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Sendung vom 22.10.2009, 20.15 Uhr

Heinz Eggert Staatsminister a.D. im Gespräch mit Dr. Hilde Stadler

Stadler: Liebe Zuschauer, willkommen zum alpha-Forum, bei dem heute Heinz Eggert zu Gast ist. Zur Zeit der DDR war er Pfarrer, nach der deutschen Einheit war er CDU-Politiker und saß 15 Jahre lang im sächsischen Landtag. Herzlich willkommen bei uns. Eggert: Danke. Stadler: Herr Eggert, Sie saßen 15 Jahre lang im sächsischen Landtag. Bei der Landtagswahl 2009 haben Sie nicht mehr kandidiert. Sind Sie politikverdrossen? Eggert: Nein, das bin ich nicht. Aber ich bin älter geworden und so toll ist die Politik auch nicht, dass man sein Leben mitten in der Politik beenden sollte. Dazu muss man noch wissen, dass zur Wendezeit viele Leute in die Politik gegangen sind, die damals mein Alter hatten, zwischen 40 und 50 Jahre. Es war einfach auch notwendig, jetzt eine Verjüngung des Landtages anzuregen. Deswegen habe ich von mir aus gesagt, dass ich jetzt aufhöre. Jetzt werden die Entscheidungen für die nächsten zehn bis 20 Jahre getroffen und die jungen Leute, die das wirklich betrifft – wir sind ja dann Rentner –, hätten dann keine Stimme. Von daher fand ich, das war ein guter Schritt. Ich bin zudem ganz froh, dass ich aufhören kann. Stadler: Das hat mich etwas überrascht, denn man findet von Ihnen Aussagen, dass Sie sich, wie auch einige andere, dafür einsetzen, die über 50-Jährigen nicht auf das Abstellgleis zu schieben. In Appellen an die Wirtschaft fordern Sie, deren Erfahrungen und Intelligenz zu nutzen. Das hört doch nicht mit 60 schlagartig auf? Eggert: Das hört mit 60 nicht schlagartig auf. Es wäre übrigens auch von großem Vorteil, wenn man in der Politik immer die Intelligenz nutzen würde. Das gebe ich gerne zu. Aber ich werde etwas ganz anderes machen. Für mich waren das nun 20 Jahre in der Politik, wobei ich nach der Wende unter anderen Vorzeichen in die Politik gegangen bin. Damals war das auch noch ein anderes Arbeiten, man hat noch nicht so sehr von Parteistrukturen und Parteiprogrammen her gedacht, sondern versucht, das Machbare umzusetzen, auch über viele ideologische Strömungen hinweg. Jetzt ist die Politik im Osten Deutschlands so geworden, wie sie im Westen schon immer betrieben wurde. Das ist weniger ein Gestalten, als ein Verwalten. Und ich bin alles Mögliche, aber kein Verwaltungsfachmann. Stadler: Politik war nicht unbedingt Ihr Berufsziel, ursprünglich auch nicht Pfarrer. Ich hatte schon erwähnt, dass Sie zur Zeit der DDR Pfarrer waren. Sie waren auch einmal bei der Eisenbahn. War das Ihr Wunschberuf? Eggert: Ja, das war eigentlich ein Wunschberuf. Ich bin noch heute jemand, der unter Fernweh leidet. Stadler: Das war in der DDR schwierig. Eggert: Das war sehr schwierig. Ich bin in aufgewachsen und habe als Junge immer an der Mole in Warnemünde gestanden und mir gedacht, wenn jetzt ein Schiff käme und die sagen würden: "Wir nehmen dich als Schiffsjungen mit!" Dann wäre ich an Bord gegangen und weg gewesen. So stark war mein Fernweh. Später war ich bei der Eisenbahn. Für mich gab es immer existenzielle Anlässe, warum ich irgendwo ausgestiegen und woanders eingestiegen bin. In Bezug auf meinen Beruf als Pfarrer und auf die Theologie war das am 21. August 1968 der Einmarsch der Russen und des Warschauer Paktes in Prag. Bis dahin war ich in der DDR relativ angepasst. Stadler: Dieses Ereignis hat Sie politisiert? Eggert: Das hat mich politisiert, vor allem, als ich mich geweigert habe anzuerkennen, dass das ganz toll wäre und damit der Frieden in der Welt gerettet würde. Das mussten wir ständig unterschreiben. Stadler: Sie waren auch privat in Prag gewesen. Sie kannten Prag zu dieser Zeit, die Atmosphäre dort und einige Prager und Pragerinnen. Eggert: Vor allem eine Pragerin. Ich bin mit meinem Freifahrschein als 21-Jähriger nach Prag gefahren. Prag war für mich so, wie ich mir immer "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" vorgestellt hatte. Man konnte dort schon Jeans kaufen, als die in der DDR noch die Hosen des Klassenfeindes waren. Die Lieder der Beatles wurden dort gespielt. Es war alles insgesamt ein wenig lockerer und freundlicher. Von den großen, schweren politischen Themen, die zu dieser Zeit diskutiert wurden, hatte ich wenig Ahnung. Sie haben mich auch nicht großartig berührt. Ich hatte dort eine Freundin, in die ich mich verliebt hatte. Sie ist dann 1968 mit ihren Eltern nach Kanada ausgewandert, weil die Familie nach dem Einmarsch der Russen politisch verfolgt wurde. Das alles hat eine Rolle gespielt, warum ich mich geweigert habe, zu unterschreiben, dass ich diesen Einmarsch toll finde. Ich bin noch am gleichen Tag verhaftet worden, zwar nur für einen Tag und eine Nacht, aber für einen 22-Jährigen war das schon ein großes Ereignis. Das hat mich nachdenklich gemacht. Durch Diskussionen mit Freunden und meiner Frau, die ich bald danach kennengelernt habe, bin ich