichte bekannt wurden. Jede Enttäuschung macht müde und Weder für den Delinquenten noch für das Thema, noch für die tut weh. Die Halbherzigkeit Monika Marons schreibt eine un- Öffentlichkeit ist diese Art von Unehrlichkeit von Nutzen. Im heimliche Tradition aus der DDR fort: die Verantwortungslo- Gegenteil, man macht sich unglaubwürdig oder haut sich im sigkeit der öffentlichen Person gegenüber der Öffentlichkeit. Kampf gegen die Tatsachen noch selbst ein Bein ab. Warum fällt es den prominenten Leuten wie Heiner Müller, Wenn der Bundesbeauftragte für das Stasi-Unterlagen-Ge- Ludwig Güttler, Willi Sitte und letztendlich Monika Maron so setz zum Fall Monika Maron ernsthaft entschuldigend meint, schwer, Verantwortung zu übernehmen? „die Kürze ihrer Kontakte“ sei „nach Auffassung der Schrift- Spätestens als Christa Wolfs Kontakte zur Stasi bekannt wur- stellerin eben dazu angetan gewesen, darüber zu schweigen“, den, hätte Monika Maron den Mund aufmachen müssen, wenig- dann kann er einpacken. Bisher ist noch kein Fall bekanntge- stens aus Solidarität zur Schriftsteller-Kollegin. Aber man ahnt worden, daß jemand gesagt hätte, die Länge seiner Kontakte zum MfS wäre dazu angetan, endlich zu sprechen. Geschwei- * Am 15. Januar 1990. ge, daß jemand deshalb sein Amt niederlegen würde. Y

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nien zu, dann schickt er humanitäre Balkankrieg Konvois.“ Solche Kommentare treffen den „guten Menschen von Büdingen“ ins Mark, denn er hält sie für völlig berech- „Ach, der Westen“ tigt. Das demokratische Westeuropa, dies ist sein Glaubensbrevier, habe mit Olaf Ihlau über Christian Schwarz-Schillings Bosnien-Mission stümperhafter Politik ohne Gegenwehr das Ausbreiten eines neuen Faschismus zugelassen, „Kristallnächte auf Raten“ och oben auf dem Hügel über der Schwarz-Schilling trommelte und durch ethnische Vertreibungen und Moslem-Feste Bihac´ überkommt sammelte vor allem für die Uno- schließlich Völkermord. Diese explosive HChristian Schwarz-Schilling ein Schutzzone Bihac´. Er haderte mit sei- Lage habe auch der „große Europäer Gefühl des Glücks und die große strate- nem Kanzler, verzweifelte ob der Nai- Kohl“ zu spät erkannt – eine Fehllei- gische Vision. „Das hier war die wichtig- vität des Außenministers, agitierte bei stung „aus zuviel Rücksichtnahme auf ste Operation für die ganze Region“, amerikanischen Senatoren für die Auf- englische und französische Interessen“. preist er den Militärvorstoß von Mos- hebung des Waffenembargos, was dem Im Haus der Armee haben sich die lems und Kroaten, der den serbischen Time-Magazin eine besondere Erwäh- Honoratioren von Bihac´ zum Empfang Belagerungsring um die westbosnische nung des Mr. „Schultz-Schilling“ wert ihres deutschen Patrons eingefunden. Enklave sprengte. war. Ein Chor aus 18 rosagewandeten, spin- „Doch nun“, belehrt der ehemalige Der in die Balkanpolitik verschlage- deldürren Gestalten intoniert den schö- Postminister den neben ihm stehenden ne Sinologe, Sohn eines im Krieg von nen Götterfunken. Da blutet dem General vor den ausgebrannten Häu- der Gestapo drangsalierten deutsch- Christdemokraten das Herz. In knarzi- sern des zurückeroberten Dorfes Soko- polnischen Musikerpaars („Ich habe gem Englisch ruft er den Eingeschlosse- lac, „muß das befreite Territorium die Barbarei erlebt“), sieht sich in nen der 1201 Tage zu: „Ihr seid mit eu- schnellstens mit Zentralbosnien verbun- den werden.“ General Atif Dudakovic´, 42, ein Mann von wuchtiger Statur, gilt als Haudegen. Amüsiert lauscht er den Ratschlägen des deutschen Besuchers und deutet dann zu den bewaldeten Kuppen in etwa acht Kilometer Entfer- nung. „Dort habe ich es mit noch gut 15 000 Tschetniks zu tun“, sagt der Kommandeur des 5. Korps, Bosniens Elitetruppe. Dumpfes Wummern von Panzerkano- nen dringt über das weite Tal herüber, in dem drei Jahre Krieg kein Haus ver- schont haben und wenigstens 3000 Men- schen das Leben kosteten. Erst gestern wieder zerriß eine Granate zwei Kinder. Die Serben sind bei Bihac´ zurückge- schlagen worden, besiegt indes sind sie noch lange nicht. „Ich werde weiter alles tun, um Ihnen zu helfen“, verspricht

Schwarz-Schilling, der Vorsitzende des C. JUNGEBLODT / SIGNUM Bundestagsunterausschusses für Men- Dudakovic´, Gäste Schwarz-Schilling, Wörner*: „Unglaubliche Genugtuung“ schenrechte, und beklagt die „Schande des demokratischen Europa, das Bos- Übereinstimmung mit sich selbst: „Ich rem Eintreten für Demokratie und nien im Stich gelassen hat“. Der Gene- bin mir treu geblieben.“ Menschenrechte ein leuchtendes Bei- ral hat für dieses Europa nur ein har- Da schäumt reichlich Narzißmus auf, spiel, Europa steht tief in eurer sches Lachen übrig, dankt aber artig für gewiß. Doch immerhin bugsiert Chri- Schuld.“ den „humanitären Beistand“. stian Schwarz-Schilling den bislang Die Wende für Bihac´, das will er den Für Christian Schwarz-Schilling, 64, größten Hilfstransport in die befreite Zuhörern nicht vorenthalten, hat indes ist diese Visite in Bihac´ ein „unglaubli- Moslem-Bastion – kein einfaches, gar auch mit seinem Wirken zu tun. Ge- cher Tag der Genugtuung“. Keiner aus ungefährliches Unternehmen. meint ist seine Rolle als Vermittler, als der deutschen Politiker-Kaste hat sich Mühsam quält sich der in Deutsch- Streit-Schlichter der bosnisch-kroati- so entschieden für Bosnien eingesetzt land zusammengestellte Konvoi aus schen Föderation, in die er von den wie er. Seinen Abgang aus dem Kabi- vier Dutzend Lastwagen auf Schleich- Präsidenten Alija Izetbegovic´ und nett Kohl begründete er 1992 empha- wegen durch die Krajina. Die bietet ei- Franjo Tudjman gerufen wurde. tisch mit dem „Nichtstun“ der deutschen nen deprimierenden Anblick: Gespen- Als die beiden Staatschefs Ende Juli Balkanpolitik. sterdörfer, von den Serben in Panik in Split das gemeinsame Vorgehen zum Seither gestattet sich der Unterneh- verlassen, von den Siegern geplündert Entsatz von Bihac´ verabredeten, saß mer aus dem hessischen Büdingen, der und teilweise niedergebrannt. Schwarz-Schilling als soufflierender Pu- neben seinem Bundestagsmandat als „Ach, der Westen kommt“, höhnt sher mit am Verhandlungstisch. „Ich Firmenberater für Telekommunikation am Checkpoint hinter Karlovac ein bin sehr stolz darauf, daß ich das ein blendende Geschäfte macht, den Luxus, kroatischer Militärpolizist im Platzre- „frei meinem Gewissen zu folgen“. gen, „erst läßt er das Morden in Bos- * Am Dienstag voriger Woche in Bihac´.

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bißchen beeinflussen konnte“, zeichnet Zwischen Spenden und Glücksspiel- er mit kräftigem Strich am eigenen Bild. Affären konzession gebe „es keinen Zusammen- Szenen von gespreizter Eitelkeit auch hang“, behauptet Firmenchef Kappel. in kleiner Runde beim kargen Abend- Auch Minister Geil will nichts Anrüchi- mahl im Restaurant „Bosnia“, dem mit ges dabei finden. Es gehe darum, daß Sandsäcken verbarrikadierten Treff- Gelungene auch „ein im Land ansässiges Unterneh- punkt der Nomenklatura von Bihac´. men am Spielbankgeschäft teilhaben „Wenn die Serben wüßten, daß ich in wird“, begründete er im Kabinett seine der Stadt bin, würden sie doppelt so vie- Mischung Entscheidung. le Granaten abfeuern“, würdigt sich der Das hätten sich viele andere freilich deutsche Gutmensch. Schwerins Innenminister Rudi Geil auch gewünscht. Doch bei der Auswahl Und dann legt er, mehr in der Pose ei- will Spielbanken privat betreiben der Lizenznehmer für das gewinnträch- nes Generalgouverneurs denn des Pa- tige Roulette-Gewerbe in Deutschlands trons, für den nächsten Tag ein straff lassen. Die Konzessionäre besitzen ärmstem Bundesland nahm es Christde- durchorganisiertes Arbeitsprogramm beste Beziehungen zur CDU. mokrat Geil mit den Regeln eines fairen fest, „ohne langes Mittagessen, ein paar Wettbewerbs nicht so genau. belegte Brote genügen“. Das aber geht Schon 1993 hatte die damalige CDU- zu weit. Normalerweise gelte das „lan- olf Kappel, Bauunternehmer in FDP-Regierung insgesamt sechs Spiel- desübliche Protokoll“, wird eingewandt, Schwerin, hat für die Bitten der bankstandorte, doppelt so viele wie im und einer faucht im Landesidiom: „Das RLandesregierung und der CDU bevölkerungsreichen Nordrhein-West- muß er noch lernen.“ Die Dolmetsche- Mecklenburg-Vorpommern stets ein of- falen, für private Betreiber ausgeschrie- rin grient, genießt und schweigt. fenes Ohr. 50 000 Mark war ihm die Pla- ben. Geil drückte aufs Tempo, inner- Wohltuend, anderntags zu registrie- kat-Aktion „Herzlichkeit statt Ellenbo- halb von zwei Monaten mußten die ins- ren, daß der Balkan weiterhin einen ei- gesamt 18 Interessenten zahl- genen Rhythmus hat. Dem Nervenzu- reiche Nachweise beibringen, sammenbruch nahe, kraucht Schwarz- die von der Bankgarantie bis Schilling durch das Lastwagen-Knäuel zur „persönlichen Bonität“ der auf dem Hof einer stillgelegten Textilfa- Geschäftsführer reichten. Für brik. In welchem der Wagen stecken die deren Prüfung nahm sich Geil Instrumente und Medikamente für das anschließend volle eineinhalb Hospital, wo sind die vier Satellitenanla- Jahre Zeit. gen? Niemand weiß es, denn leider feh- Als der Minister schließlich len viele der bosnischen Fahrer. Sie ha- Dienstag vergangener Woche ben offenbar ausgiebig mit ihren Famili- dem Landeskabinett seine Fa- en das Wiedersehen gefeiert. voriten präsentierte, konnten Das Protokoll gerät aus den Fugen, auch seine Kollegen nur stau- der geplante große Auftritt zerläppert, nen. Zur Überraschung aller die fernsehwirksame Übergabe der teu- Beteiligten wird der Kuchen ren Laborgeräte im Krankenhaus muß unter zwei gänzlich verschiede- ausfallen. Gut, daß da noch der General nen Konsortien aufgeteilt, die bleibt. Der erscheint pünktlich. Geil den Kollegen im Schweri- In der Ruinenlandschaft von Sokolac ner Kabinett als „gelungene räsoniert Schwarz-Schilling über die Mischung“ anpries. Die drei widrigen Zeitläufte und Bosniens sozialdemokratischen Minister Schicksal: „Eine Handvoll anderer stimmten geschlossen dage- Staatsmänner, ein Ronald Reagan oder gen.

eine Margaret Thatcher dabei, und alles WAZ Die lukrativsten Zockertem- wäre anders gelaufen auf dem Balkan.“ Bauunternehmer Kappel pel in Schwerin und Eine „Tragödie“ auch, daß an der 40 000 Mark für CDU-Wahlkampf sowie den beiden Touristen- Spitze der Nato kein Mann mehr stehe mit dem eisernen Willen eines Manfred gen“ wert, für die Ministerpräsident Wörner. Dessen Sarajevo-Ultimatum vergangenen Sommer hätten die Serben einst sehr ernst ge- Sponsoren suchte. Noch einmal 40 000 nommen. Mark schenkte er der notleidenden Uni- „Das stimmt“, nickt General Duda- on für ihren teuren Wahlkampf und kovic´ und umarmt die Frau an Schwarz- wurde damit ihr größter Einzelspender. Schillings Seite, Wörners Witwe Elfie. Außerdem nahm Kappel den Fraktions- „Wie gerne wäre Manfred hier, aber vorsitzenden der Christenunion, Eck- jetzt ist er im Himmel“, sagt der Bos- hardt Rehberg, in den Aufsichtsrat nien-Vermittler. Und Elfie Wörner, Co- seiner Firma Kappel Bau Union AG Chefin der Stiftung „Hilfe für Bosnien- auf. Herzegowina“, schenkt dem General Derlei Großzügigkeit zahlt sich aus. ein silbernes Marienamulett, das ihr Vergangene Woche bescherte CDU-In- Mann einst trug: „Das soll Ihnen Glück nenminister Rudi Geil dem edlen Par- bringen.“ teispender einen neuen Geschäftszweig: Das Artilleriegewitter in der Ferne Der Unternehmer darf sich zu einem wird heftiger, der General drängt zum Drittel an einer neugegründeten Spiel- Aufbruch. Das 5. Korps, Schwarz-Schil- bankgesellschaft beteiligen, die in den ling vernimmt es mit Begeisterung, nächsten Jahren gleich vier Casinos im schreitet zur Offensive. Land eröffnen soll. Spielcasino Travemünde: Übernimmt das

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zentren Bad Doberan und Waren an der tungserfahrung in Müritz gehen an die Spielbankgesell- deutschen Casinos zu schaft Mecklenburg-Vorpommern mbH präsentieren, machte & Co. KG. Dahinter steht Deutschlands der Minister für Krebs größter Glücksspielkonzern, die Ger- eine Ausnahme. man Casino Management Group In seiner deutschen (GCMG), sowie die Neue Casino Tra- Spielbankkarriere hat vemünde Beteiligungsgesellschaft. dieser es über den Po- Der GCMG, die von Baden-Baden sten des stellvertreten- bis Sylt die Kugel rollen läßt, war Geil den technischen Lei- schon einmal zu Diensten. Als rhein- ters nicht hinausge- land-pfälzischer Innenminister verlän- bracht, sein Aufstieg gerte er, kurz vor seiner Abwahl im endete schon 1988 mit April 1991, die Lizenz für das Casino einem Rauswurf in Bad Neuenahr um zehn Jahre, lange be- Bad Harzburg. Seit- vor die alte Genehmigung auslief – dem verlegte Krebs für Geil „ein ganz normales Verfah- sich auf das Zockerge- ren“. werbe im ehemaligen Die Travemünder Casino-Manager Jugoslawien und in rettet die Neigung des CDU-Manns zum Rußland. privat geführten Glücksspiel vor dem Kultusministerin Ende ihres Geschäfts. Die Kieler SPD- Regine Marquardt

Landesregierung, mit den Privaten nicht fragte daher drängend M. MEYBORG / SIGNUM zufrieden, will ihre Lizenz nicht mehr im Kabinett, ob das Innenminister Geil: Rechtlich gewagtes Manöver verlängern und den Betrieb in staatli- Unternehmen womög- cher Regie weiterführen. lich dazu diene, russisches Schwarzgeld Gewähr für die notwendige Seriosität“ Als Dritten im Bunde dirigiert Geil zu waschen. des Krebs-Unternehmens durch dessen nun den CDU-Sympathisanten Kappel Eine berechtigte Sorge: Die Betriebe drei Partner gegeben sei, die in Ham- in die Spielbankgesellschaft Mecklen- in Stralsund und Heringsdorf gelten in burg die Unternehmensberatung pdv burg-Vorpommern, obwohl dieser sich Branchenkreisen als unternehmerisch besitzen und Kunden in ganz Deutsch- an der Ausschreibung nicht beteiligt riskant. „Als Geldwaschanlage kann land betreuen. hatte – ein rechtlich zumindest gewagtes man natürlich auch Verluste verkraften, Deren Inhaber sind freilich seit lan- Manöver. der Gewinn fällt dann nicht am Spiel- gem an der in Hamburg registrierten Auf volles Risiko setzt Geil mit der tisch an“, warnt ein Insider. Modern Games Casino GmbH betei- Auswahl der zweiten Gruppe, die den In Kroatien, wo Krebs zeitweilig als ligt, über die das Rußland- und Jugo- Spielbetrieb in Stralsund sowie in He- Mitinhaber bis zu acht Casinos betrieb, slawien-Engagement läuft. Diesen Um- ringsdorf auf der Insel Usedom über- war ihm das Glück nicht hold. Die Fi- stand verschweigt Geils Kabinettsvorla- nehmen soll. Dort soll der frühere Crou- nanzpolizei machte ihm Ärger, alle Be- ge. pier Karlheinz Krebs mit seiner Firma triebe wurden wieder geschlossen. Er- Daß sie wissen, wie man eine Beteili- Modern Games das Geld der Spieler folgreich etablierte er dagegen 1990 das gung verschwinden und andernorts wie- einstreichen. Geil begründete seine Ent- „Casino Moscow“ im Stalin-Wolken- der auftauchen läßt, haben Krebs und scheidung für Modern Games mit dem kratzer des Hotels Leningradskaja sowie seine Partner zudem gerade bewiesen. Hinweis auf das „noch junge Unterneh- das „Casino Planeta“ im belorussischen „Aus steuerrechtlichen Gründen“ men, das gleichwohl über hinlängliche Minsk. (Krebs) übertrugen sie ihre Hamburger Spielbankerfahrungen verfügt“. Daß dabei ein Arrangement mit dem Muttergesellschaft Anfang des Jahres Gerade die aber beunruhigen Geils in den GUS-Staaten allgegenwärtigen „als Ganzes“ einschließlich des Mos- Kollegen. Während sein Ministerium organisierten Verbrechen notwendig ist, kauer Besitzes auf eine Krefel- von anderen Bewerbern forderte, einen unterstellt auch Geil. Jedoch hätten Re- der Schiffsmaklergesellschaft namens Geschäftsführer mit langjähriger Lei- cherchen ergeben, heißt es in der Kabi- HMN. Deren Geschäftsführer gibt an, nettsvorlage, daß sich „in den „davon gar nichts zu wissen“. genannten Spielbanken keine Im Juli dann wurde in Bremen die kriminellen Vorgänge ereignet Modern Games als Kommanditgesell- haben, die von den Gesell- schaft neu gegründet. Der Auslandsbe- schaftern zu verantworten wä- sitz gehe nun wieder an diese Firma ren“. Aber von anderen? über, sagt Krebs. Mit diesem Trick hät- Um sicherzugehen, erteilte ten er und seine Partner Verluste von Geil daher die Auflage, Krebs Modern Games in Jugoslawien beim müsse sich von allen Beteili- Finanzamt geltend machen können. gungen in Rußland trennen. Weil „die Landesregierung dies Die Vorgabe ist nach der An- wünscht“, wolle er aber die Rußland- sicht des Schweriner SPD-Ju- Beteiligungen tatsächlich verkaufen, stizministers Rolf Eggert von beteuert der Casino-Jongleur – ein Krebs leicht zu erfüllen. Schritt, den sich einer seiner Moskauer Schließlich sei es einfach, die Mitarbeiter „überhaupt nicht vorstel- wahren Besitzverhältnisse auf len“ kann. Die Betriebe liefen doch dem Papier zu verschleiern, „sehr gut“, das ganze Unternehmen sei hielt Eggert dem Innenmini- weltweit in Expansion. Gerade erst

PETERSEN / TRANSGLOBE ster entgegen. habe es sich um eine neue Lizenz jen-

K.-H. Dafür spricht einiges. So seits des Atlantiks beworben – in Para- Land Schleswig-Holstein den Betrieb? meint Geil etwa, daß „eine guay. Y

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Terroristen War G der Mörder? In Stuttgart verhandelt die Justiz den letzten Prozeß gegen die Entführer des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer.

er Raum war, bis auf eine schwach leuchtende Lampe und ein Radio, Dvöllig leer. Zwei Frauen und vier Männer hockten auf dem Fußboden und diskutierten – über Leben und über Tod. Alle, so schilderte später ein Teilneh- mer dieser gespenstischen Mitternachts- runde, seien sich „der Ungeheuerlich- keit des von uns Geplanten bewußt“ ge- wesen: vier Menschen auf offener Stra- ße brutal niederzuschießen und einen fünften zu entführen. Die Zeit drängte. Von inhaftierten Gesinnungsgenossen waren die Terrori-

sten der „Roten Armee Fraktion“ AP (RAF) schriftlich aufgefordert worden, RAF-Opfer Schleyer (1977): Zwei Minuten Showdown sie endlich zu befreien. In einem aus der Haft geschmuggelten Kassiber droh- Lebensbeichte ab und bezichtigte sich ert worden; erst in die Frontscheibe des ten die Gefangenen, andernfalls „ihr öffentlich als einen der Haupttäter. Schleyer-Autos, dann auf die Sicher- Schicksal selbst in die Hand zu neh- Jetzt muß der zu lebenslanger Haft heitsbeamten dahinter. men“. verurteilte Kronzeuge wider Willen An dem Schleyer-Anschlag, von der In jener Nacht vom 4. auf den 5. Sep- noch einmal auf den Stuhl. Diesmal geht Vorbereitung über die sechswöchige tember 1977 parierte das RAF-Sextett es nicht um Ereignisse am Rande des Gefangenschaft des Arbeitgeberpräsi- und beschloß – Kampfparole: „Jetzt Verbrechens, diesmal geht es um die denten in verschiedenen Verstecken bis oder nie“ –, den Industriellen und Ar- tödlichen Schüsse von Köln – und mögli- zu seiner Ermordung, waren nach Karls- beitgeberpräsidenten Hanns Martin cherweise darum, die letzten noch ver- ruher Erkenntnissen insgesamt 20 RAF- Schleyer in seine Gewalt zu bringen. bliebenen Rätsel des Schleyer-Mordes ler beteiligt, 11 Frauen und 9 Männer. Stunden später, exakt um 17.28 Uhr, zu entschlüsseln. 6 sitzen in lebenslanger Haft. lockte ein vierköpfiges Kommando Fast auf den Tag genau 18 Jahre nach Je länger damals die Geiselnahme Schleyers Limousine sowie sein Begleit- dem spektakulärsten Terrorakt der dauerte, desto größer wurde der Druck fahrzeug in einen Hinterhalt. Die Atten- deutschen Nachkriegsgeschichte beginnt auf die Bundesregierung, endlich elf täter feuerten sofort – mindestens am Dienstag vor dem Oberlandesgericht einsitzende Terroristen im Austausch 119mal. in Stuttgart das letzte Schleyer-Verfah- gegen Schleyer freizulassen. Doch Bonn Der Showdown neben einer dicht be- ren. Angeklagt ist Sieglinde Hofmann, hielt stand. fahrenen Kölner Straße dauerte knapp 50, die innerhalb der RAF den Deckna- Nachzugeben, erklärte Bundeskanz- zwei Minuten. Die drei Polizisten vom men „Karo“ trug. ler , wäre für ihn Begleitschutz und Schleyers Fahrer wa- Die Ermittler der Bundesanwaltschaft „gleichbedeutend mit dem Zusammen- ren sofort tot, Schleyer wurde als Geisel werfen ihr unter anderem vor, neben bruch des Staates“. Schmidt blieb auch verschleppt. Boock, Stefan Wisniewski und dem hart, als ein arabisches Kommando den Nach diesem Gemetzel schworen die 1978 bei einem Polizeieinsatz in Düssel- Lufthansa-Jet „Landshut“ kaperte. vier Terroristen einander, niemals über dorf getöteten Willy Peter Stoll Mitglied Am 18. Oktober 1977 stürmten Spe- die „Mitternachtsdiskussion“ und De- des Entführungskommandos in Köln ge- zialisten der GSG 9 in Mogadischu das tails des Anschlags zu reden. „Der wesen zu sein und am Tatort eine ent- Flugzeug, befreiten die Insassen und tö- Grund war wohl“, sagt das dama- scheidende Rolle gespielt zu haben. teten drei Geiselnehmer; das vierte lige Kommandomitglied Peter-Jürgen Sieglinde Hofmann, so die Anklage, ha- Kommandomitglied, die damals 24jähri- Boock, 43, „daß wir alle schockiert wa- be jenen Kinderwagen geschoben, in ge Souhaila Sayeh, überlebte und wohnt ren, als wir merkten, zu welchen Taten dem die Waffen für das Attentat steck- heute in Norwegen. Ob sie nach wir fähig waren.“ ten – auch das von ihr benutzte halbau- Deutschland ausgeliefert wird, ist im- Boock selbst hat als einziger den tomatische Gewehr HK 43, Registrier- mer noch ungewiß. Schwur gebrochen. Im Prozeß gegen nummer 1001530 E. Von den dramatischen Ereignissen zwei andere Ex-Mitglieder der RAF leg- 39 Schüsse, so die Bundesanwalt- auf dem Flughafen von Mogadischu te er 1992 nach langem Leugnen eine schaft, seien aus dieser Waffe abgefeu- wußte Schleyer in seinem Brüsseler Ge-

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des Oberstaatsanwalts alle aus – bis auf einen. In einem Vermerk hielt Pflieger fest: Nach diesem „Subtraktionsverfahren“ bleibt als einziges männliches RAF- Mitglied Rolf Clemens Wagner übrig, der – glaubt man den Angaben von Mo- nika Winter, geb. Helbing, Peter-Jürgen Boock und Susanne Becker, geb. Al- brecht – jene Person „G“ sein muß, die Peter-Jürgen Boock gegenüber erklärt hat, sie habe Dr. Schleyer erschossen. Die Bundesanwaltschaft hat sich des- halb in ihrer Anklage gegen Sieglinde

AP Hofmann festgelegt: Erstmals erklärt RAF-Terroristen Wagner, Hofmann: „Jetzt oder nie“ die Behörde in einem amtlichen Schrift- stück, daß Wagner der Mörder von wahrsam nichts. Ihm sei bis zuletzt Silke Maier-Witt, „Karo“ alias Hof- Schleyer sei. „suggeriert“ worden, hat Boock ausge- mann sei als einzige Frau „unserer Juristisch ist die Karlsruher Version sagt, daß seine Freilassung unmittelbar Gruppe“ direkt am Anschlag beteiligt allerdings ohne Belang; wegen seiner bevorstehe. Deshalb sei er „guter Stim- gewesen: „Das hat sie mir selbst er- Beteiligung an der Schleyer-Ermordung mung“ gewesen. zählt.“ ist Wagner bereits 1987 zu lebenslanger „Nach relativ kurzer Diskussion“ sei Laut Pflieger ist „D“ Wisniewski. „D“ Haft verurteilt worden. aber dann die Entscheidung gefallen, die und „G“, hatte Boock ausgesagt, seien Das Karlsruher Gedankenspiel aller- Geisel zu erschießen. Boock, der zu die- bis zum Schluß bei Schleyer gewesen, dings stimmt nur dann, wenn Boocks sem Zeitpunkt bereits in den Irak ge- seien beide männlich und würden noch Aussage in allen Teilen wahr ist und die flüchtet war, erinnert sich: „Mir wurde leben. „G“ habe anfangs Schleyer auch Buchstaben richtig zugeordnet sind. Fal- es so geschildert, daß Diskussion, Ent- bewacht und ihm, Boock, Ende 1977 in le ein Baustein heraus, so ein Ermittler, schlußfassung und Ausführung frühmor- breche das Gesamtgebilde zusammen – gens rasch hintereinander folgten.“ schließlich sei Boocks „taktisches Ver- Schleyer mußte in den Kofferraum ei- „Er kam im Gras zum hältnis zur Wahrheit“ bekannt, das ihm nes Audi steigen, offenbar fuhren zwei Liegen und schon seine frühere Ehefrau Waltraud Terroristen das Fahrzeug von Brüssel vorgehalten hatte. nach Frankreich, über die grüne Gren- wurde sofort getötet“ Möglicherweise will Boock sogar mit ze. seinem Buchstaben-Puzzle ein früheres In einem Waldstück kurz dahinter sei Bagdad berichtet, er habe Schleyer er- RAF-Mitglied decken. Sicher ist nur: Schleyer herausgezerrt worden, „er kam schossen. Der Revolver, mit dem Schleyer am 18. im Gras zum Liegen und wurde sofort Wer „G“ sei, so Pflieger, lasse sich Oktober getötet worden war, wurde . . . getötet“ (Boock). Den ursprüngli- nicht „allein aufgrund der Aussagen noch einmal von Terroristen benutzt – chen Plan, den Wagen mit dem toten Boocks feststellen“, wohl aber „unter bei dem Attentat auf den Bonner Spit- Opfer nahe dem Bonner Bundeskanzler- zusätzlicher Berücksichtigung“ der Aus- zendiplomaten Gerold von Braunmühl amt abzustellen, in dem ein Krisenstab steiger-Geständnisse – etwa denen von vor neun Jahren. rund um die Uhr tagte, ließen die Täter Monika Helbing oder von Susanne Al- Seither ist der Smith & Wesson ver- fallen. brecht. schwunden. Vermutlich in einem bis- Bis heute hat Boock nur Namen ge- Von den in Frage kommenden neun lang nicht entdeckten Erddepot der nannt, deren Erwähnung niemandem RAF-Männern scheiden nach Ansicht RAF. Y mehr schadet. In seinen Schilderungen der Schleyer-Tragödie ersetzte er die Namen durch Buchstaben. „A“ zum Beispiel soll er selbst gewesen sein, „C“ der vor 17 Jahren umgekommene Stoll. Dennoch will die Bundesanwalt- schaft, im Abgleich mit den Aussagen der in der damaligen DDR abgetauchten Ex-RAF-Mitglieder, alle Boockschen Buchstaben-Personen identifiziert ha- ben. Die Ermittler rechneten Boocks Aus- sagen nach: Wer in einer konspirativen Wohnung in Düsseldorf war, konnte nicht am Kölner Tatort sein, wer eine Frau war, konnte kein Mann sein, wer tot war, nicht lebendig. So identifizierte der Karlsruher Analytiker, Oberstaats- anwalt Klaus Pflieger, die von Boock mit „B“ bezeichnete Person als das Kom- mandomitglied Sieglinde Hofmann.

Von den Aussteigern war sie immer C. RIEWERTS / DER SPIEGEL wieder belastet worden. So berichtete Entführte „Landshut“ in Mogadischu: Schleyer wußte bis zuletzt nichts

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DEUTSCHLAND

Tourismus Wie in Sarajevo Überfüllte Züge, niedergetrampelter Strandhafer – wird das 30-Mark- Wochenendticket der Bahn nach Sylt abgeschafft?

idder Lüng, in der Ballade gefeier- ter Sylter Freiheitsheld („Lewwer Pduad üs Slaav!“, zu deutsch: Lieber tot als Sklave), fand noch klare Worte

gegen den ungebetenen Eindringling FOTOS: M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV vom Festland: „Zieh ab mit deinen Überfüllter Sylt-Zug: Ein- und aussteigen durchs Fenster Hungergesellen, hörst du meine Hunde bellen?“ Wer sie überhörte, wie der bandes, Stephan Beck, warnte vor befördern. Ein Vertreter des Kieler Amtmann von Tondern, den erstickten „Helgoländer Verhältnissen“, womit er Wirtschaftsministeriums fühlte sich an- die Insulaner im heißen Grünkohl. wohl die vom Billigalkohol benebelten gesichts von Hunderten wartender Rei- Heute essen, zumindest die Feinen Tagesgäste meinte, die den Fuselfelsen sender auf dem Bahnhof von Husum zu der Insel, Austern, und ihre Hunde ver- Tag für Tag heimsuchen. dem Vergleich hingerissen: „Das sieht fügen über eine kultivierte Beißhem- Die Westerländer Bürgermeisterin hier aus wie in Sarajevo.“ mung. Doch der Hungergeselle – von Petra Reiber assistierte: Die Stammgä- Umweltschützer machten die Ticket- den Syltern mal „Tagestourist“, mal ste würden durch die überfüllten Züge Brüder für zertrampelten Strandhafer in „Billigtourist“ oder vornehm „Abfall- vergrault. Ihr listiger Vorschlag: Der den Dünen verantwortlich. Daß es auf tourist“ genannt – fällt noch immer ein: Billigtarif dürfe erst ab Husum gelten. dem Zentralstrand von Westerland „wie Er drängt in Rotten von bis zu fünf Bahnreisende von weiter her hätten so in Rimini aussieht“ (Douven ) – schuld Mann auf einem 30-Mark-Ticket am das Nachsehen. hatten immer die durchschnittlich 6000 Wochenende aus den Nahverkehrszü- Die Kämpfer wider die Eindringlinge „Schönes Wochenende“-Fahrer und gen der Deutschen Bahn, die in Wester- sahen sich durch den sommerlichen An- nicht die ordentlichen Bürger, die sich land ankommen. sturm bestätigt. Der Kurdirektor von in 24 000 Westerländer Gästebetten le- Schon im Frühjahr dieses Jahres, als Westerland, Peter Douven, 37, beob- gen und natürlich nie schmutzen. die ersten Discount-Touristen kamen, achtete, daß Zugpassagiere durch die Nun, da die Saison zu Ende geht, hatten einige der Mächtigen der Insel Fenster ein- und aussteigen mußten. In sieht die Kurverwaltung eine Chance, zur Mobilmachung gegen die ungebete- Husum blieb schon mal ein Zug stun- die unliebsame Invasion zu stoppen. nen Gäste geblasen. Der Vorsitzende denlang stehen, weil sich der Lokführer Das Billigangebot läuft Ende des Jahres des Sylter Hotel- und Gaststättenver- weigerte, die überladenen Waggons zu aus; durch die Bahnreform haben die Bundesländer dann die Möglichkeit, Fahrpreise und Zugfrequenz im Nahver- kehr in eigener Regie zu gestalten – und die 30-Mark-Fahrkarten nicht wieder anzubieten. Douven: „Das Ticket sollte man besser für die Reise in Städte oder in touristische Gebiete ausgeben, die je- den Gast gebrauchen können.“ Doch die Meinung der Insulaner ist so einheitlich nicht. Frittenbudenbesitzer wollen weiter die schnelle Mark ma- chen, Edelgastronomen hingegen fürch- ten um das exklusive Image. Und den wohlhabenden Reetdach- haus-Besitzern, viele davon in Kampen ansässig, ist die Sache egal. Touristen- busse dürfen dort nicht halten, und für die Wochenendfahrer ist der Anmarsch zu weit oder der Linienbus zu teuer und voll. Ex-Geo-Chefredakteur und Altin- sulaner Hermann Schreiber: „Auf Sylt muß man sich antizyklisch bewegen und Westerland vermeiden.“ Devise der reichen Pidder Lüngs von Westerländer Wochenendgäste: Unliebsame Invasion heute: lieber tot als Tourist. Y

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WIRTSCHAFT DPA Protestaktion des BUND gegen die Müllpolitik*: Von falschen Anwälten der Umwelt niedergebrüllt

Konzerne „Glaubt den Narren nicht“ Die deutsche Industrie unterwandert die Umweltbewegung. Scheinbar unabhängige Bürgerinitiativen und Ökover- bände, finanziert aus Konzernkassen, machen Stimmung für Verpackungsindustrie, PVC-Produktion, Tierimporte und werben für die Müllverbrennung. Die Arbeit der echten Umweltorganisationen wird massiv behindert.

igentlich wollte Olaf Bandt einen Die lärmenden „Beobachter“ sind subversiv und listig die Geschäfte man- Sieg über die Wegwerfgesellschaft reichlich fragwürdige Anwälte. Ge- cher Hersteller. Efeiern. Der Abfallexperte vom schäftsführer Manfred Geisler-Hansson Deutschlands Wirtschaft reagiert da- Bund für Umwelt und Naturschutz arbeitete bis zur Vereinsgründung für mit auf massiven Druck von unten. Rund Deutschland (BUND) hatte ins Bonner den Verpackungsriesen Tetra Pak. 25Jahre nach der Entstehung der Ökolo- Haus der Geschichte eingeladen, um Auch Mitbegründer Robert Polster er- giebewegung sehen sich die großen Um- ausnahmsweise gute Nachrichten zu hielt immer wieder Aufträge von der weltverschmutzer aus Chemie und Ver- verkünden: weniger Hausmüll, mehr PR-Abteilung des Konzerns. Das packungsindustrie, aus Energiebranche Recycling, schwindende Chancen für schwedische Unternehmen produziert und Fahrzeugbau in die Defensive ge- die Müllverbrennung. 90 Prozent der Einweg-Getränkever- drängt. Der Umweltschützer kam kaum zu packungen in Westeuropa. Die scheinbar unabhängigen Verbän- Wort. Verkleidet in bunte Narrenko- Die Methoden der Müllwächter glei- de leisten, was Firmen und klassischen stüme und ausgerüstet mit Flugblättern chen denen der radikalen Ökogruppen, Lobbys nicht gelingen kann: Sie errei- und Plakaten („Glaube allein versetzt die Botschaften aber sind gegen die chen Verbraucher, die sonst den Unter- keine Müllberge“) sprengten Vertreter Umweltbewegung gerichtet. Auch an- nehmen nicht glauben würden. Sieverun- einer Vereinigung, die sich Waste dere Unternehmen und Wirtschaftsver- sichern die Ökoszene, sie schwächen die Watchers nennt, die Veranstaltung. Al- bände setzen, obgleich mit sanfteren Umweltverbände, weil die Grenzen zwi- les sei Lüge, erfunden, längst wider- Methoden, auf Ökomimikry: Scheinbar schen Original und Plagiat verschwim- legt, brüllten die Umweltschützer der unabhängige Foren und Vereine ver- men. anderen Art. Immer wieder tönte es: schleiern ihre Auftraggeber und tum- Der Titel der „Fördergemeinschaft In- „Glaubt den Narren .“ meln sich in der Ökoszene, als gehör- tegrierter Pflanzenbau“ (FIP) erinnert an Sich selbst präsentierten sie als wah- ten sie dazu. In Wahrheit erledigen sie die Vorkämpfer für Bioanbau, die in der re Vorkämpfer für Umwelt und Ver- „Fördergemeinschaft organisch-biologi- braucher mit dem Slogan: „Waste Wat- * Die Figurengruppe „Matthiessen, Töpfer und scher Landbau“ (Bioland) zusammenge- Theo Müller kokeln Joghurtbecher“ des Münchner chers – die Anwälte der Umwelt kla- Künstlers Axel Bahro überreichte der BUND dem schlossen sind. Tatsächlich wird die FIP gen an“. Bonner Haus der Geschichte. (Jahresetat: knapp zwei Millionen Mark)

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von Chemieunternehmen wie Bayer, die Holzlobby die Rodung nordameri- land und Australien, zuvor in Deutsch- BASF, Hoechst und Schering finanziert kanischer Wälder als ökologische Wohl- land und Skandinavien. und treibt den Pestizidabsatz voran. tat verkaufen. „Als die uns als radikale Gerade für grenzüberschreitende Ge- Der „Bundesverband für fachgerech- und gefährliche Einrichtung diffamier- fahren wie die drohende Klimakatastro- ten Natur- und Artenschutz“ präsentiert ten, waren wir ziemlich hilflos“ erinnert phe sind längst auch globale Mogelorga- sich als „eine der größten deutschen sich Greenpeace-Sprecher Rowell. nisationen der Industrie entstanden. So Umweltorganisationen“ mit 130 000 „Viele dachten, ehemalige Greenpeace- schlossen sich große Ölfirmen wie Ex- Mitgliedern. Tatsächlich kämpft der Leute müssen es ja wissen.“ xon, Texaco, Shell und BP in der „Inter- Verein (Jahresetat: 500 000 Mark) da- Nach den Erfolgen im eigenen Land national Climate Change Partnership“ für, daß möglichst viele exotische Tier- suchen die Profitäuscher von der Forest (ICCP) zusammen. Der Name ist mit arten nach Deutschland importiert wer- Alliance nun Verbündete in der Welt – Bedacht gewählt: Laien können die In- den können. Die zahlreichen Mitglieder zur Zeit auf einer Tour durch Neusee- dustrielobby kaum unterscheiden vom rekrutieren sich aus 250 Einzelverbän- renommiertesten amerikani- den, die an der privaten und gewerbli- schen Expertengremium, das in chen Tierhaltung verdienen. den USA den Treibhauseffekt Die Zahl der industriegesponserten erforscht und unter dem Kürzel Organisationen mit Ökolabel wächst. IPCC bekannt ist. „Da kommt kein Verbraucher mehr Genauso macht es nun auch mit“, fürchtet BUND-Geschäftsführer die deutsche Industrie. „Ganze Onno Poppinga, „sogar unsere eigenen Branchen schaffen sich mittler- Leute verlieren den Überblick.“ weile ihre Vorfeldorganisatio- Genau das ist wohl erwünscht. „Die nen“, weiß Claudia Peter, die Industrie will die Umweltbewegung mit mit ihrem Kollegen Hans-Joa- den eigenen Waffen schlagen“, sagt An- chim Kursawa-Stucke ein Buch dy Rowell. Der britische Greenpeace- über die arglistigen Täuschungs- Mitarbeiter recherchiert seit zwei Jah- manöver geschrieben hat**. ren, mit welchen Tricks sich Konzerne Die Hamburger Waste in aller Welt gegen die Umweltbewe- Watchers gaben einen Bran- gung zur Wehr setzen. chendienst voller Schmähungen Am weitesten fortgeschritten ist die über Umweltthemen und-politi- Entwicklung in den Vereinigten Staaten ker („Mit Monika Griefahn zu- und in Kanada. Dort hat Greenpeace in rück in die Steinzeit“) heraus. einem Führer aufgereiht, welche Verei- Die Schriften tragen das Kürzel ne zur neuen Anti-Bewegung der Indu- „bund“, ganz wie der angesehe- strie gehören*. ne Ökoverband. Erst als der Besonders erfolgreich wandte die Bri- richtige BUND die Plagiatoren tish Columbia Forest Alliance die neue verklagte, wurde das Blatt in Verschleierungstaktik an. Sie nahm ge- „und“ umbenannt. zielt kleine lokale Bürgerinitiativen auf Vor der Branchenmesse Ent- und warb mit viel Geld den promi- sorga klebten die Waste

nenten Greenpeace-Veteranen Patrick B. EBNER Watchers an Rhein und Ruhr Moore ab, der den Umweltverband in Waste Watcher Geisler-Hansson Plakate, auf denen die Aktionen Kanada mitbegründet hatte. So kann Schmähungen gegen Umweltpolitiker echter Umweltverbände diffa- miert wurden. „Alle reden über Mülltourismus – wir fördern ihn“ stand auf knallrosa Untergrund, darunter prangten die Logos der größten deut- schen Ökovereinigungen. Wegen solcher Praktiken gelten die Waste Watchers selbst in der Verpak- kungsbranche mittlerweile als Schmud- delkinder, die offiziellen Vertreter haben sich längst von ihren Methoden distan- ziert. Der Verpackungskonzern Tetra Pak läßt wissen, die Hamburger nie ge- fördert zu haben. Andere, weniger spektakuläre Indu- strieorganisationen sind für die Umwelt- verbände heikler. Sogründete der Strom- konzern Viag, der auch in der Verpak- kungsindustrie aktiv ist, mit Partnern wie den Nahrungsmittelmultis Coca-Cola und Nestle´ sowie dem Warenhauskon-

* Carl Deal: „The Greenpeace Guide to Anti-envi- ronmental Organizations“. Odonian Press, Berke- ley; 112 Seiten; 5 Dollar. ** Claudia Peter, Hans-Joachim Kursawa-Stucke: „Deckmantel Ökologie. Tarnorganisationen der Industrie mißbrauchen das Umweltbewußtsein der

W. STECHE / VISUM Bürger“. Knaur Taschenbuchverlag, München; PVC-Produktion: Die Industrie feilt an einem umweltfreundlichen Image 208 Seiten; 14,90 Mark.

DER SPIEGEL 35/1995 83 WIRTSCHAFT zern Horten eine „Arbeitsgemeinschaft Verpackung und Umwelt“, die in Bonn traditionelle Lobbyarbeit macht. Zusätz- lich wurde ein sogenannter Deutscher Verpackungsrat gegründet. Der sollte als Expertengremium für Umwelt- und Ver- packungsfragen gelten, er legt größten Wert auf seine Unabhängigkeit. Für die Ökovertreter von BUND bis Greenpeace wird es zunehmend schwie- riger zu entscheiden, ob sie in solchen Gremien mitmachen sollen: Bietet sich ein echtes Diskussionsforum oder wer- den sie als Feigenblatt mißbraucht? „Anfragen gibt es genug“, sagt BUND- Geschäftsführer Poppinga. Besonders erfolgreich war die jahre- lang von Umweltverbänden heftig attak- kierte PVC-Branche. Zwar bescheinigt Die Ökosimulanten können selbst Experten täuschen das Umweltbundesamt dem Kunststoff noch immer „eine große Zahl ökologisch kritischer Eigenschaften“, und das Basler Prognos-Institut kam bei einer Untersu- chung zahlreicher Kunststoffe zum Er- gebnis, daß PVC „das größte Risikopo- tential“ berge. Doch die Diskussion hat sich verän- dert. Erfolgreich feilt eine Bonner Ar- beitsgemeinschaft PVC und Umwelt am neuen, umweltverträglichen Image für den „Giftstoff“ (Greenpeace). „Bren- nendes Problem geklärt: Dioxin-Entwar- nung für PVC“, tönt die Arbeitsgemein- schaft in einer Anzeigenkampagne. Das Vorgehen isttypisch für die Ökosi- mulanten. Die Arbeitsgemeinschaft, die vor allem von Branchenriesen wie Hoechst, BASF und Schering finanziert wird, stellt sich als „Umweltinitiative aus Wirtschaft und Wissenschaft“ vor, der neben Unternehmen auch „Facharbei- ter, Lehrer und Pensionäre“ angehören. Die Täuschungsmanöver der Frank- furter irritieren selbst Experten. Kürzlich gewannen die Werbeprofis den renom- mierten Wuppertaler Ökologen Ernst Ulrich von Weizsäcker als Autor für eine PVC-Werbebroschüre. Später erklärte der, ihmseinicht klar gewesen, für wen er da schreibe. Auch die Bonner Ministerialbürokra- tie ist gegen die Tricks der Täuscher nicht gefeit. Als die Waste Watchers verbreite- ten, sogar BUND-Abfallmann Bandt sei neuerdings für mehr Müllverbrennung, nahmen Beamte des Umweltministeri- ums das für bare Münze. Bandt war sprachlos, die neue Drei- stigkeit hatte den BUND-Funktionär verblüfft. Nur weil ein Beamter sich Wo- chen später beiläufig nach dem Sinnes- wandel erkundigte, erfuhr Bandt von der gezielten Desinformation. Y

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WIRTSCHAFT

ne Steuer dem Bürger Da aber wird es eng. Steuern wenigstens die Hälfte ei- Große Vermögensbesit- nes „typischerweise“ zu zer haben häufig auch erwartenden Ertrages hohe Erwerbseinkom- beläßt. Bei einem typi- men. Äußerste scherweise zu erzielen- Die Erträge des Ver- den Zins von fünf bis mögens sind daher nicht sechs Prozent, so die Ar- selten trotz Anrechnung Grenze gumentation, wäre eine aller Freibeträge mit ei- einprozentige Vermö- ner Einkommensteuer Hoffnung für Wohlhabende: Die Ver- gensteuer also stets zu- von über 50 Prozent be- lässig. lastet. Da ist dann kein mögensteuer ist in weiten Teilen Doch das Verfas- Platz mehr für eine zu- verfassungswidrig. sungsgericht, das ist das sätzliche Vermögensteu- Neue, begrenzt die er (siehe Grafik). tto Graf Lambsdorff sieht in Paul grundgesetzkonforme Damit, kritisiert Bök- Kirchhof den „obersten Steuerge- Handlungsfreiheit des kenförde seine Kolle- Osetzgeber der Bundesrepublik“. Parlaments mit zwei wei- gen, lege der Senat als Zu Recht: Der Verfassungsrichter und teren Leitplanken. „äußerste Grenze der Professor für Steuerrecht an der Univer- Kleine Vermögen bis Gesamtsteuerbelastung“ sität Heidelberg hat die Regierenden in zum durchschnittlichen die „für die Einkom- Bonn immer wieder zu weitgehenden Wert eines normalen mensteuer geltenden Reformen gezwungen. Einfamilienhauses sind Höchstsätze“ fest.

Als Steuerfachmann hat Kirchhof künftig für die Vermö- STOPPEL & KLINK Da kleine Vermögens- auch die Rechtsprechung des Zweiten gensteuer tabu. Der Ge- Kirchhof besitzer ebenso wie Rei- Senats in Karlsruhe geprägt. Sein neue- setzgeber müsse die che und Superreiche von ster Coup ist im verfassungsrechtlichen „wirtschaftliche Grundlage persönlicher der Verfassung beschirmt werden, wäre Bann gegen die Begünstigung der Im- Lebensführung gegen eine Sollertrag- der „Sandwich-Bürger“ (Lang), der mit mobilienbesitzer versteckt. „Der Be- steuer abschirmen“. Einkommen und Vermögen dazwischen schluß“, analysiert der renommierte Am unteren Sockel der Vermögens- angesiedelt ist, einziges Opfer der Ver- Kölner Steuerrechtler Joachim Lang, pyramide ist also nichts mehr zu holen. mögensteuer-Eintreiber. „Das scheint „enthält Aussagen zur Vermögensteuer, Doch auch die Spitze, wo die vielfachen mir unerträglich“, rügt der Steuerpro- wonach diese Steuer in weiten Teilen Millionäre siedeln, deklarieren die fessor. verfassungswidrig ist.“ Karlsruher Richter zur vermögensteuer- Es wäre auch grundgesetzwidrig. Zornig bestätigt Senatsmitglied Ernst- freien Zone. Denn dann würde der Großaktionär von Wolfgang Böckenförde in einer „Ab- Erstmals nämlich betrachten sie eine der Vermögensteuer verschont, der we- weichenden Meinung“ zum Urteil den Steuerart nicht für sich, sondern neh- niger Verdienende aber, weil er steuer- radikalen Wandel in der Rechtspre- men die Gesamtbelastung des Bürgers lich weniger leistungsfähig ist und den chung: „Die Möglichkeit echter Vermö- Spitzensatz nicht erreicht, müßte zahlen gensteuern, die am Vermögen selbst – ein Verstoß gegen das Leistungsfähig- Maß nehmen, ist als eine der ältesten Steuerliche Belastung von Aktien keitsprinzip. Steuern abgeschafft.“ BEISPIELRECHNUNG Bleibt als Konsequenz nur die Ab- Die Vermögensteuer, so hat es die schaffung der Vermögensteuer. Mit ei- Mehrheit der Richter in ihr Urteil ge- Nennwert DM 50,00 nem Aufkommen von weniger als acht schrieben, ist eine „Sollertragsteuer“. Jahresendkurs DM 500,00 Milliarden Mark ist sie ohnehin wenig Das heißt: In den Bestand des Vermö- Dividende DM 10,00 ergiebig. Von den Einnahmen entfallen gens, das aus besteuertem Einkommen zudem über 60 Prozent auf Betriebsver- angesammelt wurde, kann der Fiskus vorausgesetzt, daß alle Freibeträge genutzt sind: mögen. Dieser Teil wird über die Preise nicht eingreifen. weitergewälzt; hier zahlen nicht die Ka- Einkommensteuer Der Staat darf über die Vermögen- bei Spitzensatz DM 5,30 pitalisten, sondern die Verbraucher. steuer nur Teile des Ertrags, also der Beim Privatvermögen gibt es – trotz Zinsen, Dividenden oder Mieteinnah- Solidarzuschlag DM 0,40 der aufwendigen Bürokratie – Gerech- men, abschöpfen. Die Substanz des Vermögensteuer (0,5%) DM 2,50 tigkeitslücken. Wertvolle Juwelen, Bar- Vermögens ist durch die Eigentumsga- ren von Gold und Silber liegen zwar in rantie der Verfassung geschützt. Gesamtsteuerbelastung DM 8,20 Banktresoren, tauchen aber kaum je- Damit wären Gold und Juwelen, die mals in einer Vermögensteuererklärung keine Erträge abwerfen, genauso wie bezogen auf die Dividende: Belastung 82% auf. Anteile an Aktiengesellschaften, die Auch Auslandskonten sind vor dem keinen Gewinn ausschütten, vor der Zugriff des Fiskus gut geschützt. Schon Vermögensteuer eigentlich sicher. Doch in den Blick. „Die Vermögensteuer darf diese Unfähigkeit des Staates, die Steu- so ist es nicht. zu den übrigen Steuern auf den Ertrag er bei allen Steuerpflichtigen gleicher- Die geltende Vermögensteuer beträgt nur hinzutreten“, heißt es in ihrem Be- maßen wirksam hereinzuholen, macht ein Prozent des Gesamtvermögens, schluß, „soweit die steuerliche Gesamt- sie verfassungswidrig. gleichgültig ob tatsächlich Gewinne ge- belastung des Sollertrages . . . in der FDP-Mann Lambsdorff fordert des- macht werden oder nicht. Für Aktienbe- Nähe einer hälftigen Teilung zwischen halb nach dem Urteil des Verfassungs- sitz gilt der halbe Steuersatz. privater und öffentlicher Hand ver- gerichts den ersatzlosen Verzicht auf die Das aber ist dennoch verfassungskon- bleibt.“ Vermögensteuer. Dem Staat ginge oh- form. Der Gesetzgeber, so der Kirch- Dem Bürger müssen nach Abzug aller nehin nur wenig verloren, weil die Erhe- hof-Senat, dürfe so lange am Wert des Steuern von seinen Gewinnen also we- bung der Vermögensteuer sehr aufwen- Vermögens anknüpfen, wie die erhobe- nigstens annähernd 50 Prozent bleiben. dig ist. Y

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WIRTSCHAFT TRENDS

Dasa sen Vorbildern möchten die Dasa-Oberen nun nacheifern. Bis Juni 1997 sollen rund 150 teuer bezahlte Führungs- Zittern in der Zentrale kräfte ihren Job verlieren. Auch der nähere Terminplan steht schon fest. Bis Ende September muß jedes Vor- Dasa-Chef Manfred Bischoff und seine Vorstandskollegen standsressort angeben, wie viele Mitarbeiter überflüssig wollen nicht nur bei Tochterunternehmen wie Dornier oder sind. Bereits im Dezember sollen die Namen der Gefeuer- Airbus im großen Stil Stellen abbauen. Auch in der Kon- ten feststehen. zernzentrale in Ottobrunn bei Mün- chen müssen fast die Hälfte der rund 350 Beschäftigten um ihren Job ban- gen. Das geht aus der internen Analy- se der Beratungsfirma McKinsey her- vor, die der Dasa-Vorstand in Auf- trag gegeben hat und die dem SPIE- GEL vorliegt. Die Experten haben den Personalbestand im Dasa-Haupt- quartier mit der Situation in 27 ande- ren großen Industriekonzernen ver- glichen. Sie kamen zu einem erstaun- lichen Ergebnis: Vergleichbare Un- ternehmen wie Mannesmann oder

Veba kommen im Schnitt mit 40 Pro- J. H. DARCHINGER zent weniger Beschäftigten aus. Die- Dasa-Hauptverwaltung und Werk in Ottobrunn

Manager Multimedia Kirch-Manager Gottfried Zmeck, des- halb falle es auch nicht unter die Rund- Schrempp II. Kirch schafft Fakten funkhoheit der Bundesländer. Ohne- hin seien die neuen digitalen Sendefor- Bei Daimler-Benz macht nun auch Der Münchner Filmhändler Leo Kirch men wie Video on demand oder Tele- Wolfgang E. Schrempp, 46, der vier will seine ehrgeizigen Pläne für das di- shopping, für die ein spezieller Deco- Jahre jüngere Bruder des Konzern- gitale Fernsehen auch ohne ausdrückli- der für gut 1500 Mark erforderlich ist, chefs Jürgen E., Karriere. Das will der che Zustimmung des Gesetzgebers nicht aufzuhalten: „Astra wird nicht je- Vorstand am Montag dieser Woche durchsetzen. Mit der neuen TV-Tech- de Woche bei den Ministerpräsidenten beschließen. Vom Herbst an soll nik können bis zu zehnmal mehr Pro- anrufen und fragen, ob sie sich schon Schrempp II. die Münchner Nieder- gramme als bisher über einen Kanal auf neue Gesetze geeinigt haben.“ Die lassung, die mit Abstand wichtig- ausgestrahlt werden. Vom kommen- Luxemburger Astrafirma SES werde ste Daimler-Depen- den Frühjahr an will Kirch unter ande- „faktische Realitäten schaffen“, sagte dance in der Bundes- rem populäre Spielfilme im Halbstun- Zmeck bei der Vorstellung des vom republik, leiten (1,8 dentakt über den demnächst starten- finnischen Elektronikkonzern Nokia Milliarden Mark Um- den Astrasatelliten 1E ausstrahlen. entwickelten Digital-Decoders dBox. satz, 1000 Beschäftig- Das Programm sei kein Fernsehen im Vergangenen Freitag orderte Kirch bei te). Der studierte In- herkömmlichen Sinn, argumentiert Nokia eine Million Decoder. genieur und Maschi- nenbauer arbeitet seit 1989 beim Daimler- Versicherungen Benz-Konzern und war bis Herbst 1993 Afrika? weltweit für das Ver- triebstraining im Be- Nein danke! reich Nutzfahrzeuge

H. WURZER zuständig. Danach Es gebe Fälle, so beginnt der Text einer W. Schrempp wechselte er als Chef Anzeigenkampagne der Versiche- indieFreiburger Mer- rungsbranche, „da wird einem der Wert cedes-Niederlassung. Nun soll der ehe- von Versicherungen schlagartig be- malige Gewerbeschuldozent den baye- wußt“. Und in der Tat, wenn der VW- rischen Automobil-Ableger auf Vor- Bus auf Wüstentour unterm Felsblock dermann bringen. Seit dem Ausschei- parkt, wie auf dem Werbefoto zu sehen den des früheren Münchner Mercedes- ist, da mag der Gedanke an die Vollkas- Statthalters Karl Dersch Ende 1988 ko-Versicherung durchaus beruhigend ging es mit der Filiale stetig bergab. In wirken. Blöd nur, daß „Deutsche Versi- den vergangenen sechs Jahren ver- cherungen“, Auftraggeber der Werbe- suchten sich drei Spitzenmanager an aktion, gerade solche Risiken gar nicht Versicherungswerbung dem Führungsjob; der Umsatz sta- versichern. „Vollkasko für Afrika? gniert, der Gewinn schrumpft – der- Wirklich nicht!“ heißt es etwa bei der Auch der ADAC will damit nichts zu weil steigerte Hauptkonkurrent BMW Kölner Colonia, und auch beider HUK- tun haben, er beschränkt seinen Schutz seinen Marktanteil in München von Coburg hören Kunden dasselbe wie von auf Europa, wo die Risiken wesentlich knapp 20 auf fast 30 Prozent. der gesamten Branche: „Nein danke“. geringer sind.

88 DER SPIEGEL 35/1995 Werbeseite

Werbeseite .

