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302 Deutschland vor 1933

4. Jüdische Publizistik und Organisationen

Bei der Suche nach den Spuren von in der jüdischen Publizistik und in jüdischen Organisationen wurden auch jene Einrichtungen berücksichtigt, die sich gezielt dem Kampf gegen den Antisemitismus gewidmet haben, auch wenn sie nicht nur von Juden getragen wurden. Zu nennen ist hier vor allem der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ mit seinen Abwehrblättern. In erster Linie werden in diesem Abschnitt die wichtigsten jüdischen Zeitungen und Publikationen besprochen. Akten und anderes Material werden – nicht zu- letzt aufgrund der Quellenlage – nur am Rande in die Darstellung mit einbezogen, denn vieles ist in der Zeit nach 1933 beschlagnahmt und/oder vernichtet worden. Daher erscheint es sinnvoll zu klären, was unter einer deutschen jüdischen Presse zu verstehen ist – auch um eine Abgrenzung zu jener Presse zu ermöglichen, die von den Nationalsozialisten als „jüdisch“ denunziert worden ist. Überlegungen zu einer solchen Abgrenzung gab es bereits vor 1933, denn die jüdische Presse erlebte in Deutschland zwischen 1920 und 1933 eine gewisse Blüte. Ludwig Holländer, führendes Mitglied des C.V. und der C.V.-Zeitung, ver- suchte 1931, Charakteristika einer deutschen jüdischen Presse herauszuarbeiten, und nannte folgende vier Merkmale: jüdische Herausgeber bzw. Verleger, jüdi- scher Redaktionsstab, Beiträge überwiegend jüdischer Publizisten, weitgehende Beschäftigung mit für Juden relevanten Themen. In einem ergänzenden fünften Punkt ging Holländer schließlich auch auf das Publikum ein und verwies auf eine vorwiegend jüdische oder zumindest eine etwa zu gleichen Teilen jüdische und nicht-jüdische Leserschaft.581 Dieser letzte Punkt erscheint jedoch problematisch, da gerade auch die C.V.-Zeitung eine monatliche Ausgabe publizierte, die sich an nichtjüdische Leser wandte. Auch jede aufklärerische Tätigkeit, der sich der C.V. oder der „Abwehrverein“ verschrieben hatten, wäre mit einem weitgehend jüdi- schen Leserkreis obsolet. Für zionistisch ausgerichtete Zeitungen traf dieser letzte Punkt allerdings zu. Insgesamt setzte sich diese von Holländer formulierte Charakteristik einer deutschen jüdischen Presse weitgehend durch und wurde auch nach 1945 wieder aufgegriffen. Margaret Edelheim-Mühsam definierte 1963 die jüdische Presse als „Zeitungen und Zeitschriften, die zur Behandlung jüdischer Angelegenheiten von Juden für Juden geschrieben und veröffentlicht werden, wenn sie auch natürlich Beiträge von Nichtjuden annehmen und von Nichtjuden, die sich dafür interessie- ren, gelesen werden.“582 Ähnliches gilt auch für jüdische Verlage, wie Susanne Ur- ban-Fahr festhält: „Jüdische Verlage geben Bücher heraus, deren Autoren sich un- ter primär innerjüdischer Sichtweise und Argumentation mit jüdischer Religion, Geschichte, Kultur, Soziologie, politischen Ereignissen usw. befassen.“583

581 Vgl. Bernstein, Emanzipation, S. 16. 582 Edelheim-Mühsam, Haltung, S. 353. Ungewöhnlicherweise klammerte Edelheim-Mühsam gerade die Jahre zwischen 1930 und 1933 in ihrer frühen Untersuchung über die Haltung der jüdischen Presse gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung gänzlich aus (vgl. ebd., S. 362); zur Dis- kussion um den Begriff „jüdische Presse“ vgl. Diehl, Presse, S. 37. 583 Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 39. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 303 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

4. Jüdische Publizistik und Organisationen 303

Diese Definition einer deutschen jüdischen Presse ist zu trennen von den Zu- schreibungen, die aufgrund antisemitischer Vorstellungen erfolgten. Beispiel hier- für ist die in Mein Kampf wiederholte Diffamierung der Frankfurter Zeitung als „jüdisch“.584 Allerdings finden sich noch nach 1933 Arbeiten, die sich der Defini- tion Holländers anschließen. Lotte Schlesinger schreibt in ihrer Dissertation aus dem Jahr 1937: „Als jüdische Presse kann man in der Regel wohl die Zeitungen bezeichnen, die ausschließlich von Juden (gelegentliche christliche Mitarbeiter ausgenommen) und bewusst nur für einen jüdischen Leserkreis geschrieben sind, der mit allen Strömungen innerhalb des Judentums und der Judenheit vertraut ist. Es sind die Zeitungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, entweder eine religiöse oder eine weltanschauliche Richtung innerhalb des Judentums zu vertre- ten, oder die sich zum unparteiischen Sprachrohr für alle jüdischen Richtungen und Gruppen gemacht haben.“585 Zahlreiche liberale und bürgerliche Blätter, die die Nationalsozialisten gerne als „jüdisch“ bezeichneten, fallen für Schlesinger ge- rade nicht darunter.586 Derartige Typisierungen lehnte Schlesinger als „laienhaft“ ab. Während der Weimarer Republik erschienen rund 120 jüdische Zeitungen, da- von waren mehr als 30 kleine Gemeindeblätter587. Eine jüdische Tageszeitung hin- gegen hat es nie gegeben.588 Die drei bedeutendsten Zeitungen waren die C.V.-Zei- tung, das Israelitische Familienblatt und die Jüdische Rundschau. Zugleich stan- den diese drei Zeitungen für wesentliche Strömungen im deutschen Judentum. Hinzu kommen etliche kleinere, aber nicht unbedingt unbedeutendere Periodika. Gerade bei ihnen stößt man jedoch auf das grundlegende Problem, dass einige nur sehr lückenhaft erhalten sind. Dies gilt insbesondere für die Jahre 1931 und 1932.

a) Aufklärungsarbeit 1925–1930 Die Rezeption von Mein Kampf begann mit einem der herausragendsten Texte, die in dieser Zeit über Hitlers Buch verfasst wurden. Er erschien in den Abwehr- blättern – Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus, dem Or- gan des bereits 1890 gegründeten Vereins, der bei aller Über- und Interkonfessio- nalität wesentlich von jüdischer Seite mitgetragen wurde.589 Seit 1919 war Georg Gothein, Mitglied der DDP und kurzzeitig Reichsminister unter Scheidemann, dessen Vorsitzender.590 Die Abwehrblätter hatten bis 1930 eine Auflage von rund 25000 Stück und wurden nicht nur verkauft, sondern auch kostenlos an Universitäten, Bibliothe- ken und andere Einrichtungen sowie an meinungsbildende Privatpersonen ver- teilt.591 Hinzu kamen aufwändige Einzelaktionen: „1927 etwa wurden 40000 Exemplare und ebensoviele Broschüren verteilt. 1929 verschickte der Verein in

584 Vgl. Hitler, Mein Kampf, S. 268. 585 Schlesinger, Zeitungen, S. 1. 586 Vgl. Schlesinger, Zeitungen, S. 1. 587 Vgl. Hecht, Deutsche Juden, S. 16; Diehl, Presse, S. 18f. 588 Vgl. Diehl, Presse, S. 30. 589 Vgl. Thalmann, Schwäche, S. 149ff. 590 Vgl. Grünberg-Kelley, Verein, S. 90ff. 591 Vgl. Suchy, Verein, S. 98; Grünberg-Kelley, Verein, S. 95. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 304 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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einer der größten Veröffentlichungs-Aktionen überhaupt 350000 Stück, hinzu kamen die Hefte für die Mitglieder. Dabei entfielen allein 10000 auf die sehr aktive Nürnberger Gruppe.“592 Es waren nicht zuletzt solche Aktionen, die den Ab- wehrverein und damit die Abwehrblätter in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten brachten. 1931 konnten nur noch sechs Ausgaben, 1932 sieben erscheinen.593 Mitte Oktober 1925 verfasste Ludwig Kaempfer in den Abwehrblättern nun eine ungewöhnlich ausführliche Besprechung des ersten Bandes von Mein Kampf. Der Schwerpunkt der Analyse lag dabei natürlich auf Hitlers Ausführungen über die Juden: Alles, was bisher von Antisemiten vorgebracht wurde, finde sich „in seinem Buche ‚Mein Kampf‘ wieder; nicht immer in gleichem Format, in dieser oder jener Nuance bizarrer, manchmal zu grotesker Lächerlichkeit gesteigert, aber man merkt klar die Quellen, aus denen die Ströme fließen und ist erstaunt – dass ein politischer Führer über seine Gegner spricht, ohne sie wirklich zu ken- nen.“594 Mit einiger Verwunderung stellte Kaempfer fest, dass Hitler als wesentli- che Quelle für seinen Antisemitismus die Protokolle der Weisen von Zion nannte, wobei Hitlers grundsätzliche Strategie offensichtlich erschien: „So hoch auf der einen Seite die ‚arische‘ Rasse in den Himmel gehoben wird, so verdammt wird auf der anderen Seite die jüdische.“ Doch Kaempfer fragte nicht nach der Funk- tion des Antisemitismus, sondern versuchte, mit Argumenten, Tabellen und histo- rischen Beispielen die Unsinnigkeit von Hitlers Darlegungen zu beweisen. Ent- sprechend gelassen nimmt sich der Schluss des Textes aus: „Man legt Hitlers Buch mit einem Gefühl der Befriedigung beiseite: Solange die völkische Bewegung keine anderen Führer an ihre Spitze zu stellen weiß, solange werden noch manche Wasser ins Meer fließen, bis sie im Land der Dichter und Denker siegen wird.“ Trotz solcher Urteile war der Text Kaempfers eine der gelungensten Repliken auf Hitlers Antisemitismus. Er übertraf in seiner Mischung aus kluger Argumentation und sarkastischer Eloquenz vieles, was danach geschrieben wurde.595 Im Gegensatz zu den Abwehrblättern interessierte sich die C.V.-Zeitung nach dem Erscheinen von Mein Kampf nicht allzu sehr für das Buch. Sie bildete das zentrale jüdische Publikationsorgan gegen den Antisemitismus und erschien im Philo-Verlag des „Central-Vereins deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens e.V.“, der wiederum insofern eine besondere Rolle in der jüdischen Verlagsland- schaft spielte, als ein wichtiger Teil seiner über 150 Publikationen sich mit Antise- mitismus und Rassismus auseinander setzte.596 Die enge Verknüpfung zwischen Zeitung, Verein und Verlag zeigt sich beispielhaft an der Person Ludwig Hollän- ders, der von 1908 bis 1933 Direktor des C.V., von 1919 bis 1922 Leiter des Philo- Verlages und von 1922 bis 1933 Hauptschriftleiter der C.V.-Zeitung war.597

592 Grünberg-Kelley, Verein, S. 95f. 593 Vgl. Suchy, Verein, S. 92. Verschärft wurde die finanzielle Lage vor allem dadurch, dass die Ab- wehrblätter aus Gründen der Unabhängigkeit keine Inserate schalteten (vgl. Grünberg-Kelley, Verein, S. 95f.). 594 Abwehrblätter, 35. Jg., Nr. 19/20, 20. 10. 1925. Alle weiteren Zitate aus dieser Ausgabe. 595 Vgl. Suchy, Verein, S. 96f. In der folgenden Novemberausgabe beschäftigte sich Kaempfer noch einmal mit dem von Hitler kritisierten „Objektivitätsfimmel“ (vgl. Abwehrblätter, 35. Jg., Nr. 20/ 22, 20. 11. 1925). 596 Genauere Zahlenangaben bei: Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 119. 597 Vgl. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 67 bzw. 71. Darüber hinaus war er auch außerhalb des C.V. mit 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 305 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