nachdenklicher geworden, als ich bis dahin zu DDR-Zeiten war. In einer Diktatur wird man nicht von heute auf morgen Widerständler. Stadler: Das war ein Prozess. Eggert: Das ist ein Prozess, manchmal ist es auch ein langer Weg, auf dem sehr viele existenzielle und emotionale Anlässe nötig sind. Stadler: Sie studierten Theologie demzufolge nicht nur, weil Sie auf manche Fragen existenzieller Art Antworten erhofften, sondern vielleicht auch schon im Hinblick darauf, dass man in der Kirche als Pfarrer mehr Freiheiten hatte, als wenn man in irgendeinem Betrieb oder in der Verwaltung beschäftigt gewesen wäre? Eggert: Ich kannte bis dahin gar keinen Pfarrer, weil ich nicht aus einem christlichen Elternhaus komme. Ich bin auch erst mit 22 oder 23 Jahren getauft und konfirmiert worden. Mich hat auch nicht so sehr die Bibel gereizt, sondern dass ich als Theologiestudent natürlich auch die Möglichkeit hatte, Literatur aus den Bereichen Psychologie, Geschichte und Philosophie zu lesen, die nicht durch die rosarote marxistische Brille gefärbt war. Das hat auf mich eine große Anziehungskraft ausgeübt. Dazu kam der Gedanke an Gott. Denn wenn Gott ist, muss der Einzelne nicht ständig nachweisen, dass er ein nützliches Mitglied der Gesellschaft dieser Diktatur ist, und wenn diese Gesellschaft sehr schäbig mit ihm umgeht, verliert er trotzdem nicht an Wert. Das waren für mich zwei Grundgedanken, die sich bis heute bei mir durchziehen. Ich halte sie auch für sehr wichtig für den christlichen Glauben, abgesehen von allen Dogmen und theologischen Diskussionen. Stadler: Sie sind dann vom hohen Norden nach Sachsen gegangen. Eggert: Ja, meine Frau stammt aus und man sagt ja auch immer, dass in Sachsen die schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen. Da hat man sie halt heruntergeholt. Ich hatte dann auch meine erste Pfarrstelle im Dreiländereck Tschechien-Polen-Deutschland. Man muss nur wissen, dass die Grenze damals teilweise noch mit Stacheldraht verriegelt war. Nach Tschechien kamen wir ganz schlecht und ab 1980 durfte ich nicht einmal mehr nach Polen fahren, weil es da die Solidarnosc gab. Da wohnte ich nun in diesem Dreiländereck. Ich hatte gedachte, die Grenzen gehen nun auf, im Gegensatz zu Warnemünde, wo man nie über die See fahren durfte. Und schon bin ich wieder an Grenzen gestoßen, wie das halt so war in der DDR. Stadler: Den Alltag in dieser sozialistischen Diktatur haben Sie nicht nur selbst, sondern auch über die Mitglieder Ihrer Gemeinde als sehr hart erlebt. Sie galten bald als der Pfarrer, an den man sich wandte, wenn man ausreisen wollte. Das heißt, Sie haben vermutlich so manches davon mitbekommen, wie der Alltag war. Eggert: Bei vielen Diskussionen über die DDR, die nach der Wende geführt worden sind, bekomme ich mit, dass ich die DDR ganz anders erlebt habe als Millionen andere, die in der DDR gelebt haben. Denn ich hatte immer mit Menschen zu tun, die von der Staatssicherheit verfolgt wurden, die Schwierigkeiten mit dem DDR-Staat hatten, die bis an die Grenzen gegangen sind und die man dann verhaftet hat, denen man übel mitgespielt hat, deren Kinder keinerlei Möglichkeiten hatten, ein Examen zu machen oder überhaupt das Abitur zu machen. Was ich mache, hat sich sehr schnell herumgesprochen, sodass dann Leute anklopften, die ich gar nicht kannte. Ich hatte mir auch abgewöhnt zu überlegen, ob sie von der Staatssicherheit geschickt worden waren oder nicht. Das hätte mich meiner Arbeitsmöglichkeiten beraubt. Ich hatte mir vorgenommen, diesen Menschen auch im Kleinen das zu sagen, was ich nach außen hin jederzeit verantworten konnte. Dann sprach man an dieser Stelle einfach ein Stück verantwortlicher, aber auch offener. Stadler: In dieser Wirtschaftskrise hören wir gerade aus dem Osten die Stimmen, die sagen, dass es zwar das SED-Regime gegeben habe, aber dass es dort auch Arbeitsplätze gegeben hätte; das soziale Klima sei nicht so kalt gewesen und die DDR nicht so individualisiert. Daher wäre es doch da nicht so schlecht gewesen. Was sagen Sie solchen Leuten? Eggert: Ich wundere mich immer ein wenig über diese Einschätzung. Wer glaubt, dass die "sozialistische Wartegemeinschaft" vor dem Gemüsestand, der gerade Gemüse hatte, für das man sich zwei Stunden anstellen musste, gesellschaftliche Wärme produzierte, der irrt einfach. Eines ist klar: Das Leben in einer durch die Grenzen abgeschotteten Diktatur ist immer weitaus einfacher, als sich in der großen Welt zu bewegen und auf dem großen Markt bewähren zu müssen. Da haben die Menschen ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Die Hauptdiskussion ist eigentlich nie richtig geführt worden. Jemand, der in der Diktatur in der Arbeitswelt eine Lebensleistung erbrachte, erbrachte wirklich eine Lebensleistung, auch wenn sie sich nicht auf dem Konto niedergeschlagen hat. Ich habe als Pfarrer 600 DDR-Mark verdient, das war weniger, als ein Arbeiter verdiente. Das wusste ich aber und es war für