perspektiven des demokratischen sozialismus Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik 31. Jahrgang 2014 Heft 1 ISBN 978-3-89472-591-4 ISSN 0939-3013

Herausgegeben im Auftrag des Vorstandes der HDS von Nils Diederich, Iring Fetscher, Helga Grebing, Leo Kißler und Karl Theodor Europa Schuon Redaktion: Bernhard Claußen, Klaus Faber, am Scheideweg Horst Heimann, Arne Heise, Ulrich Heyder, Jens Kreibaum, Kira Ludwig, Thomas Meyer, Roland Popp (Schlussredaktion), Walter Reese-Schäfer, Hans-Joachim Schabedoth, Klaus-Jürgen Scherer, Joachim Spangenberg

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Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidari- schen Gesellschaft, deren Verwirklichung für perspektivends uns eine dauernde Aufgabe ist. Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie. Hamburger Grundsatzprogramm der SPD 1/14 INHALT

Editorial 4 Klaus Faber EU-Perspektiven: auch in 50 Jahren kein demokratischer THEMENSCHWERPUNKT: Bundesstaat? 64 EUROPA AM SCHEIDEWEG Gregor Fitzi Heinz-J. Bontrup Ja! Nein! Vielleicht… Europa- Die EU in der Krise. Die Stimmungen in Italien 76 Wirtschafts- und Währungsunion endlich richtig aussteuern 6 Jennifer L. Allen/Terence Renaud Europäische Geschichte aus Udo Bullmann/Caroline Somnitz Sicht US-amerikanischer Europa besser machen: Eine Studenten am Beispiel neue Balance zwischen Deutschlands 83 moderner Wirtschaft und sozialer Demokratie 17 WILLY-BRANDT-SPEZIAL Dierk Hirschel Europa braucht einen Tobias Kühne Politikwechsel 25 und kein Ende? 88

Michael Fischer Bernd Rother Europas Krise – am Ende des Willys Hundertster – Eine «demokratischen Kapitalismus»? Nachlese 91 Anmerkungen zur «Streek’schen Frage» 33 Klaus Schönhoven An der Spitze der Sozial- Andreas Maurer demokratie 1964–1987. Legislativmacht und Führungsstil und Politik- Politisierung: Der Spagat des verständnis von Willy Brandt 102 Europäischen Parlaments 43

Werner Wobbe Demokratie versus Eurobüro- kratie – ein deutsches Trauma 53

2 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Inhalt

BEITRÄGE UND DISKUSSIONEN Das antiautoritäre Fundament der SPD; Erler, Hans: Zur Aktualität Dieter Klein des Judentums. Vorträge 1997 bis Doppelte Transformation und 2010 165 ein neues linkes Crossover 109 Helga Grebing Klaus-Jürgen Scherer Wandel durch Annäherung? Gedankensplitter über ein Überlegungen zu Engelberg, außergewöhnliches Wahljahr 121 Ernst: Wie bewegt sich, was uns bewegt? Evolution und Revolution Kira Ludwig in der Weltgeschichte 168 Die Geschichte der Hochschul- initiative Demokratischer Sozialismus e. V. Teil 2: Autorinnen und Autoren 172 Die frühen Jahre (1980–1984) 130

Michael Müller/Kai Niebert Politik im Anthropozän. Die sozial-ökologische Trans- formation wird zur Systemfrage 140

Horst Heimann Neues aus der Welt des Antikapitalismus – und des Demokratischen Sozialismus 149

REZENSIONEN UND BERICHTE

Edgar Göll Rezension zu Haderlapp, Thomas/ Trattnigg, Rita: Zukunftsfähigkeit ist eine Frage der Kultur. Hemmnisse, Widersprüche und Gelingens- faktoren des kulturellen Wandels 162

Sebastian Voigt Tradition und Verdrängung. Über die geistesgeschichtlichen Wurzeln der Sozialdemokratie. Rezension zu Erler, Hans: Judentum und Sozialdemokratie.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 3 EDITORIAL

Die Europäische Union steht am Scheide- werten mag, bleibt die Frage eines linken weg. Wie werden die ökonomischen und Reformbündnisses, eines «linken Crossover», sozialen Krisen gemeistert werden, die mehr als akut. Eine progressive Reformpoli- sich immer weiter ausbreiten und die Ge- tik jedenfalls ist mit der Union kaum mög- meinschaft zu zerreißen drohen? Liegt die lich und nach den aktuellen Umfragen ver- Zukunft Europas in einer stärkeren institu- harrt die SPD im 25-Prozent-Turm. Drohen, tionellen Integration oder kann eine sozia- auch angesichts der AfD, «österreichische le Demokratie am besten in Nationalstaa- Verhältnisse»? Aber nicht nur um die SPD ten organisiert werden? Und wie eigentlich soll es gehen, auch Bündnis 90/Die Grü- wird Europa aus einem nicht-deutschen nen und die Linkspartei erwecken derzeit Blickwinkel wahr genommen? All diesen nicht den Eindruck, ernsthaft und konstruk- Fragen wollen wir im Themenschwerpunkt tiv an einer Mehrheit links der Mitte zu ar- dieser Ausgabe der perspektiven ds nachge- beiten. Beide «Partner» der Sozialdemokra- hen. So unterschiedlich sich unsere Autorin- tie wirken vielmehr selbst in der Opposition nen und Autoren dieser komplexen Mate- inhaltlich ausgebrannt und altmodisch, zie- rie auch annähern, eines wird deutlich: Auf hen sich auf hinlänglich bekannte Positio- eine Freihandelszone oder die sprichwörtli- nen zurück, ohne mit zukunftsweisenden Al- che «Gurkenkrümmung» wollen sie das eu- ternativen glänzen zu können. Mit ein paar ropäische Projekt nicht reduziert sehen. Zu Lockerungsübungen jedenfalls, da herrscht den Gurken wird es in diesem Heft auch auf allen Seiten eine erhebliche Naivität, noch erhellende Einsichten geben. wird es nicht getan sein. Den Beitrag von In Anschluss an das Jubiläumsjahr Dieter Klein verstehen wir als Einstieg in 2013 wollen wir mit einem kleinen Willy- die Diskussion und hoffen auf Ergänzungen Brandt-Spezial sowohl einen Rückblick als und Widerspruch. auch einen Ausblick wagen. Was bleibt vom Zweitens werden wir weiterhin der Fra- Gedenken übrig und warum sich überhaupt ge nachgehen, wie eine konstruktive und noch mit Brandt beschäftigen? Vielleicht innovative Kapitalismuskritik im 21. Jahr- können die Beiträge zeigen, dass es sich im- hundert nicht nur entwickelt, sondern zu- mer noch lohnt. dem in praktische Politik überführt werden Es gibt zwei Debatten, die wir in den kann. Denn es ist ja erstaunlich, dass ein perspektiven ds und auf unseren Tagun- weit verbreitetes aber auch diffuses Unbe- gen in Zukunft verstärkt führen wollen und hagen gegenüber marktradikalen Lösungs- zu denen wir unsere Leserinnen und Leser ansätzen bisher noch zu keiner politischen herzlich einladen und zu Stellungnahmen Trendwende oder Bündelung der Kräfte ge- auffordern möchten. Nach den ersten Mo- führt hat. Verschläft die Sozialdemokratie – naten der Großen Koalition, wie auch im- Stichwort Steuersenkungen, Freihandelsab- mer man ihre Erfolge oder Misserfolge be- kommen oder NSA-Skandal – gerade eine

4 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Editorial

große Chance auf Erneuerung und Aufstieg politische Linke nie ganz erholen können. zu alter Stärke? Soziale Bewegungen gibt es Was also waren Ursachen und Folgen dieser ja, aber beiderseitig herrscht weitgehend Katastrophe, gerade aus dem Blickwinkel Desinteresse und Sprachlosigkeit. der Sozialdemokratie und der Arbeiterbe- Der Ausbruch des 1. Weltkrieges jährt wegung? Auf zahlreiche Beiträge zu diesen sich in diesem Jahr zum hundertsten Mal. Fragen sind wir gespannt! Die großen Verkaufserfolge von voluminö- sen Überblicksdarstellungen zeigen, dass Zum Schluss möchten wir unserem lang- dieses Ereignis nach wie vor bewegt und jährigen Vorstandsmitglied Nils Diederich bedrückt. Auch für die deutsche und die eu- ganz herzlich zu seinem 80. Geburtstag am ropäische Sozialdemokratie waren die Aus- 24. Mai gratulieren! wirkungen des Krieges verheerend, nicht nur aufgrund der vielen Toten. Die Interna- tionale zerbrach ebenso wie die parteipoli- Viele Anregungen und auch etwas Freude tische Einheit der Arbeiterbewegung, von beim Lesen wünscht im Namen der den Folgen der «Urkatastrophe des 20. Jahr- Herausgeber und der Redaktion hunderts» hat sich auch die gesellschafts- Tobias Kühne

