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Die Mittelpartei 3 Die Stadtpartei 9 + 14 Die kleine Großpartei 22 Ralf Fücks über die Anforderungen einer neuen und Jochen Partsch über Thomas Schmid über Anmutung und ­ politischen Gewichtsklasse gewandelte Profile und neue Milieus Anmaßung der Grünen

Das Magazin der Heinrich-Böll-Stiftung Ausgabe 1, 2013 Böll.Thema 1/2013

Der besondere Tipp

Konferenzen Vortrag und Diskussion Die Stiftung in Sozialen Netzwerken

Theater und Netz Sicherheitspolitik im Wandel – Beweist Syrien Die Heinrich-Böll-Stiftung ist in verschiedenen Mi/Do, 8. – 9. Mai 2013 das Ende des Prinzips der Schutzverantwortung? Sozialen Netzwerken aktiv. Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung Mi, 15. Mai 2013, 18.30 – 20.30 Uhr Werden Sie Freund oder Freundin der Stiftung Info/Anmeldung: www.boell.de/veranstaltungen Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung auf Facebook unter www.boell.de / f a c e b o o k , Mit Michael Ignatieff (Harvard University) u.a. sehen Sie Filme und Videos bei YouTube (www. Maschinenfrühling boell.de / youtube), Bilder bei Flickr (www.flickr. Technologien für ein besseres Morgen Understanding Pakistan c o m / p h o t o s / boellstift ung), hören Sie unsere Audiofiles (www.soundcloud.com/boellstiftung) Do/Fr, 6. – 7. Juni 2013 Di, 21. Mai / 10. Juni / 14. Oktober / 11. Novem- oder verfolgen Sie die aktuellen Nachrichten der Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung ber / 2. Dezember, jeweils 18 – 19:30 Uhr Stiftung über den Kurznachrichtendienst Twitter Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung (in engli- Info/Anmeldung: www.boell.de/veranstaltungen _ scher Sprache – keine Simultanübersetzung) unter www.twitter.com /boell stiftung. Wie immer bieten diese Netzwerke einen Rückkanal, Das Hochamt der Demokratie über den Sie mit uns in Kontakt treten können. Wahlkampfstrategien 2013 Publikation Di/Mi, 11. – 12. Juni 2013 Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung Der Güterverkehr von morgen – LKWs Impressum Mit Wahlkampfmanagerinnen und -managern der zwischen Transporteffizienz und Sicherheit Herausgeberin Parteien, Chefs der beauftragten Werbeagenturen Von Günther Prokop und André Stoller. Im Heinrich-Böll-Stiftung e.V. von CDU, SPD, Grünen, FDP, Die Linke und Pira- ­Auftrag und hrsg. von der Heinrich-Böll- Schumannstraße 8, 10117 tenpartei, Parteien- und Kommunikationsforsche- Stiftung, Schriften zur Ökologie, Band 30, T 0 3 0 – 2 8 5 3 4 – 0 rinnen und -forscher, Journalistinnen und Journa- Berlin 2013, 116 Seiten F 0 3 0 – 2 8 5 3 4 – 1 0 9 listen. Info/Anmeldung: www.talk-republik.de Bestellung und Download von Publikationen unter E [email protected] www.boell.de/publikationen W www.boell.de / t h e m a High-Tech-Kriege – Herausforderungen für Frieden und Sicherheit in Zeiten von Drohnen, Redaktion Kampfrobotern und digitaler Kriegführung Dossiers und Blogs Dieter Rulff Do/Fr, 20. – 21. Juni 2013 Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung eurocrisis.boellblog.org Redaktionsassistenz 14. Außenpolitische Jahrestagung mit: Herfried englischsprachiges Blog mit Analysen Susanne Dittrich Münkler (Deutschland), Armin Krishnan (USA), und Beobachtungen zur Eurokrise Noel Sharkey (Großbritannien), Peter Singer russland.boellblog.org Mitarbeit (USA), Jürgen Altmann (Deutschland), Daniel Jens Siegert schaut hinter die alltäglichen Ralf Fücks Statman (Israel) u.a. Meldungen aus Moskau und kommentiert sie Peter Siller Annette Maennel (V.i.S.d.P.) Nur Protest? Kulturelle und politische Strategien klima-der-gerechtigkeit.boellblog.org gegen die autoritäre Regression in Osteuropa das Klimablog von Lili Fuhr, Arne Jungjohann Art Direktion / Gestaltung und Georg Kössler Do/Fr, 27. – 28. Juni 2013 Blotto Design, Berlin Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung heinrichvonarabien.boellblog.org www.blottodesign.de Kongress, Workshops und Event mit Gästen aus das Blog unserer Büroleitungen im Nahen Osten Illustrationen Russland, Belarus und der Ukraine und in Nordafrika. Es schreiben Bente Scheller (Beirut), Marc Bertold (Tel Aviv), Rene Wild- Martin Nicolausson angel (­Ramallah), Joachim Paul (Tunis) www.martinnicolausson.com Exkursion und Tagung www.boell.de/Focus-on-Hungary Druck Urban Gardening – Die produktive Stadt englischsprachiges Dossier über die Situation agit-Druck, Berlin Fr, 28. Juni 2013 in Ungarn nach der Regierungsübernahme der Galerie für zeitgenössische Kunst Leipzig Rechtspopulisten im Jahr 2010 Papier 2 Die regenerative Stadt IV, Info/Anmeldung: www.boell.de/hochinklusiv Inhalt: Envirotop, 100g / m matt hochweiß, www.boell.de/veranstaltungen { hochinklusiv } Zusammenhalt einer vielfältigen Recyclingpapier aus 100 % Altpapier 2 Gesellschaft. Veranstaltungen, Tagungen, Dossi- Umschlag: Clarosilk, 200g / m ers und Beiträge zum Thema Inklusion Symposium Bezugsbedingungen www.nutzen-statt-besitzen.de zu bestellen bei oben genannter Adresse Zukunft gewinnen Beiträge und Best-Practice-Beispiele für eine Mi, 22. Mai, 10. – 2 1 . 3 0 U h r ­ressourcenschonendere Konsumkultur Landesvertretung NRW in Berlin Symposium und Berliner Zukunftsgespräch zum Die einzelnen Beiträge stehen unter der 100. Geburtstag von Robert Jungk Creative Commons Lizenz: CC BY-NC-ND 3.0 1

Böll.Thema 1/2013 1 Editorial

Grüner Aufschwung

in knappes halbes Jahr vor der Bundestagswahl befinden sich die Grünen in einem anhaltenden Höhenflug. Stärker noch als in den E bundesweiten Umfrageergebnissen zeigt sich dieser Trend in den Städten und Bundesländern. Vielfach sind sie dabei, zu Union und SPD aufzuschließen oder sie sogar zu überflügeln. Dass sie in Baden-Württem- berg zum ersten Mal einen Ministerpräsidenten stellen, der allseits Respekt genießt, ist zwar nicht die neue Norm, aber eben auch kein zufälliger Aus- reißer. Die Grünen profitieren von einem nachhaltigen Wandel der politi- schen Kultur, den sie selbst mit vorangetrieben haben. Atomausstieg und Energiewende, Ressourceneffizienz und ecycling,R Bio-Lebensmittel und fairer Handel sind ebenso gesellschaftlicher « Mainstream » geworden wie die Gleichstellung von Frauen, die Akzeptanz unkonventioneller Lebens- formen oder ein neues Verständnis der Staatsbürgerschaft unabhängig von Hautfarbe und Herkunft. Postmaterielle Einstellungen gewinnen an Boden. Der Wunsch nach einer neuen Balance von Arbeit und Leben, die Suche nach Sinn und Selbstbestimmung füllen die Medien. Dieser Wandel führt auch zu tiefgreifenden Veränderungen der politi- schen Landschaft. Er befördert nicht nur den Aufstieg der Grünen, son- dern betrifft alle Parteien. Auf ihre Weise sind sowohl Union wie SPD hin- und hergerissen zwischen Tradition und Moderne. Der FDP kam mit dem Bankrott des neoliberalen Mantras (Deregulierung, Privatisierung, Steu- ersenkung) ihr Markenkern abhanden. Ihr bleibt nur die Hoffnung, als Mehrheitsbeschafferin der Union zu überleben. Auf der anderen Seite des Spektrums ist der halbherzige Versuch der Linkspartei gescheitert, sich als

gesamtdeutsche Alternative in Szene zu setzen. Die Orientierungskrise der Ralf Fücks anderen Parteien eröffnet neue Zugänge für die Grünen, und zwar in alle Mitglied des ­Vorstands der politischen Himmelsrichtungen. Sie können in bürgerlich-wertkonserva- Heinrich-Böll-Stiftung tive Milieus ebenso ausgreifen wie in sozialliberale oder aufgeklärt-linke Schichten. Das verleiht ihnen eine Ausnahmestellung im Parteienspekt- rum. Ob und wie sie diese Zentralposition in regierungsfähige Koalitionen umsetzen können, steht auf einem anderen Blatt. Wir beleuchten mit diesem Heft den Aufschwung der Grünen aus unter- schiedlichen Perspektiven. Interviews, Essays, empirische Analysen und pointierte Diskussionsbeiträge behandeln die Triebkräfte und Erfolgsbe- dingungen grüner Politik. Auch wenn die Grünen von gesellschaftlichen Megatrends getragen werden, ist ihr Erfolg keineswegs verbürgt. Er hängt nicht zuletzt von ihrer Fähigkeit ab, Veränderung als dialogischen Prozess anzulegen. --- Foto: Ludwig Rauch 2

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2 Böll.Thema 1/2013 Inhalt

­ 1983 versuchte sich die noch junge Bewegung an der Fünf- Prozent-Hürde; 30 Jahre später ist die Republik merklich «grü- ner» und die Grünen sind auf dem Sprung in eine neue politische Dimension.

1 Ein Anfang ist gemacht 18 Was orientiert grüne Politik? Editorial von Ralf Fücks Von Peter Siller

Grüner Wandel 20 Die rechte Zeit der Austerität 3 Der lange Marsch Von Konrad Ott Essay von Ralf Fücks Grünes Regieren 6 « Wir machen keine Politik, die die Leute 22 Die kleine Großpartei zu irgendwas zwingt » — Die Vorsitzende Essay von Thomas Schmid Jochen Partsch, der Oberbür- der Fraktion der Grünen im baden- germeister von Darmstadt, über gewandelte Wählermilieus. württembergischen 24 Der steinige Weg zur Macht → S.14 interviewt von Elisabeth Kiderlen Von Joachim Raschke und Ralf Tils

9 Stadtluft macht grün — Von Boris Palmer 26 Wie die Energiewende gelingt Von Rainer Baake 10 Auf dem Weg zur Volkspartei? Von Stefan Merz 28 Der Solarstrom Lackmustest grüner Energiepolitik 12 Der Osten bleibt anders Von Helmut Wiesenthal Von Antje Hermenau 30 Green Power for Europe 14 Partei der Leistungsträger und der Armen ­ Von Der Oberbürgermeister von Darmstadt Jochen → S.22 Partsch interviewt von Elisabeth Kiderlen 33 Außenpolitik ohne Geländer Von Joscha Schmierer Grüne Werte Inhalt 16 30 Jahre grüne Frauenpolitik 35 Auf dem Weg zur Green Economy Wurden wir, was wir werden wollten? Von Max Schön 3 Grüner Wandel Von Marie-Theres Knäpper und 16 Grüne Werte

Barbara Unmüßig 22 Grünes Regieren Fotos: Heinrich-Böll-Stiftung; Jan Ehlers/FRIZZ MAGAZIN; privat; Illustration: Martin Nicolausson 3

Böll.Thema 1/2013 3 Grüner Wandel

Politikstil, der sie von linksradikalen Gruppen ebenso Im gleichen Maße, wie die Grünen die Gesellschaft verändert unterschied wie von der Sozialdemokratie. haben, sind sie von ihr verändert worden. Ihr Erfolg beruht auch Man kann die Evolution der Grünen auch als eine darauf, diesen wechselseitigen und nicht immer schmerzfreien Geschichte von Trennungen lesen: zunächst von den Lernprozess zu einem konstitutiven Element ihrer Politik gemacht konservativen Bundesgenossen der Gründerzeit und zu haben. später von den sozialistischen Strömungen, die den Weg zu einer parlamentarischen Reformpartei nicht mitgehen wollten. Zahlreiche prominente Akteure der frühen Jahre haben die Partei verlassen: Herbert Gruhl, , Jutta Ditfurth, Rainer Trampert, Waltraud Schoppe und Willi Hoss stehen stellver- Der lange tretend für viele andere. Aus der ersten Fraktion ist allein noch im aktiv (Christian Stroebele rückte zur Halbzeit der Legisla- turperiode nach). Die kunterbunte Vielfalt und der Marsch* Elan der frühen Jahre können die brutale Härte nicht verdecken, mit der bis in die 90er Jahre hinein der Kampf um die politische Orientierung der Grünen ausgefochten wurde. Damit verglichen sind die heu- tigen Überreste der Flügelkämpfe nur ein laues Lüft- Von Ralf Fücks lein. Nie war der gefühlte Grundkonsens innerhalb der Grünen so groß wie heute. ieser Tage feierte die grüne Bundestags- Es ist nicht übertrieben, die Grünen als das erfolg- fraktion ihren 30. Geburtstag. Verglichen reichste politische Projekt der letzten 30 Jahre zu mit den hochfliegenden Gefühlen und kennzeichnen. Dass die Bundesrepublik heute von Erwartungen, mit denen die erste grüne einer Frau regiert und von einem schwulen Außen- Fraktion damals in den Bundestag einzog, minister repräsentiert wird, ist Ausdruck eines Wan- Dbegleitet von Freunden und Gästen aus aller Welt, dels der politischen Kultur, der maßgeblich von war es eine eher nüchterne Veranstaltung. Der Über- den Grünen angestoßen wurde. Zentrale politische schwang von einst ist dem Selbstbewusstsein einer Projekte wie der Ausstieg aus der Atomenergie und Partei gewichen, die in den Umfragen bei 15 Prozent die Reform der Staatsbürgerschaft sind inzwischen gehandelt wird und die nächste Bundesregierung parteiübergreifend akzeptiert. Dabei reicht ihr Erfolg fest im Blick hat. Man ist im Zentrum der Berliner weit über Deutschland hinaus. « Grün » ist inzwischen Republik angekommen und fest entschlossen, den eine globale Marke, in der Politik wie in der Wirt- gesellschaftlichen Rückhalt und die fachliche Kom- schaft. Dabei hat die milieuübergreifende Sympathie, petenz, die sich die Grünen über die Jahre erworben die den Grünen entgegengebracht wird, nicht nur mit haben, in politischen Einfluss umzumünzen.In ihren « weichen » Themen zu tun. Die Öffentlichkeit schreibt Anfangsjahren verstanden sich die Grünen in erster ihnen eine hohe Kompetenz in Sachen Energiepolitik Linie als Bewegung. Sie sahen sich als politische und zu, und bis in die Unternehmen hinein gilt Ökolo- kulturelle Alternative zum « herrschenden System ». gie nicht mehr als Killerprogramm für den Indust- Inzwischen sind sie eine hoch professionelle Partei, riestandort Deutschland, sondern als ökonomische die souverän auf der Klaviatur der parlamentarischen Frischzellenkur. Kurz und gut: Grün ist cool, und die Demokratie spielt. Grünen sind auf dem Sprung in eine neue politische Der amerikanische Politikwissenschaftler Andrej Dimension. Sie stellen den Ministerpräsidenten einer Markovits sieht in den Grünen eine Fernwirkung grün-roten Koalition in einem industriellen Kernland jenes großen Aufbruchs, der unter dem Kürzel « 68 » der Republik, erobern absolute Mehrheiten bei Bür- zusammengefasst wird. Beim Einzug der ersten grü- germeisterwahlen und bilden mit klarem Abstand nen Fraktion in den Deutschen Bundestag im Früh- die dritte Kraft in der deutschen Politik. In diesem jahr 1983 war diese Vorgeschichte noch unüberseh- Herbst unternehmen sie einen neuen Anlauf in die bar – nicht nur im antibürgerlichen Habitus, sondern Bundesregierung, verglichen mit 1998 aus einer auch in der Sprache, im Temperament und in den deutlich gestärkten Position. Rückblickend betrachtet Themen dieser ausgeprägten Individualisten (Frauen erscheint das fast wie ein Märchen. wie Männer), die damals den Bundestag enterten. Zu Dennoch ist die grüne Erfolgsgeschichte in diesem Zeitpunkt war schon entschieden, dass die Deutschland kein Mysterium. Über die letzten 30 Grünen trotz ihres Gründungs-Slogans « Weder links Jahre haben die Grünen mehr Talente als alle ande- noch rechts, sondern vorn » im Kern ein Projekt der Neuen Linken waren. Sie setzten neue Themen auf * durch die Institutionen Fotos: Heinrich-Böll-Stiftung; Jan Ehlers/FRIZZ MAGAZIN; privat; Illustration: Martin Nicolausson die politische Agenda und entwickelten einen neuen 4

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4 Böll.Thema 1/2013 Grüner Wandel

Die Basis: ­Friedensbewegung und 1985 wird Joschka Antiatomprotest Fischer erster grüner Landesminister.

Anerkennung gleich- geschlechtlicher Lebenspartnerschaften

Die Energiewende

ren Parteien angezogen. Im Vergleich zur FDP wirkt eine Korrespondenz zwischen grünen Botschaften ihr politisches Personal heute wie ein Ausbund an und dem berühmten « Zeitgeist ». Insofern sind die Seriosität und Temperament zugleich. Dabei ist die Grünen politischer Ausdruck tiefer liegender Trends bundespolitische Elite der Grünen nur die Spitze des in der Gesellschaft. Das gilt gerade für Kernthemen Eisbergs. Die Basis grüner Erfolge ist die Verankerung grüner Politik: Ökologie, Bürgerbeteiligung, Gleich- der Partei in der Kommunalpolitik. In vielen Städten berechtigung der Geschlechter, Pluralismus der bewegen sich die Grünen heute auf Augenhöhe mit Lebensstile. Die Grünen waren Vorreiter für einen SPD und CDU. Bundesweit haben sie das Kunststück gesellschaftlichen Wertewandel, während sich die fertiggebracht, im Establishment anzukommen, ohne Gesellschaft zugleich auf die Grünen zubewegt hat. zum Establishment gerechnet zu werden. Auch wo Ohne Rückenwind aus der Gesellschaft heraus hätten sie regieren, gehen sie nicht ganz im Status quo auf. sie ihre Themen nicht so erfolgreich auf die politi- Zumindest wird das von ihnen erwartet. Insoweit sche Tagesordnung setzen können. wirkt der Anspruch einer alternativen Politik immer Dass dies keine bruchlose Erfolgsgeschichte noch fort, auch wenn der radikale Gestus der Grün- ist, wird am Beispiel der Friedenspolitik deutlich. derjahre durch einen zunehmend bürgerlichen Habi- Gewaltfreiheit und einseitige Abrüstung waren Mar- tus abgelöst wurde. kenzeichen der grünen Gründerjahre. Inzwischen hat Es greift allerdings zu kurz, den Erfolg der Grü- die Partei schwere Verwerfungen in der Auseinander- nen nur bei ihnen selbst zu suchen. Entscheidend setzung um militärische Interventionen in humani- war etwas anderes: Sie haben mit ihren Kernthemen tärer Absicht hinter sich. Die kontroversen Debatten Illustrationen: Martin Nicolausson Foto: Landesmedienzentrale Baden-Württemberg den Nerv der Zeit getroffen. Es gab von Anfang an um den Bundeswehreinsatz in Bosnien, den Kosovo- 5

Böll.Thema 1/2013 5 Grüner Wandel Mehr zur Erfolgsstory Baden-Württemberg → S. 6

Krieg und die Afghanistan-Mission haben die Grünen « Von den Grünen Energiewende, für die es keine fix und fertige Blau- bekanntlich an den Rand einer Spaltung geführt. wird eine reflexive, pause gibt, müssen als gesellschaftlicher Lernprozess Markovits merkt zu Recht an, dass der ausgeprägte dialogische Politik angelegt werden. Die « Agenda 2010 » der letzten Widerwille der Deutschen gegen Militärinterventio- rot-grünen Regierungskoalition ist auch deshalb in erwartet. » nen nicht nur Ausfluss reiner Friedensliebe ist. Es gibt Verruf geraten, weil sie der Gesellschaft als Reform- auch eine durchaus egoistische « Ohne uns! »- Haltung projekt « von oben » aufgestülpt wurde. Daraus muss im Gewand moralischer Überlegenheit, mit der die man nicht den Schluss ziehen, dass Politik sich nach Kinder und Enkel der Wehrmachtsgeneration auf die der Beliebtheitsskala von Meinungsumfragen rich- USA und Israel herabblicken. So wie es keine mora- ten muss. Aber das Prinzip einer dialogischen Politik lisch unbefleckte Beteiligung an militärischen Inter- sollte über Baden-Württemberg hinaus ein grünes ventionen gibt, kann auch die Nichtbeteiligung an Markenzeichen werden. internationalen Militärmissionen in unterlassene Hil- Mit Blick auf die kommenden Jahre stellen sich feleistung umschlagen. Dass der latente Konflikt zwi- den Grünen vor allem drei große Herausforderun- schen « Nie wieder Krieg » und « Nie wieder Völker- gen: Zum einen gilt es, die ökologische Transforma- mord » nicht einseitig aufgelöst werden kann, gehört tion der Industriegesellschaft voranzutreiben. Die zu den schwierigen Lernprozessen der Grünen. Energiewende ist das Schlüsselprojekt auf diesem Schaut man auf die 30 Jahre seit dem Einzug jener Weg. Sie macht Deutschland zum Vorreiter der grü- bunten Gruppe in den deutschen Bundestag zurück, nen industriellen Revolution. Wir müssen alles dar- wird ein doppelter Veränderungsprozess sichtbar: ansetzen, damit sie ein Erfolgsprojekt bleibt. Dafür Die Grünen haben die Gesellschaft verändert, und braucht es eine breite gesellschaftliche Allianz und die Teilnahme am politischen Leben der Republik die Bündelung aller Kräfte. Die zweite Aufgabe liegt hat die Grünen verändert. Sie gehören heute dazu darin, der sozialen Spaltung der Gesellschaft entge- und sind immer noch anders als die anderen; sie ste- genzuwirken und die gesellschaftliche Teilhabe aller hen für weitreichende Veränderungen und zugleich zu ermöglichen. Dabei wird sich zeigen, ob die Grü- für hinreichende Bodenhaftung, um die Gesellschaft nen eine eigenständige Konzeption verfolgen, die nicht in Abenteuer ohne Netz und doppelten Boden sich jenseits bloßer Umverteilungspolitik und einer zu stürzen. permanenten Ausweitung staatlicher Transferleistun- Der eigentliche Maßstab für den Erfolg der Grü- gen bewegt. Die Elemente einer grünen Teilhabepo- nen sind die politischen Projekte, die sie auf den Weg litik müssen nicht erst erfunden werden. Sie liegen gebracht haben, vom Ausstieg aus der Atomenergie vor allem im Vorrang für öffentliche Güter: vom bis zum Zuwanderungsgesetz. Schaut man auf 30 Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung über Ganz- Jahre im Bundestag zurück, bleiben vor allem zwei tagsschulen, gut ausgestattete Hochschulen, einem große Erfolgsgeschichten: die Energie- und Umwelt- lebendigen Kulturangebot bis zu einem attraktiven politik und die Veränderung der politischen Kultur. öffentlichen Verkehrssystem. Nicht der allumfassende Auf diesem Feld haben die Grünen fundamentale Versorgungsstaat, sondern die soziale Bürgergesell- Veränderungen bewirkt: Die neue, selbstbewusste schaft, die kollektive Solidarität mit bürgerschaftli- Rolle von Frauen gehört ebenso dazu wie die Gleich- chem Engagement und Selbstverantwortung kombi- stellung schwuler und lesbischer Paare, die Präsenz niert, sollte das Leitbild grüner Teilhabepolitik sein. von Migranten in der Politik, das neue Staatsbürger- Schließlich geht es darum, eine Europapolitik zu schaftsrecht und die vielfältigen Formen der Bürger- entwickeln, die dem perspektivlosen Lavieren der beteiligung, die inzwischen zum Alltag gehören. Bei amtierenden Bundesregierung eine ebenso ambiti- all diesen Veränderungen waren die Grünen Sprach- onierte wie realistische Alternative entgegenstellt. rohr und Verstärker eines Wertewandels, der die « Mehr Europa » sollte nicht als fortschreitende Zen- anderen Parteien häufignoch älter aussehen lässt, als tralisierung politischer Macht buchstabiert werden. sie es ohnehin sind. Notwendig ist vielmehr eine Stärkung beider Ele- Es scheint ganz so, als sei der Aufstieg der Grünen mente, auf denen die EU aufbaut: eine verantwort- noch lange nicht zu Ende. Ihr Potenzial geht noch liche, europafreundliche Politik der Mitgliedstaaten deutlich über die 15-Prozent-Marke hinaus, wenn die sowie eine größere Rolle der gemeinschaftlichen Mischung aus Personen und Programm stimmt. Die Institutionen, insbesondere des Europaparlaments. größte Gefahr für die Partei wäre, wenn ihr Erfolg sie Die aktuelle Krise der EU ist weniger eine Krise der zu Selbstzufriedenheit und Überheblichkeit verführte. Institutionen als der Politik. Sie wird nicht durch Von den Grünen wird eine reflexive, dialogische Poli- eine fruchtlose Strukturdebatte überwunden, son- tik erwartet. Dröhnende Hau-drauf-Rhetorik mag dern durch kraftvolle politische Initiativen für einen die Parteibasis begeistern, das aufgeklärte Publikum « European Green New Deal » und für eine aktive fühlt sich abgestoßen. Wir brauchen beides: Mut zu europäische Regionalpolitik gegenüber unseren weitreichenden Veränderungen und das Vertrauen Nachbarn im Osten und Süden. der Bevölkerung, dass sie mit Augenmaß und Ver- Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Illustrationen: Martin Nicolausson Foto: Landesmedienzentrale Baden-Württemberg antwortung betrieben werden. Großprojekte wie die --- 6