mich kein Problem. Meine Kollegen im Westen haben, auch wenn sie es nicht verdient haben, trotzdem mehr Geld bekommen. So kam es nach der Wende zu diesem Vergleich: Wenn ich mit meinem Arbeitsplatz in der Bundesrepublik gelebt hätte, was hätte ich dann heute auf dem Konto, was hätte ich heute schon an Besitzständen, die ich so nicht habe. Dazu muss man ganz deutlich sagen, dass das nicht mit der Einheit zusammenhängt, sondern mit der erst spät erworbenen Freiheit der Ostdeutschen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand ernsthaft die Lebensverhältnisse in der DDR wieder haben will. Ich hätte die DDR gerne ein wenig virtuell weiterentwickelt und bestehen lassen, damit die Verantwortlichen im Politbüro mal in so ein Altersheim kommen, wie es in der DDR den alten Menschen zugemutet worden ist, mit vier bis sechs Leuten auf einem Zimmer. Jeder hatte einen halben Schrank und einen Koffer. Einmal in der Woche wurde gebadet, ansonsten gab es ein Waschbecken für alle. Obst gab es ausschließlich am Freitag. Das hätte ich den Verantwortlichen einmal ganz gerne gegönnt. Wenn man diese Vergleiche zieht, darf man nicht generell argumentieren, sondern man muss schon in die Einzelheiten gehen. Und ich glaube, das stellt sich dann ganz anders da. Stadler: Sie haben schon angesprochen, dass Sie im Visier der Staatssicherheit waren. Sie haben Ihre Akte auch angeschaut. Manche machen das nicht, weil sie Bedenken haben, ob sie das verkraften. Wie haben Sie das verkraftet? Eggert: Wir haben immer gewusst, dass wir uns im Visier der Staatssicherheit befanden. Wir haben auch gewusst, dass wir abgehört wurden. Wir haben auch gewusst, dass unser Telefon abgehört wurde. Mit vielen Menschen, die zu mir gekommen sind, bin ich daher auf einen Spaziergang in den Wald gegangen, damit wir uns dort unterhalten können. So konnten wir nicht abgehört werden. Aber über das Ausmaß der Bespitzelung war ich dann doch erschrocken. Fast 70 Leute waren auf mich angesetzt und haben Berichte geschrieben. Wenn man das alles in seiner Gesamtheit einmal liest, dann kommt außer der Betroffenheit auch das Nachdenken darüber, dass die Leute recht unterschiedlich hantiert haben. Es gibt nach meiner Akte Leute, die mich bespitzelt haben, mit denen ich heute schon wieder ein Bier trinke. Stadler: Das wäre meine nächste Frage gewesen. Gab es für Sie große persönliche Enttäuschungen und Verletzungen, gab es Gespräche, in denen versucht wurde, darüber zu sprechen? Eggert: Es gab Leute, die haben weniger berichtet, als sie wussten – und das kann ich nun einmal am besten einschätzen. Das heißt, sie wurden irgendwann einmal zur Spitzeltätigkeit gezwungen oder erpresst und haben dann ohne große Begeisterung ihre Berichte geschrieben. Sie haben sogar versucht, mit ihren Berichten beschützend zu wirken: "So 'schlecht' ist der nicht!" Dann gab es aber auch welche, die hatten Freude am Verrat. Die haben aufgeschrieben, was unsere Kinder in der Schule erzählte haben. Sie haben ihre eigenen Kinder zu Freunden unserer Kinder gemacht, um noch mehr über die Familie zu erfahren. Das sind Leute, denen möchte ich nicht gerne begegnen, denn manchmal hat man sich nicht unter Kontrolle. Stadler: Als man 1989 merkte, dass sich im Ausland etwas tat, aber niemand wusste, wohin die Reise geht, konnten Sie sich da schon vorstellen, dass die DDR einmal zusammenbricht? Eggert: Ich war bis Oktober 1989 davon überzeugt, dass ich einmal in der DDR sterben werde. Denn für etwas anderes war das System zu hochgerüstet, zu stark bewaffnet. Dieser Prozess, dass Menschen ausgereist sind, ging allerdings eigentlich schon wesentlich länger. Stadler: Aber in dieser Vehemenz, mit den Ereignissen in Ungarn und in Prag und mit den Massenfluchten, bekam es eine neue Dimension. Eggert: Das hatte dann eine neue Dimension. Aber dazu muss man sagen, dass 1989 jeder Monat von Mai bis Ende des Jahres jeweils eine ganze andere Brisanz und Dynamik hatte. Das, was man sich im Mai noch nicht einmal vorstellen konnte, das wurde ab November zu einer ziemlich sicheren Gewissheit. Ich war dann auch im Neuen Forum und deswegen sehr erschrocken über die Diskussionen, einen sogenannten dritten Weg zu gehen. Für mich gab es nur eines: die Möglichkeit der Einheit wahrzunehmen. Mir war klar, dass dieser dritte Weg dazu geführt hätte, dass die SED unter irgendeinem anderen Namen, unter irgendeinem anderen Deckmantel wieder die Macht übernommen hätte. Die alten Leute wären alle geblieben und eine politische Krähe hätte der anderen kein Auge ausgehackt. Stadler: Sie sind 1990 in die CDU eingetreten und waren Landrat von Zittau, wie auch schon zuvor. Hatten Sie die CDU bewusst gewählt? Denn bei manchen Bürgerrechtlern aus der DDR geschah das eher aus Zufall, da hätte es auch die SPD sein können. Eggert: Wenn ich keine Beerdigung gehabt hätte, wäre ich damals zum Gründungsparteitag der ostdeutschen SPD gefahren. Mich hatte ein Kollege aus Berlin angerufen und