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 5 THEMENSCHWERPUNKT: EUROPA AM SCHEIDEWEG

Heinz-J. Bontrup Die EU in der Krise Die Die Wirtschafts- und Währungsunion endlich richtig aussteuern

EU-Asymmetrien und Unvollkommenheiten gelegten Ökonomievariante, die als primiti- Die Europäische Union (EU) erstreckt sich ve neoliberale Spielart einseitig dem Markt mit dem jüngsten Mitglied Kroatien auf 28 (Wettbewerb) und den Kapitalinteressen zu- Mitgliedsstaaten, aber nur 18 Länder (zum gewandt ist und alles Staatliche und damit 1. Januar ist Lettland dazu gekommen) un- die Politik diskreditiert.2 terliegen mit dem Euro einer Europäischen So ist es im bisherigen Ergebnis auch Währungsunion und damit der autonomen wenig erstaunlich, dass sich die EU, mit ih- Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ren wirtschaftlich stark heterogenen Län- (EZB). Es existiert zwar ein Europäisches Par- dern, in einer tiefen wirtschafts-, finanz- und lament, aber keine Europäische Regierung. politischen Funktionskrise befindet, woraus Vielmehr gibt es eine «Ersatzregierung» aus sich bereits eine Legitimationskrise entwi- Europäischem Rat und Europäischer Kom- ckelt hat. «Anstelle des erhofften Zusam- mission mit einem Kommissionspräsiden- menwachsens droht Europa ein Auseinan- ten an der Spitze. Dadurch wird u. a. eine derdriften von Eurozone und Rest-EU, von einheitliche europäische Fiskalpolitik ver- Gläubiger- und Schuldnerländern, von Eu- hindert, die weiterhin nationalstaatlich und nicht abgestimmt in der EU betrieben wird. tert. Zur ökonomischen Einschätzung der damals Dabei kommt es konkret in der Politikan- vorgelegten EU-Verfassung, die genauso, wie der wendung nicht zu einer keynesianisch-post- jetzt gültige Vertrag von Lissabon, in Kraft getre- ten am 1. Dezember 2009, als neoliberal einzuord- keynesianisch orientierten Fiskalpolitik, son- nen ist, vergleiche Huffschmid, J., Sachgasse EU- dern zu einer im Europäischen Vertrag von Verfassung, in: Blätter für deutsche und internatio- Lissabon,1 neoklassisch-monetaristisch an- nale Politik, Heft 7/2004, S. 775ff., derselbe, Die neoliberale Deformation Europas, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 3/2007, 1 Eine Europäische Verfassung ist dagegen durch S. 307 ff. das Nein von Frankreich und den Niederlanden 2 Vgl. Bontrup, H.-J., Der diskreditierte Staat. Alter- zum Verfassungsentwurf endgültig auf dem Brüs- nativen zur Staatsverschuldung und zu Schulden- seler EU-Gipfel am 13. Dezember 2003 geschei- bremsen, 2. Aufl., Bergkamen 2012.

6 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Die EU in der Krise ropabefürwortern und Europaskeptikern chefs der Gemeinschaft bei meinem Amts- und von Reich und Arm. Zudem droht die antritt als Präsident der EG-Kommission Bereitschaft, europapolitische Vorgaben zu vorgeschlagen, bis 1992 einen wirklich ge- akzeptieren und umzusetzen, zu schwinden. meinsamen und solidarischen Wirtschafts- Nationalstaatliches Denken greift in den raum zu schaffen. Die Gemeinschaft hat verschiedenen Mitgliedstaaten der EU um sich zu diesem Ziel feierlich bekannt.»5 sich.»3 Siehe hier nur die u. a. von Streeck Zur theoretischen Fundierung des Euro- vehement eingeforderte Renationalisierung päischen Binnenmarkts erhielt der Italiener und seine restaurative Forderung nach ei- und Ökonom Cecchini von der EG-Kommis- ner Abschaffung des Euros.4 sion 1986 den Auftrag, über die «Kosten der Nichtverwirklichung Europas» zu for- EU-Wirtschaftsunion schen. Auf Basis des von ihm 1988 vorge- Die Europäische Wirtschaftsunion wurde legten «Cecchini-Berichts» wurde die anzu- Mitte der 1980er-Jahre mit einer Bekämp- strebende wirtschaftspolitische Doktrin für fung der «Eurosklerose» durch Mitterrand die EG abgeleitet und schließlich festge- und Kohl initiiert. Der wirtschaftliche Still- schrieben. Der wettbewerblich ausgerichte- stand in der «alten» Europäischen Gemein- te Markt solle über die Wohlfahrt in der Eu- schaft (EG) sollte beendet werden. Man ropäischen Gemeinschaft entscheiden bzw. wollte einen Europäischen Binnenmarkt, sie erhöhen und weiterentwickeln. Staatli- eine Wirtschaftsunion, bis 1992 vollendet chen Interventionen in die Märkte und Be- sehen; festgeschrieben in der zum 1. Juli vormundungen sowie der staatlichen Büro- 1987 in Kraft getretenen Einheitlichen Eu- kratie wurde der Kampf angesagt. Durch ropäischen Akte. Der damalige Präsident die Abschaffung von Handelsbarrieren (Zöl- der EG-Kommission, Delors, sprach von einer len, Steuerschranken, Grenzkontrollen, Vor- «stillen Revolution» in Europa. «Der interna- schriften) und offenen Märkten sollten die tionale Wettlauf gegen die Zeit, bei dem das privatwirtschaftlichen Unternehmen unter Überleben der Länder unserer Gemeinschaft Rationalisierungs-, Produktivitäts- und Ko- auf dem Spiel steht, erfordert eine gemein- stendruck gesetzt werden. Es sollte im Bin- same Zielsetzung, die uns zur Bündelung nenmarkt eine Handels-, Kapital- und Per- unserer Kräfte und Energien zwingt. Aus sonenfreiheit herrschen. Auch wurde die diesem Grund habe ich dem Europäischen Bekämpfung von staatlichen Monopolen Parlament und den Staats- und Regierungs- (öffentlichen Unternehmen) durch Priva- tisierungen zur Doktrin erhoben und das öffentliche Auftragswesen liberalisiert. Die 3 Alemann, U. von, Dreyer, D., Hummel, H., Demo- kratische Mitgestaltung und soziale Sicherheit, Verschärfung der Konkurrenz in und zwi- FINE-Gutachten zur «Politischen Union», Wissen- schen den Ländern würde die Unternehmen schaftliches Gutachten im Auftrag der Ministerin dann zwingen, die Produktivitätssteige- für Bundesangelegenheiten, Europa und Medien rungen und Kostensenkungen über Preisre- des Landes NRW, Düsseldorf 2012, S. 5. 4 Vgl. Streeck, W., Auf den Ruinen der Alten Welt. Von der Demokratie zur Marktgesellschaft, in: Blät- 5 Delors, J., Gemeinsames Ziel, in: Cecchini, P., Eu- ter für deutsche und internationale Politik, Heft ropa ´92, Der Vorteil des Binnenmarktes, Baden 12/2012, S. 61ff. Baden 1988, S. 9.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 7 Heinz-J. Bontrup duzierungen an die Verbraucher weiterzuge- Unternehmen mit einem Target Return Pri- ben. Dadurch käme es zu einer Aufwertung cing dominiert werden.8 Hier werden die der realen Kaufkraft bei den Endverbrau- Preise von den Anbietern gemäß ihrer Ge- chern und infolge würden Wachstum und winnerwartungen gesetzt und nicht, wie die Beschäftigung angeregt. neoklassische Preisbildung fälschlich unter- stellt, nachfrageorientiert durch den Gren- EU-weite Wettbewerbsgläubigkeit zanbieter mit seinen Grenzkosten bestimmt, Die der Wirtschaftsunion allgemein unter- die nicht einmal seine Fixkosten decken. Au- legte, aber an Naivität nicht mehr zu über- ßerdem betreiben alle Unternehmen eine bietende, wirtschaftspolitische Doktrin ei- nicht kostenverursachungsgerechte Preis- ner Verbraucherorientierung gepaart mit diskriminierung, wobei die Nachfrager mit Wettbewerb geht originär auf Adam Smith der geringsten Markttransparenz und Subs- zurück. «Konsum ist der einzige Zweck aller titutionsmöglichkeit sowie Nachfragemacht Produktion;» so Smith, «und das Interesse die höchsten Preise zahlen und die markt- des Produzenten sollte nur insoweit berück- starken Nachfrager damit subventionieren. sichtigt werden, wie es für die Förderung Auch verträgt sich das ideologisch besetzte des Konsuminteresses nötig sein mag. Die- EU-Wettbewerbsmodell nicht mit der wirt- se Maxime ist so selbstverständlich, daß es schaftlichen Realität im Hinblick auf die unsinnig wäre, sie beweisen zu wollen.»6 Unterstellung, der Wettbewerb zwinge die Hier irrte Smith, wie in vielen anderen Punk- Unternehmen die erzielten Produktivitäts- ten auch. Ziel kapitalistischer Produktion ist steigerungen über Preisreduktionen an die nicht eine maximale Bedürfnisbefriedigung Nachfrager weitergeben zu müssen. Dies al- von Endverbrauchern, sondern eine erwei- les bestätigt beispielhaft der empirische Be- terte Kapitalbildung (Akkumulation) durch fund für die deutsche Elektrizitätswirtschaft eine möglichst maximale realisierte Profit- von 1998 bis 2011. So stiegen hier in der rate, um die Interessen der Kapitaleigner zu Branche die Preise für die privaten Haushal- befriedigen. Außerdem ist der Verbraucher te um 6,9 Prozent und die der stromnach- in der wirtschaftlichen Realität gegenüber fragenden Unternehmen gingen um 3,5 den Produzenten nicht souverän,7 sondern Prozent zurück. Die Produktivität legte aber geradezu ohnmächtig auf intransparenten um 91 Prozent auf Grund eines Beschäfti- und unvollkommenen Märkten den Unter- gungsrückgangs um 23 Prozent zu, und die nehmen ausgesetzt. Hinzu kommt, dass die Wertschöpfung um 84 Prozent. Die interne meisten Märkte von marktbeherrschenden Verteilung der Wertschöpfung ging dabei mit 52 Prozent zu Gunsten der Kapitaleig- ner aus, weil nur um 32 Prozent das Arbeits- 6 Smith, A., Untersuchung über das Wesen und Ursa- einkommen stieg.9 chen des Reichtums der Völker, Aus dem Englischen übersetzt von Streissler, M., Tübingen 2005, S. 645. Das 1776 in London von Adam Smith veröffentlich- 8 Vgl. Bontrup, H.-J., Target Return Pricing, in: Das te Werk hatte den Titel: «An Inquiry into the Nature Wirtschaftsstudium (WISU), Heft 4/2001, S. 470 ff. and Causes of the Wealth of Nations». 9 Vgl. Bontrup, H.-J./Marquardt, R.-M., Kritisches 7 Hier wird von Liberalen und Konservativen bis Handbuch der deutschen Elektrizitätswirtschaft, heute die Mär von der «Konsumentensouveränität» Branchenentwicklung, Unternehmensstrategien, erzählt. Arbeitsbeziehungen, 2. Aufl., Berlin 2011, S. 75 ff.