4. Jüdische Publizistik und Organisationen 305

Rezeption und Wirkung der Schriften des Philo-Verlages lassen sich nur vage bestimmen598, was insofern von Bedeutung ist, als die Aufklärungstätigkeit des C.V. seit den frühen 1930er Jahren von anderen jüdischen Organisationen zuneh- mend kritisiert wurde. Im Gegensatz dazu lässt sich zum Flaggschiff des C.V., der C.V.-Zeitung, Genaueres sagen. Sie war mit einer Auflage zwischen 55000 und 73000 Stück in den Jahren 1926 bis 1933 die größte jüdische Zeitung in Deutsch- land.599 Hinzu kamen eine monatliche Sonderausgabe für Nichtjuden600 sowie die von Julius Goldstein 1925 gegründete Zeitschrift Der Morgen mit der vergleichs- weise geringen Auflagenzahl von nicht einmal 3000 Stück601, die als Pendant zu katholischen und evangelischen Journalen dieser Art gedacht war.602 Obwohl die C.V.-Zeitung Hitlers Tätigkeit seit seiner Entlassung aus der Haft Ende 1924 verfolgte, war die Aufmerksamkeit, die Mein Kampf geschenkt wurde, gering. Selbst in dem Bericht über die Auseinandersetzungen im völkischen Lager im September 1925, bei denen auch Hitlers Buch eine wesentliche Rolle spielte, wurde es noch nicht erwähnt.603 Erst einige Tage später griff man die herbe Kritik der Berliner konservativ-monarchistischen Kreuz-Zeitung an Mein Kampf auf und gab einige Auszüge davon wieder.604 Das Versprechen, später noch einmal auf das Buch zurückzukommen, wurde allerdings nicht eingelöst. Auch der zweite Band von Mein Kampf blieb bei seinem Erscheinen unbeachtet. Die Ursache dafür mag darin liegen, dass man erst ab 1927 die Nationalsozialis- ten, die anderen antisemitischen Gruppen gegenüber zunehmend an Gewicht ge- wannen, als eigenständige Bedrohung wahrnahm.605 Wurde bis dahin in der C.V.- Zeitung über alle völkischen und antisemitischen Gruppierungen und Parteien berichtet, so setzte nun eine Konzentration auf die Nationalsozialisten ein.606 Etwas anders verlief die Entwicklung in den Abwehrblättern. Den Besprechun- gen des Buches im Jahr 1925 folgte zwar nichts Gleichwertiges mehr, doch ganz still war es in den Abwehrblättern um Hitlers Buch nicht geworden. Es fanden sich weiterhin vereinzelte Hinweise darauf wie in der Rede des evangelischen Theologen Otto Baumgarten auf der Hauptversammlung des Vereins im Frühjahr 1926.607 Im Februar 1927 erwachte das Interesse erneut. Es wurde auf die wider- sprüchlichen Aussagen Hitlers über jüdisch-christliche Mischehen verwiesen608, vor allem jedoch der eben erschienene zweite Band von Mein Kampf bespro- chen.609 Die Verwunderung darüber, dass Hitlers Absage an den Verstand und seine Betonung des Gefühls bisher so wenig Widerspruch erfahren hatten, führte

Vorträgen vor Führungsschichten anderer Vereinigungen tätig (vgl. Das Reichsbanner, Nr. 16, 20. 4. 1929). 598 Vgl. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 17. 599 Vgl. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 31. Leicht abweichende Zahlen in: Bernstein, Emanzipation, S. 39 (dort auch zur Leserschaft der C.V.-Zeitung); vgl. auch: Diehl, Presse, S. 187ff. 600 Vgl. Bernstein, Emanzipation, S. 41f. 601 Vgl. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 32. 602 Vgl. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 156. 603 Vgl. C.V.-Zeitung, IV. Jg., Nr. 40, 2. 10. 1925. 604 Vgl. C.V.-Zeitung, IV. Jg., Nr. 41, 9. 10. 1925. 605 Vgl. Bernstein, Emanzipation, S. 91ff. 606 Vgl. Hecht, Deutsche Juden, S. 20. 607 Vgl. Abwehrblätter, 36. Jg., Nr. 5/6, 18. 3. 1926. 608 Vgl. Abwehrblätter, 37. Jg., Nr. 3/4, 21. 2. 1927. 609 Vgl. Abwehrblätter, 37. Jg., Nr. 3/4, 21. 2. 1927 . 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 306 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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zu der nüchternen Erkenntnis: „Eine ernsthafte Polemik ist einem Hitler gegen- über, nachdem er dem Verstand den Krieg erklärt hat, gewiss nicht mehr am Platze.“610 Neben der Eloquenz Kaempfers in der Auseinandersetzung mit dem ersten Band wirkte die Aneinanderreihung von Zitaten aus dem zweiten Band nun allerdings beinahe hilflos. Der Artikel schloss mit dem Satz: „Die hier veranstal- tete Blütenlese aus der neuesten Hitler’schen Veröffentlichung sei der Beachtung der deutschen Jugend, aus der Hitler bisher namhaften Zulauf erfahren hat, sowie der Beachtung ihrer Lehrer und Berater auf das Dringendste empfohlen.“611 In den nachfolgenden Jahren finden sich Hinweise auf Mein Kampf wieder sel- tener, was für die Abwehrblätter ebenso gilt wie für die C.V.-Zeitung und alle an- deren jüdischen Publikationen, da die Auseinandersetzung mit dem Antisemitis- mus von Friedhofsschändungen, Übergriffen u. ä. beherrscht wurde. Diese Situa- tion änderte sich erst 1928/29, als der C.V. begann, sich deutlicher im politischen Kampf zu artikulieren. So wurde zu den Reichstagswahlen 1928 im Philo-Verlag erstmals ein Handbuch über Tatsachen zur Judenfrage herausgegeben.612 Es er- schien bis Anfang 1933 in sieben Auflagen und damit in einer Stückzahl von bei- nahe 30000 Exemplaren.613 Mein Kampf findet darin allerdings ebenso wie der Nationalsozialismus und Hitler selbst kaum Erwähnung.614 Etwas anders gestal- tet hingegen war die zur Wahl im September 1930 vom C.V. verbreitete Broschüre Hitler-Deutschland! Wahlen 1930, in der vor allem Beispiele für die antisemitische Hetze der Nationalsozialisten in Wort und Bild gebracht wurden. Darunter be- fand sich auch die Stelle aus Hitlers Mein Kampf über die jüdischen „Schmarot- zer“ und „Bazillen“.615 Ermöglicht wurden solche Aktionen durch die Errichtung eines formal unab- hängigen, informell jedoch eng mit dem C.V. verbundenen Informations- und Propagandabüros im Spätsommer 1929 in der Berliner Wilhelmstraße, das daher als „Büro Wilhelmstraße“ in die Literatur einging. Zwei Überlegungen standen hinter dieser Konstruktion: Zum einen konnten damit Geldgeber angesprochen werden, die sich bisher nicht bereit gefunden hatten, den C.V. direkt zu unterstüt- zen, zum anderen sollte verhindert werden, dass die Arbeit gegen die Nationalso- zialisten sofort mit dem C.V. in Verbindung gebracht und damit von der Öffent- lichkeit als „jüdische Mache“ abgetan wurde.616 Vertretern der demokratischen Parteien und befreundeten Organisationen war der Zusammenhang allerdings klar. Ihnen wurde auch der Zugang zum entstehenden Archiv gewährt und dessen Materialien zur Verfügung gestellt.617

610 Abwehrblätter, 37. Jg., Nr. 3/4, 21. 2. 1927. 611 Abwehrblätter, 37. Jg., Nr. 3/4, 21. 2. 1927. 612 Vgl. C.V.-Zeitung, VII. Jg., Nr. 21, 25. 5. 1928. Das Handbuch trug den Haupttitel Anti-Anti. 613 Vgl. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 114; Der Israelit, 73. Jg., Nr. 30, 21. 7. 1931. 614 Thalmann vermutet als Autor bzw. Gestalter des Kompendiums, das sich mit allen gängigen anti- semitischen Vorwürfen und Vorurteilen auseinander setzt, den evangelischen Pastor Emil Felden, der es jedoch vorgezogen hätte, anonym bleiben zu wollen (vgl. Thalmann, Kulturprotestantis- mus, S. 152f.; Gyßling, Mein Leben, S. 20). Felden war neben Otto Baumgarten einer der wenigen christlichen Theologen, die auch Mitglieder im „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“ waren. 615 Central-Verein, Hitler-Deutschland!, S. 6. 616 Vgl. Paucker, Abwehrkampf, S. 100ff. 617 Vgl. Schreiben des C.V. an den ADGB vom 7. 1. 1931, in: FES Bonn, Archiv, ADGB, NB 64; 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 307 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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Neben diesen politischen Stellungnahmen wurden in der C.V.-Zeitung bald nicht mehr nur nationalsozialistische Übergriffe und Ausschreitungen angepran- gert, sondern in einer Reihe von Artikeln die „Grundlagen“ des Nationalsozialis- mus wissenschaftlich betrachtet.618 Dabei interessierte weiterhin vor allem das politische Programm der Partei, das ebenso einer Analyse unterzogen wurde wie das Agrar- und das Wirtschaftsprogramm.619 Immer wieder wurde versucht, anti- semitische Behauptungen aus nationalsozialistischen Zeitungen zu widerlegen620, wobei allerdings Mein Kampf nie erwähnt wurde. Selbst ein mehrseitiger Artikel über den „politischen Charakter des Nationalsozialismus“ ging auf Mein Kampf mit keinem Wort ein.621 Auch nach außen hin war die Aufklärungsarbeit des C.V. vor allem wissen- schaftlich ausgerichtet. Im Frühjahr 1929 hielt Ludwig Holländer vor Führern des Reichsbanners einen Vortrag über „Wesen, Entwicklung und Ideenwelt der völki- schen Bewegung“.622 Ausgehend von der These, dass es „zweifellos auch eine große Menge ehrenwerter und ehrlicher, sich völkischer Gedankengänge bedie- nender Menschen“ gebe, wurde der Effekt aufklärerischer Arbeit sehr hoch ver- anschlagt. Im Rückgriff auf die Französische Revolution, Gobineau und Hegel untersuchte er den Einfluss der Romantik auf die völkischen Vorstellungen. Die Bedeutung Hitlers für die völkische Ideenwelt wurde von Holländer offenbar verkannt, wenn er zu seinen Reden aus der Zeit vor 1924 meinte, die Menschen „gaben Hitler recht, weil sie die Zusammenhänge nicht verstanden.“ Gerade diese versuchte Holländer in der Folge aufzudecken und forderte schließlich: „Wir müssen Affekte durch Affekte verdrängen und in der Bevölkerung eine andere Seelenstimmung erregen. [...] Wir müssen durch Kleinarbeit von Mensch zu Mensch diese Zusammenhänge enthüllen, sonst wird die Romantik siegen, die da glaubt, dass an dem Ideal von Blut und Eisen die Welt genesen könne. Darum Ver- tiefung dieser Erkenntnisse, und dann zur Tat durch den einzelnen Menschen, der sich alleine befreien kann.“ Der aufklärerische Standpunkt wurde selbst durch die zuvor formulierte Einsicht in die enorme Bedeutung des Emotionalen in der na- tionalsozialistischen Ideologie und Propaganda nicht in Frage gestellt. Dieser wis- senschaftlich-aufklärerische Ansatz blieb in den nachfolgenden Jahren zentral und wurde erst ab 1932 zurückgedrängt. Die Aufklärungsarbeit richtete sich dementsprechend nicht gegen die Auslas- sungen der „Radau“-Antisemiten, sondern gegen die Thesen des „wissenschaftli- chen“ Rassismus. Im Jahr 1926 beschäftigten sich die Autoren des Philo-Verlages daher nicht mit Hitlers Buch, sondern mit anderen völkischen Publikationen. K. Müller setzte sich in seiner Broschüre über die Völkische Weltanschauung mit zwei Schriften von Hermann Meyer auseinander, die 1925 im völkischen Münche-