gesagt: "Wir müssen eine Partei gründen! Wir gründen hier die Ost-SPD!" Ich sagte: "Da bin ich dabei!" Aber ich hatte eine Beerdigung und konnte deswegen nicht hinfahren. Spätestens bei dem Herumeiern von Oskar Lafontaine in Bezug auf die deutsche Einheit wäre ich wieder ausgetreten. Stadler: Wobei er in Bezug auf die Kosten die Wahrheit gesagt hat, die Helmut Kohl damals nicht sagen wollte oder vielleicht auch nicht sagen konnte. Eggert: Die Frage ist doch, was man will. Man kann natürlich alles fiskalisch diskutieren, wobei es mich immer erstaunt hat, dass ausgerechnet Oskar Lafontaine diese fiskalische Frage diskutierte. Man muss dazu wissen, dass er schon ab 1987 immer öffentlich erklärt hat, dass man die DDR anerkennen müsse, um den europäischen Prozess vorwärts zu bringen. Das scheint alles ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Bei allem, was er an dieser Stelle auch falsch gemacht hat, hat Helmut Kohl in einem ganz winzigen historischen Moment, als die Tür für einen ganz kleinen Moment aufging, einfach richtig gehandelt. Wir haben hinterher viele Sträuße miteinander ausgetragen und sind auch keine großen Freunde geworden, aber in dieser Beziehung bin ich ihm dankbar, denn dadurch ist es so gekommen. Dadurch bekamen 17 Millionen Menschen eine neue Chance, eine andere Möglichkeit, ihr Leben zu gestalten. Zum Landrat wurde ich als Parteiloser gewählt, ich wollte in keine Partei eintreten. Stadler: Hatten Sie nicht auf Ihrem Schreibtisch ein Schild… Eggert: Ich hatte ein Schild auf meinem Schreibtisch, auf dem stand: "Kein politisches Amt!" Denn ich wurde schon 1990 von allen Parteien gefragt, ob ich für sie in die Volkskammer gehen wolle – außer natürlich von der SED. Das wollte ich aber nicht. Ich wollte Pfarrer bleiben, das hat mir auch Spaß gemacht. Dann musste in Zittau ein neuer Landrat gewählt werden und es gab drei Möglichkeiten. Die eine war: Das macht einer, der immer schon beim Rat des Kreises war, also ein alter DDR-Verwaltungsmensch. Oder es macht einer aus dem Westen, der aus guten Gründen dort nicht zum Landrat gewählt wurde, aber glaubt, dass er es im Osten könnte. Oder es macht jemand von uns. Auch da haben mich alle Parteien außer der SED gefragt. Ich war somit der gemeinsame Kandidat aller Parteien und wurde auch gewählt. In die CDU bin ich dann eingetreten, um zu verhindern, dass die alten CDU-Funktionäre aus DDR-Zeiten, die mit dem SED-Regime relativ gut klargekommen waren und gut etabliert waren, jetzt die Macht in Sachsen übernahmen und die Regierung stellten. Das wollten wir verhindern und deswegen bin ich damals in die CDU eingetreten. Stadler: Sie waren nicht lange Landrat. holte Sie als Innenminister in seine Regierung in Sachsen. Dort bekamen Sie bald den Spitznamen "Pfarrer Gnadenlos", weil Sie aufgeräumt haben, wie man so schön sagt. Stimmt das so oder würden Sie das anders sehen? Eggert: Ich bin wirklich nicht gnadenlos! Aber eines muss man auch festhalten: Wir haben eine Revolution gehabt! Dann kann es nicht sein, dass die, die 40 Jahre lang andere Menschen unterdrückt haben, bespitzelt haben, dazu beigetragen haben, dass ihre Lebens- und Bildungschancen eingeengt wurden, dass diese Leute in Verwaltungsfunktionen und politischen Funktionen weiterarbeiten, als wenn nichts gewesen wäre. Für mich war das ein Zeichen der politischen Moral. Diese Leute sind auch nicht in irgendein Lager gekommen und sie sind auch nicht verhaftet worden, sondern sie sollten lediglich nicht im öffentlichen Dienst arbeiten, d. h. von den Steuergeldern derer bezahlt werden, die sie früher unterdrückt haben und die jetzt selber auf der Straße standen und keine Arbeit mehr hatten. Mehr wollte ich nicht. Das war meine politische Grundhaltung und die gilt bis heute. Stadler: Bei Untersuchungen hat man festgestellt, dass es in den neuen Bundesländern große Unterschiede im Hinblick darauf gibt, wer jetzt im Staatsdienst beschäftigt ist und wer nicht. Wie erklären Sie sich das? Eggert: Das wurde in den neuen Bundesländern unterschiedlich gehandhabt. Es ist doch völlig klar: Wo ein Mann wie Stolpe Ministerpräsident war, der mit einem Orden der Staatssicherheit ausgezeichnet worden ist, guckte man nicht so genau hin. Stadler: Sie waren dann, wie manche Ihnen bescheinigt haben, ein "hemdsärmeliger" und durchsetzungsfähiger Innenminister, der nicht unumstritten war. 1995 kam dann ein Karriereknick. Es gab damals Vorwürfe von Mitarbeitern über sexuelle Belästigung. Haben Sie an eine Intrige geglaubt? Wie sind Sie damit umgegangen, als das öffentlich wurde? Eggert: Ich wusste es schon ein paar Tage, bevor es öffentlich wurde. Ich habe immer gedacht, es kann eigentlich nicht wahr sein, dass solche Dinge behauptet werden, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Ich habe mich dann bei der Staatsanwaltschaft selbst angezeigt. Stadler: Hatten Sie juristische Berater? Eggert: Nein, das hatte ich nicht. Zunächst war es auch gar kein