WIRTSCHAFT

Tarifverhandlungen „Ganz schön mutig“ Interview mit VW-Personalvorstand Peter Hartz über die Beschäftigungsprobleme und die Pläne des Konzerns

SPIEGEL: Wie sicher sind die Arbeits- das noch mit der Vier- plätze bei VW? Tage-Woche zu tun? Hartz: Sie sind relativ sicher, wenn wir Hartz: Wir wollen, das von uns vorgelegte Konzept ver- wenn wir viele Aufträ- wirklichen. ge haben, diese produ- SPIEGEL: Warum wollen Sie dann bis zieren, um den Kun- 1998 fast 30 000 Stellen streichen? den das Auto in 14 Ta- Hartz: Das ist eine Mischung aus alten gen zu liefern. Im Ge- Rechnungen, in die neue Akzente ein- gensatz zu früher war- fließen. Wir haben in unseren westdeut- tet ein Kunde nicht schen Standorten Ende des Jahres etwa mehr zwei, drei Mona- 94 000 Beschäftigte, ohne die Vier-Ta- te auf seinen Wagen; ge-Woche wären es 20 000 weniger. Bei er wechselt die Marke. den Produktivitätsfortschritten, die wir Als Ausgleich wird machen, werden wir allerdings in der dann zu anderen Zei- Tat in den nächsten Jahren unsere Be- ten weniger gearbeitet. legschaftszahlen weiterhin anpassen Wir brauchen dazu sai-

müssen. J. H. DARCHINGER sonal eine Anzahl von SPIEGEL: Ohne Kündigungen? VW-Vorstand Hartz: „Anpassungen sind beherrschbar“ Samstagen, aber die Hartz: Keine den Arbeitsmarkt bela- belegen wir in der so- stenden betriebsbedingten Kündigun- und Vier-Tage-Woche, so wie es die Ge- genannten Volkswagen-Woche erst, gen, keine Sozialhärten, kein Kahl- werkschaft fordert, unbefristet zu ver- wenn wir die Flexibilität an den anderen schlag, daran halten wir – in einem über- längern. Tagen voll ausgeschöpft haben. Vor al- schaubaren und beeinflußbaren Zeit- Hartz: Für uns ist eine längere Frist als lem wollen wir bei den Zuschlägen mit raum – fest. zwei Jahre beim besten Willen nicht ver- unseren schärfsten Konkurrenten am SPIEGEL: Sie schieben doch ein gewalti- tretbar. Der Planungszeitraum muß Standort Deutschland gleichbehandelt ges Beschäftigungsproblem vor sich her. überschaubar und gestaltbar sein. Zwei werden. VW liegt mit 50 Prozent Sams- Hartz: Nein. Heute haben wir das Pro- Jahre sind schon ganz schön mutig. tagszuschlag an der Spitze, andere kön- blem mit unseren Arbeitszeitmodellen Wenn es schlimmer kommt und beson- nen an einzelnen Standorten ohne oder gelöst. Die weiteren Anpassungen sind dere Maßnahmen erforderlich sind, um mit der Hälfte der Zuschläge an Samsta- beherrschbar, sind aber eine Frage der das gesamte Unternehmen zu retten, gen arbeiten. Kosten. Nehmen wir den Vorruhestand: dann können wir das nicht mit einer SPIEGEL: Wollen Sie für geleistete In den nächsten beiden Jahren stehen noch so gut gemeinten Absicherungspo- Mehrarbeit Mitarbeitern tatsächlich rund 6000 Beschäftigte in der Alters- litik bewältigen. Schecks geben, die sie später einlösen klasse über 55 zur Verfügung. SPIEGEL: VW will, daß die Mitarbeiter können? SPIEGEL: Sie weigern sich aber, den Ta- künftig bis zu 48 Stunden in der Woche Hartz: Ja. Die Zeit-Schecks sollen einge- rifvertrag über Beschäftigungssicherung und auch am Samstag antreten. Was hat löst werden, wenn wir weniger Arbeit

Die Vier-Tage-Woche soll fortgeführt werden, darüber sind sich die Tarifpartei- en bei VW weitgehend einig. Doch sie streiten erbittert um die Konditionen. Im Emdener Werk verweigerten die 8000 Beschäftigten am Freitag vergangener Woche die eingeplanten Überstunden. Mit massiven Warnstreiks will die IG Metall die dritte Verhandlungsrunde am Diens- tag dieser Woche begleiten. Es geht um die Kosten für die Beschäftigungsgarantie. Rund 20 000 überzählige Stellen sicherte der Konzern mit der vor zwei Jahren ein- geführten Arbeitszeitverkürzung auf 28,8 Stunden pro Woche. Die Beschäftigten mußten auf 15 Prozent ihres Lohns verzichten. Nun fordert Personalvorstand Peter Hartz, 54, weiteres Entgegenkommen: Die VW-Werker sollen samstags ohne die 50prozentigen Zuschläge an- treten und auf ihre stündlichen Pausen verzichten. Von

den Angestellten will Hartz mehr Leistung fürs gleiche J. SEIDEL Geld sehen: Sie sollen drei Stunden länger arbeiten. VW-Monteure in Emden: Künftig Zeit-Schecks einlösen

90 DER SPIEGEL 35/1995 .

haben; die Mitarbeiter können sie ver- Die Vorgängerversionen Windows wenden, um später in Teilzeit zu arbei- Software 3.0, 3.1 und 3.11 laufen auf 85 Millionen ten oder früher in den Ruhestand zu ge- Computern. Nur so ist wohl zu erklären, hen. Das ist eine Möglichkeit, die den daß viele der Menschen, denen die Interessen des einzelnen Rechnung trägt Gates-Produkte seit zehn Jahren das Le- und auch für das Unternehmen Flexibi- Fax und ben in Büro und Heim schwerer ge- lität bringt. macht haben, nun in die Läden stürmen, SPIEGEL: Ist es vorstellbar, daß ein Be- um das neue Windows 95 zu kaufen: schäftigter 40 Stunden pro Woche arbei- Solitär Und erlöse uns von deinem Übel. tet und dafür zum Beispiel mit 50 Jahren Bis nach Mitternacht hielten in Ame- aussteigt? Mit der größten Werbekampagne rika, Großbritannien und anderswo Ein- Hartz: 50 ist zu früh. Er kann die Zeit der Branchengeschichte macht zelhändler oder Großdealer wie Comp- auch nutzen, um sich weiterzubilden, USA mit 86 Filialen in der Nacht von um sein Haus zu bauen oder länger zu Marktführer Microsoft aus einem Mittwoch auf Donnerstag ihre Läden of- verreisen. In unserem Konzept des at- Update ein Weltereignis. fen. Vielen wie dem Studenten Jo- menden Unternehmens wird die indivi- nathan Prentice, 19, ging es vor al- duelle Berücksichtigung der Interessen lem darum, in einer weltweiten Win- einen viel größeren Raum einnehmen enn Mangel an Produkten dows-Olympiade irgendwie zu den er- können. herrscht, muß der Mensch anste- sten zu gehören: Vor fünf TV-Kameras SPIEGEL: Die Gewerkschaft hält das für When. Grundsätzlich wartet er in kaufte er sein Windows in Auckland, einen PR-Gag. der falschen Schlange, weil es in der an- Neuseeland, Punkt Mitternacht Ortszeit Hartz: Wir halsen uns das nicht aus Spaß deren immer schneller vorangeht. und so dicht an der Datumslinie, daß die auf, sondern um die Beschäftigung zu si- Nun ist nichts mehr so, wie es war. gesamte Erdenbevölkerung westwärts chern. Mit Hilfe dieser Schecks lassen Kunde an Kunde reiht sich seit Don- das Nachsehen hatte. Der Welt teilte sich die komplexen Arbeitszeitsysteme nerstag voriger Woche in Kaufhäusern Erstkäufer Prentice dann mit, was er jedem Mitarbeiter in drei Sätzen erklä- ren: Sie arbeiten in der Produktion im Durchschnitt 28,8 Stunden pro Woche und erhalten dafür ihr Entgelt. Wenn sie mehr arbeiten, geben wir ihnen dieses Zeit-Wertpapier. Und damit machen sie in Abstimmung mit uns, was sie für rich- tig halten. SPIEGEL: Wie erklären Sie Ihren Leuten denn, daß Sie – trotz Personalüberschuß – in der Verwaltung die Wochenstun- denzahl auf 32 erhöhen wollen? Hartz: Die Arbeitsplatzsicherung kostet uns ja sehr viel Geld. Deshalb fordern wir von unseren Beschäftigten einen an- gemessenen Beitrag, ohne ihnen in die Tasche zu greifen: im Dienstleistungsbe- reich durch eine erhöhte Anwesenheit und in der Produktion durch den Entfall von Erholzeiten. Bei so stark verkürzter Arbeitszeit halten wir das für zumutbar. SPIEGEL: Das heißt für die Mitarbeiter:

fürs gleiche Geld mehr arbeiten? AP Hartz: Wir sehen das als einen Beitrag Windows-Käufer in New York: Gefühl des Aufbruchs zur Produktivität, weil es hilft, Kosten zu senken. Zum Beispiel in der For- und Computerläden aller Welt, um et- von Windows 95 für sich erwartet: „Da schung und Entwicklung, im Vertrieb was zu ergattern, das im Überfluß vor- kann ich gleichzeitig Solitär spielen und oder bei den Finanz-Dienstleistungen handen ist: Das Produkt hört auf die Faxe senden.“ leisten die Mitarbeiter dann für das glei- erotisierende Bezeichnung „Betriebs- Offenbar ein großer Schritt für Pren- che Entgelt mehr. Das ist ein Beitrag system“, den Namen „Windows 95“ tice. Die Menschheit hingegen ist von zur Beschäftigungssicherung. Allein die und kann nicht sehr viel mehr, als die Milliardär Gates säuberlich in Pioniere Vorruhestandsregelung in den nächsten leidige Bedienung einer Rechenmaschi- und Nachzügler eingeteilt worden. zwei Jahren kostet Volkswagen eine ne etwas freundlicher zu gestalten als Als erste dürfen Amerikaner, außer Milliarde Mark. Uns ist bei allem klar, bisher. den Bewohnern Alaskas, und die Völker daß unsere Mitarbeiter auch Geld sehen Bill Gates, 39, Chef des Software-Gi- von 25 weiteren Staaten Windows erwer- wollen. ganten Microsoft und mit geschätzten 13 ben – halb Europa inklusive. Sprachbe- SPIEGEL: Um Kosten zu senken, schaf- Milliarden Dollar Vermögen der Onkel nachteiligte Nationen wie Deutschland, fen Sie Überkapazitäten, die Sie später Dagobert der Welt, hat, so sagt er, meh- Österreich, die Schweiz und die Skandi- wieder abbauen müssen. Ist das logisch? rere hundert Millionen Dollar für die navier dagegen werden mit Versionen in Hartz: Ja, solange wir darauf aufpassen, Werbung ausgegeben. Der Zauber ihren Muttersprachen erst am Dienstag daß Kapazitätserhöhungen nur in den machte aus dem verspäteten Upgrade nächster Woche bedient. Unternehmensteilen erfolgen, wo wir eines Standardprogramms das größte Und während die Hotlines in der hal- zusätzlich Leistung brauchen, zum Bei- Ereignis in der Computergeschichte seit ben Welt schon in Dutzenden von Spra- spiel in der Entwicklung oder im Ver- Aufzeichnung des Wetterberichts auf chen lahmgelegt werden, freuen sich Ja- trieb. elektronische Datenträger. paner im Dezember und Chinesen näch-

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WIRTSCHAFT

stes Jahr auf die Herabkunft von Gates – Für solche Trend-Kost hat die Win- insgesamt hundertmillionenmal soll dows-Generation das Wort „Hype“ ent- Windows 95 weltweit verkauft werden. deckt, was soviel heißt wie Täuschungs- Bis dahin wird sich noch viel Werbung manöver oder drastischer: Zeitgeist- entfalten. Alles inallem geben Microsoft, scheiß. Und nun, so sieht es aus, fällt sie Händler und Entwickler wohl 500 Millio- massenweise selbst drauf rein. nen Dollar für die Promotion aus, Kaska- Der Hype um Windows 95 hat – den von Fernsehspots sollen, so Peter nichts ist mehr so, wie es mal war – so- Hartmann vom deutschen Microsoft- gar Nischen erreicht, in denen gemein- Marketing, „das Gefühl des Aufbruchs hin über das Weltenschicksal ernsthaft vermitteln“. nachgedacht wird. Josef Joffe, Chef im Gates läßt das Empire State Building, außenpolitischen Ressort der Süddeut- das sehr viele Fenster hat, in den Win- schen Zeitung, leitartikelt gewöhnlich dows-95-Farben rot, gelb und grün illu- über Belange wie „In welcher Welt lebt minieren. Von den Rolling Stones hat er die Weltpolitik?“ Am Donnerstag vori- den Hit „Start me up“, Preis: angeblich 18 ger Woche hat er in einem Kommentar Millionen Dollar, für die Kampagne ge- endlich eine mögliche Antwort gefun- kauft. Und auch an anderen irgendwie den: „Die Welt als Windows“. heiligen Traditionen hat sich der Micro- Die Vermutung, er habe als Außen- soft-Milliardär vergriffen. politiker halt nur dem Großthema „Bill Zum erstenmal seit ihrer Gründung Gates – ein Mann greift nach der Welt- 1788 wurde die Londoner Times gratis an herrschaft“ (Die Woche) nicht widerste-

die Bevölkerung verteilt –Gates hatte die N. FEANNY / SABA hen können, dementiert Joffe umge- ganze Auflage des Donnerstags für eine Milliardär Gates* hend. Viel einfacher: „Mich ärgert Million Dollar aufgekauft und auf 1,5 Schöner, schicker und mehr Fun Windows“, begründet er den Text, den Millionen Stück mehr als verdoppelt, er, puristisch, mit einem Programm un- Aufschrift auf Seite eins: „Dank Micro- Ein Zugriff auf künftige Kundschaft: ter dem drögen Betriebssystem MS-Dos soft die Times heute umsonst“. Denn die neue Software verbindet den erarbeitet hat. Das ist auch von Gates, Die Konkurrenz nutzte die Lage, dank Verbraucher mit einem weltweiten Mi- zählt zum „Industriestandard“ und läuft Gates, der würdigen Times die Ehre ab- crosoft-Infodienst und dem Internet – auf rund 100 Millionen Computern. zuschneiden. Der Independent erschien beide kommen über normale Telefonlei- Doch es gibt noch Zuflucht vor den mit der Dachzeile im Zeitungskopf: „A tung auf den Computerbildschirm. Gatesschen Allgewalten. Wie die newspaper worth payingfor“– „EineZei- Zur Omnipräsenz in virtuellen Räu- Kämpfer des bekannten kleinen galli- tung, die es sich zu kaufen lohnt“. men tritt ein weltweiter Aufmarsch im Mit einer Karnevals-Party am Firmen- wirklichen Leben. Von sofort an ist keine sitz in Redmond bei Seattle feierte Gates amerikanische Kleinstadt, kein australi- „Microsoft für Computer am Abend desselben Tages mit 2500 Gä- scher Aboriginee und kein Oberbayer wie McDonald’s sten den „Geburtstag“ von Windows 95. mehr vor den Windows-Werbern sicher. Die Gemeinde des Internet, des welt- In Australien ist die Windows 95 Road für feines Essen“ größten Computerverbunds mit wohl Show gestartet: „Welcome to the biggest mehr als 35 Millionen Nutzern, konnte event in the history of computing.“ Und schen Dorfes haben sich einige Rebellen die Höhepunkte der Show auf den Com- in den USA brettern nächste Woche Mi- verschanzt: Mediengerecht virtuell puterbildschirmen verfolgen (Netzadres- crosoft-Supertrucks auf die Piste, um 75 schreiben sie im Internet, oft mit einem se: http://www.microsoft.com). Städte bis Ende Februar heimzusuchen – Augenzwinkern, ihren Zorn auf den ihre Botschaft ist: Windows Quasi-Monopolisten in die Welt. 95 ist mehr Fun, schöner, Die „Offizielle Haßseite“ (Bandwurm- schicker und noch nocher. adresse: http://www.oeh.uni-linz.ac.at: Windows 95 kriecht in je- 8001/àchris/hate/hate.html) bietet Fea- den Winkel des Landes: ob tures wie eine „Hate Gallery“ und hand- es im Five Seasons Hotel feste Drohungen: „Für eine weltweite vonCedar Rapids, Iowa, als Zerstörung von M$“ – das Dollarzeichen „revolutionäres neues Be- steht für Gates’ geniale Gabe, Geld zu triebssystem“ angepriesen scheffeln. Rund ein Dutzend ähnlicher oder in der Navy Pier Exhi- Angebote bereichert das Internet unter bit Hall von Chicago bei Stichmarken wie „Microsoff Bill“ (Netz- Schnittchen, Cola und adresse: http://www.xs4all.nl/àgilr/ blixa. Tombola nebst Gates-Rede htm) oder „Microsuck Hate Page“ (Netz- über Satellit präsentiert adresse: http://www.engin.umich.edu/à wird. Auch eine Gates-Pro- athaler/microsuck.html). Dort ziehen zession durch ganz Europa die Gates-Gegner über ihr Lieblings- ist angedroht – womöglich Ekel her, ungehindert und unter sich: werden bald sogar die Zeit- „Microsoft ist für Computer das, was genossen, die keinen Com- McDonald’s für feines Essen ist.“ puter haben, überzeugt, Diese Druiden des Informationszeital- daß sie erst mal Windows 95 ters begleiten die Windows-Kampagne kaufen müssen. mit ätzendem Witz – Beispiel: „Frage: Wie viele Microsoft-Ingenieure braucht * Oben: am Donnerstag voriger man, um eine Glühbirne zu wechseln? – Woche beim Microsoft-Fest in Protestaufruf im Internet* Redmond; unten: skull = Schä- Antwort: Keinen. Die erklären die Dun- „Für eine weltweite Zerstörung“ del. kelheit zum Industriestandard.“ Y

92 DER SPIEGEL 35/1995 Werbeseite

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WIRTSCHAFT A. BRADSHAW / SABA Fleischmanager Schindler: „Eigentlich werden wir ständig dafür bestraft, daß wir als Ausländer hier sind“

Unternehmen „Hier hat alles seinen Preis“ Eine Fleischfabrik bei Peking gilt als Musterbeispiel für die deutsch-chinesische Zusammenarbeit

enn es irgendwo im boomenden 200 Meter weiter schafft das Shun- rumzustänkern, sondern um Geschäfte Peking nach Geld stinkt, dann Feng Seafood-Restaurant die begüterte zu machen“. Wist es hier an der dritten Ring- Kundschaft auf Vorbestellung auch im Und das macht er mit erstaunlichem straße zwischen dem Verbandsgebäude fliederfarbenen Rolls-Royce heran. Ein Erfolg: Der Umsatz des Gemeinschafts- der „Kulturschaffenden“ und der im Liliputaner mit schwarzer Melone reißt unternehmens wächst jährlich um 50 Zuckerbäckerstil gehaltenen „Ausstel- die Tür auf: „Willkommen im Gourmet- Prozent. Nun bringt der stämmige Sach- lungshalle für landwirtschaftliche Pro- restaurant mit Asiens größtem Lebend- se den Chinesen bei, was eine Leber- dukte“. fischbassin“, ruft er hinauf. wurst ist und wie man eine Rinderkeule Links vom schlichten weißen Kachel- Kann in dieser Ecke ein deutscher ordentlich auskühlt. Und er macht ih- bau der „Hua An Fleisch GmbH“ hat Biedermann Geschäfte machen? „Wenn nen klar, daß in seinem Ladengeschäft sich der „Rainbow-Nightclub“ im Stil wir Probleme mit unserem Joint-venture rausfliegt, wer vor der Kundschaft auf eines römischen Badehauses in Szene haben“, sagt Steffen Schindler, der den Boden spuckt. gesetzt. Abends, wenn die drückend- deutsche Geschäftsführer der Firma „Ich wußte, auf was ich mich einlasse, schwüle Sommerhitze Dunstschwaden Hua An Fleisch, „dann kommen sie im- wenn ich in China Geschäfte mache“, auf die getönten Scheiben von klimati- mer von außen.“ sagt Schindler. Das treffe, meint er, auf sierten Luxuslimousinen treibt, fährt Demnächst muß Schindler, 47, so die viele deutsche Kaufleute nicht zu. „Es der Nachwuchs der Nomenklatura vor. Auflage des Bauverwaltungsamtes der gibt Manager, die kommen in der Hoff- Langbeinige Schönheiten in knappen Stadt Peking, die Außenfassade seines nung auf den großen Markt hierher“, Gucci-Kostümchen und mit Handta- Bürogebäudes der Umgebung anpassen. weiß der Ostdeutsche, „aber ihr Wissen schen von Chanel entsteigen schwarzen Er trägt es mit Humor: „Vielleicht stelle über Land und Leute geht nicht über Karossen aus Sindelfingen. Den Spring- ich mir ein paar römische Säulen aufs den Inhalt des Spielfilms ,Der letzte brunnen am Eingang ziert eine Statue Dach und einen Ochsen aus Gips dazwi- Kaiser‘ hinaus.“ von Julius Cäsar. Neben Stampfrhyth- schen.“ Der Geschäftsführer heuerte 1990 als men offeriert der Schuppen Karaoke in Das will der geborene Meißener nicht arbeitsloser Ost-Militär bei der deutsch- verschließbaren Se´pare´es samt Damen- als Kritik verstanden wissen. Der ehe- chinesischen Gemeinschaftsfirma in Pe- begleitung sowie Lederpritschen für malige Militärattache´ der DDR in Pe- king an. Er machte den Betrieb zur „Gesundheitsmassage“. king ist schließlich nicht in China, „um schieren Goldgrube.

94 DER SPIEGEL 35/1995 .

Besitzer Heinz Annuss hatte im Mai sonal ein, während der Deutsche für den klagte er sich bei dem ehemaligen Ge- 1987 mit der Produktion von „hochwer- Produktionsablauf zuständig war und nossen Xu Xin, das Joint-venture stehe tigen Fleischprodukten“ in China be- die Qualität überwachte. vor dem Niedergang, wenn die chinesi- gonnen. Die Chinesen gaben Grund und Die Gehälter der Spitzenkräfte, die sche Seite keine Disziplin übe. Xu Xin Boden sowie die Ressourcen. Aus heute mit bis zu 4000 Yuan (umgerech- leitete damals den militärischen Ge- Deutschland kamen fünf Millionen net 700 Mark) ein Zehnfaches über dem heimdienst und liebt die Deutschen. Mark Kapital und Know-how. chinesischen Durchschnittslohn liegen, Wenige Wochen später war der chinesi- 300 Arbeiter zerlegen in den moder- wirkten wie Magneten auf die Kader- sche Manager versetzt. nen Schlachthallen jährlich 17 000 Rin- söhne und Parteigenossen des Landwirt- Schindler macht keinen Hehl daraus, der, zersägen 20 000 Schafe und verar- schaftsministeriums. daß auch für Mittelständler in China oh- beiten 8000 Kälber und 14 000 Schwei- Wie in allen Gemeinschaftsunterneh- ne „Sponsoring“ nichts geht. Für das re- ne. Das reicht, um nahezu alle führen- men wußten die Deutschen, daß sie be- nommierte Hongkonger Beratungsbüro den Hotels in China mit Steaks und trogen wurden. „Doch was dann kam“, „Politisches und wirtschaftliches Risiko- Schnitzel, Schinken und 90 deutschen meint Schindler, „war zu dicke.“ Mitar- management“ steht China in Asien bei Wurstsorten zu beliefern. Vor allem beiter schlachteten die Firma aus wie der Korruption an zweiter Stelle, hinter Ausländer in 117 Städten hat das das angelieferte Hornvieh. Ein Schwa- Indonesien und noch vor Indien. Fleisch-Joint-venture in dem 1,24-Milli- ger des chinesischen Partners durfte „Hier hat alles seinen Preis“, sagt der arden Menschen zählenden Land mitt- bald 3000 Bäume zur vermeintlichen Sachse – „ohne das gleich negativ zu lerweile auf der Versandliste. „Verschönerung des Firmengeländes“ meinen.“ Direkte Bestechung sei zwar Im vergangenen Jahr machte der er- anpflanzen. tabu, doch werde vieles über Sachlei- folgreiche Mittelständler mehr als 20 Doch als der halbstarke Sohn des chi- stungen erledigt. Billig freilich ist das Millionen Mark Umsatz. Von deutschen nesischen Geschäftsführers in die Kasse nicht: „Wenn bei einer Einladung was Diplomaten und chinesischen Kadern griff, ging Schindler dazwischen – auf rausspringen soll, dann muß es immer wird die Fabrik als gelungenes Beispiel seine Art. Aus DDR-Tagen hatte er sei- gleich Haifischflossensuppe sein.“ der wirtschaftlichen Zusammenarbeit ne Mitgliedschaft in der Vereinigung der Auch andere Gefälligkeiten sind ge- vorgeführt. Militärattache´s in Peking beibehalten. fragt. Als der Kreis Dachang im vergan- Da die Schlachterei in dem autono- Auf einem Kameradschaftsabend be- genen Jahr Probleme mit dem Sozial- men Moslemkreis Dachang – 60 Kilo- meter von Peking entfernt in der Pro- vinz Hebei – erbaut wurde, sind die Pro- zeßabläufe für Schweine und Rinder ge- trennt. Die Region wird überwiegend Mit McDonald’s nach Schanghai von der moslemischen Minderheit der Hui bewohnt. Um deren religiöse Ge- des, Annuss wollte eine in der Nähe fühle nicht zu verletzen, verpflichtete von Peking. sich das Joint-venture, die Rinder und Da steht sie nun auch. Das erwies Schafe „halal“ – nach den Vorschriften sich als besonders günstig, als McDo- des Koran – zu schlachten. nald’s in Peking ein Hamburger-Re- Für die Deutschen brachte das unge- staurant eröffnete. Die beiden Fir- ahnte Exportvorteile. In den Iran gin- men arbeiten eng zusammen, dem- gen mehrere Container mit Filets und nächst soll die Kooperation in Steaks. In die indonesische Dependance Schanghai fortgesetzt werden. An- des dänischen Schuhkonzerns Ecco wur- nuss will dort, in einem Joint-venture den Rinderhäute geliefert. mit einem Schlachthof, einen Zerle- Von Anfang an hatte der Unterneh- gebetrieb errichten, um die geplante mer aus Schleswig-Holstein auf eine Hamburger-Braterei zu beliefern. fundierte Ausbildung gesetzt. 24 Mitar- Die Familienfirma, von Annuss, beiter erhielten im Stammhaus bei Nie- 62, 1960 gegründet, produziert Wurst büll an der dänischen Grenze eine voll- inMoskau, sieistinder Ukraine an ei- ständige Berufsausbildung. 60 Prozent nem Schlachthof beteiligt, in Ruß- der Belegschaft waren bereits in land an einem Tiefkühlhaus. Die Deutschland. deutschen Betriebe machen rund eine Und doch wäre das deutsch-chinesi-

F. HOLLANDER / DIAGONAL Milliarde Mark Umsatz, sie verarbei- sche Joint-venture beinahe schiefgegan- Fleischfabrikant Annuss tenproJahrrundeineMillion Schwei- gen. „Vor drei Jahren standen wir ne und 250 000 bis 300 000 Rinder. knapp vor dem Aus“, gesteht Geschäfts- Vor elf Jahren war Heinz Annuss Vor kurzem wurde der Fleischfa- führer Schindler. Da rächte sich, meint zum erstenmal in China, als Mit- brikant rechtskräftig zu einer Geld- der frühere Oberst, „daß wir das Projekt glied einer Delegation des deut- buße von 350 000 Mark und zu einer zu sehr im guten Glauben angegangen schen Landwirtschaftsministeriums. Haftstrafe voneinemJahr aufBewäh- waren“. Die Deutschen hatten keinen Damals kam der schleswig-holstei- rung verurteilt. Ihm werden Verstöße Einfluß auf die Personalpolitik und die nische Fleischunternehmer mit chi- gegen das Lebensmittelgesetz und Organisation des Unternehmens. nesischen Politikern ins Gespräch, umweltgefährdende Abwasserbesei- Schindlers Vorgänger hatten die und die schickten ihm, kaum war tigung vorgeworfen. Außerdem soll deutsch-chinesische Kooperation paritä- er wieder in Niebüll, eine Bot- er einen Treuhand-Mitarbeiter besto- tisch ausgelegt. Eine Mehrheitsbeteili- schaft: Er solle noch einmal kom- chen haben. Annuss beteuert seine gung der Ausländer ließ das chinesische men, hieß es darin. Die Chinesen Unschuld. Er habe den Strafbefehl Joint-venture-Gesetz damals nicht zu. wollten von dem Deutschen eine nur akzeptiert, sagt er, um aus den Beide Partner waren zu gleichen Teilen Fleischfabrik im Norden des Lan- Schlagzeilen zu kommen. an dem Unternehmen beteiligt. Der chi- nesische Geschäftsführer stellte das Per-

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WIRTSCHAFT

chen bei der Grenzkontrolle. Gerade die Behörden hätten noch keine Vorstellung von westlicher Buchhaltung. „Deren Verzögerungstaktik kostet uns oft meh- rere hunderttausend Yuan“, meint der Deutsche. Doch auch in dem Gemeinschaftsun- ternehmen hat das westliche Leistungs- prinzip seine Grenzen. AlsdieDeutschen imVerkaufdasGehaltandenErtragkop- pelten, schnellte vor zwei Jahren dasVer- kaufsergebnis in zweistelligen Ziffern nach oben. Das ging dem kommunistischen Partei- kader im Betrieb zu weit. In einer Beleg- schaftsversammlung verkündete der Funktionär, die Leistungsprämien hätten zu einem überproportionalen Auseinan- derklaffen der Gehälter geführt.

A. BRADSHAW / SABA Ohne Rücksprache mit den Betroffe- Chef Schindler, Wurstverkauf: Wer auf den Boden spuckt, fliegt nen und dem deutschen Partner wurden die Umsatzbeteiligungen der Verkaufs- budget hatte, übernahmen die deut- Große Teile seiner Zutaten für die stars im Unternehmen um fast 1500 Mark schen Wurstfabrikanten die Rentenzah- Steaks und die Wurst, die er mittlerwei- gekürzt – immerhin zwei Monatsgehälter lung für pensionierte Parteikader – und le im Diplomatenviertel im eigenen Ge- für die Spitzenkräfte des Unternehmens. nicht nur in Naturalien. schäft vertreibt, muß er einführen. Glei- Ein kleines Trostpflaster gab es statt Nicht alle Schwierigkeiten lassen sich ches gilt auch für die Ersatzteile der Ma- dessen. Ausnahmslos jeder Mitarbeiter mit kleinen Gaben beseitigen. „Eigent- schinen. Das kostet bisweilen mehr als erhielt unabhängig von seiner Arbeitslei- lich werden wir ständig dafür bestraft, 100 Prozent Zoll. stung im vergangenen Jahr gratis einen daß wir als Ausländer hier sind und ver- Was in drei Tagen aus Deutschland Maßanzug als Treueprämie verpaßt. Der suchen, internationalen Qualitätsmaß- und Singapur per Kurier eingeflogen Auftrag erging an einen Vetter des chine- stab zu setzen“, klagt Schindler. wird, verrottet dann aber oft über Wo- sischen Managements.

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Aber nach der Währungsunion drohte Goldmedaille. Außerdem wurden die Innovation die Firma im Vereinigungsstrudel unter- vier von der belgischen/spanischen Er- zugehen. finderkammer zu Chevaliers ernannt. 120 Mitarbeiter blieben übrig, und de- Großkanzler dieses Ordens ist König Ju- nen malte Gerd Speckbrock, früher an Carlos von Spanien. Großer Coup VEB-Hauptbuchhalter und seit Juni Die Konkurrenz aus Italien und 1990 Geschäftsführer, ein Horrorszena- Frankreich zeigt weniger Bewunderung, Das Thermometerwerk in Thüringen rio an die Wand: „Stellt euch vor, es sie streut das Gerücht, daß die Lösung stand vor dem Aus, nun will es mit kommt jemand mit einem quecksilber- aus Geraberg überhaupt nicht möglich freien Fieberthermometer auf den ist. „Die haben alle Angst um ihre Exi- quecksilberfreien Produkten den Markt.“ stenz“, meint Geschäftsführer Speck- Weltmarkt erobern. Damit wäre der Produktionsstandort brock. Geraberg völlig erledigt gewesen. Die Die Entwicklungskosten für das ehr- Rettung konnte nur sein, die Erfindung geizige Projekt hatte sich die Thermo- as Labor sieht aus, als hätte die alte selbst zu machen. meterwerk GmbH ein bißchen tricky Zeit ein kleines Asyl gefunden. Die Ende Juni 1992 hatte das Forscher- von der Treuhand bezahlen lassen. DSchreibtische stammen aus DDR- team das scheinbar Unmögliche ge- Speckbrock hatte das Geld als Liquidi- Zeiten, die Plaste-Tischdecken ebenso. schafft. „Wir Ostmenschen aus den tätshilfe angefordert und den tatsächli- Das Linoleum ist zerstoßen, und die Thüringer Bergen wollten einfach mal chen Hintergrund erst verraten, als das Stahlrohrstühle sind wackelig wie eh und der ganzen Branche zeigen, was eine Patent da war. je. Harke ist“, sagt der Geschäftsführer. Nun wollen die Thüringer den Welt- In der Alchemistenküche der Geraber- Das Geheimnis existierte nur in den markt erobern. In Asien entsteht derzeit ger Thermometerwerk GmbH (Thürin- Köpfen der Erfinder, anfangs wurde eine eigene Thermometerfabrik – wo, gen) wird seit Jahrzehnten mit den Ele- nicht einmal der Firmenchef eingeweiht. will Speckbrock allerdings nicht sagen: menten gerungen.Neu isthiernichts–au- Laborleiter Heribert Schmitt: „Wir „Nur soviel – im vierten Quartal starten ßer ein paar Ideen. wußten doch gar nicht, was aus dem mal „Echte Pionierleistungen“, schwadro- wird, wie lange der noch bei uns ist.“ niert eine Werksbroschüre aus den acht- Speckbrock blieb, auch dann noch, ziger Jahren, „waren im Thermometer- als das Geraberger Werk im Oktober werk schon immer gefragt.“ Nur sind da- 1993 von der Schweizer Finanzholding mals die Antworten ausgeblieben. GP Turinvest AG Basel übernommen Erst jetzt erregt die Firma mit einer In- wurde. Mit der Innovation kam der Er- novation Aufsehen, die weltweit einma- folg: 1994 betrug der Umsatz 9 Millio- lig ist. In ihrem Labor kochten vier Mitarbei- ter eine Legierung zu- sammen, die das hoch- giftige Quecksilber in Fieberthermometern ablöst. Die Mixtur aus den Metallen Gallium, In- dium und Zinn ist ab- solut ungefährlich. Ein toxikologisches und ökologisches Gutach- ten der Universität Tübingen bestätigt: „Keine Gefahr für

Mensch und Umwelt.“ CARO Auch die batteriege- triebenen Digitalther- mometer kommen da

nicht mit. Deren Bat- FOTOS: A. BASTIAN / terien enthalten eben- Erfinder Schmitt, Kollegin, Geschäftsführer Speckbrock: „Der Branche zeigen, was eine Harke ist“ falls Quecksilber, sie reichen nur für etwa 200 Messungen und nen Mark, in diesem Jahr werden 12 wir mit knapp 100 Leuten die Produkti- entladen sich nach längerem Nichtge- Millionen erwartet und in den nächsten on. Aber das wird bald einen viel größe- brauch. Außerdem lassen sich diese Jahren eine Steigerung von jeweils 20 ren Rahmen kriegen.“ Meßinstrumente aus Plastik schlecht Prozent. Darüber hinaus laufen schon Lizenz- desinfizieren. Die Bilanz zeigt jetzt eine schwarze gespräche mit Toshiba in Japan. Interes- Die Geraberger haben mit ihrer Er- Null. 1996 soll der erste Gewinn einge- senten gibt es auch in den USA und Spa- findung nicht nur ein gewinnträchtiges fahren werden. Von November an wird nien. Geschäftsfeld erschlossen. Sie haben in einem neuen, modernen Werk, ein Der ehemalige Hauptbuchhalter hat auch ihre Existenz gerettet. paar Kilometer weiter, produziert. seine Lektion in Marktwirtschaft ge- Über hundert Jahre schon werden in Auszeichnungen bestätigen den Tüft- lernt. „Wenn wir Lizenzen vergeben“, dem 2700-Einwohner-Dorf Fieberther- lern aus dem kleinen thüringischen meint Chevalier Speckbrock, „werden mometer hergestellt. Zu DDR-Zeiten Dorf, daß sie einen großen Coup gelan- wir immer noch die Füllungen liefern. war der VEB mit 2000 Angestellten das det haben. Auf der Erfindermesse Wir werden uns doch nicht selbst das größte Thermometerwerk Europas. „Eureka“ in Brüssel gab es 1993 eine Bein weghacken.“ Y

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Deutsches Fernsehen der neunziger Jahre („RTL Nachtshow“): Vergleichbar mit Großchemie und Automobilbau TEUTOPRESS Der Kampf um Schürfrechte In diesem Jahr werde sich der Verdrängungswettbewerb der Fernsehsender zu einem „Vernichtungswettbewerb“ verschärfen, prophezeit ZDF-Intendant Stolte. Seit Samstag präsentieren die Sender auf der Funkausstellung in Berlin die Stars und Programme, mit denen sie diesen Wirtschaftskrieg bestehen wollen.

enn er ehrlich sei, sagt Eberhard sichtigen, doch sie wirken wie Kandida- diesem Anspruch gerecht zu werden. Ebner, müsse er zugeben, daß ten beim „Glücksrad“, die irgendwelche Oft durchschauen sie nicht einmal, in Wihm das Medium bis heute ver- Zahlen an sich vorbeirauschen sehen. wessen Händen sich der Sender tatsäch- schlossen geblieben sei. Immer wieder Unternehmen von der Größenord- lich befindet, den sie kontrollieren sol- überrasche ihn, „welche Sendungen vie- nung der Fernsehanstalten könne „man len; und in den TV-Sendern, in den gro- le Zuschauer haben und welche nicht“. nicht durch Gremien von Dilettanten ßen wie in den kleinen, sitzen Führungs- Und ob Herr Kirch den Sender ausplün- kontrollieren“, resümierte einst Carlo kräfte in den mittleren und höheren dere oder nicht, könne er auch nicht sa- Schmid seine Arbeit in öffentlich-recht- Etagen, die ein großer freier Fernseh- gen, er wisse schließlich nicht, wieviel lichen Rundfunkräten. Doch elf Jahre produzent „Deutschlands bestbezahlte hunderttausend Mark andere Sender nach dem Start des Privatfernsehens Praktikanten“ nennt. pro Spielfilm und Serie zahlten. muß man bilanzieren: Auch die privaten Von „Schürfrechten“ hat Leo Kirch Wenn er ehrlich sei, sagt Wilhelm Sender werden von Dilettanten kontrol- gesprochen, jener Mann, der sich im Sandmann, müsse er zugeben, daß es im liert, geführt und überwacht. deutschen TV-Geschäft auskennt wie Aufsichtsrat immer wieder Debatten ge- Wie das Fernsehgeschäft funktionie- kein anderer, und tatsächlich hat sich be über die hohen Kosten und die re, sei ihm immer noch „ein großes Ge- das Privatfernsehen in Deutschland so schmalen Gewinne bei Sat 1. „Aber ge- heimnis“, räumt Ebner ein, und mit die- geordnet entwickelt wie die Erschlie- gensteuern können wir sowieso nicht, sem Geständnis ist er in guter Gesell- ßung der Bodenschätze Kaliforniens wir halten ja nur 20 Prozent.“ schaft. Sieben Programmdirektoren hat während des Goldrausches. Ebner und Sandmann sind Zeitungs- Sat 1 in zehn Jahren verschlissen, und Was jetzt eine Zwölf-Milliarden- verleger und vertreten die 114 Verlage wenn die ehrlich sind, müßten die mei- Mark-Branche ist, hat vor 14 Jahren be- im Aufsichtsrat, die 20 Prozent am sten Herren ihrem Kontrolleur zustim- gonnen mit einer Katastrophe, drei Lei- Fernsehsender Sat 1 besitzen. Sie sollen men; auch die Landesmedienanstalten, chen und einem Wunder. Ein Jet der das Finanzgebaren und das Programm die alle Privatsender überwachen sollen, belgischen Luftwaffe prallte gegen einen eines Milliardenunternehmens beauf- wissen zuwenig vom TV-Geschäft, um 330 Meter hohen Sendemast in Düdelin-

102 DER SPIEGEL 35/1995 TITEL gen im Süden Luxemburgs, schleuderte die privaten Sender und den Piloten in den Tod und ließ den trieben die Preise in die Mast auf eine Familie stürzen. Das Kind Höhe. 1984 kostete ein in überlebte unverletzt. den USA gekaufter Spiel- Der Sendeturm wurde neu aufgerich- film im Schnitt noch tet, diesmal höher als zuvor, so daß sei- 180 000 Mark, jetzt 600 000 ne Wellen nun 150 Kilometer weit ins Mark. Die Kosten der Saarland und nach Rheinland-Pfalz selbstproduzierten Fern- reichten. sehfilme und -serien haben Am 1. Januar 1984 begann Radio Lu- sich verdoppelt, ebenso die xemburg (RTL) – unter Umgehung Gagen der Hauptdarstel- RTL deutschen Rechts – deshalb, täglich vier ler. Starmoderatoren sind „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ (RTL) Stunden Fernsehprogramm auszustrah- heute zehnmal so teuer wie len für die Deutschen zwischen Saar- ihre Kollegen vor zehn Jah- brücken und Mainz, unterbrochen von ren. ein bißchen Werbung, zusammenge- Bei den „Ewings von stellt von Helmut Thoma, 43. Hürth“ sind einige Millio- Genau ein Jahr später kündete Anto- nen der Milliarden gelan- nin Dvor˘a´ks „Aus der Neuen Welt“ det, die seit einem Jahr- vom Sendestart des Konkurrenten Sat 1 zehnt ins Fernsehgeschäft – abgespielt in einem Keller in Ludwigs- fließen. Die Brüder Bre- hafen, vom Satelliten ECS 1 abgestrahlt mer aus der Kleinstadt bei in die ersten 133 000 Kabelhaushalte der Köln hatten das Glück, ei- Republik. Das Konsortium aus deut- ne bankrotte Fabrik zu be- schen Großverlagen, Zeitungsverlegern sitzen, die eines Tages und der Firma „PKS“ des Münchner einem vorbeifahrenden Filmhändlers Leo Kirch war von Uni- RTL-Direktor auffiel. Der onspolitikern zusammengebracht wor- Sender suchte eine Halle, den, um dem Privatfernsehen in um Hella von Sinnens Tor- Deutschland auf die Beine zu helfen und tenschlacht „Alles Nichts TEUTO PRESS RTL nicht die Lufthoheit zu überlassen. Oder?!“ billig produzieren „ranissimo“ (Sat 1) Die SPD hatte sich lange gegen die zu können. Für ihre Turm- Verkabelung der Republik gestemmt, drehkräne brauchten die fürchtete „negative Folgen für eine Ewings nur die Parkflächen humane zwischenmenschliche Kommu- des Außengeländes, die nikation“, hatte aber 1984 eingelenkt. verlassenen Hallen vermie- CDU und CSU wollten „eine Stärkung teten sie gern. des Grundrechts der freien Meinungsäu- Im Laufe der Jahre ßerung“, in Wahrheit aber „die Ent- wuchs die ehemalige Ba- autorisierung der öffentlich-rechtlichen rackenbaufabrik zur Magic Anstalten, besonders der ARD“, und Media Company mit 700 schufen deshalb die technischen Voraus- Beschäftigten, einem Jah- setzungen für privates TV. resumsatz von 56 Millionen „Eine Sache, größer als Gorleben“, Mark und einem Ge- nannte CDU-Ministerpräsident Ernst schäftsführer, der sagt: Albrecht damals die Operation Kabel- „Alle wollten Geld druk- funk, eine aus heutiger Sicht niedliche ken im TV-Markt, aber in-

Untertreibung. Was vor elf Jahren mit zwischen haben alle ge- THOMAS & einem Piratenakt begonnen hat, ist heu- merkt, was das kostet.“ „Tagesschau“ (ARD) te eine Schlüsselindustrie, die Bertels- Rund um die MMC sie- mann-Aufsichtsrat delten sich andere Studios in ihrer Bedeutung mit „Großchemie, an, mittlerweile zählt der Automobilbau und Stahlbau“ ver- Geschäftsführer der MMC gleicht. 34 Millionen Fernsehhaushalte Hürth zu den „größten machen den deutschen Kommunikati- Fernsehfabriken Europas“. onsmarkt zum zweitgrößten der Welt, Auftragsproduktionen in knapp 9 Milliarden Mark Werbegelder Höhe von 2,4 Milliarden fließen inzwischen in die TV-Branche, Mark haben die Sender im dazu kommen über 5 Milliarden Mark letzten Jahr an Produkti- Fernsehgebühren und 550 Millionen onsfirmen vergeben; über Mark aus Sponsoring und Merchan- 500 Unternehmen drehen dising. Serien, TV-Filme, Game- Jahrelang bekämpften sich auf den shows. Märkten der Branche – dem Zuschau- Nicht mehr öffentlich- er-, dem Programm- und dem Werbe- rechtliches und privates markt – die öffentlich-rechtlichen und Fernsehen sind nun die ENGELMEIER Hauptkonkurrenten, zu- „Florida Lady“ (ZDF) * Die Kosten für Werbespots vor oder während mal sie oft dieselben Pro- der Sendungen, Angaben in Mark für 30 Sekun- Geldmaschine Fernsehen den; bei der „Tagesschau“ Hochrechnung vom duktionsfirmen für sich ar- 20-Sekunden-Preis. beiten lassen, sondern die Ein Transportunternehmen, das Werbebotschaften befördert

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Familie Kirch (Sat 1, Pro Sieben, Kabel 1, austrug. „In dem Augen- DSF) und die zerstrittene CLT/Bertels- blick, in dem Fernsehen mann-Gruppe (RTL, RTL 2, Super anders betrieben wird als RTL, Vox) ringen um die Vormacht in bisher“, hat Filmhändler der Branche. Kirch erkannt, „ist dafür Schon als Filmlieferant für ARD und ein Instrument notwendig, ZDF hat sich Kirch in den fünfziger, sech- um diese Entwicklung zu ziger und siebziger Jahren die 15 000 beschleunigen – und das Spielfilme gesichert, die der Grundstock kann nur die Presse sein.“ sind für seinen unübertroffenen Einfluß Wo es um Schürfrechte im deutschen TV-Geschäft. Er kaufte die geht, wird geschossen: langfristigen Abspielrechte in Holly- Kirch sei von Springer als wood ein und verkaufte sieinPaketen mit Krimineller beschimpft Aufschlag an die Öffentlich-Rechtlichen. worden, heißt es vor Ge- 1959 nahm er noch 29 500Mark pro Film, richt aus der Springer- 1965 schon 70 000 Mark, 1976 dann Chefetage, Kirch sei einer, 126 000 Mark. der mit „Bestechung“ und Sein schönster Traum sei es, verriet er „Mafia-Methoden“ arbei- 1987 dem Manager Magazin, „ein Mono- te. Ein ehemaliger Ge- pol zu haben“, und um diesen Traum zu schäftsführer der APF verwirklichen, hat er sich ein Netz von nennt den Sender, den er über 30Firmen und Firmenbeteiligungen mit aufgebaut hat, „eine in der Medienszene gesponnen. Geldbeschaffungsmaschine Die wichtigsten Säulen seines Imperi- für den Miteigner und Pro- ums sind der Axel Springer Verlag (An- Medien-Multi Kirch: Vom Monopol träumen grammlieferanten Kirch“. teil: 35 Prozent) und Sat 1 (43 Prozent). Und Werner Klatten, fünf Sat 1 bezieht 90 Prozent seiner Spielfilme Aufsichtsrat habe „bei uns schon aus der Jahre lang Sat-1-Geschäftsführer, bilan- und Kaufserien aus dem Kirch-Lager in Historie eine stärkere Stellung als an- zierte kurz vor seiner Entlassung: „Beim Unterföhring; die eigenproduzierten Se- derswo“. Privatfernsehen machen nicht die Sen- rien des Senders werden oft von Produk- Bereits in der Anfangsphase, etwa im der, sondern Programmlieferanten und tionsfirmen Kirchs gedreht; und Übertra- Poker um die Minutenpreise, die Kirchs Lizenzgeber die Gewinne.“ gungslizenzen von Sportveranstaltungen „PKS“ vom Sender für Spielfilme und Wieviel Kirch jährlich aus Sat 1heraus- erwirbt Sat 1 über die Agentur ISPR, die Serien erhalten soll (650 Mark oder 450 holt, weiß nur er selbst. Allein für Spiel- zur Hälfte dem Springer Verlag gehört – Mark), verprellte Theye die Mitgesell- filme kassierten er und seine Geschäfts- und Kirch. schafter so, daß die ersten absprangen: partner 1993 280 Millionen Mark und für Der Münchner beherrscht Sat 1 über FAZ, Burda und dann Bauer*. Sportrechte jährlich 100 Millionen Mark. seine Zulieferfirmen und über seine Ver- Die von der Politik verfügte Zwangs- 1994 gab Sat 1 für Kaufserien und -filme trauten, die an den Schaltpositionen des heirat zwischen Kirch und den in der über 480 Millionen Mark aus, dazu kom- Senders sitzen. Sein wichtigster Draht- Gruppe „Aktuell Presse-Fernsehen“ men circa 300 Millionen Mark für eigen- zieher ist der Bremer Anwalt Joachim (APF) zusammengeschlossenen 139 produzierte Filme und Serien an Kirchs Theye, der als Vorsitzender des Auf- Zeitungsverlegern sorgt für chronischen Fernsehfirmen. sichtsrates der wahre Chef des Senders Streit, aber noch mehr lähmte den Sen- Von Beginn an war Sat 1 nur Kirchs ist. Das räumt selbst Sat-1-Chef Jürgen der Kirchs Kampf um die Vorherrschaft Kassetten-Einschiebe-Station, dazu ver- Doetz ein, wenn er davon spricht, der im Springer Verlag, den er über Sat 1 urteilt, sein Spielfilmarchiv in unendli- cher Wiederholung zu versenden. Daß das Fernsehen als Geldmaschine vor al- lem dann funktioniert, wenn das Medium wie ein Recyclingapparat betrieben wird, hat der Filmhändler als erster begriffen. Ware verkaufen, versenden, lagern, wie- der versenden, neuen Sender gründen, alte Ware wieder senden, lagern. Seine Ware läßt Kirch bei Sat 1 laufen, bei Pro Sieben und bei Kabel 1, und auch noch bei der ARD und beim ZDF. Publizistisch fiel Sat 1, der TV-Sender der Zeitungsverleger, in zehn Jahren nur dreimal auf: als Versender von „Talk im Turm“, als Abspielstation für die Kohl- fromme Interview-Soap „Zur Sache, Kanzler“ und mit der Exklusiv-Meldung, Thomas Gottschalk seiScientologe –eine Verwechslung mit einem Schweizer Na- mensvetter. Solange sich Kirch darauf beschränkte, zu kaufen und zu verkaufen, Geld zu lei-

* Michael Radtke: „Außer Kontrolle – Die Medien-

OGANDO / LAIF macht des Leo Kirch“. Edition Hans Empf; 418 RTL-Boß Thoma: Geist, Bauch und Schamlosigkeit Seiten; 48 Mark.

104 DER SPIEGEL 35/1995 TITEL hen und zu machen, wirkten die War- sie los, bis ihm die Quoten und die Wer- ren über ihre Tele-Moral lustig – Thoma nungen seines Lieblingsfeindes Helmut bebuchungen sagten, was hier läuft und war die feixende Wildsau, die in die Kul- Thoma, da spinne ein neuer Hugenberg was sich rechnet. turveranstaltung „Fernsehen“ stürmte ein gefährliches Netz, wie das kalkulier- Thoma war keine List zu billig und und triumphierte. te Gezänk eines berechnenden Konkur- kein Schachzug zu teuer, um seinen Sen- Keine Vermittlungsinstanz für Moral renten. Doch seit sich der Filmhändler, der großzukriegen: Im Zulassungsan- sei das Fernsehen, brachte er unters aus Langeweile oder aus Übermut, auf- trag für RTL hat er die Programm- Volk, sondern ein Transportunterneh- führt wie der missionarische Erbe Axel grundsätze „fast wörtlich“ vom ZDF ab- men,dasBotschaftenvon A nach Bschaf- Springers (SPIEGEL 34/1995), lenkt er geschrieben; er hat den Kirchen ver- fe: B sei der Zuschauer, A sei der Werbe- selbst Verdacht auf sich. treibende, und ein Fernsehsender habe Was Kirch mit Geld, Macht und Weit- für A die richtigen B vor dem Schirm zu sicht erreicht hat, schaffte Thoma mit Er ließ die versammeln. Geist, Bauch und Schamlosigkeit. Bestien wüten und Seinen Gesellschaftern, dem luxem- Schwarz-Schilling, Kirch und er sind die burgischen Konsortium CLT und dem drei Pioniere des Privatfernsehens in die Titten hüpfen deutschen Medien-Multi , Deutschland: der eine legte die Kabel, konnte Thoma schon 1992 die Rückzah- der andere zog die Strippen, und Thoma sprochen, sie im Programm zu berück- lung der Anlaufverluste (260 Millionen zimmerte das Programm. sichtigen; er schenkte den Parteien ko- Mark) ankündigen und seither jedes Jahr Thomas RTL ist der Privatsender, der stenlose Werbezeiten; er sendete Spielfil- dreistellige Millionengewinne überwei- den Deutschen das neue Fernsehen ge- me, „die vor uns zu Recht keiner gezeigt sen. Der CLT istdaszwar zuwenig (SPIE- bracht hat. Auf ziemlich simple Weise: hatte“; er ließ die Bestien wüten und die GEL 33/1995), sie drängt auf Kostensen- Thoma kopierte das US-Fernsehen so Titten hüpfen; er ließ Serien drehen, „die kung und mehr Wiederholungen im Pro- lange, bis er herausgefunden hatte, was triefen wie die Heftchen“; er klaute den gramm, aber Thoma will die Investitio- man dem deutschen Zuschauer zumuten Öffentlich-Rechtlichen Wimbledon und nen ins Programm nicht verringern. kann; er ließ Gameshows, Reality-TV, die Bundesliga; er kaufte ihnen die Stars Sinkende Zuschauerquoten signalisie- Talkshows, Daily Soaps und Sitcoms auf weg und machte sich auf den Medien-Fo- ren dem meistgesehenen deutschen Sen-

Geldmaschine Fernsehen FERNSEHWERBUNG FERNSEHGEBÜHREN Einnahmen und Ausgaben der großen 5157,2 Mio. (netto) ARD: 3744 Mio. ZDF: 1578 Mio. Sender 1994; Angaben in Mark

1881,8 Mio. 1564,6 Mio. 1121,8 Mio. 255,9 Mio. 333,1 Mio.

Das Erste und acht dritte Pro- PRO gramme SIEBEN Programmetat: 1200 Mio. 1100 Mio. 950 Mio. 5000 Mio. 1278 Mio. Eigenproduktionen: 380 Mio. keine Angabe 80 Mio. 2900 Mio. 297 Mio. Auftragsproduktionen: 570 Mio. über 500 Mio. 300 Mio. 600 Mio. 452 Mio.

2400 Mio. für Produktion von 1300 Mio.für Ankauf von 500 Mio. für Sport-Über- Serien und Filmen Serien und Filmen tragungsrechte

500 PRODUKTIONSGESELLSCHAFTEN, FILMHÄNDLER LIZENZHÄNDLER DIE 5 GRÖSSTEN . . .

Kirch-Gruppe Studio Hamburg Beta/Taurus-Gruppe (Kirch) ISPR (Kirch, Springer) Umsatz: circa 500 Mio. Umsatz: 233 Mio. Medien-Handels AG (Beisheim) Team AG (Oetker u. a.) Ufa (Bertelsmann) Bavaria Tele-München (Kloiber, ABC) Ufa (Bertelsmann) Umsatz: circa 220 Mio. Umsatz: 207 Mio. Ufa (Bertelsmann) Endemol Umsatz: circa 150 Mio.

. . . UND IHRE AKTUELLEN PRODUKTIONEN Kirch-Gruppe Studio Hamburg Ufa Bavaria Endemol Alles außer Mord Pro7 Großstadtrevier ARD Gute Zeiten, Die Wagenfelds Sat1 Traumhochzeit RTL Freunde fürs Leben ZDF Kebab und Sauerkraut Pro7 schlechte Zeiten RTL Weihnachten Mit einem Die Bibel/Altes Testament ARD Doppelter Einsatz RTL Verbotene Liebe ARD mit Willy Wuff RTL Bein im Grab ARD Kommissar Rex Sat1 Jackpot ZDF Ein starkes Team ZDF Tatort ARD Nur die Liebe zählt Sat1

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Die Leute gucken nicht viel mehr als früher, das Gerät hat sich auch nicht viel verändert, und dennoch ist dieser Appa- rat im Wohnzimmer jetzt ein vollkom- men anderer. Aus dem Fetisch auf der Säule ist ein Kasten geworden, der „so selbstverständlich ist wie das Lichtan- knipsen in der Dunkelheit“ (Sat-1-Chef Doetz). Solange es nur ARD und ZDF gab, bestimmte der Fernseher, was er ist. Jetzt bestimmt der Zuschauer, was der Fernseher ist: Zerstreuungskiste, Nachrichtenquelle, Spielzeug, Kiosk, Aquarium, Kino, Kulturforum, Peep- show, Volkshochschule, Plattenspieler, Lagerfeuer, Uhr, Schlüsselloch, Zeit- maschine. Die Qualität einer Sendung ergibt sich aus ihrem Gebrauchswert, jeder be- nutzt Fernsehen anders, und deshalb be- ginnt die Fernsehkritik zu begreifen, daß es keinen Sinn mehr macht, das Fernsehen mit den Maßstäben des Ki- nos, des Theaters, des Buches oder der Aufklärung zu traktieren. Das „Glücks-

DPA rad“ entzieht sich (fast) jeder ästheti- Fernsehen der siebziger Jahre („Musik ist Trumpf“): Vermittlungsinstanz von Moral schen Beurteilung, und dennoch kann es ein kultureller Genuß sein, sich am Pech der, daß die Konkurrenten das kopierte Die Reichweite mißt sich in Millio- der Spielkandidaten zu erfreuen oder Programmschema von RTL erfolgreich nen Zuschauern, sie ist die Währungs- Maren Gilzers Mienenspiel zu ent- kopieren und den Programm-Machern einheit dieser seltsamen Branche, die schlüsseln oder Peter Bond zu hassen. bei RTL Phantasie und Professionalität nicht Produkte verkauft, sondern Zeit. Die scheinbar unendliche Vielfalt des fehlen, um das Schema mit überraschen- Der TV-Sender liefert bunten, flim- Fernsehens ist gleichzeitig seine Schran- den Sendungen zu füllen. mernden Zeitvertreib, und der Zu- ke: Nur noch mit Hilfsmitteln kann der „Gefangen wie im Wasserfall“ möchte schauer zahlt mit Aufmerksamkeit, Zuschauer das Geschehen auf dem Bild- Thoma den Zuschauer sehen, gebannt guckt Filme und Werbespots, und je schirm begreifen, die Zahl der Pro- durch die immer gleiche Folge von Un- länger der Zuschauer guckt, desto grammzeitschriften hat sich nahezu ver- glück und Glück, von „Gute Zeiten, mehr Geld bekommt der Sender. doppelt, die Gesamtauflage ist auf 34 schlechte Zeiten“, von Streit und Har- Ob die Deutschen die 18 nationalen Millionen Exemplare gestiegen, doch es monie, von „Explosiv“ und „Traum- und 61 regionalen Programme sehen hilft alles nichts. hochzeit“, aber seinen Leuten scheint wollen, die sie jetzt sehen können, ist Die Reize, die der Apparat abstrahlt, der Stoff auszugehen, mit dem sie die nicht bekannt. Anfang der achtziger sind lauter, stärker und bunter gewor- Zuschauer süchtig machen können. Zu Jahre sollte in Kabelpilotprojekten das den, er schreit nach Aufmerksamkeit, kalt, zu unerfahren und zu unsicher seien Bedürfnis nach mehr Fernsehen gete- aber mehr als drei Stunden wollen die die Redakteure der Kölner Fernsehfa- Deutschen ihm offenbar nicht schenken, brik, kritisieren Autoren und Produkti- egal, was er bietet. Gerade die Genera- onsgesellschaften, die für RTL Serien TV ist wie tion, die mit dem Fernsehen groß ge- und TV-Movies machen. Lichtanknipsen in worden ist, schaut am wenigsten TV, Mit der Kopie der Kopie versucht der nutzt das Popmedium TV flüchtig und Sender die Zuschauer zu halten, aus der Dunkelheit oberflächlich. Es ist für sie kein Ereig- „Hans Meiser“ klonte er „Ilona Chri- nis, sondern so etwas wie ein Inhaltsver- sten“, aus „Ilona Christen“ macht er jetzt stet werden, aber dann flog ein Jet ge- zeichnis der Gesellschaft, mit dem man „Bärbel Schäfer“; neben die eine Daily gen einen Sendemast, der Rest ist be- sich schnell und billig einen Überblick Soap setzt er die nächste, nach „Dr. Ste- kannt. verschaffen kann. Mehr nicht. fan Frank“ läuft die „Stadtklinik“, aber Die tägliche Fernsehzeit der Deut- Elf Jahre nach seiner Entfesselung die großen Stars des Herz-und-Schmerz- schen hat sich zwar seit dieser Katastro- stößt das Fernsehen in Deutschland Gewerbes überläßt RTL dem Konkur- phe um 20 Minuten erhöht, aber 37 Pro- überall an Grenzen. Die Netto-Werbe- renten Sat 1 – zu teuer. Weil Heinz Hoe- zent aller Haushalte nutzen die ihnen einnahmen der großen Sender stagnie- nig, der böse Aktienschieber aus dem angepriesene Vielfalt des Kabelfernse- ren. Aber bestimmte Programme sind „Großen Bellheim“, 17 500 Mark pro hens nicht, obwohl sie technisch könn- so teuer geworden, daß die Sender sie Drehtag für eine neue Zuhälterserie ten. über die Reklamespots nicht mehr fi- wollte, ließ RTL das Projekt platzen. Um über 500 Prozent ist das täglich nanzieren können: RTL macht mit der Wer mit billigen Schauspielern Markt- gesendete TV-Programm gestiegen, Übertragung der Champions League führer ist, warum soll er sein Geld für dennoch gucken die Zuschauer kaum trotz hoher Quoten jedes Jahr 15 Millio- teure verschleudern? Thomas Leiden- mehr, die Jugendlichen im letzten Jahr nen Mark Verlust und mit den Sendun- schaft ist nicht die Produktion von Pro- sogar weniger. Nur 16 Prozent aller Se- gen aus Wimbledon 10 Millionen Mark gramm, sondern die Produktion von her nutzen das Fernsehen pur, ergab ei- minus; Sat 1 hat das Abenteuer Bundes- Zuschauern. Seine Lieblingssendung: ne RTL-Studie, die restlichen essen, bü- liga bisher 130 Millionen Mark Verlust „immer die mit der größten Reichwei- geln oder schlafen, während sie in die gebracht; aufwendige Fernsehfilme und te“. Ferne schauen. Serien spielen bei der ersten Ausstrah-

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lung nur 60 Prozent ihrer Kosten wieder „Drei Millionen Dollar pro Film sind rein, erst bei Wiederholungen und dem schon der Normalpreis“, sagt Thoma, Verkauf an andere Sender rentieren sie „und wenn die gut im Kino laufen, geht es sich. bis sechs Millionen Dollar rauf, und da- Der Exportpreis amerikanischer für darf ich sie dann dreimal zeigen in Fernsehserien hat sich verzehnfacht. fünf Jahren.“ Und die Ware Spielfilm ist nicht nur teu- Von einem „Schlüsseljahr“ spricht er geworden, sondern auch rar: Die ZDF-Intendant Dieter Stolte, weil die Neuproduktion von Spielfilmen geht in Kostenexplosion die Öffentlich-Rechtli- den wichtigsten Produktionsländern chen in dreistellige Millionendefizite USA, Italien und Frankreich deutlich treibe und die Werbeeinnahmen der gro- zurück, auf jetzt 750 Filme jährlich, ßen privaten Sender durch die Zulassung gleichzeitig hat sich die Zahl der Spiel- von vielen neuen Spartenkanälen ge- filmplätze im deutschen Fernsehen in schmälert werden. Der Verdrängungs- sechs Jahren auf über 13 000 vervier- wettbewerb werde sich zum „Vernich- facht. Der Kampf der Sender um den tungswettbewerb“ verschärfen, prophe- Ausstoß der Hollywood-Studios erlaubt zeit Stolte. Major Companies, ihre Ware inzwi- Die 15 Landesmedienanstalten, die schen wie auf Auktionen feilzubieten. den Krieg beaufsichtigen sollen, tun al- les, um ihn anzuheizen: Eigentlich wollte die „Laienspielschar“ (so Berlins Me- dienwächter Hans Hege) ihre Kontrolle koordinieren und sich nicht mehr von den Privatsendern gegeneinander aus- spielen lassen. Doch die Kontrolleure Die Top-Verdiener aus Nordrhein-Westfalen preschten vor Jahreseinkommen in Mark und versprachen Super RTL eine Lizenz, bevor der neue Sender ein schlüssiges Programmschema vorgelegt hatte: „Da steht vormittags Shiloh Ranch, mittags Shiloh Ranch und abends Shiloh Ranch“, Gewinn zitiert die Zeit einen Medienaufseher. Margarethe Schreinemakers Weil der schleswig-holsteinischen Mi- 20 Millionen ca. nisterpräsidentin das Gebaren ihrer Lan- mit Ihrer Produktionsfirma desmedienanstalt inzwischen merkwür- dig vorkommt und sie Zweifel hat, ob bei der Zulassung des Kirch-Senders Pro Sie- ben alles mit rechten Dingen zugegangen ist, will sie die Aufsichtsbehörde gericht- lich zwingen, alle Zulassungsunterlagen Thomas Gottschalk 8 Millionen herauszugeben. ca. Von einer „Verwilderung der Sitten“ zuletzt bei RTL spricht Hege, aber so wild ist es vom er- Harald Schmidt sten Tag an zugegangen in dieser Bran- über 8 Millionen che der Goldschürfer. Das Zwölf-Milli- bei Sat1 arden-Geschäft ist zu schnell gewachsen, als daß irgend jemand Zeit gehabt hätte, auf irgendwelche Sitten zu achten. Fern- sehen sei ein langer Highway aus Plastik, hat der neue Sat-1-Programmdirektor Fred Kogel in den USA gehört, „ein Highway, auf dem Zuhälter und Diebe Günther Jauch frei herumlaufen und gute Menschen wie ca. 4,5 Millio- Hunde sterben“. nen bei RTL Alle möglichen Figuren hat das Flim- aus Hans Meiser mermedium im letzten Jahrzehnt ange- ca. 2,5 Millionen saugt, aber kaum jemanden ausgespuckt. seiner Produktionsfirma Wenn einer seinen Job verlor, wartete an der nächsten Ecke der neue Sessel. „Wir Deutschen machen drei- oder viermal mehr Fernsehen, als wir Leute dafür ha- ben“, sagt einer, der als freier TV-Bera- ter (fast) alle Sender von innen kennt. Könner und Versager, Genies und Alfred Biolek Verrückte, Zocker und Moralisten ca. 2 Millionen tummeln sich hinter der Scheibe, die aus seiner für die Zuschauer die Mattscheibe ist, Fritz Egner Produktionsfirma und wer sich durch die Studios und Bü- ca. 2,5 Millionen ros zappt, wird besser unterhalten als in bei Sat1 jeder Soap-opera.