8 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Die EU in der Krise

Mit der Verkündung des Europäischen zur Vollendung des Europäischen Binnen- Binnenmarktes und der Öffnung der Mär- marktes, gegen Unternehmerübergriffe zu kte ist es zur Abwehr eines zwar kurzzeitig schützen. Hierzu muss ein strenges Europä- aufkeimenden (erwarteten) Wettbewerbs isches Wettbewerbsrecht mit einem Europä- sofort zu einem weit überproportionalen ischen Kartellamt und einer Europäischen Anstieg der Unternehmensfusionen in der Monopolkommission geschaffen werden EU gekommen.10 Die Märkte haben sich da- und in der Sanktion ist das Wettbewerbs- durch noch mehr verengt bzw. konzentriert. recht dem Strafrecht zu unterlegen. Dies war antizipierbar, denn die Neigung Selbst die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Monopol entspringt der Grundnatur in Westdeutschland von Müller-Armack des kapitalistischen Erwerbes selbst. «Das theoretisch entwickelte soziale Marktwirt- Prinzip der Rendite vollendet sich im Mo- schaft setzte nicht, wie die EU heute, auf nopolgewinn; so wie sich der andauernde die so genannten «Selbstheilungskräfte Krieg der Konkurrenz, der Hoffnung eines des Marktes». Unkontrollierter Wettbewerb jeden der Streitenden, nach in der Über- widerspricht dem Ordoliberalismus,12 der wältigung der anderen erfüllt. Dem Verhält- deutschen Spielart des Neoliberalismus. nis der freien Konkurrenz wohnt damit von Müller-Armack schrieb diesbezüglich: «Das allem Anfang an die Tendenz seiner Selbst- Zutrauen in die Selbstheilungskräfte der aufhebung inne. Das Monopol, weit ent- Wirtschaft hat sich den Wirtschaftskrisen fernt davon, eine ‹Entartung› der freien Un- gegenüber nicht behaupten lassen. (…) Die ternehmerinitiative, eine ‹Fehlentwicklung› Fehler und Unterlassungen der liberalen der Konkurrenz darzustellen, ist vielmehr Marktwirtschaft liegen letztlich in der Enge die heimliche Hoffnung aller. Innerhalb ei- der ökonomischen Weltanschauung be- ner Ordnung, wo Akkumulation ‹Moses und schlossen, die der Liberalismus vertrat. Sie die Propheten› ist, gelingt dem Monopol, veranlasste ihn, den instrumentalen Charak- was alle anderen wollen.»11 Unternehmer ter der von ihm ausgeschalteten Ordnung bekämpfen deshalb permanent den Wett- zu verkennen und die Marktwirtschaft als bewerb, wo sie nur können. Vernichtungs- autonome Welt zu nehmen (…).»13 Und der schlachten, in denen die Konkurrenten aus ebenfalls wie Müller-Armack ordoliberale dem Markt gedrängt werden, Fusionen und Ökonom Röpke formulierte es 1958 so: «Die Kartelle sprechen hier eine deutliche Spra- Gesellschaft als Ganzes kann nicht auf dem che und sind alltäglich zu beobachten. Gesetz von Angebot und Nachfrage aufge- Trotzdem hat es die EU bis heute nicht ge- baut werden. (…) Mit anderen Worten: die schafft (gewollt), den von ihr ausgerufenen, aber nicht einmal definierten Wettbewerb, quasi ihr systemkonstitutives Instrument 12 Der Begriff bezieht sich auf die 1948 von Walter 10 Vgl. Bontrup, H.-J., Wo geht es hier bitte zur Markt- Eucken gegründete Zeitschrift «ORDO-Jahrbuch für wirtschaft? Marktwirtschaftliche Ordnung, Wett- die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft». Vgl. bewerb und Wirtschaftsmacht, Bergkamen 2012, Ptak, R., Ordoliberalismus, in: ABC zum Neoliberalis- S. 41ff. mus, H. J. Urban (Hrsg.), Hamburg 2006, S. 170 ff. 11 Hofmann, W., Monopol, Stagnation und Inflation, 13 Müller-Armack, A., Wirtschaftsordnung und Wirt- Heilbronn 1987, S. 47. schaftspolitik, Bern 1976, S. 107.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 9 Heinz-J. Bontrup