Karriereknick. Für mich war es ein menschliches Einknicken. Ich bin noch nie so entwürdigt worden wie in dieser Diskussion. Die Staatsanwaltschaft hat mir gesagt: "Wir ermitteln nicht! Es gibt nichts zu ermitteln. Selbst wenn alles stimmt, gib es überhaupt keinen strafrelevanten Hintergrund dabei." Aber wenn solche Dinge in der Presse erscheinen, dann wird es auch sehr unterschiedlich behandelt, dann ist der Skandal da. Einige Journalisten haben später gesagt, sie hätten es nicht geglaubt, aber einfach einmal geschrieben, um zu sehen, wie sich der Vize an dieser Stelle schlägt. Ich war damals unter Kohl Vizechef in der CDU. Ich habe dann gemerkt, dass die Diskussion nicht mehr einzufangen ist. Stadler: Dass sich das verselbstständigt? Eggert: Dass sich das verselbstständigt und das mein Bild in der Öffentlichkeit ziemlich leidet. Biedenkopf wollte mich nicht entlassen, Biedenkopf wollte mich in der Regierung halten. Er hat später auch gesagt, dass das eine infame Intrige ehemaliger Mitarbeiter gewesen sei. Er hat das Ganze untersuchen lassen. Aber ich habe mich da selbst entschieden aufzuhören – gegen den Willen meiner Familie. Auch meine Frau war nicht der Meinung, dass ich aufhören soll. Aber für meine Begriffe ist der Ruf eines Politikers viel zu wertvoll, als dass man noch weiter in der Politik bestehen könnte, wenn man einmal so angeschossen wurde. Dann muss man gehen. Ich wollte nicht Wachs in den Händen anderer Leute aus meiner Partei werden. Denn manche haben sich auch gefreut und gesagt: "Na endlich ist der einmal ein bisschen angeschlagen und kein Konkurrent mehr!" In einer Partei laufen ja sehr viele verschiedene Stränge. Deswegen habe ich aufgehört. Das war für mich auch kein Karriereknick. Für mich war es damals ein menschliches Einknicken. Stadler: Was haben Sie danach gemacht, bis Sie wieder in die Politik zurückgekehrt sind? Haben Sie ein Buch geschrieben oder waren Sie im Kloster? Was haben Sie in diesen zwei Jahren gemacht? Eggert: Ich war zuerst einmal ziemlich zerstört. Wenn meine Frau, meine Familie, die Kinder und meine Freunde nicht gewesen wären, auch ein großer Teil des Ministeriums, meine eigenen Personenschützer, die ständig um mich herum waren – sie kommen heute noch, wenn ich Geburtstag habe. Wir sind inzwischen befreundet. Wenn die alle nicht gewesen wären, dann wäre es für mich sehr schwierig gewesen. Ein Buch habe ich nie geschrieben. Ich habe Angebote bekommen, sogar für ein Drehbuch in Hollywood. Die fanden das sehr toll. Das Geld hätte man auch mitnehmen können. Aber man weiß ja, was man aus solchen Büchern macht. Das kommt für mich gar nicht infrage. Ich werde auch nie ein Buch schreiben. Ich habe verschiedene Angebote bekommen. Ich will aber nicht zu den Politikern gehören, die dann die eigenen Bücher für zwei Euro auf dem Wühltisch finden. So viel habe ich auch nicht zu berichten, das so interessant wäre, es der Nachwelt zu hinterlassen. Stadler: Haben Sie in dieser schweren Zeit für sich gemerkt, wer wirklich zu Ihnen hält, wer wirklich ehrlich zu Ihnen ist? Eggert: In einer solchen Zeit merkt man das ganz bestimmt. Sie müssen davon ausgehen, dass es immer Leute gibt, die sich gerne den Weg freischleimen, wenn man Minister ist. Da merkt man sehr schnell, ob diese Leute auf die andere Straßenseite gehen, um nicht grüßen zu müssen, oder ob die Leute dann ganz bewusst kommen und sagen: "Lassen Sie sich nicht fertigmachen!" Was ich damals etwas übersehen habe, war, dass es in der Bevölkerung eine ziemlich große Sympathie für mich gab. Mich haben Leute auf der Straße angesprochen: "Sie dürfen nicht zurücktreten! Lassen Sie sich nicht fertigmachen! Es kann nicht sein, dass die anderen an dieser Stelle siegen!" 1994 bin ich wieder zur Landtagswahl angetreten, trotz dieser Vorwürfe, und habe 67 Prozent der Stimmen in meinem Wahlkreis bekommen. Das heißt also, dass die Öffentlichkeit schon ziemlich hinter mir stand. Trotzdem war die Entscheidung, zurückzutreten, richtig. Stadler: Wenn man das so sagen kann, haben Sie dann die Seiten gewechselt: Sie sind Moderator in einer Talkshow des Senders NTV geworden. Eggert: Ganz nebenbei! Stadler: Wie war denn das? Plötzlich konnten Sie die Fragen stellen und die anderen mussten antworten. Haben Sie seither mehr Verständnis für Journalisten und weniger für Politiker? Eggert: Ich habe immer Verständnis für Journalisten gehabt, wenn sie sich ordentlich vorbereitet haben und nicht diesen knallharten Journalismus gefahren sind, à la "Wir wissen zwar nicht, was passiert ist, aber wir schreiben trotzdem etwas ganz Schlimmes darüber." Journalisten und Politiker sitzen eigentlich in einem Boot, wenn auch in unterschiedlichen Abteilen. Es geht aber nur gut zwischen den beiden, wenn man sich erstens achtet und wenn man sich zweitens von dem anderen nicht vereinnahmen lässt. Von daher war es natürlich schon ein Seitenwechsel. Was mir Spaß gemacht hat, waren die Sendungen mit Helge Schneider, Till