DER SPIEGEL 35/1995 107 . H. A. FRIEDRICHS / HAMANN Dreharbeiten zur täglichen Serie „Die Wagenfelds“: Im Krieg der Fernsehfamilien müssen wir siegen „Zwei Jahre Heu einfahren“ Wie die Geldmaschine Fernsehen läuft / Von Thomas Hüetlin und Cordt Schnibben

ie 6. Szene der 17. Folge im Le- Zeiten, schlechte Zeiten“ (RTL) und kostbarste Daily-Familie“, weil ihr Le- ben der „Wagenfelds“ macht der Bergers aus „Jede Menge Leben“ ben so aufwendig in Szene gesetzt wird, DKummer: Des Bürgermeisters äl- (ZDF) – sie sind (bald) jeden Tag 25 Mi- daß im Fernsehen keine Daily Soap zu teste Tochter verletzt sich an einem nuten im Fernsehen zu besichtigen, und sehen sein wird, „sondern die erste tägli- Strauß roter Rosen, ihre Schwester darum muß nun jeden Tag eine Folge ih- che Serie der Welt“. Trixi steht wieder einmal mit dem rer Familiensaga fertig werden. Eine Daily Soap ist die fast unendli- Rücken zur Kamera, dem Tonmeister Die Wagenfelds sind nicht irgendeine che Geschichte schöner Menschen, de- ist das Geräusch des Wasserhahns zu neue Fernsehfamilie, sie sind, glaubt ren Wege sich jeden Tag in billigen Ku- laut, und der Aufnahmeleiter merkt man ihren Schöpfern, die „weltweit lissen glücklich und unglücklich kreu- erst im letzten Moment, daß auf der zen, bis daß die Zuschauer- Klappe der Name eines falschen Regis- quoten sie umbringen. seurs steht. Nicht Melitta Fitzer führt Viel gemein Erfunden wurde der täg- in dieser Szene Regie, sondern Joris liche Groschenroman zum Hermans. haben sie nicht, der neue Sat-1-Programmdirektor Zuschauen natürlich in den Fitzer hatte noch vor zehn Minuten Fred Kogel und die Familie Wagenfeld, der freie TV- USA und natürlich von das Kommando, da wurde die 12. Sze- Berater Peter Gerlach und die Moderatorin Marga- Fernsehmachern, die Sei- ne der 3. Episode gedreht, zwei Meter rethe Schreinemakers, der RTL-Direktor Marc Con- fenfabrikanten, Bierbrau- vom Wohnzimmer des Bürgermeisters rad und der Media-Agent Thomas Koch, der Show- ern und anderen Werbe- entfernt, in der Tankstelle der Contis. Erfinder Frank Elstner und die Firma MME, der Sen- treibenden täglich die glei- In der Eile des Kulissenwechsels kann dergründer Jochen Kröhne und der Magazinchef chen Zuschauer vor den man schon mal übersehen, daß auch Gerd Berger, der Regisseur Dieter Wedel und der In- Schirm holen wollten, weil der Regisseur wechselt, zumal, wenn tendant Fritz Pleitgen, viel gemein haben sie nicht, sich so die Werbezeiten die Dreharbeiten 25 Minuten hinter nur eins verbindet sie – sie verdienen ihr Geld da- besser verkaufen lassen. dem Zeitplan hängen, der Aufnahme- mit, viel Geld dafür auszugeben, daß sich die Leute Eine Daily Soap ist nicht leiter das laut durch die Halle brüllt, es zu Hause in ihren Wohnzimmern nicht langweilen. irgendeine Fernsehsen- schon Donnerstag nachmittag ist und Alle zwölf Macher arbeiten in jener Branche, in der dung, die Daily Soap ist die bis Freitag abend die fünf Folgen die- sich in jedem Jahr zwölf Milliarden Mark in ein end- Fernsehsendung, sie ist die ser Woche abgedreht sein müssen. losesbuntesFlimmernauflösen;und wersichdurch zuverlässigste Geldmaschi- Die Wagenfelds teilen das traurige die Studios, Sender und Anstalten zappt, lernt, was ne eines Fernsehsenders – Schicksal der Buschs aus dem „Marien- Goldgräberstimmung ist. sie kostet in Deutschland hof“ (ARD), der Richters aus „Gute 5000 Mark pro Sendeminu-

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te und bringt bis zu 115 000 Mark pro gegönnt, alle haben in Puppenstuben schilde gegen den Medienlärm, der ihm Werbeminute. Soap-Pionier RTL macht zwischen Pappwänden hassen, lieben seit Wochen einhämmert, er habe ei- mit seiner allseits belächelten Billigserie und sterben müssen. gentlich schon verloren. Im Mai der gro- „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ im Jahr „Wir greifen an“, haben die Wagen- ße Popstar, jüngster Topmann der Me- 100 Millionen Mark Gewinn. felds aus der Berliner Sat-1-Zentrale dienbranche, vom ZDF-Unterhaltungs- Drei Millionen Zuschauer sollen die vernommen, „auf allen Feldern“, und chef zum Programmdirektor hochge- Wagenfelds demnächst jeden Tag um 18 das heißt für Nane, Trixi, Nadia, Dan- schossen, Gehalt verfünffacht, super Uhr zu Sat 1 rüberholen; für jeden von ny, Fabio, Georg, Sandra und die übri- Presse, weil er die Stars einsackte wie ihnen kriegt der Sender anderthalb gen 16 Hauptdarsteller: Im Krieg der Uli Hoeneß; im Juli raus aus den Pfennig von den Werbetreibenden, Fernsehfamilien müssen wir siegen, un- Charts, weil der Transfer des Spielma- macht bei zehn Werbespots pro Folge sere Daily muß süchtiger machen als die chers Günther Jauch platzte und die einen Halbstundenverdienst von einer fünf Tagestragödien der Konkurrenten. Seelenmasseuse Margarethe Schreine- halben Million Mark. Und während sie Episode für Episo- makers beleidigt kündigte und zu RTL Damit sie jeden Tag wieder vorbei- de, Szene für Szene, Klappe für Klappe wechseln wird. schauen, die wertvollen Zuschauer, hat in den Münchner Bavaria-Studios her- Kogel hatte der erfolgreichen Talk- Sat 1 ihnen und den Wagenfelds für unterdrehen, hat der neue Oberkom- masterin (Werbespotpreis: 65 500 zwei Millionen Mark ein altes bayeri- mandierende im 16. Stockwerk der Zen- Mark) nicht innig genug die Füße ge- sches Bauernhaus gebaut, in dem Ka- trale beschlossen, sie nicht als „Die Wa- küßt – er war nicht sicher, ob ihre allwö- tharina Wagenfeld und ihre drei Kinder genfelds“ in den Kampf zu schicken, chentliche Kirmes-Show der Heiler, leben wie die Ewings auf der Southfork weil das zu sehr nach „Die Gulden- Schamlosen und Sonderlinge die Leute Ranch. Kein Daily-Soap-Produzent hat burgs“ klingt. „So ist das Leben“ wird noch fünf Jahre lang am Schirm hält. seiner Familie bisher ein richtiges Haus die tägliche Serie jetzt heißen. Drei gewonnen, eine verloren – so zählt Starbroker Kogel. Die miese Pres- se zählt auch irgendwie, aber die hat er Der mit den Stars tanzt in seiner Zeit als Produzent von „Wet- ten, daß . . .?“ zu nehmen gelernt. Als Frühmorgens ist der Mann „die letzten guten“. Er liebt die Show, er den Ossi Wolfgang Lippert zum aus der Heimat der Soaps in und deshalb weiß er, daß sie am Ende ist: Nachfolger von Thomas Gottschalk das 16. Stockwerk heimge- „Neue Ansätze entstehen nur noch aus machte, flogen ihm die Schlagzeilen um kehrt, in das große Zimmer der Komposition von Bekanntem.“ die Ohren, erst die schlimmen, dann die mit den neun Fernsehern, die ihm sein Nur noch „als Markenartikel“ könne schönen; als er Lippert nach einem Jahr Vorgänger hinterlassen hat. Er mag diese die Show überleben als „Wetten, wieder gegen Gottschalk tauschte, den Fernseher nicht, weil die so aussehen, als daß . . .?“ oder als „Verstehen Sie netten Lippie gegen das Großmaul von müsse man allen Leuten zeigen, daß man Spaß?“, und weil diese Produkte nicht zu RTL, da tobte die Journaille, „und den ganzen Tag alle möglichen Program- kaufen und nicht zu klauen sind, hat Ko- wenn nicht 16 Millionen Zuschauer me schaue, und das ist ihm dann doch zu gel im Schlußverkaufsrausch Showstars Gottschalks Comeback gesehen hätten, durchsichtig wichtig. gekauft, die selbst Markenartikel sind – die Hälfte, um ihn scheitern zu sehen, In „L. A.“ hat Programmdirektor Fred Gottschalk, Schmidt, Egner. dann wäre auch ich am Ende gewesen“. Kogel vier Tage lang „Show-Formate“ Ihre halblebensgroßen Porträts lehnen Kogel sieht sich in der Rolle eines durchgeschaut und zwölf eingekauft, an der Wand seines Büros wie Schutz- Beckenbauer oder eines Rehhagel, der Stars kauft und sie an die richtige Position setzt. Fernsehzuschauer sind so blöd wie Stadionbesucher, sie fallen auf die Leute aus den Schlagzeilen herein. Schon als ZDF-Unterhal- tungschef lobte Kogel, er habe dem Sender mit sei- nen „Moderatoren-Trans- fers in sechs Monaten an Schlagzeilen“ mehr be- schert als alle anderen in drei Jahren. Sich selbst zu verkaufen, das wollte er schon kurz nach der Pubertät als John- Travolta-Imitator; dann als rollender DJ, der der baye- rischen Landjugend im schwarzen Porsche den Soul brachte; dann als As- sistent von Bernd Eichin- ger in Kirchs Firma „Neue Constantin“; dann als Ra- dio-Boß in den Gründer- jahren des Privatfunks,

SCHIRNHOFER / ENGELMEIER Abschiedsspruch: „Keep Sat-1-Programmdirektor Kogel: Der nächste Job war immer schneller als der Mißerfolg the fire burning“; schließ-

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lich als Moderator bei Tele 5, dem Puber- genehmigen lassen, also auch von den „Verlieren Sie Millionen“, hieß eine tätskanal des Privatfernsehens. Von beiden Vertretern der Zeitungsverleger. der Kogel-Shows, die beim ZDF nicht Welle zu Welle ist Kogel in den letzten „Einstimmig und wohlwollend“ sei sein den versprochenen Erfolg hatte. Über zehn Jahren gesprungen, ein Surfer in Sanierungsprogramm am 11. Juli von al- 500 Millionen haben die Sat-1-Gesell- den Zeiten der Medienschwemme, im- len sieben Herren bewilligt worden, sagt schafter bis zu seinem Amtsantritt verlo- mer weg, bevor ein Job zu klein werden Kogel, „das dauerte nicht einmal drei ren, mal sehen, wann sie meutern. konnte. Stunden“. Die beiden Zeitungsverleger Einen „Vollblutvisionär“ nennt Kogel Ein paar Dutzend dieser Beachboys sind allerdings unsicher, ob Kogels blen- denjenigen, der so weitsichtig war, ihn haben inzwischen die oberen Etagen der dend vorgetragene Rechnungen aufge- zum Programmdirektor von Sat 1 zu ma- Sender erreicht, keiner ist so schnell und hen werden. chen. Kirch bot ihm den Job im Dezem- trickreich wie Kogel. Ob er auch erfolg- Er wolle den Sender in drei Jahren ber telefonisch an, durch seinen Ver- reich ist, darüber streiten die Neider: zum Marktführer machen, hat der Neue trauten Joachim Theye. Man war sich Der nächste Job war immer schneller als den Gesellschaftern versprochen. Ge- schnell einig über das, was bei Sat 1 ge- der Mißerfolg. winne hat er nicht in Aussicht gestellt. tan werden muß. Über Sat 1 redet er nun wie Helmut In den nächsten Jahren werde „der eis- Seinen Dreijahresvertrag will Kogel Kohl über die DDR ein halbes Jahr nach kalte, brutale Verdrängungskampf der erfüllen, auch wenn die Mitgift Nummer der Vereinigung: alles noch viel schlim- Sender“ so große Investitionen ver- 1, Harald Schmidt, schon unkt: „Ich ha- mer als gedacht. Ganze Abteilungen feh- schlingen, daß man kaum mit „Pay-off“ be einen Zweijahresvertrag, mal guk- len dem Sender, weder ausreichend gro- rechnen könne. Und wenn es Sat 1 nicht ken, wann der gebrochen wird.“ Und ße Grafik- noch Trailer-, noch Promo- gelinge, neue „Verwertungsketten der Mitgift Nummer 3, Fritz Egner, durch tion-Ressorts. Schwächen im Programm teuren Eigenproduktion“ aufzubauen, die Anstellung bei seinem Tennislehrer sieht Kogel überall, tagsüber, am späten so wie es RTL mit RTL 2 und Super und Kraftraumpartner Kogel um jähr- Abend und am Wochenende, also ei- RTL mache, dann werde es auch lang- lich mehr als 2 Millionen Mark reicher, gentlich nur nicht zwischen 20 Uhr und fristig keinen Gewinn geben. plant schon den nächsten Coup: „Zwei 22 Uhr – ein netter Sanierungsfall, den Und wer nicht bereit sei, auch noch Jahre Heu einfahren“ und dann mit Ko- nur ein Titan lösen kann. diese neuen Investitionen aufzubringen, gel und Gottschalk in den Staaten „ei- „Ich überlass’ grundsätzlich nieman- der „muß ’ne Grundsatzentscheidung nen Medienmischkonzern aufbauen“ dem was“, sagt Kogel. Vier Vertraute fällen, ob er überhaupt im TV-Business und „Deutschland mit US-Ware belie- hat er der Sat-1-Bürokratie aufgepfropft bleiben will“. fern“. und „die Hierarchien geschliffen“. Die neuen Shows hat er sich selbst direkt un- terstellt – er könne nicht delegieren, kri- Der König des Fernsehens tisiert einer seiner Berater, und er könne nicht zuhören. „Das Traumschiff“ – 24 ten – er wollte den Leuten Geschichten So brillant er die Probleme seines Millionen Zuschauer. „Die erzählen, und er wollte sie so vielen Senders analysiert, so schlicht ist sein Schwarzwaldklinik“ – 27,5 Leuten wie möglich erzählen. Rettungsprogramm: werktags 17 Uhr Millionen Zuschauer. Für ihn ist das Fernsehen eine Mär- Gameshow „Egner“, 18 Uhr „Die Wa- „Wetten, daß . . .?“ – 30 Millionen. Die chenmaschine, eine segensreiche Erfin- genfelds“, 18.30 Uhr Nachrichten, 18.45 höchste Quote seiner Karriere schaffte dung, mit der man dasselbe machen Uhr Boulevard, 19 Uhr Gameshow Peter Gerlach mit einer Peter-Alexan- kann, was früher die Erzähler in der Ka- „Glücksrad“, 20 Uhr Serie, 21 Uhr Serie, der-Show: 83 Prozent aller Zuschauer rawanserei machten. Der Unterhal- 22 Uhr Serie und Magazin, 23 Uhr Talk- hatten ihr Gerät eingeschaltet. Auf Mil- tungschef des ZDF gab den Leuten so show „Schmidt“ und samstags 22 Uhr lionen schielte der Mann schon, als das reichlich Stoff zum Träumen, so viel Talkshow „Gottschalk“. Wort „Quote“ noch weitgehend unbe- Herz und Schmerz, daß die öffentlich- Daß Kogel in der wichtigsten Zeit zwi- kannt war in den Linolfluren der Anstal- rechtlichen Chefideologen ihn als Mann schen 19 und 20 Uhr das „Glücksrad“ drehen läßt, ist nicht mehr als der Aus- druck von Programmlosigkeit. Bereits vor einem Jahr kritisierte Sat-1-Chef Doetz die Gameshow als überholt, sie sei nicht ausgebucht, man habe die Spot- preise senken müssen. Kogels neues Show-Trio kostet den Sender im Jahr 150 Millionen. Bei Eg- ners Show wird ein Spot brutto 22 000 Mark einbringen, bei Gottschalk 64 000 Mark und bei Schmidts Late Night 26 000 Mark – da haben die Gesellschafter hübsch was zu rechnen. RTL-Chef Helmut Thoma, der mit je- der Gottschalk-Late-Night 40 000 Mark Miese machte, sieht hinter der Verpflich- tung Kogels den Masterplan des großen Monopolisten Leo Kirch durchschim- mern: „Kann sein, daß Kogel Sat 1 end- gültig so in die Miesen treiben soll, daß die Zeitungsverleger ihre Anteile ver- kaufen und Kirch den Sender allein hat.“

Jede Ausgabe über 5 Millionen Mark P. SCHINZLER / HAMANN muß sich Kogel vom Sat-1-Aufsichtsrat Sat-1-Berater Gerlach: Erzähler in der Karawanserei

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des Privatfernsehens outeten, lange be- aber mindestens 100 bräuchte das deut- daß genau das eine höchst seltene, wun- vor es das Privatfernsehen gab. sche Fernsehprogramm. derbare Qualität ist im Fernsehen.“ Und als es dann da war, lief er über; Serien wie „Wolffs Revier“ oder Gottschalk, das Spontangenie; nicht weil er wirklich wollte, sondern weil „Anna Maria“ kosten über eine Million Schmidt, der Zyniker; Egner, der Har- er als Sozialdemokrat beim ZDF nicht Mark pro Folge. Serien sind, wenn sie monierer – jeder Star braucht das Pro- den Sessel haben konnte, für den das Ab- ihr Publikum finden, gute Geldanlagen. gramm, in dem er schwimmen kann. zählsystem des Proporzfernsehens einen Jeder Fernsehfilm, jedes Sportereignis, „Wer glaubt, es reiche, ein paar Stars zu Schwarzen vorsah. Von seinem Freund jede Live-Übertragung ist dagegen wie kaufen, der weiß nicht, wie Fernsehen Leo Kirch umworben, wurde er zum Pro- Roulette, und deshalb befürchtet Ger- wirkt“, sagt Gerlach. grammdirektor von Sat 1, mußte nach ei- lach, daß das Fernsehen das verliert, Günther Jauch wäre für Sat 1 der ein- nem Jahr wegen eines Schlaganfalls wie- was es von anderen Medien unterschei- träglichste Star gewesen, meint Gerlach, der ausscheiden, kehrte aber 1990 als Be- det: Ereignis zu sein und live zu sein. weil er das Image des Senders am weite- rater für Serien zurück. Peter Frankenfeld, Hans-Joachim sten verschoben hätte. Aber der wollte „Anna Maria – eine Frau geht ihren Kulenkampff, Thomas Gottschalk wur- sich nicht auf das Wagnis einlassen, einer Weg“ – 10 Millionen Zuschauer. „Ein den die größten deutschen TV-Stars, journalistischen Leiche Leben einzuhau- Bayer auf Rügen“ – 9 Millionen. „Kom- weil sie so unberechenbar sind, wie chen, und blieb bei RTL. missar Rex“ – 7 Millionen. Es tröstet der Fernsehen eigentlich sein muß. „Wer Ohne Star kein Programm – in Kogels Marktanteil, es tröstet der Blick auf die Gottschalk vorwirft, er interessiere sich neuem Schema rutscht die Hauptnach- Konkurrenz, es tröstet Gerlach, daß er nicht für die Gäste seiner Shows, er in- richtensendung, nur noch 10 Minuten mehr Zuschauer hat als „Dortmund ge- teressiere sich nur für seine nächste lang, in den Vorabend. Die Redaktion gen Kaiserslautern“ im Fuji-Cup. Pointe“, sagt Gerlach, „der verkennt, wird auf die Hälfte verkleinert. Aber es schmerzt, daß Jüngere auch dann nicht gucken, wenn der Held des Märchens ein junger Bursche ist, ein Call- Der Star ohne Unterleib girl zur Freundin hat, in einem Loft wohnt und „A. S.“ heißt. Die Zuschauer Die Ferien sind da, und cherung sie für das Ausland abschlie- dieser Detektiv-Serie für junge Zuschau- Margarethe Schreinema- ßen. Danach hat sie vor Raub und Dieb- er sind im Durchschnitt 50 Jahre alt, aber kers will in ihrer letzten stahl und Hautkrebs gewarnt. Heute fol- das schmerzt den 57jährigen Gerlach Sendung vor der Sommer- gen die letzten Tips: Man soll nicht rum- nicht deshalb, weil er, wie RTL-Chef pause den Deutschen noch ein paar Tips schreien in der Türkei. Man soll nicht Thoma, Leute über 50 für minderwertige geben, damit der Urlaub auch richtig wegen einer Tasse Cappuccino ein teu- Zuschauer hält, sondern weil sich daran schön wird. Vor zwei Wochen hat sie ih- res Lokal besuchen in Italien. Und man zeige, was Sat 1 für ein, vorsichtig formu- ren Zuschauern beigebracht, daß sie soll aufpassen, wenn man in Griechen- liert, „erzkonservatives Image“ habe. aufpassen sollen, welche Krankenversi- land bei Grün über die Straße geht. Gerlach ist für das deutsche Fernse- Natürlich wird auch hen, was Beckenbauer für den deutschen geweint in dieser Sen- Fußball ist, und deshalb schaut er von dung, als Hildegard ziemlich weit oben auf den Spielbetrieb. Heil erzählt, wie ihr An seinem alten Sender ZDF ent- Ex-Ehemann sie und täuscht ihn, daß die immer noch sein die drei Kinder in die „Traumschiff“ in die weite Welt schicken Obdachlosigkeit trei- und diesen Siebziger-Jahre-Sujets hinter- ben will. Frau Heil herfahren. Beim Konkurrenten RTL droht mit Selbstmord. überrascht ihn, mit welcher Wegwerf- Frau Schreinemakers mentalität der seine Geschichten erzählt. sagt: „Das soll man Daß Privatfernsehen ramschig, billig nicht machen. Die drei und gierig sei und öffentlich-rechtliches Kinder brauchen Sie. edel, gut und wertvoll, hat er schon als Wir bleiben in Kon- ZDF-Hierarch nicht geglaubt, jetzt sieht takt.“ er, daß die Öffentlich-Rechtlichen in ei- Dann kommt ein ner Art Sendeschlußpanik ihr Programm Tomatenzüchter und privatisieren und verengen, bis daß so et- redet über Petting und was wie Eberhard Fechners „Ein Kapitel Tomaten. Dann tanzt für sich“ nur noch nach Mitternacht „in Frau Schreinemakers zynischer Pflichterfüllung“ laufe. einen sardischen Über 70 Serien produzieren die deut- Volkstanz. Dann Mit- schen Fernsehsender im Moment, noch tel gegen Haarausfall. einmal soviel kaufen sie jährlich in den Dann Diskussion: USA, „eine volkswirtschaftliche Ver- „Was treibt die Män- schwendung“ sei das, vor allem aber der ner in den Puff?“ Plot-Overkill: Schon bald könnten die Gegen Schreinema- Zuschauer des Erzählens in Folgen über- kers gibt es kein Mit- drüssig werden und nach der Ärzte- tel. Es hilft nichts, schwemme, der Förster- und Hunde- wenn Günther Jauch schwemme nicht noch eine Epidemie mit im „Stern TV“ die ansehen wollen. Tricks aufdeckt, mit Pro Tag bekommt Gerlach ein Dreh- denen ein Voodoo- buch auf den Tisch: Es gibt in Deutsch- Priester bei Schreine-

land 500 Drehbuchautoren, doch nur 40 ACTION PRESS makers das Publikum Schreiber beherrschen ihr Handwerk, Star Schreinemakers: Halb Rummel, halb Heilsarmee linkt. Es nützte nichts,

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als Dieter Moor in seinem Medienma- Das System Schreinemakers be- mimt den Geschäftsführer, dessen Frau gazin einen Schwindler namens Carsten schränkt sich nicht auf die Show. Ihr kauft die Kostüme ein. Nur am Sendetag Gutland präsentierte, der bei Schreine- Clan regiert die Redaktion und Produk- besucht Schreinemakers die Redaktion, makers vorgelogen hatte, seine Frau tionsfirma der Sendung. Und da geht es wer sonst was von ihr will, muß nach Bel- schlage ihn gelegentlich blutig. zu, als handle es sich um eine „Mischung gien fahren oder ein Fax schicken. Und es war vergebliche Liebesmüh, aus Mafia und Irrenhaus“, sagt ein an- Gern betont die Moderatorin, die auf- als Roger Willemsen bekannte, ihm lie- derer Sendeleiter, der ebenfalls rasch tritt wie das gute Gewissen der Nation, ge eine eidesstattliche Erklärung der den Dienst quittierte. daß siepro Auftrittnur 30 000Mark Gage Schauspielerin Mignon Reme´ vor, die Werner Klumpe, der Mann von bekomme. Tatsächlich ist ihre Firma am bei Schreinemakers ihr Leben fälschte – Schreinemakers, zieht im Hintergrund Schluß jeder Sendung um eine halbe Mil- auf Vorschlag eines Mitarbeiters. die Fäden, sein Bruder Walter Klumpe lion Mark reicher. Es ist alles so vergebens, wie es der Versuch Wallraffs war, Bild zu entzau- bern. Ergebnis der Enthüllungen: fünf Mil- lionen Zuschauer und mehr. Außerdem müssen Schreinemakers’ Gäste jetzt ein Formular unterschreiben, wonach sie sich verpflichten, daß sie nicht in einer anderen Talkshow behaupten, sie hät- ten bei Schreinemakers gelogen. „Schreinemakers live“ ist das, was passiert, wenn Privatfernsehen sich dem Ernst des Lebens zuwendet – TV wie ein Volksempfänger, ein Apparat, der Volkes Stimme und Volkes Sicht aufnimmt und wieder abstrahlt. Die Sendung zeigt, was passiert, wenn sich der gesunde Menschenver- stand vor die Kamera stellt: Mitleid mit kleinen Kindern, Tieren und allen an- deren, die sich nicht wehren können. Mißmut gegen Politiker und die da oben. Angst vor Fremden, aber Aus- länder in Deutschland sind schon okay,

wo sollte man sonst Pizza essen. FOTOS: J. BINDRIM / LAIF Jeden Donnerstagabend inszeniert RTL-Programmdirektor Conrad: Fernsehen, so genormt wie ein Ikea-Regal sie Jahrmarktsunterhaltung, ohne daß die Leute noch das Haus verlassen müs- sen. Der Vollstrecker Wie früher auf den Rummelplätzen Zwerge mit Riesenschwänzen vorge- Richtig glücklich ist an die- grammdirektor von RTL. Er kann noch führt wurden und Affenmenschen, zu- sem Abend nur Tina aus nicht nach Hause, weil er die Wunderker- sammengewachsene Zwillinge und Pforzheim. Das Auto- zen auf der Torte so anschauen muß, als Frauen ohne Unterleib, so zeigt Schrei- grammbuch der arbeitslo- sei das hier ein rauschendes Fest. Und er nemakers die Mutanten des modernen sen Goldschmiedin füllt sich auf der Party hat noch was zu tun, Personalpolitik. Lebens, aber immer so, als sei sie kein zu Ehren der 200. Koschwitz-„Late Am Morgen danach läßt Holm Dress- Jahrmarktschreier, sondern eine von Night“ fast von allein. Lisa Fitz ist da, mit ler, der Produzent der Late-Night-Show, der Heilsarmee. einem Stadtindianer, und auch der Ex- verlauten, er sei der Meinung, „80 bis 90 In manchen Fernsehshows geht es so Saxophonist aus der Studioband ist da. Prozent aller Führungskräfte“ könnten lustig zu, als hätten die Moderatoren ei- Den hat Tina schon lange auf ihrer be- sowieso „nicht mit kreativen Menschen nen Lachsack in der Hosentasche. Mar- scheidenen Wunschliste. Er spielt nicht umgehen“, und er werde die 201. Show garethe Schreinemakers ist so ansatzlos mehr in der Pausenkapelle, er wollte nicht mehr machen. gerührt, kaum hat ein menschliches nicht mehr „Flipper“ blasen. „Verbessern, verlegen, versenken“ Einzelschicksal neben ihr Platz genom- Den Einmarsch des Talkmasters Tho- sind für Conrad die drei Stufen des Nie- men, als trage sie einen Heulsack unter mas Koschwitz begleitet Henry Maskes dergangs einer Sendung, und er hat schon dem Kostümjäckchen. „Conquest of Paradise“, aber ehrlicher- einige auf diese Weise beerdigt. Daß die „Schreinemakers live“ dauert 3 Stun- weise müßte man Graciano Rocchigianis Late-Night-Show noch lebt, verdankt den. Es könnte auch 6, 12 oder 24 Erkennungslied „Spiel mir das Lied vom Koschwitz Schmidt und Kogel, denn in Stunden dauern. Schreinemakers TV, Tod“ hören. den Zeiten des Showdowns zählen nicht mit Wetter, Sport und Horoskop und Die Zuschauerzahlen der RTL-Late- nur Zahlen, da geht es auch um Stolz, und Tagesschau. „Bei ihrer Art Journalis- Night sind von 1,7 Millionen im Vorjahr der verbietet es, das Feld um 23 Uhr zu mus wird es immer eine Grauzone ge- auf 800 000 gefallen, der Marktanteil räumen. ben“, sagt Gerd Berger, der Ex-Sende- liegt nur noch bei11,2 Prozent, und dasist „Müssen wir Angst haben?“ fragt Con- leiter, der mit 13 Monaten in ihrem bei RTL so gut wie ein Todesurteil. Der rad mit Blick auf die Quotenkrieger der Dienst den Rekord hält. Viele Themen Henker steht an einem kakaobraunen Konkurrenz, aber das fragt er nur ganz, könne man nur mit Hilfe von Zeitungs- Haufen, der eine Torte ist, muß seine ganz selten, denn er hat sich Gelassenheit anzeigen recherchieren. Den glaubwür- Frau davon überzeugen, daß er noch verordnet. digsten unter den Exhibitionisten müsse nicht nach Hause gehen kann, heißt Marc Er und sein Tele-Vater Thoma kennen man nehmen. Conrad und ist 34 Jahre alt. Er ist Pro- sich aus im Star-Poker, schließlich haben

116 DER SPIEGEL 35/1995 sie 1989 Gottschalk und Jauch zu RTL rü- Um die Kosten zu senken, müssen die Deshalb hoffte Conrad, in aufwendi- bergezockt, und auch jetzt haben sietrok- Brautpaare der „Traumhochzeit“ zum gen Tiefeninterviews das Mysterium des ken gekontert – erst Schreinemakers, zweitenmal heiraten, undauch die witzlo- glotzenden und konsumierenden Wesens dann Jörg Draeger. Den Sat-1-Croupier sen Sitcoms laufen nur noch, weil sie zu entzaubern, zu entdecken, wie viele („Geh aufs Ganze“, Spotpreis 20 010 schön billig sind – 300 000 Mark kostet ei- Zuschauer von „Gute Zeiten, schlechte Mark) konnten sie für zwei Millionen im ne Folge, eine Million aber zahlt RTL für Zeiten“ eine Kreditkarte haben, wieviel Jahr einsammeln, weil Kogel den Klein- die Episode einer Qualitätsserie. „Quali- Schokolade „Hans Meiser“-Seher ver- verdiener (240 000 Mark Jahresgage) tät“ ist für den Programmdirektor „jede schlingen, wie viele Sekttrinker die Nach- beim Millionenspiel zunächst übersehen Sendung, die lange läuft, also fünf, zehn richten schauen. hatte, dann aber nicht schnell genug ei- Jahre“. Er ist der deutsche Prophet des Die „qualitative Quote“ ist der Traum nen Beschluß seines Aufsichtsrates bei- Gewohnheitsmediums, „Fernsehen muß aller Fernsehmacher und -fabrikanten, bringen konnte. wie eine Uhr sein, du stellst den Apparat die Entdeckung der Korrelation zwi- Wie er den windigenSpielleiter insPro- an und siehst am Programm, wie spät es schen Fernsehkonsum und Warenkon- gramm einbaut, weiß Conrad noch nicht ist“. sum, und auf dem Weg dorthin hat Con- genau, Hauptsache, „diegroßeOffensive Nicht mehr überraschend „wie eine rad 16 Konsumentenklassen und 9 TV- der Kirch-Gruppe“ (Thoma) kommt Wundertüte“ dürfe das Fernsehen heut- Typen klassifiziert, bizarre Figuren wie durch ein paar Verlierer-Schlagzeilen ins zutage sein, sondern normiert wie ein den „Mitspieler“, den „Kompensierer“ Stocken. Jetzt, im August, präsentieren Ikea-Regal. Jeden Tag zur gleichen Zeit und den „Flankierer“. die Sender den Media-Agenturen in lau- das gleiche Programm, das wolle der Zu- In den Media-Agenturen, den Schalt- nigen Shows ihre Preistabellen fürs näch- schauer, um sich in der Unübersichtlich- stellen der Werbemilliarden, sieht Con- ste Jahr, und da hilft alles, was den Schein keit der 28 Kanäle zurechtzufinden. rad wenig sensible Figuren am Werk, zu der Konkurrenten trübt. Die Kunst, jeden Tag zur selben Zeit viele Computergläubige, die ihre Raster RTL hat seit einem halben Jahr eine die gleichen Zuschauer vor dem Schirm im Kopf haben, aber kein Gespür für den schlechte Presse. Zehn Jahre lang hat der zu versammeln, hat Conrad zur Perfekti- Imagewert einer neuen Folge von „Be- Sender die Einnahmen und die Quoten in on entwickelt; zur Freude der Werbetrei- verly Hills“, und wenn „du da den Rekla- die Höhe getrieben, aber seit RTL die benden, denn die lieben es, die Kund- me-Spot für Zahnpasta schaltest, hast du Nummer eins ist, wissen Conrad und schaft daheim vor den Geräten genau zu viel mehr Aufmerksamkeit alsbeiirgend- Thoma nicht, wie sie da bleiben sollen. kennen. einer Wiederholung“. Die Serien auf Sat 1 haben bis zu dop- pelt so viele Zuschauer, Pro Sieben hat die aufregenderen Spielfilme, und ARD Der Mann mit dem Geld und ZDF bieten besseren Journalismus. Conrads „Humoroffensive“, also Ottos Reklame nennt man das, schuften, sie lieben das Duschgel und Filme, Kerkelings Sketche und vor allem was den Schreibtisch von die Schnürsenkel, deren Verkauf sie er- die hausgemachten Sitcoms brachten Thomas Koch umstellt, ehr- nährt und dafür sorgt, daß aus ihren nicht genügend Leute zum Lachen. In würdige Emailleschilder, Kindern was wird. den KZ seien eben zu viele Juden vergast die davon künden, daß es Esso gibt und Seit es Privatfernsehen gibt, mögen worden, entschuldigt Conrad den fehlen- Dunlop und Miele und andere nützliche sie die Marke, für die sie alles geben, den Witz seines Programms, „wir kriegen Dinge. Dieses sinnliche Verhältnis zur noch mehr, weil es nun hin und wieder das einfach nicht hin“. Ware ist allen Menschen eigen, die für vorkommt, daß sie morgens zur Arbeit Auch die „Info-Offensive“ versande- eine Marke arbeiten. Sie lieben die gehen und der Nachbar ihnen über die te, die Reportage-Reihen wurden entwe- Schuhcreme, für deren Wohlergehen sie Hecke zuruft: „Mensch, ich habe ge- der eingestellt oder gar nicht erst eröff- net. Der neue Informationschef Hans Mahr, nicht nur ein Wiener, sondern auch noch ein Mann des Boulevards, will Tiere, Menschen und Katastrophen in den Hauptnachrichten sehen. Immer wenn die Redaktionstolz ist auf eine jour- nalistisch prachtvolle Sendung, muß sie sich von ihrem Chef sagenlassen, daß die- se Daily Soap wieder zuwenig Tiere, zu- wenig Ärzte und zuwenig Prominente ge- boten habe. Wenn der Rennfahrer Schu- macher heiratet, läßt Mahr die Hochzeit feiern wie einen Weltwirtschaftsgipfel, und der Nachrichtensprecher muß zum Kauf der Illustrierten Bunte auffordern. Mahr möchte seine Nachrichtenshow wie jede Show durch Werbespots unter- brechen und natürlich ihre Kosten sen- ken. Auf Nachrichtenfilme des wichtig- sten europäischen Bildlieferanten EBU verzichtet RTL inzwischen, die eigenen Reporter werden seltener in die Welt ge- schickt – jeder zweite Redakteur der Nachrichtenabteilung möchte den Sen- der wechseln, wenn es denn noch einen gäbe, der Nachrichtenredakteure haben möchte. Media-Planer Koch: Die Hälfte der Fernsehwerbung ist wirkungslos

DER SPIEGEL 35/1995 117 Werbeseite

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Nichts wie weg und nichts gemerkt Emnid-Umfrage* zur TV-Werbung

Samstag, 12. August 1995, 18.00 Uhr. Die Haben Sie die Werbeblöcke während Sportsendung „ran“ beginnt, die erste der der Sendung „Zurück in die Zukunft“ neuen Bundesligasaison. 2,57 Millionen gesehen, oder haben Sie während der Zuschauer haben ihr Fernsehgerät einge- Werbeblöcke umgeschaltet? schaltet, am Ende der Sendung sind es 4,08 Millionen. Woher weiß man das? In 4400 . ..die Werbung durchgehend repräsentativ ausgewählten Haushalten gesehen 44% steht ein Gerät der Gesellschaft für Markt- ...während der Werbung und Konsumforschung (GfK), das auf- umgeschaltet 56% zeichnet, welche Personen des Haushalts zu welcher Zeit welche Programme gucken. „ÄRGERLICH?“ Per Knopfdruck sollen diese Zuschauer An welche Werbespots aus dieser eingeben, wann sie auf die Toilette gehen Haben Sie die Werbeblöcke gestern Sendung erinnern Sie sich? oder an den Kühlschrank. während der Sendung „ran“ durch- 1. an keinen 61% Die in die GfK-Rechenzentrale per Tele- gehend gesehen, oder haben Sie wäh- 2. Melitta 9% fonleitung übermittelten Daten werden zur rend der Werbeblöcke umgeschaltet? Quote für die Sendung hochgerechnet und 3. Nivea 7% an die Fernsehsender und Media-Agen- ...die Werbung durchgehend 4. LTU 6% turen weitergegeben. Diese Zahlen ent- gesehen 46% 5. 8x4 4% scheiden letztlich darüber, wie die Milliar- ...während der Werbung 6. Dentagard 4% den in der Fernsehbranche verteilt werden: umgeschaltet 54% In einer Sendung wie „ran“ mit meist hohen LTU wurde nicht beworben. Quoten ist es doppelt so teuer, einen Werbe- In „Zurück in die Zukunft“ wurden 52 spot zu schalten, wie in einer Sendung, die An welche Werbespots aus dieser Werbespots gezeigt, 6 davon zweimal. nur halb so viele Zuschauer hat. Sendung erinnern Sie sich? 37 dieser Spots wurden überhaupt nicht Die Werbetreibenden zahlen bis zu erinnert. 115000 Mark für einen 30-Sekunden-Spot 1. an keinen 60% in „ran“, weil sie davon ausgehen, daß 2. Beck’s 12% die Millionen Fußballfans ihren Spot 3. Mazda 6% sehen und sich an ihr Produkt erinnern. 4. Ariel 5% Tun sie das? Am Sonntag, dem 13. August, hat das 5. Diebels 5% Emnid-Institut im Auftrag des SPIEGEL 6. Melitta 5% telefonisch 6504 repräsentativ ausgesuchte Weder Ariel- noch Melitta-Spots liefen Deutsche gefragt, ob sie am Vortag die Sen- in „ran“, Beck’s ist der Sponsor der Sen- dung „ran“ gesehen haben. 74 Prozent von dung. ihnen hatten am Samstag ferngesehen, 21 Prozent dieser Zuschauer hatten „ran“ In „ran“ wurden 40 Werbespots gezeigt, „UNTERHALTSAM?“ eingeschaltet. 8 davon zweimal, einer fünfmal. Jeder zweite Zuschauer sagt, er habe die 28 der 40 Spots wurden überhaupt nicht Werbeblöcke während der Sendung nicht erinnert. Wie finden Sie Werbung gesehen. Auf die Frage, an welche Spots sie im Fernsehen? sich erinnern können, antworten 60 Pro- ärgerlich 51% zent, sie könnten sich an keinen Spot erin- Können Sie sich an die Spots informativ 15% nern. Insgesamt 86 Spots wurden erinnert, folgender Marken erinnern, die langweilig 32% von denen aber nur 12 tatsächlich in der in „ran“ liefen? Sendung liefen. unterhaltsam 22% Auch die während des Spielfilms Mazda „Zurück in die Zukunft“ am selben Tag um ja 52% nein 48% 20.15 Uhr auf RTL gelaufenen Spots haben Was tun Sie gewöhnlich, eine kaum meßbare Wirkung bei den Zu- Nestlé Chocapic wenn Werbung im Fernsehen schauern hinterlassen (siehe Tabelle). ja 40% nein 60% ausgestrahlt wird? Für über sechs Millionen Mark wurden in den beiden Sendungen Spots geschaltet. Protector (Wilkinson) ...sehe mir interessiert Besonders enttäuscht dürfte die Firma ja 48% nein 52% das Programm an 11% Adidas sein: Fünf Spots der Marke (mit de- Marlboro ...lasse das Programm nen für den Kauf der Trikots von Bayern ja 28% nein 72% weiterlaufen, sehe aber München geworben wurde) liefen in der nicht interessiert zu 21% Sendung „ran“; null Prozent der Zuschauer Ein Spot für Marlboro lief nicht in „ran“; ...verlasse den Raum 18 % erinnerten sich an Adidas, ein Prozent an wie jede Zigarettenmarke darf Marlboro Bayern München. Kosten des Werbefeuer- seit 1974 im Fernsehen nicht mehr wer- ...schalte um 53% werks: über 400000 Mark. ben. ...sehe in die TV-Zeitschrift 9% *Umfrage für den SPIEGEL am 13. August 1995. Frage 1 bis 5: 6504 Befragte; 4795 hatten am Vortag ferngesehen, 991 Zuschauer hatten die Sportsendung „ran“ bei Sat1 gesehen, 729 den Spielfilm „Zurück in die Zukunft“ bei RTL. Frage 6 und 7: 1000 Befragte, Mehrfachnennungen möglich.

120 DER SPIEGEL 35/1995 . ACTION PRESS Dauerwerbesendung „Glücksrad“: An jedem Tag 3048 Spots, macht 19 Stunden Werbung täglich

stern deinen Spot im Fernsehen gese- ten der eigenen im Fernsehen laufenden lich 17,8 Milliarden Mark Werbegeldern hen.“ Spots hinzuweisen, wenn eine Kampa- entschieden, und nach Meinung von Obwohl sie diesen Spot gar nicht ge- gne beginnt. Da herrscht Premieren- Thomas Koch sind in vielen dieser macht haben, sind sie glücklich, denn es stimmung in der Chefetage, und die Agenturen schlecht ausgebildete Leute ist ihr Spot. Es ist ihnen vorher nie pas- Zeitpläne garantieren, daß die Manager am Werk, die nicht genau überlegen, für siert, daß einer über die Hecke gerufen ihre Spots auch wiederfinden im Gewit- welche Marken, welche Etats und wel- hat: „Mensch, ich habe gestern deine ter der Commercials. „Was dann später che Zielgruppen das Fernsehen taugt. Anzeige gesehen.“ passiert, in welchem Umfeld die Spots „Jahrzehntelang durfte bei den Öffent- Dieses neue Glück der Markenmana- plaziert sind“, kritisiert Koch, „darum lich-Rechtlichen nur 20 Minuten am Tag ger erkläre, sagt Thomas Koch, warum kümmern sich die meisten Werbeagen- geworben werden, jetzt grassiert da eine im letzten Jahr 3129 Marken im Fernse- turen nicht, und die Geldgeber schon Art Rausch, sich im Fernsehen zu se- hen beworben wurden, entgegen aller gar nicht.“ hen, bei den Werbetreibenden wie bei Vernunft und aller Ökonomie. Koch lei- Die Media-Agenturen schalten die den Werbeagenturen, und viele Media- tet die größte unabhängige Media- Spots nach rein ökonomischen Krite- Agenturen ergeben sich diesem Druck.“ Agentur Deutschlands, verteilt jährlich rien, und so passiert es, daß „Der Exor- Nicht nur ob eine Marke im Fernse- über 350 Millionen Mark Werbegelder zist“ für Unox-Suppen unterbrochen hen um Aufmerksamkeit buhlen sollte, seiner Kunden an die Medien und wun- wird, „Nightmare on Elm Street“ für sondern auch wann und wo, wird nicht dert sich seit einigen Jahren darüber, Pampers und das Kinderprogramm für konkret, also markentypisch entschie- daß die Zahl der Spots und Marken im den. Vom Kinderprogramm abgesehen, Fernsehen so steigt, als würden in den versammle das Fernsehen immer einen Firmen und Agenturen wild gewordene Der Rausch, Zielgruppenbrei vor den Apparaten, Maschinen die Millionen ausschütten. sich im Fernsehen sagt Koch, selbst bei manchen Jugend- Seit 1988 hat sich die Zahl der im sendungen sei die Hälfte der Zuschauer Fernsehen beworbenen Produkte ver- zu sehen über 50 Jahre. Und die beliebten „Mei- doppelt und die Zahl der Werbespots nungsführer“, die Hochgebildeten und verfünffacht. 1994 waren 1 112 487 Diebels-Alt. Die Planer buchen nach Gutbetuchten, erwische man gar nicht Spots im Fernsehen zu sehen, pro Tag Preistabellen, beziehungsweise ihre oder nur mit großen Streuverlusten oder also 3048 Spots, macht 19 Stunden Wer- Computer errechnen, wann der Preis für in ganz kleinen Gruppen bei n-tv, CNN bung täglich. Jeder Zuschauer sieht am tausend Zuschauer der angepeilten Ziel- „oder wenn im DSF Golf übertragen Tag durchschnittlich 12 Minuten Wer- gruppe am günstigsten ist – am billigsten wird“. bung, da kann er noch so viel zappen, ist dieser Tausend-Kontakt-Preis natür- Immer mehr Unternehmen, mißtrau- sein Blick fällt auf 33 Spots – 3015 Spots lich tief nachts. isch geworden, lassen inzwischen die rauschen ins statistische Nichts. Die Spotpreise variieren nach Sender, Wirkung ihrer Werbemillionen messen „Nur noch eine Wahrnehmungschan- Sendung, Tageszeit und der Altersstruk- und erfahren dann wenig oder Seltsames ce von unter einem Prozent hat ein tur der Zuschauer. Beim ZDF zum Bei- über ihre Konsumenten. Daß sie gern Spot“, sagt Koch. Der durchschnittliche spiel kosten tausend Zuschauer unter 50 „Glücksrad“ gucken zum Beispiel oder Etat pro beworbener Marke liege bei Jahren 58,86 Mark, über 50 aber nur „Wrestling“ auf RTL 2 oder daß sich ih- 2,8 Millionen Mark, aber 6 Millionen 19,83 Mark – der Sender hat viele ältere re Spots vor allem die 60jährigen ge- Mark seien heute nötig, um überhaupt Zuschauer, die für Werbetreibende merkt haben und nicht die 30jährigen, Wirkung im Fernsehen zu erzielen. nicht so interessant scheinen, weil ihre die das neue, junge, flotte Auto kaufen Über die Hälfte aller TV-Kampagnen Markentreue ausgeprägter ist als bei sollen. seien wirkungslos. Jüngeren. Dem Preis, den die Sender für einen In vielen Vorständen von Unterneh- In den 50 Media-Agenturen Deutsch- 30-Sekunden-Spot nehmen, um 20.10 men ist es heute üblich, auf die Uhrzei- lands wird über die Verteilung von jähr- Uhr oder 23.30 Uhr, liegt die Erwartung

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zugrunde, daß zueiner gewissen Zeit eine der die Sender das neue Werbeumfeld lich noch freut, wenn ihn die Leute rein- gewisse Zahl von Zuschauern mit einer feiern. Für Sat 1 tingeln gegenwärtig lassen. Fernsehen, das war für ihn das gewissen Altersstruktur vor dem Fernse- Fred Kogel und Harald Schmidt von große Fest der Industriegesellschaft, auf her sitzen wird, aber in Wahrheit ist na- Media-Treffen zu Media-Treffen, zei- dem die Zuschauer nicht nur unterhal- türlich fast alles ungewiß. Die Sender ge- gen den Agenturplanern auf Videos ten, sondern klüger werden sollten, ben keine Quotengarantie und kein Geld die neuen Sat-1-Seller, verteilen Pro- auch wenn der Wissenszuwachs nur dar- zurück, bezahlt ist bezahlt. „Fernsehwer- grammschemata und Preistabellen. in bestand, daß die Leute vor den Fern- bung ist ein Abenteuer“, sagt Koch. „Die wollen beides“, kritisiert Koch, sehapparaten sagten: „Aha, es ist also Wenn bei diesem Spiel ohne Gewähr „die wollen viele Zuschauer, um möglich, daß eine Planierraupe einen dietatsächlicheZahlderSeherum Millio- Marktführer zu werden, und die wol- Bindfaden einfädeln kann.“ Die große nen unter den Erwartungen bleibt, müs- len gleichzeitig ihre Zuschauer verjün- Integration nach Feierabend. Und nicht sen die Sender schon mal kostenlose Er- gen. Das ist schwierig genug, aber mit nur dann. „Ich habe die Deutschen mor- satzzeiten spendieren – bei Frank Elst- dem Programm so gut wie unmöglich.“ gens geweckt, und ich habe sie nachts ners Samstagabend-Show „Flieg mit Große Vorsicht hat Koch seinen Pla- ins Bett gebracht“, sagt Frank Elstner. Air-T-L“ beispielsweise, die mit einem nern bei der Spotbuchung in den neu- Dann kam die Fernbedienung. Und er Spotpreis von 100 000Mark eine Spitzen- en Sendungen verordnet: Alle Sender wurde ausgesperrt. sendung werden sollte, tatsächlich aber haben den Media-Agenturen für das Elstner ist kein armer Mann. Er be- eine legendäre Quotenniete wurde. kommende Jahr einen steigenden sitzt eine Produktionsfirma, deren Je höher der Spotpreis einer neuen Marktanteil versprochen – wie jedes Shows in 15 Ländern laufen. RTL-Chef Sendung, desto lauter ist die Show, mit Jahr. Thoma sagt über Elstner: „Der ist zu kreativ, da sind halt auch eine Menge Flops dabei. Aber er ist der einzige un- Einstein ter den deutschen Showmastern, der zwei große Ideen gehabt hat: ,Wetten, Frank Elstner ist sauer, Elstner hat es dem Thomas nicht ge- daß . . .?‘ und ,Mann-o-Mann‘. Leider oder vielleicht tut er auch schrieben – er hatte früher 20 Millionen. beide ned bei uns.“ nur so. Er sitzt auf der Die bekommt er nie wieder – aber, Elstner ist der Einstein unter den Rückbank eines schwarzen wenn er mit „April, April“ fünf Millio- deutschen Moderatoren, der einzige Er- Mercedes und beschwert sich: „Ich mag nen erreiche, „das wäre schon toll“. finder, längst könnte er sich zurückzie- keine Pressekonferenzen, auf denen Deshalb erträgt er jetzt als Produzenten hen hinter den Bildschirm. Für viele neue Sendungen vorgestellt werden. Da auch Hugo Egon Balder, der früher den Leute wäre das eine Wohltat, für ihn werden nur riesige Erwartungen ge- Blödmann spielte bei Sendungen wie wäre es eine Art Abschiebehaft. Denn weckt.“ „Tutti Frutti“, deshalb tritt er im Vor- er habe fünf große Samstagabend- Elstner hat gerade der Presse – ausge- spann ohne Krawatte auf, deshalb wi- Shows in der Schublade, die alle gut lau- rechnet im Hamburger Wachsfigurenka- derspricht er nicht, wenn Balder sagt: fen würden. Das geht nur nicht, weil binett – verkündet, daß er eine neue „Die Zeit der Heizdeckenverkäufer ist sein Image zur Zeit ziemlich ruiniert ist. Sendung moderieren wird. Es ist die 17. vorbei. Die Leute haben die Nase voll Bald wird er Arbeitsminister Norbert in seiner TV-Laufbahn, und sie heißt von Typen, die ihnen erzählen: ,Guten Blüm vor einer versteckten Kamera „April, April“ – ein weiterer Versuch, Abend, meine Damen und Herren, ich beim Grenzübertritt nach Finnland mit einer versteckten Kamera die Leute freue mich heute wahnsinnig, daß ich Schnaps in die Kaffeekanne füllen, und am Umschalten zu hindern. Angeblich bei Ihnen sein darf.‘“ vielleicht wollen ja fünf Millionen se- eine sichere Sache. Und das beruhigt Das Problem ist nur, daß Frank Elst- hen, wie Elstner aus dem Gebüsch stol- Elstner oder auch nicht. „Ich weiß, bei ner wahrscheinlich der letzte deutsche pert und sagt: „Hahaha, Norbert, ist dieser Sendung wird 40mal gelacht“, Fernsehmoderator ist, der sich tatsäch- doch alles nicht so schlimm.“ sagt er. Gelacht haben viele Deutsche in den letzten Jahren über Elstner, weil seine Sendungen eine Katastrophe waren. Er, der Zeremonienmeister der großen Samstagabend-Show, wurde zum Prü- gelknaben für jedermann. Er kam mit Rubbelkarten oder Flugreisen nach Is- land und wurde immer schneller öffent- lich ausgezählt. Jetzt hat er eine Halb- stunden-Sendung am Nachmittag, die „Jeopardy!“ heißt und über die Thomas Gottschalk sagt: „Er steht da und liest Fragen von Kärtchen ab. Dahin möchte ich nicht kommen.“ Niemand möchte so enden wie Frank Elstner, am wenigsten Frank Elstner selbst. Ja, er sei kein Front-Page- Mensch mehr, sagt er. Ja, seine letzten Shows seien viel zu belehrend gewesen, ja Unterhaltung mit dem Zeigefinger, das sei eine Todsünde, aber „Jeopar- dy!“, mit seiner stabilen Quote von 1,5 Millionen am Nachmittag, das sei doch

was, sagt er. „Schreib das doch dem FOTEX Thomas“, hat seine Frau gefordert. TV-Unternehmer Elstner: „Ich habe die Deutschen ins Bett gebracht“

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Vielleicht auch nicht. Für Balder auch Für die Fotografen auf der Presse- kein Problem. „Entweder es wird ge- konferenz hat er sich zwischen die lacht oder nicht“, sagt er. „Wenn ge- Wachsfiguren von Kohl und Genscher lacht wird, gibt’s das nächste Woche gezwängt. Elstner grinste und krümmte wieder, wenn nicht, dann ist Feier- den Daumen, als wolle er ein Auto abend.“ oder die Zeit oder was auch immer an- Frank Elstner zupft seine Krawatte halten. Die Motoren der Kameras setz- zurecht. „Ach ja“, sagt er, „hoffentlich ten sich in Bewegung. Elstner ruderte haben wir eine gute Quote, dann wird jetzt mit dem ganzen Arm und mur- man auch sagen, die Sendung ist gut. melte: „Ich kriege euch alle, ich kriege Das Leben ist so geworden.“ euch alle.“ Hamburger TV Jörg Hoppe schlurft über kehrt gemacht. Nicht, weil er älter wird. den Gang seines Büros und Sondern, weil er immer noch da ist. murmelt: „Scheiße, keine Die MME hat sich auf Pop-Fernsehen Cola.“ Cola gibt es nur im spezialisiert. Die Firma beschäftigt rund anderen Flügel des Büros, und da 150 Mitarbeiter und wird in diesem Jahr schlurft Hoppe jetzt nicht hin, weil er ungefähr 35 Millionen Mark umsetzen. dazu Türen mit einer elektronischen Das kommt zusammen, weil hier die Karte öffnen müßte, der Weg weit ist Teenie-Sendung „Bravo TV“, der Mu- und ihm der Laden schließlich gehört. siksender VH-1 und die Sex-Talkshow

Er nimmt das Telefon und bestellt. „Peep!“ betrieben wird. MME Eine halbe Stunde später bringt ein jun- „Fernsehen“, sagt Jörg Hoppe, „ist TV-Produzent Hoppe ger Mann eine Flasche Cola. Als er wie- wie McDonald’s. Niemand braucht es, Je trashiger, desto besser der draußen ist, fragt Hoppes Kompa- man pfeift es sich rein und, wenn es drin gnon Christoph Post, ob der Bursche ist, dann stößt es komisch auf.“ 29jährigen in Deutschland hat sich zwi- bei ihnen angestellt sei. „Glaube Mancher Tele-Mac wurde von den schen 1970 und 1994 um genau 6Minuten schon“, murmelt Hoppe. „Ich kenn’ ihn Kunden wieder ausgespuckt: die Com- erhöht, auf knapp zwei Stunden. Die nur aus der Stadtzeitung Prinz“, antwor- putersendung „X-Base“. Als „interakti- über 50jährigen dagegen schauen heute tet Post, „da stellt er sich als bester ves Magazin“ geplant und jeden Nach- mehr als doppelt so lange fern wie 1970, Liebhaber Hamburgs vor.“ mittag im ZDF gesendet, war sie nach genau 3 Stunden und 49 Minuten. Es arbeiten eine Menge junger Leute wenigen Monaten am Ende. Statt der Gern schalten Jugendliche den Fern- in der Firma Me, Myself & Eye, kurz angepeilten jungen Zielgruppen saßen sehapparat ein, um sich Kinofilme zu MME genannt. Sie kommen und gehen, fast nur Rentner vor dem Fernseher. Hause noch einmal anzuschauen. 1994 und wer über 30 ist und immer noch Die Fernsehgeneration guckt eher ganz vorn: „Kindergarten Cop“, gefolgt nichts zu sagen hat, der hat etwas ver- wenig fern. Der TV-Konsum der 14- bis von „Werner – Beinhart“ und „Robin Hood – König der Diebe“. Auf den Plätzen dann Sen- dungen wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, „Bravo TV“ oder „Arabella Kies- bauer“ – MacFernsehen. Das Erfolgsgeheimnis: Je trashiger, desto besser. Im Zeitalter der Videokamera sieht es so aus, als würden Jugendliche nur noch die große Hollywood-Inszenie- rung dulden oder Bilder, die sie auch selbst jeden Tag so hinkriegen könnten. Deshalb ist die MME ei- ne der wenigen Produkti- onsgesellschaften, die den Goldrausch der frühen Pri- vatfernsehtage überlebt ha- ben. Post und Hoppe haben begriffen, daß die Inflation der Programme das Medi- um schnell entwertet und daß nur dauerndes Aus- spucken und Wegwerfen ih- re Existenz sichern kann. „Wenn ich eine Sendung dreimal gemacht habe“,

ACTION PRESS sagt Hoppe, „fängt sie an, Pop-Moderatorin Makatsch: Fernsehen ist wie McDonald¯s mich zu langweilen.“

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Die Hälfte der 2,4 Milliarden Mark, Auch die Firma von Hoppe, dem ehe- Eines aber weiß Kröhne ganz genau: die von den Sendern an Produktionsge- maligen Manager einer Rockband, und „Unsere einzige Mission ist es, Geld zu sellschaften fließen, landet bei fünf Fir- Post, dem ehemaligen Musikwissen- verdienen.“ men: der Bavaria, der holländischen schaftsstudenten, war oft kurz vor der Das wird Rainer Langhans nicht freu- Endemol, der Kirch-Gruppe, Studio Pleite, weil eine sogroße Firma miteinem en, der gefordert hat, daß ein gewählter Hamburg und der Bertelsmanntochter Stammkapital von 50 000 Mark eigent- Frauenrat den Sender kontrollieren sol- Ufa. Mit ihren industriellen Produkti- lich nie Geld hat. le. Und auch ein paar andere, die immer onstechniken diktieren sie die Preise. Vor sieben Monaten stieg der Bauer noch glauben, ein Frauensender sei min- „Von wegen Goldgräberstimmung“, Verlag ein und kaufte 35 Prozent der An- destens so etwas Ähnliches wie eine Re- sagt Christoph Post. „Heute haben wir teile. Jetzt überwachen Controller, für volution, werden wieder eine vertane längst Down-Town. Tagsüber wird gear- was die Kreativen ihr Geld rauswerfen. Chance bejammern, die es nie gegeben beitet, nachts ist nichts los, und zwi- „Früher“, sagt Hoppe, „war abends hat. „Fernsehen ist eine Sache der Gro- schen den Giganten bewegt sich nicht manchmal der Geldbeutel leer – heute ßen“, sagt Kröhne. „Das wäre doch mehr viel.“ weiß ich wenigstens, weshalb.“ schrecklich, wenn sich ein paar Mittel- ständler einen Sender leisten und damit dann pleite gehen würden.“ Frau Kröhne TM3 gehört zur Hälfte Tele München und zur Hälfte dem Bauer Verlag. Pro An einem sonnigen Freitag Daraufhin gab es Ärger. „Der Rollback Jahr darf Kröhne 100 Millionen Mark morgen steht Jochen Kröh- sei in vollem Gange“, empörte sich die ausgeben. Der Sender ist in Bayern, ne in seinem Arbeitszimmer Süddeutsche Zeitung, die taz höhnte: Nordrhein-Westfalen und Hessen über auf dem Münchner Bavaria- „Frau habe sich im hochemanzipierten Kabel zu empfangen. Anfangs hofft Gelände, eine Hand in der Hosenta- Spannungsfeld zwischen Pretty Woman Kröhne auf eine Sehbeteiligung von 0,5 sche. Mit der anderen Hand hält er ent- und Anna Maria behaglich eingerich- Prozent. schlossen eine Kaffeetasse, die einem tet.“ TM3 ist ein sogenannter Spartenka- bunten Papagei nachempfunden ist. Die Und Kröhne hat weitergelächelt. An- nal. Da die großen Sender allmählich Art Tasse also, an der jeder Trottel ei- dere Sender müssen erst für viel, viel nicht mehr zulegen können und auch nen Angehörigen der neuen, lockeren Geld Programm machen, ehe sie je- ein Mann wie Helmut Thoma meint, Chefgeneration erkennen daß auf die Dauer nur kann. Er weist über die drei Vollprogramme in Straße auf ein Haus aus Deutschland Gewinn ab- Pappe – eine Kulissen- werfen werden, suchen In- wand. „Sehen Sie“, sagt vestoren jetzt mit Sparten- Kröhne, weil ja heute je- kanälen nach Geld. der lockere Chef nicht nur So kann es passieren, einfach Chef ist, sondern daß gegenwärtig mit VH-1 auch ein kleiner Philo- und Viva 2 allein in soph, „das ist Fernsehen. Deutschland zwei Musik- Alles nichts als Fake, alles kanäle um die Sympathie eine große Fälschung.“ der 25- bis 45jährigen Jochen Kröhne, früher kämpfen; an Kinder-, Programmdirektor von Wetter- und Dokumentati- Tele 5 und Programmchef onssendern wird gearbei- von Premiere, wird heute tet. von denselben Leuten be- Thoma denkt zusammen zahlt, die auch bei Hoppes mit den Öffentlich-Recht- MME eingestiegen sind. lichen über einen Ratge- Er ist ein Mann, der gern berkanal nach; WDR-In- und oft lächelt. Er lächelt tendant Fritz Pleitgen wie einer, der sich an die träumt von einem europäi- Vorstellung gewöhnt hat, schen Parlamentskanal. daß ihm nicht viel Schlim- Natürlich erreichen sol- mes passieren kann im Le- che Programme immer we- ben, solange er lächelt. niger Zuschauer, und na- Und wenn dann doch ein- türlich sind Sender, die mal etwas schiefgeht, sich ein Kleinstpublikum

dann lächelt er einfach A. POHLMANN / HAMANN suchen müssen, ein großes weiter. Bis es wieder bes- Frauensender-Chef Kröhne: „Bella, Prima oder Clara“ Risiko. Aber darum geht ser wird. es nur nebenbei: Vor allem So hat er es auch in den letzten Wo- mand bemerkt. Kröhne tat das Gegen- wollen die Unterhaltungskonzerne die chen gehalten, als er vielen engagierten teil. Kein Programm, kein Anliegen, letzten freien Kabelplätze besetzen, deutschen Frauen erklären mußte, was das auch noch zugeben, und kurz darauf um den Markt abzuschotten. Also erst sie denn zu erwarten haben, von diesem mußten alle Deutschen in der Zeitung mal einen Sender hinstellen – was ein- Frauensender, für den Jochen Kröhne lesen, daß es einen Frauensender gibt. mal daraus wird, das sieht man dann verantwortlich ist. Das klingt natürlich so, als sei Kröhne schon. „Nach 18 Monaten wird man Er hat gelächelt und gesagt, was sein ein großer Stratege. Dabei ahnt er bis wissen, ob das Projekt eine Zukunft Sender nicht ist. „Kein Feministensen- heute nur in Schlagworten („feminin, hat“, sagt Jochen Kröhne. „Wenn wir der mit gereckter Faust“, „kein Frauen- aber nicht feministisch“), mit denen bis dahin nicht angekommen sind, ist buchladen“, „kein Hausfrauenkanal“, man nicht einmal mehr eine Strumpfho- Ende. Nur noch ein Irrer würde dann „keine verfilmte Frauenzeitschrift“. se verkaufen kann, was TM3 sein soll. weitermachen. Mir kann nichts passie-

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ren. Zwei Jahre Arbeit. Der nächste gibt, dann kommen die Jungs mit so Werbekundenbetreuerin des Senders Job.“ Schraubenziehern und Leitern und Din- jubelnd auf Kröhne zulief, ein paar Sollte das Unternehmen Frauenpo- gern, die Phasenprüfer heißen, und Zettel in der Hand hielt und rief: „Das wer scheitern – der Schaden für die Mit- schließen Drähte an, und auf einmal sind die ersten drei Buchungen für un- arbeiter hielte sich in Grenzen. TM3 hat gibt es Licht. Ich finde, ein Frauensen- sere Werbeblocks.“ Das erste Pro- sowieso nicht viele: eine „schmale Fir- der muß uns sagen, wie so etwas geht.“ dukt, für das auf TM3 geworben ma“, wie sich Jochen Kröhne freut. Ei- Das ist doch was. Alles wird gut. werden sollte, ist ein Müllschluk- ne Frau kauft Programme, eine Frau Aber das war schon gestern klar, als die ker. kümmert sich um die Werbekunden, und der Rest trägt warmes Mineralwas- ser durch die frisch getünchten Räume, Der Vagabund wenn es heiß wird. In Dortmund sitzen ehrgeizige Mäd- Wieder einer von diesen TV“, als Chefredakteur bei „Schreine- chen, die zu einem lächerlich niedrigen Tagen, an denen es der lie- makers live“. Minutenpreis von rund 400 Mark an so- be Gott nicht gut meint mit Bergers Leute gehören zu der inzwi- genannten Infotainmentmagazinen ba- den Menschen auf dem schen großen Schar von Obdachlosen im steln. Ihre Themen: Warum fahren Boulevard: Der Mann, der gegen den Media-Space, die schwerelos zwischen Frauen so kleine Autos. Haßobjekt Ho- Strommast krachte, entkam den 270 000 „Fliege“ (ARD) und „Hans Meiser“ senrock. Ein Mann allein genügt mir Volt; daß besprühte Schnittblumen aus (RTL) hin und her schweben, zwischen nicht. Dazu pro Sendung ein Prominen- Kenia bei deutschen Fleurop-Frauen zu „Akte 95“ (Sat 1) und „Arabella“ (Pro ter. Koschwitz hat schon zugesagt. Mißgeburten führen, istnoch nicht zu be- Sieben). Siedocken da an, wo die Quoten „Aber Vorsicht, nicht darüber reden“, weisen; und der Mann, der neun Jahre zu stimmen und die Tagessätze, liefern ein sagt die dortige Chefin, früher bei der Unrecht in der Psychiatrie saß, lief ge- paar Monate lang ihre Storys und vermie- Sat-1-Frauenshow „Mann-O-Mann“, stern bei der Konkurrenz von der ARD. ten ihre Beziehungen, bis sie rausfliegen „sonst sagt er noch ab. Wahrscheinlich Die Redakteure des Boulevard-Maga- oder selbst den Sender wechseln, um ihre müssen wir in Zukunft unsere Promi- zins „taff“ brüten in typisch Münchner Stoffe zu recyceln. nenten eine Stufe unter Koschwitz suchen.“ Wenn in 18 Monaten aus einem Frauensender etwas ganz anderes wird, dann kann sich Jochen Kröhne nicht vorwerfen, daß er sich nicht Mühe gegeben hätte. TM3 bedeutet Tele Mün- chen Drei, aber Kröhne zieht Papiere aus seinem Regal, die beweisen, daß er und seine Freunde wirklich nachgedacht haben über ihr Frauenprojekt. „Wir haben überlegt, ob wir das Unter- nehmen Fun, Win, Look oder Flair nennen sollen.“ Einmal sei man beim Italie- ner essen gewesen, und her- ausgekommen seien Na- men wie Bella, Prima oder Clara. „Das war ziemlich unbefriedigend“, meint Jo-

chen Kröhne. Das nächste W. M. WEBER MalseimanzumJapaneres- Magazin-Chef Berger: „Fußpilz im Strandkorb, Fleischkrieg in Bremen“ sen gegangen. Es ist Samstag abend, und Jochen Schweinehitze über den Themen des Ta- Auch Berger schwebte in der Luft, Kröhne gibt eine Party in seinem Haus ges. Heute abend um 19.30 Uhr soll ihre seit Schreinemakers Ehemann ihn raus- im vornehmen Münchner Harlaching. Raritätenshow eine Million Zuschauer boykottiert hatte; er wurde vom Pro- Sehr nett: Kinder spritzen mit Wasserpi- anziehen und morgen wieder und über- Sieben-Geschäftsführer Georg Kofler stolen herum, Männer versuchen, Bier morgen auch. Ihre Arbeitspapiere, die aufgegriffen, zunächst nur als „persönli- aus einem Bierfaß zu holen, und dazwi- Boulevardzeitungen vom Tage, liegen cher journalistischer Berater“, aber weil schen laufen ein paar schöne Frauen vor ihnen und auch ihre Handys, so, als beide schon beim zweiten gemeinsamen herum. In Kröhnes Wohnzimmer liegt müßten sie ihrem Chef Gerd Berger be- Mittagessen nicht wußten, was das ei- die Moderatorin Bettina Rust auf einem weisen, daß sie die drahtigsten Ge- gentlich ist, forderte Kofler seinen neu- Kissen und gibt ein Interview. Bald ist schichtenaufreißer der Branche sind. en Mann auf, die Ideen doch am besten Sendestart. Berger hat sie vor vier Monaten aus al- gleich selbst umzusetzen. Es geht gegen Mitternacht, eine Ka- len Teilen des Landes und allen Sendern Kofler hatte es eilig mit dem Journa- mera steht vor Frau Rust, und sie der Republik zusammengekratzt; sie lismus, weil er diesen merkwürdigen schlägt die Augenlider nieder, als einer sind gekommen, weil er gut zahlt und Fernsehsender leitet, der auch dem aus dem Off fragt, was sie sich denn von weil sie ihn kennen aus seiner Zeit als Kirch-Sohn Thomas gehört und eine Li- einem Frauensender erwarte. „Also“, WDR-Abteilungsleiter, als Miterfinder zenz für ein „Vollprogramm“ hat, bisher sagt Frau Rust, „wenn es kein Licht von „ZAK“, als Gründer von „Stern- aber nur Spielfilme und Serien abgenu-

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Werbeseite .