6 Böll.Thema 1/2013 Grüner Wandel

Der Erfolg der Grünen in Baden-Württemberg wurzelt in einer soliden kommunal­ politischen Verankerung auch auf dem Lande und beruht auf einer an pragmatischen Lösungen orientierten Sachpolitik. « Wir machen keine Politik, die die Leute zu irgendwas zwingt »

Interview mit Edith Sitzmann von Elisabeth Kiderlen

Elisabeth Kiderlen: Wo stehen die Baden-Württemberger Grü- Leute etwas anderes wollten. Und das bündelte sich in der Person nen heute? Kretschmann. Edith Sitzmann: Bei der Landtagswahl im März 2011 lagen wir In den Großstädten regieren Grüne und SPD, in den mittle- knapp über 24 Prozent, bei der letzten Umfrage im Mai 2012 bei ren die Freien Wähler und auf dem Land die CDU – stimmt 28 Prozent. Das ist doch ein eindeutiges Ergebnis. Dazu kommen das noch? die erstaunlichen Beliebtheitswerte von : Die Grünen waren lange eine Partei, die in den Großstädten gute Fast 70 Prozent sind zufrieden oder sehr zufrieden mit der Arbeit bis sehr gute Ergebnisse eingefahren hat. Aber schauen Sie auf die des ersten grünen Ministerpräsidenten dieser Republik. Direktmandate, die wir bei den Landtagswahlen erstmals geholt Den Wahlsieg haben die Grünen ja nicht nur Fukushima zu haben, in Baden-Württemberg 9 an der Zahl! Ich habe hier in Frei- verdanken. Haben sie also in der Opposition vieles richtig burg mit den vier Umlandgemeinden 39,9 Prozent der Stimmen gemacht? bekommen. Das war natürlich sensationell. Wir haben bei der letz- Ja, unsere Oppositionsarbeit über 30 Jahre hinweg gibt eine gute ten Kommunalwahl und bei der Landtagswahl gemerkt, dass die Basis fürs Regieren ab. Wir waren konstruktiv und haben uns nicht Annahme, dass die Grünen nur in studentischen und städtischen darauf beschränkt, wie es die heutige Opposition macht, einfach Milieus stark sind, nicht mehr stimmt. Auch in einigen ländlichen alles abzulehnen, niederzubügeln oder zu diskreditieren. Wir haben Kommunen stellen die Grünen die stärkste Fraktion im Gemein- immer überlegt: Wie geht Energiewende? Was müssen wir ändern? derat, zum Beispiel in Bad Boll. Wir haben auf dem Land schon Wie können wir das Landesplanungsgesetz umgestalten, damit länger grüne Bürgermeister: Elmar Braun in Maselheim ist da der mehr Windkraftanlagen gebaut werden? Solide Oppositionsarbeit Dienstälteste, aber auch in Schriesheim und Schuttertal … Das hat hat also zum Wahlerfolg beigetragen. Und dann haben wir eine damit zu tun, dass für uns die ländlichen Räume lebenswert und starke kommunalpolitische Verankerung. In den Gemeinderäten, schützenswert sind und dass wir uns jetzt an der Regierung immer Kreistagen, Ortschaftsräten sind die Grünen bekannt als diejenigen, überlegen, was ein Gesetz oder eine Maßnahme für den ländlichen die sachorientiert arbeiten. Es gab sicherlich eine Gemengelage bei Raum bedeutet, ob sie ihn stärkt. der Landtagswahl – Fukushima, der « schwarze Donnerstag » bei Vergleichen Sie einmal den Erfolg in den Städten mit dem den Auseinandersetzungen um 21, der damalige CDU- auf dem Land.

Ministerpräsident Mappus … Das waren alles Gründe, warum die Foto: Victor S. Brigola Fotos: RegierungBW (Lizenz: CC-BY-SA); Deutsche Fotothek Jürgen Götzke CC-BY-SA) 7

Böll.Thema 1/2013 7 Grüner Wandel

↑ Der erste grüne Ministerpräsident ↑ Die Einführung der Gemeinschaftsschule wird ↑ Mit 300 Elektro-Smarts erprobt Daimler das ­genießt weiterhin großen Rückhalt bei den Schulen und Kommunen freigestellt. Allein car2go-Angebot in Stuttgart, «... ein Beispiel den Wählern. dieses Jahr meldeten sich 120 – darunter auch dafür, wie vernetzte Mobilität künftig funktio- einige aus schwarz-regierten Kommunen. nieren wird», sagt dazu Winfried Kretschmann.

Bei der jetzigen Landtagswahl haben wir 36 Mandate errungen, so Wir wollen gemeinsame Zielvorgaben und keine Konkurrenz der viele Großstädte hat Baden-Württemberg gar nicht. Als ich 2001 Schultypen untereinander. Aber die CDU schürt den Schulkampf, in den Landtag kam, waren wir zehn Abgeordnete, in der nächs- und zwar ohne neue Konzepte und Ideen. Es ist der Versuch, alles ten Legislaturperiode 17 und jetzt 36. Wir finden also auch in der zu diskreditieren und zu diffamieren, was wir tun. Fläche Anerkennung, und wir tun etwas dafür. Wir laden immer Hat sie damit Erfolg? wieder zum Bürgerdialog, das letzte Mal in Bad Mergentheim. Da Schwer zu sagen. Die CDU hat eine Kampagne zur Rettung der kamen 500, 600 Leute. Da werden nicht nur Reden gehalten, son- Realschule gestartet. Sie unterstellt uns, wir wollten diese abschaf- dern wir organisieren Thementische, um mit den Leuten wirklich fen. Das ist nicht der Fall. Wir verordnen die Gemeinschaftsschulen ins Gespräch zu kommen. nicht von oben, sondern sagen: Da, wo Schulen und Schulträger Wächst die Mitgliederzahl? das wollen, können sie einen Antrag stellen, Gemeinschaftsschule Nicht rasant, aber sie steigt bei uns im Gegensatz zu den ande- zu werden. Und wenn die Bedingungen, vor allem die pädagogi- ren Parteien. Aber im Vergleich zu CDU und SPD sind es immer sche Qualität, erfüllt sind, haben sie einen Anspruch auf Geneh- noch wenig. Wir liegen jetzt bei 60.000, die anderen Parteien bei migung. Ich glaube nicht, dass die Strategie der CDU mittelfristig 480.000. verfängt, aber sie schafft viel Unruhe. Es gibt den Traum von der grünen Volkspartei. Von den The- In Konstanz gab es schon sehr früh einen grünen Bürger- men und dem Politikerangebot her sind die Grünen ja breit meister. Neuerdings regiert dort aber ein junger, moderner aufgestellt. CDUler. Wir haben natürlich den Anspruch, die gesamte Bürgerschaft des Der grüne OB ist nach zwei Amtsperioden, also nach 16 Jahren, Landes zu vertreten, unsere Politik soll für alle gut sein. Insofern nicht mehr angetreten. Und dann hat ein junger Kandidat der CDU sind wir eine Volkspartei. Unsere Themen waren bei der Gründung gegen eine Kandidatin der Grünen gewonnen. der Grünen vor 30 Jahren Nischen- und Exotenthemen, heute sind Heißt das aus dem Blickwinkel Baden-Württemberger Bür- sie in aller Munde als die Herausforderungen der Zeit. gerinnen und Bürger: Wenn die CDU sich modernisiert und Sie sagen, die Grünen sind breit aufgestellt. Mit welchen The- verjüngt, brauchen wir die Grünen nicht mehr? men kann die SPD denn noch punkten? Wir haben in Tübingen und Freiburg grüne OBs, seit Neuestem Für Baden-Württemberg ergibt sich das aus der Verteilung der auch in Stuttgart. Das zeigt, dass die Grünen mit ihren Themen Ministerien, und somit will die SPD natürlich in der Schulpolitik und ihrer Art, Politik zu machen, mehrheitsfähig sind. Überall. Aber punkten. Da war der Start etwas holprig. Aber ich bin sicher, dass viel hängt an Personen, da reicht das Parteibuch nicht aus. die Vorhaben der grün-roten Koalition wie längeres gemeinsames Was ist die spezifische grüne Handschrift? Gibt es einen Lernen, individuelle Förderung durch Gemeinschaftsschulen, Aus- bestimmten grünen Umgang mit den Bürgern? bau frühkindlicher Bildung, Abschaffung der verbindlichen Grund- Ich beschreibe uns als bodenständig und innovativ. Und wir ver- schulempfehlung breite Zustimmung finden. sprechen nur, was wir halten können. An der Verunsicherung des Warum eigentlich? Baden-Württemberg war immer das Land Handwerks, der Unternehmen und Investoren durch die jüngsten der Gymnasien. Auseinandersetzungen um die Vergütung für erneuerbare Energien Die Suche nach neuen Schulformen ist ja nicht neu. Es gab die sieht man, wie wichtig Verlässlichkeit und Planungssicherheit sind. sogenannten Schulrebellen, die ihre Wurzeln in Oberschwaben Bei aller Modernität in der Schulpolitik, der Energiepolitik haben. Diese erklärten, hauptsächlich aus der Perspektive der usw. wildern die Grünen ganz schön in CDU-Gefilden. Ist Hauptschulen, immer wieder, dass es so nicht weitergehen kann, diese Mischung aus Modernität und beruhigendem Kon- dass durch die Aufteilung auf unterschiedliche Schultypen die Kin- servativismus mit Kirchgang und Baumarktbesuch das der nicht optimal gefördert werden. Schon zu Zeiten der schwarz- Erfolgskonzept? gelben Regierung gab es 60 Anträge von Kommunen, darunter Es ist dann ein Erfolgsrezept, wenn es nicht aufgesetzt wirkt. Wir auch von vielen schwarz regierten, die eine Gemeinschaftsschule sind ja angetreten, die natürlichen Lebensgrundlagen zu bewah- wollten. Aber das wurde damals abgebügelt. ren, das ist konservativ, keine Frage. Aber eine der Stärken Baden- Jetzt versucht die CDU über das Schulthema den Grünen ins Württembergs ist das innovative Unternehmertum. Die vielen

Foto: Victor S. Brigola Fotos: RegierungBW (Lizenz: CC-BY-SA); Deutsche Fotothek Jürgen Götzke CC-BY-SA) Rad zu fallen. Mittelständler, die Weltmarktführer sind, müssen natürlich 8

8 Böll.Thema 1/2013 Grüner Wandel

die Nase vorn haben. Und das heißt heute, ökologisch produzieren, Wir machen keine Politik, die die Leute zu irgendwas zwingt. Aber mit wenig Energie und Ressourcen auskommen. So verbinden sich wir wollen Bewusstsein schaffen. So haben wir erstmals Stra- Innovation und Bodenständigkeit. ßenbauprojekte priorisiert. Die Vorgängerregierung hatte da viel Stichwort « Green New Deal ». Ist das der Schlüssel dafür, dass versprochen, was nicht bezahlbar ist. Wir haben dann Kriterien die Grünen und der unternehmerische Mittelstand gut mitei- erarbeitet: Verkehrssicherheit, Verkehrsaufkommen, Lärm, Umwelt- nander auskommen? schutzaspekte, und nach diesen Kriterien werden die vorliegenden Genau. Mit grünen Produkten schwarze Zahlen schreiben, das ist Planungen bewertet und in eine vernünftige Reihenfolge gebracht. ein Motto, dem wir hier schon über viele Jahre folgen. Wir haben Den Leuten ist es lieber, wenn sie wissen, woran sie sind, als dass immer den Kontakt zu Industrie, Mittelstand und Handwerk man ihnen Versprechungen macht und sie dann vertröstet. gesucht. Da gibt es auch inhaltliche Differenzen, aber die Wirtschaft Bundesumweltminister Altmaier spricht von einer Billion, die weiß auch, dass wir sie schätzen und dass wir sie als Landesregie- die Energiewende kosten soll. Entsteht da nicht das Gefühl, rung unterstützen wollen, sich ökologisch aufzustellen, und zwar dass die Grünen zu forsch und zu radikal vorgehen? auch, weil wir davon überzeugt sind, dass dies neue Perspektiven Wenn die Unternehmer das Gefühl haben, sie können sich darauf für die Unternehmen eröffnet. verlassen, dass uns Versorgungssicherheit und bezahlbare Preise

« Wir haben natürlich den Anspruch, ­ die gesamte Bürgerschaft des Landes zu vertreten, unsere Politik soll für alle gut sein. ­Insofern sind wir eine Volkspartei. »

Die letzte Landtagswahl hat bei den Bürgerinnen und Bür- wichtige Anliegen sind, und dass wir ihre Befürchtungen – das gilt gern allem Anschein nach nicht das Gefühl hervorgeru- auch für die privaten Stromkunden – ernst nehmen, akzeptieren fen: Mit einem grünen Ministerpräsidenten droht eine sie unsere Politik. Zeitenwende. Grünes Regieren in Zeiten des Sparens, wie kommt das Die Opposition hat seit der Wahl beschworen und sie tut es bis an? Die Baden-Württemberger goutieren zwar eine sorg- heute, dass unter einer grün geführten Landesregierung die baden- fältige Haushaltsführung, aber nicht unbedingt finanzielle württembergische Welt untergeht. Da fallen Vergleiche mit den Einschnitte. apokalyptischen Reitern aus der Johannes-Offenbarung. Aber das Das ist natürlich ein Spannungsfeld. Wir sind verpflichtet, ab 2020 findet in der Gesellschaft keinen Widerhall. Baden-Württemberg nur so viel auszugeben, wie wir einnehmen. Die ehemalige Lan- steht gut da. Die Krise 2009 hat im Land allerdings massiv einge- desregierung hat uns einen Schuldenberg von 43 Milliarden Euro schlagen. Stuttgart war die Bundeshauptstadt der Kurzarbeit. Das zurückgelassen. Dazu kommen 70 Milliarden an Pensionsverpflich- hat zur Folge, dass wir die Arbeitsbedingungen im Blick halten und tungen für Beamte. Es gibt einen Sanierungsstau bei öffentlichen uns gute Arbeit auf die Fahnen schreiben. Gebäuden, Landesstraßen ... Wir haben nun Maßnahmen eingelei- Sie setzen sich über den Bundesrat für einen Mindestlohn ein. tet, um bis 2020 rund ein Drittel der Deckungslücke zu schließen. Ja, und wir haben über 600 befristete Stellen in der Landesver- Wir werden bis 2020 10 Prozent der Lehrerstellen abbauen, denn waltung und an Hochschulen in reguläre, unbefristete Beschäfti- wir haben rückläufige Schülerzahlen, 20 bis 25 Prozent weniger. gungsverhältnisse umgewandelt. Ein wichtiges Signal. Und wir sind Wir werden Strukturen verändern, weil es innerhalb der bestehen- dabei, ein Tariftreuegesetz zu verabschieden, weil die öffentliche den nichts mehr einzusparen gibt. Und wir werden uns auf die För- Hand da eine Vorbildfunktion hat. derungen wirklich wichtiger Innovationen konzentrieren, Mobilität, Vorherrschend ist hier die Autoindustrie. Wie ist da das Ver- Speichertechnologie … hältnis zu den Grünen? Wenn Peking im Smog versinkt, pro- Hat sich ein wenig Stolz herausgebildet auf all das Neue, das fitiert Daimler? seit der Landtagswahl in Angriff genommen wurde – etwas Die Automobilbranche ist sehr wichtig, auch wegen der vielen nach dem Prinzip « Wir in Baden-Württemberg »? Zulieferer. Aber auch da gibt es einen Wandel. Daimler hat das Pro- Im Land ist Bewegung entstanden und das Bedürfnis, sich zu enga- jekt Car-to-Go aufgelegt, also Carsharing. Da geht es um die Ver- gieren und einzumischen. Das ist für mich das Wichtigste. « Wir knüpfung unterschiedlicher Verkehrsmittel. Wie kann man Mobili- in Baden-Württemberg » ist da ein guter Slogan. Das, was wir als tät anders organisieren als nur durch den Besitz eines Autos. Bei Grüne beizutragen haben, passt eben gut zu Baden-Württemberg. den Autoherstellern tut sich viel, und das wollen wir unterstützen. Ich danke für das Gespräch. Illustration: Martin Nicolausson; Foto: dustpuppy (Lizenz: CC-BY-SA) In jüngster Zeit wird auch von linksliberalen Medien immer mal wieder insinuiert, dass die Grünen den Lebensstil der Edith Sitzmann ist Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag von Menschen in den Griff der Politik nehmen wollen. Baden-Württemberg. --- 9

Böll.Thema 1/2013 9 Grüner Wandel

grüne Themen hegemonial geworden. Das stimmt. Konstitutiv war dafür der gesell- schaftspolitische Aufbruch der Frauen, Migranten und Homosexuellen. Hinzuge- kommen sind der Lifestyle of Health and Sustainability und die Latte Macchiato. Die Menschen in der Stadt wollen gut leben, aber nicht auf Kosten der Umwelt und der nachfolgenden Generationen. Dafür brau- chen sie kurze Wege, gute Busverbindun- gen und Radwege, Kneipen und Geschäfte um die Ecke. Autos brauchen sie hin und wieder, aber die Stadt dem Auto unterord- nen wollen sie nicht, weil das ihr eigenes Leben beeinträchtigt. Familie ist in der Der Erfolg grüner Politik in den Kommunen begründet sich darin, dass sie, Stadt, wo Kinder sind – und die KiTa nicht über ihre klassische Klientel hinaus, für alle Bürger Angebote macht. weit ist. Die Energiewende treibt man auf dem Dach der Grundschule gemeinsam mit einer Solaranlage voran. Und auch denen, die weniger haben, soll es nicht schlecht Stadtluft macht grün gehen. Wenn der grüne Bürgermeister aus diesen weichen Standortfaktoren harte Steuereinnahmen macht, dann ist die Hege- monie erreicht. Eine solide Haushaltspolitik ist der Nachweis, dass Nachhaltigkeit ernst Von Boris Palmer gemeint ist. Kein Oberbürgermeister kommt ohne aselheim, 4.300 Einwohner, 20 km Spannend wird es erst, wenn man die eigene Stadt aus, wenn er über Kom- bis Biberach: Hier regiert seit 1991 Maselheim, Mayen und Kretschmanns munalpolitik schreibt. Die Erfolgsfakto- M der erste grüne Bürgermeister Baden-Württemberg hinzunimmt. Es zeigt ren grüner Kommunalpolitik aus Tübinger der Republik: Elmar Braun. Wer bei grün sich, dass Grüne weit über die klassischen Sicht lassen sich in einige nüchterne Zah- geprägten Orten nur an Konstanz, Freiburg, Milieus hinausgreifen können und dann len fassen. In den sechs Jahren, in denen Tübingen, Darmstadt oder Stuttgart denkt, in Regionen und Gemeinden Mehrheiten ich OB bin, ist der Energieverbrauch aller hat also schon etwas übersehen. Grüne erringen, die mit der bisherigen Beschrei- städtischen Gebäude um 20 Prozent und

können seit geraumer Zeit Mehrheiten in bung von Hochburgen nicht erfasst waren. der CO2-Ausstoß pro Kopf um 10 Prozent Kommunen ganz unterschiedlicher Struk- Für sie steht exemplarisch Kreuzberg. Für zurückgegangen, wurde der Etat für Rad- tur hinter sich bringen, so zuletzt in Mayen die neuen Hochburgen steht Stuttgart. Die wege verzehnfacht, haben die Stadtwerke (15.000 Einwohner) in Rheinland-Pfalz. Ergebnisse mögen sich ähneln, die Milieus vier erneuerbare Großkraftwerke realisiert, Auf den ersten Blick sind die Wahlergeb- sind höchst verschieden, nicht nur wegen ist die Zahl der Arbeitsplätze um mehr als nisse der letzten zehn Jahre leicht inter- Wecken oder Schrippen. 10 Prozent gewachsen, wurde die Quote pretierbar. In den Städten schneiden wir In den klassischen Hochburgen sind die der Kleinkindbetreuungsplätze von 25 auf besser ab als in den Landgemeinden, in den traditionellen grünen Themen weiterhin 60 Prozent gesteigert, haben sich die Inves- Großstädten besser als in den Kleinstädten, ausschlaggebend: Rechte für gesellschaft- titionen in städtische Wohnungen vervier- in Universitätsstädten besser als in Arbei- liche Minderheiten, Fahrradwege, sozia- facht und die Gewerbesteuer verdoppelt, terstädten, in den urbanen Zentren besser ler Wohnraum. In den neuen Hochburgen während die Verschuldung auf Null zurück- als in den Vororten. Das folgt den allge- sind die Grünen auch für die Themen der gegangen ist. meinen soziologischen Erkenntnissen zur Mehrheit zuständig: Wirtschaft, Arbeit, Ja, das würde heute jeder Bürgermeister Zusammensetzung der grünen Finanzen genauso wie Energie, Umwelt, in einer Erfolgsbilanz nicht vergessen. Weil ­ Wählerschaft. Verkehr. Eine solche Aufzählung provo- wir Grüne an diesen Themen länger als die « Für die ziert gelegentlich das Missverständ- anderen gearbeitet haben, sind wir damit klassischen Hoch- burgen steht Kreuzberg. nis, die Farbe Grün verblasse dabei. auch erfolgreicher. Von Maselheim bis Stutt- Für die neuen Hochburgen Das muss nicht so sein. Mit grünen gart und hoffentlich weit darüber hinaus. steht Stuttgart. Die Ergeb- Ideen schwarze Zahlen schreiben ist Boris Palmer ist seit 2007 grüner Oberbürger- nisse mögen sich ähneln, die von gefundene For- meister von Tübingen. die Milieus sind höchst mel zur Überwindung dieses schein- --- Illustration: Martin Nicolausson; Foto: dustpuppy (Lizenz: CC-BY-SA) verschieden. » baren Widerspruchs. — Boris Palmer Von Fritz Kuhn stammt auch die Analyse, in den urbanen Milieus seien 10

10 Böll.Thema 1/2013 Grüner Wandel

Die Grünen erhalten Wählerzuspruch auch aus dem Lager von Union und FDP. Was von den einen als eine Stufe der Entwicklung zur Volkspartei begrüßt wird, beargwöhnen die anderen als Verbürgerlichung und Profilverwischung. Ein Blick in die Empirie zeigt, dass zu beidem kein Anlass besteht. Auf dem Weg zur Volkspartei?