Paucker, Abwehrkampf, S. 113. Teile der Aktenbestände des C.V. wurden in einem Moskauer Son- derarchiv aufgefunden (vgl. Hecht, Deutsche Juden, S. 20). 618 Vgl. C.V.-Zeitung, VIII. Jg., Nr. 9, 1. 3. 1929. 619 Vgl. C.V.-Zeitung, VIII. Jg., Nr. 28, 12. 7. 1929; Nr. 37, 13. 9. 1929; IX. Jg., Nr. 11, 14. 3. 1930. 620 Vgl. etwa: C.V.-Zeitung, IX. Jg., Nr. 12, 21. 3. 1930 bzw. Nr. 34, 22. 8. 1930. 621 Vgl. C.V.-Zeitung, IX. Jg., Nr. 31, 1. 8. 1930. 622 Vgl. Das Reichsbanner, Nr. 16, 20. 4. 1929. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 308 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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ner Verlag von Julius Lehmann erschienen waren.623 Ganz im Bestreben, Meyers Ansichten wissenschaftlich zu widerlegen, referierte Müller zunächst über viele Seiten den Inhalt der beiden Schriften, um dann in einem zweiten Teil seine „Kri- tik dieses völkischen Standpunktes“ zu formulieren. Hitler und die Nationalso- zialisten wurden dabei nicht einmal erwähnt. Der Verlag von Julius Lehmann wurde für die Autoren, die im Philo-Verlag versuchten aufklärerisch zu wirken, zu einem wesentlichen Bezugspunkt, wie auch Julius Schäffer in seiner ebenfalls 1926 erschienenen Schrift Die Zerstörung des Volksgedankens durch den Rassenwahn konstatierte: „Aus der Rassenreini- gung, die der Antisemitismus wollte, muss eine heillose Selbstzerfleischung des deutschen Volkes werden, wenn die neue Rassenlehre Fuß fasst, deren Sprachrohr der Lehmann’sche Verlag und deren Wortführer politische Professoren und Lite- raten sind.“624 Letztere wurden als die wirklichen Gegner angesehen und nicht die „praktischen“ Antisemiten vom Schlage Hitlers. Daher interessierte Schäffer Hit- lers Buch nicht, sondern er verwies auf die Väter des Rassismus, Gobineau und Chamberlain, und diskutierte ausführlich Hans Günthers Schrift Rassenkunde des deutschen Volkes.625 Ähnlich wie Müller ging es auch Schäffer um eine Prü- fung der „wissenschaftlichen Legitimation“ des Rassismus. Selbst im abschließen- den Teil dieser Schrift, der sich mit den Gefahren des Rassismus und Antisemitis- mus für die deutsche Gesellschaft beschäftigte, sucht man Verweise auf Hitler oder andere „Radau“-Antisemiten vergeblich. In anderen Schriften dieser Jahre lagen die Verhältnisse ähnlich. Julius Gold- stein beschäftigte sich 1927 vor allem mit dem bürgerlichen Antisemitismus, wo- hingenen Hitler nur am Rande erwähnt wurde626, und Ludwig Holländers Bro- schüre Deutsch-Jüdische Probleme der Gegenwart aus dem Jahr 1929 nannte we- der Hitler noch den Nationalsozialismus. So wurden Personen wie Wilhelm Sta- pel und noch mehr die völkische „wissenschaftliche“ Leitfigur Hans Günther mit seiner Rassenkunde des deutschen Volkes627 zu Fixpunkten in der Aufklärungsar- beit des Philo-Verlages. Hitlers Mein Kampf hingegen fand keine Beachtung. Dies überrascht um so mehr, als sich die C.V.-Zeitung seit Ende der 1920er Jahre durchgehend mit dem Parteiprogramm der NSDAP beschäftigte: „Die ständige Kontrolle der nationalsozialistischen Tätigkeit in Theorie und Praxis fand ihren publizistischen Niederschlag in der laufenden Beschäftigung der ‚C.V.-Zeitung‘ mit dem Parteiprogramm der NSDAP. Dabei war mitunter aus taktischen Moti- ven das Bestreben einiger Autoren unverkennbar, nicht bereits dessen Denkansatz zu verwerfen, sondern erst die praktischen Folgerungen, die die Nationalsozialis- ten aus der Bestandsaufnahme der politischen und wirtschaftlichen Situation der Zeit zogen und in Politik umzusetzen versuchten, als illusionär, verderblich usw. zu bezeichnen.“628

623 Eine davon, Der deutsche Mensch, fand ihren Weg auch in Hitlers Bibliothek (vgl. Gassert/Mallert, Hitler Library, S. 205f.). 624 Schäffer, Zerstörung, S. 5. 625 Vgl. Schäffer, Zerstörung, S. 12ff. 626 Vgl. Goldstein, Volks-Idee, S. 55. 627 Julius Lehmann schenkte von 1923 bis 1933 Hitler von Günthers Buch immer wieder ein Exem- plar der jeweiligen Neuauflage (vgl. Gassert/Mattern, Hitler Library, S. 125f.). 628 Vgl. Bernstein, Emanzipation, S. 119. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 309 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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Ergänzt und erweitert wurde der wissenschaftliche Ansatz im Jahr 1930 durch zahlreiche Versuche einer psychologischen Analyse des Rassismus und Antisemi- tismus.629 Erich Kuttner etwa ging in seiner in diesem Jahr herausgegebenen Schrift über die Pathologie des Rassenantisemitismus daran, die psychologischen Hintergründe rassenantisemitischer Einstellungen zu beleuchten. Dem „gesun- den“ Rassismus brachte er dabei durchaus Verständnis entgegen.630 Die überstei- gerte Form führte er auf verschiedene Neurosen und Charakterzüge zurück und kam zu dem Schluss: „Gegen Neurosen kennt die heutige Wissenschaft nur ein Mittel: Man muss sie dem Patienten bewusst machen. [...] Will man ihn auf den Weg des harmonischen Seins bringen, so hilft nur die rückhaltlose Enthüllung sei- nes wirklichen geistigen Zustandes.“631 Der Antisemitismus wurde als Krankheit gedeutet, Antisemiten erschienen als Patienten, deren Heilung auf wissenschaftli- chem Wege und mittels Aufklärung zu bewerkstelligen sei. Im Widerspruch dazu stand allerdings, dass Kuttner bei seinen Analysen bewusst auf den „bei uns übli- chen wichtigtuerischen Ballast von Zitaten, Dokumenten, Belegstellen etc.“632 verzichtete. Hitler kam nur am Rande vor633, Mein Kampf wurde nicht erwähnt. Grund dafür mag Kuttners letztlich pessimistische Einschätzung gewesen sein, dass aufklärerisches Bemühen erfolglos sein werde „bei denen, die aus ihrer Neu- rose Nutzen ziehen, die sie zum Mittel der Beherrschung ihrer Umwelt zu ver- werten wissen.“634 Ähnliches ist für die Schrift Rassenprobleme von Franz Oppenheimer festzu- stellen, der im Ton zwar weniger sachlich verfährt als Kuttner, es andererseits jedoch noch viel deutlicher vermeidet, konkrete Bezüge oder Namen zu nennen (sieht man von den Vätern des Antisemitismus wie Gobineau, Chamberlain und Dühring ab). Er bemerkte lediglich: „Die Leutchen, mit denen wir uns hier aus- einander zu setzen haben, machen den Unterschied nicht, den wir zu machen und sorgfältig festzuhalten haben, den zwischen dem guten Nationalgefühl und dem bösen Nationalismus.“635 Der wissenschaftlich-aufklärerische Ansatz ist bei solchen Arbeiten überdeut- lich. Jede Auseinandersetzung mit der antisemitischen Literatur neueren Datums wurde unterlassen. Freilich war dieses Charakteristikum keineswegs auf Publika- tionen des liberal-emanzipatorischen Judentums beschränkt. So veröffentlichte der „Jüdische Verlag“ – in seiner Ausrichtung das zionistische Pendant zum Philo-Verlag636 – schon 1926 eine Studie über den Antisemitismus als Gruppen- erscheinung. Deren Autor F. Bernstein war bemüht, den Antisemitismus in eine umfassendere Analyse von (Gruppen-)Feindschaften einzubetten, verzichtete da- bei jedoch weitgehend auf eine Auseinandersetzung mit antisemitischen Schriften

629 Ähnlich Versuche gab es auch von nicht-jüdischer Seite, etwa in der Schrift Antisemitismus. Ver- such einer psychoanalytischen Lösung des Problems von Fritz Miroslaw Feller aus dem Jahr 1931 (vgl. Abwehrblätter, 41. Jg., Nr. 4/5, Juni/Juli 1931). Auch bei Feller fehlt jede Auseinandersetzung mit antisemitischen oder nationalsozialistischen Quellen. 630 Vgl. Kuttner, Pathologie, S. 9. 631 Kuttner, Pathologie, S. 31. 632 Kuttner, Pathologie, S. 4. 633 Vgl. Kuttner, Pathologie, S. 22. 634 Kuttner, Pathologie, S. 31. 635 Oppenheimer, Rassenprobleme, S. 4f. 636 Vgl. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 81f. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 310 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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oder Quellen. Selbst bei der Diskussion des „Rassenantisemitismus“ fielen keine Namen. Seine zionistische Haltung wurde in seinen Schlussfolgerungen, in denen er Aufklärungsarbeit als grundsätzlich zwecklos erachtete, deutlich: „Es ist sogar aussichtslos, gegen antisemitische Vorwürfe und Beschuldigungen zu argumentie- ren und ihre Grundlosigkeit darzutun; denn nicht auf ihnen beruht die Feind- schaft, sondern sie bilden nur ihren Äußerungsvorwand.“637

b) Allgemeine jüdische Publizistik bis 1933 Waren damit bis 1930 in jüdischen Schriften, die sich umfassender mit dem Anti- semitismus und dem Rassismus beschäftigten, Hitler und die Nationalsozialisten nur als radikale Unruhestifter, nicht jedoch als Gegenstand tiefer gehender Analy- sen präsent, so galt dies noch viel mehr für jüdische Zeitungen und Zeitschriften wie das Israelitische Familienblatt. Es war mit einer Auflage von 24000 bis 33000 Stück zwischen 1926 und 1931 die zweitgrößte jüdische Zeitung in Deutsch- land.638 1899 in Hamburg gegründet, sah es sich als Unterhaltungsblatt für die Familie und war daher nicht in erster Linie auf politische Berichterstattung aus- gerichtet.639 Bis 1930 war das Interesse an den Nationalsozialisten entsprechend gering, erst im Laufe dieses Jahres tauchten vermehrt Berichte über deren Aktivi- täten und Übergriffe auf.640 Fricks Ernennung zum Minister in Thüringen im Frühjahr 1930 war für das Israelitische Familienblatt Anlass, sich zunehmend mit der Abwehr des Antisemitismus zu befassen641 und damit von der eher unpoliti- schen Berichterstattung abzugehen.642 Vor den Wahlen am 14. September 1930 thematisierte es wiederholt das Verhältnis verschiedener, vor allem liberaler und rechter Parteien zum Antisemitismus, wobei jedoch die Nationalsozialisten aus- gespart blieben. Später wurden zwar verschiedentlich nationalsozialistische Bü- cher besprochen643, aber zentrale Schriften wie Mein Kampf oder Rosenbergs My- thus des 20. Jahrhunderts kamen dabei nicht vor. Dies blieb bis zu Hitlers Macht- übernahme so. Der Israelit, ein in Frankfurt herausgegebenes „Centralorgan für das orthodoxe Judentum“, interessierte sich bis Mitte 1930 kaum für den Nationalsozialismus. Er fand höchstens in Zusammenhang mit Friedhofsschändungen oder Gerichts- verfahren Erwähnung.644 Dies entsprach zunächst der grundsätzlichen Konzen- tration der Zeitung auf innerjüdische und religiöse Fragen, änderte sich im Vorfeld zu den Wahlen am 14. September 1930 jedoch zunehmend, wobei das Hauptge- wicht auf Tagesaktualitäten gelegt wurde. Im April 1931 wurde näher auf Fried-

637 Bernstein, Antisemitismus, S. 221. Vgl. Germania, 57. Jg., Ausgabe A, Nr. 32, 20. 1. 1927. 638 Vgl. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 32; Diehl, Presse, S. 209ff. 639 Vgl. Hecht, Deutsche Juden, S. 17. 640 Vgl. Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 32. Jg., Nr. 4, 23. 1. 1930. 641 Vgl. Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 32. Jg., Nr. 5, 30. 1. 1930. 642 Vgl. Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 32. Jg., Nr. 13, 27. 3. 1930. 643 Vgl. etwa die Besprechung von Hans Geisows So wurde ich Nationalsozialist, in: Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 33. Jg., Nr. 16, 16. 4. 1931. 644 Vgl. etwa Der Israelit, 71. Jg., Nr. 18, 1. 5. 1930. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 311 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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hofsschändungen eingegangen.645 Dem folgten immer öfter Berichte und Artikel über den Nationalsozialismus, in denen nun auch auf dessen wesentliche Schriften hingewiesen wurde. Im Zusammenhang mit einer empörten Kritik an den Auslas- sungen des evangelischen Bischofs Rendtorff wurde festgehalten: „Die Werke Hitlers und Rosenbergs und die Taten derer, die in jenen Werken ihre Bibel und das ‚Neueste Testament‘ verehren, sehen nach allem anderen eher aus als nach ‚Brudergedanken‘.“646 Der aufsteigende Antisemitismus und die Nationalsozialis- ten rückten damit immer mehr ins Zentrum des Interesses, doch blieben Hinweise auf Mein Kampf und andere nationalsozialistische Schriften die Ausnahme. In zionistischen Zeitungen und Zeitschriften war der Umgang mit dem Natio- nalsozialismus sehr unterschiedlich. In manchen bestand generell ein sehr geringes Interesse an den Vorgängen in Deutschland; es herrschten Berichte aus Palästina und aus der zionistischen Bewegung vor, wobei der Ton gegenüber Nichtzionis- ten und sogar nichtzionistischen Opfern der Nationalsozialisten zum Teil sehr rau war.647 Nach den ersten Erfolgen der NSDAP setzte ab 1929/30 in einem gewissen Ausmaß ein Umdenken ein. Die bis dahin strikte Ablehnung eines Abwehrkamp- fes gegen den Antisemitismus wurde überdacht, wenngleich parallel dazu die Bemühungen des C.V. aufgrund der „unzulänglichen Methoden und Menschen“ von der „Zionistischen Vereinigung für Deutschland“ als wirkungslos verworfen wurde.648 Die zionistische Berliner Jüdische Rundschau, das „Zentralorgan der Zionisti- schen Vereinigung für Deutschland“649 und mit einer Auflage von 10000 bis 15000 Stück zwischen 1926 und 1931 die drittgrößte jüdische und zugleich wich- tigste zionistische Zeitung in Deutschland650, nahm bis 1930 vom Nationalsozia- lismus genauso wenig Notiz wie von Hitlers Mein Kampf. Erst ab 1930 fand die NSDAP stärkere Beachtung. Gleichzeitig wurden auch etwas versöhnlichere Töne gegenüber nicht-zionistischen Juden angeschlagen, denn man erkannte, dass in der „Antisemitenbibel der Nationalsozialisten“, als die Günthers Rassenkunde des jüdischen Volkes galt, von „einer Inferiorität aller Jüdischblütigen gesprochen“ wurde.651 Verstärkt fanden sich nun auch intensivere Auseinandersetzungen mit den Wurzeln und den möglichen Folgen des nationalsozialistischen Antisemitis- mus.652 Dabei wurden – ähnlich wie im Israelitischen Familienblatt – immer wie- der Besprechungen von Büchern gebracht, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigten. Zu einer Auseinandersetzung mit den wesentlichen nationalsozia- listischen Schriften selbst ist es in der Jüdischen Rundschau jedoch bis 1933 nicht