Schweiger und Harald Juhnke, weil das keine politischen Themen waren. Wenn es politische Themen waren, wusste ich natürlich ganz genau, wie Politiker reagieren, wie sie eine Frage so umdrehen, dass sie eine Antwort geben können, die überhaupt nicht gefragt wurde, und der Moderator merkt es nicht. An dieser Stelle bin ich natürlich etwas empfindlicher. Ich habe oft von Politikern gehört, dass sie gesagt haben: "In deine Sendung würde ich nicht kommen. Ich lasse mich dort nicht auseinandernehmen." Stadler: Sie schreiben jetzt eine Kolumne in der "Dresdner Morgenpost". Wie sehen Sie das im Vergleich zum Fernsehen? In einer Kolumne haben Sie noch andere Möglichkeiten. Eggert: Ich äußere mich schon ganz gerne und es ist auch nicht so, dass man nichts erlebt. Stadler: Ich frage, weil Sie gesagt haben, dass Sie kein Buch schreiben wollen, aber ja anscheinend doch ganz gerne schreiben, zumindest in Form der Kolumne. Eggert: Ja, zu tagespolitischen Ereignissen schreibe ich gern. In Zukunft werde ich mir überlegen müssen, wie ich die Kolumne gestalte, denn eigentlich will ich mich aus der Politik völlig zurückziehen. Das ist heute mein letztes Interview. Ich denke, dass einem das nur gelingt, wenn man irgendwann einen Schnitt macht. Ich will nicht zu diesen altklugen Politikern gehören, die in jeder Talkshow sitzen, auch wenn sie schon 30 Jahre keine Verantwortung mehr getragen haben, und denen, die Verantwortung tragen, sagen, wie sie es eigentlich hätten machen müssen. Das wäre mir ein wenig zu altklug – nicht nur vom Alter her, sondern auch von der Art und Weise her. Das will ich mir nicht antun. Stadler: In der letzten Legislaturperiode des sächsischen Landtags haben Sie eine Kommission zum demografischen Wandel und seinen Auswirkungen geleitet. Im Osten beobachtet man nach wie vor eine Abwanderung der jungen Bevölkerung. Wurden in der Kommission auch Konzepte erarbeitet, was man dagegen machen kann? Eggert: Die Konzepte gibt es. Bei jedem Haushalt, der aufgestellt wird, müsste es eigentlich der Grundsatz sein, dass man sehr genau überprüft, ob die Vorhaben, für die Gelder freigegeben werden, in 20 Jahren noch die Vorhaben sind, die man braucht, um mit dieser Situation fertig zu werden. Wir haben schon jetzt eine sehr hohe Staatsverschuldung, wir verfeuern schon jetzt das Holz, das eigentlich unsere Enkel später einmal wärmen sollte. Dieser Prozess muss irgendwie gestoppt werden. In Bayern wird man das nicht so schnell merken, weil sehr viele junge Leute aus den neuen Bundesländern nach Bayern oder nach Baden-Württemberg gegangen sind. Irgendwann wird es jedoch auch hier spürbar sein, aber es wird nicht so schnell kommen. Man wird einfach überlegen müssen, wie man die Gesundheitsvorsorge und die gesundheitliche Betreuung der Bevölkerung garantiert, wenn es nur noch drei große Zentren gibt und ansonsten entleerte Räume, in denen nur noch ganz wenige Menschen leben. Stadler: Sie meinen, dass weniger die großen Städte wie und gefährdet sind, sondern vor allem kleinere Orte auf dem flachen Land? Eggert: Es gibt zwei Dinge. Erstens muss die Bevölkerung rechtzeitig über diese Entwicklung informiert werden, weil man die Bevölkerung braucht, um die Probleme zu lösen. Wenn die Menschen merken, dass sie aufeinander angewiesen sind, wäre das – zweitens – auch ein Zeitpunkt, um wieder einmal darüber nachzudenken, wie man Nachbarschaftshilfe entwickelt, statt nach dem Motto zu leben: "Ich habe so viel verdient, dass ich den anderen gar nicht brauche"; das würde bedeuten, von der Frage: "Was steht mir zu?", wegzukommen und uns der Frage zuzuwenden: "Was kann ich tun, damit es uns in diesem Bereich insgesamt gut geht?" Der Staat wird in dieser Zeit nicht mehr alles finanzieren können, was die Menschen brauchen, um gesellschaftlich und gesundheitlich gut aufgehoben zu sein. Daran haben wir drei Jahre lang gearbeitet: 15 Wissenschaftler und 15 Abgeordnete. Das war am Anfang ein schwieriger Prozess, weil Wissenschaftler und Politiker unterschiedliche Sprachen sprechen. Die politische Sprache ist eine ganz andere Sprache als die Sprache der Wissenschaft. Und ein Wissenschaftler kann natürlich viele Ideen entwickeln, ohne sie politisch durchsetzen zu müssen. Von daher war das ein richtig guter Prozess: wissenschaftliche Kenntnisse auf die Möglichkeit der politischen Umsetzung zu überprüfen, unabhängig vom Parteiprogramm und vom Parteienspektrum. Stadler: Gab es auch eine bundesweite Anbindung mit anderen Landtagen oder auch mit dem Bundestag? Denn die Entwicklung ist in allen neuen Ländern ähnlich. Eggert: Die Entwicklungen in Deutschland werden ganz unterschiedlich sein, selbst wenn wir nur die alte Bundesrepublik hätten. Auch da gab es in Schleswig- Holstein schon immer ganz andere Entwicklungen als in Bayern. Ich bin davon überzeugt, dass wir in einigen Jahren gar nicht mehr von Ost- und Westdeutschland sprechen werden, sondern wir werden mehr von den Entwicklungen des