Von Stefan Merz

er grüne Höhenflug der letzten waren beide Male fast so umfangreich wie sehr markantes Profil, das eher zu einer Jahre hat zu einer medialen die aus dem linken Lager. In Rheinland- Milieu- als zu einer Volkspartei passt. Die Diskussion um eine « Verbürger- Pfalz 2011 und Niedersachsen 2013 über- Grünen schneiden weiterhin bei Frauen lichung » der Grünen, um die wogen die Zuwächse im linken Lager zwar besser ab als bei Männern, teilweise – z. B. Notwendigkeit eines grünen deutlicher, dennoch wechselten 25.000 bzw. in Berlin – hat sich der Geschlechterunter- DKanzlerkandidaten und um den Wandel der 30.000 Wähler über die Lagergrenze zu den schied durch besonders hohe Zugewinne Grünen zur Volkspartei geführt. Diskussio- Grünen. Bei den Wahlen in Hamburg 2011 unter den Frauen sogar vergrößert. Bei den nen, die angesichts von Wahlergebnissen und Schleswig-Holstein 2012 blieben die unter 60-Jährigen liegt die Partei stets weit von deutlich über 20 Prozent wie in Bremen grünen Zugewinne nur moderat. Bemer- über ihrem Gesamtergebnis, bei den über und Baden-Württemberg, ähnlich hohen kenswert ist, dass Verluste ins linke Lager 60-Jährigen kommt sie zumeist nur auf bundesweiten Umfragewerten und der (vor allem an die SPD) durch Gewinne von halb so viele Prozentpunkte wie insgesamt. Wahl des ersten grünen Ministerpräsiden- CDU und FDP fast ausgeglichen werden Da die Zuwächse unter den Älteren häufig ten kaum überraschen. Zwar sind Begriffe konnten. Auch bei den Wahlen in den ost- unterdurchschnittlich ausfallen, sind die wie Verbürgerlichung und Volkspartei mehr deutschen Ländern Sachsen-Anhalt 2011 Unterschiede zuletzt sogar eher gewachsen ideologisch besetzte Schlagworte der politi- und Mecklenburg-Vorpommern 2012 gab als zurückgegangen. Ein ähnlich stabiles schen Auseinandersetzung denn sozialwis- es Zugewinne von Schwarz-Gelb, sogar in Bild zeigt sich bei den Berufsgruppen. Nach senschaftlich nutzbare Analysekategorien, ähnlichem Umfang wie von SPD und Linke. wie vor schneiden die Grünen unter Arbei- dennoch ist klar, was sich mit Blick auf das Allerdings sind nicht bei jeder Wahl nen- tern vergleichsweise schwach ab. Bei Ange- grüne Wählerprofil für Konsequenzen ergä- nenswerte Zuströme von Schwarz-Gelb fest- stellten, Selbständigen und insbesondere ben: Ein grüner Weg in die Mitte müsste auf zustellen: In Berlin 2011 konnten die Grü- Beamten erzielen sie ihre besten Ergeb- dem Wählermarkt zu Zugewinnen nicht nur nen lediglich der SPD fast 20.000 Wähler nisse. Außer im Saarland sind die Grünen in aus dem linken Lager, sondern auch von abspenstig machen, relevante Zugewinne den alten Ländern in diesen drei Gruppen Union und FDP führen. Das sozialstruktu- von CDU und FDP blieben dagegen aus. durchweg satt zweistellig, in Bremen und relle Profil der Wählerschaft sollte breiter Auch in Nordrhein-Westfalen 2012 gab es Baden-Württemberg schaffen sie es sogar und weniger markant ausgeprägt sein. Und nur sehr moderate Zugewinne von der CDU. an bzw. über die 30-Prozent-Marke. Unter die inhaltlichen Zuschreibungen der Wäh- den Rentnern bleiben die Grünen dagegen ler an die Grünen müssten umfassender « Das sozialstrukturelle Profil zumeist einstellig und weit hinter ihrem werden. der Grünen-Wähler hat sich Gesamtergebnis zurück. Durch unterdurch- Ein Blick auf die Wählerwanderungsana- schnittliche Gewinne bei Arbeitern und insgesamt eher noch verfestigt lysen von infratest dimap zu den letzten Rentnern hat sich auch in dieser Kategorie Landtagswahlen zeigt tatsächlich unge- als verändert. » das Profil eher geschärft als ausgeglichen. wöhnlich häufig Zugewinne der Grünen Die größten Unterschiede gibt es traditi- auf Kosten von CDU und FDP. In Nordrhein- Diese Stimmenzugewinne von rechts onell beim Vergleich der Bildungsgruppen. Westfalen konnten die Grünen 2010 rund haben jedoch nicht dazu geführt, dass Bei den Wählern mit Volks- oder Haupt- 120.000 Wähler, in Baden-Württemberg sich das sozialstrukturelle Wählerprofil schulabschluss erzielten die Grünen bei den 2011 sogar rund 150.000 von Schwarz- der Grünen abgeschliffen hat. Nach wie letzten Wahlen Ergebnisse zwischen 3 Pro-

Gelb hinzugewinnen. Diese Zugewinne vor hat die Wählerschaft der Grünen ein zent und 7 Prozent, lediglich in Bremen Foto: Wikimedia Commons 11

Böll.Thema 1/2013 11 % Grüner Wandel 73 der Grünen-Wähler ver- orten sich nach wie vor % und Baden-Württemberg im linken Spektrum 54 aller Grünen-Wähler bei der schnitten sie zweistel- Niedersachsen-Wahl 2013 ent- lig ab. Der Grünen-Anteil schieden sich für Grün wegen unter Abiturienten ist dagegen der Umweltpolitik. zumeist drei- oder viermal so hoch. In Baden-Württemberg temberg, Bremen, Berlin) und Bremen waren die Grünen auf nennenswerte Kompe- bei Abiturienten sogar stärkste tenzwerte bei den Wahlbe- Partei. Hinsichtlich der Religion rechtigten. In Einzelfällen bzw. Konfession hat sich in den können die Grünen auch letzten Jahren wenig verändert. spektakulär in ehemals In den alten Bundesländern konservativ besetzte Politik- schneiden die Grünen bei Reli- felder eindringen: So lagen gions- und Konfessionslosen in die Grünen in Niedersach- der Regel etwa anderthalbmal sen zuletzt in Fragen der so stark ab wie unter Christen. Landwirtschaftspolitik auf Die Unterschiede zwischen Pro- Augenhöhe mit der CDU. testanten und Katholiken sind Das Kompetenz- dagegen gering, zumeist sind profil der Grünen die Ergebnisse bei den Protes- % hat sich also seit tanten ein wenig besser als bei 62 2009 substanziell der Wahlberechtigten hal- den Katholiken. In Berlin und in ten die Politik der Grünen verbreitert. Das ging den neuen Bundesländern sind für glaubwürdig; es folgt aber nicht einher mit « die Unterschiede dagegen kaum Bionade-Biedermeier die SPD mit 45 einem Bedeutungs- oder her – fulminante Erfolge » hin %. bedeutsam. erzielten die Grünen vor allem verlust der klassi- Aus regionaler Perspektive in den urbanen Zentren und bei schen grünen Themen zeigt sich in der Wählerschaft Wählern mit höherem Bildungs oder einer starken Verschie- abschluss. Die Grünen sind also - haben sie dank ihrer der Grünen ein sehr starkes Stadt- bung des inhaltlichen Schwerpunktes. Dies nach wie vor mehr Milieupartei Umweltkompetenz Land-Gefälle. Mit der Einwohner- als Volkspartei. wird besonders deutlich, wenn grüne Wäh- ein Alleinstellungs- zahl steigt auch die Zustimmung ler nach der Wahl nach den für sie wahl- merkmal im politi- zu den Grünen an der Wahlurne. entscheidenden Themen gefragt werden: schen Wettbewerb. Zwar schaffen es mittlerweile die Grünen Umweltpolitik liegt stets unangefochten an Im Vorfeld einer Wahl attestieren regelmä- auch im ländlichen Raum zumeist über die der Spitze. Um Platz zwei mit deutlichem ßig etwa 60 Prozent der Wahlberechtigten magischen fünf Prozent, ihre Hochburgen Abstand streiten sich zumeist die Themen den Grünen die beste Umweltpolitik. Trotz liegen jedoch in den Großstädten, insbeson- soziale Gerechtigkeit, Bildung und Ener- aller Bemühungen der Konkurrenz konn- dere in prosperierenden Städten mit gro- giepolitik. Zwar hat soziale Gerechtigkeit ten sie diesen Spitzenplatz stets behaup- ßer Bedeutung der Universitäten und der in den letzten Jahren etwas an Bedeutung ten, in den letzten Jahren den Vorsprung Dienstleistungsbranche, weniger dagegen verloren, von einer dramatischen Verschie- sogar noch etwas ausbauen. Seit der letz- in Großstädten, die stark unter dem indust- bung bei den grünen Wahlmotiven kann ten Bundestagswahl gibt es mit der Ener- riellen Strukturwandel leiden. Selbst inner- jedoch keine Rede sein. Auch an der Links- giepolitik noch ein zweites Politikfeld, in halb der Großstädte haben die Grünen eine rechts-Einstufung der Grünen-Anhänger hat dem die Grünen – wenn auch knapp – vor sehr ausgeprägte und über Jahre hinweg sich in den letzten vier Jahren kaum etwas den anderen Parteien liegen. Mit großem stabile Hochburgenstruktur. Am Stadtrand verändert: Im Frühjahr 2012 verorteten die Abstand folgen die Politikfelder Familie, sind sie zumeist sehr schwach, in den inner- Grünen-Anhänger sowohl sich selbst als Bildung und soziale Gerechtigkeit. Auch städtischen Universitäts- und Szenevierteln auch die grüne Partei fast exakt gleich weit hier konnten die Grünen zulegen: Waren dagegen häufig stärkste arteiP – hier ist der links wie noch Anfang 2008. Charakter als Milieupartei unmittelbar sicht- Das Wählerprofil der Grünen hat sich und erlebbar. Diese regionale Struktur ist « Das Kompetenzprofil der nicht dramatisch verändert, von einem über die Jahre äußerst stabil und ohne Grünen hat sich seit 2009 Wandel zur Volkspartei kann keine Rede Anzeichen einer dauerhaften Nivellierung substanziell verbreitert. » sein. Eine Schwerpunktverschiebung oder dieser Unterschiede. eine Profilverwischung, die die Rede von Das sozialstrukturelle Profil der Grünen- vor 2009 zweistellige Werte die große Aus- einer Verbürgerlichung nahelegt, ist nicht Wähler hat sich also insgesamt eher noch nahme, erreichen die Grünen insbesondere auszumachen. verfestigt als verändert. Doch wie sieht es in der Familienpolitik mittlerweile regelmä- mit den inhaltlichen Zuschreibungen der ßig entsprechend hohe Kompetenzzuschrei- Dr. Stefan Merz ist Associate Director Wah- Wähler an die Partei aus? In den Augen bungen. Selbst in den klassischen Unions- len bei infratest--- dimap. der Bürger haben die Grünen klare Kern- Domänen Wirtschaft und Arbeit kommen Quellen: ARD/Infratest-dimap Wahltagsbefra- gungen und ARD-DeutschlandTREND

Foto: Wikimedia Commons kompetenzen. Wie keine andere Partei die Grünen hin und wieder (Baden-Würt- 12

12 Böll.Thema 1/2013 Grüner Wandel

Die Grünen im Osten wachsen, sind aber noch zu wenige, um viel zu erreichen. Sie haben sich in allen fünf Landtagen etabliert, nun gilt es, die kommunalpolitische Präsenz auszubauen. Ostdeutsche Themen werden weiterhin eine entscheidende Rolle spielen.

Der Osten bleibt anders

Von Antje Hermenau

m Vergleich zu westdeutschen Landesverbänden sind die Es fehlen Koalitionserfahrungen Mitgliederzahlen im Osten Deutschlands bei Bündnis 90/ Die Ergebnisse der Kommunalwahlen 2014 werden für die Veran- Die Grünen immer noch relativ niedrig. Das ist nicht nur kerung der Grünen im Osten sehr wichtig werden. Wenn es etwa in auf eine gewisse organisatorische Schwäche zurückzufüh- Sachsen gelingt, in den zehn Kreistagen Fraktionsstärke zu errei- ren, die erst seit dem erfolgreichen Wiedereinzug in alle chen und zudem noch in alle Stadträte der Mittelstädte einzuzie- Ifünf Landesparlamente 2004 langsam überwunden wird, sondern hen, wird grüne Politik vor Ort für die Menschen ganz anders erleb- auch auf die Tatsache, dass Ostdeutsche aufgrund ihrer histori- bar als bisher. Dafür wird in den Kreisverbänden nicht nur nahezu schen Erfahrung mit der DDR einem Eintritt in eine Partei skepti- jedes Mitglied für die Kandidatenlisten gebraucht, sondern es sind scher gegenüberstehen. So sind in Sachsen mit seinen 4,13 Millio- auch möglichst viele Sympathisantinnen und Sympathisanten von- nen Einwohnern etwa 30.000 Bürger in der CDU, Linken, SPD und nöten. Eine bessere kommunalpolitische Verankerung ist letztlich FDP engagiert, ihnen stehen 1.320 Mitglieder der Grünen gegen- eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine Regierungsbeteili- über. Gar nicht so ein schlechtes Verhältnis zur Konkurrenz wird da gung in den ostdeutschen Ländern. manche/r meinen. Doch wenn man weiß, dass Trotz wachsender Ergebnisse von etwa über 800 dieser 1.320 Mitglieder in Leipzig, 15 Prozent in den Großstädten Dresden, Jena, Dresden und Chemnitz leben, wird das Prob- « Was schmerzlich fehlt, ist Leipzig und inzwischen ebenfalls zweistelligen lem deutlicher: Jeweils etwa 50 Mitglieder ver- Ergebnissen in weiteren Uni-Städten wie Wei- suchen in den zehn Landkreisen grüne Politik das Eingebundensein in mar, Erfurt, Potsdam, Halle und Rostock gibt zu machen. Und in diesen Kreisen leben nicht über Jahre gewachsene es kaum Regierungserfahrung. Trotz einzelner nur zwischen 200.000 und 360.000 Menschen, Dezernenten, wie in Jena, Rostock, Erfurt, frü- sondern auch die Entfernungen sind zum Teil Netzwerke. » her auch Dresden, handelt es sich dabei kaum eine Herausforderung. um feste Koalitionen. Die ostdeutschen Kreis- Die Devise, mit wenigen Grünen viele Wäh- verbände sind mit der Entscheidungsdichte in ler zu bewegen, ist harte Arbeit für diejenigen, die versuchen, die einer Koalitionssituation bisher nicht vertraut; ebenso wenig mit grüne Struktur aufrechtzuerhalten. Auch der sächsischen SPD mit der dazu notwendigen Kompromissfähigkeit. ihren 4.350 Mitgliedern geht es da nicht viel besser. Zudem ist Je nach Situation im jeweiligen Bundesland sitzt in den ost- Kommunalpolitik im ostdeutschen Freistaat ein hartes Stück Arbeit. deutschen Ländern eine Partei (die CDU in Sachsen und Thürin- Allmächtige Landräte und Bürgermeister stehen Kreis- und Stadträ- gen, die SPD in Brandenburg) schon seit dem Mauerfall am Ruder ten gegenüber, die fast nur in den Großstädten auf Fraktionsmittel (Mecklenburg-Vorpommern tendiert nach Schwarz-Gelb von 1990 zurückgreifen können, die eine Anstellung von Personal erlauben. bis 1994 jetzt unter der SPD in eine ähnliche Richtung). Da fehlt Es ist ein typisch ostdeutsches Phänomen: Starke Verwaltungen, definitiv der Wende zweiter Teil. 24 Jahre nach dem Fall der Mauer schwache Parlamente. scheint die ostdeutsche Parteienlandschaft noch nicht sortiert Ist unter solchen Bedingungen das Ziel « Kampagnenfähigkeit » da genug für einen « normalen » Wechsel der Regierungspartei nach wirklich das richtige? Realistischer erscheint mir das Ziel, dauer- zwei oder drei Legislaturperioden. haft präsent in der öffentlichen Debatte zu werden. Und das gelingt Die parlamentarische Verankerung der ostdeutschen Grünen mehr und mehr. Auch abseits der Großstädte. in den Landtagen steht nicht mehr infrage. Sie haben sich etab- Das strahlt aus. Die Grünen verzeichnen auch im Osten Mitglie- liert. In den Augen der meisten Wählerinnen und Wähler sind wir

derzuwachs, nicht in Sprüngen, sondern Stück für Stück. eine ganz normale Partei. Während die Grünen in Brandenburg Fotos: S. Kaminski (Pressefoto); Franziska Petruschke; Heinrich-Böll-Stiftung 13

Böll.Thema 1/2013 13 Grüner Wandel

(u. a. wegen ihrer Opposition gegen die Braunkohle-Förderung) und Mecklenburg gute Chancen haben, über kurz oder lang eine Engagierte Grüne Koalition mit der SPD zu bilden, sieht die Situation im Südosten völlig anders aus. Die Schwäche der SPD und die Stärke der Lin- ken stehen dort grüner Machtbeteiligung im Wege. Für die Wahl zwischen Rot-Rot-Grün und Schwarz-Grün müssen sich die Grünen selbstbewusst und eigenständig mit der Machtfrage auseinander- setzen. Schlimmstenfalls werden sie gar nicht gebraucht. Der Ausgang der Bundestagswahl 2013 und die sich daraus erge- bende Regierungkoalition kann, muss aber nicht Einfluss auf die Wahlkämpfe und Machtoptionen in den drei Bundesländern Sach- sen, Brandenburg und Thüringen haben, in denen 2014 gewählt wird.

Es fehlen prominente Köpfe Natürlich steht auch im Osten die Umweltpolitik ganz weit vorn in der Kompetenzzuweisung für die Grünen. Doch « gutes Leben » ist in den neuen Ländern – trotz manch bunter Viertel in den Groß- Katrin Göring-Eckardt städten – noch lange nicht Mainstream. Die Herausforderung, eine ist die prominenteste ostdeutsche Grüne. Bei der Urwahl im Novem- allkompetente Partei zu werden, die ihr Grundprinzip der Nachhal- ber 2012 wurde sie zur Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl tigkeit und die damit verbundenen gesellschaftlichen Konnotatio- nominiert. nen dauerhaft, verlässlich, wertebeständig und sozialinklusiv poli- tisch umfassend ausformuliert, ist unstrittig. Was schmerzlich fehlt, ist das Eingebundensein in über Jahre gewachsene Netzwerke. Engagierte Vereine schrecken oft davor zurück, sich politisch ein- zumischen. Wer beißt schon gern die Hand, die ihn füttert? Erfolgreiche Politik braucht prominente Köpfe. Das hat die Wahl in Baden-Württemberg mehr als deutlich gemacht. Gerade bei der im Vergleich älteren Wahlbevölkerung in Ostdeutschland kommt einer wie Winfried Kretzschmann mit seiner unprätentiösen Art gut an. Manch schriller Eindruck, den die Grünen in früheren Zeiten vermittelten, wird dadurch korrigiert. In schwierigen Zeiten kom- men die seriösen Typen besser an. Dass die Grünen mit dem ersten Ministerpräsidenten aus ihren Reihen in einer neuen Gewichts- klasse spielen, hat auch im Osten eine Bedeutung. Axel Vogel Braunkohle(verstromung) spaltet auch die Grünen ist ein Gründungsmitglied der Grünen. Er gehörte der ersten Bundes- Ostdeutsche Grüne haben hingegen durchaus noch ein Wahrneh- tagsfraktion an und engagiert sich seit den frühen neunziger Jahren in mungsdefizit. Hier gilt es, die Kräfte systematisch zu bündeln und Brandenburg, wo er der Landtagsfraktion der Grünen vorsitzt. gemeinsam größere Themen auch gegenüber der Bundespartei zu vertreten. Denn ostspezifische Themen werden weiter eine große Rolle spielen: Das gilt nicht nur für den Umgang mit Nazi-Gewalt und der NPD. Im Osten wird noch jahrzehntelang eine grundle- gend andere Wirtschaftsstruktur und damit auch eine andere Forschungslandschaft vorherrschen. Mindestlöhne und Kinder- armut haben eine deutlich größere Verbreitung, dazu kommt der beschleunigte demografische Wandel. Fast ein ostdeutsches Allein- stellungsmerkmal ist inzwischen die Energiepolitik mit der Braun- kohleverstromung geworden. Nicht zuletzt in den Kohleländern Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt ist das eine Frage, die auch Grüne und SPD spaltet. Die betroffenen Regionen weisen weitgehend Monostrukturen auf und leiden unter zum Teil extre- mer Abwanderung. Der Osten bleibt anders und speziell – auch für die Bündnisgrünen. Werner Schulz gehörte als Bürgerrechtler der letzten Volkskammer an und führte Antje Hermenau ist Vorsitzende der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im sächsischen Landtag.--- danach die Bundestagsgruppe von Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2009 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments. Fotos: S. Kaminski (Pressefoto); Franziska Petruschke; Heinrich-Böll-Stiftung 14

14 Böll.Thema 1/2013 Grüner Wandel

In Darmstadt haben die Grünen die SPD nach 66 Jahren Stadtregentschaft abgelöst und ­regieren nun mit der CDU. Dabei haben sie mit einem ökologischen und sozialen Profil über das klassische grüne Milieu hinaus in allen Schichten Wählerinnen und Wähler gewonnen.

Partei der Leistungsträger und der Armen

Interview mit Jochen Partsch von Elisabeth Kiderlen

Elisabeth Kiderlen: Wie regiert es sich mit der CDU? und uns fehlten 100 Stimmen. Der Bürgerentscheid selbst hat eine Jochen Partsch: Besser als früher in der rot-grünen Koalition mit deutliche Mehrheit von weit über 50 Prozent gegen die Nord-Ost- den Sozialdemokraten. Das mag daran liegen, dass wir nun die Umgehung gebracht. Unsere SPD-Koalitionsfreunde erklärten den stärkste Fraktion sind. In der rot-grünen Koalition und danach Bürgerentscheid für gescheitert: « Morgen rollen die Bagger. » Also in der Ampelkoalition hatten wir es mit einer SPD zu tun, die als haben wir die Koalition gekündigt. Das hat für Aufsehen gesorgt Darmstädter Traditionspartei das Amt des OBs selbstverständlich und uns einen riesigen Glaubwürdigkeitsgewinn gebracht. Vorher beanspruchte. Für manche aus der SPD waren die Grünen nur eine hieß es: Na ja, die sind zwar professionell, aber es sind Realos, die unbotmäßige Abspaltung. hängen an ihren Posten. Wir sind vorher davon ausgegangen, dass Das alte Phänomen. Darmstadt bezeichnet sich als Wissen- es für die Nord-Ost-Straße eine Mehrheit in der Bevölkerung gibt, schaftsstadt. Das steht für ein linksliberales Milieu. Wie aber nun zeigte sich, dass es diese nicht gab. kommt eine grün-schwarze Koalition hier an? Und die SPD ist nur noch drittstärkste Partei? Gut! Die CDU ist letztlich der Juniorpartner. Es gab in der Stadt Ja, die ist nach 66 Jahren an der Regierung richtig zusammenge- eine harte Auseinandersetzung, über die die Ampelkoalition zer- brochen. Die Partei ist personell ausgelaugt, sie hat nicht das Per- brach. Es ging um die seit 30 Jahren geplante Nord-Ost-Umgehung. sonal für eine linksliberale, bürgerliche Wissenschaftsstadt. Es gibt Das war das Projekt von SPD, CDU und FDP wie der IHK und des in der SPD kaum Intellektuelle, die sich über Hannah Arendt sicher Landkreises, also der gesamten Autofahrerlobby. Wir hatten Bedin- unterhalten könnten oder wissen, wer Harald Welzer ist und wie gungen an den Bau geknüpft: Die entlasteten Straßen sollen rück- man seine Thesen auf die Kommunalpolitik runterbricht. gebaut werden, und die Kosten-Nutzen-Relation muss klar sein. Die SPD leidet immer noch daran, dass ihr in den achtziger Unter diesen Bedingungen waren wir bereit, die Straße zur Plan- Jahren eine ganze Generation abhanden gekommen ist? reife zu bringen – allerdings gegen eine starke Minderheit in unse- Das ist so. Die SPD in Darmstadt hat gesagt, wir werden sehen, rer eigenen Partei und gegen die Bürgerinitiativen, die zum Teil welche Milieus stärker mobilisieren können, die Sport- und Karne- aus Grünen bestanden, die während der Koalition mit der SPD die valsvereine oder die Kinder- und Jugendinitiativen und die Kultur- Partei verlassen haben. Es hatten sich aber die Realos durchgesetzt, szene. Grundsätzlich ist die Stärke der Darmstädter Grünen, dass die die typisch grünen großstädtischen Themen voranbringen woll- sie ein modernes urbanes ökologisches Profil mit einem dezidiert ten: den Ausbau der Schulsozialarbeit, des interkulturellen Büros, sozialpolitischen Profil verbunden haben. Ich selbst habe vier Jahre Schulsanierung, Verbesserung von Kinderbetreuung. Eine Bürger­ als Sozialdezernent in Darmstadt gearbeitet. initiative hat dann einen Bürgerentscheid erzwungen. Sozialpolitik ist kein traditionell grünes Ressort. Statis- Der Protest gegen die Nord-Ost-Umgehung als kleines S21? tisch ist nachweisbar, dass Sozialpolitik für Wahlen nicht so Ja, es gab viel Protest. Obwohl wir damals noch in der Koalition bedeutsam ist, weil die Leute in den ärmeren Vierteln weni- waren, haben wir für den Bürgerentscheid gestimmt. Dann ist die- ger wählen gehen. Sind diese Kreise zur Wahl gegangen? Wer

ser knapp am Quorum gescheitert, in Hessen sind das 25 Prozent, hat Sie gewählt? Foto: Jan Ehlers/FRIZZ MAGAZIN 15