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delt hat und deshalb Schwierigkeiten zent der Zuschauer unter 50 Jahre alt während der Dreharbeiten zum „Schat- fürchten muß. sind, ist gut für den Spotpreis, der liegt tenmann“ mit der Montage. Ein paar Seit der Sender 1986 in Kiel unter jetzt bei 26 000 Mark. Monate später sah sich Wedel zum er- dem Namen „Eureka“ von fundamenta- Das „Quotendoping“ hat Berger bei stenmal konzentriert an, was Grodecki listischen Christen, Videoclip-Fanati- „Stern-TV“ gelernt, die Kunst, die Zu- angestellt hatte. Und bekam einen Tob- kern, Filmjournalisten und einer Firma schauer mit Inzest und Gattenmord an- suchtsanfall. „Der Bursche“, schreit gegründet worden war, die in Wartezim- zusaugen und dann mit der Klimakata- Wedel, ja, er beginnt heute noch zu mern von Ärzten Videoprogramme zei- strophe wieder auszuspucken. „Reste schreien, wenn er an diesen Burschen gen wollte, verstößt der Sender unge- von Aufklärertum“ seien ihm geblieben denkt, „hatte meinen Film vernichtet. stört gegen das schleswig-holsteinische bei seinem Marsch durch die Redaktio- Er hatte ihn kaputtgeschnitten. Und Mediengesetz. Auch seit im Oktober nen, sagt der Ex-Ex-Ex-WDR-Abtei- das, was er nicht kaputtgeschnitten hat- 1988 der Kirch-Sohn 49 Prozent der An- lungsleiter. Gelernt hat er auf dieser te, das hatte er durcheinandergebracht. teile erworben hat, schauen die Medien- Reise, was jede erfolgreiche Sendung Wir suchen heute noch Szenen!“ wächter auf den Spielfilmkanal wie Blin- heute bieten muß: Sie muß einen Star Die Rettung war dann seine Cutterin de. haben, der in jede Familie paßt; sie muß Tanja Schmidbauer, und auf dem Weg Heute ist Pro Sieben mit Werbeein- dem Zuschauer die Geborgenheit im Ri- zu der befindet sich Wedel gerade. Er nahmen von 1,1 Milliarden Mark der ge- tual bieten, wie es die „Tagesschau“ tut trägt einen lila Anzug von Armani, ein winnträchtigste deutsche Sender, ver- und „Schreinemakers“ und „Hans Mei- weißes Hemd aus Seide und dazu doppelte innerhalb eines Jahres seine ser“; und man muß die Zeit und das schwarze Stiefeletten. Ein Aufzug also, Erlöse und veröffentlicht einen Über- Geld haben, die Leute von diesem Ritu- der der Welt verkündet: „Hier kommt schuß von 140 Millionen Mark. Tatsäch- al abhängig zu machen. der große Wedel, paßt auf.“ lich dürfte Kirch 1994 aber 500 Millio- Bergers Bilderjäger kennen das Ritu- „Wir sind spät dran mit unserem nen Mark von seinem ehemaligen Büro- al des Boulevards von innen und außen, Film“, sagt Wedel, „weil wir auf Frau leiter Kofler überwiesen bekommen ha- und darum werfen sie sich auf ihren Schmidbauer warten mußten. Sie hatte ben, schätzt RTL-Chef Thoma. Konferenzen feixend die Themen zu: andere Projekte. Kein Wunder, sie ist Berger darf 5000 Mark pro Sendemi- „Todesfalle Amalgam“, „Fleischkrieg in eine der wenigen Cutterinnen in nute ausgeben, soviel wie bei „Stern- Bremen“, „Turnschuhallergie“, „Game- Deutschland, die einen Film nicht ein- TV“. Drei Monate nach Beginn liegt boy-Sucht“, „Raupenplage in Bietig- fach nur zusammenklebt.“ Berger im Quotensoll; daß sogar 87 Pro- heim“, „Fußpilz im Strandkorb“ . . . Dann holt er Luft und erzählt, daß Deutschland sich fernsehtechnisch auf dem Stande eines Entwicklungslandes Der Gebührenverschwender befinde – zuviel, zu billig, zu schnell produziert werde, ja es sei eigentlich Dieter Wedel sitzt in einem Lauterbach und Adorf an, „daß der sei- schon die Regel, daß heute einer, der Flugzeug von Hamburg nen Text hören will.“ „Du Arschloch“, früher einen mittelmäßigen Kameraassi- nach Berlin und blättert in brüllte Lauterbach zurück, „das weiß stenten abgab, auf einmal als Regisseur einem Stoß Papier, der man einfach, daß Wedels Drehbücher arbeiten dürfe. nach dem Start wie ein Drehbuch aus- besser sind als der übliche Drehbuch- Schon zu Zeiten, als das öffentlich- sah. Jetzt kurz vor der Landung gleicht Dreck. Und deswegen lernen wir sie rechtliche Fernsehen noch das Sende- der Stapel einem Malbuch für Tobsüch- auswendig.“ monopol hatte, gab Wedel für seine Fil- tige. Durchgestrichene Wörter, termi- Zum Beispiel der Cutter Wictor Gro- me gern so viel Geld aus, daß die Inten- nierte Absätze, vernichtete Dialoge. decki. Der eifrige Mann begann schon danten anfingen, dummes Zeug zu re- Schließlich wirft Wedel diesen Haufen Altpapier zur Seite. Später sagt er: „Das ist nicht zu retten. Von diesem Zeug krieg’ ich schlechte Laune.“ So etwas kommt öfter vor. Es gibt noch eine Menge anderer Leute, von denen Wedel findet, daß sie ihren Job nicht gerade anständig machen. Zum Beispiel dieser Aushilfsmasken- bildner beim ZDF-Vierteiler „Der gro- ße Bellheim“. Auf einmal habe Mario Adorf ausgesehen, als trage er einen Ziegelstein auf dem Kopf. Wedel be- kam einen Anfall. Dann ließ er seinen Maskenbildner, der mit 40á Fieber im Bett lag, holen. Zum Beispiel der Schauspieler Claude Oliver Rudolph in Wedels neu- em Film „Der Schattenmann“. Der sag- te auf dem Set auf einmal Sätze, die We- del noch nie gehört hatte. Wedel bekam einen Tobsuchtsanfall und schickte Ru- dolph nach Hause, den Text lernen, den er, Wedel, in seinem Drehbuch ge- schrieben hatte. „Das müßt ihr mir doch sagen“, schrie Rudolph die Kollegen THOMAS & THOMAS * Mit Krystina Janda und Mario Adorf. Regisseur Wedel (M.)*: „Die verpulvern so viel Geld für Schwachsinn“

128 DER SPIEGEL 35/1995 den. „Wir wollen Durchschnitt, und Sie liefern hier den Maßanzug. Das können wir nicht gebrauchen“, habe einmal ei- ner gesagt. So gedacht hätten fast alle. Weil er nicht auch anfing, so zu den- ken, ist Wedel heute immer noch kein reicher Mann. Dafür überragt er wie ein Anwalt für das große Fernsehen Mitte der neunziger Jahre die deutsche Unter- haltungsbranche, arbeitet für das ZDF und Sat 1. Er produziert seine Filme, schreibt sie und führt die Regie. Neben- her macht er unbekannte Schauspieler zu Stars, wie Leslie Malton und Heinz Hoe- nig. Oder er verwandelt Fernsehchar- gen, die längst von der deutschen Serien- maschine platt gewalzt wurden, wieder in Schauspieler, wie Günter Strack. Als er die Geschichte des großen Bell- heim entwickelte, habe man ihn ausge- lacht, als wäre er ein Irrer. „Vier alte Männer und Wirtschaft. Das will kein Mensch sehen, das gibt eine Katastro- phe.“ Am Ende gab es 14 Millionen Mark weniger in den Kassen des ZDF, 9 Millionen Zuschauer mehr, einen Marktanteil von 34 Prozent und einen Imageerfolg, der auch die Privatfernseh- menschen beeindruckte. „Die haben bei mir angerufen“, sagt Wedel, „und ge- sagt, ,wenn du wieder einmal so einen Film machst, tu es bei uns, egal was es kostet. Da können wir uns Werbekam- pagnen sparen‘.“ So einen Erfolg will er wieder haben, Anfang des nächsten Jahres, wenn sein Mehrteiler „Der Schattenmann“, eine Art deutscher „Pate“, ausgestrahlt wird, wieder beim ZDF. Und deshalb sitzt er jetzt von morgens bis abends im Berliner Schnittstudio, und alles ist wie immer. Das Budget von 18 Millionen Mark ist längst überzogen, die Mitarbeiter kön- nen zur Zeit nicht bezahlt werden, und trotzdem kommt keiner auf die Idee, daß es gegenwärtig einen besseren Job gibt irgendwo in Deutschland. Dieter Wedel hat lange Zeit Krieg ge- führt gegen die Privaten. Er beschimpfte sie als „mediale Umweltverschmutzer“, und wenn er nicht vor Wut schäumte, dann nannte er sie immer noch „Recycler von Personen und Inhalten der Öffent- lich-Rechtlichen“. Mittlerweile weiß auch er die Privaten zu schätzen. Schon, weil diese Anstalten endlich aus dem Dauerschlaf geweckt wurden. Wedel hat ihn schon 1978 nicht mehr ausgehalten, diesen Dauerschlaf, als er vor der Entscheidung stand, beim NDR verrückt zu werden oder zu kündi- gen. „Ich wollte einen Maskenbildner, und sie haben mir gesagt: ,Das geht nicht, der hat dieses Jahr schon seine Reise ge- habt‘“, erinnert er sich. Oder: „Vom Ab- teilungsleiter aufwärts zählte meist nur noch eins. Das Zimmer mußte so groß sein, als könnte der Typ auch noch sein Auto mit nach oben nehmen.“

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Einige Tage vorher auf der Terrasse Wutanfall bekommen, daß er übersah, drehen, aber der WDR offerierte zu- eines Hamburger Speiselokals. „Es ist wie sich die Enden seiner weißen Man- sätzlich sein technisches Personal und schon vieles besser geworden“, hat Die- schetten langsam von der Spaghettiso- versprach, dem begehrten Partner ein ter Wedel gesagt. „Immerhin werden ße rot färbten: „Die verpulvern ihr neues Studio zu bauen, so modern, wie wir Fernsehleute jetzt in Deutschland Geld für so viel Schwachsinn“, jubelte es in Europa kein zweites gebe. nicht mehr wie der letzte Dreck behan- Wedel und lachte. „Dabei könnte doch In Friedrich Nowottnys gesammelten delt.“ Dann hat er wieder von den kom- alles ganz einfach sein: Sie geben es Werken, ist sie verewigt, die Brandrede binatsähnlichen öffentlich-rechtlichen mir. Ich würde es schon durchbrin- vom 17. November 1994, mit der der In- Anstalten erzählt und davon so einen gen.“ tendant dem Rundfunkrat beibringt, daß der WDR als „öffentlich-rechtlicher Dienstleister für einen privaten Produ- Der letzte Aufklärer zenten“ 20 Millionen Mark ausgeben und ein Studio bauen müsse, um „die Folge 195/Szene 01/Friede- sen nicht schlafen legen, aber die Ge- Produktion einer Fernsehserie nach in- nau, Halle/Abend schichte der „Verbotenen Liebe“ zwi- dustriellen Maßstäben“ zu ermöglichen Christoph von Anstetten schen den Zwillingen Jan Brandner und und den „täglichen Nachschub“ für das hält die aufgebrachte Barba- Julia von Anstetten ist allerbestes Vorabendprogramm der ARD „sicher- ra von Sterneck am Arm zurück. Trash-TV: Nette Neunziger-Jahre- zustellen“. CHRISTOPH (eindringlich) Jungs, deutsche Mädchen wie aus Be- Seit Anfang Januar produziert Barbara, bitte! Laß mich erklären . . . verly Hills, eine Düsseldorfer Alexis, Grundy in der „Daily-Soap-Halle“ auf BARBARA (abwehrend, verletzt) ein bißchen Guldenburg, ein wenig Dro- dem WDR-Gelände zum Pauschalpreis Nicht nötig. Ich habe genug gesehen. gen, ein bißchen Karriere, und eine Ge- von 33,5 Millionen Mark 250 Folgen der CHRISTOPH (verzweifelt) schichte, die kreist und kreist und kreist. Love-Story. Zwei Millionen Zuschauer Ich hatte extra in deinem Büro Bescheid Thoma war die Story zu lebensfremd gucken sie täglich um 18 Uhr im Ersten geben lassen . . . und zu australisch, er sagte den Soap- an, und auch die Media-Leute schalten BARBARA (entschieden, bitter) Spezialisten der Produktionsfirma zum Preis von 17 850 Mark fleißig Das ändert wenig am Sachverhalt. Ent- Grundy, die für RTL schon „Gute Zei- Spots, so daß der ARD-Programmdi- schuldige die Störung. Es war mein Feh- ten, schlechte Zeiten“ drehen, sie soll- rektor jüngst davon sprechen konnte, ler. ten die Serie woanders loswerden. mit dieser Qualitätsserie habe die ARD CHRISTOPH (irritiert) Der WDR schrie: „Hier!“, weil die wieder einmal ihre „Unterhaltungskom- Was für ein Fehler? Kölner der ARD mal wieder zeigen petenz“ unter Beweis gestellt. BARBARA wollten, wohin die Reise auf dem öf- Nach „Verbotene Liebe“ läuft die Ich hab’ mir all die Jahre etwas vorge- fentlich-rechtlichen Kanal geht; wie Daily Soap „Marienhof“ im ARD-Pro- macht. schon vor zehn Jahren, als man dem gramm, zweimal Stammkundschaft für CHRISTOPH (versteht betroffen) Bayerischen Rundfunk die „Lindenstra- Werbekunden. Das könnte der ARD ei- Barbara, ich hatte keine Ahnung . . . ße“ wegschnappte. gentlich gute Laune machen. Ja, sagt Zugegeben, hier wäre viel Arbeit für Diesmal bot der SFB den Produzen- Fritz Pleitgen, könnte es, da haben wir den Filzstift von Dieter Wedel, und die ten von Grundy an, sie dürften die Daily junges Publikum zurückgewonnen, aber Wagenfelds würden sich in diesen Kulis- Soap kostenlos in den Studios des SFB da komme er nun mit seinem Vorschlag, J. H. DARCHINGER WDR-Intendant Pleitgen: „Wenn die ,Tagesschau‘ wackelt, dann wackelt das ganze Imperium“

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daß da, wo jetzt das Geld fließt, die sen sind. Am Ende des Abends be- meter vom Boden erhoben habe, und „Tagesschau“ hin muß. schleiche ihn oft das Gefühl, sagt er, nun sei die Frage, ob sie in die Luft gehe Auch Imperien können zusammen- „wieder einmal reingelegt worden zu oder umfalle. brechen, weiß der neue WDR-Inten- sein“, auf ein verzerrtes Bild der Wirk- Nicht durch Stoiber und Biedenkopf dant, der mal Moskau-Korrespondent lichkeit reingefallen zu sein, und dann sieht der Intendant die ARD bedroht, war, alles ist vergänglich, auch die komme ihm schon mal der Gedanke, sondern durch die EU. Kürzlich sei er in „Tagesschau“, und wenn die anderen „die Information im Fernsehen lieber Brüssel an ein paar knallharte Lobbyi- Sender nun alle um 20 Uhr anfangen mit ganz zu lassen“. sten geraten, die arbeiteten daran, daß ihrem Abendprogramm, dann kann „Alles ohne Gewähr“ möchte er in das Fernsehen von der EU europaweit auch die „Tagesschau“ beschädigt wer- die offiziösen Sendungen am liebsten als das klassifiziert wird, was es inzwi- den, und wenn die „Tagesschau“ wak- einblenden oder eine ganz andere Nach- schen tatsächlich sei, eine Wirtschafts- kelt, dann wackelt das ganze Imperium ARD. Darum hat Pleitgen seinen Intendanten- kollegen vorgeschlagen, schon mal vorsichtshalber um 18.30 Uhr eine „moderierte Tages- schau“ laufen zu lassen, prä- sentiert von einem jungen Ha- jo Friedrichs. Mach das nicht, haben die ihm geantwortet, zu dieser Tageszeit müssen wir Geld verdienen und Werbe- Rahmenprogramm bieten. „Konvergenz“ mag Pleitgen überhaupt nicht, er mag das Wort nicht, und er mag keine Hierarchen, die öffentlich- rechtlich reden, aber privat handeln. „Öffentlich-recht- lich“ ist für manchen Öffent- lich-Rechtlichen nur noch so ein hübsches Etikett wie „Goldener Oktober“ für einen Glykolwein. Wer das „Aktuelle Sport- Studio“ zur Leichtathletik- WM in Göteborg wie einen Volvo-Salon aussehen läßt, wer nun schon einzelne Film-

beiträge in Magazinsendungen J. BINDRIM / LAIF von Firmen sponsern läßt, wer Tägliche Serie „Verbotene Liebe“: „Das wäre dann für uns der Todeskuß“ Sendungen wie den „Fernseh- Garten“ wie eine Dauerwerbesendung richtenschau bringen, eine, die die Mel- branche und kein Kulturgut, und deshalb für Damenoberbekleidung präsentiert, dungen von vorgestern kritisiert und unter den Subventionsabbau fallen müs- aber in Jahrbüchern die Wett-Show korrigiert. se – „das wäre dann für uns der Todes- „Wetten, daß . . .?“ als Beweis für das Pleitgen weiß, daß das wohl kaum kuß“. Öffentlich-Rechtliche des Öffentlich- geht mit diesem föderalen Monolithen Folge 195/Szene 19/Penthouse Rechtlichen feiert, weil die Sendung ARD. Antriebsschwach wie ein Alko- JULIA (erschrocken) „die offenbar unerschöpfliche Kreativi- holiker sei dieses Gebilde, hat er mal ge- Henning? Was machst du da auf dem Bo- tät der Zuschauer mobilisiere“, der ist klagt, erst wenn der tief in der Gosse lie- den? nicht Pleitgens Mann. ge, könne er sich aufrappeln. Die Öf- HENNING (scharf) Er will den ehrlichen Kampf der fentlich-Rechtlichen haben die Hälfte Laß mich in Ruhe! Sender, er will um die Übertragungs- ihrer Zuschauer verloren, in den letzten JULIA (sieht ihn erschüttert an) rechte für die Bundesliga fighten, und beiden Jahren vor allem bei den Polit- Henning, kann ich dir irgendwie helfen? wenn er verliert, „dann haben wir die magazinen (ARD), bei den Nachrich- HENNING (betrunken, entschieden) Gegenseite wenigstens in die Kosten tensendungen (ZDF), bei den Shows Quatsch! Mir geht’s prima! Don’t worry, reingejagt“. (ZDF), beim „Tatort“ (ARD). be happy, Baby! Prost! Und jetzt verzieh Öffentlich-rechtlich heißt für Pleit- Wenn Pleitgen aufzählen möchte, was dich wieder! gen „authentisch, glaubhaft, Qualität“, sich in der ARD schon alles zum Guten JULIA (mitfühlend) was seltsam klingt, aber wohl was Gu- verändert hat, dann fällt ihm das Maga- Henning, wenn du Probleme hast . . . tes meint. Fernsehen ist für ihn immer zin „ZAK“ ein, dann bleibt er bei den HENNING (aggressiv) noch ein Medium der Aufklärung, ein neuen flexiblen Sendeterminen für den Du nervst! Hau ab! Raus . Kasten, der bloße Zuschauer zu Staats- „Brennpunkt“ und der Auflockerung Julia zuckt resigniert mit den Schultern bürgern machen kann, weil er sie mit des Presseklubs hängen und merkt, daß und verläßt das Penthouse. Informationen füttert. Der welterfahre- all das für einen Außenstehenden lä- HENNING (zu sich) ne Journalist glaubt an die Macht der cherlich klingt und für einen Insider er- Probleme . . . Pah! Alles Nachricht, obwohl seine Zweifel an mutigend. Die ARD sei wie eine dicke nur Schwachköpfe. Alle! dem „Bombardement des Publikums Rakete in Cape Canaveral, sagt er, die Dann stürzt er den Drink mit jeder Menge Meldungen“ gewach- sich unter großem Getöse ein paar Milli- hinunter.

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Werbeseite . PANORAMA

Afrika Südkorea Stehen bald Politisches Comeback alle Räder still? für Kim Dae Jung Die Wende am Kap gefährdet eine der Als er im Dezember 1992 die Präsi- längsten Eisenbahnlinien Afrikas. Die dentschaftswahl gegen seinen früheren in den siebziger Jahren von den Chine- Mit- und späteren Widerstreiter Kim sen gebaute Tazara, die über 1860 Ki- Young Sam verloren hatte, erklärte lometer von der sambischen Stadt Ka- Kim Dae Jung seinen Rücktritt von piri Mposhi (nahe der Hauptstadt Lu- der aktiven Politik. Er wolle sich künf- saka) zum Hafen Daressalam am Indi- tig nur noch akademischen Studien schen Ozean führt, wurde als Bollwerk widmen. Doch keine drei Jahre später gegen die Apartheid errichtet. Die Ta- ist das „demokratische Gewissen Ko- zara (Abkürzung für Tanzania-Zambia reas“, wie er in der internationalen Railway) machte es möglich, daß Pro- Presse fast drei Jahrzehnte lang ge- dukte aus dem Landesinnern wie sam- nannt worden ist, wieder präsent: Weil bisches Kupfer nicht länger durch das die derzeitige Opposition unfähig sei,

weißregierte Rhodesien, heute Sim- politische Verantwortung zu überneh- L. KUCHARZ babwe, zu den südafrikanischen Häfen men, hat der Altdemokrat Kim DJ, 71, Kim Dae Jung rollen mußten. Doch seit in Südafrika eine neue Partei gegründet, den Präsident Nelson Mandela regiert, ist „Kongreß für Neue Politik“. 66 der ist die Präsidentenwahl Ende 1997: Für die Tazara-Bahn kaum noch ausgela- derzeit 118 Oppositionsparlamentarier ihn böte sich dann die letzte Chance, aus drei Parteien sind spontan der neu- da Amtsinhaber Kim Young Sam laut en Kraft beigetreten, darunter drei Ex- Verfassung nicht wieder kandidieren TANSANIA Dares- Minister. Kims eigentliches Ziel aber darf. ZAIRE salam Frankreich Jacques Chirac wieder voll auf die Militärs und den Staatschef Amin Furcht vor neuen Sirwal zu setzen. Algier hat zuletzt SAMBIA von Paris 6 Milliarden Francs erhal- Kapiri Attentaten ten, außerdem erwirkte Frankreich Mposhi MOSAMBIK bei Algeriens Gläubigern einen Zah- Das Pariser Innenministerium glaubt, lungsaufschub für 37 Milliarden daß rivalisierende Zellen der Islami- Francs Auslandsschulden. Ohne die- SIMBABWE schen Bewaffneten Gruppe vor der al- sen finanziellen Beistand könnte das gerischen Präsidentschaftswahl am 16. Regime weder seine aufwendigen Mi- BO- November weitere Attentate in litär- und Polizeieinsätze gegen die Is- TSWANA Frankreich verüben werden. Die Fun- lamisten noch den Ausbau der Bür- damentalisten, denen die Bombenan- gerwehren finanzieren. Experten zu- Tazara- schläge vom 25. Juli im Pariser U- folge gewinnen Algeriens Machthaber Strecke Bahnhof Saint-Michel (7 Tote, 86 in dem Bürgerkrieg zunehmend die Johannesburg SWASILAND Verletzte) und vom 17. August am Oberhand; noch vor einem Jahr hat- Richard’s Bay Süd- Arc de Triomphe (17 Verletzte) zuge- ten Pariser Diplomaten die Macht- strecke schrieben werden, beschuldigen übernahme durch die Fundamentali- Durban SÜD- Frankreich, unter Staatspräsident sten als „unausweichlich“ bezeichnet. AFRIKA LESOTHO

stet. Viele der inzwischen veralteten und miserabel gewarteten 1400 Wag- gons und 29 Dieselloks stehen still. Obgleich die Weltbank und westliche Geberländer die heruntergekommene Eisenbahn in den vergangenen zehn Jahren mit einem 300-Millionen-Dol- lar-Programm modernisiert haben, kann sie jetzt nicht mehr mit den billi- geren und zuverlässigen Transportmit- teln Südafrikas konkurrieren. Um ren- tabel zu sein, müßte die Tazara jähr- lich 2,5 Millionen Passagiere und eben- so viele Tonnen Fracht befördern. Vergangenes Jahr reisten aber nur 750 000 Afrikaner mit dieser Bahn; le-

diglich 540 000 Tonnen Fracht füllten M. KANE / SIPA PRESS die Güterwaggons. Bombenanschlag in Paris am 17. August

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Kuba Atommeiler mit russischer Hilfe Rußland will den Bau des Kernkraft- werks Juragua´ in der kubanischen Pro- vinz Cienfuegos vorantreiben – trotz massiver Proteste aus Washington. Jel- zins Regierung bezeichnete den Be- schluß des US-Repräsentantenhauses, Finanzhilfen für Moskau im Falle einer fortgesetzten Atomkooperation mit Havanna um 15 Millionen Dollar zu kürzen, als „unpassend“ und „unge- rechtfertigt“. Der Bau des Kernkraft- werks, das mit vier Reaktoren des so- S. CREUTZMANN / ZONE 5 Kernkraftwerk Juragua´

wjetischen Typs WWER-440/318 be- trieben werden soll und Kuba 15 Pro- zent seiner Erdölimporte ersparen könnte, war bereits in den achtziger Jahren begonnen, im September 1992 aber aus Kostengründen gestoppt wor- den. Die US-Regierung hat einen Be- richt vorgelegt, nach dem das kubani- sche Atomkraftwerk ein Sicherheitsri- siko für den Süden der USA darstelle.

Tschechien Einreise nur mit genug Bargeld Nach dem Willen der Prager Regie- rung sollen Besucher ab nächsten Mo- nat Tschechien nur mit ausreichend ge- füllter Geldbörse bereisen dürfen. Ei- nem Erlaß des Innenministeriums zu- folge muß bei der Einreise der Besitz von mindestens 7000 Kronen (etwa 400 Mark) oder der Gegenwert in einer Fremdwährung nachgewiesen werden. Doch hat die Grenzpolizei durchblik- ken lassen, sie werde die von vielen als „sinnlos“ eingestufte Neuregelung nur punktuell anwenden, keinesfalls je- doch – nach einem Protest Polens – bei Bürgern der osteuropäischen Nachbar- staaten.

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AUSLAND

China Der Himmel ist verschlossen Als Nachwuchs unerwünscht, als Mütter zu Abtreibungen gezwungen, als Fabrikarbeiterinnen von Rauswurf und sexuellem Mißbrauch bedroht: Chinas Frauen sind die Verlierer der wirtschaftlichen Reformpolitik. Dennoch versucht Peking, sich vor Beginn der Weltfrauenkonferenz als Vorkämpfer der Emanzipation zu feiern.

ie öligen Haare hat sie zu einem eine Pekinger Journali- Zopf zusammengebunden. Ihr stin. „Sie sind allenfalls Dschwarz-weiß kariertes Kostüm Selbstlob für das Re- entspricht dem Modetrend der siebziger gime.“ Jahre. Mit leicht geöffnetem Mund stellt Obwohl bereits die Han Suyun in Pekings „Großer Halle des erste Verfassung der Volkes“ die chinesische Idealfrau dar – Volksrepublik im Jahre jedenfalls so, wie sie sich die Führungs- 1954 die Gleichheit der schicht vorstellt. Geschlechter garantier- Seit Han Suyun (zu deutsch: „reine te, sind die Frauen vier Wolke“) von der Partei zum Modell einer Jahrzehnte später im- sozialistischen Soldatenfrau gekürt wur- mer noch deutlich de, vergeht kein Tag, an dem nicht ir- benachteiligt – selbst gendein Medium über ihr „heroisches Le- im Staatsapparat. Noch ben“ berichtet. Was sie zum Vorbild nicht mal elf Prozent al- macht, ist jedoch nicht der Kampf für ler Regierungsposten Aufklärung und Emanzipation. Die oberhalb der Kreisebe- selbstlose Chinesin verkörpert vielmehr ne sind von Frauen be- die Rückkehr zum Herd und zukonfuzia- setzt, in nur 2von 40Mi- nischen Traditionen. nisterien des Staatsrates „Die gute Ehefrau Han Suyun“, lobt sitzen Genossinnen auf das KP-Organ Volkszeitung, habe fünf dem Chefsessel. Weibliche Rotgardisten während der Kulturrevolution (1966), schwerkranke Familienmitglieder ihres Mannes gepflegt. „Da es der Familie ih- res Mannes jetzt Tag für Tag bessergeht, kann ihr Gatte sorglos in der Armee die- nen und Fortschritte machen.“ Schon Steuermann Mao Tse-tung hatte gefordert, die Frauen sollten „die Hälfte des Himmels“ tragen: also gleiche Rech- te, gleiche Verantwortung haben. Im China des Wirtschaftsreformers Deng Xiaoping aber bleibt der Himmel ver- schlossen. Die Liberalisierung, die vielen Chine- sen in den vergangenen 16Jahren Mobili- tät, bescheidene gesellschaftliche Frei- heiten und höhere Einkommen brachte, ging meistens an den Frauen vorbei. Mit den überkommenen Werten kehren auch die Schatten der Feudalzeit wieder. Im hemmungslosen Run auf Geld und Wa- ren bleiben die Frauen als Verlierer zu- rück. Zwar verabschiedete der Staatsrat vor kurzem einen Fünfjahresplan zur Ver- besserung der wirtschaftlichen Lage und der sozialen Stellung der Frau. Aber da- mit will sich China bloß propagandistisch schmücken, wenn nächste Woche die vierte Weltfrauenkonferenz in Peking

beginnt. „Die Mehrzahl derartiger Pro- A. BRADSHAW / SABA gramme bleibt einfach Makulatur“, sagt Prostituierte vor einem Massagesalon: „Sex ist eine Industrie ohne Rauch“

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tution. Sie „verkaufen ihren Frühling“, wie die verschämte Umschreibung heißt, in Hotels und schmuddligen Friseursa- lons der Küstenregion oder in Spelunken an den Truckerhighways im Landesin- nern. Das Geschäftmit dem Sexblüht vor allem in den Sonderwirtschaftszonen: Die Zuwachsrate in Shenzhen, das an Hongkong grenzt, betrug voriges Jahr laut Polizei 92 Prozent. Die gelenkte Presse diskutiert inzwi- schen offen über die Zulassung der „Drei Begleitungen“ (Essen, Trinken, Sex). „Die drei Begleitungen sind eine Indu- strie ohne Rauch, die Chinas Außenhan- del fördert“, merkte unlängst ein Leser- briefschreiber in der Pekinger Abendzei- tung an. Opfer der Männerherrschaft waren Chinas Frauen über Jahrhunderte. Nach dem Verhaltenskodex des „Meister Kong“ (Konfuzius) mußte das weibliche Geschlecht immer nur gehorchen: vor der Ehe dem Vater, dann dem Ehemann und nach dessen Tod dem ältesten Sohn. Heute untersteht es auch noch den rigo- rosen Geburtenplanern des kommunisti- schen Regimes. Kaum ein anderes Land der Erde quält seine Frauen mit derart brutalen Gebär- verboten. „Wenn die Familienplanungs- kommission anrückt“, beobachtete der Pekinger Gynäkologe Zhou Peidi, „kommt es zu Szenen wie im Krieg.“ Seit 1979 dürfen Eltern nur ein Kind in die Welt setzen. Ausnahmen werden ganz selten bewilligt: Wenn das erste

M. RUETZ / FOCUS Kind ein Mädchen ist oder behindert zur Bäuerin in Nordwestchina: „Frauen sind das billigste Arbeiterreservoir“ Welt kommt, dürfen Bauernfamilien noch einmal versuchen, den ersehnten Unter den 189 Vollmitgliedern des zum billigsten und größten Arbeiterre- männlichen Nachwuchs zu zeugen. Zentralkomitees gibt es gerade ein Dut- servoir geworden“, bestätigt der Soziolo- Die Regierung rechtfertigt die Ein- zend Frauen. Der ständige Ausschuß des ge Guo Ruixiang. Kind-Politik mit dem bedrohlichen Be- Politbüros, der noch immer die Geschäf- Eine Umfrage des staatlichen Büros völkerungswachstum: China ernährt te des Landes führt, istein reiner Herren- für Arbeitsschutz in 475Firmen der Indu- über 21Prozent der Weltbevölkerung auf klub. Wurde in der Vergangenheit eine striestadt Ningbo bei Schanghai belegt, gut 7 Prozent der Landfläche. Das Miß- Alibi-Genossin aufgenommen, dann wie Arbeiterinnen systematisch um ihre verhältnis ist jedoch ein Ergebnis kom- handelte es sich meist um die Angetraute Rechte betrogen und ausgebeutet wer- munistischer Fehlplanung. In den fünfzi- eines Prominenten – wie Zhou Enlais den: ger Jahren hatte Mao die damals 600 Mil- Frau Deng Yingchao oder Maos Gefähr- i 38,1 Prozent erhielten keinerlei Mut- lionen Untertanen aufgerufen, „mehr tin Jiang Qing. terschutz; Hände für den Aufbau“ zu produzieren. „China ist immer noch eine Männerge- i 45Prozent der Firmen lassen selbst stil- Jetzt, bei mittlerweile 1,2 Milliarden sellschaft“, resigniert Wang Xingjuan, lende Mütter in der Nachtschicht Einwohnern, wird der Bevölkerungs- Gründerin des landesweit ersten Frauen- schuften; druck mit drakonischer Härte einge- notrufs in Peking. i 13 Prozent der weiblichen Angestell- dämmt. Nicht auf Einsicht und Aufklä- Auf dem Land gelten die Frauen soviel ten mußten sich beruflichen Aufstieg rung, sondern aufRepression, Denunzia- wie Knechte. Während Männer zu Mil- durch sexuelle Gefälligkeiten gegen- tion und bedingungslose soziale Unter- lionen in die Städte des Südens abwan- über Vorgesetzten erkaufen. ordnung setzt der Staatsapparat. Jeder dern, um dort ein besseres Auskommen Mit dem Argument, Männer hätten Arbeitseinheit wird alljährlich eine zu finden, müssen sich die zurückgelasse- schließlich eine Familie zu ernähren, flie- „Geburtenquote“ vorgegeben, für jede nen Frauen neben Kindererziehung und gen Frauen als erste auf die Straße, wenn Schwangerschaft bedarf es einer Geneh- Haushalt auch noch um die Feldarbeit die Zeiten hart werden: Von den 95 000 migung. kümmern. Arbeitern, die unlängst in der ostchinesi- Damit das Soll nicht überschritten In den Schulen ziehen Frauen ebenfalls schen Provinz Jiangsu entlassen wurden, wird, müssen Arbeiterinnen ihre Men- den kürzeren: Sie stellen 70 Prozent der waren 80 Prozent Frauen. Allein in die- struation beim Geburtenplanungsbüro mehr als 220 Millionen Analphabeten. sem Jahr haben 420 000 Arbeiterinnen in des Betriebes melden; in den Dörfern „Je weiter die Reform fortschreitet, desto der Nordostprovinz Liaoning ihren Job wird das Eintreten der Blutung gar öf- weniger profitieren die Frauen davon“, verloren. fentlich bekanntgegeben. Kommt es den- schreibt das Pekinger Büro der Friedrich- Nur eine Wachstumsbranche steht jun- noch zur unerlaubten Schwangerschaft, Naumann-Stiftung. „Die Frauen sind genFrauen vomLande weit offen: Prosti- wird das Gehalt des zuständigen Beam-

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ten gekürzt, die Babyquote für das dar- Kind trotzdem nicht stirbt, zertrümmern Offiziell ist die gezielte Abtreibung von auffolgende Jahr gesenkt. Deshalb über- wir seine Schädeldecke.“ weiblichen Föten zwar verboten. Doch reden die Funktionäre junge Frauen bei Oft kommt es zu grausigen Szenen. heute sind in China mehr als 100 000 Ul- ihrer ersten Schwangerschaft oft mit mas- „Einmal wurde uns eine Frau gebracht, traschallgeräte in Betrieb; schlecht be- siven Drohungen zur Abtreibung. bei der die Geburt schon begonnen hat- zahlte Mediziner bessern mit der Ge- Versagt der Gruppendruck, gebraucht te“, berichtete ein Arzt der US-Men- schlechtsbestimmung und einer anschlie- der Staat Gewalt. „Wir rückten mit vier schenrechtsgruppe Human Rights in ßenden Abtreibung ihr Einkommen auf. bis fünf Traktoren voll Milizionären beim China. „Der begleitende Kader bestand Westliche Demographen vermuten, Haus der Schwangeren an, die nicht zum darauf, daß das Kind nicht lebend gebo- daß auf diese Weise jährlich mehrere Mil- befohlenen Abbruch erschienen war“, ren werden dürfe. Als dies dennoch ge- beschreibt ein ehemaliger Kader aus ei- schah, wurde das Kind mit einem Hand- nem Geburtenplanungsbüro im Nordwe- tuch erstickt.“ Ein anderes Mal habe eine Banden organisieren sten die Vorgehensweise. „Wenn jemand Krankenschwester ein unerwünschtes Raub und Verkauf der die Tür aufmachte, versuchten wir, die Baby einfach in den Kühlschrank gelegt, Frau herauszuzerren. Wehrte sich ihr bis es erfroren war. Mangelware Frau Mann, schlugen wir ihn, bis er um Gnade Aus der Stadt Xi’an liegt der Men- flehte.“ schenrechtsorganisation der Bericht ei- lionen Mädchen fehlen: Während in den Ehepaare, die sich der Familienpla- ner Betroffenen vor: „Ich wurde auf den meisten Ländern auf 100 weibliche Ge- nung widersetzen, müssen damit rech- Operationstisch gedrückt. Ein Arzt inji- burten 105 oder 106 männliche kommen, nen, daß ihr Haus abgerissen wird. Auf zierte Formaldehyd inmeinen Bauch. Ich sind es in China 113. 48Millionen chinesi- dem Land werden Frauen oft gleich nach wußte, mein Kind würde in wenigen Mi- sche Männer, so die Fachzeitschrift für der ersten Geburt zwangssterilisiert. nuten sterben. Doch 48 Stunden später, Bevölkerungsfragen, werden zur Jahr- „Die hygienischen Zustände sind so als der Geburtsvorgang in einem vollen tausendwende ein Single-Dasein führen. schlecht, daß viele Frauen dabei ster- Kreißsaal begann, gebar ich einen leben- Kann wenigstens die Verknappung den Wert der Frau in der chinesischen Gesellschaft verbessern? Frauenrechtle- rin Wang Xingjuan bezweifelt das. Denn längst schon organisieren Verbrecher- banden den Raub und den Verkauf der neuen Mangelware. Die Opfer werden in entfernten Provinzen entführt, aus Zü- gen und Bahnhöfen verschleppt oder mit windigen Versprechen in entlegene Re- gionen gelockt. Dort enden siein Bordel- len oder als Ehesklavin eines alleinste- henden Bauern. Immerhin seien 65 000 Frauen und Kinder zwischen 1991 und 1994 aus ihrer Zwangslage befreit worden, verkündete die Polizei. Die Dunkelziffer liegt indes weit höher. „Unglaublich“, erboste sich der frühere Vizeminister für öffentliche Sicherheit, Yu Lei: „Einige Käufer von Frauen hatten gar die Frechheit, eine Entschädigung für ihren Verlust zu ver- langen.“Doch dieEntrüstung des Ex-Mi- nisters kann nicht verdecken, daß die Un- terdrückung der Frau in der Regel von der Obrigkeit gedeckt wird. Ihre Versäumnisse lassen sich Chinas

ACTION PRESS Führer nicht gern vorhalten. Um femini- Ultraschalluntersuchung einer Schwangeren: Selektion im Mutterleib stische Störerinnen von der Weltfrauen- konferenz fernzuhalten, verbannte Pe- ben“, sagt der Arzt Zhou Peidi. „Das den Jungen. Sein Herz schlug, er schrie. king das Forum der regierungsunabhän- wird von den Behörden als zusätzliche Er hatte einen großen Kopf und wunder- gigen Frauengruppen in den Kreis Huai- Abschreckung angesehen.“ schöne Beine und Arme. Doch der Arzt rou – rund 50 Kilometer von der Haupt- Vor vier Jahren verordnete die KP- brachte ihn sofort um. Ich mußte hilflos stadt entfernt. Mehr als 70 000 Beamte Führung, die Beförderung der lokalen zuschauen.“ der Staatssicherheit wachen darüber, daß Kader vom Erfolg der Familienpla- Die Ein-Kind-Politik funktioniert – kein Fahrzeug mit Teilnehmerinnen un- nungspolitik abhängig zu machen. Seit- mit unerwarteten Folgen: Der Nach- kontrolliert in die Stadt des himmlischen dem häufen sich die Übergriffe gegen wuchs wird nach Geschlechtern selek- Friedens eindringt. Schwangere und deren Familien, ohne tiert, wenn das erste Kind ein Mädchen Wie sich die Gastgeber das Niveau der daß die Funktionäre zur Rechenschaft ist, sind seine Überlebenschancen oft Debatte wünschen, offenbarte ungewollt gezogen würden. gleich Null. Denn wer nach altem Volks- die Nachrichtenagentur Xinhua. Als ein- Selbst Frauen, die schon im achten glauben keine Stammhalter in die Welt ziges Kind seidie zehnjährige Lin Yan aus oder gar neunten Monat schwanger setzt, versündigt sich an den Ahnen. Die Schanghai zur Frauenkonferenz zugelas- sind, werden noch in Abtreibungsklini- Bauern wollen möglichst männliche Ar- sen worden, berichtete sie: „Lin ist sehr ken geschleppt. „Dann spritzen wir eine beitskräfte, die Mädchen gehören nach erfahren im Scherenschnitt und wird an giftige Lösung direkt in die Gebärmut- der Heirat zur Familie des Eheman- der Konferenz als Expertin für chinesi- ter“, sagt Frauenarzt Zhou. „Wenn das nes. sche Handarbeit teilnehmen.“ Y

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vor „kräftig geschüttelt“, wie sich der Der Pathologe Robert Kirschner aus Israel Geheimdienstchef ausdrückte. Chicago hält es für sehr wahrscheinlich, In Israel, wo zur Terroraufklärung daß gewaltsames Schütteln „permanen- bei Vernehmungen „milder physischer te Hirnschäden“ hervorruft – wie bei Druck“ erlaubt ist, packen die Beamten einem Boxer nach schweren Kopftref- Blutungen einen Verdächtigen neuerdings gern bei fern. Am gründlichsten sind diese Ver- den Schultern oder am Kragen und letzungen bei Kindern untersucht wor- schütteln seinen Oberkörper heftig hin den, die von Eltern zur Strafe geschüt- im Kopf und her. Das hört sich harmlos an, ist telt wurden: Hirnschwellungen, Blutun- aber höchst wirksam: Die „Geständnis- gen im Kopf und geplatzte Äderchen Bei der Jagd nach Terroristen hilft quote ist außerordentlich hoch“, lobt im Auge sind die Folge. Die fatalen eine umstrittene Verhörmethode: ein Beamter. Die Verhörprofis schätzen Wirkungen führt Kirschner, der israeli- die Methode auch, weil sie „unterhalb sche Menschenrechtsgruppen berät, Verdächtige Palästinenser werden der Folterschwelle“ liege und nicht zu darauf zurück, daß das „Hirn noch heftig geschüttelt. sichtbaren Verletzungen führe. schwappt, wenn der Kopf bereits wie- Unproblematisch ist das Schütteln je- der ruht“. doch keineswegs. Ein unlängst erschie- Der Palästinenser Abd el-Samad Ha- m nachhinein macht sich der Chef des nener Bericht der Menschenrechtsorga- risat, 30, starb im April nach einem israelischen Inlandsgeheimdienstes nisation Human Rights Watch be- Schüttelverhör in israelischer Haft. Der ISchabak, der öffentlich nicht beim schreibt, daß Gefangene nach dieser Be- dänische Physiologe Gorm Wagner, der Namen genannt werden darf, einen handlung Symptome eines Schleuder- den Fall für Amnesty International un- Vorwurf: „Hätte ich gewußt, wer da vor traumas wie nach einem Verkehrsunfall tersuchte, verglich die Methode an- mir saß, hätte ich eine Sonderbehand- aufweisen: Manche verlieren das Be- schließend mit Folter. Er habe einen lung angeordnet.“ wußtsein, fast alle klagen über andau- entlassenen Gefangenen gebeten, ihm Zwei Tage lang war der Palästinenser ernde Nackenschmerzen, die meisten das Schütteln mal am eigenen Leib vor- Abd el-Nassir Schakr Issa, 27, ohne Er- tragen Gehirnblutungen davon. zuführen: „Nach drei Sekunden habe folg vernommen worden. Als am Mon- ich den Mann gestoppt, zwölf Stunden tag voriger Woche in Jerusalem ein später habe ich immer noch Nachwir- Selbstmordattentäter einen Bus spreng- kungen gespürt“, berichtet Wagner. te und dabei vier Menschen tötete, nah- Doch nach dem Schlag gegen Hamas men sich die Verhörspezialisten Issa möchte Polizeiminister Mosche Schahal noch einmal vor – handgreiflich. Tags das Recht auf „Anwendung gemäßigter darauf war der Anschlag aufgeklärt. Gewalt“ beim Ausquetschen von Ter- Issa, der nur wegen eines vagen Ver- roristen noch erweitern. Schon jetzt be- dachts festgenommen worden war, legte arbeiten Geheimdienstler Verdächtige ein umfassendes Geständnis ab, das der mit gezieltem Schlafentzug, mit Hitze Polizei erstmals einen tiefen Einblick in oder Kälte. Gefangenen wird gelegent- die verdeckten Operationen der funda- lich ein Sack über den Kopf gezogen, mentalistischen Palästinenserorganisati- manche müssen stundenlang in on Hamas gab. schmerzhaften Stellungen verharren. Er gab zu, Chef einer Hamas-Terror- Schahal möchte vor allem dafür sor- zelle zu sein, den Attentäter von Jerusa- gen, daß die Beamten nicht auf die An- lem selbst ausgebildet und den Mordbe- klagebank geraten, wenn etwas schief- fehl persönlich erteilt zu haben. Er ge- geht. Die Menschenrechtsorganisation

stand auch, am Anschlag von Ramat EPA / DPA Bzelem dagegen verlangt, daß die Re- Gan Ende Juli beteiligt gewesen zu sein. Bombenkonstrukteur Issa gierung endlich die Uno-Konvention Damals hatte Issa den Selbstmordkiller Umfassendes Geständnis gegen Folter zu geltendem israelischen mit dem Auto zur Bushaltestelle Recht macht und öffentlich gefahren; sechs Menschen star- überprüfbare Verhörrichtlinien ben bei der Explosion. vorlegt. Solche Skrupel plagen Seine Wohnung in Nablus ent- den Polizeiminister nicht, Scha- puppte sich als Terrorwerkstatt, hal sieht ein höherwertiges eine Autobombe und ein Kid- Recht auf seiner Seite. napping waren bereits perfekt Die Hamas-Terroristen haben vorbereitet. Und Issa wartete in einem Bekennerschreiben an- noch mit einer weiteren Sensati- gekündigt, mit ihren Kamikaze- on auf: Er bekannte, ein Schüler Attentaten die Regierung von von Jahja Ajjasch zu sein, dem Ministerpräsident Jizchak Rabin legendären Bombenbauer, der stürzen zu wollen – und damit als „der Ingenieur“ an erster den Friedensprozeß zu beenden. Stelle der israelischen Fahn- Die Zeit bis zu den Wahlen im dungsliste steht. nächsten Jahr werde „für die Is- So dicht war der Sicherheits- raelis zu einem schrecklichen dienst dem palästinensischen Alptraum“. Top-Terroristen noch nie auf Um den Frieden zu retten, da den Fersen. Doch über die guten ist sich Schahal mit den meisten Nachrichten legte sich ein Schat- seiner Freunde von der regieren- ten: Issa hatte nicht freiwillig den Arbeitspartei einig, dürfen

ausgepackt. Die Verhörspeziali- AP Terroristen schon mal härter an- sten des Schabak hatten ihn zu- Bombenwerkstatt in Nablus: Mörder an der Haltestelle gefaßt werden. Y

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Um die Enthauptungen zu verhindern, spruch, bevor der Todgeweihte – die Au- Saudi-Arabien wandte sich Staatspräsident Süleyman gen verbunden, die Hände auf dem Rük- Demirel mit einem persönlichen Gna- ken gefesselt – vor dem Henker auf die dengesuch an König Fahd. Selbst US- Knie gezwungen wird. Präsident Bill Clinton, als Schutzherr am Damit der Hieb das sauber Wilde Praxis Golf Riads wichtigster Verbündeter, soll trifft, stößt der Scharfrichter dem Verur- Druck ausüben, um die Todgeweihten zu teilten das schwere, gut einen Meter lan- Harte Arbeit für den Henker: Mit retten. ge Schwert zunächst in den Rücken. öffentlichen Hinrichtungen geht Die Türken sind einem Regime ausge- Wenn der Kandidat dann erschrocken liefert, das die grüne Flagge des Pro- zusammenzuckt, saust die rasiermesser- das Wüstenreich gegen Drogen- pheten mit Glaubensbekenntnis und scharfe Waffe auf den gestreckten Hals schmuggler vor. Schwert als Staatsfahne führt; nirgendwo nieder – trotzdem reicht manchmal ein wird die Scharia unerbittlicher ange- Schlag nicht aus. wandt. Auf bewaffneten Raub, Mord, Das international geächtete Handwerk on dem Verkauf der verbotenen Vergewaltigung – und seit 1987 auch auf läßt das Regime durch Fremde verrich- Pillen mit dem weißen Zucker- Drogenhandel und -schmuggel – steht ten. Die Scharfrichter sind hochbezahlte Vüberzug hatte sich Mehmet Köseo- der Tod. Hünen aus dem Sudan oder Oberägyp- glu einen schönen Gewinn verspro- Vollstreckt wird die Enthauptung öf- ten, die saudischen Bürger selbst sollen chen. Tatsächlich aber fand der türki- fentlich, zumeist nach dem Mittagsgebet sich nicht mit Blut besudeln. sche Dealer ein schreckliches Ende. am Freitag. In der Hauptstadt Riad ver- Ob die Todesstrafe für Drogendealer In der saudiarabischen Provinzstadt sammeln sich dann bis zu 1500 Menschen angemessen ist, darüber streiten islami- Arar schlug der Scharfrichter dem auf dem Platz beim Hotel „Palast des Ro- sche Rechtsgelehrte. Ebenso wie sein Mann aus Anatolien wegen Drogen- ten Meers“. Unter ihnen befinden sich saudischer Kollege Abd el-Asis Ibn Bas schmuggels den Kopf ab. auch etliche Frauen und Kinder, die sich hält der Mufti von Ägypten, Mohammed Kurz darauf wurden im Namen Al- das grausige Ritual nicht entgehen lassen Sajjid Tantawi, Hinrichtungen von lahs noch drei weitere türkische wollen. „Rauschgiftverbrechern für legal und mit Rauschgifthändler enthauptet. Wie Kö- Ein Richter rezitiert aus dem Koran, dem islamischen Rechtsempfinden für seoglu hatten auch sie mit einer Auf- ein Polizeioffizier verliest den Urteils- vereinbar“ (siehe Interview). F. GUENET / FOCUS König Fahd Trotzt dem Druck von außen

putschtablette made in gehan- delt: Captagon. Die barbarischen Vollstreckungen lö- sten in der Türkei einen Aufschrei der Empörung aus. Auf Demonstrationszü- gen in den Heimatstädten der Toten verbrannten Bürger Fotos des Saudi- Königs Fahd und schrien: „Weg mit der Scharia“ – der islamischen Rechtsord- nung. In Ankara legten Politiker vor der Botschaft des Ölstaats einen schwarzen Kranz nieder. Vize-Regierungschef Hikmet C¸ etin verurteilte die „anachro- nistische und wilde Praxis der Saudis“. Ministerpräsidentin Tansu C¸ iller er- wägt, ihren Botschafter aus Riad abzu- berufen, wenn noch mehr Türken hinge- richtet werden sollten. Immerhin sitzen noch etwa 70 ihrer Landsleute wegen

angeblichen Rauschgifthandels in saudi- ACTION PRESS schen Gefängnissen. Enthauptung eines Verurteilten: „Der Beduine ist herzlos und brutal“

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In der laizistischen Türkei hingegen weist der Direktor des Amtes für Religi- onsangelegenheiten, Mehmet Nuri Yil- maz, diese Scharia-Interpretation ent- schieden zurück. Weder im Koran noch „Todesstrafe ist legal“ beim Propheten Mohammed ließen sich für die grausame Ahndung eindeutige Interview mit dem Mufti von Ägypten über Rauschgift und Islam Belege finden. Sicher ist, daß die archaische Ent- hauptung mit dem Schwert weder im Mohammed Sajjid Tantawi, 67, ist Tantawi: Zunächst halte ich fest, daß Koran noch in der islamischen Rechts- die höchste Instanz für isla- auf die Verabreichung und den Ver- ordnung vorgeschrieben ist. Das blutige mische Rechtsfragen am Nil. trieb von Rauschgift nicht nur in Ritual gehört vielmehr zur speziellen In einem sunnitisch-islamischen Saudi-Arabien, sondern auch in Tradition eines Landes, das trotz seines Staat werden Todesurteile nur Ägypten und anderen islamischen Reichtums und seiner modernen Infra- dann vollstreckt, wenn der Mufti Ländern die Todesstrafe steht. Die struktur immer noch nach den Sitten ei- das Urteil bestätigt. Gesetzgeber, die das beispielsweise ner Beduinengesellschaft leben möchte in Kairo verfügten, ließen sich von und größten Wert auf Abschreckung SPIEGEL: In Saudi-Arabien häufen islamischen Rechtsgelehrten leiten. legt. „Der Beduine ist herzlos und bru- sich die Hinrichtungen von Men- SPIEGEL: In Kairo wurde in Ihrer schen, die wegen Rauschgiftverge- Amtszeit aber bisher nur einmal ein hen verurteilt wurden. Ist das nach Rauschgifthändler hingerichtet, weil „Ich kann keine islamischem Recht vertretbar? er Hunderte von Schülern in die Sondergesetze für Tantawi: Unabhängig vom Strafmaß Sucht getrieben hatte. Was ist die steht eindeutig fest, daß nicht nur Richtschnur, wenn die Quellen- Türken erlassen“ die Verbreitung von schriften nicht ausrei- Rauschgift, sei es chen – islamisches tal“, hatte schon Fahds legendärer Vor- durch Verkauf oder Volksempfinden oder gänger Feisal verkündet. sonstige Weitergabe, die Laune des jeweili- Das Königshaus bekennt sich zum sondern auch die Ein- gen Rechtsgelehrten? Wahhabismus, der einen besonders nahme von Drogen, al- Tantawi: Wenn Koran- strengen Islam predigt. Puristen lehnten so die Sucht, verboten text und Sunna, die auf lange Zeit sogar Radio, Telefon oder ist. Aussprüche und Taten Fernsehen ab und wehrten sich gegen SPIEGEL: Der Begriff des Propheten zurück- Schulausbildung für Mädchen. Rauschgift kommt im gehende Tradition, Ziemlich weit entfernt von modernen Koran gar nicht vor. keine klare Auskunft Rechtsgrundsätzen bewegen sich auch Tantawi: Es gibt mehr geben, wie in einem

die saudischen Gerichtsverfahren. Die als einen deutlichen N. SCHILLER bestimmten Fall zu „internationalen Standards zur Behand- Hinweis im Koran wie Tantawi entscheiden ist, erar- lung von zum Tode verurteilten Gefange- auch in den Aussprü- beiten die Gelehrten nen“, kritisiert Amnesty International, chen des Propheten, den Hadithen. nach einem festgelegten wissen- würden „weitestgehend mißachtet“. Den In der 5. Sure, „Der Tisch“, heißt schaftlichen Schema die sogenann- Angeklagten sei während des Prozesses es in den Versen 90 bis 91, daß der ten Taadhir-Gesetze. Die beruhen „das Recht auf einen offiziellen Verteidi- Wein „Teufelswerk“ ist und daher auf Vergleichen und Definitionen ger verweigert“. Zudem akzeptierten die zu meiden sei. So hat der Prophet aus der islamischen Rechtsgeschich- Gerichte „auch unter Folter erpreßte Ge- erklärt: „Alles, was den Geist und te. ständnisse als Beweise“, klagt die Men- den Verstand trübt, ist berau- SPIEGEL: Befürworten Sie persön- schenrechtsorganisation an. schend, und alles, was berauschend lich die Todesstrafe für Rauschgifttä- Die Vollstreckungszahlen steigen neu- wirkt, ist sündhaft und verbo- ter? erdings erschreckend. Starben 1994 noch ten.“ Tantawi: Die Todesstrafe für 53 Menschen durch Schwerthieb, so lie- SPIEGEL: Auf den Genuß von Wein Rauschgiftverbrecher ist legal und ßen die Gerichte indiesem Jahr schon 147 steht aber nicht die Todesstrafe. mit dem islamischen Rechtsempfin- Verurteilte exekutieren, vorwiegend we- Tantawi: Die Strafen, die in islami- den vereinbar. Außerdem ist es gen Drogendelikten. Das ist, gemessen schen Ländern angewandt werden, höchste Pflicht jeder islamischen Ob- an der Bevölkerungszahl von über 17 sind fast ohne Ausnahme von der rigkeit, die ihr anvertraute Gesell- Millionen, rekordverdächtig. Scharia abgeleitet. Es gibt unter- schaft vor Schaden zu bewahren. Die Die Hinrichtungswelle verrät eine tiefe schiedliche Rechtsschulen, die sich islamische Rechtsprechung ist aufge- Unsicherheit, die das einst unangefoch- mit der Interpretation von Koran- rufen, Gefahren für die „Umma“, tene Regime erfaßt hat. Saudische Isla- versen und Hadithen befassen, um die Gemeinschaft der Gläubigen, ab- misten attackieren das Herrscherhaus als auch für solche Fälle, die nicht aus- zuwenden. Und es ist wissenschaft- korrupt und dekadent. Trotz strenger drücklich aufgeführt sind, einen is- lich erwiesen, daß Rauschgift zwei- Abschottungspolitik sind westliche La- lamisch begründeten Schutz für die felsfrei eine Volksgefahr darstellt. ster längst auf die Halbinsel geschwappt. Gesellschaft zu finden. SPIEGEL: Machen Sie keinen Unter- Alkohol, bei Peitschenhieben und Ge- SPIEGEL: Heißt das, der Scharfrich- schied zwischen den Rauschmitteln? fängnis verboten, fließt in Mengen –auch ter darf in Saudi-Arabien in Aktion Tantawi: Alle Arten von Drogen und gerade in den Palästen von Prinzen. treten, obwohl Koran und Hadithe sind im Islam verboten – Opium und In manchen Monaten beschlagnahmen keine ausdrückliche Aufforderung Heroin genauso wie Kokain und Ha- die Grenzbeamten über eine halbe Milli- enthalten, Rauschgiftdelikte mit schisch. Islam und Rauschgift vertra- on Flaschen Whisky und Gin. dem Schwert zu ahnden? gen sich nicht. Schwerer wiegt seit geraumer Zeit der Drogenschmuggel. Vor allem Jugendli-

DER SPIEGEL 35/1995 143 che greifen zu Rauschmitteln wie Ha- schisch oder sogar Heroin, um der Lan- geweile ihrer öden Verbotsgesellschaft zu entfliehen. Das Wüstenreich erlaubt nicht einmal Kino oder Theater; selbst die Satellitenschüsseln, die ein bißchen Unterhaltung via Bildschirm ins Haus brachten, sind neuerdings verboten. Den Kick verschafft sich die saudische Jeunesse dore´e deshalb durch Kokain oder Captagon. Von diesem Amphetamin, als Mun- termacher gefragt, sollen die königli- chen Sicherheitsdienste im vergangenen Jahr über 20 Millionen Pillen sicherge- stellt haben. Anders als Schnapsfla- schen lassen sich die Modedrogen leicht in Kofferritzen oder im Portemonnaie verbergen. Daß bei Kontrollen keine Spürhunde eingesetzt werden – in Sau- di-Arabien gilt der Hund als unrein –, verleitet zusätzlich zum Schmuggel. Besonders im Pilgermonat sind die Zöllner überfordert. Von den bis zu zwei Millionen Reisenden, die während des Hadsch zu den heiligen Stätten von Mekka und Medina strömen, können sie nur einen Bruchteil kontrollieren. Interpol schätzt, daß auf diese Weise bis zu 20 Tonnen Drogen ins Land gelan- gen. Die meisten Schmuggler sind arme Moslems aus Ägypten, Sudan oder dem Libanon. Etliche wissen oft gar nicht, daß sie mit den Kurierdiensten für sau- dische Auftraggeber ihr Leben riskie- Krajina-Flüchtlinge auf dem Weg zur serbischen Grenze: Nur wer von Freunden oder ren. Aber auch Asiaten, als fleißige Ar- beiter gefragt, lassen sich durch den Ne- benverdienst locken. Balkan Während Hinrichtungen in China (oder auch in den USA) regelmäßig Proteste hervorrufen, köpften die Sau- dis bisher ohne große Widerstände. Nun „Wir haben euch aber spielte Ankara, im Kurdenkonflikt mit Menschenrechten selbst nicht gera- de zimperlich, die Enthauptungen hoch – auch aus innenpolitischen Gründen. nicht gerufen“ Die Volkswut über die Exekutionen schaden dem gefährlichste Herausforde- SPIEGEL-Redakteurin Renate Flottau über die serbischen Vertriebenen rer der Regierung C¸ iller, den Islamisten von der Wohlfahrtspartei (Refah); die wollen die westlich ausgerichtete Türkei ie Kolonne wartet seit Stunden auf defläche des Anhängers geschlungen ist. zum Gottesstaat umbilden und angeb- derstählernenBrücke,diesich über Seine Ehefrau muß sogar das zusam- lich auch die Scharia einführen. Jede D die Drina spannt. Nur noch wenige mengeschnürte Bündel mit Federbetten weitere Hinrichtung, glauben Politiker Meter, und die zusammengedrängten und Kissen auf dem schmutzigen in Ankara, koste die Partei, die bei den Menschen auf den hochbeladenen Trak- Asphalt aufrollen. Wahlen spätestens im Herbst nächsten toren und Fuhrwerken haben sicheren, Die Zöllner winken ungeduldig, wei- Jahres schon den Sieg witterte, entschei- serbischen Boden erreicht. ter, der nächste. Rotkreuz-Mitarbeiter dende Stimmanteile. „Srbija!“ ruft ein Veteran der geschla- in blütenweißen Uniformen dirigieren Saudi-Arabien will dem Druck von genen Krajina-Armee und schwenkt den Konvoi in das nur wenige Kilometer außen trotzen und weiter Köpfe rollen freudig seine schwarze Strickmütze. entfernte Aufnahmelager Loznica. „Wo lassen. „Ich kann keine Sondergesetze Doch der erste Willkommensgruß im ge- ist Sˇesˇelj?“ ruft ein schmächtiger Mann, für Türken, Pakistaner, Libanesen oder lobten Land der Vorväter fällt rüde aus. der noch immer die scheckige Uniform Palästinenser erlassen“, sagt Innenmini- „Hast du noch Waffen?“ fährt ein serbi- der Krajina-Armee und zerfetzte Mili- ster Prinz Naı¨f. scher Zöllner den Mann an. „Nein“, ant- tärstiefel trägt. Vergangenen Freitag trat in Dschidda wortet der halb irritiert, halb zynisch, Auf der Flucht aus Knin haben sie der Scharfrichter wieder in Aktion. Sei- „die haben wir ordnungsgemäß den sich alle immer wieder ausgemalt, wie ne Opfer: zwei Inder und eine Nigeria- Kroaten hinterlassen.“ der serbische Radikalenführer ihnen an nerin, die Heroin und Kokain ge- Rücksichtslos reißen die Kontrolleure der Grenze einen triumphalen Empfang schmuggelt hatten. die Plastikplane zur Seite, die um die La- bereiten würde. Hatte Vojislav Sˇesˇelj

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Verwandten persönlich abgeholt wird, darf aus dem Flüchtlingstreck aussche- ren. Mit jedem zurückgelegten Kilometer wächst die Resignation. Eigentlich, ge- steht eine rundliche Frau und wischt sich die Tränen aus den Augen, stünden ihr die früheren kroatischen Nachbarn nä- her als die Belgrader Serben, mit denen die Krajina-Siedler niemals in der Ge- schichte zusammenlebten. Sie will heim. Doch ihr Mann weist sie empört zu- recht: Ein Zurück werde es nicht geben, die Häuser seien mittlerweile geplün- dert und abgebrannt. Menschenrechts- gruppen und Uno-Blauhelme haben sei- nen Verdacht in der vergangenen Wo- che erhärtet: Kroatische Truppen sorg- ten nach der Eroberung der Krajina da- für, daß die Serben keine Lust auf Rückkehr verspüren. In der Umgebung von Knin brandschatzten sie über zwei Drittel der Häuser, zerstörten systema- tisch serbisches Eigentum. Zurückge- bliebene Zivilisten wurden ermordet. Es kommt fast zu Handgreiflichkeiten zwischen erbitterten Rückkehrverwei- gerern und jenen, die – wie der ehemali- ge Kellner Danko – sagen: „Meine Hei- mat ist dort, wo mein Großvater begra- ben ist.“ Nichts in der Welt könne ihn davon abbringen, an der Krajina festzu- halten, gewaltsam oder friedlich. Vom Autonomieplan, den die Uno im Januar

T. PETERNEK / SYGMA für die Krajina vorgeschlagen hatte, ha- Verwandten persönlich abgeholt wird, darf aus dem Treck ausscheren ben sie nichts gehört. Danach würde den Serben ihr eigenes Geld, eine eige- bei seinen flammenden Auftritten in der Als die Kroaten angriffen, schickte das ne Polizei und eine nahezu vollständige Krajina nicht immer brüderliche Hilfe Oberkommando sein Korps mit fast Selbstverwaltung zugestanden, falls sie versprochen? Die Flüchtlinge sind über- 7000 Mann auf eine sinnlose Irrfahrt. die kroatische Oberhoheit anerkennen. zeugt, daß er bereits alle Kroaten und Von Slunj nach Glina fuhr Vladimir mit „Wenn die Welt dafür Garantien gäbe“, Ungarn aus Serbien vertrieben hat und dem Panzer, von dort ging es nach Pe- sagt Danko, „sollte man akzeptieren.“ deren Häuser nun für sie zum Einzug trova Gora und wieder zurück nach Gli- Flüchtling Milorad findet bei Ver- geflaggt sind. na – angeblich, um die Ausrüstung in Si- wandten in Nova Pazova Unterschlupf. Aber der ersehnte Führer ist nicht da, cherheit zu bringen. Schließlich mußten Über ein Dutzend seiner Familienange- es ist überhaupt kein Politiker da, der die Serben dann doch ihr gesamtes Ge- hörigen sind bereits vor ihm eingetrof- die geschlagenen Landsleute begrüßen rät zurücklassen. Eine organisierte Ver- fen. Tochter Rada hat sieben Tage Ser- und aufrichten könnte. Das Aufnahme- teidigung fand nicht statt. bienerfahrung hinter sich, die nichts Gu- lager in Loznica ist völlig überfüllt. Da- Der Judas, der die Krajina an tes verheißen: „Ich bin schockiert. Auf ten werden unbeteiligt registriert, einige Tudjman verkauft hat, ist für sie der ser- der Straße beschimpft man mich und Lebensmittel verteilt. Eine junge Frau bische Präsident. „Milosˇevic´“, prophe- mein Baby als Zigeunerpack, beim Ein- fragt nach einem Stück Schokolade für zeit Vladimir, „hat sich damit das Mes- kaufen maulte eine Serbin: ,Woher hast ihren fünfjährigen Sohn, der seit dem ser selbst an den Hals gesetzt.“ Seit der du so viel Geld, dir Schinken zu lei- Fluchttag kein Wort mehr von sich gibt. Niederlage hat Milosˇevic´, der große sten?‘“ Ein kahlgeschorener junger Soldat Schweiger, sich öffentlich nicht blicken Die Krajina-Serben werden am Dia- steht wie angewurzelt in dem Durchein- lassen. lekt sofort erkannt. Immer wieder be- ander. Er blickt zu Boden, weigert sich, Die Polizei treibt die Kolonne zur kommen sie zu hören: „Wir haben euch Hilfe entgegenzunehmen. Ein Brot und Weiterfahrt. Die Flüchtlinge wissen nicht gerufen.“ Seit Hunderttausende zwei Konserven, fragt er bitter – und nicht, wohin die Reise geht. Sie ahnen von Landsleuten aus Kroatien und Bos- was dann? Er schämt sich, weil er als auch nicht, daß immer mehr Bürgermei- nien im Mutterland Zuflucht suchen, Soldat nicht ehrenhaft im Feld unterlag, ster aus allen Landesteilen melden, in schmilzt die nationale Solidarität dahin. sondern die Krajina, wie er sagt, „ohne ihren Gemeinden keine Vertriebenen Daß Belgrad zu einer Art Chicago ge- Kugel verkauft“ worden sei. mehr aufnehmen zu können. In Vranja worden ist, in der Mafiosi die Bevölke- Alle sind sich sicher, daß ihre Heimat und den umliegenden, als wohlhabend rung verängstigen, wird den bosnischen verraten wurde, aber die meisten haben bekannten Dörfern weigern sich die Einwanderern angelastet. Kriegsprofi- Angst, darüber zu reden. Nur Vladimir Einwohner sogar, Milch oder Maismehl teure, die mit ihnen einsickerten, liefern erzählt von seiner Odyssee: „Das war für die Landsleute zu spenden. einander fast täglich tödliche Auseinan- kein Kampf, das war Karneval.“ Ob- Auf dem Autoput, der nach Belgrad dersetzungen. wohl schon 62, diente er in Slunj bis zur führt, sperrt die Polizei alle Ausfahrten. Die Mafia hält das Monopol über den letzten Stunde in der serbischen Armee. Nur wer von serbischen Freunden oder Zigaretten- und Benzinschwarzmarkt,

DER SPIEGEL 35/1995 145 AUSLAND und sie kontrolliert zahlreiche Belgrader den so schnell die serbische Staatsbür- ben werden sollten – wo sie wieder als Gemüsemärkte, deren Preise von Bos- gerschaft nicht erhalten. Da bekomme Minderheit in einer feindseligen, mehr- sen diktiert werden, die in gepanzerten ich nur Ärger.“ heitlich albanischen Umgebung hätten schwarzen Jeeps oder silberfarbenen Die Medien vertuschen die trostlose leben müssen. Porsches vorfahren. Restaurants und Lage. Das von Milosˇevic´ beherrschte Viele glauben, daß Serbenpräsident Cafe´s müssen Schutzgebühren entrich- serbische Fernsehen schrieb seinen Re- Milosˇevic´ den Zorn der mittellosen ten. gionalzentren neue Richtlinien für den Landsleute auf die Minderheiten in sei- Die aufgestaute Wut über den wirt- Umgang mit den Flüchtlingen vor: Das nem Reich umlenken möchte. Militante schaftlichen Zusammenbruch entlädt Wort „Vertriebene“ dürfe nicht mehr Krajina-Serben könnten helfen, die stö- sich nun auf die Zuzügler. Alle Serben verwendet werden, in den Beiträgen renden Albaner aus dem Kosovo zu ver- in einem Staat: Damit meinte man müsse die humanitäre Hilfe gewürdigt treiben. Kroaten und Ungarn in der Großserbien, nicht das enge Zusam- Vojvodina ließen sich schon einschüch- menrücken in der eigenen Republik. tern und zur Aussiedlung zwingen. Nur Acht Verwandte einer Flüchtlingsfa- Krajina-Serben sollen wenn sie dazu beitragen, den Vielvöl- milie aus Benkovac habe sie angerufen, helfen, störende kerstaat Restjugoslawien ethnisch rein erzählt Danica Drasˇkovic´, alle lehnten zu machen, sind die Umsiedler für Milo- deren Aufnahme ab. Die Ehefrau von Albaner zu vertreiben sˇevic´ politisch nützlich. Oppositionsführer Vuk Drasˇkovic´ lei- Schon verschaffte sich eine Gruppe tet seit Jahren die Hilfsorganisation werden, etwa die Aufforderung an alle radikaler Krajina-Flüchtlinge mit Äxten Spona. Mehrmals am Tag fährt sie die privaten Bäcker, sofort aus dem Urlaub und Revolvern in den Orten Kukujevci, Flüchtlingskolonnen ab, verteilt Le- zurückzukehren. Kein Aufnahmelager Sˇid, Ruma und Apatin ein neues Zuhau- bensmittel und Kleidung und schleust darf gefilmt, kein kritisches Interview se: Den dort lebenden Kroaten und Un- einige Hilfsbedürftige an den Polizei- mit den „Aussiedlern“ gesendet wer- garn drohten sie die Ermordung an. kontrollen vorbei nach Belgrad in die den. Mit einem Stapel grauer Herrenhosen Räume ihrer Organisation. Nur wer die unabhängigen Zeitungen fährt Danica Drasˇkovic´ wieder den Ko- Eine sechsköpfige Flüchtlingsfamilie Nasˇa Borba oder Vreme liest, erfährt lonnen entgegen. Sie rät, die Uniformen aus Dvor hofft, in Belgrad Fuß fassen zu von schrecklichen Szenen, die sich gele- gegen Zivilkleidung zu tauschen. Denn können. Vater Zoran, der bis zuletzt in gentlich abspielen, wenn die Flüchtlin- Häscher sollen bereits in ganz Serbien der ersten Linie kämpfte, verweist auf ge ihre ausweglose Situation erkennen. Jagd auf Krajina-Flüchtlinge im wehr- ein Zeitungsinserat: „Automechaniker In Kragujevac blockierten Krajina-Ser- pflichtigen Alter machen, um sie erneut gesucht“. Aber als er anruft, winkt der ben die Eisenbahnschienen, als sie er- an die Frontlinien in Bosnien oder Ost- Werkstattbesitzer sofort ab: „Sie wer- fuhren, daß sie ins Kosovo abgescho- slawonien zu bringen.