Nordens und des Südens sprechen, denn der Süden hat eine ganz andere Entwicklung genommen. Dort hat es ganz andere wirtschaftliche Entwicklungsräume gegeben. Der Norden wurde zum Teil in der Entwicklung vernachlässigt bzw. er ist in dieser Weise gar nicht entwicklungsfähig. In diesem Spannungsfeld wird sich das abspielen, und wer ein demografisches Problem lösen wollen wird, wird das nicht zentral lösen können. Sogar in einem kleinen Land wie Sachsen wird man drei oder vier Regionen haben, in denen ganz unterschiedliche Entscheidungen werden fallen müssen. Stadler: Sie haben das Problem der Demografie angesprochen. Momentan beschäftigt Sie noch ein anderes Problem, besser gesagt jemand anderer hat es mit Ihnen. Ich spreche von Karl Nolle, dem SPD-Abgeordneten. Sie haben gegen ihn Anzeige erstattet, weil er ein Buch über die Christdemokraten in der DDR veröffentlich hat, in dem er Sie falsch zitiert hat. Was ist da abgelaufen? Das Thema wird vor allem in der sächsischen Presse behandelt. In Bayern z. B. ist das gar nicht so publik geworden. Eggert: Es lohnt sich auch nicht, dass man das groß publik macht, weil das Buch nichts taugt. Karl Nolle ist nach der Wende aus dem Westen nach Sachsen gekommen und hat dort eine Druckerei aufgebaut. Vom Leben in der DDR hat er so viel Ahnung wie ein Einarmiger vom Rollerfahren, also gar keine. Er hasst die CDU! Das kann man vielleicht auch aus der Zeit erklären, als er in Westdeutschland noch in der APO mitgearbeitet hat. Nun hat er geglaubt, er müsse ein Enthüllungsbuch über Leute schreiben, die früher schon in der CDU waren. Stadler: Also die sogenannten Blockflöten. Eggert: Ja, die sogenannten Blockflöten. Zu all diesen Vergangenheitsdiskussionen muss man immer sagen: "Geradlinige passt in den Kurven auf! Die Dinge sind teilweise ganz anders." Ich war in der DDR Studentenpfarrer in Zittau. Studentenpfarrer bedeutet, dass ich die Hochschule und die Internate nicht betreten durfte und in der Hochschulkneipe nicht bedient wurde. So war das Leben eines Studentenpfarrers in der DDR. Ich habe Studenten selbst empfohlen, in die CDU einzutreten, weil sie in die SED gezwungen werden sollten. Außerdem mussten sie nachweisen, dass sie ein nützliches Mitglied der Gesellschaft sind. Ansonsten bekamen sie kein sogenanntes Forschungsstudium, bekamen sie bestimmte Posten nicht und wurden nicht mehr in der Forschung eingesetzt. Es war ganz normal, dass Menschen in der DDR in eine Partei eintraten, um nicht politisch tätig zu sein und nicht politisch vereinnahmt zu werden. Karl Nolle ist wie mit einem Rasenmäher über die ganze Diskussion hinweggefegt. Vielleicht hängt auch das schlechte Wahlergebnis der SPD damit zusammen. Vielleicht haben die Leute gesagt: "Wer einem solchen Mann ein Forum gibt, den wählen wir nicht!" Verklagt habe ich ihn, weil er einfach Unwahrheiten über mich verbreitet hat. Im Umgang mit der Wahrheit ist er nicht sehr wählerisch. Stadler: Ist es auch Ihre Konsequenz aus den Vorkommnissen Mitte der 90er Jahre, dass Sie sich energisch gegen so etwas wehren – ohne das jetzt direkt vergleichen zu wollen. Eggert: 1995 hatte ich mir überlegt: Wenn ich zum Gericht gehe, dann müssten sie ihre Vorwürfe beweisen, sie könnten es aber nicht beweisen, da sie sich ständig weiterbeworben haben, weil sie in meiner Nähe arbeiten wollten. Das war ein Grund für die Selbstanzeige gewesen. Das bringt jedoch in der Politik nichts. Hinterher wird man immer sagen: "Ja, vielleicht ist ja doch etwas dran gewesen!" Aber wenn jemand wie Karl Nolle so mit der Wahrheit umgeht, dann werde ich mir das nicht gefallen lassen, habe ich beschlossen. Deswegen habe ihn jetzt verklagt. Stadler: Sie sind jetzt im Ruhestand, wie man so schön sagt. Eggert: Ja, das ist gar nicht so einfach. Stadler: Viele haben Schwierigkeiten, sich daran zu gewöhnen, wenn sie über so viele Jahre so sehr wie Sie im Geschirr gestanden sind. Sie arbeiten aber schon seit zwei Jahren in einem Hospiz. Bauen Sie diese Tätigkeit aus oder was haben Sie für Pläne? Eggert: Wenn man in den Ruhestand geht, dann darf man zwei Dinge nicht tun: Man darf erstens nicht unvorbereitet reingehen und ihn zweitens auch nicht überorganisieren. Ich habe eine Menge Angebote bekommen: "Dann arbeite doch bei uns mit. Wenn du jetzt aufhörst, dann hast du ja Zeit." Das werde ich mir in Ruhe überlegen. Die Tätigkeit im Hospiz mache ich, weil ich die Arbeit dort für ausgesprochen wichtig halte. Menschen, die sterben, müssen besonders begleitet werden. Schon früher als Pfarrer habe ich im Umgang mit diesen Menschen die Erfahrung gemacht, dass es gar nicht so sehr die Angst vor dem Sterben ist, sondern vielmehr die Angst, alleine sterben zu müssen. Dass sich niemand darum kümmert. Daher habe ich vor zwei Jahren dem Hospiz das Angebot gemacht und darf dort mitarbeiten. Das werde ich ausbauen. Aber man hält das nicht ohne Pause unentwegt durch. Jeder ist anders, jedes Sterben vollzieht sich anders. Manchmal