Böll.Thema 1/2013 15 Grüner Wandel

Sie sind zur Wahl gegangen, Die Grünen bekamen vie­ natürlich gab es dort eine le Stimmen der Älteren, niedrigere Wahlbeteiligung, Frauen, Gutgebildeten, was aber wir hatten früher in ist mit den Jugendlichen? Eberstadt-Süd oder in Kra- Bei den Wählerinnen und nichstein Ergebnisse von 8 bis Wählern bis 25 Jahre haben 12 Prozent, und beim zweiten die Grünen bei der Kommu- Wahlgang der OB-Wahl hat- nalwahl 39 Prozent geholt, ten wir plötzlich 60 Prozent. gegenüber 33 Prozent insge- Dabei habe ich gegen einen samt. In der OB-Stichwahl regierenden Oberbürgermeis- hatte ich 70 Prozent in die- ter mit Amtsbonus kandidiert. ser Altersgruppe, 69 Prozent Die Wahlanalyse ergab, dass insgesamt. die Leistungsträger, aber auch Auch in Darmstadt wird ge-­ die ärmeren Schichten grün spart. Wie gewichten Sie gewählt haben. Es waren nur die Sozialpolitik, also Ver- noch sozialdemokratische teilung, und die nötigen Restmilieus, Parteimitglieder, Investitionen in Innova- die von irgendwelchen tradi- tion, Umweltpolitik, Ener- tionellen Verbindungen profi- gie­wandel? tiert haben, die SPD wählten. Wir sparen, aber wir haben Fukushima, der Streit um ein großes Programm auf- die Nord-Ost-Tangente, gelegt zur Verbesserung der sicherlich auch Ihre Per- Kinderbetreuung. Zu Anfang son – was hat für den Er­- gab es Demonstrationen von folg der Grünen noch eine Eltern, die Betreuungsplätze Rolle gespielt? gesucht haben. Diese Demos Wir haben unsere Listen gibt es nicht mehr. Und bis- immer für Quereinsteiger und lang gelingt es uns, die Spar- Quereinsteigerinnen geöffnet bemühungen so umzusetzen, und ihnen die Möglichkeiten dass sie nicht die Armen gegeben, über Kumulieren treffen. Wir profitieren aber und Panaschieren nach oben natürlich auch davon, dass zu kommen. Eine bekannte wir eine relativ geringe Ar­ Kinderärztin war zum Bei- beits­losigkeit haben. spiel auf Platz 70 und wurde Und die Innovationen? auf Platz 6 vorgewählt. Kin- « Bürgerbeteiligung ist in Wir hatten hier gerade ein derbetreuung und Familie, Darmstadt etwas Grünes. Etwas, großes Symposium. Thema das war ein großes Thema, waren Elektromobilität, Geo- die alte Kinderladenbewe- was die Leute wollen, was die thermie, Energie-plus-Häuser gung hat dabei eine Rolle und Fabriken. Wir setzen das gespielt. Dann die Ökos. Wir Politik nervt, ­was aber gut ist. » jetzt in den unterschiedlichen haben hier das Öko-Institut Bereichen um. Unser Stadt- Darmstadt, das Institut Woh- profil «City of Science » erset- nen und Umwelt, das Passivhaus-Institut, drei Fraunhofer-Institute zen wir durch « Green City of Science ». und drei Hochschulen. In einer Stadt mit 150.000 Einwohnern ist Welche Rolle spielt Bürgerbeteiligung? Gilt diese als grün? das eine unheimliche Dichte von Instituten, die sich mit Technik Bürgerbeteiligung ist in Darmstadt etwas Grünes. Etwas, was die und Ökologie beschäftigen. Und Darmstadt hat weiterhin indust- Leute wollen, was die Politik nervt, was aber gut ist. In allen Stadt- rielle Kerne. Bei Merck zum Beispiel arbeiten 10.000 Leute, dann teilen halten wir regelmäßig Bürgerversammlungen ab, wir haben gibt es T-Online, Evonik, und auch da sagt die Wahlanalyse, die gut einen Bürgerhaushalt aufgestellt, wir haben dazu eine Bürgerver- ausgebildeten Angestellten hätten grün gewählt. sammlung gemacht. 400 Leute haben sich die dröge Materie des Bislang fühlten sich die Älteren bei der CDU gut aufgehoben, Haushalts angeguckt. Wir entwickeln neue Konzepte. Beteiligung doch die hat 13 Prozent in diesem Segment verloren. Die FAZ ist für uns ein zentrales Thema. schrieb von einer « Grauen Revolution ». Sind die Alten heute Ich danke für das Gespräch. anders? Ja. Die Alten sind nicht mehr die alten. Die sind weltoffener und Jochen Partsch ist seit Juni 2011 Oberbürgermeister von Darmstadt, ­er liberaler, als die CDU es wahrnimmt. ist damit der erste grüne Oberbürgermeister einer Großstadt in Hessen. Foto: Jan Ehlers/FRIZZ MAGAZIN 16

16 Böll.Thema 1/2013 Grüne Werte

Grüne und Feminismus, das ist die Geschichte einer mehr als 30-jährigen Beziehung, in der es manchmal krachte, die nie reibungslos, aber außerordentlich erfolgreich war, die die Gesellschaft grundlegend verändert hat – und die noch nicht zu Ende ist. 30 Jahre grüne Frauenpolitik – Wurden wir, was wir werden wollten?

Von Marie-Theres Knäpper und Barbara Unmüßig

ein Bauch gehört mir! », « Wir wol- logischem Hintergrund war sie len alles, und zwar jetzt! », « Lust nicht zu akzeptieren: Sie sahen ohne Frust! », « Ob Kinder oder keine dadurch den Schutz des Lebens entscheiden wir alleine! », « Frauen bedroht. Es war , die die erobern sich die Nacht zurück! » unversöhnlichen Lager zu einem MDiese Parolen der zweiten Frauenbewegung zeu- vorläufigen Kompromiss bewe- gen vom Aufbegehren gegen überkommene Rol- gen konnte. Er entsprach zwar lenbilder, Ungleichheit und Diskriminierungen. Sie nicht der Maximalforderung, der richteten sich gegen die sexualfeindliche, repressive Abschaffung des § 218, enthielt Wohlanständigkeit der Nachkriegszeit. Das Private aber Reformschritte, die weit über wurde politisch und als patriarchal analysiert. Die die damalige gesetzliche Regelung Frauen verstanden sich als autonome Frauenbewe- ↑ Der SPD-Vorsitzende hinausgingen. gung, gleichwohl sahen nicht wenige von ihnen eine Willy Brandt gratuliert Doch der § 218 war nur ein Aspekt der Politisierung Chance, ihre autonom formulierten Ansprüche in der Petra Kelly zum Einzug des Privaten. Die Gewalt gegen Frauen, die Vergewal- ihrer Partei in den neuen Partei « Die Grünen » umzusetzen, als diese sich Bundestag. tigung in der Ehe und die sexuelle Gewalt gegen Kin- gründete. der – auch in der Familie – kamen auf die politische Auch wenn die Grünen 1983 noch nicht 50:50 Agenda der Republik. Dabei wurden Feministinnen in quotiert in den Bundestag einzogen (das Frauensta- ihrem Kampf immer wieder von Männern persönlich tut kam erst 1986), war der hohe Frauenanteil ein attackiert, als verkniffen und verklemmt diffamiert. Kulturschock für die etablierten Bundestagsparteien. Doch es wurde viel erreicht! Der § 218 ist zwar Was grüne Frauenpolitik wirklich bedeutet, erfuhren nicht gestrichen, aber Frauen können sich für einen die entsetzten Abgeordneten spätestens mit der Rede Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Seit 1997 ist der Abgeordneten Waltraud Schoppe im Mai 1983, Vergewaltigung auch in der Ehe eine Vergewaltigung in der diese endlich das Private öffentlich machte, und nicht mehr nur ein « minder schwerer Fall », von von Vergewaltigung in der Ehe sprach, die zu bestra- familiärer Gewalt betroffenen Frauen kann nun ein- fen sei, von der Verantwortung der Männer auch für facher die Wohnung zugesprochen werden. Doch ungewollte Schwangerschaften und diese auffor- noch immer sind bis heute weder die Plätze in Frau- derte, den alltäglichen Sexismus einzustellen. Der ↓ Waltraud Schoppe während enhäusern noch die Beratungsangebote ausreichend Saal brodelte, der Feminismus hatte im Bundestag ihres legendären Redebei- und Gewalt gegen Frauen weiterhin gegenwärtig. trages im Bundestag 1983 Einzug gehalten. Gewalt, vor allem sexuelle, gegen Kinder ist inzwi- schen öffentliches Thema. Heute trauen sich auch Für das Recht auf Opfer aus kirchlichen Institutionen zu sprechen. Selbstbestimmung Zu den größten Erfolgen der Grünen gehört die Zu den größten internen Konflik- Frauenquote. Innerparteilich autonom und mit ten der Anfangszeit der Grünen der außerparlamentarischen Bewegung vernetzt, gehörte die Auseinandersetzung waren die Frauen ein innerparteilicher Machtfak- um die Streichung des § 218. Für tor, wodurch es gelang, zunächst intern die Frau- das Selbstverständnis der auto- enquoten durchzusetzen. Das 1986 verabschiedete nomen Frauenbewegung war Frauenstatut hat die Mindestparität für alle grünen die Streichung zentral, für grüne Gremien und für die Wahllisten auf allen Ebenen Fotos: picture-alliance/dpa Frauen mit kirchlichem und öko- institutionalisiert. Das war damals ein Novum! Mit Foto: Heinrich-Böll-Stiftung 17

Böll.Thema 1/2013 17 Grüne Werte

wenigen Ausnahmen hält die grüne Quote bis heute, die gleiche Teilhabe an Erwerbsarbeit gefordert wer- und ihr Erfolg setzt andere Parteien unter Zugzwang. den, flankiert durch gleiche Beteiligung der Männer Dieser Erfolg ist der Schlüssel, um endlich auch in an Haus- und Erziehungsarbeit sowie qualitativ gute den Entscheidungsgremien der Wirtschaft eine mög- Kinderbetreuung? Der Streit zog sich durch sämtliche lichst paritätische Präsenz gesetzlich zu verankern. Lager und führte dazu, dass viele außerparlamenta- rische Feministinnen sich in dieser Zeit von den Grü- Rechtliche Gleichstellung in allen nen abwandten. Lebensbereichen Heute gehört es zu den Grundsätzen grüner Frau- Neben der paritätischen Präsenz in enpolitik, die ökonomische Eigenständigkeit von Politik und Wirtschaft ist die recht- Frauen zu befördern. Bis heute sind die Lohnlücke liche Gleichstellung der Frauen ein und der Niedriglohnsektor vor allem weiblich. Die Kernanliegen grüner Frauen- und alte Forderung nach gleicher Bezahlung für gleich- Gesellschaftspolitik. Der erste Ent- wertige Arbeit ist aktueller denn je. Noch immer fehlt wurf eines Antidiskriminierungsge- eine Infrastruktur, die Frauen und Männern Wahlfrei- setzes wurde 1986 von den Grünen heit für verschiedene Lebensmodelle lässt – qualitativ in den Bundestag eingebracht. Er gute Kinderbetreuung und Pflege, armutsfeste Absi- forderte die Gleichstellung in allen cherung im Alter. Lebensbereichen und hatte dabei ganz Die Grünen haben frauenpolitisch viel erreicht, verschiedene Diskriminierungskate- dennoch ist es bis zur echten Gleichstellung der gorien (Geschlecht, Klasse, ethnische Geschlechter in Deutschland noch ein weiter Weg. Herkunft, Religion, etc.) im Blick. Mit Die feministische Utopie einer Aufhebung der hie- dem Allgemeinen Gleichbehandlungs- rarchischen Geschlechterverhältnisse und der gesetz (AGG) hat dieser lange Marsch geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung hat sich – trotz der feministischen Bewegung durch die mancher Verhaltensänderung auch bei Männern – Institutionen 2006 seinen ersten gesetz- nicht realisiert. Frauen übernehmen immer noch den lichen Niederschlag gefunden. größten Teil der reproduktiven Aufgaben. Die Forderung nach Gleichstellung Wir brauchen weiterhin eine Frauenpolitik, die gleichgeschlechtlicher Lebenspartner- machtvoll paritätische Teilhabe in Politik und Wirt- ... forderten die Grünen schaften, die sich wie ein roter Faden durch alle bereits beim Bundestags- schaft sowie Einkommensgerechtigkeit einfordert. grüne Programmatik der letzten 30 Jahre zieht, wird wahlkampf 1980. Wir brauchen eine Geschlechterpolitik, die Männern mittlerweile von einer großen Mehrheit der Bevöl- und Frauen Spielraum und Wahlfreiheit für selbst- kerung unterstützt, und es ist nur noch eine Frage bestimmte und existenzsichernde Lebensentwürfe der Zeit, bis sie durchgesetzt ist. Das ist ein großer lässt. Wir brauchen eine feministische Politik, die die gesellschaftpolitischer Erfolg der Grünen. Da CDU verschiedenen Diskriminierungsformen und deren und CSU sich noch immer krampfhaft am traditio- Abschaffung in den Blick nimmt, und wir brauchen nellen Bild von Ehe und Familie festklammern, wird einen geschlechterdifferenzierten Zugang zu allen dieses wohl letztendlich vom Bundesverfassungsge- politischen Handlungsfeldern. Denn jede Politik wirkt richt renoviert werden. auf die Verhältnisse der Geschlechter ein. Ein Erfolg der Grünen waren am Anfang die Ver- Ökonomische Unabhängigkeit als Basis für ein bindung zu außerparlamentarischen Gruppen und selbstbestimmtes Leben die Reflexion des eigenen Handelns auch vor dem Die ökonomische Unabhängigkeit war immer schon Hintergrund feministischer Theorie. Diese betont ein feministisches Kernanliegen. Streitig jedoch heute noch stärker als früher die Wechselwirkungen waren die Form der Absicherung und die Rolle der Marie-Theres Knäpper hat die und Überschneidungen verschiedener Diskriminie- Erwerbsarbeit, sowohl bei den Grünen als auch in grüne Frauenprogrammatik rungsformen (Intersektionalität). Die Reflexion und der Frauenbewegung. Was außerparlamentarisch seit der Gründungsphase der Anerkennung von Verschiedenheit ist eine Vorausset- Grünen bis Mitte der 90er als « Lohn für Hausarbeit » diskutiert wurde, eska- Jahre mitbestimmt. zung, um sich mit Diskriminierungen verschiedener lierte bei den Grünen unter anderen Vorzeichen als Barbara Unmüßig ist Vor- gesellschaftlicher Gruppen auseinanderzusetzen, sogenannte « Mütterdebatte ». Diese wurde ausgelöst stand der Heinrich-Böll-Stif- solidarisch zu sein und neue Politiken der Antidis- durch das 1987 von Gisela Erler verfasste Mütterma- tung. Neben der internatio- kriminierung mit neuen Bündispartnerinnen und nifest, das von vielen Grünen und den Grünen nahen nalen Arbeit der Stiftung ist Bündnispartnern zu entwickeln. Die grüne Program- sie verantwortlich für das Frauen unterzeichnet wurde. Zwei Sichtweisen tra- Gunda-Werner-Institut für matik sollte sich noch mehr auf diese feministischen fen aufeinander. Grob vereinfacht: Sollte die « weib- Feminismus und Geschlech- Analysen stützen, wenn sie sich nicht den Vorwurf liche » Seite der Frauen, zu der auch die Mutterrolle terdemokratie. Eines ihrer eines (weißen) Mittelklasse- oder Elitefeminismus gehört, aufgewertet werden, als Gegenmodell zur zentralen Anliegen ist die einhandeln und anschlussfähig für junge (und grüne) konsequente Umsetzung des männlich strukturierten Welt? Oder sollte die pat- Feministinnen bleiben will. Leitbilds Geschlechterdemo- riarchale Rollenzuweisung, die die Geschlechtscha- kratie der Heinrich-Böll-Stif- Fotos: picture-alliance/dpa Foto: Heinrich-Böll-Stiftung raktere wesentlich prägt, weiter infrage gestellt und tung. --- 18

18 Böll.Thema 1/2013 Grüne Werte

Werte gewinnen in der Politik erst durch ihre Interpretation und Anordnung jene normative Orientierungskraft, die in einer postideologischen Gesellschaft dringend benötigt wird – deshalb lohnt der Streit über sie. Was orientiert grüne Politik?

Von Peter Siller

n Zeiten des politischen Pragma- wir uns als politisch Freie und Glei- tismus gehört die Betonung che begegnen. Ganz zu schweigen einer « klaren Werteorientie- von den Menschenrechten, die ja rung » ins feste Repertoire gerade dasjenige ausweisen, was der Parteien. Dies sollte durch andere Werte nicht relati- Imisstrauisch stimmen, solange vierbar ist. Dass Ökologie, also diese Werte nur schönes Bei- das bloße Zusammenwirken werk sind und nicht selbst der Natur, selbst bereits einen zum Gegenstand der politi- normativen Gehalt hat, ist schen Auseinandersetzung mehr als zweifelhaft. Viel- werden. Denn unausgeführt mehr kommt es darauf an, die und nebeneinander gestellt Bedeutung ökologischer Poli- sind sie ohne Orientierungs- tik mit Blick auf Gerechtigkeit, kraft – das gilt auch und erst Freiheit und Demokratie über- recht für die Werte der Grünen. haupt erst deutlich zu machen. Das Problem fängt schon mit Begriffe wie Nachhaltigkeit oder dem Begriff des « Werts » an. Er Generationengerechtigkeit stehen erweckt den Eindruck, den verschie- dafür, sind aber selbst wiederum auf denen normativen Positionen komme ihren Status innerhalb eines umfassen- jeweils ein Wert zu, den man – nach den Gerechtigkeitsansatzes zu befragen. welchem Verfahren auch immer – im Kollisi- onsfall abgleichen kann. Entsprechend ist in der Von der Addition zur Anordnung Politik viel von « Zielkonflikten » und von « Spannungs- Die Grünen haben mit der ökologischen Frage von jeher verhältnissen » die Rede. Dieses abwägende Nebeneinanderstellen einen gemeinsamen Ausgangspunkt, mit dem sich sehr unterschied- verkennt jedoch völlig, dass es sich bei den im politischen Raum liche normative Perspektiven verbinden lassen. Entsprechend nei- gängigen « Werten » um völlig unterschiedliche normative Katego- gen sie eher zur Addition als zur konturscharfen Anordnung ihrer rien handelt. Die politische Rede von « Werten » birgt deshalb die Grundwerte. So heißt es etwa in der Präambel des gültigen Grund- Gefahr, diese Unterschiede einzuebnen, Äpfel mit Birnen zu ver- satzprogramms (von 2002): « Wir haben als Partei der Ökologie gleichen und am Ende mehr zur Desorientierung beizutragen als linke Traditionen aufgenommen, wertkonservative und auch solche zur Orientierung. des Rechtsstaatsliberalismus. (…) Unsere Grundposition heißt: Wir Schauen wir uns kurz einige der gängigen « Grundwerte » an: verbinden Ökologie, Selbstbestimmung, erweiterte Gerechtigkeit Kant hätte sich im Grab umgedreht, wenn Freiheit als Wert gegen und lebendige Demokratie. Mit gleicher Intensität treten wir ein für Gerechtigkeit ins Feld geführt würde, geht es doch gerade darum, Gewaltfreiheit und Menschenrechte. » Diese Addition hat sicher den die verschiedenen Freiheitsansprüche in einen gerechten, verall- taktischen Vorteil einer weltanschaulichen Breite, die (in Verbin- gemeinerbaren Ausgleich zu bringen. Auch Demokratie lässt sich dung mit einem entsprechenden personellen Angebot) als Projekti-

nicht sinnvoll als Wert begreifen, der mit konkurrierenden Wer- onsfläche für sehr unterschiedliche normative Grundeinstellungen Illustrationen: Martin Nicolausson ten abzugleichen ist, sondern als grundlegendes Verfahren, in dem dienen kann. Diese Anschlussfähigkeit ist sicher ein Grund für den 19

Böll.Thema 1/2013 19 Grüne Werte

rasanten grünen Aufwuchs der letzten Jahre. Bliebe es jedoch bei Zukunft schaffen! einer bloßen Addition – nach dem Motto: Such dir deinen eigenen Eine grüne Idee der Grundwert aus – so wäre nicht viel Orientierungskraft zu erwarten. Nachhaltigkeit Worin also liegt die spezifische grüne Interpretation allgemeiner Schließlich wird mit « Zukunft Werte? Und worin liegt die spezifisch grüne Anordnung von Wer- schaffen » eine entscheidende ten, die mehr ist als ein bloßes Nebeneinanderstellen? Beim Blick Dimension grüner Politik auf- in das grüne Bundestagswahlprogramm 2013 lässt sich durchaus gerufen, die Gerechtigkeit nicht eine Entwicklung konstatieren, die versucht, mehr Kontur in den nur im Jetzt denkt, sondern Wertehimmel zu bringen. Dabei steht die Konkretion und Relation auch die zukünftigen Lebensbedingungen einbezieht. Anders als der drei Begriffe Gerechtigkeit, Demokratie und Nachhaltigkeit im viele andere Protagonisten können die Grünen diesen Anspruch Vordergrund. der Zukunftsverantwortung glaubhaft ins Feld führen. Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt: Dieser Grundsatz gilt – Teilhaben! Eine grüne Idee ausgehend von der Ökologie – für viele Bereiche, für die Haushalts- der Gerechtigkeit und Finanzpolitik ebenso wie für die Bildungs-, Arbeits- und Fami- Grüne Programmatik arbeitet lienpolitik, für die Energie- und Mobilitätspolitik ebenso wie für die zunehmend klarer mit einem Ausrichtung der sozialen Sicherungssysteme, etwa für die Gesund- Gerechtigkeitsansatz, der sich heits- oder Rentenpolitik. Der grüne Anspruch einer zukunftsorien- von dem anderer Parteien unter- tierten Politik bezieht sich dabei nicht nur auf das Leben zukünfti- scheidet. Der Begriff der Teilhabe ger Generationen, er zielt auch auf die Zukunft unserer Kinder, auf interpretiert Gerechtigkeit nicht die Zukunft unseres eigenen Lebens – auf dass wir die Weichen mehr nur distributiv, sondern als heute so stellen, dass wir (auch) morgen ein gutes Leben führen Teilhabe aller an den entscheiden- können. In Zeiten der Krisen und der Verzagtheit formulieren die den gesellschaftlichen Gütern. Daraus erschließen sich die Dimen- Grünen eine emanzipatorische Idee von einem besseren Morgen. sionen der sozialen Idee der Grünen: Von der Bedeutung guter öffentlicher Institutionen bis zu einem erweiterten Anspruch auf Von der Sonntagsrede zur Auseinandersetzung Inklusion, auch auf eine inklusive Demokratie. Von einem ermög- Die Parteien müssen die akuten Verunsicherungen in der Finanz- lichenden Sozialstaat, in dem sich Gerechtigkeit und Freiheit zu und Klimakrise für sich als Aufforderung zur Herausbildung neuer einer Idee gleicher Freiheit verbinden, bis zu einer entsprechen- Orientierungsangebote begreifen. Nur so lässt sich der Raum des den Bestimmung einer grünen Idee der Verteilungsgerechtigkeit. Politischen als Raum von Möglichkeiten und nicht von bloßen Von der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung des Gerechtig- Zwängen aufstoßen. Das gilt umso mehr für die Grünen mit dem keitsmaßstabs, wie sie bereits im erweiterten Gerechtigkeitsbe- selbsterklärten Anspruch und der gesellschaftlichen Erwartung griff des grünen Grundsatzprogramms entwickelt wurde, bis zur einer Orientierungspartei. gezielten Stärkung einzelner Subjekte, insbesondere mit Blick auf Die Entwicklung solcher Orientierungsimpulse ist in Zeiten, in Geschlechtergerechtigkeit. denen die Habermas’sche Diagnose von der neuen Unübersichtlich- keit in voller Blüte vor uns steht, eine harte, anspruchsvolle Arbeit. Einmischen! Eine grüne Sie ist ohne Orientierungsdiskurse, ohne Auseinandersetzung und Idee der Demokratie Streit nicht zu haben. Konturscharfe Orientierungen bekommt Nicht zuletzt auf Grund der man nicht geschenkt, man muss sie erstreiten. Und erst durch die Bürgerproteste und Bürgerbe- gesellschaftliche Auseinandersetzung werden sie zu einer echten wegungen der letzten Jahre ist Orientierung. eine grüne Wiederbelebung der Es geht also nicht zuletzt darum, die Frage nach der Wertorien- Demokratiefrage im Gange. Mit tierung der Politik aus dem monologischen Raum der Sonntagsre- dem Begriff der Einmischung den zu überführen in den lebendigen Streitraum der Demokratie. wird eine eigene Position mar- Es besteht die begründete Hoffnung, dass den Grünen dies heute kiert, die ernsthaft mehr Ein- so gelingen kann, dass aus dem notwendigen Streit kein Kampf flussnahme durch die Bürge- wird, aus der notwendigen Polarisierung kein Graben. Die politi- rinnen und Bürger ermöglichen will, eine Einflussnahme, die über sche Auseinandersetzung um die normative Orientierung könnte die Forderung nach « mehr direkter Demokratie » hinausgeht und dabei geprägt sein von einer neuen demokratischen Kultur, in der zu einer demokratischen Inklusion, zu einer gerechteren demo- neben Überzeugungen auch Zweifel offen benannt werden können kratischen Repräsentation aller kommen will. Dabei verbindet sich und leidenschaftliches Argumentieren mit intensivem Zuhören die Gerechtigkeitsfrage mit der Demokratiefrage zu einer eigenen einhergeht. grünen Agenda: von der Stärkung des öffentlichen Raums bis zu einer aktiven Medienpolitik, analog und digital. Von einer Neuaus- Peter Siller ist Leiter der Inlandsabteilung der Heinrich-Böll-Stiftung. richtung der Planungsverfahren bis zur Transparenz der politischen Zuvor war- er-- Scientific Manager des Exzellenzclusters «Formation of Nor- mative Orders» an der Goethe Universität Frankfurt am Main und Mit- Entscheidungsprozesse. Von einer Stärkung der Legislative bis zu glied des Planungsstabs im Auswärtigen Amt. einer Neubelebung der Parteien als Transformationsriemen zwi-

