NS-Gaue

AUFSATZSAMMLUNGEN

07-2-578 Die NS-Gaue : regionale Mittelinstanzen im zentralistischen "Führerstaat" / hrsg. von Jürgen John ; Horst Möller ; Thomas Schaarschmidt. - München : Oldenbourg, 2007. - 483 S. : Ill., gr. Darst., Kt. : 24 cm. - (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte : Sondernummer). - ISBN 978-3-486-58086-0 : EUR 69.80 [9419]

Der Begriff „NS-Gaue“ im Haupttitel des Buches wirkt auf den ersten Blick unverfänglich, auf den zweiten aber nicht mehr, denn spätestens dann stellt sich die Frage, was mit NS-Gauen eigentlich genau gemeint ist. Die Her- ausgeber bzw. Autoren des anzuzeigenden Sammelbandes wollen mit dem Begriff NS-Gaue offenkundig den Versuch unternehmen, eine Vielzahl von komplizierten, sich teils überlappenden und überschneidenden organisatori- schen und (staats)rechtlichen Sachverhalten terminologisch zu bündeln und auf einen Nenner zu bringen. Der war zunächst eine höhere regionale Gliederung („Hoheitsgebiet“) der NSDAP, die im Zuschnitt in etwa den Reichstagswahlkreisen im Altreich entsprach. Die Gebietserweiterungen 1938 (Österreich, Sudetenland) und 1939 (Ostgebiete) wurden als soge- nannte Reichsgaue organisiert, in denen der NSDAP-Parteigau und der staatliche Verwaltungsbezirk räumlich identisch waren und in aller Regel auch in Personalunion vom und Reichstatthalter geführt wurden. Das Reichsgaukonstrukt kam im Altreich de jure in der Westmark und de facto auch in zur Anwendung. 1942 schließlich wurden sämtliche NSDAP-Gaue zugleich Reichsverteidigungsbezirke, ferner entsprachen die Gaugebiete mehrheitlich auch den Wirtschaftsbezirken. Für die drei räum- lich identischen, aber inhaltlich wohl zu unterscheidenden Gebilde Partei- gau, als staatlicher Verwaltungsbezirk und Reichsverteidigungs- ist „NS-Gau“ als umfassendes Kürzel keine schlechte Idee, sofern es denn tatsächlich nur in diesem umfassenden Sinne verwendet wird. Der anzuzeigende, die Ergebnisse einer im September 2005 im Institut für Zeitgeschichte in Berlin durchgeführten Konferenz dokumentierende Band widmet sich in einem ersten Teil einigen Grundfragen. Hier werden unter anderem erörtert: Regionalität im Nationalsozialismus – Kategorien, Begriff, Forschungsstand (Thomas Schaarschmidt), Die Gaue im NS-System (Jür- gen John) und „Neue Staatlichkeit“ – Überlegungen zu einer systemati- schen Theorie des NS-Herrschaftssystems und ihre Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue (Rüdiger Hachtmann). In einem zweiten Teil wer- den einige auf Gauebene besonders wirksame Politikfelder beleuchtet wie etwa Rassenpolitik und „Euthanasie“ sowie Wissenschaft, Bildung, Kultur. Den „NS-Gauen“ im einzelnen widmet sich der dritte Abschnitt mit dem Un- tertitel Gauverwaltung und Gau-Porträts. Die Gauverwaltung behandelt Ar- min Nolzen unter der Fragestellung Die Gaue als Verwaltungseinheiten der NSDAP: Entwicklungen und Tendenzen in der NS-Zeit und Gerhard Kratzsch mit der Darstellung des Instituts der Gauwirtschaftsberaters. Man hätte im Zusammenhang besser von der Verwaltung der Gaue gesprochen, denn der Begriff „Gauverwaltung“ findet sich amtlich vorwiegend im Hinblick auf die innere Verwaltung und Organisation der Reichsgaue sowie ferner als Kompositum Gauselbstverwaltung ebenfalls nur in den Reichsgauen. Die sich anschließenden Gau-Porträts spannen einen weiten