645 Vgl. Der Israelit, 72. Jg., Nr. 15, 10. 4. 1931. 646 Der Israelit, 72. Jg., Nr. 24, 11. 6. 1931. 647 Vgl. etwa: Jüdische Rundschau, 35. Jg., Nr. 18, 4. 3. 1930. 648 Vgl. Hecht, Deutsche Juden, S. 208. 649 So Gerhard Holdheim, in: Süddeutsche Monatshefte, 27. Jg., H. 12, September 1930. 650 Vgl. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 31; Bernstein, Emanzipation, S. 25ff.; Diehl, Presse, S. 155ff. 651 Leitartikel „Es geht um die Juden“, in: Jüdische Rundschau, 35. Jg., Nr. 48, 20. 6. 1930. 652 Vgl. etwa den Artikel „Um den Nationalsozialismus“(Jüdische Rundschau, 36. Jg., Nr. 84, 30. 10. 1931) oder „Die Juden im ‚Dritten Reich‘“ (Jüdische Rundschau, 36. Jg., Nr. 94, 4. 12. 1931). Der zunehmende Erfolg der Nationalsozialisten diente der Jüdischen Rundschau aber auch dazu, ihre Forderung nach einer entschiedenen Ablehnung der offenbar aussichtslosen Integration in Deutschland zu untermauern (vgl. Hecht, Deutsche Juden, S. 207). 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 312 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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gekommen. Sogar in den wenigen Beiträgen, die eine Analyse des Nationalsozia- lismus versuchten653, wurde nicht auf Mein Kampf verwiesen. Die ebenfalls zionistische Zeitschrift Das jüdische Echo verfolgte eine andere Linie. Ausführlichere Behandlung fand der Nationalsozialismus erstmals in einem Bericht über die Zusammenstöße zwischen Hitler und Graefe/Reventlow in München am 24. Februar 1926.654 Auch danach blieb das Interesse größer als in der Jüdischen Rundschau; die Berichterstattung über nationalsozialistische Aus- schreitungen und Übergriffe nahm stetig zu655, bis schließlich ab Ende 1928 bei- nahe in jeder Ausgabe darüber zu lesen war. Auf einer analytischen Ebene setzte sich das Jüdische Echo mit dem Nationalsozialismus erstmals anlässlich der Er- nennung Fricks zum Minister in Thüringen auseinander. In einem umfangreichen Beitrag wurde festgestellt, dass „die Nationalsozialisten prinzipiell regierungsreif geworden sind. Auch an diese bittere Vorstellung werden wir Juden uns gewöh- nen müssen, so schwer sie uns fällt und so ungern wir daran glauben. Es ist dabei ein mehr als fragwürdiger Trost, dass die Suppe im Allgemeinen nicht ganz so heiß gegessen wird, wie sie gekocht wird – an der Suppe des nationalsozialistischen Programms, von einer nationalsozialistischen Verwaltung angerichtet, werden wir uns immer verbrennen.“656 Eine Auseinandersetzung mit Mein Kampf erfolgte jedoch nicht, obwohl größere Artikel zur „nationalsozialistischen Verhetzung“ oder zum „Judentum im ‚Dritten Reich‘“ immer häufiger wurden.657 Auch wenn Hitlers Buch bis zu seiner Machtübernahme nicht erwähnt wurde, so war das Jü- dische Echo eine der wenigen Zeitungen, die schon im Herbst 1932 argwöhnten, dass es Hitler um mehr als nur ein Zurückdrängen der Juden gehen könnte, näm- lich um die „physische Vernichtung“ seiner Gegner.658 Entsprechend wurde in der Ausgabe vom 17. Februar 1933 unter dem Titel „Worte Hitlers“ eine Zusammen- stellung von Äußerungen Hitlers veröffentlicht: „Es wird anlässlich der Machter- greifung Hitlers interessieren, seine Meinung zu wichtigen sittlichen Fragen zu hören. Die wörtlichen Zitate sind seiner Schrift ‚Mein Kampf‘ entnommen.“ Es folgten vier, teilweise längere Zitate aus Mein Kampf über Arier, Juden, jüdische Kultur und Zionismus.659 Zwei Ausgaben später stelle das Jüdische Echo sein Er- scheinen ein.

653 Vgl. den Artikel „Hitler und die Judenfrage“, in: Jüdische Rundschau, 36. Jg., Nr. 95, 8. 12. 1931. Der Artikel „Das deutsche Judentum und der Nationalsozialismus“ – ein Bericht über einen Vor- trag – liefert trotz seiner Kürze zum Teil interessante Analysen: „Kapitalismus und Marxismus werden [vom Nationalsozialismus] nicht als feindliche Pole auseinandergehalten, sondern vielfach identifiziert, und in beiden erscheint der Jude als Exponent eines verhassten Systems.“ (Jüdische Rundschau, 36. Jg., Nr. 95, 8. 12. 1931). Dass Hitlers Buch rezipiert worden ist, lässt sich nur ver- muten: „So interessant und wichtig die sehr ausführlichen Gedankengänge betreffend die Charak- teristik von Hitlers Persönlichkeit und Programm [...] auch sind, so kann nicht näher darauf ein- gegangen werden.“ (ebd.). 654 Vgl. Das Jüdische Echo, 13. Jg., Nr. 10, 5. 3. 1926. 655 Vgl. Das Jüdische Echo, 14. Jg., Nr. 21, 27. 5. 1927; Nr. 34, 26. 8. 1927; 15. Jg., Nr. 9, 2. 3. 1928; Nr. 13, 30. 3. 1928; Nr. 18, 5. 5. 1928; Nr. 24, 15. 6. 1928. 656 Das Jüdische Echo, 17. Jg., Nr. 4, 24. 1. 1930. 657 Vgl. Das Jüdische Echo, 17. Jg., Nr. 31, 1. 8. 1930; Nr. 38, 19. 9. 1930; 18. Jg., Nr. 6, 6. 2. 1931; Nr. 22, 29. 5. 1931. 658 Vgl. Das Jüdische Echo, 19. Jg., Nr. 43, 21. 10. 1932. 659 Das Jüdische Echo, 20. Jg., Nr. 7, 17. 2. 1933. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 313 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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In national und betont nicht-zionistisch ausgerichteten jüdischen Zeitungen lagen die Verhältnisse durchaus ähnlich. Seit Mitte 1925 setzte sich Der Schild, die seit 1921 herausgegebene Schrift des „Reichsbundes Jüdischer Frontsoldaten e.V.“, mit den Völkischen und dem Nationalsozialismus auseinander. Die Auflage der Zeitung lag 1931 bei etwa 12000 Stück.660 Der 1919 als Reaktion auf die Vor- würfe jüdischer „Drückebergerei“ im Weltkrieg gegründete „Reichsbund“ war mit bis zu 35000 Mitgliedern nach dem C.V. die zweitgrößte jüdische Organisa- tion in Deutschland, mit Schwerpunkt in Berlin.661 Der Schild legte besonderes Gewicht auf die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus662, wobei Hitlers Partei zunächst nur als eine unter vielen erwähnt wurde. Erst ab 1927 wurden die Nationalsozialisten im Schild als eine gesonderte Gruppe behandelt.663 Dabei interessierten vor allem Zusammenstöße und Ausschreitungen, die zunächst eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verzichtbar er- scheinen ließen.664 Selbst in Beiträgen über die „Völkische Außenpolitik“665 oder über die „Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei“666 fanden sich keine Hinweise auf Mein Kampf. Dies änderte sich erst mit Hitlers Machtübernahme. Wesentlich radikaler als Der Schild war die national und anti-zionistisch ausge- richtete Zeitschrift Der nationaldeutsche Jude, das „Mitteilungsblatt des Verban- des nationaldeutscher Juden e.V.“ von Max Naumann. Dennoch fanden Hitler und der Nationalsozialismus darin kaum je Erwähnung. Obwohl Bücher wie Lu- dendorffs Vernichtung der Freimaurerei oder Günthers Rassenkunde des jüdi- schen Volkes667 durchaus ausführlich besprochen wurden, fand Mein Kampf keine Beachtung. Erst 1931 setzte mit dem Artikel „Können Juden Nationalsozialisten sein?“ eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ein. Darin wurde Walter Rathenau als der geistige Vater des nationalsozialistischen Programms ge- feiert, es habe bei ihm lediglich der Antisemitismus gefehlt: „Was bleibt also von dem ganzen nationalsozialistischen Gedankensystem übrig, außer dem aus dema- gogischen Zwecken umgehängten antisemitischen Mäntelchen, dessen Faden- scheinigkeit die Gedankenarmut derer bezeugt, die durch Meuchelmord den Va- ter jenes Gedankensystems aus dem Wege räumten, um nicht durch die überra- gende Größe jener wahren Führernatur in den Schatten gestellt zu werden?“668 Die Affinität zum Nationalsozialismus wurde in der Besprechung des Buches – Wilhelm III von Weigand von Miltenberg noch deutlicher: „Ein lesenswertes Buch für jeden, der den Nationalsozialismus nicht, wie leider viele Juden unter der Führung des ‚bewährten‘ Centralvereins, nur als eine besondere

660 Vgl. Hecht, Deutsche Juden, S. 17. 661 Vgl. Dunker, Reichsbund, S. 7 und 32. 662 Vgl. Dunker, Reichsbund, S. 37. Dunker verweist auch auf Überlegungen des Reichsbundes aus 1930, ein Zwangsabonnement für Bundesmitglieder einzuführen, um den Bestand des Schildes zu sichern – was ein Licht auf die Lage der Zeitung wirft (ebd., S. 38). 663 Vgl. den Artikel „Nationalsozialistische Gewalttätigkeiten“, in: Der Schild, 6. Jg., Nr. 2, 17. 1. 1927. 664 Artikel wie „Was ist’s mit dem Hakenkreuz“ sind eher historisch oder philosophisch denn analy- tisch ausgerichtet (vgl. Der Schild, 7. Jg., Nr. 8, 20. 2. 1928). 665 Vgl. Der Schild, 8. Jg., Nr. 24, 14. 6. 1929. 666 Vgl. Der Schild, 8. Jg., Nr. 34, 23. 8. 1929. 667 Vgl. Der nationaldeutsche Jude, Nr. 7/9, August 1927 bzw. Nr. 5, Mai 1930. 668 Der nationaldeutsche Jude, Jg. 1931, Nr. 1, Januar 1931. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 314 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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Erscheinungsform des Antisemitismus ansieht, sondern in ihm das Streben – ein nur in der Form noch verirrtes Streben – nach einem neuen und besseren Deutsch- tum erkennt.“669 Die Auseinandersetzung mit der genuin nationalsozialistischen Literatur unterblieb jedoch zumindest bis Herbst 1931.670 Auch in stark regional ausgerichteten Zeitungen war das Bild grundsätzlich ähnlich, wenngleich es hier Ausnahmen gab. Die Berliner Jüdisch-liberale Zei- tung, Organ der „Vereinigung für das liberale Judentum“, beschäftigte sich ab Mitte 1927 zunehmend mit antisemitischen Vorfällen wie Friedhofs- und Synago- genschändungen und mit dem Erfolg völkischer Gruppen in der Studenten- schaft.671 Von den Nationalsozialisten nahm man seit April 1928 Notiz672, ver- stärkt seit ihren Erfolgen bei den Studenten- und Kommunalwahlen ab Mitte 1929.673 Endgültig ins Zentrum des Interesses rückten sie einmal mehr durch ihre Regierungsbeteiligung in Thüringen. In dem Artikel „Die nationalsozialistische Gefahr“, der noch vor den Reichstagswahlen im Herbst 1930 erschien, wurde Hitlers Buch intensiv analysiert. Der Antisemitismus, so hieß es darin, gehe nicht nur die Juden etwas an, sondern sollte auch ein Kriterium für das Verhalten aller Wähler sein. Und weiter: „Adolf Hitler hat ein Buch ‚Mein Kampf‘ geschrieben, in dem sich zum Beispiel dieser Satz findet: ‚Siegt der Jude mit Hilfe seines mar- xistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, so dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Aether ziehen.‘ Lassen wir ein- mal Hitlers Prophezeiung gelten. Müssten dann nicht die herrlichsten Gesänge auf die Juden angestimmt werden, die derart Gewaltiges, gleichviel, ob es er- wünscht ist oder nicht, zu vollbringen vermögen? Alle Juden Deutschlands zu- sammen wählen schätzungsweise sechs bis sieben Reichstagsabgeordnete. [...] Hätte Hitler mit den Juden Recht, sein Nationalstolz ermangelte des Objektes, auf den es [sic!] stolz sein könnte.“ Anschließend zitierte der Artikel weitere Stel- len aus Mein Kampf über die Juden, über England, Frankreich und die USA und schloss warnend: „Anders als sonst in Menschenköpfen malt sich in diesem Kopf die Welt. Soll von solchen Narren die Welt in neues, noch größeres Unheil ge- stürzt werden?“674 Solche Auseinandersetzungen mit Mein Kampf blieben aber auch in der Jüdisch-liberalen Zeitung eine Ausnahme. Auf die NSDAP und Hitler wurde zwar weiterhin hingewiesen, jedoch war das Interesse vor allem auf Über- griffe gegen Juden und auf Prozesse gegen Antisemiten gerichtet. Die in Hamburg und Regensburg herausgegebene orthodoxe Deutsche Israeli- tische Zeitung begann erst ab 1929, sich für den Nationalsozialismus zu interessie- ren und berichtete vor allem über Übergriffe von und Gerichtsverfahren gegen Nationalsozialisten. Ab 1930 setzte eine Beschäftigung mit den ideologischen