Marktwirtschaft ist nicht alles.»14 Deshalb nomie, hält zu Recht dagegen: «Bis heute war man sich, wie auch Eucken15 mit sei- bildet die Annahme, dass die Egoismen ner Wettbewerbskritik an einer «freien Wirt- der Einzelakteure durch Konkurrenz zum schaft», darüber im Klaren, dass das wett- größtmöglichen Wohl aller gelenkt würden, bewerbliche Marktprinzip mindestens durch den Legitimationskern der kapitalistischen einen in den Marktmechanismus interve- Marktwirtschaft. Aus meiner Sicht ist diese nierenden Staat unbedingt ergänzt werden Annahme jedoch ein Mythos und grundle- muss.16 gend falsch; Konkurrenz spornt zweifellos Wettbewerb ist bei aller Abwägung und zu so mancher Leistung an (…), aber sie rich- Beurteilung der empirischen Befunde kein tet einen ungemein größeren Schaden an hinreichender gesellschaftlicher Ordnungs- der Gesellschaft und an den Beziehungen rahmen. Es kommt insgesamt zu subopti- zwischen den Menschen an. Wenn Men- malen Ergebnissen. Märkte und Wettbe- schen als oberstes Ziel ihren eigenen Vor- werb «ohne jede Regulierung untergraben teil anstreben und gegeneinander agieren, zwangsläufig ihre eigenen Existenzbedin- lernen sie, andere zu übervorteilen und dies gungen. Was sollte Konkurrenten daran als richtig und normal zu betrachten. Wenn hindern, jedes vorteilsversprechende Mittel wir jedoch andere übervorteilen, dann be- auszuschöpfen, vom systematischen Betrug handeln wir uns nicht als gleichwertige bis hin zur Vernichtung des Gegners?»17 Der Menschen: Wir verletzen unsere Würde.»18 Wettbewerbsimperativ mystifiziert und sug- Gesellschaft ist viel mehr. Sie verlangt geriert zugleich, dass, wenn wir in der Wirt- von uns Menschen gegenseitige Anerken- schaft gegeneinander konkurrieren und uns nung. Wie soll dies aber unter Wettbewerbs- egoistisch verhalten, es gleichzeitig, wie bedingungen, unter einer ausschließenden Smith es glaubte, zu einem «gesamtwirt- Zielerreichung, realisiert werden? «Ich kann schaftlichen Wohlstandsmaximum» käme. nur erfolgreich sein, wenn jemand anderer Der österreichische Ökonom Felber, ein erfolglos bleibt. Konkurrenz ‹motiviert› pri- führender Vertreter der Gemeinwohlöko- mär über Angst. Deshalb ist die Angst auch ein sehr weit verbreitetes Phänomen in ka- pitalistischen Marktwirtschaften: weil viele 14 Zitiert bei Reuter, N., Die «Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft» – weder neu noch sozial, in: fürchten, den Job zu verlieren, Einkommen, Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 12/2002, Status, gesellschaftliche Anerkennung und S. 682. Zugehörigkeit. In einem Wettbewerb um 15 Eucken, W., Ordnungspolitik, Herausgegeben von knappe Güter gibt es nun mal Verlierer, und Oswalt, W., Münster, Hamburg, London 1999. die meisten haben Angst, selbst betroffen 16 Thielemann, U., Wettbewerb als Gerechtigkeitskon- zu sein. Es gibt noch eine weitere Motiva- zept. Kritik des Neoliberalismus, Marburg 2010, tionskomponente der Konkurrenz. Während Bontrup, H.-J., Wettbewerb und Markt sind zu we- nig, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Angst von hinten schiebt, zieht vorne eine Wochenzeitung «Das Parlament», Nr. 13 vom 26. Art Lust. Doch welche Lust? Es handelt sich März 2007. um Siegeslust: um den Wunsch, besser zu 17 Fischer, M., Versagende Märkte: Wer zahlt den Preis?, in: WISO direkt. Analysen und Konzepte zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, (Hrsg.) Friedrich- 18 Felber, C., Gemeinwohlökonomie, Erweiterte Neu- Ebert-Stiftung, Juli 2012, S. 1. ausgabe, Wien 2012, S. 23.

10 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Die EU in der Krise sein als jemand anderer. Und das ist, mit Delors wurde damit zu den Akten gelegt. psychologischer Brille betrachtet, ein sehr Er sah zumindestens vor, die zeitliche Di- problematisches Motiv. Denn das Ziel un- mension der Umsetzung in drei Stufen zu seres Tuns sollte nicht sein, dass wir besser strecken. Außerdem forderte Delors eine in- sind als andere, sondern dass wir unsere Sa- haltliche Ausgestaltung der Währungsuni- che gut machen, weil wir sie für sinnvoll hal- on, die neben einer monetären auch eine ten und gerne machen. Daraus sollten wir wirtschaftlich-makroökonomische Integrati- unseren Selbstwert beziehen. Wer seinen on durch eine gemeinsame europäische Fis- Selbstwert dagegen daraus bezieht, bes- kalpolitik vorsah. ser zu sein als andere, ist davon abhängig, Mit der Einführung des Euros,20 die im dass andere schlechter sind. Psychologisch Maastrichter Vertrag seit Ende 1990 ver- gesehen, handelt es sich hier um patholo- handelt worden ist und am 7. Februar 1992 gischen Narzissmus: Sich besser zu fühlen, beschlossen wurde, sowie am 1. Januar weil andere schlechter sind, ist krank. Ge- 1999 in Kraft trat, sind dann unwiderruflich sund wäre, dass wir unser Selbstwertge- auf Basis des alten ECU-Rechnungssystems fühl aus Tätigkeiten nähren, die wir gerne die Wechselkurse für die elf von Beginn an machen, weil wir sie aus freien Stücken ge- teilnehmenden EU-Mitgliedsländer fixiert wählt haben und darin Sinn erfahren. Wenn worden.21 Für Deutschland hieß dies, dass wir uns auf das Wir-selbst-sein konzentrie- ein Euro einen Wert von 1,95583 D-Mark ren würden anstatt auf das Besser-sein, hat. Um Mitglied im Euro-Club zu werden, würde niemand Schaden nehmen, und es waren Konvergenzkriterien zu erfüllen. So bräuchte keine VerliererInnen.»19 durfte die durchschnittliche Inflationsrate plus Aufschlag, sowie ein durchschnittlicher EU-Währungsunion und ihre schwersten Kapitalmarktzins nicht überschritten wer- Gründungsfehler den und außerdem musste eine mindestens Neben der grundsätzlich falschen Wettbe- zweijährige Mitgliedschaft ohne Änderung werbsdoktrin wurde die Europäische Wirt- der bilateralen Leitkurse im EWS-System schaftsunion auch viel zu schnell, bevor es vorliegen. Neben diesen monetären Krite- überhaupt zu einer nachhaltigen europäi- rien waren zwei finanzpolitische Konver- schen Integration der realwirtschaftlichen genzkriterien zu erfüllen. Zum einen durfte, Verhältnisse in den einzelnen Mitglieds- jeweils bezogen auf das nominale Brutto- staaten kommen konnte, durch die zum 1. inlandsprodukt, die Nettoneuverschuldung Januar 1999 in Kraft getretene Europäi- des Staates nicht über 3 Prozent und zum sche Währungsunion ergänzt. Kohl und Mit- anderen der staatliche Gesamtschulden- terand gingen dabei von der Primitivthe- stand eines potenziellen Eurolandes nicht se aus, dass die Euro-Einführung wie eine über 60 Prozent liegen. «Peitsche» auf die Wirtschaftsunion einwir- ken und sie vorantreiben würde. Der dage- 20 Die Ausgabe von Euro-Bargeld erfolgte zum 1. gen ausgearbeitete Plan zur Einführung ei- Januar 2002. ner Wirtschafts- und Währungsunion von 21 Dies waren in der Reigenfolge der internationalen Länderzeichen: Österreich, Belgien, Deutschland, Spanien, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, Lu- 19 Ebenda, S. 28 f. xemburg, Niederlande und Portugal.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 11 Heinz-J. Bontrup

Da der Cecchini-Bericht noch von der (Inflation) ist stabil. Trotz eines «gefühlten Beibehaltung der nationalen Währungen Teuro» ist die objektive Geldentwertung für ausging, hat die EG-Kommission mit der Verbraucher seit dem Euro-Start mit durch- u. a. von Emerson (damaliger Direktor für schnittlich 1,6 Prozent niedriger ausgefal- die ökonomische Bewertung der Gemein- len als Jahre zuvor die D-Mark an Wert ver- schaftspolitiken bei der EG) verfassten Stu- loren hat. Heute von einer «Eurokrise» oder die: «Ein Markt – eine Währung» die Vorteile Währungskrise zu sprechen, ist demnach eines Binnenmarktes unter der Prämisse ei- völlig falsch. Richtig ist dagegen, dass bei ner einheitlichen Europäischen Währung der Euro-Einführung, bis auf Luxemburg, untersuchen lassen.22 Hierbei ging es zu- nicht von einem Land alle geforderten Kon- nächst um die Abgrenzung von möglichen vergenzkriterien erfüllt worden sind. Inso- Szenarien einer Wirtschaftsunion in Verbin- fern beruht der Euro-Start auf einem Ver- dung mit alternativen Währungssystemen. tragsbruch. Die politische Mehrheit in der Eine Wirtschaftsunion plus ein System fle- EU wollte den Euro, koste es, was es wol- xibler Wechselkurse (als ein reines Konkur- le. Daneben wurden schwere Gründungs- renzmodell) wurde dabei als suboptimal ver- fehler bei der Währungsunion gemacht, so worfen. Dies sei ein Rückschritt hinter das der Ökonom Hickel von der Arbeitsgruppe EWS-System, das als Koordinierungslösung Alternative Wirtschaftspolitik. Erstens wur- auf Grund der vielen Spekulationsangriffe – den die Finanzmärkte als relativ frei von In- wie die Realität gezeigt hätte – instabil sei. stabilität und Krisen und der Bankensektor Daher sei eindeutig eine Wirtschaftsunion als ohne mögliche Fehlentwicklung unter- mit einem festen Wechselkurs, sprich einer stellt. Die jetzt seit 2008 ablaufende und einheitlichen Währung, zu präferieren. Nur von den USA ausgehende schwere weltwei- so könne es zu einem stabilen Währungssy- te Wirtschaftskrise, die insbesondere die stem in der EU kommen und die erwarteten EU in eine anhaltende Krise gestürzt hat, Wachstums- und Beschäftigungseffekte ent- zeigt das Gegenteil. Eine Währungsunion faltet werden. Von der Euro-Einführung wur- funktioniert nicht ohne eine strenge staat- den außerdem Effizienzgewinne durch den liche Kontrolle der Finanzmärkte und der Wegfall von Wechselkursunsicherheiten Banken. Zweitens lag bei der Euro-Einfüh- und Transaktionskosten erwartet. rung der Fokus auf monetären und finanz- Betrachtet man den Euro isoliert nur wirtschaftlichen Konvergenzkriterien. Die als eine Währung, so kann man von einem realwirtschaftlichen Divergenzen in den großen Erfolg sprechen. Sowohl der Au- einzelnen Ländern (Wachstum, Produktivi- ßenwert (Wechselkurs) des Euros hat nach tät, Arbeitslosigkeit, Innovationspotenzial seiner Einführung bis heute um rund 25 und Infrastruktur) spielten keine Rolle. Drit- Prozent aufgewertet und der Innenwert tens verblieben die Realwirtschaft und der jeweils vorliegende Sozialstaat in der na- 22 Vgl. Emerson, M. u. a., Ein Markt – Eine Währung. tionalen Souveränität. Gleichzeitig wurde Potentielle Nutzen und Kosten der Errichtung einer aber auch die nationalstaatlich weiter ver- Wirtschafts- und Währungsunion. Eine Studie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, antwortete Fiskalpolitik im Hinblick auf die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen, Bonn, Staatsverschuldung mit den Konvergenzkri- Heidelberg, Brüssel 1991. terien bezüglich der Neuverschuldung und