Illustrationen: Martin Nicolausson schen Gesellschaft und institutioneller Politik. 20

20 Böll.Thema 1/2013 Grüne Werte

Wer angesichts der Euro-Krise für staatliche Konjunkturprogramme plädiert, verabschiedet sich von der normativen Institution der Nachhaltigkeit in der Haushaltspolitik. Die Grünen sollten für eine intelligente Politik der Schuldentilgung eintreten. Die rechte Zeit der Austerität

Von Konrad Ott

usterität ist die Bezeichnung für John Maynard Keynes setzt in seiner Theorie eine Finanzpolitik, die angesichts voraus, dass konjunkturelle Zyklen (« boom » und einer als zu hoch empfundenen « slump ») in kapitalistischen Marktgesellschaften die Staatsverschuldung eine langfris- Regel sind. Nach Keynes soll deshalb eine moderne tige Konsolidierung des Staatshaus- staatliche Finanz- und Wirtschaftspolitik antizyklisch haltes durch Ausgabenkürzungen ausgerichtet sein. Bei schlechter Konjunktur, negati- erreichen möchte. Die Verwendung ven Wachstumsraten des BIP und drohender Rezes- Ades Austeritätsbegriffs in politischen Kontexten hat sion sollte der Staat schuldenfinanzierte Konjunktur- in keynesianischen und « linken » Denkschulen immer programme verabschieden (« deficit spending »), um auch den performativen Sinn einer Kritik. Kritisiert den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu dämpfen und wird, dass die Kürzungen wohlfahrtsstaatlicher Leis- die Massenkaufkraft zu stabilisieren. Daher sollten tungen ungerecht seien, weil sie die ärmeren Schich- in einer Rezession staatliche Transfers nicht gesenkt ten treffen, und dass Austeritätspolitik politische werden. Die Lehre vom « deficit spending » bleibt aber Risiken für parlamentarische Demokratien berge. eine Halbwahrheit, wenn man die andere, hierzu Der Vorwurf der Ungerechtigkeit und die Warnung komplementäre Seite antizyklischen Handelns unter- vor Risiken scheinen dann begründet, wenn in einer schlägt. Bei guter Konjunkturlage sollte ebenfalls schweren konjunkturellen Rezession Austerität ver- antizyklisch gehandelt werden. Im « Boom » sollten ordnet wird. Noch prekärer wird die Mischung aus für Keynes die Staatsschulden getilgt, Steuern erhöht, Rezession und Austerität, wenn eine Austeritätspo- die Nachfrage gedrosselt, die Inflation bekämpft und litik einzelnen Nationalstaaten von transnationalen so die kulturellen Exzesse des Booms unterbunden Akteuren (EU-Kommission, « Troika ») verordnet wird. werden. Wer diese Forderung nach Austerität im Austerität erscheint dann als fremdbestimmtes Dik- Boom unterschlägt, verfehlt die Theorie von Keynes tat, das Verarmung verordnet. Es verwundert daher insgesamt. nicht, dass sich die « Linke » scharf gegen die Spar- programme in Südeuropa positioniert hat. Demge- Der halbierte Keynes genüber möchte ich ein systematisches Argument Der wirtschaftspolitische Siegeszug des Keynesianis- entwickeln, warum gerade der politisch erfolgreiche mus in den hochkonjunkturellen Perioden der Nach- Keynesianismus der vergangenen Jahrzehnte zu einer kriegszeit, die einen geschichtlich präzedenzlosen für Keynesianer dilemmatischen Situation führen Ausbau des Wohlfahrtsstaates mit sich brachten, ging musste, einer Situation nämlich, in der zugleich Aus- einher mit einer Verstümmelung von Keynes’ kom- terität und « deficit spending » geboten sind. Dieses plementär-antizyklischem Schema. Viele Politiker Argument stellt den beredten Warnungen vor Auste- übernahmen von Keynes zwar die Botschaft, wonach rität eine andere Perspektive entgegen, aus der wirt- die Aufnahme von Staatsschulden volkswirtschaftlich schaftspolitische Schlüsse allerdings weniger leicht gerechtfertigt sei, halbierten aber den komplemen- zu ziehen sind. tären Zusammenhang von « deficit spending within

slump » und « austerity within boom ». Aus Keynes Fotos: Daniel Ochoa De Olza/AP 21

Böll.Thema 1/2013 21 Grüne Werte « Aber ist eine Sanierung der antizyklischer Theorie wurde die Praxis dauerhafter Neuverschuldung, durch die Gegenwartsforderun- Staatshaushalte am Ende der Ära des gen erfüllt und Probleme in die Zukunft verschoben wurden. ‹ halbierten Keynes › und am Beginn Der Schuldendienst entwickelte sich in allen west- einer Postwachstumsgesellschaft lichen Industriestaaten zu einem der größten Haus- haltsposten. Dadurch sank der Anteil am Budget, der überhaupt noch möglich? » politisch frei verfügbar ist, ebenfalls in allen Indus- triestaaten kontinuierlich. Gerechtfertigt wurde das kontinuierliche « deficit spending » erstens mit Ver- chen Schuldendienstes und anderer Garantien verab- weis auf die Staatsschuldenquote, die bei hohen schieden muss. Diese Strategie mündet zwangsläufig Wachstumsraten sogar sinken konnte, und zweitens in diverse Kombinationen aus « drop-the-dept »-For- mit der Unwahrscheinlichkeit von Staatsbankrotten, derungen, Substanzbesteuerung und Inflationierung. da Staaten über Steuerpolitik auf Einkommen und Die Partei von Bündnis 90/Die Grünen sollte deutli- Vermögen ihrer Bürger zugreifen können, sofern sie chen Abstand von derartigen Strategien halten. über eine funktionierende Fiskalbürokratie verfügen Wenn man hingegen an der normativen Vorausset- und Ausweichstrategien verhindern können. Beide zung eines verlässlichen Schuldendienstes festhält Rechtfertigungen sind zweifelhaft geworden. Viel- und die Diagnose einer dilemmatischen Situation für mehr ist der Staatsbankrott durch den « Fall Grie- plausibel hält, muss man Optionen ins Auge fassen, chenland » von einem archaischen Gespenst zu einer die die volkswirtschaftlichen Bedingungen von voll- realen Möglichkeit in der EU geworden. ständigem und dauerhaftem Keynesianismus wieder Die nun eingetretene Situation einer Rezession bei herstellen. Es wäre (auch unter der optimistischen hoher Staatsverschuldung ist für Keynesianer apore- Annahme eines « ergrünten » Kapitalismus) wün- tisch bzw. dilemmatisch, da in einer solchen Situation schenswert, einen Weg in ein langfristig funktionie- zugleich die Zeit für « deficit spending » und für Aus- rendes antizyklisches Konjunkturregime zu finden. terität wäre, aber beides zusammen nicht geht. Die Die empiristische These, wonach Austeritätspolitik Verbindung von Rezession und Austerität erhöht die keine Mehrheiten in Massendemokratien finden Arbeitslosigkeit und lässt die Staatsschulden kurz- werde, muss durch den normativen Konsens der Bür- fristig weiter ansteigen, was in der Bevölkerung das gerschaft abgelöst werden, dass ein (schwieriger) Gefühl der Vergeblichkeit hervorruft. Weil « deficit Weg zurück zum « ganzen Keynes » richtig wäre. spending » auf Dauer gestellt wurde, droht jetzt eine Aber ist eine Sanierung der Staatshaushalte lange Phase der Austerität. Die unterlassene Aus- am Ende der Ära des « halbierten Keynes » und am terität der Vergangenheit rächt sich also in unserer Beginn einer Postwachstumsgesellschaft überhaupt Gegenwart. In solchen dilemmatischen Situationen noch möglich? Als hartnäckiger Optimist glaube ich hat die Kritik am Krisenmanagement leichtes Spiel. an eine solche Möglichkeit. Die Partei der Grünen « Austerität » wird daher gegenwärtig zum polemi- könnte klug an Bedingungen arbeiten, unter denen schen Kampfbegriff, und die Versuche der Haushalts- ein nichthalbierter Keynesianismus wieder möglich konsolidierung gelten als Diktate des (angeblich neo- wäre. Die einmalige Vermögensabgabe könnte ein liberalen) « Merkel-Europa ». Lackmustest auf diese Politik sein. Bei allen verfas- sungsrechtlichen Bedenken gegen eine Vermögens- Die Vermögensabgabe ist der Lackmustest abgabe kann man argumentieren, dass eine solche Die Ratlosigkeit der echten Keynesianer angesichts Abgabe unter strikter (und nicht verhandelbarer) des volkswirtschaftlichen Dilemmas und das « mudd- Zweckbindung an eine konsequente Austeritätspoli- ling through » der EU-Bürokratie spielen all denen in tik (Tilgung der deutschen Staatsschulden und Betei- die Hände, die nach einer nochmaligen Radikalisie- ligung an einem umfassenden Austeritätsplan für die rung des « halbierten » Keynes, d. h. nach Konjunktur- Eurozone) am ehesten zu rechtfertigen wäre. Die programmen, Ausweitung der öffentlichen Dienste « linke » Forderung nach Substanzbesteuerung würde und nach dauerhaften Transfers in den Süden Euro- an Überzeugungskraft gewinnen, wenn sie mit der pas rufen und gleichzeitig implizit mit den normati- « konservativen » Einsicht einherginge, dass die rechte ven Voraussetzungen von Keynes brechen, nämlich Zeit für (vernünftige) Austerität gekommen ist. Die der Verlässlichkeit des staatlichen Schuldendienstes. Generation, die vom halbierten Keynesianismus pro- Wer nämlich in der jetzigen Situation kurzfristig fitierte, sollte sich erkenntlich zeigen. Wer, wenn für massive staatliche Konjunkturprogramme, mit- nicht wir, wann, wenn nicht jetzt? telfristig für den Ausbau der Wohlfahrtsstaaten in der EU (« soziales Europa ») und längerfristig für ein Prof. Konrad Ott lehrt Philosophie und Ethik der Umwelt Degrowth-Szenario eintritt (und über einen Taschen- an der Universität Kiel. Von 2000 bis -2008-- gehörte er dem Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundes- rechner verfügt), der muss wissen, dass er sich von regierung an.

Fotos: Daniel Ochoa De Olza/AP der normativen Institution eines verlässlichen staatli- 22

22 Böll.Thema 1/2013 Grünes Regieren

ie Grünen, scheint mir, sind Die Grünen werden noch immer von einem paternalistischen Fortschritts­ größer und kleiner, als es die Wählerschaft erkennen lässt, bewusstsein getragen, das den Bürgerinnen und Bürger bei der Hand die ihnen die Umfragen verspre- nehmen will. Besser wäre es, sie würden ihn als Souverän ernst nehmen chen. Es geht eine beruhigende, und sich im politischen Wettbewerb um seine Gunst bemühen – an guten Derhebende und auch einschüchternde Wir- Ideen dazu mangelt es ihnen nicht. kung von der Partei aus, das macht sie größer, als sie ist. Doch noch immer ist sie nicht ganz gegen die Versuchung gewapp- net, sich einen heilsgeschichtlichen Auftrag zuzuschreiben, der sie ab ovo adelt und über den Rest der Parteien hinausragen lässt. Das macht sie kleiner, als sie in Wirk- lichkeit ist. Wenn die grüne Partei in sieben Jahren Die kleine den 40. oder gar, wenn sie ein Jahrzehnt später den 50. Jahrestag ihrer Gründung feiern wird, dann wird das sicher ein beträchtliches Festtagsgeräusch geben. Nun Großpartei gibt es eine nicht unbedeutende Partei, die im Mai dieses Jahres immerhin ihren 150. Geburtstag feiern kann: die SPD. Sie kann auf ihre Geschichte stolz sein. Sie ist älteste deutsche Partei, sie hat 1933 als einzige der damals im Reichstag noch vertretenen Parteien gegen das Ermächtigungsgesetz Von Thomas Schmid gestimmt. Sie vor allem hat geholfen, die erste deutsche Demokratie aus der Taufe zu heben. Sie hat (fast) immer das oft gefähr- über dem Parteienstreit stehende Ziele zu das vielbemühte gute Leben versprach. Die- lich flackernde Licht der Reformen gehegt, verkörpern scheint. Gegen fast alles, was ser Fortschritt war keineswegs harmonisch, sie hat im Zweifelsfall dem Gemeinwesen die Grünen programmatisch wollen, kann und alle wussten das. Er annullierte alte und dem Staat den Vorrang vor der Par- man schlechterdings nichts haben: pro Sicherheiten, grub alten, guten Gewohn- tei gegeben, sie war in einem guten Sinne bono, contra malum. Die Grünen verstehen heiten das Wasser ab, er entwertete Ver- patriotisch. Auch oder weil die gegenwär- es gut, diese universalistische Botschaft in gangenheiten, er war ungemütlich. Und tigen Machtperspektiven der SPD nicht parteipolitische Münzen umzuprägen. er wird das bleiben, auch dann, wenn er allzu rosig sind, gäbe es also viel zu feiern – Alle Parteien neigen dazu, Unvereinbares ökologisch-nachhaltig neu gefasst wird. Das laut, deutlich und unübersehbar. Doch die durch das zusammenzuzwingen, was man ist denen, die sich in den grünen Entschei- Sozialdemokraten halten den Festtagsball Formelkompromisse nennt. Bei den Grünen dungsetagen bewegen, nicht unbekannt. erstaunlich flach. Es ist, als trauten sie sich war dieser Hang aufgrund der zu Anfang Doch die Partei insgesamt strahlt, nachweis- selbst nicht so recht über den Weg. extrem heterogenen Basis der Partei ganz lich ihres Entwurfs für ein Wahlprogramm, Das hat viel mit der grünen Partei zu tun. besonders ausgeprägt – bescheidene Kreis- diese Einsicht (noch) nicht aus. Da wird Diese hat ihr eine Generation von Jugend- laufwirtschaft und ein exponentieller Aus- immer zu vieles mit zu vielem versöhnt. Es lichen und Nachwuchstalenten weggenom- bau des Sozialstaats passten mühelos unter weht ein halb strenger, halb verständnis- men; sie hat die SPD mit ihren Themen einen Hut. Mehr als Reste davon gibt es voller, aber in jedem Falle paternalistischer Umwelt, Nachhaltigkeit und gutes Leben im heute noch immer. Ralf Fücks hat mit sei- Geist des protestantischen Pfarrhauses aus Wortsinne alt aussehen lassen; sie hat sie nem Buch den Versuch unternommen, den dem grünen Hauptquartier. zur Verwalterin des industriegesellschaft­ Fortschritt umzucodieren, den Begriff neu Heute gehört es zum grünen Common lichen Altertums degradiert. Und jetzt geht zu definieren, ohne ihm seinen ursprüngli- Sense, dass man die Menschen da abholen die grüne Partei mit der Schrift « Intelligent chen Impuls – den der Welterschließung im müsse, wo sie sind. Muss man sie wirklich wachsen » von Ralf Fücks sogar daran, den Interesse der Menschheit – zu rauben. Doch abholen, muss man – oberschlau, wie man Sozialdemokraten ihren heiligsten Wert ist die grüne Partei bereit, diese Botschaft nun einmal ist – sie an die Hand nehmen zu entwenden, den Fortschritt. Egal, ob zu hören? und in die bessere Zukunft führen? Ich die Grünen (wie in Baden-Württemberg) Die Geschichte der vergangenen 200 vermute, dass man damit die Bürger unter- regieren oder (wie im Bund) nicht regieren, Jahre ist eine Geschichte des Fortschritts – fordert. Sie kennen die Härten und die mindestens 12 bis 20 Prozent der deutschen eines Fortschritts, der nicht oktroyiert und Widersprüche des wirklichen Lebens. Sie Wähler blicken mit Wohlgefallen auf die erzwungen war, der von der Mehrheit wissen, dass man ein Stück Holz nur ein- grüne Partei, die sich politisch zu schlagen gewollt wurde. Denn er war es, der endlich mal verbrennen kann. Es könnte, umge-

weiß, zugleich aber edle, gewissermaßen besseres Auskommen, weniger Mühsal und kehrt, natürlich auch sein, dass die große Illustration: Martin Nicolausson 23

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der bürgerlichen Freiheit hochhalten, dann sollten sie sich nicht nur darüber Gedan- ken machen, was unbedingt anders werden muss. Sie müssten, eben um der Freiheit willen, auch über das Wie der von ihnen gewollten großen Transformation besorgt sein. Sie waren ja einmal eine recht staats- ferne Partei gewesen, und ich wünschte mir, sie würden diesen Impuls gerade auch dann nicht vergessen, wenn sie im staatlichen Gehäuse Entscheidungspositionen einneh- men oder einnehmen wollen. Das führt direkt zu meinem letzten, sehr aktuellen Thema: Europa. Alle wollen Europa retten und voranbringen, die grüne Partei auch und sowieso. Die Grünen sind, wenn nicht alles täuscht, die Partei der Sub- sidiarität, wollen es zumindest sein. Da läge es doch auf der Hand, den Gedanken der Subsidiarität konsequent auf die EU anzu- wenden, deren Krise ja auch darin besteht, dass sie nicht die Waage gefunden hat, die wägen könnte, was der Europäischen Union und was der Nationalstaaten bzw. der Regionen sei. Genau das fehlt in der gegenwärtigen EU-Debatte, die zwischen einem zentralistischen « Mehr Europa » und einer nationalstaatlich begründeten Integ- Zustimmung für die grüne Partei mit deren heute gerne für sich beanspruchen. Doch rationsverweigerung oszilliert. Es ist schon betörender Kraft zu tun hat: Zwar streng vermisse ich in fast allen gegenwärtigen erstaunlich, dass in der gegenwärtigen im Ton, verspricht sie doch, es gehe schon grünen Diskursen den Bezug auf die alten EU-Diskussion die Grünen als Stimme des zusammen – Wohlstand und Umkehr, Öko- liberalen Ideen vom Vorrang des Einzelnen Föderalismus weithin fehlen. Offensicht- nomie und Ökologie, mehr und weniger. vor der Gemeinschaft, auf die Überzeugung, lich lahmt die EU auch deswegen, weil sie Verhielte es sich so, dann wäre die grüne der Staat sei ein zwar notwendiges, aber in ihren zentralen Kompetenzen überdehnt Partei so etwas wie eine Wohlfühlmaschine, ist und damit einen Abwehr- und Flucht- die den Praxistest noch immer vor sich hat. « Ich vermisse in fast allen gegen- reflex vieler Bürger auslöst; weil sie kom- Wie auch immer, der grüne hohe Ton macht wärtigen grünen Diskursen den pakter sein wollte als sie sein kann; weil sie misstrauisch. Denn mit ihm treten die Grü- Bezug auf die alten liberalen dem wenig nachhaltigen Prinzip « weiter nen gewissermaßen außerhalb der Konkur- so » folgte. Was läge in grüner Perspektive Ideen vom Vorrang des Einzel- renz an. Während andere Parteien spezielle, näher, als eine EU ins Auge zu nehmen, die besondere Interessen vertreten, vertritt die nen vor der Gemeinschaft. » ihre – auch globale – Stärke daher bezieht, grüne Partei stets und prästabilisiert das all- dass sie flexibel ist, dass sie so viel wie mög- gemeine Interesse: kleinlich und egoistisch eben doch ein Übel – weswegen es für jede lich den Einzelstaaten und besser noch den die anderen – gattungs- und menschheits- Generation erneut ein zwar schwieriges, Regionen überlässt? Und die im Gegenzug bezogen die Grünen: So einfach kann es im aber lohnenswertes Ziel ist, die Grenzen der in einigen wichtigen Punkten, zu denen Ernst nicht sein. Und es passt so gar nicht Wirksamkeit des Staats möglichst zu redu- vorweg die Außenpolitik gehört, konse- zu der Regel, dass in Demokratien niemand zieren. Niemand kann ernsthaft bestreiten, quent zentralstaatlich organisiert ist? Hier über dem andern steht. Es wäre ein wirk- dass es des Staates und seiner Rahmen- und könnten die Grünen mit unverwechselba- lich großer Fortschritt, wenn sich die grüne Regelsetzung bedarf. Niemand aber kann rer Stimme sprechen – und hätten einen Partei als ein Bewerber um politische Macht auch ernsthaft bestreiten, dass in einer Ansatz, der eine kluge Antwort auf die euro- unter anderen verstünde, nicht weniger, modernen, hoch komplexen Gesellschaft paskeptischen Sorgen so vieler Bürger wäre. nicht mehr. Dann wäre – ganz pragmatisch, wie der unseren der Staat eher zu viel als Warum nur arbeitet die grüne Partei nicht ganz ergebnisorientiert – über konkrete zu wenig regelt und damit die ideale Bür- an einem subsidiären Fahrplan für eine bes- Reformschritte zu reden. gerfreiheit einschränkt. Deswegen ist es sere EU? Wie schön wäre es, wenn die Grünen tat- auch nicht sonderlich hilfreich, wenn die sächlich die Erben des deutschen, vor allem Grünen nicht davon lassen wollen, die FDP Thomas Schmid ist Herausgeber der Welt- aber: nicht nur des deutschen Liberalismus als staatsvergessene Wolfspartei zu karikie- Gruppe- des-- Axel-Springer-Verlages.