669 Der nationaldeutsche Jude, Jg. 1931, Nr. 7, Juli 1931. 670 Leider haben sich die Ausgaben zwischen September 1931 und Mai 1933 nicht erhalten. 671 Wie auch in anderen Publikationen der deutsch-jüdischen Presse beziehen sich Bezeichnungen wie „Hakenkreuzler“ keineswegs nur auf Nationalsozialisten, sondern generell auf antisemitische und völkische Personenkreise. 672 Vgl. etwa den Artikel über die Verurteilung von Josef Stolzing-Cerny wegen Beleidigung der Ju- den in Nassau, in: Jüdisch-Liberale Zeitung, 8. Jg., Nr. 14, 6. 4. 1928. 673 Vgl. den Artikel „Die völkische Welle“, in: Jüdisch-Liberale Zeitung, 9. Jg., Nr. 47, 20. 11. 1929. 674 Jüdisch-Liberale Zeitung, 10. Jg., Nr. 34, 20. 8. 1930. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 315 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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Wurzeln des Nationalsozialismus ein, etwa mit der umfangreichen Besprechung der Rassenkunde des jüdischen Volkes von Hans Günther.675 War bis dahin beson- ders Gegenstand von Berichten gewesen, so tauchte nun auch Hit- ler immer öfter auf. Auf den Erfolg der NSDAP bei den Wahlen im September 1930 reagierte die Zeitung verunsichert und mit erheblicher Verzögerung: Sie dis- kutierte am 30. Oktober 1930 die Frage: „Hören wir auf, Deutsche zu sein?“.676 Im Antisemitismus der Nationalsozialisten sah sie nicht mehr als ein Mittel zum Zweck: „Für den Nationalsozialismus ist aber der Antisemitismus nicht Endziel, sondern nur ein Hilfsmittel zur erfolgreichen Propaganda.“677 Diese Schlussfolge- rung wäre vermutlich bei einer Auseinandersetzung mit Mein Kampf so nicht ge- zogen worden. Gleiches lässt sich letztlich für jüdische Zeitschriften und Journale sagen, die sich nicht der Tagespolitik, sondern grundlegenderen politischen oder religiösen Fragen verpflichtet sahen. So fand sich in den beiden 1925 und 1926 erschienenen Sonderheften von Martin Bubers Der Jude, die sich mit den Themen „Antisemi- tismus und jüdisches Volkstum“ und „Judentum und Deutschtum“ beschäftigten, kein Hinweis auf den Nationalsozialismus oder Hitler, obwohl sich die Diskus- sion keineswegs nur im religiös-historischen Raum bewegte.678 Noch im Septem- ber 1930 erschien ein Heft der Süddeutschen Monatshefte zum Thema „Die Ju- denfrage“, an dem sich führende jüdische Persönlichkeiten ebenso wie ausgewie- sene Antisemiten beteiligten, ohne dass Hitler auch nur erwähnt wurde.679 Selbst für den im Philo-Verlag herausgegebenen Morgen gilt dieser Befund. Er beschäftigte sich von seiner Gründung 1925 an mit den Themen Antisemitismus und Rassismus. Einen ersten Höhepunkt erlebte diese Auseinandersetzung in der fünfteiligen Artikelserie von Julius Goldstein über den „Völkischen Antisemitis- mus“.680 Er exemplifizierte seine Darlegungen an Wilhelm Stapels kleiner Schrift Antisemitismus681, nationalsozialistische Texte und Schriften fanden hingegen keine Berücksichtigung. Ähnlich verhielt es sich auch mit anderen Beiträgen zum Antisemitismus. Die Auseinandersetzung erfolgte dabei – wie auch bei den Auto- ren des Philo-Verlags – mit dem „intellektuellen“ Antisemitismus und Rassismus eines Gobineau oder Chamberlain, nicht mit dem „Radau“-Antisemitismus. Hit- ler und Mein Kampf wurden im Morgen erst in einem im April 1931 erschienenen Artikel von Margarete Wiener „Vom nationalsozialistischen Wirtschaftspro- gramm“ angesprochen – doch auch hier nur am Rande.682 Zentral waren bei Wie- ners Untersuchung vielmehr die Schriften Gottried Feders. Sie kam nach einer umfangreichen und detaillierten Analyse der wirtschaftstheoretischen Vorstellun-

675 Vgl. Deutsche Israelitische Zeitung, 47. Jg., Nr. 13, 12. 6. 1930. 676 Vgl. Deutsche Israelitische Zeitung, 47. Jg., Nr. 23, 30. 10. 1930. 677 Deutsche Israelitische Zeitung, 47. Jg., Nr. 25, 27. 11. 1930 (Beilage „Die Laubhütte“). 678 Der Jude erschien Ende 1924 zuletzt als Monatsschrift und stellte nach dem fünften Sonderheft, 1928, sein Erscheinen ein. 679 Unter den jüdischen Autoren und Autorinnen befanden sich Max Naumann, Leo Baeck und Eva Reichmann-Jungmann, die nationale und antisemitische Seite war vertreten durch Autoren wie Theodor Fritsch, Ernst Reventlow und Ernst Jünger. Das Unternehmen wurde von jüdischer Seite nicht nur mit Wohlwollen betrachtet (vgl. Der Israelit, 71. Jg., Nr. 39, 26. 9. 1930). 680 Vgl. die ersten Hefte des zweiten Jahrganges ab April 1926. 681 Vgl. Der Morgen, 2. Jg., 1. H., April 1926. 682 Vgl. Wiener, Wirtschaftsprogramm, S. 45, FN 2. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 316 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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gen des Nationalsozialismus zu der pointierten Ansicht, „unter den zahlreichen Fehlern des Programms ist sein Unfehlbarkeitscharakter wohl der größte.“683 An- sonsten finden sich im Morgen nicht einmal in den umfangreichen „Streifzügen durch die wissenschaftliche und scheinwissenschaftliche Rasseliteratur“ von Friedrich Merkenschlager Hinweise auf Mein Kampf.684 Insgesamt ist festzustellen, dass die Berichterstattung über den Nationalsozia- lismus in der jüdischen Presse, die sich nicht gezielt der Abwehr des Antisemitis- mus widmete, verschiedene Phasen erkennen lässt. Ab 1927 trat der Nationalso- zialismus aus dem allgemeinen völkischen und antisemitischen Umfeld heraus, gleichzeitig wurde verstärkt über Ausschreitungen, Friedhofsschändungen u.ä. berichtet. Seit der Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten in Thüringen im Januar 1930 und verstärkt durch die zunehmenden Wahlerfolge im ganzen Reich wurden mehr und mehr grundsätzlichere Überlegungen über den Nationalsozia- lismus angestellt. Diese beruhten jedoch überwiegend auf Informationen aus zweiter Hand und auf Alltagserfahrungen mit den Nationalsozialisten. Auf die nationalsozialistischen Schriften und Publikationen wurde kaum je zurückgegrif- fen, so dass auch Mein Kampf selten Beachtung fand.

c) Aufklärungsarbeit 1930–1932 Der Wahlerfolg der Nationalsozialisten am 14. September 1930 kam für aufmerk- same Beobachter nicht überraschend, wirkte aber in seinem Ausmaß irritierend. Noch gab das Israelitische Familienblatt die Parole aus: „Keine Panikstimmung – Aufklärung tut not.“685 Und auch Ludwig Holländer forderte: „Bindet den Helm fester!“686 Doch bald schon wurde das Prinzip der Aufklärung, dem sich nicht nur der C.V. verpflichtet fühlte, in Frage gestellt. Ansätze dazu hatte es schon wesentlich früher gegeben. In das Jahr 1927 fiel die Gründung des „Jüdischen Abwehrdiens- tes“, einer zum Teil bewaffneten und von der Polizei tolerierten Selbstschutzein- richtung der Berliner Juden gegen die von Goebbels massiv forcierten Übergriffe. Getragen wurde dieser Abwehrdienst vom „Reichsbund Jüdischer Frontsolda- ten“ und von zionistischen Sportverbänden.687 Diese Einrichtungen waren es auch, die immer vehementer die körperliche Ertüchtigung der jüdischen Jugend einforderten und so das Gebot der intellektuellen Aufklärung durchbrachen. Auch auf publizistischer Ebene wurden solche Ansätze spürbar. Im Herbst 1929 wurden erste Versuche eingeleitet, eine satirische Zeitschrift zu etablieren, die vor

683 Wiener, Wirtschaftsprogramm, S. 69. Der Artikel von Wiener erschien im Übrigen auch als Son- derdruck des Philo-Verlages. 684 Vgl. Der Morgen, 8. Jg., Nr. 3, August 1932, S. 163ff. Nicht zufällig lautete der Titel von Merken- schlagers viel beachteter Schrift aus dem Jahr 1927 Götter, Helden und Günther (vgl. Cahnmann, Rassenlehre, S. 25). Merkenschlager wurde auch später noch für seine Schrift sehr gelobt: „[Als] ein einsamer, tapferer Kämpfer erhob schließlich der Kieler Privatdozent Dr. Fritz Merkenschla- ger, ein durch und durch deutscher, ja nationaler Gelehrter, in dem prächtigen kleinen Büchlein ‚Götter, Helden und Günther – eine Abwehr der Günther’schen Rassenkunde‘ seine Stimme gegen die hereinbrechende geistige Seuche.“ (Iltis, Mythus, S. 29). 685 Vgl. Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 32. Jg., Nr. 39, 25. 9. 1930. 686 C.V.-Zeitung, IX. Jg., Nr. 39, 26. 9. 1930. 687 Vgl. Hecht, Deutsche Juden, S. 197f. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 317 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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allem zur Verbreitung in der Arbeiterschaft gedacht war und als Propagandablatt gestaltet werden sollte. Die unter dem Titel Alarm herausgegebene Zeitschrift erschien zunächst als Wahlzeitung, dann halbmonatlich. Sie erreichte jedoch in dieser Phase kein allzu großes Publikum.688 Nach dem 14. September 1930 wurde die Skepsis an der bisher geübten Aufklä- rungsarbeit deutlicher formuliert. Ein anonymer Autor fasste in der C.V.-Zeitung den Umgang mit dem Nationalsozialismus sarkastisch zusammen: „Sorgfältig pflegen Wirtschaftstheoretiker die Widersprüche des Programms, um seine man- gelnde Originalität nachzuweisen, umständlich werden Ideen analysiert, auf Ideo- logieverdacht untersucht und Diskussionen eingeleitet, die auf akademischem Boden gewiss Interesse haben, in dem politischen Kampf um die Macht aber be- deutungslos sind, weil sie an dem Wesen der Hitler-Bewegung vorbeigehen.“689 Gerade die Emotionalität des Nationalsozialismus sei eben nicht mit „Gegen- ideen“ zu bekämpfen. Solche deutliche Kritik stieß jedoch auch auf heftigen Widerstand. In einem Nachwort der Schriftleitung der C.V.-Zeitung zu dem zitierten Beitrag wurde dessen Sichtweise zurückgewiesen, weil sie dem Nationalsozialismus zuviel an „innerem Gehalt“ zuschreibe. Und um dieser Position Nachdruck zu verleihen, erschien wenig später eine weitere „akademische“ Analyse der „ökonomischen und psychologischen Wurzeln des Nationalsozialismus“690, die sich in allgemei- nen Betrachtungen verlor und nicht nur jeden Bezug zur politischen Praxis, son- dern auch zur Literatur des Nationalsozialismus vermissen ließ. Es kann daher kaum davon gesprochen werden, dass sich die jüdische Abwehr bereits von 1928 an von der Widerlegung des Antisemitismus gelöst und auf An- tinazipropaganda umgestellt hatte.691 Vielmehr wurde die Aufklärungsstrategie trotz der Kritik intensiv weitergeführt, wie verschiedene Beispiele zeigen. Am Ende eines Vortrages des Psychoanalytikers Walter Schindler auf der Landesver- sammlung des C.V. in Berlin am 16. Dezember 1930, bei dem er den Antisemitis- mus als „Verschiebung des Vater- und Sohn-Komplexes auf den Juden“ deutete, wurde festgestellt: „Jede Aufklärung sei nur möglich, wenn auf der anderen Seite die Bereitschaft bestehe, Aufklärung überhaupt anzunehmen. Dass eine solche Bereitschaft bei den Antisemiten nicht bestehe, sei gewiss, aber trotzdem sei es nötig, eine Art Zentrum zwischen denjenigen zu schaffen, die bereit seien, sachli- che Aufklärung anzunehmen.“692 Noch deutlicher machte der Artikel „Zur Psy- chologie des Nationalsozialismus“ im Israelitischen Familienblatt das Dilemma der antisemitischen Aufklärungsarbeit. Man war und blieb hinsichtlich der „gebil- deten Anti- oder Asemiten“ überzeugt, dass diese, wenn sie „innerlich ehrlich“ seien, früher oder später zu einer Revision ihrer Ansichten gelangen würden: „Es ist falsch, wenn man generell sagt, Antisemiten seien nicht zu bekehren. Das hieße, an der Macht der menschlichen Kultur verzweifeln.“ Dies war außerhalb der Vorstellungskraft: „Daher berühren [sic!] uns auch die Lebensäußerungen