12 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Die EU in der Krise dem maximalen Schuldenstand restringiert so stark konzentrieren, dass enge oligopo- und in der jetzigen Krise mit dem Europä- listische oder gar monopolistische Macht- ischen Fiskalpakt noch einmal bekräftigt. strukturen gegeben sind und es außerdem Die Steuerpolitik blieb dagegen ausschließ- nicht in den unternehmerischen Kalkulatio- lich den Mitgliedsländern überlassen, was nen zu einer vollständigen Internalisierung zu einem enormen Steuerdumping zwischen der Umwelt kommt, bzw. dadurch eine op- den EU-Ländern geführt hat. So ist es keine timale gesellschaftliche Allokation knapper Überraschung, dass die herrschende EU-Po- Ressourcen verhindert wird. Hier muss die litik in der Krise jetzt auf eine reine neolibe- Politik, wie schon angeführt, über eine ent- ral intendierte Austeritätspolitik setzt. Der sprechende EU-Wettbewerbspolitik und ein vierte große Fehler bei der Währungsunion rigoroses EU-Wettbewerbsrecht das Entste- war schließlich die Nichtbeistandsklausel hen von Marktmacht- und Ausbeutungs- («No-bail-out»). EU-Mitgliedsländer, die in strukturen verhindern. Verlangen dagegen eine Staatsschuldenkrise geraten sind, weil Produktionsprozesse zur Realisierung von ihnen die staatliche Refinanzierung von economies of scale nach einer entsprechen- Anleihen am Kapitalmarkt, von den vermö- den Betriebsgröße (Kapazität), wie in der genden Kreditgebern, verweigert wird oder Automobil- oder Stahlindustrie u. a., so sind nur zu nicht bezahlbaren Zinsen möglich die hier anbietenden (notwendigen) Groß- ist, darf von anderen EU-Ländern nicht ge- unternehmen einer strengen staatlichen holfen werden. Auch hier hat die aktuelle Kosten-, Gewinn- und Preiskontrolle zu un- Krise einen mühevollen Lernprozess über terwerfen oder zu vergesellschaften und «Rettungsschirme» und zum Schluss durch damit unter demokratische Kontrolle zu die EZB satzungswidrige Staatsanleiheauf- stellen. Darüber hinaus ist eine kurzfristi- käufe erforderlich gemacht. Beides, «Ret- ge Profitmaximierung wegen einer dadurch tungsschirme» und Staatsanleiheaufkäufe, fehlenden Nachhaltigkeit auf allen Märk- sind klare Vertragsbrüche, die auf dilettan- ten durch eine entsprechende Festlegung tische Gründungsfehler bei der Euro-Einfüh- von branchenbezogenen betrieblichen län- rung zurückzuführen sind. geren investiven Amortisationszeiten aus- zuschließen und gleichzeitig ist die eigen- Was ist in Europa zu tun? kapitaldeterminierte Profitrate, es sei denn Die EU ist mit ihrer Wettbewerbsideologie ein Unternehmen erbringt wirklich außer- und der Freiheit der Märkte, Merkel hat ge- gewöhnliche gesellschaftliche Leistungen, rade noch einen «Wettbewerbspakt» aus- auf maximal 10 Prozent zu beschränken. gerufen, ordnungstheoretisch auf einem Außerdem müssen dem Markt- und Wett- Irrweg. Wettbewerb, wenn er denn funktio- bewerbsprinzip von vorn herein die Bereit- niert, kann sicher für Effizienz in der Produk- stellung von Gütern und Diensten der ge- tion und neue innovative Produkte sorgen, sellschaftlichen Daseinsfürsorge entzogen er darf aber nicht zu gesellschaftlich sub- werden. Dazu gehören die Bereiche der Ge- optimalen Ergebnissen führen, weil Wett- sundheit, der Rente und die Versorgung mit bewerb auch immer Verlierer «produziert». Wasser, Energie sowie die öffentlichen Ver- Suboptimal wird es auch dann, wenn sich kehrsträger. Dies kann durch vergesellschaf- einzelne Märkte (wettbewerbsimmanent) tete öffentliche Unternehmen am besten

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 13 Heinz-J. Bontrup umgesetzt werden, deren Zweck nicht eine toinlandsprodukts entspricht. Von 2006 bis Profiterzielung ist, sondern die auf die Be- 2012 waren es sogar 600 Mrd. EUR bezie- friedigung gesellschaftlich essenzieller Zie- hungsweise 22 Prozent des Bruttoinlands- le ausgerichtet werden müssen. Zusätzlich produkts an Auslandsverlusten.23 ist das Genossenschaftswesen staatlich zu Deutschland wird auch 2014 wieder auf fördern und auszubauen und kleine Unter- eine hohe gesamtwirtschaftliche Sparsum- nehmen mit bis zu 20 Beschäftigten sind me von 280 Mrd. EUR kommen. Diese Er- steuerrechtlich zu bevorzugen. sparnis ist, wie in den Jahren zuvor, aber völ- Das größte Problem auf makroökono- lig ungleich verteilt bzw. hoch konzentriert. mischer Ebene ist die zwischen den einzelnen Von der Ersparnis werden realwirtschaft- EU-Ländern vorliegende realwirtschaftliche lich jedoch nur 80 Mrd. EUR im Inland und Divergenz, die sich letztlich in den Leistungs- 200 Mrd. EUR im Ausland investiert; und bilanzen niederschlägt. Schwächere Länder das bei einer riesigen Investitionslücke und haben hier bei einer einheitlichen Währung gleichzeitig vorliegender Massenarbeitslo- keine Abwertungsmöglichkeit mehr und die sigkeit in Deutschland. Große Summen der stärkeren Länder, wie insbesondere Deutsch- deutschen Ersparnis werden so wieder auf land, müssen bei Exportüberschüssen kei- den Finanzmärkten landen und, bei nega- ne Aufwertungen ihrer nicht mehr vorhan- tiven Realzinsen aufs Ersparte, hoch spe- denen nationalen Währungen fürchten. Die kulative Anlagen suchen. Es wird von den bei der Produktion in den jeweiligen Län- Reichen mit der «räuberischen Ersparnis» dern anfallenden Stückkosten werden dann (Keynes) weiter gezockt. Entweder direkt zum wettbewerblichen Gradmesser zwischen an der Börse oder man lässt durch Banken den Ländern. Soll es dabei fair zugehen, sein Geld anlegen. Die Alternative sind Fi- müssen die Reallöhne mit der erreichbaren nanzdienstleister und Fonds, die das Geld Produktivitätsrate in den einzelnen Ländern von Vermögenden am «grauen» Finanz- steigen. Ist dies, wie extrem in Deutschland markt («Schattenbanken») einsammeln, der mit unterhalb der Produktivitätsrate stei- bis heute im Gegensatz zu den konventio- genden Reallöhnen, nicht der Fall, und in nellen Banken überhaupt keiner Finanzauf- den realwirtschaftlich schwächeren Ländern sicht unterliegt. Hier genügt für die Firmen steigen die Reallöhne oberhalb der Produk- ein Gewerbeschein vom Gewerbeamt.24 Die tivitätsrate, wie in Griechenland, Italien, Por- Geldanleger erwarten von ihren Finanz- tugal, Spanien, dann wird es keine Chance dienstleistern unkomplizierte Anlagen, kur- für einen realwirtschaftlichen Ausgleich ge- ze Kündigungsfristen und natürlich über- ben. Im Gegenteil, die schwächeren Länder durchschnittliche Renditen. Sie wollen alle werden sich auf Grund ihrer negativen Lei- dasselbe, ohne eigene Arbeit von der Arbeit stungsbilanzen immer mehr durch Kapita- limporte verschulden, wobei am Ende die «Insolvenz» steht. Aber auch die Kapital- 23 Vgl. Bach S. u. a., Deutschland muss mehr in seine Zukunft investieren, in: DIW-Wochenbericht Nr. exporteure sind die Verlierer. So haben die 26/2013, S. 12. deutschen Anleger und Finanziers seit 1999 24 Vgl. Bognanni, M., Brächer, M., Die Gierigen. rund 400 Mrd. EUR auf ihr Auslandsvermö- Skandale am Graumarkt, in: Handelsblatt vom gen verloren, was etwa 15 Prozent des Brut- 31.1/2.2.2014, S. 52 ff.