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SPIEGEL-Gespräch „Es ist ein Alptraum“ Der nigerianische Nobelpreisträger Wole Soyinka über den Widerstand gegen das Gewaltregime

brecher in Bosnien, Ruanda, Somalia und Sudan gehörte er vor ein internatio- nales Tribunal. SPIEGEL: Sie sind Schwarzafrikas einzi- ger Nobelpreisträger für Literatur. Schützt Ihr weltweiterRuhm Sienichtvor Verfolgung? Soyinka: Im Gegenteil. Die Auszeich- nung potenziert die Bedrohung für Leib und Leben. Denn Abacha ist anders als Nigerias frühere Militärmachthaber. Weil es ihm an Intelligenz mangelt, ge- fällt er sich in der Rolle eines aufgeblase- nen Despoten. Er istpersönlich beleidigt, wann immer jemand es wagt, seine Fähig- keiten in Zweifel zu ziehen. SPIEGEL: Zum geistigen Führer des Wi- derstands ist keiner besser als Sie geeig- net. Sie können die moralische Autorität des Schriftstellers gegen das Regime ein- setzen. Soyinka: Für die Junta bin ich ein Staats- feind. Ich kenne Abacha und habe schon

H. BAMBERGER / FOCUS lange, bevor er putschte, vor ihm ge- Soyinka beim SPIEGEL-Gespräch: „Für die Junta bin ich ein Staatsfeind“ warnt. Bei früheren Umsturzversuchen mischte er im Hintergrund mit und ver- SPIEGEL: Herr Soyinka, was würde pas- weil sie angeblich den Militärdiktator richtete die schmutzige Arbeit. Als ichim sieren, wenn Sie morgen auf dem Flug- Sani Abacha stürzen wollten. Hat es November 1993 hörte, daß Abacha die hafen von Lagos ankämen? diese Verschwörung tatsächlich gege- Macht ergriffen hatte, schrieb ich in einer Soyinka: Ich bekäme einen Empfang ben? unserer Zeitungen: Dieser Mann wird mit rotem Teppich, und der würde di- Soyinka: Der Geheimprozeß war ein verhaften, foltern, morden. rekt vom Flugfeld in die Kerker der Unrechtsverfahren. Ich wäre aber ent- SPIEGEL: Hat er es denn geschafft, mit Staatssicherheit führen – in das Gefäng- täuscht und würde meinen Glauben an seiner Brutalität die Kritiker zum Ver- nis an der Obafemi-Awolowo-Straße, meine Landsleute verlieren, wenn es stummen zu bringen? das die Junta beschönigend „Regie- keine Verschwörungen gegen die Tyran- Soyinka: Er versucht es. Aber Nigerias rungsanbau“ nennt. Von dort ginge es nei gäbe. Wirklich Verrat am Volk von Journalisten lassen sich nicht einschüch- zum Militärtribunal. Die Richter wür- Nigeria und schlimmste Verbrechen ge- tern, trotz Zeitungsverboten, trotz Bom- den schnell feststellen, daß ich irgend- gen die Menschlichkeit begeht Junta- benanschlägen auf Redakteure, trotz wann in den vergangenen zwei Jahren Chef Sani Abacha. Wie die Kriegsver- Verschleppung von Angehörigen. Ihr mit jemandem gesprochen ha- be, der zu den sogenannten Putschisten gehört. NIGER Das Militär SPIEGEL: Das würde ausrei- Öl- und chen, um Sie zum Hochverräter Gasvorkommen regiert Afrikas volkreichsten zu stempeln? HAUSSA/FULANI Staat (über 90 Millionen Einwoh- Moslems* ner) seit 1983. Der letzte Ver- Soyinka: O ja, solche Prozesse BENIN dauern nicht länger als eine hal- such, Zivilisten an die Macht zu NIGERIA bringen, scheiterte vor zwei Jah- be Stunde und enden mit dem N iger ren, als die Generäle die Prä- Urteil Lebenslang, wenn nicht Abuja gar mit der Todesstrafe. sidentschaftswahl für ungültig YORUBA Benue KAMERUN erklärten. Wole Soyinka, 61, SPIEGEL: Mit den Putschisten Christen/ sind jene 40 hochrangigen Per- Moslems* IBO stammt aus Südwestnigeria und Christen* hat als politischer Aktivist zwei sönlichkeiten gemeint, die im AFRIKA Juli zum Tode oder zu hohen Lagos PortPort Jahre in Gefängnissen verbracht. Haftstrafen verurteilt wurden, HarcourtHarcourt Der Dramatiker und Romanautor erhielt als bislang einziger

*überwiegende Schwarzafrikaner den Nobepreis Das Gespräch führten die Redakteure Religions- für Literatur (1986). Hans Hielscher und Stefan Simons in zugehörigkeit 200 km Paris.

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Mut, immer wieder auf Umwegen die ist wie russisches Rou- Stimme gegen das Regime zu erheben, lette, sogar Kirchen und gibt Leuten wie mir die Kraft weiterzu- Moscheen sind nicht kämpfen. Selbst Zeitungsjungen verkau- länger sicher. Eine un- fen verbotene Publikationen in aller Öf- glaubliche Brutalität hat fentlichkeit. Und wie einst im Ostblock den humanen Umgang gibt es bei uns heute eine blühende Un- miteinander, auf den tergrundpresse. wir Nigerianer einst SPIEGEL: Verunsichert es den Diktator, stolz waren, völlig ver- daß er den Widerstand nicht brechen drängt. kann? SPIEGEL: Die Oppositi- Soyinka: Wir haben mittlerweile Zustän- on beklagt die Untaten de, wie sie früher in den übelsten latein- der Militärs, aberhatdie amerikanischen Diktaturen herrschten, intellektuelle Elite nicht vielleicht sogar schlimmere. Nach dem selbst versagt? Seit der Prozeß gegen die vorgeblichen Putschi- Unabhängigkeit 1960 sten wagen sich viele Journalisten nicht wird Nigeria, ein Land mehr in ihre Büros. Manche trauen sich mit enormen Natur- nur noch, ihre Kommentare per Fax an schätzen und einer ge- die Redaktionen zu übermitteln, und bildeten Oberschicht, wechseln ständig den Wohnsitz. Andere fast ununterbrochen sind emigriert, weil das Regime für ihre von Generälen regiert.

Ergreifung – lebend oder tot – ein Kopf- REUTER Die Demokratie ist tot. geld ausgesetzt hat. Diktator Abacha: „Der Mann verhaftet, foltert, mordet“ Soyinka: Das stimmt SPIEGEL: Sie selbst haben im November nicht. Die Nigerianer Ihre Heimat verlassen müssen und pen- Soyinka: Die Unzufriedenheit hat alle haben in den Präsidentschaftswahlen deln jetzt zwischen Paris, London, New Schichten ergriffen. Marktfrauen, Stu- vom 12. Juni 1993 bewiesen, daß sie im York und afrikanischen Staaten. Wiehal- denten, Fabrikarbeiter, Verwaltungsan- Herzen für Demokratie sind. Damals ten Sie Verbindung zur Opposition da- gestellte, Bauern, sogar Soldaten leiden überwand die Bevölkerung die traditio- heim? unter dem wirtschaftlichen Niedergang. nellen Schranken von Stammes- und Re- Soyinka: Abacha kann die Grenzen nicht In unserem Land herrscht Hunger. Die ligionszugehörigkeit. Sie kürte in einer völlig dichtmachen, ständig gehen Leute Schüssel Mehl wird jeden Tag teurer, ei- freien und friedlichen Wahl Moshood von uns rein und raus. Ich bin auf diesem ne Tablette Aspirin ist fast ein Luxusar- Abiola zum Präsidenten – einen erfolg- Weg über Schleichpfade geflohen und ha- tikel. Und als Folge der Not wächst die reichen Unternehmer, einen Mann aus be erst vergangene Woche wieder in ei- Kriminalität. Aus Angst vor Verbre- dem Süden, der obendrein Moslem ist. nem Nachbarland Kollegen aus der Hei- chern verbarrikadieren sich die Men- SPIEGEL: Das Votum paßte den Generä- mat empfangen. Wir treffen uns regelmä- schen in ihren Häusern. len aber nicht. Sie hatten auf den Kandi- ßig, aber an wechselnden Orten. SPIEGEL: Die Militärs lassen immer wie- daten des Nordens gesetzt und erklärten SPIEGEL: Für viele Nigerianer verkör- der Kriminelle zur Abschreckung öf- die Wahl für ungültig. Die Militärs war- pern Sie die Stimme der Freiheit. Aber fentlich erschießen . . . fen Abiola insGefängnis. Die demokrati- reicht das aus, um die Machthaber zu ge- Soyinka: . . . es ist ein Alptraum. Egal sche Bewegung blieb ohnmächtig. fährden? ob man morgens aus dem Haus geht Soyinka: Dabei hatten sogar die Soldaten Soyinka: Immerhin verunsichern wir da- oder daheim bleibt – man kann jederzeit in den Kasernen mit großer Mehrheit für mit das Regime ganz erheblich. Neuer- überfallen oder umgebracht werden. Es Abiola gestimmt, darüber haben wir sta- dings verfügen wir so- tistische Unterlagen. Gegen Abiola stan- gar über eine mobi- den allein die herrschenden Militärs, le Radiostation. Die die um jeden Preis an der Macht bleiben „Frequenz der Frei- wollten. heit“ strahlt ein- bis SPIEGEL: Spiegelt sich darin nicht eines zweimal täglich mitten der Grundübel Afrikas – die Stammesge- aus der Metropole La- gensätze? Die Generäle kommen tradi- gos ihre Programme tionell aus dem feudalistischen, islami- aus. Noch hat dieser schen Norden, während die demokrati- Guerrilla-Funk keine sche Bewegung ihren Anhang vor allem regelmäßigen Sende- im wirtschaftlich moderneren, christli- zeiten, aber schon bald chen Süden hat. werden wir einen ge- Soyinka: Die Männer aus dem Norden ordneten Betrieb auf- waren schon immer an der Spitze des nehmen. Das Regime Staats. Schuld daran ist die Kolonialherr- hat zwar versucht, mit schaft der Briten. Die hatten entschie- Hilfe deutscher Tech- den, daß Nigeria stets von den islami- nologie den illegalen schen Emiren im Norden regiert werden Sender zu orten, aber sollte. Das wissen wir aus Dokumenten, vergebens. die unlängst in Londoner Archiven frei- SPIEGEL: Und wie ste- gegeben wurden. Um die Vorherrschaft hen die Chancen, das des Nordens zu zementieren, wurden so- Volk zu mobilisieren? gar Volkszählungen manipuliert. Weil

AFP / DPA dort angeblich die meisten Menschen leb- * Bei der Stimmabgabe am Präsidentschaftskandidat Abiola* ten, sollte dieser Landesteil die politische 12. Juni 1993. „Die Schranken von Stamm und Religion überwunden“ Macht ausüben.

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SPIEGEL: Nach 35 Jahren Unabhängig- SPIEGEL: Südafrikas Präsident Nelson ternationalen Sportveranstaltungen, die keit können Sie doch den Briten nicht Mandela setzt aber eher auf diskrete Sperrung von Auslandskonten und vor mehr die Schuld an der gegenwärtigen Einflußnahme als auf öffentliche Prote- allem ein radikales Handelsembargo Misere Nigerias zuschieben. ste oder gar einen Boykott. würden Abacha und seine Kumpane Soyinka: Ich will nicht alles auf die kolo- Soyinka: Die Zeit stiller Diplomatie ist empfindlich treffen. Das Regime muß niale Vergangenheit abwälzen, aber da- vorbei. Das habe ich auch unserem Bru- an allen Fronten total isoliert werden. mals wurde nun einmal die ungerechte der Mandela öffentlich mitgeteilt. Im Was wäre die Alternative? Ein bewaff- Machtverteilung festgelegt. Und die Ni- Fall von Abacha funktioniert sie gar neter Konflikt, ein neuer blutiger Bür- gerianer haben es seither versäumt, die- nicht: Als Mandela Erzbischof Tutu mit gerkrieg wie in Somalia, Ruanda oder ses Mißverhältnis zu beseitigen. Eine po- dem Auftrag nach Nigeria schickte, sich im Sudan? Wir hatten schon 1967 einen litische Neuordnung ist überfällig. dort für die politischen Gefangenen ein- Bürgerkrieg um Biafra, in dem mehr als SPIEGEL: Was können Sie vom Exil aus zusetzen, behauptete der Diktator hin- eine Million Menschen starben. Nie- dafür tun? mand kann sich eine Wiederholung Soyinka: Zusammen mit Kollegen im In- wünschen. und Ausland habe ich Anfang des Jahres „Nigerias Militärs schaden SPIEGEL: Eine friedliche Lösung, viel- einen „Nationalen Befreiungsrat“ ge- der Demokratiebewegung leicht durch die Vermittlung afrikani- gründet. Und wir unterstützen den Plan scher Staaten, halten Sie nicht für mög- verschiedener Oppositionsgruppen, im in ganz Afrika“ lich? Oktober eine Exilregierung zu bilden. Soyinka: Nein, ausgeschlossen. Abacha Das war unsere Initiative. Die Exilregie- terher, Tutu habe ihm eine Solidaritäts- und seine Kameraden haben die Nation rung will nicht international als legitime adresse an die nigerianische Regierung mit einem Netz des Terrors überzogen. Vertretung Nigerias anerkannt werden, überbracht. Um sich an der Macht zu halten, müssen sondern als Schattenkabinett fungieren. SPIEGEL: Einst war Südafrika der Paria sie immer brutalere Verbrechen bege- Über Informanten in Nigeria werden wir des Kontinents, Nigeria galt als Afrikas hen. Für eine Aussöhnung ist es jetzt zu die Arbeit der Ministerien und Staatsun- Land der Zukunft. Heute ist es umge- spät. ternehmen überwachen. Beispielsweise kehrt: Schwarze Bürgerrechtler in den SPIEGEL: Ist das ein Aufruf zum Tyran- wollen wir prüfen, wohin die Milliarden- USA, die früher die Boykottierung des nenmord? einnahmen aus dem Ölgeschäft fließen. Apartheidregimes durchsetzten, fordern Soyinka: Eine gesellschaftliche Explosi- Das Regime muß wissen, daß wir über je- jetzt die Ächtung Nigerias. on wird stattfinden, das ist sicher. Nur kann niemand sagen, wann es passieren wird. Wenn wir Aba- cha nicht bis Ende die- ses Jahres beseitigt ha- ben, müssen wir uns auf eine lange Schrek- kensherrschaft einrich- ten. Deshalb gibt es keine andere Wahl: Der Diktator muß ge- stürzt werden, wenn nötig auch durch be- waffneten Kampf. SPIEGEL: Werden Sie erst nach dem Ende der Diktatur nach Ni- geria zurückkehren? Soyinka: Ich sehe mich nicht mehr lange im Exil. Ob ich durch die Vordertür zurückkeh-

AFP / DPA re oder durch die Hin- Abtransport von Gefangenen zur Hinrichtung: „Man kann jederzeit umgebracht werden“ tertür, ist eine andere Frage. Ich bin bereit, den seiner Schritte auf dem laufenden Soyinka: Zu Recht. Die Militärs haben mit jenen zu gehen, die den entscheiden- sind. unser internationales Ansehen und Ni- den Schlag wagen. SPIEGEL: Werden Sie mit diesem Plan gerias moralischen Ruf ruiniert. Es ist SPIEGEL: Bleibt bei soviel politischem auch im Ausland Unterstützung finden? bitter und peinlich, daß ihre Herrschaft Engagement Zeit für literarische Arbeit? Der Ölstaat Nigeria ist ein wichtiger der Demokratiebewegung in ganz Afri- Soyinka: Kaum noch. Ich komme gerade Wirtschaftspartner des Westens. ka schadet. Unbedarfte Obristen in dazu, mich in Zeitungen und Magazinen Soyinka: Ich glaube schon. Immerhin Sierra Leone, Gambia und neuerdings über Neuerscheinungen zu informieren, hat sich mittlerweile weltweit der Ein- Sa˜o Tome´ sehen sich durch Nigerias zum Lesen der Bücher habe ichkeine Ge- druck durchgesetzt, daß es keinen schlechtes Beispiel zum Putsch ermun- legenheit. Derzeit arbeite ich an einem Zweck hat, Machthaber wie Abacha um tert. Band mit politischen Essays. Immerhin einen Dialog oder Wandel zu bitten. SPIEGEL: Glauben Sie denn im Ernst, habe ich auch ein aktuelles Theaterstück Der Mann hört nicht auf diplomatische daß der Westen sich zu einem Wirt- über die Lage in Nigeria geschrieben, das Floskeln, sondern reagiert allenfalls auf schaftsboykott durchringt? im Herbst bei einem Kulturfestival in Drohungen mit handfesten Sanktionen. Soyinka: Eine konsequente Verweige- London uraufgeführt wird. Und dabei sollten die Nationen Afrikas rung von Visa für die Militärs und deren SPIEGEL: Herr Soyinka, wir danken Ih- den Anfang machen. Angehörige, ein Bann Nigerias bei in- nen für dieses Gespräch.

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Italien Wie Judas im Olivenhain SPIEGEL-Redakteur Michael Schmidt-Klingenberg über den Selbstmord eines grünen Politikers

nten im Tal donnern dröhnend die Touristen überdieSuperstradanach USiena. Oben auf die friedliche An- höhe kommt selten ein Fremder ohne be- sonderen Grund. Der Name der Straße, die dort hinauf- führt, steht nur auf einem Stück Pappe. Einer der wenigen Anwohner hat es an die Mauer aus brüchigen Steinen gehef- tet. Die Via di San Michele a Monteripal- di windet sich lange die Hügel über Flo- renz entlang. Dann biegt sie plötzlich im rechten Winkel ab, geht an der schlichten Kirche gleichen Namens vorbei und en- det in einer Sackgasse vor dem eisernen Gitter eines Gutshauses. Wer vorher an der Biegung weiter ge- radeaus fährt, kommt durch ein offenes Tor in einen alten Olivenhain. Den Hang abwärts, neben einem Spalier mit Wein- stöcken, steht ein zierlicher Aprikosen- baum. Von dort weitet sich der Blick über sanfte Berge. Silbrig schimmert das Grün der Ölbäume, ockergelb leuchten dazwi- schen die Häuser der Toskana. Am späten Nachmittag des 3. Juli die- ses Jahres fährt Alexander Langer, 49, Vorsitzender der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament, mit seinem

weißen Fiat Uno die Straße entlang. Er O. SEEHAUSER kennt den Ort, es sind ja nur ein paar Ki- Italienischer Grüner Langer (1994):„Seid nicht traurig, macht weiter, was gut war“ lometer zur Via Benedetto Fortini in Flo- renz, wo er mit seiner Ehefrau Valeria an den Hauswänden in Florenz. Das Urlaubsfoto: „Alexander Langer – Zeu- Malcontenti wohnt. Langer parkt neben Plakat der italienischen Grünen zeigt ge unserer Zeit“. der Einfahrt zum Olivenhain und geht zu keinen Politiker. Scheu lächelt ein etwas Fotogen war er nicht. Im Fernsehen dem Aprikosenbaum. älter gewordener Oberprimaner mit kam er auch nicht gut heraus. Seine Ge- Gegen Sonnenuntergang zieht er seine hervorstehenden Zähnen, über eine dankengänge waren zu kompliziert für Mokassins aus und stellt sie ordentlich Terrassenmauer gebeugt wie bei einem Statements. Spektakuläre Aktionen la- unter den Baum. Daneben lehnt er seine gen ihm nicht. So fand er sich in den Aktentasche mit einem Handy, dem Par- Zeitungen meistens bei den Leserbrie- lamentsausweis, Sitzungsunterlagen und Alexander Langer fen wieder. Erst sein Selbstmord wurde einem Priesterbrevier. in ganz Italien zur Meldung auf den er- Dann knotet er sich das etwa einen war der bekannteste Grüne Italiens. sten Seiten. Schließlich bringen Politi- Zentimeter dicke Seil um den Hals, das er Zusammen mit der Deutschen Clau- ker sich selten um. um 16 Uhr in einem Sportgeschäft der In- dia Roth führte er die Grünen-Frakti- Ein richtiger Politiker war er wohl nenstadt gekauft hat. Er klettert auf das on im Europaparlament. Völlig über- nicht. „Selbstlos bis zur Selbstaufgabe“, Aprikosenbäumchen, befestigt das Seil raschend nahm sich Langer, 49, am nennt Reinhold Messner seinen Freund an einem der vier Äste und springt. 30 3. Juli das Leben. Freunde und Mit- Langer. Der Südtiroler, der Anfang der Zentimeter über dem Boden bleibt Alex- streiter rätseln seitdem über sein siebziger Jahre in Frankfurt eine zeit- ander Langer hängen. Motiv. Viele wollen nur zu gern glau- lang mit Joschka Fischer in derselben Es war ein Tod mit schöner Aussicht. ben, daß er aus politischer Verzweif- Wohngemeinschaft ohne Dusche ge- Aber einige grüne Gefährten sehen darin lung Selbstmord begangen habe. haust hatte, brachte die grünen Gedan- auch ein finsteres Zeichen: Er ging weg Langer hatte sich für die Opfer des ken nach Italien und gründete dort die und erhängte sich in einem Ölberg wieJu- Bosnien-Krieges eingesetzt. Andere „Verdi“ mit. Im Netzwerk der Grünen das Ischarioth. vermuten eher, daß der Jurist, So- in Europa knüpfte er die Verbindungen. „Seid nicht traurig, macht weiter, was ziologe und Journalist an seinen ei- Wie besessen hielt er Kontakt zu aller gut war“, istder letzte Satz auf einem Zet- genen rigorosen Ansprüchen, poli- Welt. Sein Adreßbuch aus dem Compu- tel, den die Polizei im Auto des Selbst- tisch wie privat, gescheitert war. ter verzeichnete ungefähr 1500 Telefon- mörders findet. Die Aufforderung hängt nummern.

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Seine Anhänger verehrten ihn wie ei- Ein tragfähiges Gemüt ist nötig,um der Brüssel eine Freundin im Bett hätte, nen seltsamen Heiligen. „Fast un- Last standzuhalten. „Politik ist zu einem wünschten ihm manche, aber keiner menschliche Ausdauer, fast mönchische guten Teil Unvermögen, wirklich an den konnte es sich vorstellen. Hingabe an die Sache“, preist ein Mit- Verhältnissen etwas zu verändern,“ sagt Langer konnte jedem Gegenüber das streiter an ihm. „Er wußte, daß er ein abgeklärt der Präsident des Europäi- Gefühl vermitteln, gerade seine Person Übermensch war“, sagt Uwe Staffler, schen Parlaments Klaus Hänsch, „damit sei ihm unglaublich wichtig. Er vergaß sein Mitarbeiter im Europäischen Parla- muß man leben können.“ keinen Geburtstag, erinnerte jeden Jah- ment, „er hat seine politischen Bekennt- Der Abgeordnete Langer aber glaubte restag und überraschte immer wieder nisse gelebt.“ an die Politik. Er glaubte an die Verände- durch kleine, ganz persönliche Geschen- So einer darf sich nicht einfach auf- rung, und er glaubte, daß gerade er siebe- ke: ein Büchlein mit italienischen Thea- hängen. „Die Lasten sind mir zu schwer wirken müsse. Sein Verantwortungsge- ter-Masken etwa für Claudia Roth, die geworden, ich derpack’s einfach nim- fühl und sein Pflichtbewußtsein hatten früher einmal Schauspielerin war. Dazu mer“, schrieb Langer im Dialekt seiner fast schon etwas Anmaßendes. Kein die Widmung, das könne sie auch in der Heimat auf den Abschiedszettel. Mit Brief an den Abgeordneten blieb ohne Politik manchmal brauchen. dieser allzu menschlichen Verzweiflung Antwort –nicht einmal die Massendruck- Ein trauriger Scherz. Natürlich stehen können sich seine politischen Freunde sachen aus dem Computer, die andere die Grünen für eine Politik ohne Maske. nicht abfinden: Sein Tod muß eine Bot- wegschmissen. Für jede Menschen- Das ist ein unerbittlicher Anspruch. schaft verbergen. Aber welche ? rechtsverletzung fühlte er sich persönlich Denn hinter die Maske könnte sich Ein Grüner hat noch mit seinem Tod höheren An- sprüchen zu genügen. Als vor drei Jah- ren erst seine Gefährtin Pe- tra Kelly und dann sich sel- ber erschoß, erwog die Be- wegung alle möglichen To- destheorien, nur nicht das ganz gewöhnliche Bezie- hungsdrama. So glaubten auch Langers linksradikale Genossen aus der frühen Kampfzeit erst mal nicht an Selbstmord und sahen dunkle Mächte am Werk. Kollegen aus dem Europa- parlament vermuteten ei- nen Zusammenhang zwi- schen dem Todestag und dem Kampf um Srebreni- ca.

Für die Polizei ist alles ANSA geklärt. Die Todesursache: Abtransport der Leiche Langers: „Die Lasten sind zu schwer, ich derpack¯s einfach nimmer“ Erstickt durch Erhängen. Das Motiv: Der Abgeordnete habe in zuständig. Aber auch jeder Fleischer aus manchmal der abgeordnete Mensch aus letzter Zeit gestreßt gewirkt und auf dem Trentino, der mit den Hygiene- der Politik flüchten. Die grüne Moral ist politischer Ebene einige Enttäuschun- Vorschriften der Europäischen Union strenger als die anderer Parteien: Öko- gen erlebt, besonders was sein Engage- nicht zurechtkam, konnte auf Alexan- korrekt in allen Lebenslagen muß ihr ment für Bosnien anging. der Langer rechnen. Sogar seinem treu- Volksvertreter sein – ein Sein ohne Aber der Fall ist ein wenig zu klar. en Helfer Staffler war das zuviel: „Der Schein. Wenn sich Politiker wegen persönli- Anspruch war absolut verrückt.“ Für den Abgeordneten Langer war cher Frustrationen oder der Weltläufe Langers Leben war selbstmörderisch. das ein von Jugend an vertrautes Gebot. im allgemeinen in den Tod treiben lie- „Der arbeitet sich buchstäblich zu To- Auf dem Gymnasium der Franziskaner ßen, müßten die Parlamente Europas de“, dachte seine Fraktions-Kollegin in Bozen gehörte er zu den Führern der längst wegen massenhafter Entleibung Roth oft. Wenn die anderen morgens Marianischen Studentenkongregation. ihrer Mitglieder schließen. aufstanden, hatte Langer schon das erle- „Überzeugung und gelebtes Leben in Für einen Moment hat der Selbst- digt, womit seine Kollegen den Tag ver- Einklang zu bringen“, sagt sein Mitschü- mord eines Mitglieds das Europäische brachten. Um Mitternacht saß er noch ler Benno Malfe`r, jetzt ein Benedikti- Parlament zur Besinnung gebracht. immer in seinem Abgeordneten-Zim- ner-Abt, „die Dinge beim Wort zu neh- Manche denken plötzlich und unerwar- mer. Manchmal nur nickte er für Au- men, das bewegte uns.“ Heiß und innig tet über die eigene Arbeit nach. „Dies genblicke während einer Sitzung ein. Er bekannte der 15jährige Alex in der von ist eine riesige Energievernichtungsma- hatte ständig rote Augen, aber er wirkte ihm gegründeten Schülerzeitung Offe- schine fernab vom richtigen Leben“, hellwach. nes Wort, „für den Sieg des Gottesrei- sagt der österreichische Grüne Johan- Mitten durch das politische Getöse ches in der Welt einzutreten“. nes Voggenhuber. „Wie Theater ist wandelte Langer wie ein asketischer Nach dem Abitur, als bester Schüler das hier, die perfekte Inszenierung“, Eremit. Sein Essen schlang er genußlos in Südtirol, wollte er Mönch werden. Ei- meint Claudia Roth, die zusammen mit herunter und klagte über den „Terroris- ne voreilige Entscheidung, meinte sein Langer den Fraktionsvorsitz der Grü- mus des Mineralwassers“ – er trank lie- Vater und verbot es ihm. So wurde er nen inne hatte. „Man kann sich hier zu ber Leitungswasser. Daß er in Florenz doppelter Doktor in Jura und Soziologie Tode arbeiten, ohne daß die Welt das eine Ehefrau sitzen hatte, erfuhren die und dazu noch Gymnasiallehrer. Den mindeste davon merken würde.“ meisten erst nach seinem Tod. Daß er in Eltern kam der religiöse Eifer ihres Soh-

DER SPIEGEL 35/1995 153 Werbeseite

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nes ziemlich fremd vor. Seine Mutter, Linke, Alternative Liste, Grüne Alter- heimlichen Neid sah er den Erfolg sei- aus einer alteingesessenen Apotheker- native. ner politischen Freunde in Deutsch- Familie in Sterzing am Brenner, war in Seine Siege sind unsichtbar. Kein Pro- land, die es wie Joschka Fischer bis kirchlichen Dingen für ihre Kreise unge- porzgesetz wurde geändert. Noch in die- zum Minister gebracht hatten. Führung wöhnlich liberal. Sein Vater, ein Chirurg sem Frühjahr scheiterte Langers Kandi- gefiel ihm. „Seine autoritäre Seite hat aus einer jüdischen Wiener Familie, hat- datur für das Bozener Bürgermeister- er an uns ausgelassen,“ erinnert sich te den katholischen Glauben nur zum amt an der Formalie, daß er sich keiner Peter Langer, der jüngste von drei Zweck der Heirat angenommen. Sprachgruppe zugehörig erklären woll- Brüdern. Der Älteste teilte zu Hause „Warum geht Papa nie in die Kirche?“ te. Aber dank Langers beharrlicher Agi- den Dienst ein, zum Einkaufen oder Auf diese Frage gaben die Eltern dem tation gegen die „ethnischen Käfige“ ist zum Müll Wegbringen. „Man mußte Kind erst spät die wahre Antwort. Artur der Umgang zwischen den beiden Grup- parieren“, sagt Peter, „es war alles Langer war 1938 aufgrund der Rassenge- pen entspannter geworden. Selbst die ernst und gut fundiert, weil er ja recht setze entlassen worden. Seit 1943 hatten Führer der Volkspartei suchten in den hatte.“ ihn italienische Freunde im Trentino und letzten Jahren heimlich den Rat des Eu- So offen wie als Kind traute Langer der Toskana versteckt. Alle anderen ropaparlamentariers. sich später nie mehr, seinen Führungs- Verwandten des Vaters brachten die Na- So begann allseits „die Konsekration willen durchzusetzen. Autorität wan- zis um. 1945 durfte der Chirurg seine Ar- des Doktor Langer“, wie der Südtiroler delte er in Arbeit um. Wenn die ande- beit am Sterzinger Hospital wieder auf- Journalist Franz Kronbichler spottet. ren nach endlosen Debatten erschöpft nehmen, als wäre nichts geschehen. Der Bergsteiger Messner nennt Langer zurückfielen, waren sie froh, daß Lan- Doch ein verdruckster Antisemitis- „die wichtigste Figur der letzten 50 Jah- ger nimmermüde die notwendige Reso- mus waberte weiter zwischen den Ber- re“ im Lande, für den Schriftsteller Zo- lution verfaßte. Unvermutet konnte er gen. Alexander Langer war schon ein be- derer ist er „das Genie dieses Südtiroler aber auch alte Gefährten hart fallenlas- kannter Name in der Südtiroler Politik, Jahrhunderts“. sen, um andere seiner Favoriten in da kam der Bozener Pressechef noch ins Aber vielleicht wäre Langer lieber et- Landtag oder Parlament zu beför- Stottern bei der Frage, ob dieser außer- was anderes als das Genie gewesen. Der dern. ordentliche Alternative wirklich ein ech- gütige Grüne, der hochherzige Helfer Meistens jedoch hielt Langer sich ter Sohn des Landes sei: „Also...ganz hätte gern einmal die Macht gehabt. Mit auf der Seite der Machtlosen auf. Kei- echt . . .äh . . . sein Vater war ein Jud.“ Im Südtirol der Nachkriegszeit, wo Religion, Deutschtum und Sprache zähl- ten, fiel die Familie Langer aus dem Rahmen. Zu Hause wurde kein Tiroler Dialekt gesprochen, bemerkte Alex noch als Erwachsener fast vorwurfsvoll, sondern Hochdeutsch. In der kleinen Stadt am Brenner habe er bei aller Liebe „eine gewisse Fremdheit“ gespürt. So muß eine seltsam zerrissene Seele herangewachsen sein, ein Außenseiter, der gern heimisch geworden wäre in ei- ner Welt, die nicht die seine war. Mit sei- ner religiösen Hingabe wollte er wieder- gutmachen, was er bei seinen Eltern an Rechtgläubigkeit vermißte. Aber sein Rigorismus schoß weit über das landes- übliche Maß an feuchtfröhlichem Gott- vertrauen hinaus. „Warum hassen wir nicht die Italie- ner?“ Das war die andere Frage von Alex an seine Eltern. Die Antwort gab er sich später selbst. Die Italiener hatten seinen Vater gerettet, warum sollte man also mit ihnen hier nicht zusammenleben können? Die Südtiroler Volkspartei setzte auf strikte Trennung der ethni- schen Gruppen. Langer verlangte es von Haus aus nach Zusammenleben der Be- völkerungsgruppen. Etwas zusammen- bringen, was nicht zusammenpassen will – damit quälte er sich fortan ab. Zwei Jahrzehnte kämpfte er auf den verschiedensten Ebenen für diese „con- vivenza“ der deutsch- und italienisch- sprachigen Südtiroler: erst in einer bil- dungsbürgerlichen Kulturzeitschrift, Die Brücke, dann mit der revolutionären Ro- ten Zeitung, der Südtiroler Ausgabe der italienischen Basis-Bewegung Lotta con-

tinua, schließlich ab 1978 als Landtags- O. SEEHAUSER abgeordneter für Gruppen wie die Neue Langer (M.) bei Demonstration in Innsbruck (1987): „Ethnische Käfige“

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ner der Kollegen im Europaparlament kümmerte sich so wie er um den Kon- flikt in Bosnien, für den Südtiroler war es ein seelenverwandtes Land der eth- nischen Käfige. Langer reiste mühselig durchs Kampfgebiet zu winzigen Grup- pen von panjugoslawischen Frauen- Netzwerken oder serbischen Kriegs- dienstverweigerern, mit denen er an der Lage im Land nichts ändern konn- te. Der Abgeordnete aus dem fernen Brüssel weckte seinerseits dort riesi- ge Erwartungen, die er als Parlamen- tarier ohne Macht gar nicht erfüllen konnte. Wie er allen Menschen mit geneigten Kopf und etwas verquetschtem Mund zuhörte, das hatte auch einen verque- ren Zug von Selbstverleugnung. Sein katholischer und sein grüner Purismus potenzierten sich auf unselige Weise. Was in ihm selbst an Widersprüchen steckte, konnte er nicht akzeptieren. „Das Ich des Alexander Langer ist Stacheldrahtverhau an der Schweizer Grenze (1942): Trübe Vergangenheit sehr selten nach außen gekehrt wor- den“, sagt die österreichische Grüne von Loch Ness“, erklärt Rolf Bloch, Marijana Grandits, „er hat es sich sel- Schweiz Präsident des Schweizerischen Israeliti- ber nicht erlaubt, nur zu leben.“ schen Gemeindebundes. „Man weiß Der grüne Heilige kam durchaus öf- nicht, ob es existiert und, wenn ja, wie ter in Versuchung. Anders als viele sei- groß es ist. Aber es taucht immer wieder ner ergebenen Jünger glaubten, hatte Böser auf.“ er ein Liebesleben jenseits seiner Ehe. Trotz seiner Skepsis drängt der Ber- Es fiel nur kaum auf, weil auch seine ner Schokoladenfabrikant die eidgenös- Lieben Teil seines politischen Lebens Verdacht sischen Banker, noch einmal ernsthaft waren. Aber sogar die Lust wurde ihm nach Guthaben von Nazi-Opfern zu for- noch zur Last. Der verhinderte Mönch Verbergen die eidgenössischen schen. Alarmiert durch eine auffällige litt gleich unter zwiefacher Sündhaftig- Banken herrenlose Vermögen von Häufung von Anfragen aus Osteuropa, keit: Er hatte die Ehe gebrochen und unterstützt ihn nun auch Kurt Hauri, sein politisches Zölibat, die absolute Holocaust-Opfern? Die Erben verlan- Direktor der Eidgenössischen Banken- Hingabe an die Sache. gen Klarheit. kommission. Um ihren guten Willen zu „Zu groß ist die Last der Liebe zur demonstrieren, so der oberste Aufseher Menschheit und der Liebe zu Men- des Geldgewerbes, sollte die Bankier- schen, die sich ineinander verweben ea Weissmann, 69, aus Haifa ist vereinigung eine zentrale Auskunftsstel- und nicht auflösen“, schrieb Langer neuerdings voller Zuversicht, das le einrichten und die Anfragen kulant zum Tod von , und nun LVermögen ihres Vaters wiederzufin- und unbürokratisch bearbeiten. klingt das wie sein eigener Nachruf, „zu den. Seit 50 Jahren vermutet sie es in ei- Bisher waren die Banken der Ansicht, groß ist die Distanz zwischen dem, was nem Schweizer Banktresor. Auch Vitez- das Problem längst erledigt zu haben. man verkündet, und dem, was man er- lav Rodan aus Tel Aviv, Ruth Buchstab Auf Regierungsanweisung von 1962 reicht.“ aus Herzlija, Greta Beer aus New York mußten Banken, Treuhänder und Versi- Empfand er das als Verrat an seiner und viele andere Nachkommen von cherungen ihre Archive durchforsten. Frau, an der Sache, an den Menschen? Nazi-Opfern schöpfen Dabei kamen küm- Gerade seine engsten Freunde lesen Hoffnung, längst ver- merliche 9,5 Millionen nun die Signale des Todes mit ent- loren geglaubte Schät- Franken zum Vor- schlossener Eindeutigkeit: Er nahm den ze aufzuspüren. schein – viel weniger Strick wie Judas im Ölberg. Israelische Politi- als erwartet. Und nur Die letzten Tage vor seinem Tod hat ker, Anwälte und für 7,1 Millionen fan- Alexander Langer voll mit Terminen Funktionäre jüdischer den sich bis zum Ab- gepfropft wie immer. Demonstration Organisationen trie- schluß der Aktion für die Aufnahme Bosniens in die Eu- ben die Erwartungen 1973 rechtmäßige Be- ropäische Union auf dem Gipfel der der Rentner in den sitzer. Den Rest des Staats- und Regierungschefs in Cannes, letzten Wochen hoch Geldes erhielten jüdi- Fraktionssitzung der Europa-Grünen, und wetterten gegen sche und nichtjüdische Vorbereitung einer Mittelmeer-Konfe- habgierige helvetische Flüchtlingswerke. renz in Palermo im September. Beim Finanzhaie, die sich Seither müssen sich letzten Telefonat mit dem Handy angeblich schamlos die Zürcher Gnome gibt er seinem Assistenten Staffler am Holocaust berei- immer wieder gegen Anweisungen für den nächsten Tag in chern wollten. den Verdacht wehren, Brüssel. Mit den herrenlosen sie hätten sich die ver-

Da hat er schon den Strang gekauft, Vermögen sei es „wie R. MAGNES schollenen Vermögen mit dem er sich im Olivenhain erhängt. mit dem Ungeheuer Erbin Weissmann trickreich angeeignet.

156 DER SPIEGEL 35/1995 Im Juni schürte das Wall Street Journal mit einer Skandalgeschichte die seit Jah- ren glimmende Glut: Das Blatt be- schrieb, wie die Erben eines Moses Blum bei der Bank Julius Bär in Zürich abgewimmelt worden seien. Peinlich für die angesehene Finanz- zeitung, daß die Privatbank der Ge- schichte auf den Grund ging. Moses Blum und seine Frau Frieda, so kam heraus, hatten ihr Schweizer Konto nicht in den dreißiger Jahren, sondern erst 1954 eröffnet; 1972 lösten sie es auf. Kleinlaut korrigierte das Wall Street Journal seine Story, doch das Thema war international lanciert: Die Schwei- zer Bankiers seien „absolut kriminell“, schimpfte im Wall Street Journal die auf- gebrachte New Yorkerin Greta Beer, die seit Jahren in Zürich, Genf und Montreux erfolglos nach dem Vermö- gen ihres Vaters sucht. Mit phantastischen Schätzungen über den Wert der herrenlosen Konten heiz- ten israelische Blätter und Magazine die Stimmung an. Das letzte Gerücht, vom Wirtschaftsblatt Globes kolportiert, will von 7,7 Milliarden Franken wissen, wel- che die Eidgenossen versteckt halten. Kein Wunder, daß Politiker und An- wälte inzwischen kräftig bei der Schatz- suche mitmischen. Der Likud-Abgeord- nete Dan Tichon wirft den Schweizer Bankern Geheimniskrämerei vor: „Mit formalistischen Begründungen wurde Tausenden von Gesuchstellern die Ak- teneinsicht verweigert.“ Und die Regie- rung in Jerusalem will Edgar Bronfman, den Präsidenten des Jüdischen Weltkon- gresses, einspannen, um mit der Berner Regierung und der Bankiervereinigung zu verhandeln. Die Polemik im Ausland und politi- scher Druck im Innern haben die zu- rückhaltenden Banken verunsichert. Sie merken, daß ihre notorische Arroganz das Geschäft verdirbt, zumal sie welt- weit ein Drittel der privaten Vermö- gensverwaltung ausüben und auch für institutionelle Anleger als erste Adresse gelten. Das macht sie für Stimmungsma- che verletzlich. Das Umdenken wurde auch dadurch gefördert, daß sich die Eidgenossen zu- nehmend kritisch mit ihrer trüben Ver- gangenheit auseinandersetzen. Neben der brutalen Flüchtlingspolitik und der Erfindung des J-Stempels für jüdische Pässe wird die Unterstützung der Nazis durch Hehlerdienste und Kredite durch- leuchtet. „Die Schweiz“, beschrieb das Lausanner Magazin L’Hebdo den Sin- neswandel, „hat gelernt, sich zu schä- men.“ Ob aber die spät erwachte Hilfsbereit- schaft ausreicht, frühere Unterlassun- gen gutzumachen, ist fraglich. Denn ausgerechnet das Bankgeheimnis, das 1934 zum Schutz des jüdischen Flucht- kapitals eingeführt wurde, bildet nun .

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die höchste Hürde für die Gesuchstel- ler. Decknamen, Kontennummern oder Informationen über Strohleute sind mit den Toten verschwunden, die Überlebenden verfügen oft nur über bruchstückhafte Hinweise. Typisch, was der Sohn eines Holocaust-Opfers aus Bulgarien an Rolf Bloch schrieb: „Mein Vater hat 1942 oder 1943 eine Überweisung auf ein Schweizer Bank- konto gemacht. Ich sah damals die Kontonummer, aber ich weiß sie nicht mehr.“ Wer keine genauen Hinweise besitzt, war bisher gezwungen, von Bank zu Bank zu ziehen und einzeln um Nach- forschungen zu bitten. Für ihr Blättern in alten Kontenbüchern verlangten die Kreditinstitute 300 bis 1000 Franken Bearbeitungsgebühr – verlorenes Geld in den meisten Fällen. Künftig soll die Suche für die Erben der Holocaust-To- ten unentgeltlich sein. Und vielleicht müssen sie auch nicht mehr ins Alpen- land reisen, wenn die Schweizer in New York und Tel Aviv Auskunftsstel- len einrichten. Obwohl die Sprecher großer Geld- häuser plötzlich nicht mehr ausschlie- ßen, daß sich möglicherweise doch noch verschollene Vermögen in ihren Büchern finden, erwartet niemand auf- regende Entdeckungen. Die gehandel- ten Summen hält Bankenaufseher Hauri jedenfalls für „pure Phantasie“. Vor 1950, sagt der Bankier Hans J. Bär, habe von einem Vermögensver- waltungsgeschäft in der Schweiz „nicht die Rede sein“ können. Deshalb seien die meisten Depots aus jenen Jahren

bescheiden. Auch der Historiker ARCHIVE PHOTOS Jacques Picard, Autor der Studie „Die Präsident Pero´n, Gattin Evita: Idol der Hemdlosen Schweiz und die Juden, 1933 bis 1945“ und eines Gutachtens über die herren- brachte den Sarg in einem als Kranken- losen Konten, warnt vor übertriebenen Argentinien wagen getarnten Kombi nach Bonn. Hoffnungen. Dort versteckte er seine Beute in einer Lea Weissmann wird deshalb wohl Dachstube der Botschaft an der Koblen- weiter mit der Überzeugung leben, zer Straße. Das war 1957. „daß das Geld vorhanden sein muß“ – Santa Evita Moori König frohlockte. Er glaubte, und trotzdem wird sie seiner doch Argentiniens berühmtesten Leichnam nicht habhaft werden. Und auch Greta Totenkult um eine Volksheldin: Ein sichergestellt zu haben: den einbalsa- Beer wird ihre hilflose Wut auf „diese Bestseller beschreibt die Odyssee mierten Körper des Armen-Idols Evita Straßenräuber“ nicht loswerden – wie Pero´n. Die Präsidentengattin war zu die meisten, die nur unzulängliche An- der Leiche von Evita Pero´n. diesem Zeitpunkt schon seit fünf Jah- gaben über die Hinterlassenschaft ihrer ren tot, aber die „descamisados“, die geschundenen Verwandten haben. berst Carlos Moori König, Militär- „Hemdlosen“ aus den Elendsvierteln, Falls noch Kapital auftaucht, ist attache´ an der argentinischen Bot- verehrten sie inniger denn je. nicht einmal sicher, daß es von Holo- Oschaft in Bonn, ging auf eine ma- Doch die schöne Leich’, die Moori caust-Opfern stammt. Es könnte kabre Jagd. Bei der Zollabfertigung des König in St. Pauli gefunden hatte, war durchaus auch Nazis gehört haben, die Hamburger Hafens hatte er vergebens nur eine wächserne Kopie. Die echte ihre Schätze ebenfalls in der Schweiz die Herausgabe eines einbalsamierten Evita hatten argentinische Geheim- in Sicherheit zu bringen pflegten. Leichnams reklamiert, der mit dem dienstagenten nach Italien geschafft und Deshalb möchte Picard allen herren- Frachter „Cap Frio“ aus Buenos Aires unter dem Namen Marı´a Maggi de Ma- losen Besitz in einem einzigen Fonds gekommen war. Unbekannte waren ihm gistris auf einem Mailänder Friedhof be- sammeln. Der könnte den Wiederauf- zuvorgekommen und mit dem Sarg ver- graben. bau jüdischer Gemeinden in Osteuropa schwunden. Moori König wollte den Schwindel finanzieren und auch im nahöstlichen Mit gezückter Pistole drang der Offi- nicht wahrhaben. Vor seiner Versetzung Friedensprozeß helfen – etwa mit Geld zier auf St. Pauli in die Herbertstraße nach Deutschland hatte er in Buenos für israelisch-palästinensische Gemein- ein und bedrohte mehrere Prostituierte. Aires eine Zeitlang die echte Tote be- schaftsprojekte. In einem Hinterhof wurde er fündig und wacht und dabei offenbar eine makabre

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Leidenschaft für Evita entwickelt. Er rung, so hoffte er, würde ihr Andenken Pero´ns Privatsekretär Jose´Lo´pez Re- setzte den Sarg mit der Kopie im Alt- verewigen und den Peronismus auf Ge- ga, von seinem Chef wegen angeblich mühltal bei, der Heimat seiner deut- nerationen hinaus stärken. übersinnlicher Fähigkeiten geschätzt, schen Vorfahren. Seine Witwe schwört Drei Jahre lang werkelte Pedro Ara trieb mit dem Körper Hokuspokus. Er bis heute, daß sie die wahre Evita in an der Konservierung. Er widmete der legte die tote Evita in ein Bett, Pero´ns Bonn gesehen habe. Toten soviel Sorgfalt wie keiner Leiche dritte Frau Isabel mußte sich neben ihr Die alte Dame ist eine der Quellen für zuvor: „Ara war ihr verfallen“, sagt Au- ausstrecken. Mit spiritistischen Ritualen das Buch „Santa Evita“, das zur Zeit in tor Martı´nez. „Er wollte ewig an ihr ar- versuchte Lo´pez Rega, Evitas Seele auf Argentinien die Bestsellerliste anführt. beiten.“ Isabel zu übertragen. Das Werk zeichnet den seltsamen Kult Als die Militärs 1955 die Macht über- Nach seiner Rückkehr aus dem Exil um die jung gestorbene Frau nach, die nahmen, beauftragten sie Moori König, 1973 ließ der erneut zum Präsidenten ge- mit ihrem Einsatz zugunsten der Mittel- dem schrulligen Spanier den Leichnam wählte Pero´n die Unvergessene nach losen zur Volksheldin aufgestiegen war. zu entwinden. Er sollte die tote Evita Buenos Aires holen. Siewurde inder Prä- „Nach ihrem Tod wurde Evitas Kör- verwahren, bis die Generäle über ihr sidentschaftsresidenz Olivos bestattet. per zu einer politischen Waffe“, sagt der Schicksal entschieden hatten. Aber erst zwei Jahre nach Pero´ns Tod Autor Doma´s Eloy Martı´nez, der die Ara hatte vorsorglich drei Wachsko- 1974 fand Evita ihre letzte Ruhestätte: Abteilung für Lateinamerika-Studien an pien angefertigt, um mögliche Leichen- Die Militärjunta, die 1976 gegen Pero´ns der Rutgers University in New Jersey räuber zu verwirren. Den echten Kör- Witwe Isabel geputscht hatte, fürchtete, leitet. „Der Leichnam erlangte mehr per, der bis 1955 im Zentralgebäude des daß sich linksperonistische Guerrilleros Bedeutung, als Evita zu Lebzeiten je peronistischen Gewerkschaftsbundes der Toten bemächtigen könnten. Evita hatte.“ CGT aufgebahrt war, verbargen die Mi- wurde auf den Friedhof La Recoleta ver- Den Anstoß zu seinen Recherchen litärs zunächst hinter einer Kinolein- legt, wo Argentiniens reiche Familien ih- gaben einige Offiziere, die den Schrift- wand im Stadtteil Palermo. Als dieser re Angehörigen zu bestatten pflegen. E. GIL / BLACK STAR UPI / BETTMANN Verehrer vor Evita Pero´ns Grab (1995), einbalsamierte Evita (1974): „Körper als politische Waffe“

steller vor einigen Jahren in ein Cafe´in Aufenthaltsort zu unsicher wurde, karr- Dort ruht der Leichnam hinter drei Buenos Aires einluden. Im Beisein von ten sie den Leichnam tagelang in einem Stahlplatten in einer mehrere Meter tie- Martı´nez’ Anwalt, der am Nebentisch Lastwagen durch Buenos Aires und fen Gruft. Noch heute suchen jeden Tag lauschte, verrieten sie ihm die Odyssee brachten ihn schließlich in ein Militär- Verehrer das Grab auf, legen Blumen des Leichnams. Die Militärs, die den depot. und Heiligenbildchen für die Angebete- Diktator Juan Domingo Pero´ n 1955 ge- Major Eduardo Arancibia, ein Offi- te nieder. Im Landesinneren haben vie- stürzt hatten, fürchteten die Ausstrah- zier, der unter dem Spitznamen „Der le Familien neben dem Jesusbild auf lung, die Evita noch als Tote zu einer Verrückte“ bekannt war, bemächtigte dem Hausaltar ein Foto Evitas aufge- Gefahr für das neue Regime machte. Sie sich dort der Toten und verstaute sie in stellt. wollten den Leichnam beseitigen, wag- einem Hinterzimmer seines Hauses. „Nekrophilie ist ein Teil des argenti- ten aber nicht, ihn zu vernichten. Die Als seine schwangere Frau dem Ge- nischen Nationalcharakters“, sagt Au- Folge war ein makabres Versteckspiel. heimnis auf die Spur kam, brachte tor Martı´nez. Der Totenkult lockt im- Der Mißbrauch Evitas hatte bereits zu Arancibia sie in einem Anfall von Pa- mer wieder Grabschänder an. Auch Ju- Lebzeiten begonnen. Präsident Pero´n nik um. an Domingo Pero´n entging den Reli- ließ wenige Wochen vor dem Tod seiner Im Jahr 1956 entschieden die Mili- quienjägern nicht: 1987 brachen Diebe Frau 1952 den bekannten spanischen tärs, Evita anonym auf dem Friedhof in sein Mausoleum ein und trennten die Pathologen Pedro Ara kommen, um die Monte Grande bei Buenos Aires zu be- Hände vom Leichnam ab. 50 000 Men- Kranke in Augenschein zu nehmen. statten. Doch der Lastwagen mit dem schen protestierten im Zentrum von Evita, erst 33 Jahre alt, litt an Krebs, sie Sarg verunglückte, die Soldaten brach- Buenos Aires gegen die Vandalen; die machte sich über ihre Heilungschancen ten den Körper im Gebäude des Hee- Hände sind bis heute verschwunden. keine Illusionen. Vergebens drängte sie resgeheimdienstes in Sicherheit. 1957 Evita, so fand Martı´nez heraus, muß- ihren Mann, auf die Einbalsamierung zu wurde Evita schließlich inkognito nach te noch Schlimmeres über sich ergehen verzichten: „Niemand soll meinen nack- Italien verschifft. In Mailand ruhte sie lassen: Einer der Offiziere, die den ten toten Körper berühren.“ 14 Jahre, dann ließ Ex-Diktator Pero´n Leichnam bewachten, befahl seinen Sol- Doch der alte Fuchs Pero´n wußte, sie in sein Exil nach Madrid überfüh- daten, sich an der Toten zu vergehen. welchen Ruhm seine schöne Frau bei ren. Die einbalsamierte Evita wurde im Die Schändung scheiterte, weil der ein- den Armen genoß. Die Einbalsamie- Eßzimmer seines Hauses aufgebahrt. balsamierte Körper völlig steif war. Y

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WISSENSCHAFT PRISMA

Kernkraftwerke Kostspielige Wiese In der von der Atomindustrie seit Jahrzehnten gepflegten euphemisti- schen Ausdrucksweise gab das Forschungszentrum Karlsruhe jetzt Kunde von der beendeten Demontage des Kernkraftwerks Nieder- aichbach in Niederbayern. Das von den Karlsruhern konzipierte, von der Firma Siemens zwischen 1966 und 1972 mit Bundesmitteln errich- tete 100-Megawatt-Kraftwerk erwies sich als Totalflop und war zwi- schen 1972 und 1974 nur 18 Tage in Betrieb. (O-Ton Karlsruhe: „Nach wechselhaftem Probebetrieb hatte die Anlage ihren Zweck als Ver- suchsanlage erfüllt . . .“). Der Abriß, von Karlsruhe „Rückbau“ ge- nannt, dauerte acht Jahre, 80 000 Tonnen Abfall, darunter – trotz der minimalen Betriebsdauer – 1600 Tonnen radioaktiver Müll, mußten beseitigt oder zwischengelagert werden. Die Demontage-Kosten von 280 Millionen Mark beglich das Bundesforschungsministerium aus ei- nem „Altlastentitel“. Mitte des Monats, mit der Übergabe der nun- mehr wieder „Grünen Wiese“ an die Bayernwerk AG, sei – so die

DPA Karlsruher Presseverlautbarung – „erstmals in Europa die sichere und AKW Niederaichbach umweltverträgliche Beseitigung eines AKW demonstriert“ worden.