688 Vgl. Paucker, Abwehrkampf, S. 120. 689 C.V.-Zeitung, X. Jg., Nr. 5, 30. 1. 1931. 690 Vgl. C.V.-Zeitung, X. Jg., Nr. 11, 13. 3. 1931. 691 Vgl. Paucker, Abwehr, S. 153. 692 Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 32. Jg., Nr. 52, 24. 12. 1930. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 318 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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unserer Nationalsozialisten so traurig. Wir schauen hier in einen seelischen Ab- grund, aus dem es keinen Ausweg gibt.“ Vor dem Wüten der Nationalsozialisten, das sich den Argumenten der Vernunft und jeder Ehrlichkeit so radikal entzog, stand man fassungslos: „Ein plan- und hemmungsloses Herumirren und Toben, ein Ausschalten aller Vernunft und aller Gerechtigkeit. Die Verwirklichung des Hitlerschen Ideals, wenn sie möglich wäre, würde buchstäblich Deutschland in einigen Wochen in einen Trümmerhaufen verwandeln.“693 Die Konsequenz, dass eine auf Vernunft aufbauende Abwehr nicht ausreichend sein könnte, wurde jedoch, wenn überhaupt, erst spät gezogen, sodass die aufklä- rerisch ausgerichtete Arbeit gegen den Antisemitismus letztendlich nie aus ihrer grundsätzlichen Defensive herausgekommen ist.694 In tragischer Form wurde dies beim „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ sichtbar. Eine wesentliche Rolle in seiner Aufklärungsarbeit spielte die über Jahre hinweg bearbeitete Dokumenta- tion über die im Weltkrieg gefallenen jüdischen Deutschen, um den immer wieder vorgebrachten Vorwurf der „jüdischen Drückebergerei“ zu entkräften. Ziel war es, die Namen aller etwa 12000 Gefallenen zu publizieren. Unter großen finan- ziellen Opfern konnte dies zunächst im Schild und schließlich im November 1932, zwei Monate vor Hitlers Machtübernahme, in einem Gedenkbuch realisiert wer- den.695 Die Überreichung dieses Gedenkbuches an Hindenburg und an führende Vertreter der Reichswehr und vor allem deren anerkennende Reaktion ließen nach 1933 bei vielen Juden die Illusion entstehen, in der Reichswehr einen Schutz gegen die antisemitische Politik zu finden.696 Ebenfalls zum Zweck der Aufklärungsarbeit gab ab 1930 der Berliner „Deut- sche Volksgemeinschaftsdienst“, hinter dem sich das „Büro Wilhelmstraße“ ver- barg697, eine Loseblatt-Sammlung heraus, die als Redner- und Pressematerial erfolgreich vertrieben wurde.698 Sie war gedacht als „Materialsammlung zum Ge- brauch des Versammlungsredners oder Redakteurs, der sich mit den Nationalso- zialisten auseinander setzen will.“699 Unter verschiedenen Gesichtspunkten wur- den Zitate und Hinweise zur nationalsozialistischen Ideologie und Praxis gege- ben. Die Sammlung umfasste Texte aus verschiedenen Quellen wie Zeitungen, Parlamentsreden, Erklärungen sowie Daten zur nationalsozialistischen „Tagespo- litik“. Eine wichtige Stellung nahm dabei Mein Kampf ein. Gerade in der direkten Beschäftigung mit Hitler wurde auf das Buch zurückgegriffen. Von zionistischer Seite war die Aufklärung als Kampf gegen den Antisemitis- mus lange abgelehnt worden. In der Jüdischen Rundschau hieß es zu Beginn des Jahres 1931: „Demgegenüber ist es gänzlich bedeutungslos, wie wir Juden in Wirklichkeit sind. Und darum ist es ein Kampf gegen Windmühlen, wenn das

693 Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 33. Jg., Nr. 23, 4. 6. 1931. 694 Vgl. Suchy, Verein, S. 92f. 695 Vgl. Dunker, Reichsbund, S. 75f. 696 Vgl. Salewski, Macht, S. 56. Allerdings gab es auch zurückweisende Reaktionen in der Reichswehr (vgl. Messerschmidt, Wehrmacht (1992), S. 386). 697 Vgl. Paucker, Abwehrkampf, S. 114. 698 Die Sammlung wurde vom C.V. intensiv beworben und es konnten 1930 von ihr innerhalb von nur sechs Wochen an die 13000 Stück vertrieben werden (vgl. Hitler-Deutschland!, S. 20; Paucker, Ab- wehrkampf, S. 118f.). 699 Deutscher Volksgemeinschaftstdienst (Hg.), Anti-Nazi, Vorwort; vgl. dazu: Gyßling, Mein Leben, S. 18ff. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 319 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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liberale deutsche Judentum auch heute noch glaubt, durch Abwehr und ‚Aufklä- rung‘ den Antisemitismus bekämpfen zu können. Einzig und allein die Tatsache unserer Existenz ist die Ursache für den Antisemitismus.“700 Aus dieser Überzeu- gung zog die Jüdische Rundschau die Konsequenz, dass eine Stärkung des Juden- tums die einzige Alternative darstelle.701 Die entsprechenden Bestrebungen, eine möglichst viele Strömungen umfassende Abwehr des Antisemitismus zu entwi- ckeln, führten zwangsläufig zu einer verstärkten zionistischen Kritik an der bishe- rigen Arbeit des C.V. Die Diskussionen verliefen zum Teil heftig und verhinderten letztlich einen einheitlich organisierten Widerstand. Immerhin konnte erreicht werden, dass die gegenseitigen Angriffe im Ton etwas abgemildert wurden und man sich durch die immer bedenklichere Entwicklung zumindest auf publizisti- schem Gebiet etwas näher kam. Die prinzipiell unterschiedlichen Auffassungen konnten jedoch nicht überwunden werden.702 Der C.V. blieb somit weiterhin der Strategie der Aufklärung verpflichtet. Mitte 1931 begann die C.V.-Zeitung, sich auch mit den Schriften des Nationalsozialis- mus etwas näher auseinander zu setzen. Die Broschüre von Hans Severus Ziegler über die nationalsozialistische Kulturpolitik wurde ebenso besprochen wie Ro- senbergs Mythus des 20. Jahrhunderts.703 Etwas später folgte Goebbels Kampf um Berlin.704 Hitlers Buch wurde hingegen bis 1933 nicht diskutiert, da man sich bald darauf verlegte, den Schwerpunkt auf die Literatur über den Nationalsozialismus zu verlegen: Zu Beginn das Jahres 1932 wurden etliche Bücher zum Thema Natio- nalsozialismus und katholische Kirche (etwa die Schriften von Scharnagl oder Nötges), wenig später politische Schriften über den Nationalsozialismus (bei- spielsweise von Olberg oder Andernach) vorgestellt.705 Weitere Bücher folgten. Selbst in den Abwehrblättern blieb Mein Kampf nach den umfangreichen Be- sprechungen in den 1920er Jahren längere Zeit unbeachtet, obwohl auch dort im- mer wieder ausführliche Besprechungen der Literatur über den Nationalsozialis- mus präsentiert wurden.706 Ganz vergessen war Hitlers Buch dennoch nicht. In der im Mai 1931 von Richard Horlacher im Verlag der Abwehrblätter herausgege- benen Schrift Antisemitismus? 125 Antworten aus Bayern wurden im ersten Teil bayerische Persönlichkeiten aufgelistet, die sich gegen den um sich greifenden An- tisemitismus aussprachen (unter ihnen Max Halbe, Oskar Maria Graf, Ricarda Huch und Thomas Mann). Im zweiten Teil wurde ein Vortrag Horlachers vom Frühjahr 1931 wiedergegeben, in dem dieser auf Hitler und sein Buch zu sprechen gekommen war: „Ich weiß ja, dass der Verstand bei den Antisemiten nicht sehr hoch im Kurse steht. (Zwischenrufe von Hitler-Anhängern: ‚Wer sagt das?‘) In seinem zweibändigen Buch ‚Mein Kampf‘ spricht Adolf Hitler immer nur vom

700 Jüdische Rundschau, 36. Jg., Nr. 7, 27. 1. 1931. 701 Vgl. Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 33. Jg., Nr. 47, 19. 11. 1931. 702 Vgl. die zusammenfassenden Stellungnahmen in: Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß- Berlin), 33. Jg., Nr. 8, 19. 2. 1931. 703 Vgl. C.V.-Zeitung, X. Jg., Nr. 22, 29. 5. 1931 bzw. Nr. 28, 10. 7. 1931. 704 Vgl. C.V.-Zeitung, X. Jg., Nr. 50, 11. 12. 1931. 705 Vgl. C.V.-Zeitung, XI. Jg., Nr. 3, 15. 1. 1932; Nr. 16, 15. 4. 1932. 706 Vgl. Abwehrblätter, 41. Jg., Nr 4/5, Juni/Juli 1931; 43. Jg., Nr. 3, März 1933. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 320 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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‚sogenannten Verstand‘ und versteigt sich zu der These: ‚Verstand ist wertlos, Ge- fühl ist alles.‘“707 Wenngleich sich das Ziel des „Abwehrvereins“ mit dem des C.V. weitgehend deckte, so waren doch die Methoden der Aufklärung andere. Insbesondere ver- suchte der „Abwehrverein“, prominente Mitglieder oder Unterstützer für seine Arbeit zu gewinnen. War es in den 1920er Jahren immer wieder gelungen, mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten einzubinden, so erwies sich insgesamt die Werbung neuer, vor allem nichtjüdischer Mitglieder zunehmend als beschwer- lich. Nur mit Mühe konnte eine gewisse Balance zwischen jüdischen und nicht- jüdischen Mitgliedern gehalten werden.708 Dies zeigte sich einmal mehr im Jahr 1931, als der „Abwehrverein“ sein vierzigjähriges Bestehen feierte. Der Versuch, Gratulationsschreiben für eine Publikation zu sammeln, erwies sich als deprimie- rend. Die Hälfte aller angeschriebenen Persönlichkeiten antwortete nicht ein- mal.709 Das Jubiläum war damit aus mehreren Gründen kein Anlass für Feierlich- keiten: „In der Sache hat sich kaum etwas geändert. Was sich geändert hat – das zeigt der flüchtige Rückblick auf das geschilderte halbe Jahrhundert –, das sind nur die Namen und der Menschenbestand. Der geistige Fundus des Antisemitis- mus aber und die Methoden seiner Verwertung sind heute dieselben wie vor drei- ßig und vierzig Jahren.“710 Es überrascht daher wenig, dass auch im Kampf gegen den Antisemitismus nach wie vor die bisherigen „Methoden“ als zielführend er- achtet wurden: „Sachliche Widerlegung der antisemitischen Lügen, wissenschaft- liche Entlarvung der antisemitischen Fälschungen, Zurückweisung, nötigenfalls Demaskierung der antisemitischen Demagogen.“711 Das aufklärerische Para- digma, das vor allem dem „wissenschaftlichen“ Antisemitismus zu Leibe rücken wollte, wurde damit auch im „Abwehrverein“ aufrechterhalten.