14 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Die EU in der Krise anderer noch reicher werden. Die Gier treibt Um diesen unheilvollen Prozess der sie dabei an. Fallen sie dann auf windige «Überersparnis» in Europa zu beenden, Finanzdienstleister herein und verlieren ihr muss neben der oben erwähnten vertei- Geld, weil ihnen völlig unrealistische Profite lungsneutralen Lohnpolitik in Verbindung versprochen wurden, sind sie tief enttäuscht mit einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem und rufen die Gerichte an.25 Dabei müsste Lohn- und Personalausgleich solange von selbst einem ökonomischen Laien klar sein, den Mehrwerteinkommen zu den Arbeits- dass das an den Finanzmärkten verteilte einkommen umverteilt werden, bis die Mas- Geld immer erst in der produzierenden senarbeitslosigkeit in Europa beendet ist. Wirtschaft durch menschliche Arbeit er- Damit würden gleichzeitig die Staatshaus- wirtschaftet werden muss. Jede Bank, jeder halte von der gigantischen Finanzierung Fonds und jeder Finanzdienstleister kann der Arbeitslosigkeit befreit und ein Groß- das eingesammelte Geld der Reichen nur in teil der bestehenden Staatsverschuldung der Realwirtschaft vermehren. Geld schafft abgebaut werden. Da die Gewerkschaften nicht mehr Geld. Wenn es aber in der Wirt- diesen notwendigen Umverteilungsprozess schaft durch eine neoliberal umgesetzte pri- nicht schaffen, muss der Staat in die Tarif- märe Umverteilung von den Arbeits- zu den verhandlungen eingreifen und die abhän- Mehrwert- bzw. Besitzeinkommen (Gewinn, gig Beschäftigten an den Arbeitsmärkten Zins, Miete und Pacht) und durch den Staat unterstützen und nicht wie heute dem Ka- in der Sekundärverteilung durch Steuern pital noch Hilfe bei der Ausbeutung gewäh- und Abgaben noch zusätzlich zu einer Um- ren. Dazu ist allerdings eine Verfassungs- verteilung zu Gunsten des Kapitals kommt, änderung notwendig und sinnvoll. Ohne also zu einer doppelten Umverteilung, ein gleichzeitig ausgebautes EU-weites So- dann ist der Befund eindeutig: Es fällt im- zialsystem und stabile Arbeitsmarktbezie- mer mehr Konsumnachfrage und in Folge hungen kann eine Wirtschafts- und Wäh- reale Investitionsnachfrage aus, so dass es rungsunion nicht funktionieren. am Ende für die Reichen immer beschwer- Außerdem ist die Geldpolitik der EZB, licher wird überhaupt noch eine seriöse ren- die nicht nur für eine Preisniveaustabilität tierliche Anlage zu finden. Der Rest ist be- verantwortlich sein darf, sondern auch für kannt. Die US-amerikanische, aber auch die Wachstum und Beschäftigung, mit einer irische und spanische Immobilienblase las- gemeinsamen Europäischen Fiskalpolitik sen an dieser Stelle grüßen.26 zu harmonisieren, um so zyklische Krisen möglichst erst gar nicht aufkommen zu las- sen. Dazu ist dringend der kontraproduktive 25 So zockte selbst die «Ordensgemeinschaft der Europäische Fiskalpakt mit seiner Schulden- Armen-Schwestern des Heiligen Franziskus» in bremse als ein krisenverschärfendes und Aachen und verlor Millionen Euro bei einem dubio- staatsschuldenerhöhendes Instrument ab- sen Finanzdienstleister. Vgl. Honnigfort, B., «Arme zuschaffen und der EU-Haushalt, der derzeit Brüder noch ärmer», in: Frankfurter Rundschau vom 11.2.2014, S. 4. auf 1,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts 26 Vgl. dazu ausführlich Bontrup, H.-J., Aus der welt- der EU beschränkt ist, muss sukzessive auf weiten Wirtschaftskrise so gut wie nichts gelernt, bis zu 5 Prozent erhöht werden, um damit in: perspektiven ds, Heft 1/2012, S. 14 ff. fundamentale Gemeinschaftsaufgaben zu

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 15 Heinz-J. Bontrup

finanzieren und den ökonomischen, sozia- wie alle Finanzdienstleister und «Schatten- len und ökologischen Strukturwandel in den banken» ebenso der staatlichen Finanzauf- Mitgliedsländern zu begleiten. Insbesonde- sicht zu unterstellen oder zu verbieten. Und re muss auch in der EU eine weitreichende, nicht zuletzt muss in den Unternehmen der vereinheitlichte Steuerpolitik umgesetzt EU der arbeitende Mensch im Sinne einer werden, um damit das heute vom Kapital Wirtschaftsdemokratie27gleichberechtigt praktizierte, erpresserische Steuerdumping zum Kapital das Sagen haben. Denn ohne zwischen den Mitgliedsstaaten zu beenden. den Menschen gibt es keine Unternehmen Dazu müssen ebenso alle Steueroasen in und alleine schafft das Kapital keinen Neu- der EU geschlossen und ein von allen EU- wert. Eine parlamentarisch demokratisch Ländern hartes strafrechtliches Vorgehen verfasste Politische Union, die ebenfalls gegen Steuerkriminelle praktiziert werden. in der EU noch überfällig ist, reicht allein Daneben sind die Finanzmärkte und der in einem «gemeinsamen und solidarischen Bankensektor auf das Strengste zu kon- Wirtschaftsraum», wie es Delors betonte, trollieren und auf eine der Realwirtschaft nicht aus, um eine Wohlfahrt für Alle zu dienende Funktion zurechtzustutzen, so- schaffen.

27 Vgl. dazu ausführlich Bontrup, H.-J., Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratische Wirt- schaft, 5. Aufl., Köln 2013.

16 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Udo Bullmann / Caroline Somnitz Europa besser machen Eine neue Balance zwischen moderner Wirtschaft und sozialer Demokratie