Illustration: Martin Nicolausson wären, wie sie – wenn ich das richtig sehe – ren. Wollen die Grünen wirklich die Fahne 24

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Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl ist im Mitte-rechts-Spektrum das « Lager von unten » noch intakt und das linke Spektrum nicht in der Lage, eine gesellschaftliche in eine politische Mehrheit umzuwandeln. Die Wählerlogik zwingt zu einer unmissverständlichen Ansage für ein rot-grünes Bündnis. Es kommt darauf an, ob dieses eine Antwort auf Merkels Strategie der aktiven Demobilisierung findet. Der steinige Weg zur Macht 27% Schwarz und Gelb heißt für Rot-Grün, dass sie mindestens 47 Prozent für ihre eigene Mehrheit brauchen – ein Wert, den sie bei Infratest dimap zuletzt am 6. Oktober 2011 erreichten. Das war vor anderthalb Jahren. Merkel betreibt Spurenverwischung. Jeder kämpfe für sich allein, sagt sie. Es sei zwar die erfolgreichste Regierung seit einem Vierteljahrhundert, aber sehen lassen will sie sich mit der FDP nicht. Im heißen Sommer wird die Abgrenzung noch zuneh- men. Eine der üblichen taktischen Täu- % schungen Merkels. Früher nannte man das Von Joachim Raschke und Ralf Tils « Getrennt marschieren, vereint schlagen ». 1 5 Der Vorteil liegt in der Verbreiterung des noch siegen kann – das gelang allerdings bürgerlichen Lagers – der harte Neolibera- nur knapp in einem Bundesland, im Wes- lismus wird der FDP überlassen, die CDU ten. Niedersachsen hat deutlich gemacht, bemüht sich durch einen « sozialen Wahl- ­ dass das « Lager von unten » im Mitte-rechts- kampf » um die sozial-konservativen Wähler. Spektrum voll intakt ist. Es brauchte nur Die FDP im Bundestag, das sichert Merkel wenige Signale von der mittleren Ebene, die Möglichkeit, nach der Wahl wählen zu FDP um die bürgerlichen Wähler an die großen können, wer mit (unter?) ihr regiert. Machtvorteile einer kleinen Stimmenum- verteilung zu erinnern. Die Erinnerung an Merkels Strategie dieses Rechenexempel hält bis zum Sep- Die Hauptstrategie Merkels ist aber gegen % tember. Auch ohne einen Lagerwahlkampf die SPD gerichtet. Sie arbeitet an dem « von oben » – den es unter Merkel nicht gibt. Manöver, die SPD in die Defensive zu zwin- 4 Es ist die listige Strategie eines Lagerwahl- gen, ohne sie anzugreifen. Ihr Ziel ist die er Versuch, die schwarz-gelbe Bun- kampfs ohne Lagerrhetorik und -polarisie- strategische Mehrheitsfähigkeit: Merkel desregierung im Herbst abzulösen, rung. Dazu kommt « Überleben der FDP » als bleibt Kanzlerin, politische Mehrheiten D ist nach der Niedersachsen-Wahl eigenes, auf Bundesebene immer zugkräf- gegen die Union sind unmöglich. Die SPD nicht leichter, sondern schwerer geworden. tiges Thema, das die FDP am Ende wahr- wird aktiv demobilisiert über das Staub- Zwar hat sich die Stimmung leicht aufge- scheinlich über die 5-Prozent-Hürde hebt. saugerprinzip (Wegsaugen aller sozialen hellt, weil gezeigt wurde, dass Rot-Grün Vor allem, wenn es eine Woche vor der Bun- Gerechtigkeitsthemen), eine reduzierte destagswahl in Bayern nicht reichen sollte. Mobilisierung der eigenen Klientel findet

Das eine umverteilte Prozent zwischen nur noch über die Person Merkel und die Foto: Duncan Hall (Lizenz: CC-BY-SA); (Grafik: Blotto Design 25

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die Energiewende, den Klimaschutz, sozi- schliffener Koalitionspräferenzen, die inne- % ale Gerechtigkeit (für andere) und sozialen ren Widerstände, denen neue Macht und Zusammenhalt zuwenden. neue Freiheiten abgerungen werden müss- 42 Es gibt Mehrheiten für linke Themen, ten. Die schwarz-grüne Option wird seit ökonomische Kernkompetenz der Union vom Mindestlohn über die gesetzliche Jahren bei der Realo-Strömung besonders statt. Es ist eine reduktionistische Strate- Frauenquote bis hin zu Steuererhöhungen. gepflegt, ähnlich wie das Linksbündnis bei gie der Machtsicherung ohne inhaltliche Es existiert eine rot-grüne gesellschafts- der Parteilinken. Damit betrifft die Koaliti- Ambitionen. politische Wertemehrheit inmitten einer onsfrage nicht einfach ein sachlich begründ- Zu den Rahmenbedingungen des Wahl- schwarz-gelben Ökonomie. Die Parteien bares Thema, sondern die innerparteiliche jahres gehört eine eigenartige, gebrochene des linken Spektrums verfügen über eine Machtfrage. Deren Einfrieren aber hat viel Form der Wechselstimmung, die noch addierte Stimmenmehrheit. Mitte-Links hat zur positiven Außenwirkung der Partei in nicht verrät, zu welchem Wechsel sie führt: also alle Voraussetzungen – es scheitert an den vergangenen Jahren beigetragen. Schwarz-Gelb ist abgewählt, Rot-Grün ist sich selbst. Das linke Spektrum ist bislang Die im Bund regierende Mehrheit hängt die mit Abstand beliebtere Koalitionsprä- nicht in der Lage, eine gesellschaftliche in am seidenen Faden einer einzigen Person. ferenz, eine Mehrheit will den Regierungs- eine politische Mehrheit umzuwandeln. Das Die heißt Merkel. Der direkte Angriff gegen wechsel im September, eine von CDU oder auf dem linken Bein hinkende Zweilager- sie ist in der Sache möglich. Er ist risiko- SPD geführte Bundesregierung wird mit system ist nur eine Ursache dafür. reich, aber er kann auch Punkte bringen. etwa gleichen Anteilen gewünscht, eine Die Grünen wären zurzeit mit 13 bis Vielleicht nicht für die SPD, aber für die Mehrheit will aber auch eine Fortsetzung 15 Prozent auf dem Niveau ihrer Bring- Grünen, die, anders als die Sozialdemokra- der Kanzlerschaft Merkel – schwer, dar- schuld für eine rot-grüne Bundesregierung. ten, zwei günstige Voraussetzungen haben. aus schlau zu werden und die richtigen Aber manch Grüner erlebt ein Strategie- Sie können an die CDU kaum etwas verlie- Schlüsse zu ziehen. Wie antwortet man auf Dilemma. Die Frage ist, was passiert, wenn ren, weil der Wähleraustausch zwischen Wähler, die ja zum Wechsel, aber gleichzei- sich auch im Laufe des Sommers keine rea- diesen Parteien gering ist. Und sie haben tig auch ja zu Merkel sagen? Die vielleicht listische Machtperspektive einstellen will. keine Anhänger der Großen Koalition unter nur die FDP ausgetauscht sehen wollen? Viele Grüne fühlen sich zu stark, um nur für ihren Wählern, die die härtere Gangart Am liebsten würden die Wähler wie im ein unrealistisch werdendes Rot-Grün still- scheuen. Schließlich: Die SPD als Großpar- Supermarkt agieren und selbst aus den zuhalten. Sie denken, wir haben noch mehr tei müsste aus den berühmten « staatspoli- Regalen nehmen, was ihnen gefällt: Die Optionen: Schwarz-Grün und Rot-Grün-Rot. tischen Gründen » für eine Große Koalition Merkel in den Korb, dazu ihre Euro-Politik, Sie wollen Rot-Grün, aber wenn es arith- zur Verfügung stehen – ob sie will oder von der SPD den Mindestlohn und Kitas metisch nicht reicht, wollen sie noch mehr. nicht. Unter einem solchen « Systemzwang » statt Betreuungsgeld, von den Grünen die Viele sind innerlich zerrissen. Offen bleibt, stehen die Grünen nicht. So verkünden sie, Energiewende. Am Ende müssen die Bürger wie lange die Partei noch erfolgreich von gefragt und ungefragt: « Grün oder Merkel ». aber ein Partei wählen, keine einzelne Poli- oben zusammengehalten werden kann. Das Die Grünen scheinen im Moment alles tik und auch kein Wahlergebnis. Das macht hat eher die SPD als sie selbst in der Hand. richtig zu machen. Auch mit einer List der es so schwer. Jedes Prozent, das die SPD demoskopisch Basisdemokratie, die sie selbst überrascht. Auch die Grundstimmung, die als Tiefen- verliert, erhöht den Druck bei den Grünen. Plötzlich – niemand wollte es so – hatten strömung des politischen Klimas auf so viele Dabei haben die Grünen diesmal keine sie ein Spitzenduo, das auch objektiv bes- Einzelfaktoren ausstrahlt, ist heute ambiva- andere Wahl, wollen sie nicht sogar ihren tens auf ihre Wählerschaft zugeschnitten ist. lent. « Sorgenvolle Zufriedenheit » ist eine Zuwachs seit der letzten Bundestagswahl Die Partei wird jedoch nicht vergessen: Die Chiffre für diese aktuelle Gefühlslage in der riskieren. Die Wählerlogik zwingt sie zu Führung war zu dieser Entscheidung von Bevölkerung. Die materielle Zufriedenheit einer unmissverständlichen Ansage für Rot- sich aus nicht fähig. einer Mehrheit der Wähler ist messbar. Wor- Grün. Ohne Hintertür. Noch ist die grüne Die Grünen arbeiten für ihre Geschlos- über aber sind sie gleichzeitig besorgt? Sie Wählerschaft so, dass sie die Ansage einer senheit, die sich auch bei ihnen niemals haben die Nase voll von zu viel Moderni- Zweitpräferenz mit Stimmentzug bestraft – spontan einstellt. Sie priorisieren gut nach- sierung – Agenda-Politik, Ökonomisierung egal, ob sie nach rechts oder links geht. Die vollziehbar ihre Themen und kontrollieren aller Lebensbereiche, Turbo-Abitur an den Landtagswahlen in Berlin und Hamburg selbst die Realistik ihrer Problemlösungen. Schulen. Die Liste der Sorgen ist lang. Die waren nur zwei Beispiele dafür. Sie leben in latenter, nicht offener Kon- der Widersprüche auch: Wohlstandsgefühl, kurrenz zur SPD. Die Grünen leisten gute aber Euro-Ängste. Ungerechtigkeitsgefühl, Regieren oder neuorientieren Vorfeldarbeit. Aber am 22. September 2013 aber wenig Unterschichtensolidarität. Wün- Die Grünen wollen mehr. Sie wollen mehr müssen sie springen: in eine zweite rot- sche nach Veränderung, aber ohne Kampf. als eine Option und mehr als die 3 bis grüne Bundesregierung mit Peer Steinbrück Die Grünen können eher auf diese ambi- 4 Prozent Zuwachs, die ihnen bei der Bun- oder in eine längere Phase der Neuorientie- valente Grundstimmung reagieren, weil die destagswahl winken könnten. Beides, das rung, aus der sie anders herauskämen als materielle Zufriedenheit bei ihren Wählern Mehr an Wachstum und Optionen, fällt sie heute sind. besonders groß und mit einer kritischen ihnen aber nicht in den Schoß. Sie müssten Grundhaltung verbunden ist. Diese Wähler es sich erarbeiten. Dabei ist « Arbeit » nicht Prof. Joachim Raschke ist Parteien- und und die wahlkämpfenden Grünen können das Problem, das können sie. Das Problem Strategieforscher.--- PD Dr. Ralf Tils arbeitet am Zentrum für Demo-

Foto: Duncan Hall (Lizenz: CC-BY-SA); (Grafik: Blotto Design sich schwerpunktmäßig den Sorgen um sind die Restriktionen neuer statt einge- kratieforschung der Leuphana-Universität. 26

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Die erneuerbaren Energien zwingen uns, unser Stromsystem neu zu erfinden. Ihre Einführung ist kapitalintensiv, die Betriebskosten sind niedrig. Die Produktion wird fluktuierend sein, das stellt besondere Herausforderungen an die Netzstruktur und die Speichermöglichkeiten. Bei der Gestaltung sollte der Grundsatz gelten: so viel Wettbewerb wie möglich, so viel Regulierung wie nötig.

Wie die Energiewende gelingt

«Windkraft und PV werden zur Basis der Stromversorgung; das restliche Stromsystem wird sich um diese herum optimieren.» Von Rainer Baake Quelle: 12 Thesen zur Energiewende

olitisch war die Durchsetzung Jahrzehnte fast vollständig bezahlt. Und Es geht vor allem um Effizienz der Energiewende in den letzten drittens ist die Stromproduktion schnell Eine kluge, vorausschauende Politik ist Jahrzehnten eine Herkulesauf- fluktuierend. gefragt, die die Ausbauziele sicherstellt und gabe. Im Vergleich dazu war die In weniger als zehn Jahren wird es fast vor allem die Versorgungssicherheit, die technische Seite einfach, was jede Woche vorkommen, dass die Strom- Kosten und die Akzeptanz im Blick behält. Pman schon daran sehen kann, dass alle Aus- produktion aus erneuerbaren Energien die Da Strom sich wegen der Effizienzverluste bauziele des Erneuerbare-Energien-Geset- Nachfrage übersteigt. Es wird Zeiten insbe- über längere Zeit nur teuer speichern lässt, zes (EEG) regelmäßig übertroffen wurden. sondere im Winter geben, wo die Erneuer- ist es aus Sicht des Gesamtsystems sinnvoll, Der durch das EEG im Jahr 2000 aus- baren phasenweise nur sehr geringe Strom- zuerst die kostengünstigeren Möglichkeiten gelöste Technologiewettbewerb hat zwei mengen produzieren. Die Energiewende zu nutzen, um Stromangebot und Nach- Sieger hervorgebracht: Wind und Solar. Sie ist daher vor allem eine Synchronisati- frage zu synchronisieren. Mehr Flexibilität sind absehbar die kostengünstigsten Tech- onsaufgabe. Wie bringen wir die fluktuie- ist gefragt. Zum Beispiel bei den konven- nologien und haben das größte Potenzial. rende Produktion von Strom aus Wind und tionellen Kraftwerken. Sie müssen sich in Eine realistische Alternative dazu exis- Sonne mit der Nachfrage der Konsumenten Zukunft nicht nur an die Nachfrage anpas- tiert nicht. Man muss es so deutlich sagen: zusammen? sen, sondern zunehmend auch an die fluk- Entweder die Wende hin zu einer Vollver- Die ersten 20 Prozent erneuerbare Ener- tuierende Einspeisung von erneuerbaren sorgung mit erneuerbaren Energien in gien hat das alte Stromsystem ohne große Energien. Dafür müssen sie schnell hoch- Deutschland gelingt auf der Basis von Wind Probleme integriert. Bei den nächsten und wieder runtergefahren werden kön- und Solar, oder sie findet nicht statt. 20 Prozent wird dies nicht mehr möglich nen. Sogenannte Grundlastkraftwerke, die Beide Technologien haben Eigenschaf- sein. Jetzt steht die große Transformation rund um die Uhr laufen, werden nicht mehr ten, die uns zwingen werden, unser Strom- auf der Tagesordnung. Diese betrifft sowohl gebraucht. « Grundlast » ist eine Nachfrage- system neu zu erfinden. Sie sind erstens das technische System als auch das Markt- kategorie und meint die 35 bis 40 Gigawatt, angebotsabhängig. Sie sind zweitens kapi- design und die staatliche Regulierung. Wind die zu jedem Zeitpunkt eines Jahres min- talintensiv, haben aber so gut wie keine und Photovoltaik (PV) werden zur Basis der destens gebraucht werden. Die Erneuerba- Betriebskosten. Mit der Investition wird Stromversorgung. Das restliche Stromsys- ren werden die konventionellen Kraftwerke

der Strom für die nächsten zwei bis drei tem muss um sie herum optimiert werden. zunehmend aus der Grundlast vertreiben. Foto: Gustavo Alabiso / VISUM 27

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Eine bislang wenig genutzte Flexibili- darum, marktwirtschaftliche Suchprozesse kurzfristige Betriebskosten (sog. Grenz- tätsoption ist das Lastmanagement, vor zu organisieren. kosten) nahe null haben. Sie machen sich allem in der Industrie. In vielen Fällen ist Ich will am Beispiel der Versorgungssi- in dem auf Grenzkosten basierten Spot- es technisch leicht möglich, die Stromnach- cherheit aufzeigen, was ich damit meine. markt ihren eigenen Preis kaputt. Dieser frage über einige Stunden zu verschieben, Zu einem Black-out kann es kommen, wenn Effekt verstärkt sich, je mehr Wind- und zum Beispiel durch den Bau von Speichern nicht zu jedem Zeitpunkt ausreichend steu- PV-Anlagen zugebaut werden. Stehen viel für Zwischenprodukte, Wärme, Kälte oder erbare Kapazitäten zur Verfügung stehen, Wind und Sonne zur Verfügung, können sie Druckluft. Die Herausforderungen liegen um die Nachfrage zu bedienen. Steuerbare kein Geld verdienen, weil der Börsenpreis nicht so sehr in der Technik, sondern in den Kapazitäten, das sind Stromerzeugungsan- gegen null geht. Wenn kein Wind weht und richtigen Anreizen. lagen mit Kraftstoffen (wie Kohle, Gas und die Sonne nicht scheint, können sie keinen Bei der Nachfrage geht es nicht nur um Biomasse), Speicher und auf der Nachfra- Strom verkaufen. Steuerung, sondern vor allem um Effizienz. geseite verschiebbare Lasten. Dabei sind Jede gesparte kWh erfordert weniger Inves- Netzengpässe zu berücksichtigen. «Es muss für die Erneuerbaren titionen in neue Erzeugungsanlagen und 2021 und 2022 sollen die letzten und ­neben den Erlösen am Strom- Infrastruktur. größten Atomkraftwerke abgeschaltet wer- markt einen zusätzlichen Zah- lungsstrom geben, sonst kommt Von zentraler Bedeutung für die Ener- den. Die niedrigen Großhandelspreise für die Energiewende zum Stillstand.» giewende ist der Ausbau der Stromnetze. Strom an der Börse verhindern, dass es zu Je größer das durch leistungsfähige Netze Investitionen in flexible Backup-Kapazitäten verbundene Gebiet, desto eher gleichen für die erneuerbaren Energien kommt. Im Das ist nun kein Argument für staatlich sich Schwankungen bei der Erzeugung Gegenteil, bei vielen existierenden (Gas-) festgelegte Einspeisetarife « forever ». Es ist von Wind- und PV-Strom gegenseitig aus. Kraftwerken lohnt sich der Betrieb nicht ein Argument gegen den Irrglauben, nur Dies gilt innerhalb Deutschlands und auch mehr, so dass mit betriebsbedingten Stillle- die Anlagenpreise für Wind und PV müss- international. Über Netze kann zudem über gungen in erheblichem Umfang zu rechnen ten sinken, und dann würde der Markt es größere Entfernungen auf die jeweils kos- ist. schon richten. So wie wir zur Aufrechter- tengünstigsten Optionen zugegriffen wer- haltung der Versorgungssicherheit für die den. So kann zum Beispiel in Zeiten von Marktwirtschaftliche Suchprozesse konventionellen Anlagen einen weiteren viel Wind und Sonne Strom an Konsumen- organisieren Einkommensstrom schaffen müssen, damit ten in unseren Nachbarländern verkauft Ich halte es für hochgefährlich, darauf zu steuerbare Kapazitäten vorgehalten werden, werden. Schon im Jahr 2020 werden in setzen, dass der Markt es schon richten muss es auch für die Erneuerbaren neben Deutschland in einzelnen Stunden Über- wird. Bei drohenden Black-outs würde der den Erlösen am Strommarkt einen zusätz- schüsse von 22 Gigawatt erwartet. In einem Atomausstieg in Gefahr geraten. lichen Zahlungsstrom geben, sonst kommt Stromsystem mit hohen Anteilen von Wind- Eine Reaktionsmöglichkeit ist das « Poli- die Energiewende zum Stillstand. und PV-Strom sind temporäre Überschüsse zeirecht », eine Verordnung mit dem Kern- Wir wären nicht nur schlechte Europäer, normal. Es wäre ein Vielfaches teurer, für satz: « Es ist verboten, ein systemrelevantes wir wären auch dumm, wenn wir die Ener- diese Strommengen Speicher zu bauen. Kraftwerk abzuschalten. » Für den Eingriff giewende als einen Akt der Renationalisie- Neue Speichertechnologien wie Power in sein Eigentum muss dem Betreiber eine rung von Energiepolitik begreifen würden. to Gas brauchen wir erst ab einem Anteil Entschädigung gezahlt werden. Alle oben genannten Maßnahmen werden der Erneuerbaren von mehr als 70 Prozent. Einen marktwirtschaftlichen Suchprozess einfacher und kostengünstiger, wenn wir sie Zunächst sollten wir die kostengünstigeren zu organisieren hieße, stattdessen einen in enger Abstimmung mit unseren Nachbar- Optionen ausschöpfen. Kapazitätsmarkt zu schaffen. Eine staatliche ländern angehen. Einige von denen verfol- Zu diesen gehört auch die Integration des Stelle definiert die zur Abwehr eines Black- gen ähnliche Ziele wie Deutschland. Die Wärmesektors. Dies ist kein Plädoyer für outs erforderliche steuerbare Kapazität und Vorrausetzung für Kooperationen (zum eine Renaissance der Nachtspeicheröfen, veranlasst eine Ausschreibung für die kos- Beispiel bei Speichern in Skandinavien oder wohl aber dafür, Kraftwärme-Kopplungsan- tengünstigsten Lösungen. Dabei wird die bei Kapazitätsmärkten) sind Leitungen; lagen zukünftig nach dem Strombedarf zu Nachfrageseite eingebunden. Wenn es kos- diese werden nur gebaut, wenn auf bei- betreiben und nicht nach dem Wärmebe- tengünstiger ist, Stromnachfrage zeitlich zu den Seiten der Grenze dafür der politische darf. Wärme kann einfach und kostengüns- verschieben, als für die wenigen Stunden Wille vorhanden ist. Wer die Energiewende tig (zum Beispiel in isolierten Wassertanks) der Höchstlast ein Kraftwerk vorzuhalten, zum Erfolg führen will, muss diese Aufgabe gespeichert werden. warum sollte ein solcher Weg nicht gegan- offensiv angehen. Die Energiewende erfolgreich zu gestal- gen werden? ten heißt, die Herausforderungen richtig Auch das EEG wird weiter zu entwickeln Rainer Baake ist Direktor der « AGORA-Ener- zu analysieren, die technisch möglichen sein. Die besonderen Eigenschaften von giewende », einer Initiative--- der Mercator-Stif- tung und der European Climate Foundation, Handlungsoptionen gegeneinander abzu- Wind- und Photovoltaikanlagen verhindern, deren Ziel die Bereitstellung von Expertise und wägen, zu priorisieren und im Anschluss dass sich diese am Strommarkt zukünftig die Zusammenführung von maßgeblichen daran einen geeigneten regulatorischen refinanzieren können – selbst dann, wenn Akteuren ist, um die Energiewende voranzu- Rahmen zu schaffen. Es sollte der Grund- ihre Vollkosten pro kWh demnächst unter bringen. satz gelten: so viel Wettbewerb wie mög- denen von Kohle- und Gaskraftwerken lie-

Foto: Gustavo Alabiso / VISUM lich, so viel Regulierung wie nötig. Es geht gen werden. Warum? Weil Wind und PV 28

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m Vorfeld der Bundestagswahl 2013 Die Grünen sind der politisch zentrale Akteur der Energiewende. Umso gelten die Grünen als kompetente und berechenbare politische Kraft, mehr müssten sie die hohen Kosten und die geringe Effizienz des öffentlich die mehr Bürgerinnen und Bür- geförderten Solarstroms umtreiben. Denn dabei geht es letzten Endes um ger als je zuvor in einer künftigen ihre Fähigkeit, Fehlentwicklungen zu erkennen und zu korrigieren. IRegierung sehen möchten. Tatsächlich ste- hen die Chancen für eine Regierungsbetei- ligung der Grünen im Bund nicht schlecht. Immerhin hat auch die SPD, anders als vor der Wahl 1998, eine eindeutige Präferenz Der Solarstrom – für Rot-Grün bekundet. Damit verfügen die Wählerinnen und Wähler über eine klare Alternative zur derzeitigen Regierung. Lackmustest grüner Die größten Unsicherheitsfaktoren, die den Wahlausgang betreffen, liegen nicht auf Seiten der Grünen. Es sind dies – neben Energiepolitik den unsicheren Aussichten von FDP, Links- partei und Piraten – vor allem die Wahl- kampftaktiken von SPD und Union. Denn seit die schwarz-gelbe Bundesregierung Von Helmut Wiesenthal ihre Bundesratsmehrheit eingebüßt hat, wird sie noch weniger Skrupel haben, mit- tels Themenklau in die Mitte des politischen des EEG und glaubwürdige Verfechter der Im Jahr 2010 hatten alle erneuerbaren Spektrums zu zielen, wie wir es beim Atom- Energiewende im Wort stehen, werden sie Energien zusammen genommen 16,4 Pro- ausstieg, der Wehrpflicht, der Frauenquote, sich auch mit der Lösung dieses Konflikts zent Anteil an der Bruttostromerzeugung in der Finanztransaktionssteuer und beim befassen müssen. Deutschland, Ende 2012 ca. 25 Prozent. Der Mindestlohn erlebt haben. Der steigende Umfang der EEG-Umlage Anteil der Photovoltaik (PV) an der Strom- Die Grünen können dieser teils auf Bluff, gibt nicht nur dem Bundesumweltminister erzeugung betrug 2011 lediglich 3,1 Pro- teils auf Profilwandel beruhenden Strategie Anlass, sich als Strompreisbremser zu profi- zent. Gleichwohl ist es gerade diese Ener- nur zweierlei entgegensetzen. Zum einen lieren und die ungeliebte Energiewende zu gieart, die sich großer Beliebtheit erfreut. können sie auf die zahlreichen Belege der diskreditieren. Die Kosten- und Nutzenver- PV-Anlagen werden am wenigsten als stö- Unausgegorenheit und Unernsthaftigkeit teilung der EE-Förderung droht auch für die rend empfunden und lassen sich in beliebi- verweisen, die dem « modernen » Selbstan- Grünen zum Glaubwürdigkeitstest zu wer- ger Kapazität – von Kleinanlagen auf dem strich der Union anhaften. Und zum ande- den. Vordergründig betrifft die Kritik das Hausdach bis zu großflächigen Solarparks – ren sollten sie darauf bedacht sein, das beträchtlich gestiegene Fördervolumen und errichten. Laut « Finanztest » gewähren sie eigene Profil als ehrliche und berechenbare seinen Einfluss auf den Strompreis. Es geht den Investoren eine Rendite zwischen 4 Kraft der ökologischen und sozialen Moder- aber auch um den energie- und klimapoliti- und 12 Prozent. nisierung zu schärfen. schen Nutzen des Solarstroms und letzten Die anfangs großzügig bemessene, später Zu den weithin anerkannten Kernkompe- Endes um die Fähigkeit politischer Parteien, schrittweise, zuletzt etwas stärker redu- tenzen von Bündnis 90/Die Grünen zählt Fehlentwicklungen zu erkennen und irr- zierte Einspeisevergütung für 20 Jahre, das Engagement für die Energiewende – für tümliche Annahmen im eigenen Politikkon- KfW-Zuschüsse und Steuervorteile sowie den Ausstieg aus der Atomwirtschaft und zept zu korrigieren. die sinkenden Importpreise der Solarmo- den Ausbau der erneuerbaren Energien. dule machten Deutschland zum Solar- Während den Grünen dieses Engagement stromland Nummer eins. Investitionen in von einer Mehrzahl der Bürger, also weit « Die Grünen täten gut daran, PV wurden zur bevorzugten Kapitalanlage über den Kreis ihrer Wählerschaft hinaus, sich von der Idee der Gleich- für betuchte Eigenheimbesitzer, Landwirte zugutegehalten wird, ist jedoch die Entste- rangigkeit aller erneuerbaren und Unternehmer. hung eines Konflikts zu beobachten, der das Energien zu Gunsten einer Allein im Jahr 2010 wurden (laut Bun- Image der Grünen zu beschädigen droht. desumweltamt) 19,5 Mrd. Euro in PV-Anla- effizienzbewussten Politik zu Es ist der international herausragende gen investiert. Das entspricht 73,3 Prozent Erfolg bei der Durchsetzung erneuerbarer verabschieden. » aller Investitionen in EE. Auf Wasserkraft, Energien (EE), welcher einen bislang ver- Geothermie, Solarthermie, Biomasse und borgenen Konstruktionsfehler im Erneuer- Windenergie, die zusammen 83 Prozent bare-Energien-Gesetz von 2000 (EEG) ans Um Missverständnissen vorzubeugen: des EE-Stroms bestreiten, entfielen lediglich Licht bringt, nämlich die rasch steigenden Der prinzipielle Sinn der EE-Förderung Investitionen von 7,1 Mrd. Euro. Strompreise und die sozial unverträgliche steht nicht in Frage, wohl aber der Nutzen Vergleicht man den volkswirtschaftlichen Kostenverteilung der EE-Förderung. Weil des kostspieligen Ausbaus der Solarstrom- Nutzen der einzelnen erneuerbaren Ener-

die Grünen als maßgebliche Miturheber erzeugung. Dazu ein Blick auf die Fakten. giearten, so zeigt sich ein ähnliches Bild. Foto: Paul Langrock/Zenit/laif 29