d) Letzte Anläufe 1932/33 Mit den weiterhin anwachsenden Erfolgen der Nationalsozialisten geriet die an Aufklärung und Widerlegung antisemitischer Vorwürfe orientierte Abwehrstrate- gie immer mehr unter Druck. Konnten die ersten kritischen Vorstöße 1930 noch zurückgewiesen werden, so war dies ab 1932 unter dem Eindruck der Ereignisse kaum mehr möglich.712 Die Zahl der Publikationen des Philo-Verlages, die sich nicht direkt mit der aktuellen Tagespolitik beschäftigten, sondern sich den The- men Rassismus und Antisemitismus auf wissenschaftlicher Ebene zu nähern such- ten, hatte im Jahre 1930 ihren Höhepunkt erreicht und ging nun rapide zurück. Werner Cahnmanns 1932 erschienene Völkische Rassenlehre war eine der letzten dieser Art. Sie stand noch ganz in der wissenschaftlichen Tradition: „Es ist sicher, dass die wichtigsten Vertreter des gebildeten Deutschland uns nicht widerspre-

707 Horlacher, Antisemitismus, S. 30. 708 Vgl. Suchy, Verein, S. 88. 709 Vgl. Grünberg-Kelley, Verein, S. 102, FN 214. Darüber hinaus war es nicht immer einfach, einmal geworbene Prominente von einem Austritt abzuhalten. 710 Ethische Kultur – Wochenschrift zur Verbreitung ethischer Bestrebungen, 39. Jg., 1931, S. 20. 711 Ethische Kultur – Wochenschrift zur Verbreitung ethischer Bestrebungen, 39. Jg., 1931, S. 21. 712 Vgl. zur Auseinandersetzung zwischen den „Traditionalisten“ und „Modernisten“ im C.V.: Pau- cker, Abwehr, S. 158f. Eine ähnliche Diskussion wurde auch in der SPD geführt. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 321 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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chen werden, wenn wir in der dargelegten Weise die Zugehörigkeit eines religiös und stammesmäßig besonders charakterisierten deutschen Judentums zum deut- schen Volk in seiner Gesamtheit behaupten. Wir begegnen uns dann in glücklicher Weise mit derjenigen Tendenz der deutschen Bildung, die den höheren Wert per- sönlicher, ständischer und stammlicher Besonderheiten gegenüber den Nivellie- rungsbestrebungen einer rationalistischen Weltauffassung betonen.“713 Wie auch in anderen Publikationen dieser Art fehlte jeder Hinweis auf Mein Kampf, selbst der Nationalsozialismus wurde nur kurz am Rande erwähnt. Auch Artikel, die der wissenschaftlich-aufklärerischen Methode verpflichtet waren, wurden ab 1932 immer seltener714, wenngleich bei einigen wenigen Autoren bis zuletzt die Über- zeugung vorherrschte, dass es ihre vordringlichste Aufgabe sei, den Rassismus und Antisemitismus historisch und wissenschaftlich zu widerlegen. Die „wissen- schaftliche“ Variante des Antisemitismus wurde als die gefährlichste angesehen, „gefährlich schon deshalb, weil der wissenschaftliche Antisemitismus sehr vor- nehm tut, weil er bei seiner Behandlung des Judenproblems die gemeine Tonart der Gasse sorgfältig vermeidet, weil er die Judenfrage aus den niederen Regionen des Plebejertums in die höheren Sphären des wissenschaftlichen Denkens ent- rückt und so den Anschein erweckt, als ob der Antisemitismus eine ebenso vor- nehme Sache wäre, wie irgend eine andere wissenschaftliche Theorie.“715 Im Laufe des Jahres 1932 wurde immer öfter die Meinung geäußert, dass Auf- klärung nicht die richtige, jedenfalls nicht die einzige Form der Bekämpfung des Antisemitismus sein könne. Die „Boxheimer Affäre“ Ende 1931 hatte nicht unwe- sentlich zu dieser Entwicklung beigetragen, denn es hatte sich als „absolut aus- sichtslos“ erwiesen, „mit dem Gegner Diskussionen auf hochintellektueller Basis zu erstreben.“716 Selbst innerhalb des C.V. kam es zu Auseinandersetzungen darü- ber, wie weit man tatsächlich die Situation richtig einschätze.717 Entscheidend war jedoch, dass sich der politische Spielraum für eine gegen den Antisemitismus gerichtete Tätigkeit zusehends einengte. Immer mehr Parteien zeigten antisemitische Tendenzen, selbst innerhalb des Zentrums wurden spätes- tens im Herbst 1932 antisemitische Ressentiments deutlich.718 Damit blieb letzt- lich nur noch die SPD als potenzieller Partner. Schon seit 1928 arbeitete der C.V. offen mit dem Reichsbanner zusammen, woraus sich in den nachfolgenden Jahren eine immer engere Zusammenarbeit mit der SPD entwickelte.719 Durch die zuneh- mende Instrumentalisierung des Antisemitismus in fast allen anderen Parteien bo- ten sich kaum mehr politische Alternativen.720 Die damit verbundene Zwangslage für jüdische und nicht-antisemitische Wähler hat Lotte Schlesinger 1937 in ihrer

713 Cahnmann, Rassenlehre, S. 30. 714 Vgl. etwa den Artikel „Gegen die Pseudowissenschaft der nationalsozialistischen Rassenhetze“, in: Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 34. Jg., Nr. 4, 28. 1. 1932. 715 Breuer, Schlagwort, S. 321. Bei manchen jüdischen Emigranten blieb die Vorstellung lebendig, dass „wirklich kluge Männer“ nicht Antisemiten sein könnten (vgl. Liebermann von Wahlendorf, Er- innerungen, S. 237). 716 Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 34. Jg., Nr. 8, 25. 2. 1932. 717 Vgl. Hecht, Deutsche Juden, S. 200f. 718 Vgl. Walk, Jüdische Zeitung, S. 62. 719 Vgl. Paucker, Deutsche Juden, S. 102. Sie war jedoch innerhalb des C.V. und auch in der Parteilei- tung der SPD zumindest bis 1930 nicht unumstritten (vgl. Vgl. Paucker, Abwehr, S. 153). 720 Vgl. Urban-Fahr, Philo-Verlag, S. 44 bzw. 75f. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 322 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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Dissertation wie folgt beschrieben: „Sollte einmal bei einer Wahl die SPD beson- ders warm empfohlen werden, so wird dies immer mit der Entschuldigung getan, dass man leider gezwungen sei, sich für diese Partei zu entscheiden, weil keine an- dere völlig frei von antisemitischen Strömungen sei. Stets wird aber betont, dass man nur solche Parteien gelten lasse, die die deutsche Verfassung, nicht nur, so- weit sie den Juden ihre Rechte garantiert, als unverletzlich anerkennen und die deutsche Republik in ihrer bestehenden Form unter Vermeidung jedes innerdeut- schen Konfliktes erhalten sehen wollen.“721 Das gesamte Auftreten gestaltete sich notgedrungen politischer722, wobei die Versuche einer aktiveren Propaganda in der Öffentlichkeit durch Flugblätter und Plakate nicht immer glücklich verliefen. So hatte sich das „Büro Wilhelmstraße“ ausführlich mit Hitlers Buch auseinander gesetzt und die wichtigsten Stellen für den Kampf gegen den Antisemitismus aufbereitet.723 Die Umsetzung scheiterte jedoch kläglich: Zu den Reichspräsidentenwahlen wurde ein Plakat verbreitet, das Hitler mit fanatischem Gesichtsausdruck zeigte. Darunter fand sich ein Zitat aus Mein Kampf. Die aufklärerische Wirkung war allerdings gering und Goebbels be- dankte sich öffentlich für die Gratiswerbung.724 Andere Propagandaaktionen ver- liefen indessen erfolgreicher725, zumal der überwiegende Teil des Rohmaterials, das der C.V. und vor allem das „Büro Wilhelmstraße“ lieferten, ohnehin vom Reichsbanner und später von der „Eisernen Front“ verarbeitet und verbreitet wurde.726 Auch das jüdische Satireblatt Alarm gewann nun größeren Zuspruch, da es seit Oktober 1931, von der „Eisernen Front“ betreut, zu einer Wochenzeitung umgestaltet und bei Massenkundgebungen verbreitet wurde.727 Nach den Wahlen am 31. Juli 1932 brachte der C.V. eine Materialsammlung über die Stellung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) zur Judenfrage heraus, die jeweils durch Ergänzungsblätter erweitert wurde. In- terpretationen der Texte fanden sich darin jedoch nicht, vielmehr wollte man die „Nationalsozialisten selbst sprechen“ lassen.728 Im ersten Abschnitt, der sich mit „Parteiprogramm und Schrifttum“ beschäftigte, wurde auch Hitlers Mein Kampf genannt, wenngleich die beiden dort angeführten Zitate nur einen kleinen Aus- schnitt des zusammengestellten Materials darstellten. Neben Ausführungen von Nationalsozialisten aus der zweiten und dritten Reihe wurde insbesondere Goeb- bels häufig zitiert. Ende 1932, als das Gedenkbuch für die jüdischen Gefallenen des Weltkrieges erschienen war, ging man vor allem im „Reichsbund jüdischer Frontsoldaten“ dazu über Massenveranstaltungen abzuhalten, die sich bewusst vom aufkläreri- schen Anspruch lösten: „Die Aufklärung führender Menschen und Stellen wird

721 Schlesinger, Zeitungen, S. 341f. 722 Vgl. allgemein zu dieser „neuen Phase der Anti-Nazi-Propaganda“: Gyßling, Mein Leben, S. 128ff. 723 Vgl. Paucker, Abwehrkampf, S. 277, FN 30. 724 Vgl. Paucker, Abwehrkampf, S. 127. 725 Vgl. Paucker, Abwehr, S. 159f. 726 Vgl. Paucker, Abwehrkampf, S. 117f. 727 Vgl. Paucker, Abwehrkampf, S. 120f. Teile der SPD und der Gewerkschaften gingen hingegen auf Distanz zu dieser Art von Journalismus. Erhalten haben sich davon nur wenige Exemplare (vgl. ebd.). 728 Vgl. Centralverein, Stellung, Vorwort. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 323 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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weiter unentbehrlich sein. Aber daneben muss endlich mit verdoppelter und ver- vielfachter Energie der Grundsatz für jüdische Menschen Gewicht behalten: dass in erster Linie wir selbst für unser Schicksal verantwortlich sind und dann erst an- dere für uns sorgen lassen sollen, sofern sie im Interesse des Deutschtums die Schande des Judenhasses austilgen helfen wollen. Neben der Arbeit auf dem fla- chen Lande und in den kleinen Städten haben Serienversammlungen in den Groß- städten begonnen.“729 Dass man parallel dazu selbst davor nicht mehr zurück- schreckte, mit bis dahin gemiedenen Rechtskreisen außerhalb der NSDAP Kon- takt aufzunehmen, um sie vor den Nationalsozialisten zu warnen730, zeigt, unter welcher Anspannung man in verschiedenen Organisationen inzwischen stand.

e) Deutungen einer nationalsozialistischen Machtübernahme So unterschiedlich die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus seit Mitte der 1920er Jahre war, so unterschiedlich waren auch die Deutungen der möglichen Konsequenzen einer nationalsozialistischen Machtübernahme. In den Abwehr- blättern wurde die Unsicherheit darüber, wie der neue Reichskanzler einzuschät- zen sei, sehr deutlich: „Wer einmal aus reinem Opportunismus sein Ehrenwort gebrochen hat, dem ist ohne weiteres zuzutrauen, dass er je nach den Erfordernis- sen der politischen Konjunktur auch jeden feierlich verkündeten Punkt seines po- litischen Programms kurzerhand über Bord wirft. Aber sogar wenn dieser für den deutschen Juden ‚günstige‘ Fall eintreten sollte, dass Herr Hitler als Staatsmann und verantwortlicher Politiker entgegen allen bisherigen feierlichen Versicherun- gen plötzlich von einer antisemitischen Praxis nichts mehr wissen wolle, so ist mit sehr ernsten Gründen zu befürchten, dass er die Geister nicht mehr los wird, die er zehn Jahre lang gegen die Juden gerufen und aufgehetzt hat.“731 Kurz darauf hieß es hingegen wesentlich kritischer zu Hitler: „Selbst der extremste Antisemit hätte vor dem Kriege nicht die Parole auszugeben gewagt: ‚Köpfe müssen rollen!‘ Das ist das schauerliche Neue an dem Antisemitismus von heute. Der Krieg hat das Menschenleben um seinen Wert gebracht. Man begnügt sich nicht mehr, den politischen Gegner zu widerlegen. Man versucht, ihn niederzulegen. Früher be- schränkte sich der Demagoge auf Schimpfen und Verleumden. Heute bereitet er planmäßig die physische Vernichtung derer vor, die anders wollen oder anders denken als er.“732 Noch 1932 kam es zu fundamentalen Fehleinschätzungen. Exemplarisch zeigt dies die Arbeit Was geschieht mit den Juden? von Karl Lieblich. Der Begründer des „Bundes für Neues Judentum“, den er zwischen Zionismus und Centralverein angesiedelt sah733, erkannte in Hitler einen Verbündeten zur Lösung der „Juden- frage“ – im Sinne einer von allen akzeptierten und respektierten „Interterritoriali- tät“ der Juden. Am Ende seines Textes formulierte Lieblich, sich an Hitler wen- dend: „Sie selbst haben sich ebenso fraglos in den Dienst Ihrer Schicksalsaufgabe