Aids Neuer Schwerpunkt Asien Ein Jahrzehnt, nachdem die Immunschwächekrankheit Aids in Amerika, Afrika und Europa die ersten Opfer gefordert hatte, wurden auch aus Indien und ande- ren asiatischen Staaten Ansteckungen mit dem tödlichen HI-Virus gemeldet. Doch während die Kurven der HIV-Infektionen in den westlichen Ländern abfla- chen, teilweise die Zahl der Neuinfektionen stagniert oder sogar sinkt, ist „der Schwerpunkt der Aidsepidemie dabei, sich rasch nach Asien zu verlagern“, wie David Bloom, Aidsexperte an der New Yorker Columbia University, feststellt. Vor allem die Zunahme der HIV-Infizierten und Aidskranken in Indien bereitet den Seuchenmedizinern Sorge. Dort gibt es nach Angaben der indischen Regie-

rung und der WHO derzeit bereits 80 000 Aidskranke und 1,5 Millionen HIV-In- WERKFOTO SONY fizierte. Angesichts der hohen HIV-Durchseuchung bei Prostituierten (allein in Yppy-Walkmen Bombay stieg der Prozentsatz der HIV-Infizierten unter den 80 000 Prostituierten in fünf Jahren von 1,3 auf 53 Prozent), unter regelmäßigen Blutspendern (bis zu Hi-Fi 80 Prozent HIV-positiv) und den Drogenabhängigen fürchten die Epidemiolo- gen, daß die Zahl der aidskranken Inder schon im Jahr 2000 die Millionengrenze Walkman für Sammler erreicht haben und die Zahl der HIV-Positiven dann schon fünf Millionen betra- gen wird. Nach Designer-Jeans und Designer- Uhren kommt jetzt die „New-Walk- man-Edition“: Zehn verschiedene De- Forschung wofür er noch immer am häufigsten sign-Varianten bringt Sony in diesem geschluckt wird – Schmerzen auszu- Herbst auf den Markt, eingehüllt in Le- Stereobilder vom schalten oder zu lindern –, das haben der, Metall oder Kunststoff. „Mal erin- erst jüngst amerikanische Forscher an nern sie, geschnürt, gelocht oder gerillt, Schmerzhemmer der University of Chicago entdeckt. an einen chromblitzenden Rasierappa- Sie schossen die ersten Stereo-Fotos, rat, mal an ein Handtäschchen, mal an Von dem Bayer-Apotheker Felix auf denen erkennbar ist, wie Aspirin einen verschnürten Fallschirm“ (Sony- Hoffmann vor knapp hundert Jahren an das die Schmerznerven aktivieren- Werbung). Für ihre Attacke auf die entdeckt, hat sich die Acetylsalicylsäu- de Enzym PGHS andockt und es Budgets der Techno-Generation haben re (erster Markenna- blockiert. Mit Hilfe sich die Sonys ein Palindrom einfallen me: Aspirin) zu einem dieser dreidimensio- lassen, das sich in allen Sprachen aus- wahrhaften Jahrhun- nalen Bilder hoffen sprechen läßt: Yppy. Die in Tokio ge- dert-Medikament mit die US-Forscher, Mo- stylten Yppys – Preise zwischen 99 und immer neuen Anwen- leküle entwerfen zu 149 Mark – sind auflagenlimitiert. dungsmöglichkeiten können, die aspirin- Deutschland bekommt nur insgesamt entwickelt – etwa als gleiche schmerzlin- 8000 Stück. Die Erfinder der Marke- Blutverdünner zur In- dernde Wirkung ha- ting-Kampagne setzen darauf, daß eine farkt-Prophylaxe oder ben, jedoch ohne die Art Yppydemie ausbricht und die De- zur Vorbeugung gegen mitunter auftretenden signer-Geräte ähnlich wie Swatch-Uh- Darmkrebs. Doch auf magenfeindlichen Ne- ren zum Kult- und Sammelobjekt wer-

welche Weise der UNIVERSITY OF CHICAGO beneffekte des Uralt- den. Im Frühjahr kommt schon die Wirkstoff das erreicht, Aspirin-Molekül Medikaments. nächste Yppy-Kollektion.

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WISSENSCHAFT

Medizin Blechidioten in der Klinik Die Computertechnik dringt mit Macht ins deutsche Gesundheitswesen vor: Chirurgen kommunizieren im OP mit weit entfernten Spezialisten, Krankenschwestern tippen am Patientenbett Befunde in den PC. Datenschützer warnen: „Wir kriegen den gläsernen Patienten und den gläsernen Arzt gleich dazu.“ M. SCHRÖDER / ARGUS Computer auf der Intensivstation (im Hamburger UKE): Abschied von Papier und Bleistift

tocksteif, mit offenem Mund, den „Dies ist eine papierfreie Station“, Auch zur Behandlung zugezogene Kopf in den Nacken gepreßt, lie- verkündet Jochen Schulte am Esch Spezialisten übertragen ihre Konsiliar- S gen die Patienten auf den Klinik- stolz, „hier arbeiten wir mit dem Com- berichte in die Datenbänke der Rech- betten. Manchen der frisch operierten putersystem direkt am Patienten.“ Miß- ner. Seither, spottet Assistenzarzt Axel Patienten steckt der Luftschlauch des billigend fällt sein Blick auf einen Blei- Prause, könne er „sogar die Schrift von Beatmungsgeräts in der Kehle. stiftstummel: „Na“, meint der Anästhe- Neurologen lesen“. Rechts neben dem Bett der Intensiv- sie-Professor, „irgendwann muß man Überwacht wird CIS, per Glasfaser- patienten stehen die PC; Schwestern auch mal ein Etikett beschriften.“ leitung, rund um die Uhr von den Spe- und Ärzte hämmern Medikamentenver- Für den Abschied von den Papierber- zialisten des Herstellers CliniComp im ordnungen und Befunde in die Tastatur. gen haben die Hamburger Uni-Medizi- 11 500 Kilometer entfernten San Diego. Links neben den Schwerkranken hän- ner ordentlich Geld springen lassen: Mit Zur Sicherheit wurden die Zentralrech- gen Monitore; Zackenlinien und Kur- 1,5 Millionen Mark schlug 1994 das Cli- ner doppelt installiert; das System, ven huschen über den Bildschirm, zei- nical Information System (CIS) der US- schwärmt Schulte am Esch, habe „eine gen Pulsfrequenz, Atmung, Blutdruck Firma CliniComp zu Buche. Seit das maximale Ausfallzeit von vier Sekun- oder Urinproduktion. Client/Server-Netzwerk in Betrieb ist, den“. Kurvenblätter, auf denen die Medizi- durch das jeder Bett-PC und demnächst Die Begeisterung der UKE-Intensiv- ner bislang die Überwachungswerte der auch die Operationsräume im Operati- mediziner wird von den Hamburger Da- Patienten von Hand dokumentierten, ven Zentrum mit zwei Zentralrechnern tenschützern Hans-Hermann Schrader Patientenakten und Konsiliarberichte, verbunden sind, werden alle medizini- und Hans-Joachim Menzel nicht geteilt. wie sie auf jeder normalen Kranken- schen Maßnahmen, Patientendaten und Es sei keinesfalls hinnehmbar, monierte hausstation in Stapeln herumliegen, Laborbefunde in den Rechnern gespei- der hamburgische Datenschutzbeauf- sucht man auf der Intensivstation des chert. Automatisch überspielen lebens- tragte Schrader, wenn „sensible medizi- Operativen Zentrums am Hamburger erhaltende Systeme, wie etwa die Beat- nische Daten der UKE-Patienten in den Universitätskrankenhaus Eppendorf mungsgeräte, ihre Funktionsdaten in USA abgerufen werden können“. Jetzt (UKE) vergebens. den CIS-Speicher. arbeiten die Experten an einer Überwa-

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bildschirm begutachten; noch während des Eingriffs bedient der Fachmann in der Ferne das Mikroskop mit dem Joy- stick und überprüft, ob ein Tumor voll- ständig entfernt wurde. Mit Hochdruck arbeiten deutsche Ex- perten derzeit auch an anderen Soft- waresystemen; geplant sind virtuelle Krebsregister oder auch virtuelle Kran- kenakten, die dem behandelnden Arzt per Knopfdruck den medizinischen Le- benslauf seines Patienten mit Röntgen- bildern, Angiographie- und EKG-Be- funden auf den Bildschirm zaubern. Mit insgesamt acht derartigen Groß- versuchen erkunden deutsche Medizin- informatiker derzeit die Einsatzmöglich- keiten der Telemedizin. Die republik- weite Vernetzung von Kliniken, Arzt- praxen und Versicherern werde künftig die Diagnose und Behandlung der Pa- tienten verbessern, meinen viele Befür- worter der Cyber-Medizin; auch seien drastische Kosteneinsparungen zu er- Medizinersoftware Kamedin*: „Erst mal kostet das nur Geld“ warten, weil teure Mehrfachdiagnosen vermieden, Warte- und Behandlungs- chungssoftware, die den Datenfluß über lichen Vereinigungen und die Kranken- zeiten verkürzt werden könnten. US- die Standleitung nach San Diego kon- kassen. Experten schätzen das Sparvolumen im trollieren soll. Mit Hilfe der Kommunikationssoft- amerikanischen Gesundheitssystem auf Die Hamburger Datentechnologie gilt ware Kamedin wurden inzwischen auch jährlich rund 36 Milliarden Dollar. unter Experten nur als Vorreiter einer das Städtische Krankenhaus Wismar Kritische Experten halten die Erwar- technologischen Revolution, die derzeit und die Medizinische Universität zu Lü- tungen für überzogen: „Erst mal kostet auf Krankenhäuser, Arztpraxen, Versi- beck über ISDN-Leitung verkabelt. das nur Geld“, klagt der Verwaltungsdi- cherte und Versicherungen zurollt. Seither begutachten die Lübecker Neu- rektor der Tübinger Uni-Klinik Rüdiger „Das wird kommen“, versichert Schulte rochirurgen auf dem PC-Bildschirm di- Strehl. In vielen Fällen werden die Kli- am Esch; ohnedies sei „eigentlich kaum gitalisierte Computertomographie-Auf- niken komplett neue EDV-Anlagen vorstellbar“, klagt der Intensivmedizi- nahmen ihrer Wismarer Kollegen; per kaufen müssen, bestätigt auch der Lü- ner, daß die Medizin in der Informati- Telekonferenz diskutieren die Experten becker Medizininformatiker Siegfried onstechnik „so weit hintendran ist“. Diagnose und Therapie etwa von hirn- Pöppl: Der Umbau vorhandener EDV- Spät, doch jetzt mit Macht und zudem verletzten Unfallopfern. Systeme könne so teuer werden, klagt befördert durch die Vorgaben des Ge- Mit dem Projekt Histkom sollen künf- der Direktor des Instituts für Medizini- sundheitsministers Seehofer drängt das tig spezialisierte Pathologen per Daten- sche Datenverarbeitung der Lübecker deutsche Gesundheitssystem auf die fernübertragung Gewebeschnitte bei Uni-Klinik, „daß sie das ganze alte Ge- Datenautobahn. Von „galoppierenden Krebsoperationen auf dem Computer- lumpe wegwerfen müssen“. Glänzende Großversuchen“ spricht Da- tenschützer Schrader; in die- sen Pilotprojekten läuft die Te- lemedizin der Zukunft bereits auf Hochtouren. Seit Juli hat die Kölner Ge- sellschaft für medizinische Da- tenverarbeitung im Auftrag der Telekom Praxen von rund 400 niedergelassenen Ärzten in Nordwürttemberg mit der Praxissoftware Spirit vernetzt. Die Elektronik erlaubt den an- geschlossenen Medizinern den Austausch von Texten, Rönt- gen- oder Ultraschallaufnah- men per ISDN-Leitung. Zu- gleich übernimmt das Pro- gramm auch die elektronische Abwicklung der Quartalsab- rechnungen an die kassenärzt-

* Oben: dreidimensionale Darstel- lung einer Hirnregion; unten: Ärzte der Medizinischen Hochschule Hannover

im Gespräch mit Ärzten der Deister- T. RAUPACH / ARGUS Süntel-Klinik in Bad Münder. Ärztliche Videokonferenz*: Mit Fachleuten in der Ferne verkabelt

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WISSENSCHAFT

Geschäfte winken dabei vor allem der Zwischen den gewaltigen Leibern der Computerbranche. Die medizinische Elefanten Hingestreckten stehen verängstigt eini- Datenelektronik gilt als aussichtsreicher ge Kälber. Ihre niedrige Schulterhöhe Wachstumsmarkt. Bis 1998, so schätz- sichert ihnen an diesem Morgen das ten Fachleute beim US-Konzern Überleben. Sie werden angepflockt und Hewlett-Packard, werde allein der US- Blutbad später abtransportiert. Markt auf rund 13 Milliarden Dollar an- An den Kadavern machen sich Wild- schwellen. hüter zu schaffen. Mit schnellen Schnit- Allenthalben wird derzeit auch in im Busch ten schlitzen sie die Bäuche der toten deutschen Krankenhäusern an leistungs- Tiere auf, die Eingeweide quellen her- fähigen Computernetzen gearbeitet. Tierschützer protestieren gegen das aus. Darauf lauern die Geier, die ah- Seit die Kliniken von Bundesgesund- Abschießen überzähliger Elefanten nungsvoll dem Helikopter gefolgt sind. heitsminister Seehofer zu kaufmänni- Die ausgeräumten Elefantenleiber wer- scher Buchhaltung und zur Kostenträ- in Südafrika. den auf die Ladeflächen gehievt. Eine gerrechnung verpflichtet wurden, kom- Stunde nach Beginn des Gemetzels rum- me man, spottet Pöppl, „ohne den iedergedrückte Bäume, abgefetz- pelt der Konvoi in Richtung Schlacht- EDV-Blechidioten“ nicht mehr zurecht. tes Buschwerk und eimergroße haus. Für die Kliniken, konstatiert der Medi- NKothaufen weisen dem Piloten des Gegen das blutige Ritual des „culling“ zininformatiker, „ist das ein scharfer Hubschraubers die Flugroute. Als er die genannten Aussonderns von Elefanten- Löffel – plötzlich brauchen die ein Herde gesichtet hat, geht er in den Tief- familien, bei dem im ältesten, von dem schlagkräftiges Krankenhaus-Kommu- flug. Burenpolitiker Paul Krüger 1898 ge- nikationssystem“. Gescheucht vom Triebwerkslärm und gründeten Nationalpark Afrikas jedes Zudem errichten auch die Kranken- vom Abwind des Rotors, sammeln sich Jahr an die 400 Elefanten getötet wer- kassen neue Rechenzentren; ab 1996 den, machen interna- dürfen sie medizinische Leistungen von tionale Tierschutzorga- Krankenhäusern und Ärzten nur noch nisationen mobil. per EDV abrechnen. Schon jetzt stehen „Moralisch unver- bei über der Hälfte der rund 110 000 tretbar“ nennt etwa die niedergelassenen Ärzte in Deutschland südafrikanische Front Praxiscomputer im Vorzimmer. Dank for Animal Libera- einer Kommunikationssoftware, wie sie tion and Conservation etwa bei dem Spirit-Pilotprojekt erprobt of Nature das „Ab- wird, dürften sich Ärzte und Patienten schlachten wilder Tie- schon bald im Datennetz der Kassen re“ ausgerechnet in den wiederfinden. Gebieten, die „ihnen Bei derlei Aussichten überkommt die als Schutzzonen zuge- Datenschützer das Grausen. Mit neuen teilt sind“. elektronischen Abrechnungsverfahren, Für „völlig unsinnig“ klagt der Hamburger Datenschützer hält Roland Witschel, Menzel, werden die Krankenkassen Begründer und Chef „zum erstenmal für jeden einzelnen der deutschen Sektion Versicherten ein individuelles Lei- der britischen Arten- stungskonto errichten können“. schutzgruppe Care for Der medizinische Lebenslauf eines je- the Wild, das Blutbad den Bürgers, meint er, sei damit voll- im Krüger-Park, den

ständig zu rekonstruieren. Zudem könn- WILD jährlich eine halbe Mil- ten auch die therapeutischen Fähigkei- lion Touristen besu- ten und Verordnungsgepflogenheiten chen. „Wo, wenn nicht

der Mediziner künftig von den Versiche- CARE FOR THE dort“, fragt Witschel, rern durchleuchtet werden: „Wir krie- könnte man „allein der

gen den gläsernen Patienten“, warnt D. HIGGS / Natur die Regulierung Menzel, „und den gläsernen Arzt gleich Elefantenschlachtung in Südafrika: Filets in Dosen einer Elefantenpopula- dazu.“ tion überlassen?“ Auch die medizinischen Chipkarten, die Tiere um ihre jeweiligen Leitkühe zu Das riesige Reservat, mit 19 500 die neben der Krankenversicherungs- Familien. Eine von ihnen treibt der Hub- Quadratkilometern Fläche etwa halb karte von immer mehr Versicherungs- schrauber vor sich her, inRichtung auf ei- so groß wie die Schweiz, bietet nach trägern auf freiwilliger Basis angeboten ne Buckelpiste, über die sonst Safari- Ansicht vor allem europäischer Tier- werden, mißfallen den Hamburger Da- Touristen durch den Krüger-National- schützer weit mehr Elefanten ausrei- tenschützern. park (KNP) im südafrikanischen Trans- chenden Lebensraum als den 7500 Auf den Chipkarten können umfang- vaal gekarrt werden. Sie ist an diesem Dickhäutern, die das KNP-Manage- reiche medizinische Daten gespeichert Morgen gesperrt für eine Lkw-Kolonne – ment als vertretbare Obergrenze an- werden – allzuleicht, fürchtet Schrader, auf dem Weg zu einem Massaker. sieht. Für den etwa gleich großen Tsa- könnten die Bundesbürger künftig den In der geöffneten Kanzeltür des Bell vo-Nationalpark in Kenia wurde er- „sozialen Zwängen nachgeben“ und Jet Ranger bringt Scharfschütze Kobus rechnet, daß er 40 000 Elefanten be- auch beim Arbeitgeber, Vermieter oder Kruger sein halbautomatisches Jagdge- heimaten könnte. der Lebensversicherung den medizini- wehr (Kaliber 7,62 Millimeter) in An- Zwar bemühen sich KNP-Mitarbei- schen Offenbarungseid leisten – Motto: schlag. Der Knall der Schüsse geht im ter, wie etwa der Wildhüter Harold „Ich hab’ doch nichts zu verbergen.“ Pfeifen des Triebwerks unter. Wenig spä- Braack, um „Verständnis für die Argu- „Und das“, meint Schrader, „ist der ter liegen auf der Savanne rund ein Dut- mente der Tierschützer“. Doch um das dümmste Spruch, den es gibt.“ zend tote Elefanten. fein austarierte ökologische Gleichge-

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Elefanten-„Culling“ im Krüger-Nationalpark: „Moralisch unvertretbar“

wicht im Krüger-Park zu erhalten, sei es tendamen“, sagt Gerhard Fricke vom Elefanten im Krüger-Park finanzieren“, nötig, die Herden alljährlich um etwa Rostocker Zoo, als „das junge Gemüse können die Zoobetreiber nicht nach- 400 Tiere auszudünnen, was der jährli- ins Gehege stürmte und ihnen unter den vollziehen. „Hätten wir sie nicht ge- chen Zuwachsrate von rund fünf Pro- Bäuchen rumwuselte“. nommen“, sagt Fricke, „wären sie zu zent entspricht. Verhaltensstörungen konnte auch Wurst verarbeitet worden.“ Braack: „Wir müssen aussondern, Thomas Kauffels, stellvertretender Daß die getöteten Elefanten nicht und wir tun das so schonend wie mög- Zoodirektor in Wuppertal, unter den vermodern, sondern komplett verwer- lich“ – mit speziellen Hochgeschwindig- sechs Neuzugängen nicht feststellen: tet werden, erregt gleichfalls den Arg- keitsgeschossen direkt ins Hirn der Ele- „Die Tiere sind in sich ruhend und las- wohn der Tierschützer. Das Trocknen fanten; wenn der Schütze gut trifft, sen sich vom Wärter bereits ins Maul von Elefantenfleisch zur lokalen Deli- stirbt der Todeskandidat beim ersten füttern.“ katesse Biltong oder das Abpacken ge- Schuß. Auch den Vorwurf Witschels, die kochter Elefantenfilets in Konserven- Ein halbes Hundert Elefanten haben deutschen Zoos würden durch den Er- dosen nehmen sie gerade noch hin; hin- die diesjährige Culling-Saison überlebt. werb der Jungtiere (Kaufpreis: je 5000 ter dem Einlagern von Stoßzähnen und Zwei Familienverbände wurden in ein Mark) „indirekt das Abschlachten von gegerbten Häuten aber vermutet Ele- neugegründetes Reservat fantenfan Witschel hand- umgesiedelt. Acht Jung- feste kommerzielle Inter- tiere wurden mit Sonder- essen. flügen nach Deutschland Auf der für übernäch- gebracht – zwei stehen stes Jahr in Victoria Falls seit Mitte Juli im Zoo von (Simbabwe) angesetzten Rostock, die restlichen Artenschutzkonferenz Tiere trafen Anfang die- werden die Südafrikaner, ses Monats im Wupperta- wie Witschel glaubt, auf ler Tierpark ein. ein Ende des seit sechs Die Vermutung von Jahren bestehenden Han- Tierschützern, den vom delsverbots mit Elefan- Culling verschonten tenprodukten drängen. Jungtieren werde „schwe- Der Grund, laut Wit- rer seelischer Schaden zu- schel: Die Südafrikaner gefügt“, weil sie das Tö- „verfügen über einen gro- ten ihrer Familie miterle- ßen Schatz“ – der Wert ben mußten, können die der in Südafrika eingela- deutschen Käufer nicht gerten Elefantenhäute

bestätigen. GARDNER / KATZ PICTURES / FOCUS beläuft sich auf derzeit 5 „Vorübergehend ver- Millionen, der des Elfen-

wirrt waren vielmehr un- FOTOS: D. beins auf 20 Millionen sere beiden alten Elefan- Konservierung von Elefantenhäuten: „Ein großer Schatz“ Dollar. Y

DER SPIEGEL 35/1995 165 .

WISSENSCHAFT

Psychologie Alte Hüte Die von deutschen Psychologen benutzten Psychotests taugen nicht viel: Zu diesem Ergebnis kommt ei- ne kürzlich erschienene Studie.

litzschnell klickt Ralf Horn mit der Computermaus auf dem Bild- Bschirm erscheinende Symbole an – Rechtecke, Ringe oder Kreuze. Die muß er einem Satz verschiedenfarbiger Sterne zuordnen. Doch der Rechner ist schneller und präsentiert ihm eine neue Aufgabe.

Flink wachsende Balken auf dem Moni- S. ALBRECHT tor zeigen, wie viele Symbole der Pro- Kind beim Sceno-Test: Große Kuh als „Mutterimago“ band richtig einsortiert und wieviel Zeit er dafür gebraucht hat. der Eltern zur Mutter oder zum Vater sich die Deutschen in der Zwischenzeit Horn ist kein Video-Kid im Elektro- kommen. Falsche Ergebnisse aufgrund verändert hatten. „Heute“, so gestehen nikrausch. Er führt vielmehr einen neu- wissenschaftlich unsolider Testverfah- die Testentwickler, „ist man ungezwun- en psychologischen Test vor, der bei der ren haben für die Betroffenen mitunter gener im Umgang mit anderen Men- Frankfurter Firma Swets Test Services fatale Folgen. schen, spricht andere eher an, schließt entwickelt wird. Mit diesem Programm Der mit Abstand am meisten einge- leichter Freundschaften und ist über- kann die Geduld und Belastbarkeit ei- setzte Test ist das „Freiburger Persön- haupt weniger gehemmt.“ nes Kandidaten geprüft werden – etwa lichkeitsinventar“, das in den sechziger Untersuchungen ergaben, daß bis zu eines Stellenbewerbers, der die Nerven- Jahren entwickelt wurde. Das ehrwürdi- 30 Prozent der Testergebnisse schwer probe mit stoischer Ruhe absolvieren ge Verfahren soll den Charakter nach danebenlagen, weil die Vergleichswerte soll. allen Regeln der Kunst vermessen: Ist nicht mehr stimmten. Überdurchschnitt- Psycho-Tests im Stil von Videospielen jemand seelisch labil, neigt er zu Trüb- lich aggressive Personen etwa, die der kommen in der alltäglichen deutschen sinn, findet er leicht Kontakt zu seinen Test eigentlich kenntlich machen müß- Testpraxis bislang kaum vor. Deutsche Mitmenschen? Die Freiburger Methode te, gingen als umgängliche Zeitgenossen Psychologen traktieren ihre Klientel bringt es angeblich ans Licht. durch. durchweg mit veralteten Methoden, die Schon Anfang der achtziger Jahre Deshalb kam 1984 eine neue Fassung dem Stand der Wissenschaft längst nicht hatten die Erfinder erkannt, daß ihr des „Freiburger Persönlichkeitsinven- mehr entsprechen: Zu diesem Ergebnis Test in die Jahre gekommen war, weil tars“ auf den Markt; doch fast 90 Pro- kam eine Umfrage unter zent der Psychologen arbei- mehr als 700 Praktikern, die ten weiter mit der alten Ver- Angela Schorr, Psychologin sion, meist aus reiner Träg- an der Universität Eichstätt, heit. Eine Frankfurter Psy- vor kurzem veröffentlichte. chologin benutzt sie, „seit Ob Kinder Schulprobleme ich meine Ausbildung ge- haben, Teenager nicht wis- macht habe“. Die inzwi- sen, was sie werden wollen, schen auch schon wieder elf oder langjährigen Alkoholi- Jahre alte Neufassung gibt es kern das Gedächtnis schwin- in ihrer Beratungsstelle bis det – stets warten Fachleute heute nicht. in Beratungsstellen, Arbeits- Die ursprünglichen Test- ämtern oder Kliniken mit ei- bögen sind immer noch lie- nem von über 500 lieferba- ferbar, denn die deutsche ren Tests auf. Testzentrale in Göttingen, Jedes Jahr müssen sich Hauptlieferant des Prüfzu- nach Expertenschätzungen behörs, traut sich selten, an- auch Hunderttausende von gejahrte Ankreuzblätter aus Job-Kandidaten Psycho-Prü- dem Angebot zu streichen. fungen stellen, vom auf- Geschäftsführer Jürgen Ho- stiegswilligen Trainee bis grefe klagt, in solchen Fällen zum angehenden Agenten gebe es „schnoddrige Be- beim Bundesnachrichten- schwerden“ der Psycholo- dienst. Tests können über gen: „Da kopieren wir halt

Berufskarrieren entscheiden NATIONAL ARCHIVES weiter.“ wie über die Frage, ob Kin- US-Rekrut beim Intelligenztest (1917) Auch bei Messungen der der nach einer Scheidung Aufgaben notfalls pantomimisch erklärt Verstandeskräfte dominie-

166 DER SPIEGEL 35/1995 Werbeseite

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WISSENSCHAFT

ren Uraltverfahren, etwa der besonders bei Firmen be- liebte IST-70. Er heißt so, weil er 1970 zum letzten Mal überarbeitet wurde; er er- kundigt sich unter anderem nach der Küstenlänge Jugo- slawiens. Bei einer Überprü- fung stellt sich heraus, daß einige Fragen absurde Er- gebnisse liefern: Gerade be- sonders kluge Köpfe kreu- zen andere Antworten an als jene, die Testautor Rudolf Amthauer seinerzeit für In- telligenznachweise hielt. Schulkindern rücken die Tester gern mit dem alten „Hawik“ zu Leibe. Der fragt

Großmutters Wissen ab. Die AKG Kleinen sollen unter ande- rem erklären, was ein Knicks ist, oder erkennen, daß einem abgebildeten Hut das Hutband fehlt. Viele Psychologen versuchen, die mit den alten Hüten ermit- telten Testergebnisse nach ihren Erfahrungen zu korri- gieren. Doch gerade um der- lei eigenmächtige Flickschu- sterei zu vermeiden, waren Tests mit standardisierten Aufgaben und Auswertungs- vorschriften entwickelt wor- den. Die Geschichte der Tests

begann Anfang des Jahrhun- P. KULLMANN / ZONE 5 derts, als der Psychologe Al- Testerfinder Rorschach, Testbild fred Binet im Auftrag des Suche nach verborgenen Seelenknoten französischen Unterrichts- ministeriums den ersten Intelligenztest ne Körperteile zerlegten Menschen sah. schuf. Er sollte Schüler, die nicht lernen Der Mann wurde gleich zum Psychiater konnten, von solchen unterscheiden hel- geschickt und einen Monat später als fen, die nicht lernen wollten. Im Ersten schizophren diagnostiziert. Weltkrieg untersuchte die US-Armee Kritiker halten solche Erfolge für Zu- mit eigenen Intelligenztests fast zwei fall und verweisen auf mittlerweile Tau- Millionen Rekruten. Wer des Engli- sende von Untersuchungen, die zu ei- schen nicht mächtig war, bekam die nem überwiegend negativen Urteil ka- Aufgaben pantomimisch erklärt. men: Meist stimmten die Diagnosen der Fast zeitgleich versuchte der Schwei- Rorschach-Deuter weder mit denen von zer Psychiater Hermann Rorschach, den Kollegen noch mit anderen Erkenntnis- Geheimnissen der Seele mit Hilfe von sen über die Patienten überein. Tintenklecksen auf die Spur zu kom- Trotzdem wird das Verfahren selbst men. Sein 1921 erschienenes Verfahren für so heikle Aufgaben wie Gerichtsgut- besteht aus zehn Klecksbildern, in de- achten benutzt, bei denen es etwa um nen der Proband etwas Gegenständli- die Frage geht, ob der Angeklagte in ches erkennen soll; die Antworten des den Knast muß oder nicht. Deutungen meist angestrengt phantasierenden wie: „Wer in den Klecksen Blut sieht, Klienten werden anschließend vom Un- hat seine Aggressionen nicht unter Kon- tersucher gedeutet und als Hinweise auf trolle“, lassen sich „nicht psychologisch verborgene Seelenknoten interpretiert. rechtfertigen“, warnt der Psychologe Vor allem Psychoanalytiker verwen- Paul Walter. den Rorschachs Tintenspritzer bis heu- Viele Prüflinge wissen inzwischen, te. Sie stehen auf Platz zwölf der aktuel- daß der Rorschach ihre Seele preisge- len Testhitliste, sind aber nach wie vor ben soll. Deshalb versuchen Straftäter äußerst umstritten. Rorschach-Experte oft, möglichst harmlose Antworten zu Mario Muck, Psychoanalytiker aus geben. So sehen sie, nach Erfahrungen Frankfurt, berichtet von einem Patien- des Gerichtspsychologen Georges Hen- ten, der in den Klecksen einen in einzel- gesch von der Universität des Saarlan- des, in den Klecksbildern besonders gern vermeintlich unverfängliche Tiere wie Vögel oder Schmetterlinge. Diese Strategie ist allerdings riskant, weil Hengesch soviel Raffinesse als Indiz für „gesunde geistige Funktionen“ und so- mit für die Schuldfähigkeit des Ange- klagten wertet. Völlig auf die eigene Deutungskunst verlassen sich die Psy- chologen, wenn sie – wie jeder achte in der Branche – den Sceno-Test einset- zen: Eine aus dem Jahr 1938 stammende Sammlung von Puppen oder Tierfiguren soll Kinder dazu bringen, im Spiel ihre Probleme und Ängste zu offenbaren, wobei etwa eine große Kuh als „Mutter- imago“ angeblich eine „fordernde und erdrückende Macht“ symbolisiert. Auch nach über 50 Jahren ist die Tauglichkeit des Puppenspiels gänzlich Zweifelhafte Tests entscheiden, ob jemand in den Knast muß unbewiesen. Dennoch wird es beispiels- weise eingesetzt, wenn in Sorgerechts- verfahren geklärt werden soll, bei wel- chem Elternteil die Kinder besser aufge- hoben sind. Fachleute wie Professor Reinhold Jäger von der Universität Ko- blenz-Landau warnen davor, den Sceno- Test bei derart schwierigen Entschei- dungen zu benutzen. Trotz wachsender Kritik aus den eige- nen Reihen arbeiten viele Psychologen unverdrossen mit selbstgezimmerten Testmodellen. Sie denken sich Aufga- ben aus und interpretieren die Ergebnis- se, wie es ihnen plausibel erscheint. Die Entwicklung eines halbwegs seriösen Tests ist teuer, er muß an Hunderten von Personen erprobt und mathema- tisch abgesichert werden. Gleichwohl verläßt sich gut die Hälfte der von Angela Schorr befragten Psy- chologen auf Eigenbauprodukte. Viele versuchen sich gar an Intelligenztests, was besonders bedenklich stimmt, wie die Eichstätter Psychologin in der Aus- wertung ihrer Umfrage notiert. So wird das Mißtrauen auch gegen die in vielen Unternehmen gebräuchlichen Auswahltests geschürt. Die allerdings sind oft besser als ihr Ruf, wie Rüdiger Hossiep, früher Betriebspsychologe bei der Deutschen Bank, in einer soeben er- schienenen Studie nachweist. Hossiep fand heraus, daß im Kredit- gewerbe eine aufwendig konzipierte hauseigene Testbatterie mit einiger Treffsicherheit prognostizieren kann, welche Position in der Unternehmens- hierarchie der Kandidat viele Jahre spä- ter erreichen wird. Das Urteil von Personalchefs, die sich auf ihre Menschenkenntnis verlassen, ist dagegen praktisch wertlos. Y TECHNIK

Jahr an den Massenmarkt erobern und Kameras die stagnierenden Umsätze der Branche ankurbeln soll. Es geht um ein gigantisches Geschäft: Die neuen Filme erfordern neue Kame- Schlaue ras und neue Entwicklungsmaschinen. Den künftigen Benutzern soll die No- vität durch absolut narrensichere Be- Patrone dienung und technische Gimmicks schmackhaft gemacht werden. „APS Fünf Branchenriesen entwickelten wird ein Erfolg, weil es mit Sicherheit ein neues Fotosystem – mit kleine- für noch bessere Bildergebnisse sorgen und selbst bisherigen Nicht-Fotografen ren Kameras und narrensicherer Lust aufs Knipsen machen wird“, be- Bedienung. hauptet Fuji-Deutschland-Geschäftsfüh- rer Franz Wagner. Unter der Bezeichnung „Advanced er talentierte Feinmechaniker Os- Photo System“ (APS) haben die fünf In- kar Barnack war gerade ein Jahr itiatoren, die für 75 Prozent des Welt- Din der Firma, als er seinem Chef marktes stehen, zehn Jahre an der Neu- Ernst Leitz das handgefertigte Modell heit gewerkelt. Alle Beteiligten, darun- einer Fotokamera präsentierte, kleiner ter auch Elektronikfirmen wie Sony, als alle, die es damals gab. Das war, im mußten sich zum Stillschweigen ver- Jahr 1912, die Geburtsstunde der Leitz pflichten; vorzeitige Veröffentlichungen Camera, die als Leica zum wohl be- hätten womöglich das Geschäft mit der rühmtesten aller Fotoapparate wurde. herkömmlichen Ware gebremst. Die Leica belichtet, wie Millionen Seit nun der Premierentermin fest- Kameras nach ihr, einen 35 Millimeter steht – Februar 1996 –, kann das Ge- breiten Filmstreifen, der im Innern des heimnis nicht länger gewahrt bleiben. Kameragehäuses aus der lichtdichten Denn weltweit müssen die Labors der Patrone gezogen und nach dem Belich- Fotofinisher umgerüstet werden, damit ten wieder dorthin zurückgespult wird. sie in der Lage sind, die neuen Filme so- Barnacks Idee für die Kleinbildpa- fort zu entwickeln, wenn sie auf den trone kam aus dem Kino: Dort gab es Markt kommen. Inzwischen steht fest: seinerzeit schon 35-Millimeter-Negativ- Auch der APS-Film bleibt ein chemi- material; in Form perforierter Film- scher Film auf Silberbasis. Er wird dün- streifen diente es in den Studios von ner und schmaler als bisher und steckt Berlin, Paris und Hollywood zur Her- ohne die bisher übliche Perforation an stellung der Stummfilme. Barnack leg- den Rändern in einer nur 39 Millimeter te lediglich zwei Bildchen des Kinofor- hohen Plastik-Patrone von 21 Millime- mats zusammen und kam so auf das ter Durchmesser. Kleinbildformat von 24 mal 36 Millime- Dadurch können Kameras noch klei- ter. ner werden als bisher. Dia-Fotografen Die Anzahl der 35-Milli- meter-Kleinbildpatronen, die seitdem verknipst wor- den sind, geht in die Milliar- den; allein in Deutschland waren es letztes Jahr mehr als hundert Millionen. Alle Versuche, kleinere oder größere Filmformate zu eta- blieren, sind gescheitert – meistens kläglich wie etwa Kodaks „Instamatic“-Film oder das von den Japanern geförderte 16-Millimeter- Format. Jetzt hat sich zu beiden Seiten des Pazifiks eine Streitmacht formiert, die mit einem neuen High- Tech-Filmsystem am Mono- pol des 35-Millimeter-Films rüttelt: Fünf der ganz Gro- ßen der Fotobranche – Ca- non, Fuji, Kodak, Minolta und Nikon – haben eine neue Kleinbildpatrone ent- wickelt, die vom nächsten APS-Werbung: Lust aufs Knipsen

170 DER SPIEGEL 35/1995 Werbeseite

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TECHNIK

allerdings bleiben ausgeschlossen: Es außer Gefecht gesetzt. Nur der russische gibt bei APS lediglich den von der ange- Automobile Lada Samara war in der unteren Mittel- peilten Käuferschicht bevorzugten Co- klasse noch hilfebedürftiger. lor-Negativ-Film (der 64 Prozent der So was finden besonders die qualitäts- verkauften Filme ausmacht). bedachten Deutschen nicht komisch. Je eine Magnetspur am oberen und Ehrwürdiges Der Marktanteil der Italiener schrumpf- unteren Rand des APS-Films dient als te kontinuierlich. 1988 war Fiat in Datenspeicher. Die obere trägt Infor- Deutschland Importeur Nummer eins mationen für den Printer im Labor, die Grau gewesen, 1993 rangierte die Firma auf untere für die Kamera. Sie registriert Platz vier. Mit umgerechnet fünf Milli- automatisch Filmtyp, Empfindlichkeit, Fiat stellt seinen neuen Kompaktwa- arden Mark Schulden war der Konzern Belichtungsspielraum und Anzahl der gen Bravo vor. Er könnte aus Japan um jene Zeit ziemlich am Ende. Nur ein Aufnahmen; so verhindert sie, daß der Großkredit, die Verdoppelung des Mensch was falsch macht. kommen. Grundkapitals, der Verkauf von Kon- Der Fotograf kann an der Kamera zernteilen, wie der Kaufhauskette „La zwischen drei Bildformaten wählen, im ls der Tipo 1988 auf den Markt Rinascente“, und die urplötzlich nudel- beliebigen Wechsel auf ein und demsel- kam, verkündeten die Fiat-Mana- weich werdende Lira, verhalfen der Fir- ben Film. Die Kamera speichert das ge- Ager stolz, dem Neuling sei eine mengruppe zu neuem Leben. Inzwi- wählte Format auf der Magnetspur des wegweisende „Null-Defekt“-Güte ei- schen sind die Italiener in der europäi- jeweiligen Negativs, der Printer im La- gen. Zuvor hatte der Hersteller in sei- schen Zulassungsstatistik wieder auf bor liest sie beim Vergrößern automa- nen Werken Cassino und Rivalta eine Platz zwei geklettert und jagen VW. tisch. neuartige Produktionstechnik mit lük- Dieses Jahr werden bei Fiat zwei Mil- Das „Standard“-Format ist knapp 17 kenloser Kontrolle eingeführt. liarden Mark verdient, 1996 voraussicht- Millimeter hoch und 24 Millimeter breit. Leser des Fachblattes Auto, Motor lich knapp vier Milliarden. Hilfreich wa- Das „Voll“-Format ist bei gleicher Höhe und Sport berichteten später über ihre ren radikale Einsparungen bei der Ferti- 30 Millimeter breit. Das „Panorama“- gung, das Abwickeln Format schließlich weist bei voller Brei- von 50 000 Arbeitsplät- te nur etwa zehn Millimeter Höhe auf. zen sowie eine einzig- So entsteht ein Seitenverhältnis von eins artige Produktoffensive zu drei mit Breitenwirkung. Aufgenom- mit 15 Neuerscheinun- men werden alle Fotos immer im Voll- gen in zwei Jahren. Das Format. Auch Zoom-Effekte bietet die wichtigste Auto davon, Kamera: Auf Wunsch speichert sie ei- der Nachfolger des nen bestimmten Motivausschnitt, der ungeliebten Tipo, wird dann bei der Entwicklung automatisch dieser Tage vorgestellt. herausvergrößert wird. Der Golf-Konkur- Den APS-Film selbst sieht der Foto- rent kommt mit neuem graf gar nicht mehr, nicht mal die La- Namen und neuer sche am Anfang. Alles steckt in einer Identität, die alle Erin- geschlossenen Patrone, die so einfach nerungen an Altes lö- wie eine Batterie in die Kamera gescho- Neuer Fiat Bravo: Muskulöser Hintern schen soll. Fiat nennt, ben wird. Der Printer druckt beim Vergrößern Bild- und Filmnummer auf die Rücksei- te jedes einzelnen Bildes. Das erspart beim Nachbestellen mühsames Suchen und Hantieren mit dem Filmstreifen. Außerdem sind die Original-Negative dadurch vor Beschädigung geschützt. Mit der entsprechend ausgerüsteten Ka- mera läßt sich sogar ein Grußtext spei- chern, der ebenfalls auf die Rückseite des Prints gedruckt wird.

Firmen, die nicht zum harten APS- WERKFOTOS FIAT Kern gehören, wie etwa der Kameraher- Neuer Fiat Brava: Herbstliches Gehölz steller Yashica oder das Fotochemie- Unternehmen Agfa-Gevaert, mußten Erfahrungen mit dem „Null-Defekt“- sich selber applaudierend, den Zweitü- bei der Fünferbande der Systement- Auto von Fiat. „Die Liste der ausge- rer Bravo, das zugehörige viertürige wickler Lizenzen erwerben, um bei dem tauschten Teile liest sich wie ein Ersatz- Schwestermodell Brava. Paolo Canta- Zukunftsgeschäft mitverdienen zu kön- teilkatalog“, schrieb einer, ein anderer rella, Chef des Automobilbereichs im nen. Besonders schmerzlich muß das notierte: „Jeden Tag ein Nervenkitzel, Konzern, setzt besondere Hoffnung in den deutschen Chemieriesen Bayer tref- was nun wohl wieder kaputtgeht.“ Und das Äußere: „Wenn jemand ein italieni- fen, dessen Marke Agfa einst neben Ko- der Werkstattmeister eines dritten Tipo- sches Auto kauft, hat er bestimmte Vor- dak führend in der Welt war. Fahrers höhnte: „Hätte Fiat uns dieses stellungen: attraktives Styling, tempera- Wie bei den Kameras ließen sich die Auto in Einzelteilen geliefert, wäre es mentvolle Motoren, Fahrspaß.“ Deutschen auch beim Film von den Ja- vernünftiger gewesen.“ Chefdesigner des Bravo-Brava-Duos panern verdrängen und rangieren heute Laut ADAC-Pannenstatistik blieben war freilich der Amerikaner Christo- nur noch auf Platz drei. Zur Entwick- 38,5 von 1000 zugelassenen Tipos auf pher Bangle (inzwischen BMW-Styling- lungsarbeit an der schlauen Filmpatrone dem Randstreifen stehen, meist von der Chef). „Bio-Design“ heißt das neue wurden sie gar nicht erst eingeladen. schusselig zusammengebauten Elektrik Schlagwort, das erklären soll, warum

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TECHNIK

auch bei Fiat plötzlich alles rund aus- sieht, als wären in den Studios die Li- neale abgeschafft worden. Besonders auffällig sind die beiden Wagen dennoch nicht. Selbst in Italien nimmt kaum jemand wahr, daß da ein nagelneuer Fiat unterwegs ist. „Der könnte genausogut von Mitsubishi kom- men“, sagte ein italienischer Passant über den Brava. Nur die unterschiedlichen Heckpar- tien der beiden Varianten sorgen für Diskussionsstoff. Das Hinterteil des Zweitürers wirkt wuchtig und muskulös und hat große, markante Leuchtenein- heiten, der Viertürer besitzt dagegen ein Fließheck, ähnlich dem des Volkswagen 411 der Endsechziger, mit schlitzäugi- gen Rücklichtern. Auch im Innenraum zeigen nur weni- ge Details formalen Mut, etwa das Ra- dio, ein integriertes Spezialmodell – Klauen sinnlos. Es sitzt oben in der Mit-

te auf dem Armaturenbrett, mit weitver- E. BAMBERGER / FOCUS streuten Bedientasten. Das brave Pol- Informatik-Student Doligez: Erfolg mit geballter Rechner-Streitmacht sterdesign dagegen soll bei den Basismo- dellen an „herbstliches Untergehölz“, ßer ihrem Namen auch die Kartennum- bei den Sportversionen an die „Bildung Computer mer durchtickern müssen. Mit den aus- des Eises“ und bei den luxuriöseren Mo- spionierten Kartennummern kann der dellen an „Baumrinde“ erinnern. Hacker dann weltweit Waren aller Art Nach soviel Poesie im Innern legten bestellen und bezahlen. Bis die rechtmä- sich die Marketingleute auch bei der Der Knack ßigen Karteninhaber das merken, verge- Farbgestaltung mächtig ins Zeug. Bei ei- hen Wochen. nigen Lackfarben solle „die chromati- Um so etwas zu verhindern, haben die sche Beschaffenheit mit Persönlichkei- von Paris Programmierer in die Software für den ten der italienischen Architekturge- Verkehr zwischen den PC der Benutzer schichte und ihren Bauwerken ver- Ein französischer Student überliste- und den Datenbankcomputern der An- knüpft werden“, versprechen die Fiat- te einen Verschlüsselungscode des bieter – in der Zunftsprache Client/Ser- Werber. Als Schirmherren der Farben ver-Kommunikation genannt – allerlei wurden postum Alessandro Antonelli Internet. Gefahr für Datenreisende? Sicherungen eingebaut. So beteuert etwa (1798 bis 1888) für ein Rot erwählt, Fi- die im kalifornischen Silicon Valley an- lippo Juvarra (1678 bis 1736) für einen as der französische Student der sässige Firma Netscape, ihre weltweit ge- Elfenbeinton und Carlos Promis (1808 Computertechnik Damien Doli- schätzte „Navigator“-Software ermögli- bis 1872) für ein ehrwürdiges Grau. Wgez, 27, vorletzte Woche dem In- che „sichere elektronische Geschäfte auf Laut Fiat ist für den typischen Brava- ternet anvertraute, war keine gute die leichte Art“. Käufer eine elegante Karosserie am Nachricht. Er habe, so tippte der Fran- Der millionenfach verbreitete „Net- wichtigsten. Die Bravo-Käufer seien da- zose in seine e-Mail, durch einen gran- scape Navigator“ ist mit einer leicht er- gegen unkonventioneller, dynamischer, diosen Hacker-Coup den Sicherungs- faßbaren grafischen Bildschirmoberflä- kurzum: Leute mit dem GTI-Blick auf code jener Netscape-Software geknackt, che sozusagen das Surfbrett für das Um- die Welt. Daher gibt es den Bravo auch mit der sich 80 Prozent der Internet-Be- herspringen im World Wide Web, das im mit einem Fünfzylinder-Machotrieb- nutzer in das Netz einwählen. Internet mit Tausenden von multimedial werk mit 147 PS, das den kleinen Italie- Für alle, die das weltweite Computer- bestückten Servern vertreten ist. ner auf 210 Stundenkilometer hoch- netz als schnellen Daten-Highway für „Mit dem Navigator kann man auf In- treibt (Basismotorisierung: 80 PS / 170 Kaufabschlüsse und Geldtransfers be- formationen zugreifen von Software-Up- Stundenkilometer). nutzen, mußten die News aus Paris wie dates über Produktinformationen bis zu Damit Fiat an den Neuen verdient, ein Schock wirken. Hatte nicht gerade Geschäftsberichten. Man kann auf siche- muß kostengünstig gefertigt werden. erst eine Gang russischer High-Tech- re Weise mit der Kreditkarte Produkte Ähnlich dem High-Tech-Werk Melfi im Diebe durch elektronische Tricks bei von den vielen Firmen kaufen, die Waren armen Mezzogiorno zwischen Neapel der New Yorker Citibank die stramme im Internet anbieten“ (O-Ton Net- und Bari, wo der Punto gebaut wird, Summe von zehn Millionen Dollar abge- scape). Spezielle elektronische Schutz- wurde auch das Tipo-Werk zu Füßen zockt? Sicherheit im Datenverkehr – ei- zäune, wie der sogenannte Secure Sok- des Monte Cassino modernisiert. ne Illusion? kets Layer, sowie erprobte kryptologi- Statt starrer, vollautomatisierter Wenn es einem Unbefugten gelänge, sche Techniken stellen „durch Verschlüs- Fließbandfertigung für „Null-Defekt“- die Kommunikation im Internet freizu- selung des Datenstroms die Vertraulich- Güte werden diesmal viele flexible Ro- legen, dann stünde kriminellen Untaten keit der Client/Server-Kommunikation boter eingesetzt, und die Arbeiter mon- großen Ausmaßes nichts mehr im Wege. sicher“ (siehe Grafik Seite 176). tieren in Kleingruppen die Fahrzeuge. Der Eindringling könnte beispielsweise Derart hochgehängte Versprechungen Wieder eine wegweisende Produktions- darauf lauern, daß Internet-User bei ei- haben immer wieder die internationale methode. Ihr Ziel nennt sich diesmal nem Versandhaus etwas bestellen und Hackerszene animiert, sich an den ver- „Totale Qualität“. per Kreditkarte bezahlen, wozu sie au- meintlich sicheren Schlüsselalgorithmen

DER SPIEGEL 35/1995 175 TECHNIK zu bewähren. So auch diesmal den Fran- Der Knack von Paris fand aber in den zosen Doligez, der einer im Internet USA auch Zustimmung, und das hängt verbreiteten Aufforderung folgte, den mit einer angejahrten Politik Washing- Netscape-Code zu brechen. tons in Sachen Kryptologie zusammen. Das war keine leichte Aufgabe und Das US-Government hat nämlich aus erforderte gewaltige Computer-Power: Gründen der Staatssicherheit der Com- Doligez, Student am Informatik-Institut puterbranche des Landes verboten, Inria bei Paris, ließ sich bei dem Code- höherwertige Verschlüsselungssoftware bruch von der geballten Rechner-Streit- wie auch Krypto-Chips („Clipper“) zu macht dreier Forschungszentren zuar- exportieren. beiten – alles in allem 120 Workstations Nur so, lautet das Argument, sei si- und zwei Supercomputer. chergestellt, daß die Lauscher der Na- Immer wenn die Rechner dieser digi- tional Security Agency über Landes- talen Armada nicht voll mit anderen grenzen hinweg die elektronische Kom- Aufgaben beschäftigt waren, sortierten munikation von Terroristen oder sie für den Codebrecher die Milliarden Rauschgifthändlern abhören können. möglicher Codekombinationen. Trotz Den Herstellern von Schlüsselsoftware des Aufwandes dauerte es acht Tage, bis entgehen auf diese Weise Millionenein- Doligez das erstrebte Resultat auf sei- nahmen, weshalb sie seit langem für ei- nem Bildschirm lesen konnte: Er hatte ne Aufhebung der strengen Exportregel eine per Netscape im Internet übertra- plädieren.

Schutzzaun für Kunden Verschlüsselte Kommunikation im Internet 1 Internet-Kunden suchen die Verbindung zu den Datenbanken Server ihres Anbieters (Server). Beim Einstieg in den Datenaustausch führt die Benutzersoftware den Anwender sekundenschnell durch eine Reihe von Sicherungsschleusen: 2 Anwahl des Servers

Ausgabe eines Sicherungscodes

Eingabe des persönlichen Codeschlüssels Internet- Anwender Codierte Datenübertragung

3 Nach erfolgter Identifizierung kann der Kunde über das Netz seine Geschäfte abwickeln. Für alle anderen Nutzer des Daten- Highways ist das Zwiegespräch nicht zu verfolgen: Die Codierung zieht für Dritte gleichsam einen elektronischen Schutzzaun. gene verschlüsselte kommerzielle Mit- Offiziell darf nur Chiffriersoftware ins teilung geknackt. Doligez’ Fazit: „Ich Ausland gelangen, die mit einem 40bit- würde meine Kreditkartennummer dem Code arbeitet; im US-Inland dagegen Internet nicht anvertrauen.“ werden höher abgesicherte Krypto- Die Netscape-Leute beeilten sich, die gramme benutzt. Die Bestimmungen Sache herunterzuspielen. „Der Junge führten zu der kuriosen Situation, daß hat nicht etwa den Masterkey zur Ent- Netscape für Internet-Kommunikation schlüsselung aller codierten Transaktio- innerhalb der USA einen 128bit-Schlüs- nen entdeckt“, erklärte Netscape-Vize- sel einsetzt, den Datenverkehr mit präsident Mike Homer, „sondern er hat Usern im Ausland dagegen nur mit dem lediglich ein Datenpaket decodiert, ei- 40bit-Code verschlüsselt. nen Teil einer Message, deren Inhalt er Deshalb mußte sich Damien Doligez im voraus nicht kennen konnte.“ Mehr in Paris auch nur an dem weniger kom- als sechs Millionen solcher Mitteilungen plexen 40er Code versuchen. Wollte er flitzen jeden Tag durch das Netz. mit seinen 122 Computern den 128bit- Auch die anderen Umstände des In- Netscape-Schlüssel knacken, brauchte ternet-Hacks gingen eher in Richtung er Jahrzehnte. Erforderlich wäre eine Entwarnung. Wer die bei dem Code- 1026mal (eine Zehn mit 26 Nullen) grö- bruch genutzte Computerleistung zu ßere Computerleistung. normalen Tarifen mieten wollte, müßte Bereits zwei Tage nach dem Pariser mindestens 15 000 Mark zahlen. „Zei- Hackstück zeigte sich die Clinton- gen Sie mir denjenigen, der sagt ,Hier Regierung erstmals kompromißbereit. sind 10 000 Bucks, und nun sag mir, was Im Gespräch ist jetzt die Freiga- in dieser verschlüsselten Mitteilung be von 64bit-Chiffriercodes für den Ex- steht‘“, höhnte Homer. port. Y Werbeseite

Werbeseite . DUMONT Schiele-Werk „Liegende Frau“ (1917): Für zweideutige Tagträume in die Zelle gesteckt

Kunst „Alles ist lebend tot“ Mit dem morbiden Sex seiner Bilder und seinem exzessiven Hang zur Selbstdarstellung wirkt der jung verstorbene Expressionist Egon Schiele überraschend aktuell. Jetzt schickt der bedeutendste Schiele-Sammler der Welt seine Schätze auf Ausstellungstournee durch Deutschland – der Provokateur von einst wird immer populärer.

enn er wiederkehren dürfte, die- steckt worden, wegen „Verbreitung un- ser viel zu jung Gestorbene, wenn sittlicher Zeichnungen“. Der Richter Wer nur für einen einzigen Tag aus verbrannte damals, als symbolischen dem Reich der Toten auferstehen dürfte: Akt der Mißbilligung, gar ein Blatt Egon Schiele würde sich verdammt wun- Schieles in einer Kerzenflamme. Doch dern. jetzt, gut 80 Jahre danach, ist die Welt Vielleicht würde er durch die Straßen voll von Bildern, die sich jeden eroti- jener Stadt bummeln, in der er fast sein schen Reiz zunutze machen, den Schiele ganzes Erwachsenenleben verbrachte je mit dem Zeichenstift festzuhalten ge- und über die er einst wütete: „Wien ist wagt hat. Schatten, die Stadt ist schwarz.“ Ein jun- Vielleicht würde er sich entsetzen ger, ausgemergelter Spund mit wildem über dieses Bombardement der Nackt- Struwwelpeterschopf, fiele Schiele heute heit, wie Calvin Klein und andere es in gar nicht mehr auf zwischen all den Pun- ihren Werbekampagnen betreiben. kern und Streunern der Metropole. Wahrscheinlich aber würde Egon Schie- Vielleicht würde er, der ewige Ketten- le jubeln: Endlich hat ihn die Zeit einge- raucher, auch Zigaretten kaufen, ob- holt. Er hat recht behalten. gleich es die ihm vertrauten Marken nicht Wenn er dann auf die Suche nach ei-

mehr gibt, dabei ein paar Zeitschriften SÜDD. VERLAG genen Werken ginge, würde er an uner- durchblättern und auf Fotografien sto- Maler Schiele warteten Orten fündig werden: nicht ßen, deren aggressiver Körperkult ihm Beißender Schwefelgestank nur in den Museen und Galerien, son- vertraut vorkäme. dern in jeder Buchhandlung, in jedem Etwa auf eine blasse, magere Kindfrau auf dieselbe junge Frau, die sich mit ih- besseren Papierwarenladen. Dort wer- mit schwer zu deutendem Gesichtsaus- ren Schenkeln lustvoll an einen muskel- den Schiele-Werke verkauft als Postkar- druck, die entblößt auf einer Couch liegt. bepackten Kerl klammert. ten, Plakate, Kalender. Auf zweinackte Körper,diesichauf einer Für zweideutige Tagträume dieser Und das würde ihm, der nie unter ei- Schaukel eng umschlungen halten. Oder Art war Schiele noch in die Zelle ge- nem Mangel an Eitelkeit litt, fast noch

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KULTUR

besser gefallen als die Erfüllung jenes al- lerletzten Wunsches, den er 1918 auf dem Sterbebett aussprach: „Meine Bil- der soll man ausstellen in der ganzen Welt.“ Zu einer Ausstellungstour durch Deutschland bricht gerade eine Aus- wahl von etwa 150 Gemälden, Aquarel- len, Gouachen und Zeichnungen auf*. Die Arbeiten stammen aus den umfang- reichen Beständen des Wiener Augen- arztes und Sammlers Rudolf Leopold, 70, der zu Recht stolz darauf ist, daß er mit seinem Schiele-Konvolut alle Mu- seen der Welt zusammengenommen übertreffen kann. Es ist eine von zahlreichen Schiele- Ausstellungen der letzten Zeit, jedoch eine herausragende, mit eindrucksvol- len Blättern aus allen Entwicklungsstu-

fen Schieles und mit Hauptwerken wie DUMONT „Eremiten“ und „Die Selbstseher“. Der Schiele-Werk „Liebesakt“ (1915): Hochspannung und lauernde Gewalttätigkeit Zuspruch des Publikums ist ihr so gut wie sicher: Schon vor sechs Jahren hatte Im Jahr zuvor war ein Schiele-Haus in seinen Figuren durch wenige, schnell eine Schau aus Leopolds Bestand, die in der böhmischen Renaissancestadt Kru- hingeworfene Linien Leben, Charakter verschiedenen Kunsthallen Europas ga- mau eingeweiht worden, die er geliebt und Ausstrahlung einflößen konnte, stierte, mehrere hunderttausend Besu- und in vielen Bildern festgehalten hatte; begründet seinen Erfolg nicht allein. cher angezogen. und erst vor wenigen Monaten wurde Denn in den vier Jahrzehnten, nach- Seither ist Schiele noch bekannter ge- Schieles Geburtszimmer im niederöster- dem ihn eine Grippeepidemie in Wien worden, sein Werk hat Klassiker-Nim- reichischen Ort Tulln, wo er 1890 als dahingerafft hatte, war Schiele trotz bus. Als Frühvollendeter genießt er, der einziger Sohn des Bahnhofsvorstehers seines atemberaubenden Talents fast in mit 28 Jahren starb, einen Genie-Status zur Welt gekommen war, zum weihevol- Vergessenheit geraten. irgendwo zwischen Georg Büchner und len Gedenkraum umdekoriert. Und das, obwohl er zu Lebzeiten James Dean. Im vorigen Winter erreich- Kein Zweifel: Schiele boomt. Doch beachtliche Anerkennung gefunden te eine kleine, aber wichtige Zeichnung weshalb jetzt? Welchen Nerv der Be- hatte. Es gab diverse Sammler, die sei- von der Hand des Jungkönners einen trachter an der Jahrtausendwende trifft ne Werke kauften; kurz vor seinem Auktionszuschlag von 6,5 Millionen er? Welchen Anspruch erfüllt, welchen Tod gelang ihm gar ein spektakulärer Schilling: ein selbst von Fachleuten Bedarf deckt sein Werk? Durchbruch bei einer Wiener Werk- nicht erwarteter Quantensprung seines Daß er einer der wirklich großen schau. Schieles treuester Fan war der finanziellen Werts. Zeichner der Kunstgeschichte war, der Autor Arthur Roessler. „Seine Bilder entstanden und entstehen aus Trieb und Drang, ohne Pose, ohne Verbitte- Rudolf Leopold rung, völlig hoffnungslos“, schrieb Roessler bewundernd über Schiele, ist der bedeutendste Kunstsammler räumte allerdings ein, daß der Maler Österreichs. Der Augenarzt trägt seit „nicht dem bleichsüchtigen Moralideal Jahrzehnten Meisterwerke der klassi- vom ,guten Menschen‘ entspricht“, schen Moderne seiner Heimat, darunter sondern „vielmehr unbescheiden, un- Arbeiten Gustav Klimts, Oskar Kokosch- mäßig, rücksichtslos wirkt“. Damit kas und Egon Schieles, in seinem Grin- protestiere Schiele gegen „die Gleich- zinger Privathaus zusammen. Gerade gewichtigen, die Würdeprotzen, die Schieles heutiger Ruhm verdankt sich sich gesund und vernünftig und gerecht wesentlich dem Engagement Leopolds. Dünkenden“. Er begann 1950, Schieles Werke zu Nicht nur das läßt Schiele heute sammeln, als dieser fast vergessen war, überraschend zeitgenössisch erschei- und hat seither immer wieder Schiele- nen. „Dein Körper ist ein Schlacht- Ausstellungen bestritten. Im vorigen feld“, der Slogan aus der jüngsten Sommer verkaufte Leopold seine mehr Konzeptkunst, trifft Schieles Befind- als 5200 Stücke umfassende Samm- lichkeit wie die kaum eines anderen. lung für etwa ein Drittel ihres Schätz- Der in der Epoche der gerade heran- werts, 2,2 Milliarden Schilling (310 Mil- reifenden Psychoanalyse lebende lionen Mark), an den österreichischen Zeichner hat, unmittelbar von Freuds Staat. Im Gegenzug wird ab 1996 ein Lehren zehrend, den nackten Leib im- Sammlungsmuseum (Leiter: Leopold selbst) im Wiener Messepalast errich- * „Egon Schiele. Sammlung Leopold, Wien“ ist vom 2. September bis 10. Dezember in der Kunst- tet. Derzeit ist Leopold, 70, jedoch über halle Tübingen zu sehen, anschließend vom 21. den Staat verärgert: Der ihm verspro- Dezember bis 10. März 1996 in der Kunstsamm- chene Ankaufsetat, etwa zwei Millionen lung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf und vom 22. März bis 16. Juni in der Kunsthalle Hamburg.

Mark, wurde für dieses Jahr gestrichen. C. DE GRANCY / ANZENBERGER Der Katalog kostet 98 (in der Ausstellung 39) Mark.

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mer wieder wie einen Kriegsschauplatz In seiner Besessenheit hat sich Schiele der Emotionen begriffen und inszeniert. auch selbst nicht geschont. Mit einem Als junger Wilder profilierte sich sendungsbewußten Narzißmus, der bis Schiele bereits an der Wiener Kunstaka- an den Rand der Quälerei reicht, verrät demie, in die er als 16jähriger aufge- er auf Papier und Leinwand jede seiner nommen worden war. Er rebellierte so Regungen, ob heftige Verzweiflung, ausdauernd gegen seinen altmodischen Melancholie oder schiere Einsamkeit, Malereiprofessor, daß der den Studen- aber auch jede neue Pose, in der er sich ten angeschrien haben soll: „Sie hat der gefällt. Als gemarterten Heiligen stellt Deubel in meine Schule gekackt.“ er sich dar, als Aktfigur mit erigiertem Den Ausweg aus dem biederen Pomp Glied, als Gefangenen, Dandy, Denker der Akademie-Malerei wies Schiele zu- und immer wieder als Doppelgänger sei- nächst der elegant-dekorative Jugend- ner selbst. stil, dem er einige Jahre lang anhing. Er Es ist gerade diese absolute Ent- verehrte Gustav Klimt, der ihm zum le- hemmtheit, mit der Schiele gegenwärtig benslangen Freund und Mentor wurde, einen Nerv trifft. und imitierte dessen Bildwelten. Doch Der Monomane schaffte den Zeit- schon mit knapp 20 Jahren, 1910, brach sprung in die neue Ära, weil er all das er aus dem Reich der Ornamentik aus. Aus der Bel Etage wagt Schiele den Abstieg in die Hölle. Den gepflegten Salonduft des Jugendstils vertreibt er mit bei- ßendem Schwefelgestank. Er ver- zichtet auf den dekorativen Gold- flimmer, treibt die Damen Klimts in ganz undamenhafte Bewegun- gen und Posen, reißt ihnen den perfekten Faltenwurf ab, um dar- unter mit fetischistischer Genau- igkeit ihr Schamhaar, ihr Ge- schlecht, ihre Haut, ihre Falten zu entdecken. Ein Flaneur des verbotenen Blicks. In seinen expressivsten Jahren, von 1910 bis 1915, unterwirft sich Schiele einem unbedingten Wil- len zum Extrem, weil er nur durch die ungebärdige Form auch seine extremen inneren Erschüt- terungen, die Grenzerfahrungen, wiedergeben kann. Immer herrscht Hochspannung in den Aktbildern, auch eine lau-

ernde Gewalttätigkeit, eine ob- DUMONT sessive Fixierung auf das Ge- Schiele-Aktzeichnung (1915) schlechtsteil, das er immer und Dargeboten wie eine pralle Frucht immer wieder darbietet wie eine überreife, pralle Frucht. Der nackte bietet, was die durch Werbung, Video- Körper birgt in Schieles Werk allen clip-Kultur und Popheldentum gepräg- Schrecken der Welt, alle Qual, aber ten Betrachter, gerade die jungen also, auch alles Begehren. Und nie ist das ei- von einem Kunstwerk zu erwarten ge- ne ohne das andere zu haben. Der Kör- lernt haben: einen extremen emotiona- per schwankt zwischen beiden, immer in len Ausdruck, den aggressiven Umgang Bewegung, verletzlich, vital, halb irrwit- mit sexuellen Gesten, einen Hauch von zig vor Verlangen und doch vom Ende Dekadenz und Fin de sie`cle, das Talent gezeichnet. „Alles ist lebend tot“, no- zur theatralischen Selbstdarstellung. tiert bereits der Jugendliche. Schiele schockt nicht mehr, er bricht Er skizziert mit kalter Hitze, knapp auch keine Tabus mehr. Schiele ist cool. kalkuliert, vor einem leeren Hinter- Er paßt perfekt ins Programm der post- grund scheinen die Körper ins Nichts zu modernen Popkultur. Das macht nicht taumeln. Er verdreht, verzerrt und ver- den ästhetischen Wert seiner Arbeiten spannt die menschliche Form, erniedrigt aus. Aber das erklärt seinen frappieren- sie zum Fragment. den Erfolg. Dann wieder spreizt und streckt er Wenn er wiederkehren dürfte aus den Körper ins schmerzhaft Dünne, läßt dem Totenreich, wäre er bald ein Fern- ihn gnadenlos häßlich wirken: eckig, sehstar, ein Talkshow-Gast, ein Michael knochig, kantig, mit viel zu großen Hän- Jackson der Malerei. Und sein bevor- den und scharfen, fratzenhaften Ge- zugtes Modell wäre das morbid hagere sichtslinien. Mannequin Kate Moss.