Böll.Thema 1/2013 29 Photovoltaik hatte 2012 einen An teil von 4,7 Prozent am gesamten - Grünes Regieren Strommix. So manche Region in Deutschland zählt im Schnitt nur 1000 Sonnenstunden im Jahr. Für Konzerne wie RWE ist Solarenergie Investitionen in die Errichtung von Anlagen zur Strombereitstellung aus erneuerbaren in Deutschland daher «so sinnvoll Nutzung erneuerbarer Energien in Deutschland Energien in Deutschland 2012 * wie Ananas züchten in Alaska». 2012 * 4, 8 % Geothermie 0, 5 % 3 3, 8 % 3 0 % 5 % Wasserkraft Windenergie Bio ma s s e ** Solarthermie

19, 2 % 19,5 Windenergie Mrd. Euro

1 5,6 % Wasserkraft 1 3,1 % Bio ma s s e ** 5 7,4 % 20,6% Investitionen in Photovoltaik Energie durch Photovoltaik

* Quelle: BMU, Stand Februar 2013 ** Feste und flüssige Biomasse, Biogas, ­Klär- und Deponiegas, biogener Anteil des Abfalls

Die Gesamtsumme der wirtschaftlichen EEG-Umlage aus. Denn die wächst mit der litisch umso peinlicher, als gleichzeitig die Impulse aus dem Anlagenbetrieb von EE Differenz zwischen Börsenstrompreis und Kohleverstromung auf Jahrzehnte fortge-

wird für 2010 mit 11,1 Mrd. Euro veran- Einspeisevergütung – eine Art Gelddruck- schrieben wird, obwohl sie die CO2-Bilanz schlagt. Davon entfallen auf die PV nur 740 maschine in privater Hand. erheblich belastet. Mio., entsprechend 6,7 Prozent. Biomasse Weil die Kosten in besonderem Maße die Gewiss verdankt sich die kostspielige För- bringt es auf 7,9 Mrd., ent- Bezieher niedriger Einkommen belas- derung des Solarstroms keiner heimtücki- sprechend 71,3 Prozent, ten, während sie den bessergestellten schen Politikerverschwörung. Man hatte die die Windenergie auf 1,3 % Solarstrom-Investoren ein Zusatz- besten Absichten, aber wusste es nicht bes- Mrd., Wasserkraft, Erd- und 6,7 einkommen verschaffen, wird in der ser, als das EEG geschaffen wurde. Heute Umweltwärme zusammen Anteil der Photovol- Presse vom « unsozialsten (Förder‑) ähnelt man Goethes Zauberlehrling, der all- auf knapp eine Mrd. Euro. taik an wirtschaft- Programm Deutschlands » gesprochen mählich erkennen muss, was er angerichtet Die Zahlen belegen das lichen Impulsen (NZZ, 14.2.2012). Dieses unverändert hat. Wenn nun so getan wird, als sei jede Scheitern der Hoffnung, durch die erneuer- fortzuführen, wäre selbst dann nicht Revision der überkommenen Förderpraxis baren Energien die großzügige Förderung zu rechtfertigen, wenn es einen nen- ein Attentat auf das Weltklima, so offenbart der PV würde vor allem nenswerten Beitrag zur Verringerung sich darin nur die bequeme, aber riskante

inländischen Unternehmen zugutekommen der CO2-Emissionen liefern würde. Neigung, aus Eigeninteresse am einmal ein- und darüber hinaus vermehrte Forschungs- Das Umweltbundesamt hat für die PV geschlagenen Weg festzuhalten, auch wenn anstrengungen auslösen. Das ist nicht der ein Einsparpotenzial von 7,9 Mio. Tonnen er sich mittlerweile als Irrweg erweist.

Fall. Die deutsche Solarstrombranche weist CO2-äquivalenter Treibhausgase errechnet. Die Grünen täten deshalb gut daran, sich unterdurchschnittliche F&E-Ausgaben auf. Doch dieser Entlastungseffekt steht nur auf von der Idee der Gleichrangigkeit aller EE Inzwischen räumen auch EE-Befürworter dem Papier. Denn der wachsende Anteil der zu Gunsten einer effizienzbewussten Poli- ein, dass mit einer dauerhaft rentablen EE wurde im Europäischen Emissionshan- tik zu verabschieden. Das hieße, sich ein Solarstromerzeugung nördlich des Mittel- delssystem bislang nicht mit einer Senkung wahrhaft klima- und sozialverträgliches meeres nicht zu rechnen ist (siehe Gregor der zulässigen Gesamtmenge beantwortet, Konzept der Energiewende zu eigen zu Czisch in Kommune 6/2011). sondern trug zum Preisverfall der Emissi- machen. Darin sollten die beträchtlichen, Gegenüber den anderen EE hat die PV onszertifikate von einst rund 15 Euro auf von den Bürgern aufgebrachten Mittel dort-

hierzulande erhebliche Effizienznach- derzeit unter fünf Euro pro Tonne CO2 bei. hin gelenkt werden, wo sie sich am wirk- teile: die begrenzte Sonnenscheindauer, Erst ab 2013 soll die Menge der Emissions- samsten im Sinne der klimaverträglichen den flacheren Einfallswinkel der Winter- berechtigungen um jährlich 1,74 Prozent Energieversorgung erweisen. Der weitere sonne und den Totalausfall bei Nacht und sinken. Ausbau der Solarstromerzeugung kommt Schneefall. Das zeigt sich auch daran, dass Angesichts dieser Umstände stellen die dafür nicht in Frage. sie zur Stromerzeugung durch EE nur ca. über den Strompreis eingesammelten 11,5 Prozent (in 2010) beiträgt. Aber je Fördermilliarden eine umfangreiche Ver- Prof. Helmut Wiesenthal lehrte politische mehr PV-Anlagen installiert sind und den schwendung öffentlicher Mittel dar, die vor Wissenschaft an der Humboldt-Universität--- Berlin und ist jahrzehntelanger intellektueller Börsenstrompreis zur Mittagszeit auf Mini- allem zu Lasten der Bezieher niedriger Ein- Begleiter der Grünen.

Foto: Paul Langrock/Zenit/laif malwerte drücken, desto höher fällt die kommen geht. Das ist sozial- und klimapo- 30

30 Böll.Thema 1/2013 Grünes Regieren

In einem europäischen Verbund lassen sich die Vorteile erneuerbarer Energien optimal nutzen. Auf die europäische Energie-Agenda gehören der schnellere Ausbau erneuerbarer Energien, der Verbund der bislang nationalen Netze und der Ausstieg aus der Atomindustrie.

Green Power for Europe

Von Michaele Schreyer Illustration: Martin Nicolausson 31

Böll.Thema 1/2013 31 Grünes Regieren

ie gesamte EU steht vor der aber braucht eine sichere Energieversor- Vernetzung der Netze Herausforderung der gro- gung, die zu 100 Prozent auf erneuerbaren Nach wie vor hapert es in der EU an trans- ßen Transformation ihrer Energiequellen beruht, einen optimalen nationalen Verbindungen zwischen den Ökonomie. Alle Staats- und Mix, um die Fluktuation im Angebot von national ausgerichteten Stromnetzen. Je Regierungschefs der Mit- Windkraft und Photovoltaik auszugleichen. weniger diese gegeben sind, desto mehr gliedstaaten haben sich Je besser die Ausgleichsmöglichkeiten sind, wird Atomkraft als « sichere » nationale Ver- 2009 zu der Verpflichtung desto geringer ist der Bedarf an Speicher- sorgung gerechtfertigt. Dbekannt, bis zur Mitte des Jahrhunderts die und Back-up-Kapazität. Nationale Grenzen Die Anforderungen an das Stromnetz der Treibhausgasemissionen der EU um 80 bis behindern diesen optimalen Mix. Deshalb Zukunft, das eine sichere Versorgung mit 95 Prozent unter den Stand von 1990 zu sollten gerade die Grünen sich nicht von rein grünem Strom garantiert, sind hoch: senken. Die Energiewende hin zu erneuer- diesen Grenzen einengen lassen, sondern Es muss den Strom dort abholen, wo sich baren Energiequellen und höchstmöglicher für die optimale Nutzung der natürlichen die erneuerbare Energiequelle befindet; es Energieeffizienz ist deshalb kein spezifisch Vielfalt Europas plädieren. muss eine Vielzahl von dezentralen und deutsches, sondern ein gesamteuropäi- zentralen Erzeugungsanlagen integrieren sches Thema. Für die Grünen und für alle Weichen für eine europäische und fluktuierende Angebote ausgleichen; Mitgliedstaaten, die Atomkraft ablehnen, Energiewende weiterbauen es muss sowohl das Stromangebot als heißt dies konkret, die Energieversorgung Mit der Richtlinie zur Förderung der Strom- auch die Stromnachfrage und den Strom- in der EU auf 100 Prozent Erneuerbare (EE) erzeugung aus EE von 2001 wurde eine fluss in zwei Richtungen managen, d. h. umzustellen. Dabei sollten die Grünen als wichtige Weiche für den europäischen Flexibilität gewährleisten. Das sind hohe proeuropäische ökologische Partei dafür Zug in Richtung regenerativer Energien Anforderungen auf der Verteiler- und auf plädieren, die vielfältigen Vorteile der poli- gestellt. Mit der Richtlinie zur Förderung der Übertragungsebene. Deshalb erfordert tischen und wirtschaftlichen Integration der Nutzung aus EE von 2009 hat er an die Europäisierung des Stromnetzes nicht in der EU zu nutzen, damit dieses große Tempo kräftig zugelegt. Das Ziel: ein Anteil nur, Verbindungen zwischen den Übertra- Projekt grüner Transformation gelingt. Die von 20 Prozent regenerativer Energie am gungsnetzen zu schaffen, sondern ganz Energiewende als europäisches Projekt Gesamtendenergieverbrauch der EU bis wesentlich auch einheitliche Netzcodes anzugehen bedeutet, es weder allein euro- 2020. Das Instrument: ein für jeden Mit- festzulegen. papolitisch noch allein national zu betrach- gliedstaat im europäischen Gesetz verbind- Die Netzplanung für die Energiewende, ten, sondern die Handlungen auf allen lich festgelegtes nationales Ausbauziel. Für die das angestrebte Tempo nicht ausbremst, Ebenen auf das gemeinsame Ziel hin zu Deutschland liegt der Zielwert mit 20 Pro- sondern ermöglicht, ist koordinationsinten- orientieren. Im Sinne eines « Mehrebenen- zent leicht unter dem Durchschnitt und für siv. Das erleben derzeit alle Beteiligten auf wahlkampfes » ist die Energiewende eines Schweden mit 49 Prozent am höchsten. Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene der zentralen Themen, bei denen die Wäh- Diese Gesetzgebung – verbunden u. a. in Deutschland. Mit dem Anspruch einer ler und Wählerinnen auf nationaler wie auf mit der Einführung des europäischen Emis- Europäisierung der Energiewende kommen europäischer Ebene zwischen klaren Alter- sionshandelssystems – hat einen beträchtli- weitere horizontale und vertikale Abstim- nativen entscheiden können. chen Ausbau der regenerativen Energiege- mungen hinzu. winnung ausgelöst: Im Zeitraum von 2000 Mit dem sogenannten 3. Energiepaket Europas natürliche Vielfalt nutzen bis 2010 ist die installierte Leistung in der von 2009 wurde der institutionelle Rahmen Europa ist aufgrund seiner natürlichen EU für Windkraft von 12 GW auf 84 GW für die Koordination der Entwicklungspla- Vielfalt äußerst reich an erneuerbaren und für Solarenergie von 0,2 GW auf 30 GW nung auf der EU-Ebene geschaffen: das Energiequellen und verfügt über die Tech- gestiegen. Nach den nationalen Aktionsplä- Netzwerk der Übertragungsnetzbetreiber nologien, sie zu erschließen. Es kann nicht nen, die gemäß der Richtlinie aufzustellen für Strom und Gas (ENTSO-E und ENTSO- nur der Strombedarf regenerativ gedeckt sind, wird es bis 2020 einen Ausbau bei Gas) und die Europäische Energieregulie- werden, sondern auch die Energienach- der Windkraft um 143 Prozent und bei rungsagentur ACER mit Sitz in Ljubljana frage der anderen Sektoren Verkehr und der Solarkraft um 249 Prozent geben. Die für die Zusammenarbeit mit den nationa- Wärme/Kälte, deren Energieversorgung in EU ist auf gutem Weg, ihr Ziel für 2020 zu len Regulierungsbehörden. Zudem wurden der Zukunft sehr viel stärker als heute inte- erreichen. Der Anteil des grünen Stroms am die nationalen Übertragungsnetzbetreiber griert werden muss. 100 Prozent regenera- Strommix wird dann bei 37 Prozent liegen. zur Aufstellung von Zehn-Jahres-Netz- tive Energieversorgung in der EU ist keine Im Jahr 2020 wird aber erst ein Fünftel entwicklungsplänen (TYNDPs) verpflich- Utopie, sondern eine realisierbare Vision. der Wegstrecke von 100 Prozent EE zurück- tet, die dann zu einem TYNDP für die EU Naturbedingt sind die erneuerbaren gelegt sein. Der längere Teil der Strecke ist kombiniert und abgestimmt werden. Somit Energiequellen räumlich unterschiedlich in nur drei Dekaden zu gehen. Das heißt: ist die Netzentwicklungsplanung nun ein über die EU verteilt: hohe Konzentration Das Tempo des Ausbaus muss beschleunigt Mehr­ebenen-Prozess, bei dem auf jeder von Wind an den Küsten, nutzbare Was- werden. In der EU sollten deshalb schnellst- Ebene Bürgerbeteiligung, demokratische serkraft in Skandinavien und der Alpenre- möglich für 2030 das gemeinsame Ziel und Kontrolle und die Zielsetzung der Energie- gion und Sonne in den Ländern nahe am nach dem bewährten Rezept « common but wende sichergestellt werden müssen. Das Sonnengürtel. Daraus ergeben sich je nach differentiated » die nationalen Ziele ver- ist zweifellos auch eine neue Anforderung Standort Kostenvorteile, die in einem Ver- bindlich festgelegt werden. Die Grünen an die Koordination und Abstimmung

Illustration: Martin Nicolausson bund genutzt werden können. Vor allem schlagen als Zielwert 45 Prozent vor. zwischen grünen Akteuren und bedarf 32

32 Böll.Thema 1/2013 Grünes Regieren

Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und « 100 Prozent regenera­tive Energieversorgung ist damit ein Schlüsselprojekt für die Über- in der EU ist keine Utopie, sondern eine windung der Wirtschaftskrise in der EU. realisierbare Vision. » Eine europäische Gemeinschaft für erneuerbare Energien – Impuls für die europäische Integration in nicht wenigen Fällen neuer Ideen, um Angelegenheiten bedeuten, die derzeit im Kann die EU überhaupt das Ziel 100 Pro- Konfliktlösungen zu finden. EURATOM-Vertrag für alle Atomstrompro- zent EE festlegen, da es doch das Recht Für den europäischen TYNDP im Strom- duzenten in der EU gemeinsam verbindlich der Mitgliedstaaten ist, über ihren Ener- sektor wurden vier vorrangige Korridore geregelt sind, und steht in völligem Gegen- giemix zu entscheiden (Art. 194 AEUV)? gebildet: 1. Offshore-Netz in den nördli- satz zu der gerade von Grünen hervorgeho- Andererseits ist die Förderung der EE als chen Meeren; 2. Verbindungsleitungen Süd- benen Tatsache, dass die Risiken der Atom- ein Ziel der Energiepolitik der Union und westeuropa; 3. Verbindungen in Mittelost- kraft nicht vor nationalen Grenzen Halt die Bekämpfung des Klimawandels als Ziel Südosteuropa; 4. Verbundplan Ostseeraum. machen. ihrer Umweltpolitik im Lissabon-Vertrag Hieraus werden nach öffentlicher Kon- festgelegt. Allerdings muss dann, wenn sultation die Projekte von gemeinsamem Die Wirtschafts- und Finanzkrise – ein Gesetzesvorschlag der Europäischen Interesse festgelegt, die zukünftig auch aus ein Rückschritt für die europäische Kommission den Energiemix « erheblich » dem EU-Budget aus der neuen « Connec- Energiewende? berührt, der Rat einstimmig entscheiden. ting Europe Facility » oder als Projektbonds Die gegenwärtigen Krisen wirken sich in Wenn allerdings kein Konsens zustande (gemeinsame Anleihen) oder Krediten der mehrfacher Hinsicht auf die Bedingungen kommt, können die Staaten, die in diese EIB gefördert werden können. der europäischen Energiewende aus. Die Richtung gehen wollen, entweder einen in mehreren Mitgliedstaaten rezessions- neuen Vertrag für diesen Zweck schließen Atomausstieg – ein Kernthema für den bedingt gesunkene Energienachfrage und oder auf der Basis des Lissabon-Vertrages in grünen Europawahlkampf der auch dadurch induzierte Verfall der verstärkter Zusammenarbeit als Avantgarde Die grundlegende Veränderung des EURA- Preise für Emissionszertifikate mindern vorangehen. Dabei könnten solche Zusam- TOM-Vertrages ist überfällig. Es sollte ein den Anreiz, in EE zu investieren. Die Kre- menschlüsse auch für Makroregionen erfol- grünes Wahlkampfthema sein, denn CDU ditklemmen in einigen Mitgliedstaaten und gen, die Bausteine auf dem Weg zu einer und FDP verstecken sich, trotz Ausstiegs- die damit immens gestiegenen Finanzie- europäischen Union für erneuerbare Ener- beschluss in Deutschland, auf europäischer rungskosten für Investitionen machen z. T. gien bilden. Ebene hinter der Bestimmung, dass jedes die Standortvorteile z. B. für Photovoltaik Als die Heinrich-Böll-Stiftung 2008 hierzu Land seinen Energiemix selbst bestimmen in den südlichen Mitgliedstaaten zunichte. erste Vorschläge vorgelegt hatte, hieß es kann. Rekapitalisierung der Banken und Verfüg- aus Brüssel und den nationalen Hauptstäd- Aus dem Vertrag sollten alle Bestimmun- barkeit von Krediten ist eine Voraussetzung ten, dass man nach den Schwierigkeiten mit gen zur Förderung der Kernindustrie gestri- für die Transformation des Energiesektors. dem Lissabon-Vertrag nun vertragsmüde sei. chen werden und damit auch die immen- Zudem spielen öffentliche Fördermöglich- Kurze Zeit später wurde dann aber für die sen Beträge, die aus dem EU-Budget dafür keiten, auf der EU-Ebene durch die EIB und Eurorettungsschirme und zur Eindämmung zur Verfügung gestellt werden. Alleine für das EU-Budget eine wichtige Rolle, und es der Staatsverschuldung ein neuer Vertrag das Forschungsprojekt des Fusionsreaktors sollte auf allen Ebenen dafür Sorge getra- nach dem anderen geschlossen, und mit ITER waren es 2012 über 1,1 Mrd. Euro. gen werden, dass die Mittel aus den EU- der Finanztransaktionssteuer wird nun bei Der Zweck des Vertrages sollte auf Sicher- Strukturfonds auch für die Energiewende einem auch für grüne Politik finanzpolitisch heitsfragen und Verantwortlichkeiten beim genutzt werden. bedeutsamen Projekt der Weg der verstärk- Betrieb von AKWs und im Umgang mit Für die Wachstums- und Beschäftigungs- ten Zusammenarbeit beschritten. Das sollte Kernmaterial und Atommüll konzentriert strategie « Europa 2020 für intelligentes, die Grünen beflügeln, für die Energiewende werden. Zudem muss endlich das demokra- nachhaltiges und integratives Wachs- in Europa eine Europäische Gemeinschaft tische Defizit beseitigt werden: das Europä- tum» ist die Energiewende von zentraler für Erneuerbare Energien – ERENE – vor- ische Parlament sollte das volle Mitentschei- Bedeutung. Mittlerweile sind EU-weit über zuschlagen. Gerade in der jetzigen Krise, dungsrecht für Gesetze erhalten, die auf der 1,1 Mio. Menschen im Bereich EE tätig. Der in der viele Menschen in der EU sich der Basis dieses Vertrages beschlossen werden, Ausbau der EE hat auch erhebliche Auswir- Vorteile des gemeinsamen Weges nicht und die Bevölkerung das Recht bekommen, kungen auf die Außenhandelsbilanz. Das mehr sicher sind, kann das ein neues gro- in allen Angelegenheiten des Vertrages eine BMU beziffert die Einsparungen im Jahr ßes Integrationsprojekt sein, das den Wert europäische Bürgerinitiative zu ergreifen. 2011 bei fossilen Energieimporten alleine verdeutlicht, den gemeinsames Handeln für Den einseitigen Ausstieg Deutschlands für Deutschland auf 7,1 Mrd. Euro. Zudem die Zukunftsfähigkeit Europas hat. aus dem EURATOM-Vertrag zu fordern, ist sinken die Börsenpreise für Strom mit der dagegen das falsche Signal, zumal Deutsch- zunehmenden Einspeisung von grünem Dr. Michaele Schreyer ist Vizepräsidentin der land auch im letzten Jahr noch zweitgröß- Strom. Die Transformation des Energiesek- Europäischen Bewegung Deutschland -und-- Dozentin an der FU. Von 1999 bis 2004 war ter Produzent von Atomstrom in der EU tor verfolgt eben die drei Ziele gleicherma- sie Mitglied der Europäischen Kommission.

war. Es würde die Renationalisierung aller ßen: Klimaschutz, Energiesicherheit und Illustration: Martin Nicolausson 33

Böll.Thema 1/2013 33 Grünes Regieren

zu halten. Die mechanische Blockordnung bedurfte In der Sicherheitspolitik kommt es darauf an, den keiner höheren Instanz über den Blöcken, sondern Ordnungsrahmen der UN besser zu nutzen und in ihm eine des rationalen Kalküls zwischen den Blöcken. Eine Ordnungsmacht aufzubauen, die sich global Geltung verschaffen Friedensordnung war das nicht. Außenpolitik in kann. An dieser Aufgabe wird sich die deutsche Außenpolitik einem Land wie der Bundesrepublik konnte nur Ent- messen lassen müssen – gerade auch die grüne. spannungspolitik sein und sonst nichts. Trotz aller Aufrüstungsdynamik blieb den beiden Supermächten letzten Endes immer nur die gemein- same Suche nach Stabilität. Durch die Entwicklung innerhalb der Blöcke und neben den Blöcken wurde Außenpolitik ohne diese Stabilität jedoch untergraben. Alles in allem handelte es sich dabei um einen globalen Entkolo- nialisierungsprozess, der früh die verbliebenen euro- Geländer päischen Kolonialmächte und spät die Sowjetunion erfasste. Reine Entspannungspolitik verfehlte diese Entwicklung. So geriet der « Genscherismus » in die Krise. Die kontroverse Herrschaft der beiden Super- Von Joscha Schmierer mächte ist nichts, dem nachzutrauern wäre. Da hat der Verteidigungsminister Recht. Recht hatte aber nde Februar dieses Jahres hatte die auch Constanze Stelzenmüller, wenn sie auf die UNO Heinrich-Böll-Stiftung zu einer Veranstal- und das Völkerecht als Elemente einer im Ansatz tung mit dem Titel « Sicherheitspolitik im vorhandenen Weltordnung verwies. Ohne die UNO Wandel. Deutschlands Rolle in der neuen hätte es keinen Rahmen für die Entkolonialisierung Weltordnung » eingeladen. Hauptredner gegeben und hätte der Zusammenbruch des Sowjet­ Ewar Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizi- imperiums kein Auffangbecken gefunden, in dem die ère. Omid Nouripour, verteidigungspolitischer Spre- Souveränität der unabhängig gewordenen Staaten cher von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, und völkerrechtlich gesichert wurde. Constanze Stelzenmüller vom German Marshall Fund De Maizière und Stelzenmüller sprachen zwei ver- diskutierten mit. schiedene Aspekte von Weltordnung an: De Maizière Dem Verteidigungsminister passte der Titel der Ver- die Erinnerung an einen globalen Ordnungsmecha- anstaltung nicht recht. Sicherheitspolitik sei immer nismus, der nicht mehr funktioniert und den auch im Wandel, sagte er zu Beginn, und eine neue Welt- kaum jemand zurückwünscht. Constanze Stelzen- ordnung gebe es nicht. Soweit es während der Zeit müller verwies dagegen auf den bereits bestehenden des Kalten Krieges eine Weltordnung gegeben habe, Ordnungsrahmen der internationalen Beziehungen. hätte es sich dabei um eine weltgeschichtliche Aus- Er wurde nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen nahmesituation gehandelt. Es sei auch die Frage, und überstand den Kalten Krieg. Der Kalte Krieg ent- ob man die Herrschaft von zwei Supermächten für wertete ihn zwar, zertrümmerte ihn jedoch nicht. ein Ideal der internationalen Beziehungen halten In den nächsten Jahren wird es darauf ankommen, solle. Jedenfalls sei es mit dieser Ordnung auf abseh- den vorhandenen Ordnungsrahmen der UN besser zu bare Zeit vorbei und so gebe es überhaupt keine nutzen und zu festigen, nachdem der Mechanismus Weltordnung. des Kalten Krieges nicht länger wirkt. Wird es gelin- Constanze Stelzenmüller widersprach später und gen, in der UNO eine Ordnungsmacht auszubilden, verwies auf die UNO, ihre vielen Unterorganisationen die dem vorhandenen Ordnungsrahmen nach und und das Völkerrecht. Eine gewisse Weltordnung gebe nach global Geltung verschafft? Die Institution, in es also durchaus, und sie sei sicher, dass de Maizière der diese sich bilden müsste und nach dem Ende der deren Existenz auch nicht bestreiten wolle. Natürlich Blöcke auch bilden kann, ist der Sicherheitsrat der UN. wollte der Bundesverteidigungsminister das nicht, Was trägt die Bundesrepublik Deutschland in und wie er mit einem Nicken zu verstehen gab. mit der Europäischen Union dazu bei, dass der Ord- De Maizière und Constanze Stelzenmüller verstan- nungsrahmen der UN gefestigt wird und dass sich den unter internationaler Ordnung jeweils etwas eine Ordnungsmacht bildet, die ihm Geltung ver- anderes. Der Verteidigungsminister verstand unter schafft und ihn verteidigt? Das ist der Maßstab, an ihr den während des Kalten Krieges herrschenden dem sich jede deutsche Außenpolitik messen lassen bipolaren Ordnungsmechanismus zwischen den Blö- muss, gerade auch die grüne. cken. Dieser Ordnungsmechanismus beruhte auf dem Die Friedensbewegung der 80er Jahre des letz- Gleichgewicht der wechselseitig gesicherten Vernich- ten Jahrhunderts, aus der die Grünen zum großen tung der beiden Supermächte und ihrer Fähigkeit, Teil hervorgingen, bewegte sich nolens volens