Bogen. Als Gaue des „Altreichs“ werden die Gaue Süd-Hannover-Braunschweig, Ost- hannover und Weser-Ems von Detlef Schmiechen-Ackermann als Fallbei- spiele für eine Typologie von Gauen und Gauleitern untersucht. Walter Ziegler stellt den Fall Bayern - ein Land, sechs Gaue vor, Kristina Hübener und Wolfgang Rose unterziehen den brandenburgischen NS-Gau einer Be- standsaufnahme, Kyra T. Inachin beleuchtet den Gau Pommern unter dem Aspekt einer preußischen Provinz als NS-Gau (es gab nur wenige Fälle in Preußen, in denen die Provinz zugleich dem Parteigau entsprach). Wolf- gang Stelbrink beschreibt unter der Frage Provinz oder Gau? den „be- schwerlichen Weg“ der beiden westfälischen NS-Gaue „zu regionalen Funk- tionsinstanzen des NS-Staates“ Thomas Müller stellt Zusammenhänge zwi- schen dem Gau Köln-Aachen und der Grenzlandpolitik im Nordwesten des Reiches her. Rassen- und Bevölkerungspolitik im … Gau Rheinpfalz - Saar- pfalz - Westmark untersucht Wolfgang Freund, wobei der Aspekt des „ex- pandierenden“ Gaus zusätzlichen Reiz bietet. Die besondere Stellung des (neuen) Gaus Oberschlesien zwischen Altreich und Besatzungsgebiet be- leuchtet Ryszard Kacmarek. Dieser Beitrag schlägt dann zugleich eine Art Brücke zu den ab 1938 gebildeten Reichsgauen, die im folgenden Unterab- schnitt behandelt werden. Hier werden im einzelnen näher dargestellt: Der Reichsgau Steiermark 1938 - 1945 (Martin Moll), „Land“ und „Reichsgau“ Salzburg (1938 - 1945) (Ernst Hanisch), Expansion und regionale Herr- schaftsbildung in der ‚Ostmark’ am Beispiel des Gaues Tirol-Vorarlberg (Mi- chael Wedekind), Die Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland: Koloniale Verwaltung oder Modell für die künftige Gauverwaltung? (Dieter Pohl). Ein reichhaltiger Anhang, der auch ein Personenregister (S. 479 - 483) ein- schließt, rundet den Band ab: Forschungsliteratur und gedruckte Quellen (S. 415 - 455); Karten, Tabellen und Abbildungen (S. 456 . 474) u.a. der NSDAP-Gaue nach dem Stand von 1937 und 1942, der Landesbauern- schaften 1937, der Landesplanungsgemeinschaften 1938, Übersichten der NS-Gaue im Altreich und der Reichsgaue der „Anschlußgebiete“ ab 1938 (bei der Übersicht der Gauleiter wären genauere Amtszeiten gewiß pro- blemlos machbar gewesen), der Amtsbezirke der 1939, der Reichsverteidigungs- und Wirtschaftsbezirke 1942 (Anlage zur Verord- nung vom 16. November 1942 über die Reichsverteidigungskommissare und die Vereinheitlichung der Wirtschaftsverwaltung). So bietet die Veröf- fentlichung über die „NS-Gaue“ eine wertvolle Bestandsaufnahme bisheri- ger Forschungsergebnisse, regt zugleich aber zu weiteren einschlägigen Forschungen an. Das Spektrum der erwähnten Beiträge ist zwar breit, zeigt aber nur ein klei- nes Segment der im großen Zusammenhang der „NS-Gaue“ der potentiel- len Bearbeitung harrenden Forschungsfelder. Organisationsgeschichtlich interessant wäre – analog der sechs Gaue in Bayern – einmal die Stellung der knapp 20 Gaue in Preußen oder umgekehrt die besonderen Eigentüm- lichkeiten sich über mehrere Länder erstreckender Gaue zu untersuchen. Auch die Frage des Verhältnisses der „NS-Gaue“ zur teilweise weiterhin an den Wehrkreisen ausgerichteten Kriegswirtschaftsverwaltung wäre ein loh- nender Untersuchungsgegenstand. Joachim Lilla

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