729 Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 34. Jg., Nr. 44, 3. 11. 1932. 730 Vgl. Paucker, Abwehr, S. 161. 731 Abwehrblätter, 41. Jg., Nr. 8/9, Dezember 1931. 732 Abwehrblätter, 42. Jg., Nr. 4/5, April 1932. 733 Vgl. Lieblich, Was geschieht...?, S. 13. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 324 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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gestellt, und daraus schöpfe ich die Hoffnung, dass mein Vorgehen – von allen fachlichen Gründen abgesehen –, wenn überhaupt, so bei Ihnen Verständnis fin- det. Nur von Ihrer Seite auch kann ich mir eine ernstliche und innerlich beteiligte Förderung meines Gedankens vorstellen, da Sie es unternommen haben, Neues und von Grund auf Erneuerndes zu versuchen. So lege ich denn diese Schrift und die Beantwortung ihrer Frage mit Vertrauen in Ihre Hände.“734 Bezeichnender- weise erwähnte Lieblich Mein Kampf nicht. Lieblich wurde von jüdischer Seite für seine Schrift heftig angegriffen. In der C.V.-Zeitung hielt man es „für den Gip- fel an Würdelosigkeit“, dass sich Lieblich an Hitler wandte, „an den Führer jener Bewegung, deren Ziel es ist, uns Juden, gleichgültig ob Zionisten oder Deutsch- juden, physisch und moralisch zu schädigen, wenn nicht zu vernichten.“735 Im Frühjahr 1932 wurde im Israelitischen Familienblatt eine „Blütenlese“ na- tionalsozialistischer antisemitischer Äußerungen veröffentlicht, die Mein Kampf ignorierte und feststellte: „Mag Hitler menschlich noch eine einwandfreie Persön- lichkeit sein, unter seinen Unterführern befinden sich bestimmt viele zweifelhafte Gestalten.“736 Dass solche Äußerungen selbst im Umfeld des Philo-Verlages nicht unbekannt waren, ist dem Oktober-Heft des Morgen aus dem Jahr 1932 zu ent- nehmen. In einem Beitrag über den Antisemitismus vertrat Volkmar Frobenius die Ansicht, dass Deutschland den Antisemitismus brauche: „Nur durch einen unsentimentalen, aber liebevollen ‚Antisemitismus‘ kann der Antisemitismus auf die Dauer überwunden werden.“737 Dass Ludwig Holländer diesen Beitrag wiederum heftig kritisierte, macht deut- lich, wie unterschiedlich Hitler eingeschätzt wurde. Heinemann Stern, ein führen- des Mitglied des C.V., hielt in seinen Memoiren über die Lage im Herbst 1932 fest: „Es gab genug Pessimisten, die damals schon die Aufhebung der Reichsbürger- schaft und die Stellung unter Fremdenrecht voraussagten; die Optimisten vertrau- ten auf den retardierenden Einfluss der mit dem Nazismus verbündeten Rechts- kreise. Ich selber sah im Antisemitismus immer mehr eine kulturpolitische als staatspolitische Bewegung. Infolgedessen befürchtete ich auch eine absolute Aus- schaltung der Juden aus der deutschen Kulturarbeit, nie und nimmer jedoch die Gefährdung der Staatsbürgerschaft.“738 Edwin Landau, deutscher Jude aus West- preußen und 1934 aus Deutschland emigriert, meinte in seinen Lebenserinnerun- gen zur Situation im Jahr 1932: „Vielfach hörte man in den anderen Parteien, sogar von vielen Juden sagen, es wäre vielleicht gut, wenn Hitler in die Regierung ein- treten würde, denn er würde bald seine radikalen Ideen ablegen, zumal die ande- ren Rechtsparteien ihn hemmen würden und alsdann würde die Partei wieder Wähler verlieren.“739 Ähnliche Hinweise finden sich auch andernorts.740

734 Lieblich, Was geschieht...?, S. 88. 735 C.V.-Zeitung, XI. Jg., Nr. 36, 2. 9. 1932. 736 Israelitisches Familienblatt (Ausgabe für Groß-Berlin), 34. Jg., Nr. 14, 7. 4. 1932. 737 Der Morgen, 8. Jg., Nr. 4, Oktober 1932, S. 292. 738 Stern, Warum hassen...?, S. 180. Sterns Erinnerungen wurden noch während des Zweiten Welt- krieges in Rio de Janeiro niedergeschrieben. 739 Richarz (Hg.), Bürger, S. 384. 740 Vgl. etwa den Brief von Betty Scholem vom 20. 11. 1932, in: Shedletzky (Hg)., Betty Scholem, S. 270. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 325 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

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Entsprechend schwierig gestaltete sich der Umgang mit der durch Hitlers Machtübernahme entstandenen neuen Lage, wie Arie Goral-Sternheim in seinen Memoiren schreibt: „Als es dann so weit war, beschwichtigte man sich und an- dere: Hitler und die Nazis würden die nächsten Monate nicht überstehen. Man prophezeite, die Wirtschaft würde zusammenbrechen – und ohne die Juden ginge es sowieso nicht.“741 Der orthodoxe Israelit hielt fest, er sei „keineswegs der Mei- nung, dass Herr Hitler und seine Freunde, einmal in den Besitz der lange ersehn- ten Macht gelangt, nun etwa nach dem Rezept des ‚Angriff‘ oder des ‚Völkischen Beobachters‘ vorgehen und kurzer Hand die deutschen Juden ihrer verfassungs- mäßigen Rechte entkleiden, sie in ein Rassen- sperren oder den Raub- und Mordinstinkten des Pöbels preisgeben werden. Das können sie nicht nur nicht, weil ihre Macht ja durch eine ganze Reihe anderer Machtfaktoren vom Reichsprä- sidenten bis zu den Nachbarparteien, beschränkt ist, sondern sie wollen es sicher- lich auch gar nicht.“742 Andere versuchten vor Hitler zu warnen. Am 3. Februar 1933 deutete die gemäßigte national-liberale Breslauer Jüdische Zeitung für Ost- deutschland743 Hitlers Ernennung zum Reichskanzler als Wendepunkt in der deutsch-jüdischen Geschichte. Zur Erläuterung wurden etliche Zitate aus Mein Kampf veröffentlicht.744 Besonders groß war die Verunsicherung bei jenen, die bisher gezielt gegen den Antisemitismus der Nationalsozialisten gearbeitet hatten. Der „Abwehrverein“ ging mit Vorsicht zu Werke, wie seine Presseerklärung vom 27. März 1933 zur ausländischen „Greuelpropaganda“ zeigte: „Von den verantwortlichen Männern der neuen Regierung sind die von ihnen selbst festgestellten vereinzelten Ueberg- riffe weder gutgeheißen noch gewünscht worden. Sie haben im Gegenteil wieder- holt ihren ganzen Einfluss aufgeboten, um antisemitische Ausschreitungen abzu- bremsen und Wiederholungen zu unterbinden.“745 Am 7. Juli 1933 löste sich der Verein auf, 1934 wurden seine Materialien zu einem guten Teil von der gestohlen.746

f) Zusammenfassung In der Auseinandersetzung der jüdischen Publizistik mit dem Nationalsozialis- mus spielte Hitlers Mein Kampf keine zentrale Rolle. Obwohl das Buch bekannt war, erschien in den 1920er Jahren nur eine tiefer gehende Analyse. Bis 1933 diente Mein Kampf nur gelegentlich als Quellenmaterial; eine systematische Aus- wertung unterblieb jedoch meist. Das gilt, und dies erscheint bemerkenswert, auch für Texte und Schriften, die sich jenseits der Tagespolitik mit grundsätzlichen Fragen des Antisemitismus und Rassismus beschäftigten. Im Vordergrund stan- den vor 1933 stattdessen zwei Zugänge zum Nationalsozialismus: Der eine er- folgte über die aus den täglichen Erfahrungen mit antisemitischen Angriffen ge-

741 Goral-Sternheim, Jeckepotz, S. 112. 742 Der Israelit, 74. Jg., Nr. 4, 2. 2. 1933. 743 Sie war eine der wenigen jüdischen Regionalzeitungen mit zionistischer Tendenz, die sich einen überregionalen Namen machen konnte (vgl. Diehl, Presse, S. 19). 744 Vgl. Walk, Jüdische Zeitung, S. 74. 745 BA Koblenz, NL Gothein, N 1006/54. 746 Vgl. BA Koblenz, NL Gothein, N 1006/54. 01-Titel.Buch : 08-Rezeption 326 11-02-15 06:42:32 -po1- Benutzer fuer PageOne

326 Deutschland vor 1933

wonnenen Eindrücke und Einschätzungen, der andere über den „wissenschaftli- chen“ Rassismus und Antisemitismus. Zu Letzterem wurde Mein Kampf nicht gerechnet. So gibt es letztlich unterschiedliche Auskünfte darüber, inwieweit Mein Kampf von jüdischen Lesern wahrgenommen wurde und inwieweit die Lektüre des Bu- ches in die Beurteilung des Nationalsozialismus eingeflossen ist. Willy Ritter Lie- bermann von Wahlendorf, der aus einer bekannten jüdischen Familie stammte, berichtete in seinen 1936 in Meran verfassten Erinnerungen sehr ausführlich über seine Lektüre im Jahr 1931: „Tatsächlich hatte ich [...] das Buch Hitlers ‚Mein Kampf‘, das mir ein Bekannter als immerhin interessant und lesenswert gegeben hatte, gelesen. Bei den ersten Seiten war ich, ehrlich gesagt, mehr als erstaunt, wie geschickt und interessant sich ein Mann, der doch sicher nicht die höheren Bil- dungsstätten besucht hatte, über so mannigfaltige Probleme äußern konnte; doch bei weiterem Eindringen wurde es mir durch die andauernden, alle paar Seiten sich wiederholenden, immer stärker werdenden Angriffe gegen Juden und Juden- tum doch klar, dass ich es in der Hauptsache nur mit einem überaus geschickten demagogischen Geschreibsel zu tun hatte.“747 Zog Liebermann aus der Lektüre keine direkten Konsequenzen, so galt dies nicht für andere, wie zum Beispiel ei- nem Bericht von Karl-Heinz Grossmann über die Juden in Niederwern zu ent- nehmen ist: „Karl Rosenberg gehörte zu den wenigen Menschen, die das umfang- reiche Buch lasen, ernst nahmen und warnten. Bei der Lektüre musste er sich tief verletzt und bedroht fühlen angesichts der auf den Leser einprasselnden stereo- typen Schlagworte.“748 Vereinzelt sollen, so überlieferte Knickerbocker 1941, In- tellektuelle aufgrund der Lektüre von Mein Kampf schon vor 1933 beschlossen haben, sich zurückzuziehen und Deutschland zu verlassen.749 Insgesamt jedoch ist es von Juden im Alltag meist vermieden worden, sich mit antisemitischen Schriften wie Mein Kampf zu beschäftigen oder sie ernst zu neh- men. Gerade das zählte – zumindest im Rückblick – zu der üblichen Strategie der Juden in Deutschland: „Neben dieser sozialen Geringschätzung der Antisemiten findet sich häufig auch eine Verachtung ihrer Ideologie. Diese konnte neben dem generellen Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen des Phänomens (,ich war nicht bereit, meine Zeit mit Unsinn zu vergeuden‘) vor allem darin bestehen, dass man sie ‚als unverständlich hinnahm, als eine Art Dummheit, die man nicht erklären kann.‘ Andere berichten in Interviews, dass sie judenfeindliche Literatur wie die ‚Proto- kolle‘ [der Weisen von Zion] gelesen, jedoch über ‚diesen großen Blödsinn‘ ge- lacht hätten.“750 So hielt denn Rahel Straus in ihren Erinnerungen fest: „Wir gin- gen an den Kästen des ‚Völkischen Beobachters‘ vorbei, lasen die Hetzartikel und gingen empört weiter. Wir machten es uns nicht klar, dass dieser ‚Völkische Beob- achter‘ eine der meistgelesenen Zeitungen des damaligen Deutschland war. Wir sa- hen in jedem Buchladen Hitlers ‚Mein Kampf‘ ausgestellt, keiner von uns kaufte ihn, keiner von uns las es.“751

747 Liebermann von Wahlendorf, Erinnerungen, S. 255f. 748 Grossmann, Niederwerner Juden, S. 82. 749 Vgl. Knickerbocker, Tomorrow, S. 42. 750 Bergmann/Wetzel, Miterlebende, S. 183. 751 Straus, Deutschland, S. 267.