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KULTUR

Literatur Ein britischer Bocksgesang Dietrich Schwanitz über John le Carre´s Spionageroman „Unser Spiel“

Schwanitz, 55, arbeitet als Professor Agenten. Das legt den typischen Le- Kohl? Larrys alter Führungsoffizier in der Anglistik in Hamburg. Zuletzt veröf- Carre´-Plot auf eine barocke Spiel-im- der Sowjetunion heißt Tschetschejew. fentlichte er „Der Campus“ (1995), ei- Spiel-Struktur fest (le Carre´ alias David Tschetschejew ist Ingusche. Damit holt nen Unterhaltungsroman aus dem Cornwell ist ein Kenner des Barock): uns die Gegenwart ein. Die Inguschen deutschen Universitätsmilieu. Jeder Agent muß feststellen, daß sein sind ein Bergvolk aus dem Kaukasus, Spiel nur ein Teil eines noch größeren unmittelbare Nachbarn der Tschetsche- er typische Doppelagent des alten Spiels ist. Doch der Kalte Krieg wurde nen und wie diese einst von Stalin de- Spionagethrillers hatte Mundge- gewonnen, und Smiley genießt seine portiert, massakriert und versklavt. Druch, war kurz und fett, kaute an verdiente Pension. Was soll da noch Tschetschejew hat sich gewandelt wie seinen Fingernägeln, zog ein Bein nach, „unser Spiel“ sein? die Welt sich gewandelt hat. Er betrach- bekleckerte seinen Schlips, trug einen Im neuen Roman „Our Game“ ist es tet seine frühere Arbeit für den sowjeti- schlecht sitzenden Anzug und war äu- der 48jährige Timothy Cranmer, der sei- schen Geheimdienst jetzt als Verrat an ßerst geldgierig. Das änderte sich späte- ne verdiente Pension genießt. Der seinem Volk und kämpft für dessen Un- stens mit dem Verrat von Donald Mac- abhängigkeit, ein Held in ei- lean, Guy Burgess und Kim Philby – nem Volk, das noch an Helden Spionen, die aus dem Establishment ka- glaubt. Larry hilft: Er treibt men. Sie gehörten zu jenem in Deutsch- Geld für den Freiheitskampf land unbekannten Milieu, in dem sich der Inguschen auf und taucht Gelehrsamkeit, Politik, Literatur und unter. „high living“ mischen und das von Lite- Als Timothy, der eigene raten wie W. H. Auden und Stephen Gründe für ein schlechtes Ge- Spender geprägt war. wissen hat, der Mitwisserschaft Hier hat John le Carre´ das Modell für verdächtigt wird und auch sei- seinen Maulwurf Bill Haydon aus ne Geliebte Emma verschwin- „Dame, König, As, Spion“ gefunden. det, beginnt die Spurensuche Und diesem Typ entspricht auch der im Schattenreich der Vergan- ehemalige Doppelagent aus seinem neu- genheit und im Labyrinth der en Roman „Unser Spiel“*: Er ist eine Geheimnisse. Immer tiefer charmante Spielernatur, attraktiv, geist- führt uns Timothy, der Ich-Er- reich und leicht snobistisch. Le-Carre´- zähler, in das psychologische Leser finden sich also in vertrautem Ge- Magnetfeld der Geheimdien- lände: Einmal mehr geht es um den ste, dessen Kraftlinien von der Konflikt zwischen dem arkanen Herr- Mischung aus privaten Loyali-

schaftswissen einer geheimen Bürokra- J. STODDART / KATZ PICTURES täten, politischen Überzeugun- tie und persönlichem Verrat. Autor le Carre´: Mörderischer Exorzismus gen und sozialen Affinitäten „The Great Game“, so nennt Rud- bestimmt werden, die die yard Kipling in seinem Indienroman „Zirkus“ hat keine Verwendung mehr Mentalität der Eliten in Großbritannien „Kim“, der in den neunziger Jahren des für die alten Schlachtrösser, und so hat ebenso kennzeichnet wie die ihrer Spio- 19. Jahrhunderts spielt, die Spionage. sich Tim eine junge Geliebte und einen ne. „Our Game“ tituliert le Carre´ seinen alten Landsitz zugelegt. Und allmählich entfaltet diese Suche Thriller, der in den neunziger Jahren Kommt jetzt die gute alte Zeit? Nein, einen eigentümlichen moralischen Sog. des 20. Jahrhunderts spielt, und meint es kommt der Doppelagent. Während Sie wird zu einer Stafette, bei der sich immer noch die Spionage. Doch bei ihm des Ancien re´gime der Sowjetunion war einer am anderen mit der Faszination hat dieses Wort, das an Cricket, Spielre- Timothy der Führungsoffizier des at- durch den romantischen Helden infi- geln und den Code d’honneur eines traktiven Larry Pettifer, der wie ein Ex- ziert: Larry folgt Tschetschejew, Emma Gentleman erinnert, eine sinistre Be- trakt aller romantischen Helden von folgt Larry, Timothy folgt beiden, und deutung angenommen. Lord Byron bis Larry von Arabien der Leser folgt Timothy in den Kauka- Was puerile Spione wie James Bond wirkt. Und Larry war der begabteste sus ihres moralischen Engagements. als Oberklassensport betreiben, ist bei Maulwurf, der je das Reich des Bösen Durch vielfache Brechung gelingt es John le Carre´ ein gnadenloser Kult, der unterwandert hat. le Carre´, eine spannende Geschichte zu Menschenopfer fordert. Spätestens seit Nun ist Larry Professor an der Uni- erzählen, eine komplexe Beziehung von „Der Spion, der aus der Kälte kam“ versität von Bath und unterwandert die Liebe, Freundschaft und Verrat durch- kennen wir das Modell: Wenn es nötig Beziehung zwischen Tim und seiner jun- zuspielen und eine Konstellation zu ent- wird, verrät der britische Geheimdienst gen Geliebten Emma. Doppelagenten falten, die unser Jahrhundert der Ideo- um eines Schachzugs willen die eigenen kann man nicht einfach abstellen, wenn logien bestimmt hat: die seelische Sucht sie nicht mehr gebraucht werden. nach politischem Engagement. Aber werden sie wirklich nicht mehr „Unser Spiel“ ist ein politischer Ro- * John le Carre´: „Unser Spiel“. Deutsch von Wer- ner Schmitz. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; gebraucht? Ist jetzt alles in Ordnung in man. Er stellt eine Frage, die wir auch in 432 Seiten; 45 Mark. den Zeiten von Jelzin und Clinton und Deutschland schon gehört haben. Die

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Frage, ob wir die Inguschen und Tsche- und Literatur. Graham Greene, der es tschenen nicht verstehen müssen, wenn wissen mußte, bemerkte einmal, daß je- wir noch den Kontakt zu den morali- der Romancier etwas von einem Spion schen Quellen unserer eigenen Gesell- habe, denn auch er beobachte und be- schaft behalten wollen. Daß ein Volk lausche seine Umgebung. sein Sittengesetz mit seinem Blute ver- Der Spionageroman ist so alt wie die- teidigt, das verstehen wir nicht mehr, ses Jahrhundert des Verrats, und er ist hieß es sinngemäß im „Anschwellenden so unverwechselbar britisch wie Oxford Bocksgesang“ (SPIEGEL 6/1993). Nun, und Cambridge, wo die meisten Spione das war ein mißverständliches deutsches herkommen. Ein populäres Abenteuer- Pamphlet mit wolkigen Undeutlichkei- ten. Bei le Carre´ schreibt Larry, der Held, an seine Geliebte Emma: BESTSELLER Das Recht der Inguschen auf Überleben ist mein Recht und Dein Recht und das Recht aller guten freien Menschen, BELLETRISTIK nicht mit den bösen Mächten der Gleichmacherei übereinzustimmen . . . Gaarder: Sofies Welt (1) Und ihr Kampf gilt, ob sie es wissen 1 Hanser; 39,80 Mark oder nicht, dem obszönen Bündnis zwi- schen einem korrupten russischen Im- 2 Gordon: Die Erben (4) perium, das immer noch nach den al- des Medicus ten Weisen marschiert, und einer west- Droemer; 44 Mark lichen Führung, die für ihren Umgang mit dem Rest der Welt moralische 3 Allende: Paula (2) Gleichgültigkeit als ihr anständiges Suhrkamp; 49,80 Mark Christenrecht deklariert hat. Grisham: Die Kammer (3) Lassen wir uns trotz der Warnungen 4 Hoffmann und Campe; 48 Mark durch die Wächter der „political correct- ness“ von dieser Stimme so verführen Gaarder: Das (5) wie Emma, deren Herz Larry mit sei- 5 Kartengeheimnis nem Engagement gewinnt? Begeht der Hanser; 39,80 Mark Tamaro: Geh, wohin dein (6) Der Spion verführt 6 Herz dich trägt die Geliebte Diogenes; 32 Mark des Erzählers Buchheim: Die Festung (7) 7 Hoffmann und Campe; Westen mit seinem Appeasement nicht 78 Mark Verrat an sich selbst? Eco: Die Insel des (8) „Unser Spiel“ ist auch ein romanti- 8 vorigen Tages scher Roman. Führten die früheren Ro- Hanser; 49,80 Mark mane le Carre´s in das „wasteland“ des verrottenden London, in die sterilen Fosnes Hansen: Choral (9) Städte Nachkriegsdeutschlands, das 9 am Ende der Reise schaurige Niemandsland um die Zonen- Kiepenheuer & Witsch; grenze und die verfallende DDR, so 45 Mark geht es jetzt wie bei Walter Scott in ein Gebirge von atemberaubender Schön- Høeg: Fräulein Smillas (10) heit. Und die Dörfer und Türme der In- 10 Gespür für Schnee guschen zeigen auffällige Ähnlichkeit Hanser; 45 Mark mit jenen Bauten, die le Carre´ immer schon mit der formlosen Gegenwartsar- Proulx: Schiffsmeldungen (11) chitektur kontrastiert hatte: den Land- 11 List; 39,80 Mark häusern und Abteien des alten England. Und so findet der Ich-Erzähler, der Noll: Die Apothekerin (12) sich am Anfang des Romans in solch ein 12 Diogenes; 36 Mark Landhaus als sein „safe house“ zurück- gezogen hatte, im Kaukasus zugleich Walters: Die Bildhauerin (13) sein Zuhause, seine Vergangenheit und 13 Goldmann; 39,80 Mark die Quelle des Konzepts des Helden- tums – die Literatur. 14 Morgan: Traumfänger (14) Der Ich-Erzähler Timothy ist ein Goldmann; 36 Mark Double des Autors le Carre´. Als „Con- trol“ von Larry hat er seinem Helden 15 Grimes: Das Hotel das Skript geschrieben und dessen Rolle am See als Doppelagent entworfen. Das zeigt Goldmann; 42 Mark die Verwandtschaft zwischen Spionage genre, das den Zusammenbruch der bri- stellt, in dem heute die meisten Ange- tischen Welthegemonie mit Phantasien stellten ihr Arbeitsleben verbringen. Da von der Überlegenheit der britischen in dieser Welt die Hierarchien vom Zu- Gentleman-Kultur kompensiert. gang zu Kenntnissen abhängen, entfal- Aus diesem simplen Muster hat John tet sich wie im Spionageroman die zuge- le Carre´ unter dem Einfluß von Joseph hörige Story als ein Wettlauf um die ent- Conrad und Graham Greene ein subti- scheidenden Informationen. les Diagnose-Instrument gemacht, bei Zugleich verschärfen sich im Geheim- dem die Subkultur der Geheimdienste dienst die Probleme der Bürokratie. ein Bild des bürokratischen Biotops dar- Denn wer der Logenbrüderschaft bei- tritt, ist gezwungen, Verrat zu üben: Verrat an all den Menschen, die ihm am nächsten stehen – er muß sie über seine Tätigkeit täuschen; Verrat an seinen Agentenkollegen, die er um höherer SACHBÜCHER Ziele willen opfern muß; und Verrat an den humanistischen Prinzipien, die zu Wickert: Der Ehrliche (1) verteidigen er angetreten ist. Und in all 1 ist der Dumme dem wird der Agent seinem Double von Hoffmann und Campe; der Gegenseite immer ähnlicher, so daß 38 Mark beide einander stärker gleichen als der Ehrhardt: Gute Mädchen (2) Gesellschaft, die sie repräsentieren. 2 kommen in den Himmel, Deshalb läßt le Carre´ sie in einer Fi- böse überall hin gur verschmelzen. Seine ureigenste W. Krüger; 29,80 Mark Schöpfung – neben dem unsterblichen Smiley – ist der Maulwurf, der Doppel- 3 Carnegie: Sorge dich (3) agent, der Meta-Spion, der die Spione nicht, lebe! ausspioniert und dann noch damit be- Scherz; 44 Mark auftragt wird, sich selbst auszuräuchern, Paungger/Poppe: Vom (5) das lebende Paradox, die Inkarnation 4 richtigen Zeitpunkt der Grenze, die in so vielen Le-Carre´- Hugendubel; 29,80 Mark Romanen zur Freude der Dekonstrukti- visten überschritten wird. Carnegie & Assoc.: Der (4) Auch diesen Grenzübertritt finden 5 Erfolg ist in dir! wir in „Unser Spiel“. Aber es ist die Scherz; 39,80 Mark Grenze zwischen Literatur und Leben, Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (6) die nun überquert wird. Für den Erzäh- 6 Integral; 19 Mark ler Tim wird Larry, den er als Führungs- Friedrichs, mit Wieser: (7) offizier erfunden hat, zum Wiedergän- 7 Journalistenleben ger. Trotz eines mörderischen Exorzis- Droemer; 38 Mark mus wird er ihn ebensowenig los wie le Carre´ seine Figuren. In Form einer pi- Paungger/Poppe: Aus (8) randelloesken Rache verläßt der Held 8 eigener Kraft sein Skript, verführt die Geliebte des Goldmann; 39,80 Mark Erzählers und zwingt ihn dazu, ihm auf Preston: Hot Zone (9) seine „quest“ zu folgen und so zu wer- 9 Droemer; 39,80 Mark den wie er selbst: ein Held. Carnegie: Wie man (11) Der aber hat eine Verabredung mit 10 Freunde gewinnt dem Tod. Das ist ein Maß seines mora- Scherz; 44 Mark lischen Engagements, und das macht ihn unwiderstehlich. So wird aus „Our 11 Ogger: Das Kartell (10) Game“ auch ein literarisches Spiel, eine der Kassierer Dreiecksgeschichte zwischen dem Er- Droemer; 38 Mark zähler, dem Helden und der Geliebten Este´s: Die Wolfsfrau (12) von beiden, der Repräsentantin des ver- 12 Heyne; 48 Mark führten Lesers. Also mehr als ein Spionageroman? Jong: Keine Angst (14) 13 vor Fünfzig Die Stasi hat uns inzwischen gelehrt, Hoffmann und Campe; 44 Mark über die Kritiker herzlich zu lachen, die le Carre´ mit dieser Feststellung loben Gorbatschow: (13) wollen. Eher eine Selbstreflexion des 14 Erinnerungen Spionageromans, mit der le Carre´ das Siedler; 78 Mark verdrängte Unterbewußte der westli- Mandela: Der lange (15) chen Politik beschreibt. 15 Weg zur Freiheit Ein britischer Bocksgesang also? Der S. Fischer; 58 Mark Abstand zwischen den kulturellen Tem- peramenten in Deutschland und Eng- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom land manifestiert sich eben auch in dem Fachmagazin Buchreport Unterschied zwischen einem düsteren Pamphlet und einem guten Roman. Y Werbeseite

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KULTUR

Bei seinen Ausstellungen fordert Avi- Maler gnon die Besucher schon mal auf, eine Schere mitzubringen und sich ein Stück vom Kunstkuchen abzuschneiden – oder er verschenkt gleich alle Exponate. „Ich Tizian will einen anderen Markt schaffen – für Leute, die maximal 200 Mark ausgeben können“, sagt er. des Techno Avignon arbeitet ohne Galeristen – und mitunter in Rekordgeschwindig- Er bemalt Surfbretter, hüpft durch keit: Für eine House-Party im Hambur- Leinwände und lädt zu Museums- ger „Gaswerk“ durfte er die Dekoration besorgen – ein Tag genügte ihm, um die partys: Der Berliner Jim Avignon gilt zehn überdimensionalen Papierbahnen als Pionier einer neuen Pop Art. fertigzustellen. Seine schnelle Arbeitsweise und di- verse Stilelemente hat Avignon mit den enige Sekunden genügen, um New Yorker Graffiti-Stars der achtziger das Werk eines ganzen Tages zu Jahre, Keith Haring und Jean-Michel Wzerstören. Jim Avignon legt den Basquiat, gemein. Ebenso wie Haring Pinsel beiseite – und dann springt er be- und Basquiat ist dem Berliner mittler- herzt durch die drei mal sechs Meter weile der Umzug aus dem Untergrund große Leinwand. in die etablierten Museen gelungen. Für Der Zerstörungstrick, mit dem Avi- die Frankfurter „Schirn“-Kunsthalle in- gnon, 29, schon die Besucher der Kasse- szenierte Avignon zu Jahresbeginn ein ler „documenta“ vor drei Jahren ver- Happening der besonderen Art: Er lud wirrte, gehört zum festen Repertoire 800 Personen zu einer „Art-Groove“- des Berliner Künstlers: „Meine Bilder Party. Für 15 Mark Eintritt durften sind nicht für die Ewig- die Gäste nicht nur keit“, behauptet der die 800 „speziell für Maler. Frankfurt“ hergestell- In Kassel war Avi- ten Kunstwerke be- gnon noch ein ungebe- wundern, sondern ei- tener Zaungast, der nes auch sofort mit seine Destruktionsar- nach Hause nehmen. beit außerhalb des offi- „Ausstellungen soll- ziellen Programms vor ten wie Popkonzerte dem Museum Fride- sein“, lautet die Maxi- ricianum verrichtete. me des Künstlers, „es Mittlerweile aber gilt kann doch nicht ange- der eigensinnige Ar- hen, daß Tausende von tist, der sich selbst Leuten zu Konzerten als „Deutschlands ver- pilgern, während die rücktester Maler“ be- Galerien und Museen zeichnet, als Pionier gähnend leer sind.“ einer neuen Pop-Art- Gemeinsam mit Generation – seine zwei befreundeten Fans nennen den Computerspezialisten Mann den „Tizian des hat er Programme ent- Techno“. wickelt, die auf seinen Kunst und Musik Bildern basieren. Die miteinander zu verbin- Sounds dazu nahm er den ist Avignons selber auf – und blieb Grundsatz: Angefan- seiner Preispolitik gen hat er in der Ber- treu: Die „Jump & liner Szene, wo er Run“- und „Memory“- bis heute die Cover Spiele kosten acht des „Downbeat“-La- Mark pro Diskette. bels gestaltet. Sein Beim Surf-Weltcup Ruhm wuchs mit dem auf Sylt stellt er im Aufstieg des Techno September am We- zur stilprägenden Ju- sterländer Schickeria- gendkultur der neunzi- Strand der Nordseein- ger Jahre. Bei der sel bunte Totempfähle jüngsten Berliner auf – aus Surfbrettern. Love-Parade gehörte Sie werden nur wenige der von ihm entworfe- Tage zu sehen sein: ne Leit-Wagen an der Jim Avignons Werke

Spitze des Umzugs zu E. STRATMANN sind nicht für die Ewig- den Attraktionen. Pop-Künstler Avignon keit. Y

DER SPIEGEL 35/1995 187 Werbeseite

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Werbeseite . B. UHLIG Salzburger Festspielinszenierung „La Traviata“: Himmlisches Trauerspiel als abendfüllende Lachnummer

Musiktheater Schluß mit Liebreiz! SPIEGEL-Redakteur Klaus Umbach über die Krise bei den Salzburger Festspielen

rüß Gott, Herr von Karajan, die ren Advokaten die ersten Schriftsätze. Früher, bei Karajan, habe „nur noch Ihren sind wieder im Kommen. Doch nicht alles ist Schmäh, nicht alles die materielle Elite“ die Festspiele be- GAuf dem Laufsteg im Salzburger ist Operette mit Hinterfotz nach Lan- zahlen können. Inzwischen liegen Mor- Festspielbezirk paaren sich wieder, wie dessitte. Tatsächlich steht Mortier in tiers Spitzenpreise für die Oper über 800 in der güldenen Ära des großen Verbli- diesem Sommer dumm da. Zu laut hat Mark, nicht gerade ein sozialverträgli- chenen, Edel-Dirndl und Dinner-Jak- der Flame von seinem Salzburger cher Aufschwung. kets. Man trägt wieder Mottenkugeln, Schleuderthron herab die entscheidende „Grauenhaft“ schalt Mortier das und die Gaffer schnuppern große Welt. Wende herausposaunt, nun muß er sein Schauerdrama vom „Jedermann“ auf Nachlaßverwalter und Medienmakler großes Wort brechen. dem Domplatz. Recht hat er und ließ es des entschlafenen Mae- dabei: Immer noch rum- stro führen schon wieder meln ganze Busladungen das große Wort: Fest- zur Buhlschaft heran, und spielintendant Gerard der Intendant kassiert ab. Mortier, „dieser selbster- Mit seinem Amtsantritt nannte Großreformer“, 1991 sah Mortier in Salz- sei „gescheitert“ und die burg „einen musikali- Saison heuer „ein einzi- schen Weltkrieg ausbre- ger Skandal“. chen“, und mit Elan rü- Zum gleichen Schlacht- stete er neutönerisch auf. ruf verbrüdern sich die Aber mittlerweile laufen Wiener Zeitungen, sonst über seine Bühnen auch in Konkurrenz über die alten Schlachtrösser Kreuz, und lügen notfalls aller Stadttheater, Verdis wie gedruckt. „Hetzkam- edles Tbc-Drama „La pagne“, schießt ihr Opfer Traviata“ und der kan- Mortier zurück, „zentral dierte „Rosenkavalier“, gesteuert“ und „bezahlt“, Schmankerl für alle „ich weiß auch von Plüschohren. wem“. Schon formulie- Mit dem „mafiosen“ Gemauschel der Platten-

* Mit Christine Schäfer, Gerd P. RIGAUD industrie werde er in Salz- Wolf. „Lulu“ in Salzburg*: Freispruch für die Sünderin burg aufräumen, hatte

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Mortier getönt; weg mit all den Karajan- Postern in den Auslagen, zwischen Bü- stenhaltern und Unterhosen. Nun ist der Oberhirte der Szene dahin. Dafür ist die Stadt jetzt mit Mehtas und Maazels ta- peziert, und Mortier guckt zu. „Zuhälter“ seien die Betreiber des Plattengewerbes, legte Mortier erst jüngst wieder nach. Jetzt erwartet ihn, mit vorzüglicher Hochachtung, das Prä- sent eines Betroffenen aus dem Kara- jan-Milieu: 15 farbige Präservative in ei- ner transparenten CD-Box. Salzburger- Streitkultur der gebildeten Stände. Dabei geht es, im Ernst, um Mortiers Kopf. Seit Wochen liegt der Vertrag, der den umstrittenen Gastarbeiter bis ins Jahr 2001 an Salzburg binden soll, unterschriftsreif vor; unterschrieben ist er noch nicht. Bis Mitte Oktober werde paraphiert, läßt der Intendant ausstreuen und ge- nießt wieder mal sein taktisches Ritar- dando: Die Herrschaften vom gegneri- schen Flügel sollen schmoren. Zum Beweis, daß er die Festspiele weiter kräftig entrümpeln will, hat er ein 30seitiges Zukunftsprogramm formu- liert, das seinen Reformkurs fort- schreibt. „Alle sollen wissen, was ich will.“ Je wütender sich seine Widersa- cher, vor allem „im neidischen Wien“, auf ihn einschössen, um so hartnäckiger werde er „auf jeder einzelnen Forde- rung bestehen“: „Jetzt bin ich stur.“ Dumm nur, daß sich der kluge Dick- kopf ausgerechnet in diesem Spiel der Mächtigen die Karten selbst schlecht ge- mischt und als Galionsfigur von Neu- Salzburg peinvolle Blößen gegeben hat. Die heilig versprochene Runderneue- rung des Salzburger Sprechtheaters, ein Must de Mortier, droht auf der Strecke zu bleiben: Peter Stein, Schauspielchef mit Flops („Antonius und Cleopatra“) und Volltreffern („Der Kirschgarten“), will seinen Job schmeißen. Mozart, der kostbarste Pflegefall der Festspiele, findet auf der Bühne kaum statt. Der Spielplan, saisonbereinigt mit nur zwei Opern, ist ein Armutszeugnis, 1996 droht weiterer Aderlaß. Patrice Che´reaus vorjährige Novität „Don Giovanni“, gewiß ein Glücksfall an musikgetreuer Eleganz und klang- sensibler Personenregie, ist vom Insze- nator in diesem Sommer überarbeitet worden, und das nicht zu seinem Heil. Immer noch hat er zauberhafte Momen- te und Blickfänge, aber verzaubern kann er nicht mehr. Auch der neue „Figaro“ vermittelt bloß getrübtes Glück. Wunderbar, end- lich mal kein neckisches Haschmich im Hochzeitstrubel aussitzen zu müssen, Schluß mit all dem albernen Liebreiz in platter Regie-Routine. Doch im Salzburger New Look wird Mozarts geniales Entertainment nun mit einem Schlag ins edelbittere Problem- stück verkehrt. Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt legt seinen Klangkörper aufs Streckbett und dehnt das Werk – passagenweise höchst hörenswert – zum überlangen Geduldsspiel. Regisseur Luc Bondy liefert dazu die Psychoanalyse und illustriert – streckenweise durchaus sehenswert – seine Diagnose mit stren- gen Gesten: Hier gibt es nichts zu la- chen. Die Buffa ohne Spaß – auch das eine Kröte aus Mortiers Reformreper- toire. Aber auch das ist neu im Festspielbe- trieb, und das ist ungleich schlimmer: die szenische Nullösung der neuen „Traviata“, der Reinfall der Saison. Da wird das Große Festspielhaus zur gigan- tischen Klitsche. Dabei hatte sich der virtuose Taktie- rer Mortier das Ganze fein ausgeheckt. Erst machte er einen Bückling vor dem Dirigenten Riccardo Muti; beide stehen sich in ehrlicher Abneigung gegenüber. Mit Muti im Bunde hofierte Mortier die Wiener Philharmoniker, auf die er nie gut zu sprechen ist. In scheinheiliger Eintracht schnürten die Partner ein Pak- Über dem Sterbebett rieselt der Schnee von vorgestern kerl, gedacht alsLockmittel für Salzburgs große Belkanto-Gemeinde: „La Travia- ta“. Ein krachender Totalschaden, Verdis himmlisches Trauerspiel als abendfüllen- de Lachnummer. Zuerst stellte sich der katalanische Re- gisseur Lluis Pasqual als Lehrling der De- korationsbranche vor und verkleinerte die Riesenbühne des Großen Festspiel- hauses durch allerlei nostalgische Tuch- bahnen, die er hochfahren, niederkom- men oder zu Wolkenstores raffen ließ; egal, alles gleich sinnlos. Auf dem verkleinerten Spielplatz ar- rangierte er dann ein Möbellager: Stühle, die keiner recht nutzte, weil sich eh nie- mand vernünftig bewegte. Plunder und Personen standen bloß rum; der Chor, sündhaft teuer eingekleidet, schritt mal von hinten nach vorn, dann von links nach rechts und schließlich fürbaß. Die Traviata und ihr Verehrer Alfre- do, gemeinhin hautnah einander zuge- tan, mieden ängstlich jede Berührung – der Regisseur alsLiebestöter. Am Schluß nieselte über dem Sterbebett der Titelfi- gur der Schnee von vorgestern. Ge- schafft: Das Tölzer Bauerntheater hatte Einzug gehalten auf der Salzburger Welt- bühne. Dem szenischen Desaster angemessen führte sich Muti vor der Musi auf. Beim kleinsten Tremolo rotierte sein schwarz- haariger Schädel wie ein Wirrkopf; beim diskretesten Crescendo massierte er das KULTUR

Orchester, als ginge es um die „Sinfonie der Tausend“ und nicht um ein musika- lisches Kammerspiel; einmal sprang er vom Podium hoch, als wollte er allen zeigen, wer der Größte ist. Er ist es nicht. Er schlug verläßlich sein Rum-ta- ta, fand auch mal lyrische Töne und lie- ferte im übrigen die Karikatur eines Ka- pellmeisters. Wenn Mortier der scharfe Kunstrich- ter ist, als den er sich gern ausgibt, hätte er dieses Debakel nach den ersten Pro- ben absetzen, Krach und Bruch riskie- ren müssen. Noch nach der Premiere hätte ihn ein Rücktritt geadelt. Also ein Scherbengericht? Ende der Wende? Zum Glück war nicht aller Ta- ge Abend so grauslich, und zum Happy- End der Spielzeit konnte der angeschla- gene Intendant doch noch zeigen, was sein Lieblingswort eigentlich meint – „Event“. Event ist, wenn alles zusam- menpaßt: Festival-Programm, die ein- zelne Aufführung und der horrende Preis fürs Billet. Mit der Salzburger Erstaufführung von Alban Bergs „Lulu“ tat Mortier mu- sikalisch wie szenisch ein gutes Werk und leistete zudem Wiedergutmachung an dem österreichischen Komponisten. Der Dirigent Michael Gielen erwies sich als Klang-Logistiker der Spitzen- klasse, Regisseur Peter Mussbach ge- lang durch synchronen Einsatz von Film und Live ein packender Media-Mix. Lu- lu, die mordende Lebedame, war weder Flittchen noch Vamp, nicht mal blauer, sondern Unschuldsengel. Mussbach ver- klärte sie – ungewöhnlich, aber plausi- bel – zu einer heiligen Sünderin. Die Aufführung endete als Freispruch für die ewige Kindfrau. Letzten Donnerstag schließlich trumpfte Mortier bei einem Bühnen- doppel aus Schönbergs „Erwartung“ und Barto´ks „Blaubart“ noch einmal mit zwei Assen auf: Die Diva Jessye Norman gab ihm die Ehre in Schönbergs Monodram, und Robert Wilson, Dar- ling aller Schöngeister mit Hang zum Schick, debütierte als Regisseur in Salz- burg. Ein voller PR-Erfolg. Die Norman sang schön (wenn auch größtenteils unverständlich), gelegent- lich anrührend und in den Höhen mit gedrosselter Kraft. Wilson blieb Wilson und machte aus Oper mal wieder eine Vernissage mit Begleitmusik: edle Ein- falt, stille Kühle, pure Ästhetik, alles al- te Bekannte. Der wahre Star des Abends tat – Mae- stro Muti als Vorbild empfohlen – ohne Getue im Graben seine Pflicht: Der Di- rigent Christoph von Dohna´nyi lieferte eine Mustersoiree an Präzision und werktreuen Emotionen, festspielwert und festspielwürdig. So wird Mortier noch einmal davon- kommen; er hat keine andere Wahl als Salzburg, Salzburg keine andere als ihn. .

Film Prügel mit dem Paddel „Waterworld“. Spielfilm von Kevin Reynolds. USA 1995.

chon bevor das Wasser-Werk in die Kinos kam, war es abgesoffen. SMonatelang labte sich die interna- tionale Presse an immer neuen Kata- strophenmeldungen von den Drehar- beiten. Hauptdarsteller und Mitproduzent Kevin Costner, so hieß es, habe sich am Schneidetisch mit seinem Regisseur und Intimus Kevin Reynolds ver- „Waterworld“-Szene: Schwer aus dem Ruder gelaufen kracht, seine Ehe sei vor- her schon baden gegan- Menschheit: Zwischen gen. Während der Dreh- seinen Zehen wachsen arbeiten versank vor Ha- nützliche Schwimmhäu- waii eine stählerne Platt- te, hinter den Ohren kei- form, beim Tiefseetau- men Kiemen, mit denen chen wäre beinahe ein der Amphibe unter Was- Stuntman ertrunken. Und ser atmen kann. Biswei- schließlich landete auch len schnellt Costner wie noch Costners Submarin- ein Delphin aus den Flu- Trainer wegen Drogenbe- ten, wirkt allerdings ver- sitzes im Knast. glichen mit dem munte- Als „Waterworld“ ren Flipper eher wie ein beim Start in den USA psychisch verkümmerter darüber hinaus nur klägli- Seeigel. che Besucherzahlen er- Seelisch ist der naßfor- reichte, war jedermann sche Mariner ohnehin

überzeugt, daß die monu- GLASS / UNIVERSAL schwer aus dem Ruder mentalen 200 Millionen gelaufen. Seine schö-

Dollar Produktionsko- FOTOS: B. ne, glutvolle Gefährtin sten nimmermehr einge- „Waterworld“-Darsteller Costner, Hopper: Seeigel contra Unhold (Jeanne Tripplehorn) be- spielt werden könnten. zieht gelegentlich Prügel Das war das grausige Vorspiel, und und reisen im Katamaran durch die ver- mit einem Paddel. Und wenn er sie stilvoll ging es weiter. „Kevin’s Gate“ einigten Ozeane. mal küßt, dann nur unter Wasser – um höhnten die Kritiker nach Begutach- Einen solchen Draufgänger gibt Cost- die Kiemenlose mit Sauerstoff zu ver- tung der Marine-Misere – in Anlehnung ner – „Mariner“ heißt er in Wasserkrei- sorgen. an einen der größten Flops der Filmge- sen. Sein luxuriöses Segelboot, ein Tri- Natürlich siedelt auch ein Unhold schichte, Michael Ciminos Großbild- maran, verfügt über eine Apparatur, die unter den Flossilien, Dennis Hopper Western „Heaven’s Gate“. aus Costners kostbarem Urin immer spielt ihn mit satanischer Verve. Er ist Die englische Sunday Times über- wieder Trinkwasser destilliert. Die in- der Piratenkapitän, haut Costner und schrieb ihren Verriß mit „Langeweile ternationale Kritik quittierte diesen uro- seine Genossen so übers Ohr, daß es kommt in Wellen“ und ulkte: „Filme, in logischen Kreislauf mit besonderem auf keine Schwimmhaut geht: Der denen Costner langes Haar trägt, sind Ekel. Trunkenbold verspricht – rhetorisch immer ein Desaster.“ Übereinstimmend Der Kahn hat aber noch andere Fi- nicht unbegabt – den Wassermenschen beklagten die Rezensenten elementare nessen. Nach Bedarf läßt er sich entwe- das Heil im fernen „Trockenland“. Mängel an Witz, Humor und Ironie. der zum Rennboot oder zum Bergungs- Doch wenigstens eine faßbare Bot- Das Öko-Drama „Waterworld“ spielt fahrzeug aufrüsten, mit dem der Mari- schaft dürfen geduldige Kinogänger irgendwann im Dritten Jahrtausend: ner den Zivilisationsmüll vergangener aus diesem ozeanischen Unfug ins Die Menschheit hat es endlich ge- Generationen vom Meeresgrund hievt. Trockene retten: Selbst in der globalen schafft, die polaren Eiskappen zum Eine alte Autobatterie zum Beispiel Apokalypse bleibt der menschliche To- Schmelzen zu bringen, die Welt steht dient ihm als Antrieb für eine Turbo- destrieb aprilfrisch. Hoppers Wasser- unter Wasser. Harpune, mit der er zum Abendbrot ei- treter verprassen am Schluß ihre letz- Ein paar immerhin sind waterproof nen Wal schießt; den verzehrt er dann ten Ölreserven und taumeln blind in und haben sich auf verrostete Plattfor- im Fischstäbchen-Format. den kollektiven Suizid und enden als men und ehemalige Öltanker gerettet. Der Mariner ist auch physisch schon Fischfutter. Da hilft auch kein Öko- Einige Herrschaften leben ganz fidel einen Schritt weiter als der Rest der Pissoir. Y

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KULTUR

Pop Auf Adornos Baßlinie SPIEGEL-Redakteur Wolfgang Höbel über Diskjockeys, Philosophie und Heldenlegenden

en im Dunkeln sah man nicht. Der Diskjockey, kurz DJ oder DeeJay, Pop-Wissenschaftlers Ulf Poschardt Lange Zeit galt er als eremitischer repräsentiert den Helden- und Herr- Aufklärung*: Es versucht auf rund 400 DNarr – allein gelassen und zur Ar- schermythos in der Jugendkultur der Seiten eine Erläuterung des „Phäno- beit verdammt in einem Reich, dessen neunziger Jahre, und noch muß sich mens DJ“. Grenzen von Schallplattenstapeln ver- WestBam seinen Machtanspruch mit di- Kein leichtes Unterfangen: „DJs nei- stellt waren und an dessen Horizont die versen Konkurrenten teilen – auf natio- gen zu wortfaulem Autismus“, gibt der Regler eines Mischpults aufragten. naler Ebene etwa mit Sven Väth und Ma- Verfasser einleitend zu bedenken, wo- Ganz egal, ob er im Dämmerlicht ei- rusha, international mit hinter Pseudony- durch sie „ein gefügiges Objekt“ seien nes Radiostudios saß oder im finstersten men versteckten Menschen wieDJ Hype, „für jeden Wissenschaftler und Theore- Winkel des Tanzsaals: Jumping Jack Frost oder tiker, der sich ihnen nähert“. Poschardts Die anderen hatten Africa Bambaata. Antwort auf diese Malaise aber lautet: Spaß, und seine Aufga- An Bezeugungen der Hingabe! Partei sein! Oder, wortwört- be war es, das Spiel der Zuneigung und Unter- lich, „mit dem Herzen schreiben“! Es Körper und Ekstasen werfung fehlt es nicht. gelte, so die von Hegel herbeizitierte voranzutreiben. Der Rainald Goetz etwa Methodik, zum Zwecke wissenschaftli- Mann im Dunkeln aber rühmt den DJ-Helden cher Erkenntnis „sich dem Leben des blieb ein Phantom ohne seiner aktuellen Präfe- Gegenstandes zu übergeben“. Gesicht und Gestalt – renz mal als „Bruder“ Nun arbeitet Poschardt, 28, als ein trauriger Gedanke, WestBam, den „Meister „Reserve-DJ“ in Münchner Klubs, auch der nicht tanzen kann. der Kunst am Volk“, mal beschäftigt er sich als Journalist schon Mittlerweile hat das als dionysischen Gott länger mit allen Spielarten des Pop – Phantom sein Schatten- Sven Väth, der sein Wun- ideale Basis für die teilnehmende Beob-

reich verlassen. Es hat T. EBERLE derwerk versieht „im achtung im Sinne einer, so heißt es im ein Gesicht, und einen Poschardt Bund mit Feen, Faunen Buch, „reflektierten Euphorie“. Körper hat es auch. Es und Teufeln“. Poschardt geht in „DJ-Culture“ selber wird angehimmelt von Massen junger Wie kommt es, daß aus dem schie- vor wie ein DeeJay: Er scratcht und Menschen und bedrängt von Plattenfir- ren Handwerk des Plattenauflegens ei- mixt und sampelt, was das Zeug hält, men und Werbeagenturen. Und wenn ne neue Schamanenkunst entstand? und einmal gesteht er: „Auch Walter es, in Gestalt des Berliners Maximilian Macht das Hantieren mit zwei Platten- Lenz alias WestBam, auf einen kühnen spielern und einem Mischpult sexy? Al- Interviewer trifft, dann ergeht es sich len Tanzwütigen und Tanzverächtern, auch schon mal in wilden Phantasien. die sich mit solchen Fragen quälen, Auf die Frage „Wem gehört die Welt?“ verspricht nun ein Buch des Münchner antwortete WestBam: „Dem, der die abgehobenste Tanzmusik macht, die es * Ulf Poschardt: „DJ-Culture“. Verlag Rogner & in der Menschheitsgeschichte je gegeben Bernhard bei Zweitausendeins; 428 Seiten; 35 hat.“ Mark. H. GUTMANN M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV DeeJays Väth, Marusha, Grandmaster Flash: Der „Underground“ als herrschaftsfreies Idyll, wo sich Produzenten und

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Benjamin und Karl Marx lassen sich gut welche „die Moderne nicht nur rettet, remixen.“ Schon wahr, aber ebensogut sondern sogar tanzen läßt“. eignen sich Roland Barthes und Michel So bleept und fiept es überm Philoso- Serres, Martin Heidegger und Klaus phengroove. Allerhand ist in diesem Theweleit, Tom Wolfe und Nik Cohn, Buch notiert über den selbstreferentiel- Ad Reinhardt und Marcel Duchamp. len Charakter der Diskjockey-Arbeit, Und haben nicht die schwarzen Rap- über das „glorreiche Projekt der Moder- Jungs von Public Enemy sich ähnlich um ne“ und über das Hantieren am Misch- die Aufklärung verdient gemacht wie pult als „Konstruktion und nicht Dekon- Horkheimer und Adorno? struktion von Bewußtsein“. Im großen Remix des DJ-Forschers Nur, wozu der diskursive Rave? Poschardt hat alles seinen Platz, geht es Schließlich ist die Rede vom „Antiher- doch, wie es einmal heißt, um die metischen der DJ-Culture“ – liegt die „Aktualisierung alter (brillanter) Ge- Wahrheit also flach und für jedermann danken“. Das Buch nämlich ist entstan- zu besichtigen auf dem Plattenteller her- den, und so liest sich vor allem der ab- um? So verdienstvoll es sein mag, das schließende „Versuch einer Theorie“ Pop-Phänomen der DJ-Kultur hineinzu- der DJ-Kultur, als philologische Promo- basteln ins Gedankengerüst der Philoso- tionsarbeit. phie, so überflüssig ist es auch. Es ist der immerzu Synthese und Ver- Die DeeJay-Pioniere hätten sich ganz söhnung zwischen den Widersprüchen zu Recht als Praktiker verstanden, be- suchende hegelianische Geist, der bei richtet Poschardt, nicht als Philosophen: Poschardt über den Nischen der Subkul- „Die Frömmigkeit des Fragens fiel mit tur und über den Plattennadeln der Frömmigkeit des Tuns zusammen.“ schwebt. „Das ganze Hegelsche System Kein Wunder, wenn der Autor ebenfalls ist eine Maschine der Zuversicht und vor allem da Charme und Kraft beweist, Hoffnung“, behauptet der Autor. wo er fromm Geschichte und Geschich- Versöhnung also – zum Beispiel in der ten der DJ-Kultur nacherzählt. leidigen Frage der Autorenschaft. Ist Es sind schöne, einfache Heldenle- die Kunst des DeeJays eine parasitäre? genden, von denen Poschardt berichtet, lautet die rhetorische Frage. Offenbart und die strahlendsten Helden des Bu- der Triumph des scratchenden und sam- ches hören auf so seltsame Namen wie pelnden DJs den Tod des Autors und Roland TR-808, Akai S-1100 oder Tech- Künstlers, wie ihn Barthes und Foucault nics 1200 MK2. Es handelt sich um die beschworen? Nein, sagt Poschardt (und Klassiker unter den Rhythmuscompu- jeder, der Ohren hat zu hören), der Sieg tern, Samplermaschinen und Platten- des DJs sei zu interpretieren als Über- spielern, um „Wunderwaffen“, so der windung dieses Todes, das Sichverlieren Autor, mit denen sich die DJs ihren in Musik bedeute „keinen Verlust des Weg ins Zentrum der Popwelt freibal- Selbst, sondern dessen Wiedergewin- lerten. nung im Reich der Töne“. Die Errungenschaften des High-Tech Nächste Gratisfrage: Ist das Neukom- werden plausibel erklärt als Instrumente binieren nicht eine typische Strategie der Emanzipation und Teil einer Be- der Postmoderne? Nein, antwortet Po- glückungsmaschinerie. Sie verdienen, schardt, die Welt der DJ-Kultur sei als ein Schlüsselwort des Buches, Respekt. Tanz auf einer fetten Adorno-Baßlinie Respect beziehungsweise Respekt – zu verstehen, als „Kultur des erhaben der Begriff ist entlehnt aus der Hip- Disharmonischen und Dissonanten“, Hop-Kultur der schwarzen Ghettos – zollt Poschardt im Rahmen seiner mun- teren Popwissenschaft auch DJ-Pionie- ren und Tanzkultur-Innovatoren: Re- spekt für Reginald A. Fessenden, der am Heiligabend 1906 die erste Radio- sendung überhaupt in den Äther schick- te und der, weil er eine Platte mit Hän- dels „Largo“ auflegte, als erster DJ gel- ten kann. Respekt für Martin Block, den ersten Show- und Werbestar unter den Radio-Auflegern, der 1938 im ame- rikanischen Newark 300 Gefriertruhen während eines Schneesturms verkaufte. Respekt für den Kult-DJ Wolfman Jack und Alan Freed, der als Erfinder des Begriffs Rock’n’Roll gilt, und seine noch erfolgreicheren Adepten. FILE In Freed erkennt Poschardt den er- sten bedeutenden Party-DJ, der als wei- ßer Musikbegeisterter in New York und

A. PAREIRA / STAR Cleveland ein mehrheitlich schwarzes Konsumenten als Einheit verstehen Publikum begeisterte; ein echter Pop-

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KULTUR

held, der „nicht nur Plattenaufle- Händchen fürs Hintergründige. Wenn ger, Entertainer, Werbefachkraft oder Bücher Kinder heutzutage noch Märchen brau- Dampfplauderer“ war, „sondern erst- chen, dann haben sie jetzt auch die Bil- mals auch der Agitator, Initiator und der dazu. Sein „Daumesdick“ sitzt Motor einer neuen Jugendkultur“. nicht, wie dutzendfach gesehen, als In solchen Passagen erweist sich „DJ- Ursprung Winzling im Schneckenhaus oder in ei- Culture“ als gründlich recherchierte, un- nem gigantischen Pferdeohr. Er hockt bekümmert parteiische Popgeschichts- nackt und klein vor einem Tisch, mit ei- schreibung. Poschardt erzählt vom der Poesie nem Haufen Kissen unterm Hintern. Kampf des sogenannten schwarzen Ra- Auch mit Mord und Totschlag in den dios ums ökonomische Überleben, von Mit magischem Realismus hat der Märchen, die vor allem in den siebziger den vergänglichen Siegen der Outlaws im Zeichner Nikolaus Heidelbach die Jahren Kinderpsychologen in helle Auf- Hip Hop und Punk. regung versetzten, geht Heidelbach ge- Mitunter wähnt sich der Leser auf ei- Märchen der Brüder Grimm neu illu- witzt um. Zur Grimm-Geschichte „Das ner Art Butterfahrt ins Reich der Popu- striert. eigensinnige Kind“ zeigt er zwar ein lärwissenschaft: So kompakt (und gün- Grab, aber aus dem Boden ragt frech ei- stig) war das alles noch nie zu haben. ne Kinderhand und zeigt der Peinigerin Hier ein Ruhmeskapitel über schwarze uf den ersten Blick liegt eine sprö- einen Stinkefinger. DJ-Titanen wie Grandmaster Flash und de Blonde im Bett. Der Mund ist Und so ist es immer bei Heidelbach: Kool DJ Herc, da die Verteidigung der Averkniffen, die Augen sind kalt. Ih- Im Märchen von der Frau Trude wird House-Musik gegen den Vorwurf, sie be- re Hand langt nach vorn, bereit, den ein vorwitziges Mädchen verbrannt. treibe seelenlose Kommunikation zwi- glitschigen grünen Eindringling abzu- Doch der Zeichner zeigt nur eine Oma schen Maschinen – im Jahrzehnt des wehren: Der Froschkönig. Jeder kennt im Lehnstuhl, der die verschmitzte Bös- Techno-Donners, den der Autor als das Märchen, und jeder kennt die Bil- artigkeit aus dem Gesicht spricht. „Musik auf dem Weg zum reinen Ge- der. Doch hier ist etwas anders: Die Wi- „Manche Dinge“, so der Illustrator, räusch“ beschreibt, wirkt dies rührend obsolet. Ziemlich idealistisch klingt es, wenn Poschardt den „Underground“ als herr- schaftsfreies Idyll verklärt: „Dort“, be- hauptet er, „verstehen sich Produzenten und Konsumenten im Zweifelsfall immer als Einheit“ – der alte Traum von der So- lidarität der Verdammten dieser Erde im Endlosloop. Selbst der Verstoß „gegen die Weisun- gen der Gebrauchsanleitungen“, der den Scratchern erst das Hin- und Herbewe- gen der Schallplatten erlaubte, taugt zum Akt des Aufbegehrens. Möglich aller- dings, daß Poschardt gerade hier Bahn- brechendes erkennt: Um die Herrschaft der Apparate zu brechen, muß man zual- lererst die Waschzettel zu ihrer Bedie- nung zerreißen. Doch wasnun verleiht dem Diskjockey seine Macht? Ist es der revolutionäre Im- petus? Das Gespür für die unausgespro-

chenen Wünsche seines Publikums? Das J. BINDRIM / LAIF Geschick beim „Suchen, Aufstöbern und Zeichner Heidelbach: Scharfer Blick und Händchen fürs Hintergründige Erwerben von Platten“? Poschardt hat keine Antwort. Und doch scheint es, als derspenstige ist nackt unterm Bettzeug, „kann ich einfach nicht unironisch zei- schreibe er selbst die Magie der DJ-Kul- und die Schenkel der königlichen Jung- gen.“ tur einem über alle Moden erhabenen fer sind gespreizt. Zu seinen Grimm-Zeichnungen muß- Hipster-Bewußtsein zu: Nur der Hipster Mit doppelbödigen Bildern hat der te Heidelbach allerdings mit einer Finte nämlich, jener narzißtische Avantgardist Kölner Künstler Nikolaus Heidelbach, getrieben werden. Der Weinheimer und immer um Souveränität ringende 39, jetzt ein ganzes Buch bestückt. Er Verleger Hans-Joachim Gelberg trickste Rebell, bringe die Dinge voran – indem hat 101 Märchen aus dem Erzählschatz ihn mit der Erklärung aus, daß er eine er die eigene Existenz begreife als „stili- der Hanauer Gelehrtenbrüder Grimm Grimm-Ausgabe mit verschiedenen Illu- stisches, ästhetisches Projekt, an dem mit Pinsel, Feder und Aquarellfarbe il- stratoren plane, Heidelbach solle nur voller Ernst gearbeitet wird“. lustriert*. Seine Bilder sind von höch- den Anfang machen. Als die ersten Verschwiegenheit aber ist erste Hip- ster Genauigkeit, frei von Kitsch und Blätter fertig und zu Heidelbachs Zu- sterpflicht. Hat also Poschardt mit die- Klamauk, gesäubert von romantischem friedenheit ausgefallen waren, gestand sem Buch Verrat geübt am eigenen Hip- Rankenwerk und überzogener Ironie. Gelberg, daß es keine weiteren Zeich- stertum oder dem seiner Idole? Kaum. Heidelbachs magischer Realismus of- nungen gebe – und Heidelbach malte Denn, auch das lehrt „DJ-Culture“: fenbart einen scharfen Blick und ein weiter. „Das Nachtleben lebt vom Schein, und Der studierte Germanist Heidelbach nur wenn der Schein wirklich clever, hat auch die Textauswahl selbst besorgt * „Märchen der Brüder Grimm – Bilder von Niko- strahlend schön und gekonnt gemein ist, laus Heidelbach“. Verlag Beltz & Gelberg, Wein- und sich nach vergleichender Lektüre strahlt das Leben um das DJ-Pult.“ heim; 384 Seiten; 68 Mark (ab 1996: 82 Mark). vorwiegend für die Versionen der zwei-

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tag gegenseitig zu über- trumpfen versuchen. Indem Heidelbach nicht den Blick vom Häßlichen wendet, fin- det er mitunter auch schöne Wahrheiten. In diesem Jahr erhielt er ei- nen Preis der Kinder- buchmesse von Bologna, eine international be- deutende Auszeichnung für Kinderbuch-Illustra- toren. „Was machen die Mädchen?“ präsentiert Mädchen von A bis Z mit ihren Vorlieben und zeigt einen Quer- schnitt durch die Spiel- und Spaßphantasien der Kleinen. Verleger Gelberg mißt dem Märchen angesichts „der schrecklichen Din- ge, mit denen wir le- ben“, inzwischen wieder „archaische Aufgaben“

BELTZ + GELBERG bei. Für sein großes Heidelbach-Illustrationen*: Stinkefinger aus dem Grab Grimm-Projekt hätte er sich keinen anderen ten Fassung der Grimm-Brüder von Seit frühester Jugend verfaßte er Texte Künstler vorstellen können: „Ich ken- 1819 entschieden – „mit sehr prekären und zeichnete unter dem kritischen Auge ne viele gute Illustratoren, aber kei- Stellen, das ist wahr“. Man könne, des Vaters, eines vor zwei Jahren gestor- nen, der Erde ausgräbt und so ganz meint der Zeichner, Vater eines sechs- benen Malers. „Er hat sich“, so der weg vom Nachahmen ist, so eigenstän- jährigen Jungen, Kindern etwas mehr Sohn, „alles angeguckt und bissigst dar- dig.“ zumuten, als die meisten Leute glauben. über geäußert. Das war ein großer An- In dem Märchen „Die wunderliche Der Stoff, aus dem die Märchen sind, sporn.“ Gasterei“ bittet die Blutwurst die Le- hat seit seiner Entstehung nicht nur den Entdeckt wurde Heidelbach schließ- berwurst zu Gast. Doch das Haus der Deutungseifer diverser Wissenschafts- lich in einer Kölner Kneipe. Dem Chef Blutwurst ist voller schrecklicher Din- sparten angespornt. Auch Künstler und des DuMont Verlags, Ernst Brücher, ge- ge. Entsetzt flüchtet die Leberwurst Illustratoren erlagen immer wieder dem fielen die dort ausgestellten Bilderbogen auf die Straße und erblickt die Blut- Reiz, die Motive, Symbole und Schlüs- und vor allem Heidelbachs Blick aufs wurst, die ihr, mit Messer bewehrt, selszenen darzustellen. Angefangen bei Drastische und Seltsame. So entstanden von oben zuraunt: „Hätt’ ich dich, so den Holzschnitten Ludwig Richters aus die ersten Bildbände für Erwachsene wollt’ ich dich!“ Das klingt wie ein dem 19. Jahrhundert über dekorative über den Tod, über Männer und Frauen. Werbe-Spot für Heidelbachs Buch. Y Jugendstilbilder, die impressionistischen Daß Heidelbach auch Federlithographien eines Max Slevogt Kinderbücher illustriert, bis zu den abstrahierenden Zeichnungen verdankt er einem Zu- eines Josef Hegenbarth – illustriert wur- fall. Dem Weinheimer de der Stoff oft auch für Sammlermap- Verleger Hans-Joachim pen und Bücherregale. Gelberg fiel in einer In den siebziger Jahren, als antiauto- Amsterdamer Buch- ritär zu sein Pflicht war, lieferten Künst- handlung ein Heidel- ler ideologisch gereinigte Märchenfi- bach-Buch über Unge- beln. Tomi Ungerer und Janosch schu- heuer auf. „Wenn der fen unvergeßliche Grimm-Persiflagen solche Urviecher für und verhohnepipelten „Jorinde und Jo- Erwachsene zeichnen ringel“ oder „Rotkäppchen“. Fast zur kann“, befand Gelberg, gleichen Zeit, 1973, gab der in Connec- „dann kann er das auch ticut lebende Maurice Sendak dem Mär- für Kinder.“ chen mit monströsen, unheimlichen Bil- Gleich das erste Kin- dern seinen ursprünglichen Zauber zu- derbuch „Das Elefan- rück. tentreffen“ wurde 1982 Illustrator Heidelbach gilt als „sicher preisgekrönt. Personal das interessanteste Talent unter deut- sind nicht die grauen schen Bilderbuchmachern“ (Die Zeit). Dickhäuter, sondern fünf ziemlich normale fette Kinder, die sich * Oben: zu den Märchen „Der Teufel mit den drei

goldenen Haaren“ und „Das eigensinnige Kind“; mit angeberischen Ge- DIOGENES unten: zu „Tischlein, deck dich“. schichten aus dem All- Ungerer-Werk*: Unvergeßliche Grimm-Persiflage

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Literatur Blut quietscht in den Schuhen Unsere Leichen leben noch: in der Obersteiermark etwa, in der idylli- schen Pension „Alpenrose“. Dort lo- gieren drei Gäste, die dem Herrn Jesu nachgeeifert haben und wiederaufer- standen sind von den Toten: Der Ski- Profi Edgar Gstranz schied bei einem Autounfall aus dem Leben; die Philo- sophiestudentin Gudrun Bichler ver- blutete nach einem Pulsaderlaß; die Witwe Karin Frenzel schließlich ver- sank in einem Wildbach. Nun haben sich die Zombies zusammengerottet und verwandeln die herzige „Alpenro- se“ in ein Zentrum des Grauens. Die österreichische Bluts- Muhme Elfriede Jeli- nek, 48, Spezialistin für morbiden Sex („Lust“) und flam- menden Menschen- haß, schickt ihre Le- ser wieder mal auf ei- nen Horrortrip. Gräßlich hausen die Untoten unter den Bergwanderern. Der geile Spitzensportler Edgar penetriert Elfriede Jelinek weibliche Pensions- „Die Kinder gäste mit seinem der Toten“ „Pfahl“, auf dem „vor Rowohlt Verlag Wut die Adern ganz 48 Mark aufgeschwollen“ sind. Bisweilen beißt sich, in Notwehr, „die spit- zige Brustwarze“ einer vergewaltigten Frau „knurrend“ in die Hand des Übel- täters. Bei Jelinek ist alles möglich. Auch die Damen Bichler und Frenzel sind in Urlaubsstimmung, kastrieren Autofahrer, schänden Leichen und sto- ßen seltsame Sätze aus: „Sie hat sich die meiste Zeit wie ein Vogel gefühlt, der Twombly-Werk „The Four Seasons: Autumn“ (1994) mit bloßen Händen zerquetscht wird, Kunst damit man sein Blut auch noch essen kann, als Saft zu einem Hauptgericht.“ So fließen Ströme von Blut, Sperma Der verlorene Sohn der Avantgarde und monströsen Metaphern durch die- ses literarische Panoptikum, unermüd- In den fünfziger Jahren diente der Künstler in der US-Armee alsDechiffrier-Spezia- lich variiert die furchtbare Elfriede ihre list. Und an diese Beschäftigung erinnert so manches seiner rätselhaften, intimen Rachephantasien an der bürgerlichen Werke aus Farbkritzeleien, graphischen Zeichen und geometrischen Figuren. Der Gesellschaft. Sie treibt Kalauer und Betrachter ist dauernd in Versuchung, seine wie mit Kreide auf Schiefer-Tafel ge- Geschmacklosigkeiten bis an die pinselten Bilder mit dem Schwamm zu löschen. Als ein Meister expressiver Schrift- Schmerzgrenze („Hell schlagen Kie- malerei wird der Amerikaner Cy Twombly, 67, seit 30 Jahren vor allem in Europa fernknochen aufeinander, Augen rol- hoch geschätzt. Twombly, Freund und kreativer Weggefährte der Pop-Artisten Jas- len aus den Höhlen“), und wenn „Die per Johns und Robert Rauschenberg, hatte sich schon 1957 in Italien niedergelas- Kinder der Toten“ mal zum Lachen rei- sen. In seiner US-Heimat war er lange nicht sonderlich gelitten. Erst 1994 kam der zen, dann garantiert mit unfreiwilliger „verlorene Sohn der Avantgarde“ (so ein deutscher Kritiker) mit einer großen Re- Komik: „Das Blut quietscht in ihren trospektive im New Yorker Museum of Modern Art zu Ehren. Von Freitag an (bis Schuhen wie eine neugeborene Mäuse- 19. November) wird sie in der Neuen Nationalgalerie Berlin gezeigt. Ein Bildband kolonie.“ prall von Twombly-Kunst ist dazu im Verlag Schirmer/Mosel erschienen.

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SZENE KULTUR

Pop Zotteln zum Glück Auf der Straße wurde Martin Warnke kürzlich von einer Verehrerin ange- sprochen, obwohl er eine Kurzhaarfri- sur trägt und in seinen Texten behaup- tet, daß die Mädels „nur noch auf so Zotteln steh’n“. Aber seit das sanfte Hip-Hop-Stück „Verdient“ häufig im Radio gespielt wird, sind Warnke und sein Freund Ralph Suda, die „Groove-

LICHTBLICK minister“, fast schon so etwas wie Pop- stars. Das zugehörige Album „Im

O. HERRMANN S. SAUER / Hause der Frau Gallenberger“ kommt Grenzhund Alf Autor Hettche in dieser Woche auf den Markt. Früher haben die beiden Kulturwissenschaf- Autoren borgte sich, ohne Hinweis, bei Grass ein ten studiert und nebenbei Musik ge- Motiv aus dem Roman „Hundejahre“ macht als „Die Torrianis“ und „Das Postmoderner Plunder (1963) aus und schrieb außerdem beim Dritte Ei“. Nun hat das Duo gute Aus- SPIEGEL ab: Marie-Luise Scherers sichten auf einen der ersten Plätze der Literatur, so empfahl einst der Poet Erzählreportage über den DDR- Album-Charts und damit auf das große Helmut Heißenbüttel, brauche weni- Grenzhund Alf (6/1994) wird von Hett- Glück. Denn das, so prophezeien sie in ger Einbildungskraft „als vielmehr Ma- che auf fast zwei Buchseiten bis in ein- ihrem Hit, haben sie sich verdient. terial“, an dem sie sich „montierend zelne Formulierungen hinein ausge- betätigt“. Der Vorschlag hatte Folgen, schlachtet. SPIEGEL: „Hund fürHund unter denen die deutsche Literatur übernahm den aufwärts gezogenen, in noch heute leidet. Längst ist ein post- der Höhe abbrechenden Ton.“ Bei moderner Zitier- und Anspielungseifer Hettche istvom „Heulen“ die Rede, „in ausgebrochen: Zuletzt bei Günter das jeder einstimmte mit einem auf- Grass, 67, der sich bei seinem Kolle- wärts gezogenen, in der Höhe abbre- gen Hans Joachim Schädlich bedient chenden Ton“. Auch die scheinbar ori- und dessen Romanfigur Tallhover wie- ginelle Idee Hettches, einen Ermorde- derbelebt – mit Erlaubnis des Urhe- ten zum Erzähler zu machen, ist ein al- bers. Auch Thomas Hettche, 30, hat ter Hut. Schon in den fünfziger Jahren vor einiger Zeit einen Roman zum hatte Heißenbüttel den Einfall – Titel Mauerfall präsentiert („Nox“) – er der Prosaskizze: „Ich der Ermordete“.

INTERVIEW

Fernsehen eine Meinung. Nein, die Pfaffen-Rolle BMG / ARIOLA war ausgereizt. Aus Matthias hätte Pop-Duo „Grooveminister“ „Ich bat um den Tod“ man ja nicht einfach einen homosexu- ellen Liebhaber oder einen geschäfts- Der Schauspieler Manfred Schwabe, tüchtigen Pädagogen machen können. Oper 35, über seinen Abschied von der Auch Serienfiguren haben in ihrer in- TV-„Lindenstraße“ neren Entwicklung Grenzen. SPIEGEL: Es gibt stillere Abgänge. Elektronisches Requiem SPIEGEL: Nach neun Jahren in der Schwabe: Ich bat um den Tod, ein ge- Rolle des verkrachten Priesters Mat- waltsames Ende, denn ich stehe nun für ein „kaltes Genie“ thias sind Sie in Folge 507 mit der Brat- mal auf dramatische Figuren. Ich woll- Seine knabenhohe Stimme verlieh dem pfanne erschlagen worden. te nicht in eine WG nach Popsänger Klaus Nomi die Aura eines Müssen wir kondolieren? Schwabing umziehen und lebenden Fabelwesens. Jetzt widmet Schwabe: Überhaupt in zwei Jahren bei Mutter der Dirigent und Komponist Eberhard nicht. Wir haben den Aus- Beimer wieder vor der Tür Schoener, 57, dem 1983 an Aids gestor- stieg vor einem Jahr vorbe- stehen, um Kekse bitten benen Künstler die interaktive Oper reitet. Ich konnte nicht und sagen, Gottes Segen „Cold Genius“, die auf CD-Rom er- mehr, und auch die Auto- ist unermeßlich. scheint. Nomi, gebürtiger Allgäuer, zog ren sagten: Uns fällt zu der SPIEGEL: Womit möchten in den siebziger Jahren nach New York, Figur nichts mehr ein. Sie der TV-Nation in Erin- wo er in kleinen New-Wave-Klubs sang. SPIEGEL: In der aktuellen nerung bleiben? Schoener vermischt in seiner Nomi- Kruzifix-Debatte hätten Schwabe: Damit, daß ich Hommage Stationen des eigenen Le- Sie doch noch mitreden geholfen habe, Klausi Bei- bens mit gespielten Szenen aus Nomis können? mer vom Neo-Faschismus Vita. Eingestreute Interviews, Video- Schwabe: Sommerloch- abzubringen. Das hat ge- segmente, klassische Musik und Rock

Gerede! Dazu hätte doch D. KRÜGER / WDR wirkt. Ich bekam von pusten das düstere Werk zu einer multi- nicht einmal der liebe Gott Schwabe Rechten böse Briefe. medialen Erinnerungsrevue auf.