Das europäische Projekt befindet sich in ei- Staatsverschuldung. Auch wenn einige Län- ner Krise. Trotz unbestrittener Erfolge wie der Europas nicht negierbare politische und dem Wegfall der Grenzen, der Schaffung ei- strukturelle Mängel aufweisen, lässt sich die ner gemeinsamen Währung oder den Vor- Heftigkeit der Krise in Europa nur vor die- teilen eines gemeinsamen Binnenmarktes sem Hintergrund verstehen. Sie hat nach haben die Entwicklungen der vergangenen der groß angelegten Bankenrettung der Jahre in der Wahrnehmung der Menschen Jahre 2008 und 2009 die Menschen weiter aus dem Friedens- und Hoffnungsprojekt verunsichert: In den Geberländern besteht Europa zunehmend eine Bedrohung wer- die Angst, unkalkulierbare Risiken einzuge- den lassen. Doch wie kann es sein, dass hen; in den Nehmerländern wird Europa nur sich – obwohl wir heute ein Ausmaß an noch als Sparkommissar wahrgenommen. Wohlstand und Frieden erreicht haben, von Das unzureichende Krisenmanagement dem unsere Vorfahren nicht einmal zu träu- der EU-Staatenlenker hat es nicht vermocht, men gewagt hätten – immer mehr Men- die Krise einzudämmen und das Vertrauen schen von Europa abwenden? der Menschen zurückzugewinnen. Zentrale Diese Frage kann unserer Meinung Entscheidungen über die Zukunft ganzer nach nur beantworten, wer einen genauen Länder wurden im Hauruck-Verfahren über Blick auf die Politik der vergangenen Jahre die Köpfe der Menschen hinweg getroffen. wirft. Die Weltfinanzkrise 2007/2008 hat Öffentliche Debatten waren ebenso Fehl- uns allen die katastrophalen Fehlentwick- anzeige wie eine demokratische Kontrolle lungen im Finanzsektor vor Augen geführt. durch europäische oder nationale Volks- Laut Eurostat betrug der kumulierte Verlust vertreter. Geblieben von dieser Politik, die des Bruttoinlandsproduktes durch die jüngs- ausschließlich auf blindes Sparen gesetzt te Krise mindestens 2,12 Billionen Euro in hat, sind tiefschürfende Rezessionen und der Europäischen Union (2008-2012). Auch eine soziale Krise. Die einfachen Menschen die zur Bankenrettung aufgelegten Hilfs- hatten in vielen Ländern das Nachsehen ge- pakete haben unvorstellbare Ausmaße an- genüber den Banken. Die Arbeitslosigkeit genommen. So haben Europas Staaten in ist in der Konsequenz der Rezession sowie Form von Garantien und Direkthilfen 4.600 massiver Sparmaßnahmen auf ungeahnte Milliarden Euro zur Rettung von Banken ver- Höhen geschnellt und hat in der Eurozo- anschlagt. Dieser Betrag entspricht in etwa ne den höchsten Stand seit Einführung des der Wirtschaftskraft Deutschlands und Euro erreicht. In Griechenland und Spanien Frankreichs zusammen genommen. wächst eine Generation junger Menschen Die Folge dieser Bankenrettungspolitik heran, die mehr Arbeitslose als Beschäf- war nicht zuletzt ein massiver Anstieg der tigte zählt. Zurückgeblieben ist ein großes

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 17 Udo Bullmann / Caroline Somnitz

Misstrauen der Menschen gegenüber dem zunächst für uns selbst beantworten, wie europäischen Integrationsprozess. Die Spal- und in was für einem Europa wir in Zukunft tung unseres Kontinents nimmt dadurch zu leben wollen. und findet in der Entsolidarisierung von Eu- Europa muss mehr sein als eine Wäh- ropas Völkern ihren traurigsten Ausdruck. rungsunion oder ein gemeinsamer Binnen- Europa muss sich das verloren gegange- markt. Für uns ist Europa auch Frieden, so- ne Vertrauen durch einen neuen politischen zialer Zusammenhalt, Rechtsstaatlichkeit, Kurs zurückerarbeiten. Denn die Menschen Presse- und Meinungsfreiheit, Reisefreiheit werden sich erst dann wieder für Europa be- und kulturelle Vielfalt. Keiner dieser Punkte geistern, wenn sie es nicht nur mit Armut, ist einem anderen übergeordnet, sie alle tra- Jobverlust und Zukunftsangst, sondern mit gen ihren Teil zum Gelingen des Projekts bei. dem Glauben an eine bessere Zukunft und Ein erfolgreiches handlungsfähiges Europa an mehr Gerechtigkeit in Verbindung brin- ist eines im Zusammenspiel dieser Errungen- gen. Dafür ist eine neue Balance zwischen schaften. Dies bedeutet auch, eine Debat- den Anforderungen modernen Wirtschaf- te über die Zukunft der EU nicht von vorn- tens und sozialer Demokratie notwendig, herein niederzureden aus Angst davor, dass wie wir in diesem Beitrag ausführen möch- dies Geld kosten könnte. Denn es sollte uns ten. nicht egal sein, wenn z. B. in Griechenland Kinder vor Hunger im Klassenzimmer um- Europa wieder ins Gleichgewicht bringen – kippen. Neben einer moralischen Verantwor- Die Prioritäten für die kommenden Jahre tung, die wir tragen, ist auch Deutschland Schonungslos hat die jüngste Finanz- und im Gefüge globaler Herausforderungen auf Wirtschaftskrise uns die Schwächen unse- ein funktionstüchtiges Europa angewiesen. res Systems aufgezeigt. Der globalen Wirt- schaft war genau das zum Verhängnis ge- Schwerpunktverlagerung von Finanzmärkten worden, was in den vergangenen Jahren als hin zur Realwirtschaft ihr Hauptwachstumsmotor gefeiert worden Die jüngste Krise hat gezeigt, dass die Vor- war: Eine immer stärkere Ausrichtung un- stellung sich selbst regulierender Finanz- serer Volkswirtschaften auf Kapitalmärkte, märkte realitätsfern ist. In den letzten 5 die uns scheinbar geradezu mühelos mehr Jahren haben wir die Scherben aufgekehrt Geld verdienen ließen, sowie deren Ver- und Rahmenbedingungen geschaffen, dass flechtung. Das Finanzsystem war mit seinen der Finanzsektor als Ganzes seine Aufgabe überzogenen Bonuszahlungen und aben- als Diener der Realwirtschaft wieder wahr- teuerlichen Produkten immer mehr zu einer nehmen kann. Hier haben wir einiges an Art Parallelwelt zur Realwirtschaft gewor- Erfolgen vorzuweisen: Wir haben die Ban- den, welche auch die Politik düpierte. kerboni gedeckelt; wir haben dafür gesorgt, Für den Ausstieg aus der Dauerkrise so- dass Banken in Zukunft mehr Eigenkapital wie den Aufbau einer handlungsfähigen vorhalten müssen, um im Krisenfall Verluste Europäischen Union sind zukunftsweisende selber auffangen zu können; wir haben eine Weichenstellungen erforderlich. Wie ein sol- Einlagensicherung, die die Guthaben von ches Europa dann in Zukunft aussehen soll, Kunden bei Banken bis zu einer Grenze von werden wir oft gefragt. Dazu müssen wir 100.000 Euro schützt, beschlossen; und wir

18 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europa besser machen haben uns dafür eingesetzt, dass Lebens- Investitionen erhöhen, Forschung und mittelspekulationen eingedämmt werden. Innovationen anstoßen Dies sind nur Auszüge aus der Bilanz. Um Arbeitsplätze zu schaffen und Europa Einige offene Baustellen sind nach wie im Wettbewerb optimal aufzustellen, ist es vor da: So steht die Besteuerung des Finanz- unerlässlich, die Investitionsquote in Euro- sektors in Form einer Finanztransaktions- pa wieder deutlich zu erhöhen. Während steuer noch aus. Daneben könnten einige beispielsweise die Nettoinvestitionsquote Banken im Krisenfall – trotz Bankenabwick- in Deutschland in den siebziger Jahren bei lungsmechanismus – zu groß sein, um prob- 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts lag, lemlos abgewickelt zu werden. Dies macht betrug sie im Jahr 2012 nur noch 2,5 Pro- die Untersuchung von weiteren Banken- zent des BIP. Laut Deutschem Institut für strukturreformen, wie der Einführung von Wirtschaftsforschung kosten fehlende In- Schutzmauern zwischen Geschäfts- und vestitionen Deutschland jedes Jahr 0,6 Pro- Investmentbanking, notwendig. Es muss zentpunkte potentiellen Wirtschaftswachs- in Zukunft definitiv sichergestellt werden, tums. dass der Finanzsektor die Gesellschaft nicht Ähnliche Entwicklungen sind in ande- noch einmal ausnimmt, sondern ihr dient. ren europäischen Ländern zu beobachten – besonders dramatisch ist die Lage in Grie- Ein Neustart der europäischen Wirtschaft chenland mit einer Nettoinvestitionsquote Neben den Aufräumarbeiten am Finanz- von -8,6 Prozent des BIP (2012) sowie Itali- markt besteht in der realen Wirtschaft drin- en mit 0,2 Prozent des BIP (2012). gender Handlungsbedarf aufgrund der teils Investitionen müssen vor allem in Sekto- dramatischen Lage in einigen Ländern Eu- ren fließen, wo künftig neue und zukunfts- ropas. Zudem machen Verschiebungen im trächtige Arbeitsplätze geschaffen werden globalen Gefüge es unerlässlich, dass Euro- können: Erneuerbare Energien, Energieeffi- pa einen Neustart für seine Wirtschaft ini- zienz, nachhaltige Mobilität sowie moderne tiiert, um wettbewerbsfähig zu bleiben und Materialtechniken. Auch die Durchbrüche, um Arbeitsplätze und Wohlstand auch in die in europäischen Laboren und Universitä- Zukunft erhalten zu können. Die einseiti- ten erzielt werden, müssen in zusätzliche Ar- ge Sparpolitik der vergangenen Jahre, die beitsplätze für die europäischen Arbeitneh- die Rezession in etlichen Ländern weiter merinnen und Arbeitnehmer umgewandelt vertieft hat, ist hier nicht zielführend. Wir werden. Bei den EU-Haushaltsverhandlun- sprechen uns für eine Wirtschaftspolitik gen haben wir uns bereits erfolgreich dafür aus, die ökonomischen, sozialen und eingesetzt, dass mehr europäische Gelder ökologischen Fortschritt gleichberechtigt für die Förderung innovativer Unterneh- in den Mittelpunkt stellt. Dies umfasst ne- men zur Verfügung stehen, insbesondere ben einer Politik für solide Finanzen eine kleine und mittelständische Unternehmen. echte europäische Wachstumspolitik, die Eine aktuelle Studie des Europäischen Par- verstärkt auf Forschung und Innovationen, laments zeigt auf, dass eine derartige Prio- vermehrte Investitionen, eine vitale europä- ritätensetzung Effizienzgewinne von bis zu ische Industrie, und auch auf ein nachhalti- 800 Milliarden Euro – 6 Prozent des BIP – ges Wirtschaftsmodell setzt. auf europäischer Ebene erwarten lässt.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 19 Udo Bullmann / Caroline Somnitz