Illustration: Martin Nicolausson Störenfriede im eigenen Block jeweils unter Kuratel innerhalb der Blockordnung. Ihre Forderungen 34

34 Böll.Thema 1/2013 Grünes Regieren

rung werden die Grünen von Fall zu Fall entscheiden müssen, aber immer versuchen, den prinzipiellen Vorrang des UN-Rahmens zu stärken. « In der Regierung werden die Grünen In den harten Entscheidungen der internationa- von Fall zu Fall entscheiden müssen, len Politik haben sich Bündnis 90/Die Grünen in der Bundesregierung zweimal für ein Ja und einmal für aber immer versuchen, den prinzipiellen ein Nein entschieden. Sie haben die durch die UN nur schwach legitimierte Kosovo-Intervention der Vorrang des UN-Rahmens zu stärken. » NATO und den UN-mandatierten Einsatz in Afgha- nistan mitgetragen. Die Usurpation globaler Ord- nungsmacht durch die USA im Irakkrieg haben sie abgelehnt. Die Entscheidungen folgten der strategi- richteten sich an den eigenen Block. Keine Nachrüs- schen Orientierung, dass Frieden ohne eine Friedens- tung, mit einseitiger Abrüstung beginnen, so laute- ordnung nicht zu erreichen, sie aber ohne legitime ten zentrale Forderungen. Die Kräfte, die sich gegen Ordnungsmacht nicht zu schaffen ist. beide Blöcke wendeten oder gar mit der polnischen Im Fall Libyens und Malis blieb das Verhalten Solidarnos´c´ sympathisierten, waren in der Friedens- der jetzigen Bundesregierung irrelevant und auf bewegung in der Minderheit und zunächst auch bei Gesichtswahrung beschränkt, einmal entspannungs- den Grünen. politisch motiviert, das andere Mal der deutsch-fran- Erst nach 1989 mussten die Grünen sich ernsthaft zösischen Freundschaft verpflichtet. Mit dem Bürger- den Fragen ihrer internationalen Politik stellen. Der krieg in Syrien wird auch die neue Bundesregierung jugoslawische Erbfolgekrieg warf zum ersten Mal die noch zu tun haben. Selbstverständlich steht Russland Frage auf, was kann die EU, was kann Deutschland hinter dem Assad-Regime, sicher wird China auch in in der EU tun, um einen solchen Krieg zu beenden? Zukunft gegen von außen betriebenen Regimewech- Das UN-Mandat war schwach, und die Bundesrepu- sel eintreten, aber welcher Teufel hat den Westen blik wollte militärisch nichts mit den Konflikten zu geritten, als er die Forderung der Opposition teils tun haben, die sie zugleich mit der Anerkennung der ausdrücklich, teils implizit übernahm, dass es ohne Unabhängigkeit der jugoslawischen Republiken poli- den Rücktritt von Assad keine Verhandlungen geben tisch befeuert hatte. könne? Indem sich der Westen einseitig für die auf- Nach ihrem Eintritt in die Regierung 1998 muss- ständische Seite des Bürgerkriegs aussprach, die ten die Grünen eine politische Entscheidung treffen: nur durch den Willen, das Assad-Regime zu stürzen, Greift die internationale Gemeinschaft ein, um eine zusammengehalten wird, verspielte er die Möglich- brutale Unterwerfung des Kosovo durch Serbien zu keit, im Sicherheitsrat rechtzeitig gemeinsame Ord- stoppen? Es gab Resolutionen, aber es gab kein Man- nungsmacht zu entfalten und auf beide Seiten erfolg- dat des Sicherheitsrates für ein Eingreifen. Die Nato reich Druck auszuüben. mandatierte sich selbst, und die Grünen in der neuen Angeregt durch eine zu euphorische Einschätzung rot-grünen Regierung mandatierten die militärische der Erfolge der « Arabellion », lief diese Politik besten- Beteiligung der Bundesrepublik mit. Völkerrechtlich falls auf Naivität hinaus, wenn nicht das geopoliti- war diese Entscheidung fragwürdiger als die spätere sche Primat einer grundsätzlichen Feindschaft gegen- Beteiligung an der UN-mandatierten ISAF in Afgha- über dem Iran den Ausschlag gab. nistan. Ordnungsmacht war gefordert, um den Krieg Die Außenpolitik der schwarz-gelben Bundesre- zu beenden und der Sicherheitsrat war nicht in der gierung erweist sich in allen schwierigen Fällen als Lage, sie darzustellen. Die NATO-Intervention war orientierungslos. Auch eine neue Regierung wird es eine Ersatzhandlung, notwendig, aber ihrer Legiti- schwer haben, von Fall zu Fall situative und strategi- mation nach prekär. sche Erfordernisse in Übereinstimmung zu bringen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Interven- Sie könnte jedoch zu der öffentlichen Erörterung und tion im Kosovo nachträglich als politisch erfolgrei- Abwegung vor der Entscheidung zurückfinden, die cher gelten können als der Einsatz in Afghanistan. gerade in den schwierigsten Situationen die Außen- Auch wenn die NATO vorgeprescht war, wurde die politik der rot-grünen Bundesregierung auszeichnete. Friedenssicherung danach mit UN-Mandaten legi- timiert. Der Westen war sich bewusst, dass er sein Handeln in den UN-Rahmen zurückführen musste. Joscha Schmierer ist freier Autor und war von 1999 bis Die Spannung zwischen dem akuten Erfordernis, in --- 2007 Mitarbeiter des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes. einem äußersten Notfall wirksame Ordnungsmacht zu entfalten, und der strategischen Notwendigkeit, sie innerhalb des UN-Sicherheitsrates zu etablieren, wird sich nicht von selbst erledigen. Mit ihr umzuge-

hen verlangt Umsicht und langen Atem. In der Regie- Illustration: Martin Nicolausson 35

Böll.Thema 1/2013 35 Grünes Regieren

Eine systematisch angelegte, nachhaltige Marktwirtschaft braucht klare ordnungs­ politische Regeln. Dazu bedarf es eines neuen Leitbildes, an dem sich Unternehmen wie Bürger ausrichten können.

Auf dem Weg zur Green Economy

Von Max Schön

ls im Juni 2012 Staats- und Regierungs- antwortung sowie einen hohen Gestaltungsanteil an Max Schön ist Unternehmer chefs, Fachminister und Klimaexper- einer klimafreundlichen Marktwirtschaft. in Lübeck und Vorstand der ten zur Rio+20-Konferenz in Brasilien Bisher ist dieser Status im politischen Diskurs aller- « Initiative 2° – Deutsche Unternehmer für den Klima- zusammenkamen, ging eine Nachricht dings stets genutzt worden, um in einem Ping-Pong schutz » in Berlin; um die Welt, lange bevor die erste Dis- der Verantwortlichkeiten die Pflicht des gestalteri- → www.stiftung2grad.de/ Akussion beendet war: Der internationale Verhand- schen Handelns abzuwälzen – bedauerlicherweise lungsprozess bezüglich nachhaltiger Entwicklung zu Lasten des Fortschritts im Klimaschutz. Will man und Klimaschutz sei gescheitert. Der Wortlaut der diesen Teufelskreis durchbrechen, bedarf es einer Abschlussdeklaration, die bereits vor Beginn des Gip- mitreißenden gemeinsamen Vision und einer klaren fels öffentlich wurde, erstickte die Hoffnungen vieler Definition der Akteure und ihrer Aufgabenfelder. Klimaschützer im Keim: viel Bekenntnislyrik, keine Wie jeder Markt braucht auch eine systematisch Beschlüsse. angelegte nachhaltige Marktwirtschaft klare ord- Führende Umweltpolitiker bemühten sich rasch nungspolitische Regeln, die für alle verbindlich fest- um die Verteidigung des Papiers. Der Bundesum- legen, wie der Markt organisiert ist. Das Positive an weltminister Altmaier lobte die Deklaration mit den dieser vor uns liegenden Mammutaufgabe ist, dass Worten: « Dieser Text hat zumindest den Vorteil, dass sie strukturell schon einmal in Deutschland gelöst wir zum ersten Mal anerkennen, dass sich die Welt- worden ist. wirtschaft umbauen muss in eine grüne Wirtschaft, in Als Ludwig Erhard nach dem Zweiten Weltkrieg der man schonend mit den natürlichen Lebensgrund- das System der « Sozialen Marktwirtschaft » prägte, lagen Luft, Wasser und Rohstoffe umgeht. » gelang es ihm, ein Konzept zu implementieren, das Auf dem politischen Parkett mag die schriftliche auf den Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes auf- Fixierung eines Bekenntnisses zu einem Umbaupro- baute, dem Staat aber eine definierte ordnungspo- zess ein Erfolg sein. Solange es aber keinen Bauplan litische Rolle zuwies. Zum Zweck einer bestimmten gibt, der die Architektur einer grünen Wirtschaftsord- Zielsetzung – die Schaffung von Wohlstand und einer nung skizziert, fehlen Wirtschaftsvertretern wie auch neuen Sozialordnung – legte er einen neuartigen Bürgerinnen und Bürgern Planungssicherheit und Wettbewerbsrahmen fest. Erhard vermied es dabei, Verlässlichkeit und damit die Grundlagen, um eine verfrüht die Details der Ausgestaltung des neuen grüne Wirtschaftsordnung durch Investitionen zu Marktes und die Einzelregeln für den Umgang der initiieren. Der Gipfel in Rio endete mit einem Appell Sozialpartner miteinander akribisch festzulegen. Er an die Wirtschaft, zu einem grüneren Handeln zu baute vielmehr auf dezentrale Entscheidungen und kommen, und wies auf ihre Schlüsselrolle im Umbau- den Wettbewerb als Suchverfahren für Lösungen. prozess hin. Überraschend ist dies nicht, denn selbst- Beim Umbau zu einer nachhaltigen Markt-

Illustration: Martin Nicolausson verständlich haben Unternehmen eine besondere Ver- wirtschaft könnten wir vom Erhard’schen Kon- 36

36 Böll.Thema 1/2013 Grünes Regieren

zept lernen. Denn so wie der Staat in der sozialen Marktwirtschaft im Sinne seiner Zielsetzung grund- sätzliche Regeln vorgibt, stünde diese Möglichkeit « Die grundsätzliche ökologische auch als Steuerungselement für einen Wandel zu ­Ausrichtung unserer Marktwirtschaft einer grüneren Wirtschaftsordnung zur Verfügung. Kaufentscheidungen, beispielsweise für umwelt- ­darf nicht länger den ­politischen freundliche Güter, CO2-arme Energien oder gesunde Lebensmittel, lassen sich durch die Schaffung von Machtzyklen unterworfen sein. » Anreizen beeinflussen. Die Instrumente zur Erzeu- gung dieser Anreize finden sich im Handwerkskoffer der Politik. Als Beispiele seien ökologische Regeln zur gase bis 2050 um 80 bis 95 Prozent, gemessen am

Versteuerung von Dienstwagen abhängig vom CO2- Stand von 1990, reduziert werden müssen. Ausstoß oder die steuerliche Begünstigung energeti- Die politisch implementierte Energiewende ist scher Gebäudesanierung genannt. eine historische Chance für den Klimaschutz. Sie Teile der Wirtschaft haben die Notwendigkeit stellt ein einmaliges Optionsfenster dar, in dem die der Harmonisierung von ökonomischem Erfolg Gesellschaft sich nicht nur prüfen muss, wie viel ihr und klima- und umweltgerechtem Verhalten schon die größte industrielle Revolution seit Jahrhunder- erkannt. In branchenübergreifenden Kooperationen, ten wert ist, sondern auch, wie viel Energie wir über- wie beispielsweise der Stiftung 2°, arbeiten Unter- haupt benötigen. Die Energiewende und die damit nehmen gemeinsam an Konzepten und Rahmenbe- entstehende hohe Sensibilität für alle Fragen rund dingungen für eine kohlenstoffarme Volkswirtschaft. um die Art der Erzeugung, die Versorgungssicherheit Die Unternehmen beweisen damit, dass das Know- und die Preisgestaltung sollten auch genutzt werden, how für ein grüneres Wirtschaften vielerorts bereits um energieeffiziente Methoden stärker zu verankern, vorhanden ist, und zeigen der Politik damit den Weg, um grundsätzlich unseren Bedarf zu reduzieren und den diese ordnungspolitisch gehen sollte. Seitens der Ressourcen zu schonen. Wirtschaft bedurfte es der Appelle aus Rio also nicht, Ressourcenschutz darf nicht länger nur eine Option um die ersten Schritte in einem großen Verände- sein, sondern muss als Grundregel angesehen wer- rungsprozess zu unternehmen. So hat beispielsweise den. Sonst werden wir, nicht anders als die Enquete- PUMA, unter anderem auch ein Förderer der Stiftung Kommission « Wirtschaft, Wachstum, Lebensqualität » 2°, als erstes Unternehmen weltweit eine ökologische des Deutschen Bundestages zu keinem eindeutigen Gewinn- und Verlustrechnung eingeführt, welche die Ergebnis, zu keinen konkreten Handlungsempfehlun- Kosten von natürlichen Ressourcen und Umweltbe- gen zur Entkoppelung von Wachstum und Ressour- lastungen in der Rechnungslegung ausweist und censchutz kommen. in die Strategie des Unternehmens einfließen lässt. Instrumente zum Anreiz der Energieeffizienz wie Ein Vorbild für andere Unternehmen. Die 2°-Förde- beispielsweise das Top-Runner-Prinzip, das techno- rin Deutsche Bahn bietet ihren Kunden in Kürze die logieneutral ist und die Verbraucherinnen und Ver- Möglichkeit, dank des Bezugs von grünem Strom, braucher automatisch zum Energie- und Ressour-

CO2-neutral zu reisen – was sowohl dem Klimaschutz censparen anhält, sollten politisch gefördert werden. als auch dem Ausbau der erneuerbaren Energien in Dieses Prinzip sieht vor, dass die Verbrauchswerte des Deutschland dient. effizientesten Elektrogerätes innerhalb von fünf Jah- Den guten Beispielen zum Trotz sind wir derzeit ren nach der Marktimplementierung industrieweiter noch an einem Punkt, an dem zu viel an kleinen Standard sein müssen. Die Effizienz wird also stetig Rädern gedreht wird, während es gleichzeitig an gesteigert, während der Verbrauch beispielsweise von neuen Leitbildern fehlt, an denen sich Bürger und Elektrogeräten deutlich sinkt. Unternehmen ausrichten können. Auch im Bereich der Gebäudesanierung sowie in Ein solcher Rahmen ist nicht zuletzt deshalb von Fragen der Mobilität stecken in effizienteren Ange-

zentraler Bedeutung, weil er den Unternehmen einen boten große CO2-Einsparpotenziale, die es in den verlässlichen und langfristigen Handlungshorizont kommenden Jahren innerhalb eines verlässlichen liefert, der durch politische Beständigkeit gewähr- politischen Rahmens zu nutzen gilt. leistet, dass sich die richtigen Investitionen von Am dringendsten ist jedoch derzeit die Aufgabe, heute auch morgen amortisieren und nicht gar ins das vorhandene Verantwortlichkeits-Ping-Pong zu Gegenteil verkehren. Die grundsätzliche ökologische beenden und Vertrauen und Kooperationsbereit- Ausrichtung unserer Marktwirtschaft darf also nicht schaft zwischen Politik und Wirtschaft aufzubauen. länger den politischen Machtzyklen unterworfen sein, Umweltzerstörung und die milliardenschweren sondern muss unumstößlich manifestiert werden. Anpassungskosten sind eine Gefährdung der Grund- Dies erfordert einen breiten Konsens über eindeutig lagen für Frieden, Sicherheit und Wohlstand und definierte klimapolitische Ziele, wie die Begrenzung damit zentrale Gründe, den Klimaschutz nicht länger der Erderwärmung auf 2 Grad, wofür die Treibhaus- auf die lange Bank zu schieben. --- Böll.Thema 1/2013

Veranstaltungen und Veröffentlichungen der Heinrich-Böll-Stiftung zum Thema « Demokratie und Bürgerbeteiligung »

Konferenzen lädt alle ein, die etwas bewegen wollen: zum Diskurs mit den Piraten Erfah­rungsaustausch und zur gemeinsamen Eine sprachbasierte Lageanalyse und Das Hochamt der Demokratie Orientierung. Ein Wochenende mit Workshops, Empfehlungen zu einer Diskursstrategie Wahlkampfstrategien 2013 Vorträgen und Gesprächen, Praxisbeispielen und Von Herbert Hönigsberger und Sven Oster- Di/Mi, 11. – 12. Juni 2013 Kulturprogramm. berg im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung, Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung Mit Gabriele Abels, Jan Philipp Albrecht, Ger- Berlin 2012, nur als E-Paper! Download unter Drei Monate vor der Bundestagswahl werden die hart R. Baum, André Brie, Carolin Emcke, Rainer www.boell.de/publikationen Wahlkampfmanagerinnen und -manager der Par- Forst, Ralf Fücks, Katrin Göring-Eckardt, Chan- teien und die Chefs der beauftragten Werbeagen- tal Mouffe, Hartmut Rosa, Wolfgang Schröder, Öffentlichkeit im Wandel turen von CDU, SPD, Grünen, FDP, Die Linke und Berthold Vogel, Brigitte Young, MASCHEK u.v.a. Medien, Internet, Journalismus Piratenpartei auf einer Konferenz in Berlin ihre Eine Kooperation mit dem Deutschen Theater, Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung, Schriften Strategien und Konzepte für den Wahlkampf 2013 Berlin zu Bildung und Kultur, Band 11, Berlin 2012, präsentieren. Führende deutsche Parteien- und Programm und Anmeldung: 152 Seiten, Download unter Kommunikationsforscherinnen und -forscher, www.boell.de/veranstaltungen www.boell.de/demokratie/netz Journalistinnen und Journalisten und «Gegner- Beobachter» werden diese mit Analysen und Publikationen Beobachtungen ergänzen. Videodokumentationen Experiment Bürgerbeteiligung Konferenzprogramm und Anmeldung: Mobilize! International Activism Conference www.talk-republik.de Das Beispiel Baden-Württemberg Vom 21. – 24. März fand die Internationale Work- Ein Dossier von Elisabeth Kiderlen und Helga shop-Konferenz zu den Themen Menschenrechte, Baustellen der Demokratie Metzner. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung, Beteiligung, Aktivismus und Internet mit Aktivis- Wo Einmischen heute gefragt ist Schriften zur Demokratie – Band 32, Berlin, tinnen und Aktivisten aus Afrika, Asien, dem April 2013, 160 Seiten Fr – So, 14. – 16. Juni 2013 Nahen Osten, Mittel-, Süd-, und Osteuropa statt. Beletage der Heinrich-Böll-Stiftung www.boell.de/publikationen Die Demokratiefrage ist zurück in unserer Gesell- Dreißig Jahre im Bundestag – Der Einfluss der Netzpolitik und Netzkultur aus schaft. Viele Bürgerinnen und Bürger wollen sich Grünen auf die politische Kultur und das öffent­ internationaler Sicht liche Leben der Bundesrepublik Deutschland einmischen und mitgestalten: vom Stadtteil bis Beiträge und Kommentare unter zum Parlament, von der Schule bis zum Arbeits- Ein Essay von Andrei S. Markovits und www.boell.de/demokratie/netz.html platz. Doch wie können wir unsere Demokratie in Joseph Klaver. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stif- Zukunft besser machen? Mit welchen Verfahren? tung, Berlin 2013, 88 Seiten, 5 Euro An welchen Orten? Die Heinrich-Böll-Stiftung www.boell.de/publikationen

Zuletzt erschienen Die Ausgaben 1/12 und 2/12 sind als Printversionen vergriffen. Download unter www.boell.de / thema

3/ 12 2 / 1 2 1 / 1 2 Grenzenlos vernetzt – Digitale Demokratie ­ Grüne Ökonomie ­– Chancen und Risiken für die Demokratie Was uns die Natur wert ist Böll.Thema 1/13 Es grünt

«Es ist nicht übertrieben, die Grünen als das erfolgreichste politische Projekt der letzten 30 Jahre zu kennzeichnen. Dass die Bundesrepublik heute von einer Frau regiert und von ei- nem schwulen Außenminister repräsentiert wird, ist Ausdruck eines Wandels der politischen Kultur, der maßgeblich von den Grünen angestoßen wurde. Zentrale politische Projekte wie der Ausstieg aus der Atomenergie und die Reform der Staats- bürgerschaft sind inzwischen parteiübergreifend akzeptiert. Dabei reicht ihr Erfolg weit über Deutschland hinaus. «Grün» ist inzwischen eine globale Marke, in der Politik wie in der Wirtschaft. Dabei hat die milieuübergreifende Sympathie, die den Grünen entgegengebracht wird, nicht nur mit ‚weichen‘ Themen zu tun. Die Öffentlichkeit schreibt ihnen eine hohe Kompetenz in Sachen Energiepolitik zu, und bis in die Unter- nehmen hinein gilt Ökologie nicht mehr als Killerprogramm für den Industriestandort Deutschland, sondern als ökonomische Frischzellenkur. Kurz und gut: Grün ist cool, und die Grünen sind auf dem Sprung in eine neue politische Dimension. » Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Die Heinrich-Böll-Stiftung ist len politischen Richtungen des eine Agentur für grüne Ideen und Sozialismus, des Liberalismus Projekte, eine reformpolitische und des Konservatismus heraus- Zukunftswerkstatt und ein gebildet hat. internationales Netzwerk mit Organisatorisch ist die Heinrich- weit über hundert Partnerprojek- Böll-Stiftung unabhängig und ten in rund sechzig Ländern. steht für geistige Offenheit. Mit Demokratie und Menschenrechte derzeit 30 Auslandsbüros verfügt durchsetzen, gegen die Zerstö- sie über eine weltweit vernetzte rung unseres globalen Ökosys- Struktur. Sie kooperiert mit 16 tems angehen, patriarchale Landesstiftungen in allen Bundes- Herr­schaftsstrukturen überwin- ländern und fördert begabte, den, in Krisenzonen präventiv gesellschaftspolitisch engagierte den Frieden sichern, die Freiheit Studierende und Graduierte im des Individuums gegen staatliche In- und Ausland. Heinrich Bölls und wirtschaft­liche Übermacht Ermunterung zur zivilgesell- verteidigen – das sind die Ziele, schaftlichen Einmischung in die die Denken und Han­deln der Politik folgt sie gern und möchte Heinrich-Böll-Stiftung bestim- andere anstiften mitzutun. men. Sie ist damit Teil der « grünen » politischen Grundströ- mung, die sich weit über die Bundesrepublik hinaus in Ausein- andersetzung mit den traditionel- www.boell.de