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Werbeseite .

SZENE

Denkmäler Hrdlicka in Wut Zank um ein angemessenes Holocaust- Denkmal, seit Monaten ein deutsches Dauerthema, ist jetzt auch in Öster- reich entbrannt. In Wien möchte Si- mon Wiesenthal, Leiter des jüdischen Dokumentationszentrums, eine Ge- denkstätte für die 65 000 ermordeten österreichischen Juden errichten. Und mit die- sem Plan hat er einen gefürchteten Streithan- sel mobilisiert – den Bildhauer und Wort- Berserker Alfred

Hrdlicka. In einem of- AMBOR fenen Brief (Motto: Hockney, Hockney-Vehikel

ACTION PRESS „Auf Sie hamma Automobile Hrdlicka gewartet“) poltert Hrdlicka: „Der Juden- Kunst zum Listenpreis von 190 000 Mark verfolgung ein Mahnmal zu setzen ha- be ICH im Jahr 1978 vorgeschlagen Der britische Maler David Hockney, 58,hat eine Passion für Automobile. Zu Hause und nicht SIE.“ Er habe damals „eini- in Los Angeles besitzt er sechs Luxuskarossen, fast einen Fuhrpark. Und nun ist er ges mehr ausstehen müssen als Sie schon wieder zu einer Haube gekommen: Im Eiltempo von zwei Tagen bepinselte er heute mit Ihren rührenden Stellung- einen BMW 850CSi für die Art Car Collection der bayerischen Autofirma, die auch nahmen“. Wiesenthal wolle sich schon bei Roy Lichtenstein und Andy Warhol künstlerisch veredelte Schlitten in „wichtig machen“, verstehe aber nichts Auftrag gegeben hatte. Hockney schmückte sein knallbuntes Fahr-Werk mit einem von Kunst und Politik. Einen Dialog stilisierten Ansaugstutzen, den hinteren Karosserieteil belebt ein weißer Dackel. mit dem echauffierten Künstler hat Das Kunst-Vehikel, das letzte Woche zur Eröffnung einer Hockney-Schau in Ham- Wiesenthal abgelehnt: „Was soll es, burg präsentiert wurde, ist unverkäuflich. Der Meister erhielt als Lohn einen typen- auf solche Briefe ernsthaft einzuge- gleichen Neuwagen zum Listenpreis von 190 000 Mark. hen? Was weiß der Herr Hrdlicka?“ KINO IN KÜRZE

Preise „Menmaniacs“. Einmal im Jahr feiert die schwule Lederszene eine große Sa- Australische do-Maso-Sause und wählt einen „In- ternational Mister Leather“. 1994 hat Windbeutelei der Hamburger Filmemacher Jochen Hick diesen Karneval der Triebe in Auch inAustralien ist die Welt der Lite- Chicago dokumentiert – als Ritual ei- ratur gelegentlich ein weites Feld und ner selbstbewußten Minderheit, die ordentlich imGerede. Eine junge Auto- sich öffentlich präsentieren will. rin, Helen Demidenko, hat dort mit ih- rem Roman „The Hand That Signed „Forget Paris“. In Paris begräbt der The Paper“ nicht nur einen großen Ver- New Yorker Baseball-Schiedsrichter kaufserfolg erzielt, sondern auch den Mickey (Billy Crystal) seinen Vater, in renommiertesten Landes-Literatur- Paris begegnet er seiner Lebensliebe preis eingeheimst. Der Roman beschäf- Ellen (Debra Winger). Doch der un-

tigt sich mit ukrainischen Kriegsverbre- vermeidliche transatlantische Pendel- TIME chen an Juden im Zweiten Weltkrieg, verkehr führt zu Shuttle-Problemen im „Nur über meine Leiche“ und Frau Demidenko behauptet, eine Gefühls-Orbit. In der amüsanten ro- biographische Geschichte zu erzählen: mantischen Komödie hat Regisseur Dann wird es metaphysisch. Bevor der Sie sei die Tochter armer ukrainischer und Hauptdarsteller Crystal etliche Er- Triebtäter endgültig zur Hölle fährt, Einwanderer. Ihr Vater wäre beinahe in fahrungen „meiner eigenen Ehe re- offeriert ihm Freund Hein einen Deal: die SS gezogen worden, wenn er keine flektiert, die immerhin seit 25 Jahren Wenn Fred, in drei Tagen, drei Frauen Plattfüße gehabt hätte. Narretei, alles besteht“. glücklich macht, denen er einst das erfunden! Die phantasievolle Helen Herz gebrochen hat, darf er zurück ins heißt richtig Darville und entstammt ge- „Nur über meine Leiche“. Der smarte fleischliche Leben. Mit leichter Hand bildeten englischen Immigranten-Krei- Fred (Christoph M. Ohrt) ist ein noto- hat der deutsche Filmemacher Rainer sen. Ihr Bruder Iain kommentiert den rischer Schürzenjäger – zum Ärger sei- Matsutani sein Debütwerk inszeniert – Vorgang so: Helen sei ein „helles Köpf- ner Frau Charlotte (Ulrike Folkerts), eine Melange aus trickreichem Fanta- chen“ und die Gaukelei eine „ausge- die den rastlosen Flaneur schließlich sy-Film und skurriler Beziehungsko- fuchste PR-Aktion“. von einem Profikiller abknallen läßt. mödie.

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SPORT

Tennis Ein Leben aus der Tüte Die Steuerfahnder haben den Beweis dafür gefunden, daß Peter Graf seine Briefkastenfirmen selbst dirigierte. Er übernahm im Mai 1992 in einem Vermerk die volle Verantwortung. Für Steffis Vater wird es jetzt eng: Bei 177,4 Millionen Mark Einnahmen seit 1983 zahlte er bis heute nur 10 Millionen Mark Einkommensteuer. L. BAADER BONGARTS Steuertrickser Graf, Tochter Steffi: Irgendwo auf der Welt müssen noch Millionen versteckt sein

n Amsterdam, der Stadt der schönen Fassaden, ist die ABN Amro-Bank ei- Ine Adresse für große Geschäfte. Rou- tiniert hantieren die Angestellten mit Riesensummen. Ein auch für die sechstgrößte europäi- sche Bank beachtlicher Betrag ging im Frühsommer 1992 ein. Ein Deutscher mit dem Allerweltsnamen Schmitt hatte knapp 30 Millionen Mark auf das Konto 548355711 bei der Amro-Filiale an der Merckenburg 3 überwiesen. Die Depen- dance liegt günstig, ist von Flughafen und Hauptbahnhof gleich weit entfernt. Das Geld war heiß. Über vier Statio- nen in zwei Ländern war es geschoben worden, um es dem Zugriff des deut- schen Fiskus zu entziehen. Ehe es in Amsterdam eintraf, war es bei der Ver- waltungs- und Privat-Bank AG in Va- duz als Festgeld zwischengelagert wor- den (siehe Grafik). Seit dreieinhalb Monaten sind die Steuerfahnder auf der Spur der Millio- nen. In der vorigen Woche bekamen sie Hilfe: Zwei Freunde von einst, die heu- te Gegner sind, versuchten, die Ströme des Geldes nachzuzeichnen. Der eine ist jener Mann, der die Grafs Freistellungserklärung: Sensation für Insider Überweisung aus dem diskreten Liech-

206 DER SPIEGEL 35/1995 Auslandsgelder Schwarzgeld Geld aus tenstein vornahm: Horst Schmitt, bis Deutschland scheint Schmitt aus dem 1992 ein enger Vertrauter von Peter Die Spur des Geldes Schneider – und die Party Graf. Gut sechs Stunden lang wurde Wie Peter Graf die Einnahmen minus 15% des Neureichen aus Brühl Schmitt, 54, vorigen Montag von den um die Welt schickte Quellensteuer ist endgültig vorbei. Ermittlern als Zeuge im Steuerfall Graf Der listige Schmitt nur vernommen. Er wirkte erleichtert, als er Niederlande als Zeuge, sein ehemali- unbehelligt wieder wegfliegen durfte. ger Gebieter als Beschul- SUNPARK SPORTS B.V. digter, das ist auch eine Fast zur gleichen Zeit hockte der an- Museumplein 11 dere, Peter Graf, 57, im „Cafe´ Landes“, 1071DJ Amsterdam Tragödie mit dem leich- wie das Mannheimer Gefängnis im ten Ton der Operette. Volksmund heißt. Er addierte Zahlen- 1979 haben sich die kolonnen und hatte sichtlich Mühe, die Wege von Peter Graf Einnahmen von Tochter Steffi zu rekon- minus Gebühren und Kosten und Schmitt erstmals struieren. Eine lückenlose Bilanz muß gekreuzt. Seinerzeit er vorlegen, wenn er überhaupt eine Antillen fuhr der frühere Ge- Chance haben will, in nächster Zeit aus SUNPARK SPORTS N.V. brauchtwagenhändler an der U-Haft entlassen zu werden. 58 A de Ruyterkade Schmitts Aral-Tankstelle Denn für Peter Graf wird es sehr eng. Curaçao in Mannheim vor. Steffi, Immer mehr Einzelheiten einer gewalti- damals neun, saß auf dem gen Steuerverschiebung dringen nach Rücksitz. außen. Die Ermittler, das zeigte die minus 7,5% Steuer Niederlande 1987, Steffi war gerade Schmitt-Vernehmung, sind ein gutes Namensgeberin und Pa- Stück vorangekommen. Sie können sich Liechtenstein tin von Schmitts Toch- auf handfeste Beweise stützen. „Überall ter Jennifer geworden, AVANTAGE INTERNATIONAL machte Graf sein Alter schwirren Dokumente herum“, erkann- ETABLISSEMENT te Schmitt (siehe Seite 208). Ziel 430 ego Schmitt zum Bevoll- Bei seiner Vernehmung legten die 9493 Mauren mächtigten der Firma Fahnder ihm auch ein Papier mit dem Sunpark Sports in Hol- unverfänglich klingenden Titel „Frei- land und von Advantage stellungserklärung“ aus dem Jahre 1992 minus Pauschalabgabe in Liechtenstein. auf den Tisch. Schmitt, der das Doku- Graf, eine Art badi- ment sicher verwahrt glaubte, wußte so- Niederlande scher Onkel Dagobert, fort: „Da kommt der Peter nicht mehr ABN AMRO BANK raffte das Geld, aber raus.“ Konto-Nr. 548 355 711 suchte aus Furcht, herein- Außenstehenden sagt das Schriftstück Merckenburg 3 gelegt zu werden,stets die herzlich wenig. Für Insider indes ist das Amsterdam risikofreie Anlage: keine Dokument eine Sensation. Denn mit Aktien, keine Investitio- seiner Unterschrift macht Peter Graf nen, keine Immobilien. zweifelsfrei klar, hinter den Kulissen all PETER GRAF Sein Strohmann Schmitt der bekannten Briefkastenfirmen selbst durfte den Sunpark-Za- die Fäden gezogen zu haben. ster lediglich als Festgeld Graf hatte das Papier unterschrieben, anlegen. Auf einem ge- als es 1992 darum ging, sich geräuschlos von jeder von jeder wöhnlichen Sparbuch in von Schmitt zu trennen; schon damals ausländischen deutschen Million Vaduz mit wechselndem stritten beide, wer für etwaige Steuer- Million blieben etwa blieben etwa Zins. Abgehoben wurde sünden haften müsse. Dank seines kun- 850000 Mark 700000 Mark über Jahre hinweg nichts. digen Anwalts Reinhold Pabst, der Die Grafs lebten der- auf dem Freistellungspapier bestand, weil aus der Tüte. Darin schleppte der Bargeld- Fetischist immer wieder Scheine an, Golden Girl Einnahmen der Firma Graf von 1983 bis 1995 in Millionen Mark hortete große Summen bei sich im Schrank; als die Fahnder kamen, steck- ten im Grafschen Sparstrumpf knapp Preisgeld 26,3 GESAMT- EINNAHMEN 200 000 Mark. Schaukämpfe 15,0 177,4 Cash – das war die ganz normale Mio. Mark Schwarzgeldnummer mit Koffer und Antrittsgelder 16,9 Tüte. Sie ist den Fahndern inzwischen ebenso geläufig wie die Sunpark-Va- Federation-Cup- und Klubgagen 3,2 riante. Bleibt noch der Transfer von Millionen auf die sogenannten Escrow- Ausrüsterverträge 47,4 Fonds der Sportmarketing Firma Ad- vantage International in Washington Sponsoren 54,5 (SPIEGEL 34/1995). Die Fahnder inter- essieren sich noch nicht für die mil- Werbe-Autogrammtermine 4,2 lionenschwere Amerika-Connection. Doch das dürfte sich schon bald ändern. Patch Deals 4,8 Denn im Fall Graf gibt es noch viele Touring Pro Agreements 5,1 Merkwürdigkeiten. Lediglich etwas mehr als 10 Millionen Mark Einkom- mensteuer hat die Tennis-Firma Graf

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dem Finanzamt von 1983 an bis heute überlassen – und das bei geschätzten Ein- nahmen von 177,4 Millionen Mark (siehe Grafik Seite 207). Eingenommen hat der „Kein Geld angerührt“ Fiskus zudem noch die Quellensteuer auf die Preis- oder Sponsorengelder. Berück- Graf-Vertrauter Horst Schmitt über seine Finanzberater-Rolle sichtigt man Steuern und die gefundenen 30 Sunpark-Millionen, dann müssen an- gesichts der Einnahmen irgendwo noch SPIEGEL: Herr Schmitt, in der ver- daß ich weggehen würde, sobald die etliche steuergeschützte Millionen gangenen Woche wurden Sie ver- Steffi sich behaupten konnte. schlummern. nommen. Haben Sie ausgepackt? SPIEGEL: Sie haben sich als Steffis „Eine konservative Berechnung“ nen- Schmitt: Es ist absurd, daß ich in Beschützer gefühlt? nen diejenigen, die es wissen müssen, die dieser Geschichte als der große Schmitt: Ich habe versucht, Druck Kalkulation, die zu den 177,4 Millionen Kronzeuge gehandelt werde. Ich ha- von Steffi fernzuhalten. Drei-, vier- Mark führt. Der Grafsche Geldbeutel be ja erst am vergangenen Montag mal hatte ich schon meinen Koffer wurde nämlich aus gleich neun Quellen meine Aussage gemacht; und da gepackt, einmal war ich schon weg, gespeist, und alle bisher veröffentlichten wußten die Beamten schon alles. aber Steffi rief aus Australien an, da- Schätzungen hatten die Feinheiten vieler SPIEGEL: Sie waren bis 1992 der eng- mit ich zurückkam. Verträge unberücksichtigt gelassen. ste Mitarbeiter der Familie Graf. Ihr SPIEGEL: Hat Steffi Graf von den So wurde schon im ersten großen Adi- Schweigen soll Peter Graf immerhin Steuertricks gewußt? das-Ausrüstervertrag ein Bonus von knapp 800 000 Mark gekostet haben. Schmitt: Ich glaube, nein. Zu meiner 600 000US-Dollar für Platz 1in der Welt- Schmitt: Dazu möchte ich nichts sa- Zeit hat sie keinen Vertrag gelesen rangliste ausgelobt – eine Position, die gen. Aber Graf ist vor Wochen ver- und nie gefragt, was sie verdient hat. Steffi seit September 1987 über 2059 Tage haftet worden, ohne daß jemand mit innehatte. Zum eigentlichen Werbever- mir gesprochen hätte. Es schwirren trag kam noch ein Lizenzvertrag, durch zu viele Dokumente herum. den die Tennisspielerin von jedem ver- SPIEGEL: Die meisten verraten einen kauften Artikel der Steffi-Graf-Serie erstaunlichen Dilettantismus. Wieso profitierte – weltweit wurden mehr als ließ Peter Graf sich nicht von einem zwei Millionen Hemden, Röcke und der Steuerexperten beraten, die sich Schuhe verkauft. der Familie anboten? Die Sponsoren waren von Peter Graf Schmitt: Er wollte überall Geld spa- zu zahlreichen Extras verpflichtet wor- ren. Er hat keiner Bank und keinem den, die Turnierveranstalter zu Antritts- Berater getraut und immer gedacht, geldern. Seit 1988 hat die weltbeste Ten- er würde hereingelegt. nisspielerin bei fast allen Veranstaltun- SPIEGEL: Haben auch Sie mit ihm gen mit Ausnahme der Grand-Slam-Tur- um Geld gestritten? niere Startgelder zwischen 300 000 und Schmitt: Ich habe mein Gehalt nicht 500 000 Mark verlangt. direkt von ihm bekommen. Auch die beiden Bungalows der Grafs SPIEGEL: Sie waren eine Art Mana- in Boca Raton in Florida mußten nicht ger der Firma Sunpark? bezahlt werden. Sie sind die Gegenlei- Schmitt: Nein. stung für ein sogenanntes Touring Pro

SPIEGEL: Aber Ihnen wurden bei L. BAADER Agreement mit dem Klubeigentümer: der Staatsanwaltschaft in Mannheim Graf-Vertrauter Schmitt Steffi hat auf der Anlage für die gemeine Dokumente vorgehalten, die Sie als „Peter hat mich mürbe gemacht“ Kundschaft ein paar Trainingsstunden zu Bevollmächtigten ausweisen. geben. Weiteres Geld brachten die Schmitt: Ja, ich habe für Sunpark Ihr Vater war der Meinung, sie dürfe „Patch Deals“:BeiTurnieren inJapan et- zum Beispiel Steffi Grafs Werbeter- nicht abgelenkt werden. Beziehun- wawurde an Steffis Ärmel dasLogo euro- mine im Ausland organisiert. gen und Geld – alles, was außerhalb päischer Sponsoren gegen den Schriftzug SPIEGEL: Mit den Einnahmen und des Platzes lag – hat er geschickt von asiatischer Firmen ausgetauscht. den Steuern waren Sie nicht befaßt? ihr ferngehalten. In der Hoffnung, Steffi Graf werde Schmitt: Nein, niemals. SPIEGEL: Und als sie Erfolg hatte, auch die Steueraffäre durchstehen, ver- SPIEGEL: Stand der Ermittlungen wurde er größenwahnsinnig? schärft sich der Kampf um das Golden ist, daß Sie auf Anweisung in Vaduz Schmitt: Wenige Leute können mit Girl. Advantage-Manager Phil de Pic- die Firma Avantage gegründet und Ruhm umgehen. Peter Graf ist si- ciotto bedrängte seine Klientin in der ein Konto eröffnet haben. cherlich ein Extremfall. letztenWoche solange,bisSteffiihm eine Schmitt: Das Geld habe ich jedoch SPIEGEL: Er beruft sich auf Rücken- Art Persilschein ausstellte: Advantage nie angerührt, auch Verträge habe deckung von ganz oben. habe sie „seit 12 Jahren erfolgreich be- ich nie ausgehandelt. Schmitt: Alle wollten Steffi haben: treut“ und werde das „im bisherigen Um- SPIEGEL: Warum trennten Sie sich Firmen, Verbände und Politiker, fang“ weiter tun. 1992 von den Grafs? vom Bürgermeister über Landräte Bleibt es dabei, wird Advantage, deren Schmitt: Peter hat mich so mürbe ge- bis in die Spitzen der Parteien. Da- Name inder letzten Woche auch inAkten macht, daß ich nicht mehr schlafen mit sie in Deutschland blieb, wurde von Sunpark auf den Antillen auftauchte, konnte. Peter und ich hatten sogar ihm Rückhalt versprochen. „Was Sie womöglich einen neuen Hauptsponsor Pläne für später gemacht, für ein machen, ist schon okay“, hieß es. suchen müssen. Opel-Manager Hans- schönes Leben in der Ferne. Aber SPIEGEL: Dann ließ man ihn fallen? Wilhelm Gäb will sich deshalb aus dem ich wußte eigentlich schon lange, Schmitt: Heute ist keiner mehr da. Beraterteam zurückziehen. Der Konzern könnte dann ebenfalls über sein Engage- ment nachdenken.

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SPIEGEL-Gespräch „Himmlisches Feuerwerk“ Theaterintendant Jürgen Flimm über Fußball in Bremen und München, Fankult und seine Freundschaft mit Otto Rehhagel

SPIEGEL: Herr Flimm, haben Sie schon arbeiten müssen. Immer hat er sich seine einen Aufnahmeantrag beim FC Bayern Spieler erziehen und hochziehen müssen. München gestellt? Daß er nun mit diesen –wie er interessan- Flimm: Natürlich nicht. Sie meinen, weil terweise immer sagt – tollen Künstlern ich Mitglied bei Werder Bremen bin? Ich ein Super-Ensemble aufbauen will, kann bin damals nach dem legendären Spiel ge- ich gut verstehen. genAnderlecht,alsWerder auseinem 0:3 SPIEGEL: Wir hatten in den schicksals- noch einen 5:3-Sieg gemacht hat, spontan schweren Wochen seines Abgangs noch beigetreten. gehofft, daß sein Schritt wenigstens von SPIEGEL: Wem eigentlich, dem SV Wer- seinem Hamburger Freund Jürgen der oder Otto Rehhagel? Flimm mißbilligt würde. Flimm: Ganz klar, Otto Rehhagel. Flimm: Das könnt Ihr Euch völlig ab- SPIEGEL: Und nun, wo Rehhagel den schminken. Ich weiß doch, daß es ihm Klub verlassen hat, treten Siewieder aus? gutgeht mit der Entscheidung. Er hat Flimm: Erst mal bleibe ich drin, es wäre ja wohl ein sehr gutes Verhältnis zu Mana- unfair, gleich die Segel zu streichen. Aber ger Hoeneß, der ist ja auch ein kluger ich habe auch keine Lust, Mitglied beim Mann. Vor einpaar Tagen, alsichbeiihm FC Bayern München zu werden –das war in München war, habe ichnach einer Zeit nie mein Verein. gemerkt: Es war wahrscheinlich doch SPIEGEL: Sie heißen den Job-Wechsel Ih- richtig, daß er noch einmal so einen ande- res Freundes gut? ren Weg eingeschlagen hat. Flimm: Er hat mit Bremen alles geschafft, SPIEGEL: Wir haben Sie für kämpferi- was er in der Bundesliga schaffen konnte. scher gehalten. Eine Freundschaft lebt Ich habe ihm immer gesagt, wenn du doch auch davon, den Partner zu verfüh- wechselst, wechsle ins Ausland. Und als ren und ins eigene Weltbild zu bugsieren. Bayern anfrug, da hat er sich bei mir tage- Flimm: Otto ist auch nicht mit allen mei-

lang nicht gemeldet. nen Inszenierungen einverstanden. Man C. KELLER / GRÖNINGER SPIEGEL: Hätten Siees geschafft, ihn um- istdoch nicht erziehungsberechtigt, wenn zustimmen? man Freund ist. Jürgen Flimm Flimm: Nein,aufkeinenFall.Ottoistjetzt SPIEGEL: Diese Beziehungskiste Flimm/ 57 geworden und hat immer pädagogisch Rehhagel muß als eine der wenigen, ist nach eigenem Bekenntnis „dem Ball und dem Gekicke hemmungslos verfallen“. Der Intendant des Ham- burger Thalia Theaters lernte Otto Rehhagel 1981 kennen, als beide Gäste in „Bios Bahnhof“ waren und sich nach der TV-Sendung beim Bier trafen. Torwart Flimm, 54, wurde früh geprägt: Fritz Herkenrath, damals noch bei Preußen Dellbrück von Vater Flimm medizinisch versorgt, war das Idol seiner Kindheit.

wenn nicht sogar als einzige herhalten für die glückliche Verbindung von Sport und Kultur. Flimm: So etwas hat es doch immer schon gegeben, Bert Brecht und Max Schmeling zum Beispiel . . . SPIEGEL: . . . sehen Sie Flimm/Rehha- gel als Fortsetzung von Brecht/Schme- ling? Flimm: Um Gottes willen! Nein, hätte ich das bloß nicht gesagt. Es ist viel

W. M. WEBER Das Gespräch führten die Redakteure Hans-Joa- Bayern-Trainer Rehhagel: „Mit tollen Künstlern ein Super-Ensemble aufbauen“ chim Noack und Helmut Schümann.

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simpler. Wir kennen uns seit 16 Jahren Flimm: Das fände ich sehr gut, das wür- und sind immer gut miteinander umge- de ich sofort unterstützen. Ich verstehe gangen. Wir treffen uns, gehen spazie- sowieso nicht, wie es funktioniert, daß ren. Das ist für mich sehr erholsam. Fans heute Spieler bejubeln, die sie ge- Man kommt so von dem ganzen Kunst- stern noch bei einem anderen Verein gebaren runter und diesen Attitüden un- ausgepfiffen haben. seres Betriebes und geht dann durch die SPIEGEL: Ist der Zuschauer bedürfnislo- Kälte mit einem, der ganz andere Sa- ser geworden? chen in der Birne hat. Flimm: Im Gegenteil, er ist anspruchs- SPIEGEL: Was schätzen Sie an ihm? voller geworden, er will immer höhere Flimm: Er hat Kraft, und er hat eine Spielkultur. Er will das sehen, was er im Herzensbildung. Und er hat einen sehr Fernsehen, im Zusammenschnitt der guten Kompaß im Umgang mit Men- Highlights, gesehen hat. In der raffinier- schen – auch und vor allem mit mir. ten Aufbereitung durch das Fernsehen SPIEGEL: Deshalb verzeihen Sie ihm wirkt jedes Gekicke wie ein himmlisches den Verrat, das sozialdemokratische Feuerwerk. Bollwerk an der Weser im Stich gelassen SPIEGEL: Besteht nicht die Gefahr, daß zu haben für den erzkonservativen baye- das Publikum diesen Betrug irgendwann rischen Geldadel? einmal mit Nichtachtung bestraft, weil Flimm: Fälschlicherweise haben die Leu- das Originalereignis einen immer ent- te immer geglaubt, nur weil Otto aus Es- täuscht zurückläßt? sen kommt und im Pütt war, sei er ein Flimm: Dann hätte das Publikum schon sozialdemokratischer Trainer. Ich wuß- längst das Interesse verloren. Es ist doch te immer, daß das anders war. Auch sei- schon lange so, daß wir Mangel empfin- ne Frau Beate war ja nie Juso-Kreisvor- den, einen Augenblick der Leere, wenn sitzende in Bremen-Vahr. Eine Freund- wir im Stadion sitzen und in der 89. Mi- schaft hängt doch nicht davon ab, wo ei- ner ist und was einer wählt. Ich liege auch nicht weinend im Bett, weil Otto „Rehhagel ist als jetzt ein anderes Trikot trägt. Vorbild eine SPIEGEL: Jenen Verein zu verachten, der mit Geld alles erreicht, ist kein Ge- enorm wichtige Figur“ bot der intellektuellen Redlichkeit? Flimm: Nein, wirklich nicht. Das ist ja nute das entscheidende Tor fällt, die fast rassistisch, „political correctness“ Wiederholung aber ausbleibt. Das ist am falschen Bein. Der FC Bayern ist natürlich schon eine mediale Verkrüm- doch ein toller Verein, in dessen Situati- mung des Rezeptionsapparates. on möchte ich auch einmal stecken. SPIEGEL: Warum stellt die Bundesliga SPIEGEL: Sich jeden Schauspieler zu dennoch Zuschauerrekorde auf? kaufen, den Sie sich kaufen wollen? Flimm: Weil die Gegenwart ereignisarm Flimm: Es gibt bei uns ja keine Transfer- ist. Es liegt eine merkwürdige Ruhe summe, verlockend aber fände ich das über unserem Land. Nichts, weder diese schon. Die guten Schauspieler, die man medienvermittelten Kriege noch der hat, und sich dann noch all die anderen Zusammenschluß mit den neuen Bun- dazuzuholen: Das fände ich auch sehr desländern, erregt die Menschen wirk- spannend. lich. Und das sind gute Zeiten für Enter- SPIEGEL: Jürgen Klinsmann läßt sich tainment, das außerhalb der zentralen vom Vater von seinem Schwur entbin- Ereignisse liegt. den, niemals zu den Bayern zu gehen; SPIEGEL: Ist das der Grund, warum der Revierklub Borussia Dortmund Herr Rehhagel aus der leichten Sport- kauft sich in Italien eine Weltstar-Trup- branche bundesweit berühmter ist als pe zusammen. Bröckelt da nichts? der Herr Flimm vom seriösen Theater? Flimm: Natürlich gehen die alten Identi- Flimm: Genau. In eine Krise bringt mich fikationsmuster verloren. Der Fußball das allerdings nicht. Rehhagel hat mehr hat seine ursprünglichen proletarischen Zuschauer als ich, er bewegt viel mehr Wurzeln verloren, er ist heute der Sport Gelder, und er arbeitet in der freien der Mittelschicht. Das kann man bekla- Wirtschaft. Und er ist als Vorbild eine gen, das kann man feiern, ich erkläre enorm wichtige Figur. dieses Phänomen nur ganz blöd affirma- SPIEGEL: Was lehrt der Fußball? tiv: So ist das eben, das ist die Entwick- Flimm: Kollektives Handeln. Selbst sol- lung der Zeit. Diese alten Dorfvereins- che extremen Individualisten wie Mario strukturen wären doch auch langweilig. Basler können nur funktionieren, wenn Würden Sie sich heute eine Inszenie- sie im Team arbeiten. Das Mannschafts- rung aus den fünfziger Jahren anschau- spiel kann Modell sein. en, schlafen Sie ein. SPIEGEL: In früheren Zeiten war das SPIEGEL: Identifikation würde herge- Theater moralische Anstalt. stellt, wenn man den Vereinen analog Flimm: Wenn der Fußball sich gut for- zur Ausländerregel vorschreibt, minde- muliert, gut darstellt, dann kann er stens drei Spieler aus der Region des durchaus diese Funktion haben. Auch Klubs einzusetzen. die Spieler, das sind doch alles wunder-

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bare Kerle, Klinsmann, Effenberg mit ihm den Ausschnitt geschickt und dazu- Trainer Hitzfeld, wie der nach der Mei- seinem Stinkefinger, Marco Bode, Mir- geschrieben: „Lieber Claus, Du hast sterschaft heulend auf den Platz rannte. ko Votava, wie sie alle heißen, das sind schon viel in Deinem Leben erreicht, Oder der frühere Präsident Rolf-Jürgen alles ungemein kluge, witzige Burschen. das nicht.“ Er hat das nicht beantwortet, Otto von Dynamo Dresden. Eine phan- SPIEGEL: Jetzt geht aber der leiden- daraus schließe ich, daß er tief gebro- tastische Figur, Schmiere ganz unten, schaftliche Fußballfan in Ihnen durch. chen war. aber phantastisch. Ein bißchen Richard Allseits wird beklagt, daß Profis stromli- SPIEGEL: Trotz dieser Fußballbegeiste- III. braucht auch der Fußball. Es sind nienförmige Langweiler sind. rung unter Theaterleuten gibt es kaum bei aller Glätte und Schnelle des Ge- Flimm: Ich bin 54, ich kann mir jetzt er- Stücke zum Thema. schäfts noch so viele Empfindungen lauben zu sagen, daß diese Fußballer Flimm: Wir haben mal in Köln eins ge- drin. zwar noch extrem junge Leute sind, sie macht, von Wolf-Dietrich Sprenger, SPIEGEL: Die der Zuschauer zuneh- aber ganz anders denken, ganz anders „Null zu Null oder die Wiederbelebung mend als bloßes Schauspiel erkennt? reden können als wir früher. des Angriffsspiels“. Das Theater aber Flimm: Nein, der Zuschauer leidet mit. SPIEGEL: Wollen Sie behaupten, daß die war ziemlich leer, weil die Leute ja nicht Das hat etwas mit dem tiefsitzenden Nachgewachsenen klüger sind? blöd sind, die wollen Fußball auf dem Wunsch der Menschen zu tun, Partei zu Platz sehen und nicht im Theater. Auch Fußballserien im Fernsehen klappen nicht, weil kein Schauspieler das Bild erfüllen kann, das Mat- thäus erfüllt, wenn er am Ball ist. Die Rolle müßte man schon mit Profis besetzen. SPIEGEL: Wer fällt Ihnen da- zu ein? Flimm: Sepp Maier natürlich, oder Votava von Werder. Das sind Gesichter, da ist Le- ben drin, Persönlichkeit – auch bei Manfred Burgsmül- ler oder Toni Schumacher. SPIEGEL: Sie zählen nur Spie- ler der vorherigen Generati- on auf. Hat nicht doch eine Entmystifizierung stattge- funden im modernen Fuß- ball? Flimm: Nein, Fußball ist stark genug, um sich nicht durch Kommerzialisierung und Ka-

HORIZONT pitalisierung in die Mittelmä- WENDE Gladbach-Star Effenberg ßigkeit abdrängen zu lassen. Bayern-Stürmer Klinsmann „Alles wunderbare Kerle“ Denken Sie an Dortmunds „Die proletarischen Wurzeln verloren“

Flimm: Sie sind einfach geschick- ergreifen, im Erfolg wie im Lei- ter im Umgang mit der Öffent- den. Sie kennen den Palio, das lichkeit, in dem Punkt sind sie ge- Pferderennen inSiena.Die Identi- bildeter. Die Profis rackern un- fikation mit der Fahne, das ist es. gemein, und wenn sie dann vor Sich hinter etwas zu scharen, sich der Kamera stehen, machen sie in der Gruppe aufzuhalten und dennoch einen ausgeschlafenen durch die Gruppe geborgen zu Eindruck. sein. SPIEGEL: Viel reden, nichts sagen SPIEGEL: Auf den Fußball über- ist doch das Credo der Inter- tragen heißt das: Der Palio ist das views. Trikot. Aber das wird doch der Flimm: Das Thema ist ja auch be- Mode und Vermarktung zuliebe schränkt, so geheimnisvoll ist jede Saison gewechselt. Fußball auch nicht. Ich gebe ja Flimm: Das ist nicht schön, aber zu, bei Fußball bin ich roman- wird als Quantite´ne´gligeable ver- tisch und neige zur Nachgiebig- ziehen. Der Verein, zu dem man keit. hält, gibt dennoch Heimat, gelie- SPIEGEL: Neiden Ihnen Ihre In- hene Heimat. tendantenkollegen diesen schö- SPIEGEL: Ist Ihre neue fußballeri- nen Zugang zum Fußball? sche Heimat nun München? Wen Flimm: Ich hoffe dringend, daß wünschen Sie sich als Deutschen Claus Peymann mich beneidet. Meister? Der ist großer Fan von Werder. Flimm: Otto natürlich, das geht

Es wurde mal ein Bild veröffent- ZB / DPA doch nicht anders. licht, das mich mit Otto beim Dynamo-Dresden-Präsident Otto (1994) SPIEGEL: Herr Flimm, wir danken Kaffeetrinken zeigt. Ich habe „Schmiere ganz unten, aber phantastisch“ Ihnen für dieses Gespräch. Y

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Gestorben Times Square ablichtete, der vor über- schwenglicher Freude eine Kranken- Manfred Donike, 61. Mit der weltwei- schwester küßte. Alfred Eisenstaedt ten wissenschaftlichen Anerkennung starb vergangenen Mittwoch auf Mar- als Biochemiker und dem öffentlichen tha’s Vineyard (Massachusetts). Image als „Doping-Papst“ wuchs auch seine Lust, die Betrügereien im Sport zu enthüllen. Jahre- Subrahmanyan Chandrasekhar, 84. In lang galt der ehe- einem Alter, in dem sich Teenager malige Radrennfah- sonst noch am Dreisatz versuchen, lö- rer als loyaler Mann ste er schon die Rätsel des Univer- der Athleten und sums. Sterbende Sonnen waren sein Funktionäre, die Thema, jene unvorstellbar dichten Doping institutio- Plasmakugeln, die als Weiße Zwerge nalisiert hatten – er am Ende eines Sternenlebens stehen. behielt sein Wissen Mit 19 Jahren bereits führte der Sproß gern für sich. Erst einer angesehenen indischen Wissen-

als der Kanadier DPA schaftlerfamilie den mathematischen Ben Johnson 1988 Nachweis, der die Weißen Zwerge von in Seoul erwischt wurde, wandelte Do- anderen Himmelsexoten abgrenzt: nike sich zum kompromißlosen Anti- Kollabierende größere Sterne werden Doping-Kämpfer. Er überführte die zu Neutronensternen oder Schwarzen Sprinterin Katrin Krabbe und die Löchern mit so großer Schwerkraft, Weitspringerin Susen Tiedtke ebenso daß nicht einmal Licht ihnen entwei- wie die chinesischen Schwimmerinnen. chen kann. An der Entwicklung der Seine in einem SPIEGEL-Interview amerikanischen Atombombe während (Nr. 32/1993) dargelegte Maxime („Ich des Zweiten Weltkriegs mochte der trau’ keinem aus dem Osten“) löste Astrophysiker, der 1936 in die USA stürmische Proteste aus. Der Fahn- ging, nicht mitarbeiten; eine entspre- dungseifer, den der Leiter des Kölner chende Anfrage aus Los Alamos lehn- Dopinglabors in der Endphase seiner te er ab. Für seine Forschungen erhielt Karriere entwickelte, irritierte und er, mit einem halben Jahrhundert Ver- verärgerte Funktionäre und Sportler. spätung, 1983 den Nobelpreis für Phy- Manfred Donike starb vergangenen sik. Subrahmanyan Chandrasekhar Montag auf einem Flug zu Dopingtests starb vergangenen Montag in Chicago. nach Simbabwe an einem Herzinfarkt.

Luggel, 6. Als ihr in jenem fahrvollen Alfred Eisenstaedt, 96. Über 2500 Re- Juli 1992 das Wasser über den Schna- portagen produzierte der in Berlin auf- bel schwappte, hatte Erwin Fink, sei- gewachsene Fotograf für die ame- nes Zeichens Lebensmittelhändler, die rikanische Illustrierte Life, 86mal er- fast ertrunkene Henne mit Herzmassa- schienen seine Ar- ge und ingeniöser Beatmungstechnik, beiten auf deren Ti- ins Leben zurückgeholt. Seither legte telbild. Das „Auge das „dankbare Huhn“, genannt Lug- des Jahrhunderts“ gel, aus dem Schwäbischen jeden Tag (Zeit-Magazin) por- ein Ei in den Papierkorb von Finks Le- trätierte mit seiner bensmittelladen – Beginn einer Kamera die Großen Karriere sondergleichen (SPIEGEL und Berühmten die- 21/1995). TV-Promis wie Harald ser Welt: Marle- Schmidt und Margarethe Schreinema- ne Dietrich, Tho- kers rangen um sie, der deutsche

TEUTOPRESS mas Mann, Albert Einstein, Winston Churchill, die Kennedys und die Clin- tons, aber auch Bösewichte wie Mus- solini und Goebbels. Dabei war Eisen- staedt, der 1935 nach New York emi- grierte und den amerikanischen Foto- journalismus mitbegründete, eigent- lich eher der Beobachter der kleinen Leute, gerade sein detailversessenes

Auge und seine Lust an komischen K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Momenten machten ihn als Fotograf berühmt. So drückte er mit einem Bild Kanzler meldete sich schriftlich. All das Hochgefühl einer Nation aus, als das überstand sie, nur den Krebs nicht. er einen amerikanischen Matrosen bei Luggel starb Ende Juli fern der Heimat Kriegsende 1945 auf dem New Yorker in einer Münchner Klinik.

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Werbeseite . PERSONALIEN

homas Roth, 43, neuer maligen Friedhofskapelle Staatssekretär Fritz Schaumann in ei- THörfunkdirektor des der sächsischen Gemein- ner Leitungsbesprechung mit einem Westdeutschen Rund- de Schkeuditz, wirbt unschlagbaren Argument: 570 liege funks, hat es gleich zu die Organisatorin Gerda näher bei 560, der Rufnummer des Beginn seiner Amtszeit Viecenz, Geschäftsführe- Kanzlers. mit einem besonders rin des Bundes Bildender schweren Fall akustischer Künstler in Sachsen, mit urt Biedenkopf, 65, Ministerpräsi- Übeltäterei zu tun. Ein den haarigen Kennzei- Kdent von Sachsen, fiel beim Ge- unbekannter Witzbold chen des Sparkommissars brauchtwagenkauf herein. Voll Ver- hatte das Sendeband für eine großzügigere trauen auf den „Guten Stern“, die für das bundesweit am Kulturpolitik. „An sich guten Sitten und einen „sehr günsti- 9. August ausgestrahl- kann Waigel sparen“, gen Preis“ hatte der Politiker 1993 ei- te „ARD-Nachtkonzert“ heißt es auf dem Plakat nen gepanzerten Mercedes der S-

unbemerkt manipuliert: H. WINDOFFER über den beiden abgebil- Klasse im Stuttgarter Werk erwor- Unmittelbar nach dem Waigel-Plakat deten Haarbüscheln, dar- ben. Den Wagen hatte bis dahin der vielstimmigen Amen aus unter: „An der Kunst mittlerweile verstorbene Daimler- dem Magnificat von Claudio Monte- nicht“. Nach dem Schulkreuz-Urteil, Vorstand Werner Niefer gefahren. verdi war in der Sendung eine WC- so die Kulturmanagerin, sei es für den Doch schon bald zeigte die beim Ki- Spülung zu hören. Roth, um sein und Katholiken Waigel „vielleicht ein klei- lometerstand 144 000 gekaufte Karos- des Senders Ansehen besorgter Hör- ner Trost, in einer Kapelle zu hän- se Macken: Stahlplatten in den Türen funkchef, will das Klo-Geräusch nicht gen“. lösten sich, die mehrlagige Heck- einfach hinnehmen. Mit Rundschrei- scheibe trübte ein und wackelte; die ben an die leitenden Angestellten des ürgen Rüttgers, 44, Zukunftsmini- Fahrer rebellierten. So wurde die Senders kündigte er „konsequente dis- Jster, traf eine wegweisende Entschei- scheppernde Kalesche, die offenbar ziplinarische Ahndung“ an – wenn dung. Sein aus Bildungs- und For- den holprigen Oststraßen nicht ge- denn der Spaßvogel gefaßt wird. schungsministerium zusammengebak- wachsen war, auf Anraten eines Kfz- kenes Ressort ist ab sofort nur noch Gutachters und „aus Sicherheitsgrün- heo Waigel, 56, Bundesfinanzmini- über 570, die Rufnummer des früheren den“, so die Staatskanzlei, nach nicht Tster, dient mit seinen buschigen Au- Bildungsministeriums, zu erreichen. einmal 100 000 Kilometern in sächsi- genbrauen der politisch gemeinten Pla- Das Votum gegen 590, den Telefonan- schen Diensten stillgelegt. Das soll katkunst. Zur Eröffnung der Art Ka- schluß des früheren Forschungsmini- dem Regierungschef so schnell nicht pella, eines Kulturzentrums in der ehe- steriums, erreichte der beamtete wieder passieren: König Kurt orderte

andro Canestrelli, 63, Chef der Foto- Sagentur Reporters Associati in Rom, hatte den richtigen Riecher. In einem Keller erregte ein Haufen offenbar beim Ausmisten einer Wohnung angefallener Müll seine Aufmerksamkeit. Canestrelli stocherte herum und förderte historisch amüsantes Filmmaterial zu Tage – Hun- derte längst verschollene Negative von ei- nem Pin-up-Girl namens Sofia Scicolone- Lazzaro. Die in Netzstrümpfen oder knallengen Shorts und hochhackigen Pumps sich der Kamera darbietende Da- me war zu jener Zeit, 1952, 18 Jahre alt und auf dem Sprung zu einer Weltkarrie- re – als Sophia Loren. REPORTERS ASSOCIATI FOTOS: FEDELI / Sophia Loren

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alvin Klein, 52, New Yorker Jeans- und Unterhosenschneider, muß sich wie- Cder einmal christlicher Tugendwächter erwehren. Ein Plakat auf New Yor- ker Autobussen, das für eine Klein-Kollektion wirbt, stellt zehn teilweise be- kleidete Teenager zur Schau. Das sei „Kinderpornographie“, erregt sich eine christliche Gruppe und droht mit der Blockade von Einzelhändlern, die Klein- Ware verhökern. Die abgebildeten Models seien keine Kinder, wehrt sich Klein, außerdem wende sich die Werbung an Jugendliche. Ähnliche Aufregung gab es zuletzt, als Klein die Kindfrau Kate Moss in nacktem Zustand für seine Werbezwecke einspannte. REUTERS Klein-Anzeige auf New Yorker Autobus

bei der Konkurrenz und fährt nun, für ker Leonhardt bedrängt, ein Orgelkon- 366 000 Mark, einen Zwölfzylinder- zert mit Werken Mozarts und französi- BMW. scher Komponisten zu verkürzen. Rühe beharrtelautstark und vorPublikum auf osef Stalin, 1953 gestorbener So- Genuß in voller Länge: „Wir haben alle Jwjetdiktator und gebürtiger Geor- Zeit inder Welt.Alles andere kann war- gier, erscheint seinen Landsleuten ten. Wofür ich Zeit habe, bestimme ich neuerdings als Geist auf der Flasche: selbst.“ Demonstrativ gemächlich be- Ein „Special Vodka Stalin“, gebrannt sichtigte Jazz-Fan Rühe („Ich bin musi- und abgefüllt in ei- kalisch“) nach der 25minütigen Darbie- ner Destille mit dem Namen „Sibira“, füllt seit Juni die Re- gale der Kioske von Tiflis bis Poti am Schwarzen Meer. Der 10 000 Rubel (rund drei Mark) teure Stoff, der westlichen Verko- stern zufolge nicht nur ideologische Kopfschmerzen ver- ursacht, stößt auch

K. HILL bei Georgiern auf Flaschen-Etikett Kritik. Konstantin Gabatschwili, geor- gischer Botschafter in Bonn, hat den 40-Prozenter nicht einmal probiert: Er habe „von Stalin genug“ und halte die Schnapsidee für „einen schlechten

Dienst an unserem Land“. L. CHAPERON / LASA Rühe im Dom von Riga olker Rühe, 52, Verteidigungsmini- Vster, kanzelte im Dom zu Riga einen tung das 1873 von einem Deutschen er- deutschen Diplomaten ab. Bonns Bot- baute Pfeifen-Instrument und ließ als schafter in der lettischen Hauptstadt, Zugabe einen Ragtime spielen. Den- Reinhard Holubek, hatte vorigen noch erschien der Politiker noch pünkt- Dienstag unter Verweis auf Zeitnot Rü- lich zum nächsten Termin – einem Steh- hes den Lübecker Kirchenmusiker Vol- empfang bei Holubek. . FERNSEHEN

MONTAG 28.8. 20.15 – 22.10 Uhr RTL Fluchtgeschichte des US-Arztes. Die Eine Frau wird gejagt schöne Chris (Nicola Tiggeler) wird ver- 15.00 – 17.00 Uhr ARD dächtigt, ihren Mann, einen erfolgrei- Die Ersten im Ersten Mach es simpel, kopier den Doktor chen Rechtsanwalt, ermordet zuhaben. Kimble. Der Plot dieser neuen 14teili- Sie flieht aus der Haft, will ihre Un- . . . sind – zumindest in dieser Live- gen Serie (heute Pilotfilm), die der schuld beweisen und wird von Gang- Show von der Internationalen Funk- Kölner Drehbuchautor Ralf Huttanus stern und einem hartnäckigen Kommis- ausstellung in Berlin – Kai Böcking, geschrieben hat (Regie: Vadim sar (Alexander Radszun) verfolgt. Max Schautzer und Eva Herman. Und Glowna), erinnert sehr an die endlose siehe, da hat sich, wunder- 21.00 – 21.40 Uhr ARD bare ARD, die christliche Report Verheißung von den Letz- ten, die die Ersten sein wer- Gefährliche Erreger im Hundekot / den, erfüllt. Chancen der Katholischen Demokra- tiebewegung / Der Bundesrechnungs- 20.15 – 22.00 Uhr 3Sat hof klagt an –Wie der Staat Steuern ver- Eine Freundschaft schenkt / Jugendamtswillkür – Wie nachlässige Fürsorge Familientragö- Elaine Proctors Film (1993) dien verursacht. von der Freundschaft zwi- schen der Engländerin So- 21.45 – 22.30 Uhr West III phie (Kerry Fox), der Burin Signale: Bluff im Bett – Aninka (Michele Burgers) die Orgasmuslüge und der von Zulus abstam- menden Thoko (Dambisa Filmautorin Ricki Reichel besuchte in Kente) ist Auftakt einer München ein „Tantra“-Seminar und fünfteiligen Reihe mit Süd- fand bestätigt, was sie schon vorher

afrika-Filmen gegen die RTL wußte: Vor allem Frauen täuschen ei- Apartheid. „Eine Frau wird gejagt“-Darstellerin Tiggeler nen Orgasmus vor.

DIENSTAG 29.8. Vera Tschechowa. Regie führte Erich Gefangene werden verurteilt, um Ver- Engels. geltungsmaßnahmen der Deutschen 19.25 – 21.00 Uhr ZDF vorzubeugen. Regisseur Constantin Witwer mit fünf Töchtern 22.15 – 23.00 Uhr Sat 1 Costa-Gavras („Z“) klagt die Willfäh- ran – Fußball rigkeit der Franzosen an (Frankreich Wer immer was zu klagen hat über den 1975). Zerfall der Familien, die zunehmende Bundesliga am Dienstag. Unter ande- Individualisierung, das Ende der Er- rem mit Rostock – Dortmund, Bayern 0.00 – 0.25 Uhr ARD ziehung und all die anderen schreckli- – Uerdingen, St.Pauli – Lautern. Ellen chen Folgen der Ego-Gesellschaft, der schaue sich Filme aus den fünfziger 23.35 – 1.35 Uhr Sat 1 Neue Comedy-Serie im Ersten: 37 Fol- Jahren an, wie diesen mit Heinz Er- Sondertribunal gen (jeweils dienstags 0.00 Uhr). Ellen hardt. So stickig ging es einst im trau- (Ellen DeGeneres) ist eine berufstäti- ten Heim zu. Da bringen auch die klei- Nach der Ermordung eines deutschen ge Frau Mitte 30, ledig und kinderlos. nen Rock’n’Roll-Einlagen des freund- Offiziers in Frankreich 1941 richtet die Aber das nützt ihr nichts, denn ihr lichen Schalks kaum frische Luft. In Vichy-Regierung ein Sondergericht Wohnzimmer ist für ihre Freundinnen der Töchterschar Christine Kaufmann, ein. Sechs willkürlich herausgesuchte und Freunde beliebter Freizeittreff.

MITTWOCH 30.8. 20.40 – 21.40 Uhr Arte Hitler – eine Bilanz 20.15 – 21.44 Uhr ARD Neue, sechsteilige Dokumentationsrei- Austernexpreß he über den Diktator mit unveröffent- lichten historischen Filmaufnahmen aus Gewiß, Sylt hat unsympathische Züge: russischen, amerikanischen und deut- Alt-Promis, die sogar zu Empfängen schen Archiven. Karin Hübner beschäf- gehen, wenn eine Sardinendose geöff- tigtsichheute mitderNS-Außenpolitik. net wird; braungebrannte Schlohköp- fe, die weder das Wasser noch ein 23.00 – 23.45 Uhr Nord III Sektglas halten können; Nackte, die besser bekleidet umherliefen. Aber Arno Esch – Freiheit gegen dieses C-klassige Laienspiel (Regie: Stalinismus Heide Pils) mit dickem Koch (Ferdi- Dokumentation über einen Studenten nand Zander) und anderen überfor- aus Rostock, der als Regimekritiker derten Darstellern hat das friesische 1951 in Moskau hingerichtet wurde

Eiland nun doch . Hin- TELE-BUNK (Autoren: Jens Flemming, Thorsten denburgdamm hochklappen. „Austernexpreß“-Darsteller Zander Jeß).

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28. August bis 3. September 1995

DONNERSTAG 31.8. und moralisch ein schwerwiegender krankhaft schüchterne Frau aufgrund Fehler“. Zum erstenmal nach seiner einer Fehldiagnose in eine psychiatri- 19.30 – 20.30 Uhr Arte Freilassung im Mai dieses Jahres äu- sche Klinik eingesperrt, mit Elektro- Shotgun Denim ßert sich der ehemalige RAF-Häftling schocks gequält, dann sogar für eine Karl-Heinz Dellwo, 43, vor Von der praktischen Goldgräber-Ar- der Fernsehkamera kritisch beitskleidung zur modischen Beinum- über seine Vergangenheit. Mit hüllung aus dem Hause Wolfgang Joop dem „Kommando Holger – die Jeans hat in den 145 Jahren seit Meins“ hatte Dellwo im April ihrer Erfindung durch den fränkischen 1975 die Deutsche Botschaft in Auswanderer Levi Strauss viel erlebt. Stockholm überfallen, Bilanz: Sven Fleck geht in seiner Reportage vier Tote. Seitdem saß Dellwo der Geschichte der Nietenhose nach. 20 Jahre im Gefängnis, 14 Jah- re davon in Isolationshaft. 21.15 – 21.45 Uhr ARD Kontraste 0.00 – 2.30 Uhr ZDF Ein Engel an meiner Tafel Flugunsicherheit durch Privatflieger / Bestraft für den Rest des Lebens: Fol- Sie ist dick und rothaarig, ein gen von Kinderunfällen / Westlehrstel- richtiges kleines Trampel, da-

len für Ostdeutsche? Eine sächsische bei schreibt sie anrührende FILM Provinzposse. Gedichte, und sie träumt da-

von, eine Schriftstellerin zu PANDORA 22.40 – 23.10 Uhr Vox werden. Am Ende geht ihr Szenenfoto aus „Ein Engel an meiner Tafel“ Zeit-TV-Magazin Traum in Erfüllung: Aus dem Kindermonster wird eine der erfolg- äußerst riskante Gehirnoperation vor- „Das Konzept der Stadtguerrilla, des reichsten neuseeländischen Schriftstel- gesehen. Nur ein Literaturpreis rettete bewaffneten Kampfes in den Metropo- lerinnen. Als Janet Frame 1982 be- sie vor dem Eingriff. Die neuseeländi- len, ist gescheitert.“ Und: Die Entfüh- gann, ihre Autobiographie zu veröf- sche Regisseurin Jane Campion („Das rung der Lufthansa-Maschine „Lands- fentlichen, war sie bereits eine literari- Piano“) verfilmte 1990 das wechselvol- hut“ von 1977 „war politisch dumm sche Legende: Acht Jahre wurde die le Schicksal der Janet Frame.

FREITAG 1.9. netten Gags. Und ein Remake eines französischen Films: „Les fugitifs“. 20.15 – 21.50 Uhr ARD Das Bankentrio 20.15 – 21.55 Uhr RTL 2 Solo für 2 Einen „Überfall der Niedlichkeiten“ nannte die taz Francis Vebers Gauner- Diese Komödie (USA 1984, Regie: komödie (USA 1988) vom Bankräu- Carl Reiner) war im Kino besonders ber, der ein braver Bürger werden will erfolgreich. Sie beruht auf einer (Nick Nolte), und vom braven Bürger, Grundidee, die über 90 Minuten in der sich – um seiner Tochter zu helfen verschiedenen Varianten durchgespielt – das erstemal als Bankräuber versucht wird. Roger Cobb (Steve Martin) muß (Martin Short). Kein großes Kunst- sich seinen Körper mit der Seele der

werk, aber ein Kinostück mit ein paar exzentrischen Edwina Cutwater (Lily RTL Tomlin) teilen. Er darf die „Wilde Orchidee“-Darsteller Rourke linke Hälfte behalten, wäh- rend sie die rechte besetzt. was, was vielleicht ein Koitus sein könn- Die Folge ist ein bisexueller te, wird von oben und in Zeitlupe ge- Gang: Der rechte Fuß trip- filmt (USA 1989, Regie: Zalman King). pelt weiblich, der linke stampft männlich fest auf den 0.00 – 2.05 Uhr Pro Sieben Boden. Under Fire 22.00 – 24.00 Uhr RTL Zwei Journalisten, ein Problem: Was ist Wilde Orchidee Wahrheit, was ist Objektivität – wenn der Bürgerkrieg tobt, wenn auch Kame- Erotikfilm mit Mickey Rour- ras und Schreibmaschinen zu Waffen ke und Carre´ Otis. Belanglos werden und wenn jeder, der keine Par- wie ein Werbespot, fand die tei ergreift, sich zwischen den Fronten Süddeutsche Zeitung. Kein wiederfindet. Roger Spottiswoodes Wunder: Kameramann Gole Thriller (1983) gibt, ungewöhnlich für Tattersall lernte sein Hand- Hollywood, eine streng marxistische werk in der TV-Reklame. Antwort: Die herrschende Wahrheit ist

DOMINO Und ob sie es tun – kein Be- immer die Wahrheit der Herrschen- „Das Bankentrio“-Darsteller Short, Nolte trachter war sich sicher. Et- den.

DER SPIEGEL 35/1995 219 .

FERNSEHEN

SAMSTAG 2.9. 21.55 – 23.15 Uhr Sat 1 DIENSTAG Pack die Zahnbürste ein – 23.00 – 23.30 Uhr Sat 1 20.15 – 22.30 Uhr ARD die Show zum Wegfliegen SPIEGEL TV REPORTAGE Wiedersehen in Howards End . . . und zum Abstürzen. Aber anders Das TV-Magazin „Aqui, Agora“ berich- Die Geschichte zweier englischer Fa- als die erste Staffel dieser Reise-Show tet täglich über die Eskalation der Ge- milien um die Jahrhundertwende und soll ein gründlich überarbeitetes Kon- walt in Sa˜o Paulo. Die Fernsehreporter eines Hauses, das deren Schicksal mit- zept einen zweistelligen Marktanteil sind exklusiv und hautnah dabei, wenn einbringen. Geiselnehmer Lösegeldforderungen

0.20 – 2.05 Uhr Pro Sieben Heart of Midnight – Im Herzen der Nacht Carol (Jennifer Jason Leigh) hat eine Erbschaft gemacht: den Nachtklub „Midnight“ samt Mobiliar und Einlie- gerwohnung. Sie beschließt, das Eta- blissement nicht zu verkaufen. Von diesem Moment an beginnt beim Zu- schauer das große Rätselraten, wenn

Carol durchs Haus, durch Lusthöhlen SPIEGEL TV und Schreckenskammern wandert. Verbrechen in Sa˜o Paulo Matthew Chapmans Film (USA 1988) ist eine Seelenerkundung, die das Gro- stellen. Killer erklären nach der Fest- ße und Ganze liebt, aber das Detail nahme offen die Motive ihrer Tat. vernachlässigt – eine Todsünde im Ki- SPIEGEL-TV-Autor Ulrich Stein beob- no. achtete die Arbeit der Fernsehleute,

SIPA-PRESS die ahnen läßt, wie die Zukunft der „Howards End“-Szenenfoto Metropolen und des Mediums ausse- hen könnte. einander verbindet. James Ivory insze- nierte das Sittengemälde aus dem vik- MITTWOCH torianischen England mit Anthony 22.10 – 23.00 Uhr Vox Hopkins, Emma Thompson, Vanessa Redgrave und Helena Bonham Carter SPIEGEL TV THEMA in den Hauptrollen. Die Ironie der Beziehungen auf Distanz – geliebt Vorlage von E. M. Forster versinkt in wird nur am Wochenende.

Wehmut und Dekors. Unter uns: Es LINA-CINE gibt Spannenderes als Filme von Ivory. Leigh FREITAG 22.00 – 22.40 Uhr Vox SONNTAG 3.9. Unterschlupf bei zwei Deutschen, der SPIEGEL TV INTERVIEW blonden schönen Ines (Katja Flint), Begleitet werden Bellheim-Star Leslie 18.40 – 19.09 Uhr ARD die in einem einsamen Haus am Meer Malton, Christine Kaufmann, die auf Lindenstraße mit ihrem gelähmten Mann (Karl- Heinz Hackl) lebt. Während sich Ines eine 40jährige Karriere zurückblickt, Desiree Nosbusch und Iris Berben, die Nur für Fans: Lisa, du hast mit der und der scharfkantige Joachim immer sich noch immer nicht mit ihrem Bratpfanne so trefflich den geiligen näherkommen, entwickelt sich der an Image als erotischste Frau im deut- Matthias entsorgt (siehe Szene-Inter- den Rollstuhl gefesselte Mann zum rä- schen Fernsehen angefreundet hat. view Seite 203). Schlag doch noch chenden Monster. Beeindruckend ist mal zu. Klings gibt es sehr viele. Und vor allem, wie das Feuer der Leiden- Röschen, Hubertchen und Onkel schaft erwacht. SAMSTAG Franz. 21.55 – 23.50 Uhr Vox SPIEGEL TV SPECIAL 20.15 – 22.15 Uhr Sat 1 In uns die Hölle Porträt des Schauspielermythos James Dean. Den schießwütigen Anfang dieses Stückes (Regie: Urs Egger) zu über- SONNTAG stehen ist alles. Denn dann erlebt der 22.15 – 22.55 Uhr RTL Zuschauer ein Spiel voller Spannung, Erotik und wunderschöner Bilder von SPIEGEL TV MAGAZIN einer spanischen Ferieninsel. Dorthin „Sturmfest und erdverwachsen“ – Ger- ist der Drogenfahnder Joachim (Max hard Schröder auf Öko-Tour / Der Tod Tidof) geflohen. Er steht unter fal- des Heimkindes Dennis R. – Protokoll

schem Mordverdacht, ohne seine Un- SAT 1 einer Tragödie / Mode unter Beschuß – schuld beweisen zu können. Er findet „In uns die Hölle“-Darsteller Flint die Front-Models von Sarajevo.

220 DER SPIEGEL 35/1995 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus der Neuburger Rundschau: „Das un- Zitat bewohnte Gebäude aus dem 18.Jahrhun- dert war jedoch nicht mehr bewohnt und SPIEGEL-Redakteur Hellmuth Karasek diente mittlerweile als Lagerplatz für und Marcel Reich-Ranicki in der Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes.“ ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ zum SPIEGEL-Titelbild „Marcel Reich-Ra- Y nicki über das Scheitern eines großen Schriftstellers“ der Ausgabe Nr. 34/1995:

Karasek: Jetzt hat man eine willkomme- Aus der Main Post ne Gelegenheit genommen und hat ge- sagt, das Titelbild sei unmenschlich. Das Y Titelbild ist ein Bild, mit dem seit Jah- Aus der Frankfurter Allgemeinen: „Was ren für das „Literarische Quartett“ ge- Ausländer ihm (Aidid) vorwerfen, sind worben wird. Das haben wir als Zitat gerade die Tugenden, denen die Somalen benutzt beim SPIEGEL, und wir haben seit tausend Jahren einzeln und als Volk Herrn Reich-Ranicki auch gesagt, daß in einer unwirtlichen Gegend ihr Überle- wir das benutzen. So war es doch, oder? ben verdanken: Aufschneiderei, Berech- Reich-Ranicki: Ja, aber ich wußte nicht, nung, Egoismus, Fremdenfeindlichkeit, daß das – daß ich allein drauf bin, ich Gewalttätigkeit, Habgier, Rücksichtslo- dachte, ich bin zusammen mit Grass – sigkeit, Unaufrichtigkeit, Unbarmher- das ist mir alles völlig egal. Es ist folgen- zigkeit, Verachtung der Wahrheit.“ des: Das Bild ist, soviel ich weiß, nach- geahmt einem Gemälde von Michelan- Y gelo. Da wird Moses gezeigt mit den beiden Tafeln in der Hand. Ich finde Michelangelo im Zusammenhang mit meiner Person nicht beleidigend. So ein schlechter Maler oder Bildhauer war er nicht; auch der Vergleich mit Moses ist ein bißchen hochgegriffen. Karasek: Aber nur ein bißchen. Reich-Ranicki: Ja, ein bißchen hochge- griffen. Ich habe schon gehört, Leute sind empört, daß ich gegen dieses Titel- bild nicht protestiert hätte. Ich denke nicht daran zu protestieren. Für mich ist nur eine einzige Frage von Interesse, nämlich, trägt dieses Titelbild dazu bei, daß mehr Leute, als ohne Titelbild, die- se Nummer des SPIEGEL kaufen und meinen Artikel lesen. Wenn ja, dann bin ich froh, daß dieses Titelbild drauf ist, das stört mich überhaupt nicht. Aus der Bild Aus der Welt Y Der SPIEGEL berichtete . . . Aus dem Rütenbrocker Heimatblatt: . . . in Nr. 25/1995 PANORAMA: MINI- „Während sich das Turnen und die STER über den sächsischen Innenmini- Leichtathletik als Dauerbrenner erwie- ster Heinz Eggert, der von engen Mitar- sen, nahm das Interesse am Schwim- beitern der sexuellen Belästigung be- men und Boxen relativ schnell ab, wo- zichtigt wurde. für beim Schwimmen das fehlende Schwimmbecken mit ein Grund gewe- Sieben Wochen nach seinem Rücktritt sen sein dürfte.“ bekommt Ex-CDU-Bundesvize Heinz Eggert nun doch Schwierigkeiten mit Y der Justiz. Weder die Beschuldiger noch Aus einem Aktionsbrief der „Kampa- Eggert selbst hatten die Vorwürfe durch gne gegen Kinderarbeit in der Teppich- die Staatsanwaltschaft klären lassen industrie“: „Die Ausstellungswände, wollen. Vorvergangene Woche aber er- das ausgelegte Material und vor allem wirkte der frühere Sprecher des Innen- der aufgestellte ,Knüpfstuhl‘ fanden ministeriums Detlef Schönherr, eine großes Interesse: Selbst Erwachsene lie- einstweilige Verfügung des Landge- ßen sich gerne zum ,Knüpfen‘ einiger richts Dresden. Danach darf Eggert, bei Reihen einladen. Und nahezu grenzen- Androhung von Ordnungsgeld bis zu los war die Begeisterung der Kinder und 500 000 Mark, nicht mehr behaupten, Jugendlichen, einige ,knüpften‘ fast oh- Schönherr sei „faul“, „arrogant“ und ne Ende . . .“ habe seinen Chef angelogen.

222 DER SPIEGEL 35/1995