fällt man auch selbst in ein tiefes Loch. Man kommt da auch wieder heraus, aber das läuft ja nicht mechanisch. Die Tätigkeit hat mir wieder gezeigt, dass man das Leben vom Tod her denken muss. Das habe ich zwar immer gewusst, es gibt jedoch vieles, was wir wissen, aber im Alltag nicht so wahrnehmen. Wie viel Lebenszeit man noch hat, das weiß man nicht. Wie viele Möglichkeiten würde man ganz gerne noch wahrnehmen, zu denen man nicht gekommen ist? Von daher habe ich mich auf diese Art Ruhestand gefreut. Ich werde auch weiter Seminare und Vorlesungen in Medienhochschulen halten. Es macht mir Spaß, mit jungen Leuten zu arbeiten. Ich werde aber keine Landtagssitzungen und Bundestagssitzungen mehr verfolgen und mich auch, wie versprochen, nicht mehr zu tagespolitischen Themen öffentlich äußern. Stadler: Es gibt ein Buch, das sehr gerne verschenkt wird, wenn jemand in den Ruhestand geht. Es heißt "1000 Orte, die man gesehen haben muss, bevor man stirbt." Welchen Ort würden Sie gerne noch aufsuchen? Vermutlich gibt es noch mehrere. Eggert: Wenn man so sehr wie ich in den letzten 20 Jahren die Menschen vernachlässigt hat, die einen lieben und die man eigentlich auch liebt, dann geht es einem nur noch um die Orte, wo sich diese Menschen aufhalten. Stadler: Familie, Freunde? Eggert: Ja, natürlich! Darum, wieder einmal etwas Zeit zu haben, nachdenken zu können. Es sind nicht so sehr diese großen Landschaften, die mich reizen. Was ich liebe, ist Norwegen. Das ist gar keine Frage. Und im nächsten Jahr möchte ich gerne noch mit dem Motorrad durch Russland fahren. Stadler: Sie sind passionierter Motorradfahrer? Eggert: Ja, aber ich muss mir erst wieder eine Maschine kaufen. Stadler: Sind Sie nicht etwa ein Harley-Davidson-Fan? Eggert: Doch, ich bin Harley-Fan. Vor einigen Jahren bin ich bei 120 Stundenkilometern von meiner Harley auf der Autobahn "abgesprungen", weil sie sich hochgeschaukelt hatte. Sie hat es nicht überlebt, ich habe es überlebt und finde das auch sehr angemessen. Aber das ist etwas, das mich immer noch reizt, ja. Stadler: Sie haben also noch einige Touren vor sich? Eggert: Das glaube ich schon, das hoffe ich auch! Stadler: Fährt Ihre Frau mit oder machen Sie das alleine? Eggert: Meine Frau ist nie gerne mitgefahren. Das hängt vermutlich mit meiner Fahrkunst zusammen, wobei man das Wort "Kunst" hier wohl streichen kann. Nach diesem Unfall nehme ich sie auch nicht mehr gerne mit, denn im Allgemeinen verunglücken beim Motorradfahren bei einem solchen Unfall vor allem die Sozia tödlich. Das will ich mir gar nicht vorstellen. Sie wollte an diesem Tag eigentlich mitfahren. Ich bin froh, dass sie nicht dabei war. Stadler: Es gäbe ja auch Beiwagen. Oder ist dabei die Unfallgefahr genauso hoch? Eggert: Nein, aber es gibt eine gewisse Hochnäsigkeit der Biker gegenüber Beiwagen. Ich laufe ja auch nicht mit Laufrädern durch die Stadt. Stadler: Sie haben vier Kinder. Ist von diesen eines in der Politik oder als Pfarrer oder Pfarrerin in der Kirche gelandet? Eggert: Offensichtlich war ich sowohl als Pfarrer als auch als Politiker immer zu abschreckend, sodass keiner diesen Weg gegangen ist. Darüber bin ich auch ganz froh. Stadler: Keines der vier Kinder? Eggert: Keines der vier Kinder! Sie sind alle relativ normal geblieben diesbezüglich, auch von den Berufen her. Ich bin eigentlich sehr glücklich darüber, auch in Bezug auf die Einheit, dass sie mir nie die Frage stellen, warum ich ihre berufliche Entwicklung behindert habe, weil ich nicht mit dem Staat kooperiert habe. Zu DDR-Zeiten wurden Pfarrerskinder stark behindert. Meine Tochter hatte lauter Einsen und wir mussten darum kämpfen, dass sie das Abitur machen durfte. Studienplätze gab es nur in ganz bestimmten Bereichen. Medizin zu studieren, war nicht denkbar. Meine Tochter wollte Tierärztin werden, das war nicht denkbar. Im Grunde mussten die Kinder dafür zahlen, dass der Vater so exponiert als Pfarrer gearbeitet hat. Zu DDR-Zeiten hatte ich immer die Angst, dass eines der Kinder später vielleicht einmal sagt: "Das, was du mit dem Staat gehabt hast, das war deine Sache, aber ich habe keine vernünftige Ausbildung bekommen, ich konnte nicht den Beruf ergreifen, den ich gerne ergreifen wollte." Vielleicht hätten sie das auch nie gefragt. So wie ich sie einschätze, hätten sie mir wahrscheinlich keinen Vorwurf daraus gemacht. Aber das hat sich durch die Wende, Gott sei Dank, erledigt. Stadler: Es hat einen guten Ausgang genommen. Eggert: Ja. Stadler: Vielen Dank, Herr Eggert. Unsere Zeit ist leider schon um. Es war ein sehr spannendes Gespräch. Alles Gute für die künftigen Projekte und schön, dass Sie bei uns waren. Eggert: Herzlichen Dank! Stadler: Liebe Zuschauer, das war Heinz Eggert, CDU-Politiker im Ruhestand – aber so ruhig wird er nicht werden, wie wir gehört haben. Ich bedanke mich auch bei Ihnen für Ihr Interesse. Machen Sie es gut! Auf Wiedersehen!

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