Um höhere Investitionen zu ermög- schäftigungspolitik sowie eine Europäische lichen, müssen mehr Spielräume in den Forschungs- und Entwicklungsstrategie. nationalen Haushalten geschaffen werden. Vor allem die kleinen und mittelstän- Haushaltskonsolidierung ist hier eine not- dischen Unternehmen sind der Wachs- wendige Bedingung, um diese Spielräume tums- und Innovationsmotor der europä- zu schaffen, aber es muss eine intelligente ischen Wirtschaft. So sind 99,8 Prozent Haushaltskonsolidierung sein. Dies bedeu- aller Unternehmen in der Europäischen tet nicht nur ein Zusammenstreichen der Union kleine und mittelständische Unter- Ausgabenseite, so dass Wirtschaftskrisen nehmen, die 70 Prozent aller Angestellten von Sozialkrisen abgelöst werden, sondern stellen. Mit «Horizont 2020», dem welt- auch die Einnahmeseite der öffentlichen weit größten öffentlichen Forschungs- und Haushalte muss verbessert werden. Das Entwicklungsprogramm, haben wir für die umfasst den europaweiten Kampf gegen kommenden Jahre Regelungen für die ge- Steuerbetrug und Steuerflucht, sowie die zielte Förderung dieser innovativen KMU Besteuerung von Finanzgeschäften. festgelegt. Der Zugang zu Krediten ist es- sentiell für diese Unternehmen. Daten der Ehrgeizige europäische Industriepolitik Europäischen Zentralbank aus dem Jahr Drei Viertel der europäischen Exporte sind 2012 belegen, dass die Kreditanträge klei- Industrieerzeugnisse. Ein Arbeitsplatz in der ner und mittlerer Unternehmen mit weniger Industrie schafft etwa zwei zusätzliche Ar- als 250 Beschäftigten in Spanien und Itali- beitsplätze im dazugehörigen Zuliefer- und en doppelt so häufig abgelehnt wurden wie Dienstleistungsbereich. Die Krise in Euro- die Anfragen von Großunternehmen. pa hat gezeigt, dass die europäische Wirt- schaft dieses starke industrielle Standbein Ein nachhaltiges Europa als Konstante im Auf und Ab der Konjunk- Bei all unseren Vorhaben dürfen wir nicht tur braucht. vergessen, dass wir in einer Welt begrenzter Wir wollen mit einer europäischen In- Ressourcen leben und uns und unseren dustrie-Strategie gezielt die Leitmärkte der Kindern eine gesunde Umwelt erhalten Zukunft erschließen, beispielsweise beim wollen. Das bedeutet, dass wir kein Verkehr, digitalen Medien, der Telekommu- Wachstum um jeden Preis verfolgen soll- nikation und der Breitbandversorgung. Wir ten, sondern dieses ökologisch ausgewo- wollen das kreative Potential unseres Konti- genes sein muss. Die EU muss beim Schutz nents erschließen. der Umwelt und der natürlichen Ressourcen Hierfür wollen wir gezielt die Rahmen- sowie im Kampf gegen Umweltverschmut- bedingungen für unsere europäische Indus- zung und Klimawandel wieder eine welt- trie verbessern. Wir brauchen einen Investi- weite Führungsrolle übernehmen, um die tions- und Aufbaufonds aus EU- sowie aus vor uns stehenden Aufgaben ökonomisch, nationalen Mitteln, ebenso eine effektive sozial und ökologisch verantwortungsbe- Förderlandschaft mit zentralen und regio- wusst zu lösen. nalen Investitionsbanken. Außerdem gehört Wir werden umweltschonende Techno- dazu eine sichere und bezahlbare Energie- logien und eine umweltfreundliche Produk- versorgung, eine moderne Bildungs- und Be- tion sowie dahingehende Forschungsbe-

20 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europa besser machen mühungen unterstützen. Zu diesem Zweck sorge, Kinderbetreuung und die angemes- muss der Energiemix weg von Kohle und sene Pflege älterer Mitbürgerinnen und Mit- Atomenergie hin zu mehr erneuerbaren bürger. Kurzum: Wir müssen sicherstellen, Energien umgestellt werden. Dadurch ver- dass die EU nicht nur eine Wirtschaftsuni- ringern wir die Abhängigkeit der EU von on, sondern eine echte Sozialunion ist. So- Energieimporten und steigern die Versor- ziale Ziele dürfen nicht länger zweitrangig gungssicherheit, ohne dass die Kosten der sein, sondern müssen zu den zentralen Leit- Energiewende auf die Bürgerinnen und Bür- motiven europäischer Politik werden. Dies ger abgewälzt werden. Daneben setzen wir muss in allen europäischen Strategien und uns für die Steigerung der Energieeffizienz Politiken verankert werden. ein – denn die billigste Energie ist die, die nicht verbraucht wird. Arbeitslosigkeit bekämpfen und Sozialdumping beenden Soziale Belange verstärkt in den Die Arbeitslosigkeit in der Europäischen Uni- Mittelpunkt stellen on hat dramatische Ausmaße erreicht und Gerechtigkeit ist für die meisten Deutschen mit ihr die Zunahme der Armut. Besonders noch wichtiger als wirtschaftlicher Erfolg. schlimm stellt sich die Lage in Griechenland Laut einer repräsentativen Umfrage des Al- und Spanien dar. Während die Arbeitslosig- lensbach Instituts vom März 2014 halten es keit in Griechenland im Jahr 2007 noch bei 52 Prozent der Befragten für wichtiger, sozi- 8,3 Prozent lag, hat sie sich bis 2013 mehr ale Gerechtigkeit auszubauen, als Deutsch- als verdreifacht auf 27,2 Prozent. Auch in land als Wirtschaftsstandort zu fördern. Spanien lag die Arbeitslosenquote 2007 Nur 26 Prozent hingegen sprechen sich da- noch bei 8,3 Prozent, während sie 2013 für aus, lieber die Wettbewerbsfähigkeit der auf 26,4 Prozent angestiegen war. Die Wirt- Wirtschaft zu steigern. Diese Zahlen zeigen, schaftskrise hat insbesondere zu einem An- dass in den vergangenen Jahren etwas ver- stieg der Jugendarbeitslosigkeit geführt. In loren gegangen ist in Deutschland und in Griechenland und Spanien wächst eine Ge- der Europäischen Union. Die Konservativen neration heran, die mehr Arbeitslose als Ar- haben mit ihrer neoliberalen Politik soziale beitende kennt – so liegt die Jugendarbeits- Vorkehrungen abgeschafft, die früher den losigkeit in Griechenland im Jahr 2013 bei Menschen nach harten Zeiten wieder auf 58,5 Prozent (2007: 22,9 Prozent) und in die Beine geholfen haben. Der Mensch wur- Spanien bei 55,7 Prozent (2007: 18,2 Pro- de nur noch unter dem Gesichtspunkt der zent). Doch auch in Italien und anderen Län- Profitmaximierung betrachtet. dern der Währungsunion hat die Arbeitslo- Das müssen wir ernst nehmen und für sigkeit schwindelerregende Höhen erreicht. ein Europa kämpfen, in dem die soziale Hinter diesen Zahlen stehen Menschen Dimension wieder vermehrt in den Mittel- und Schicksale. Wir können es uns nicht punkt rückt – für ein Europa, in dem nie- leisten, eine ganze Generation zu verlieren. mand zurückgelassen wird. Dazu zählen ein Denn Arbeitslosigkeit gerade in jungen Jah- anständiges Einkommen, die Qualität und ren hat langfristige ökonomische Folgen. Bezahlbarkeit von Bildung, der Zugang zu Der Kampf gegen die horrende Jugendar- bezahlbarem Wohnraum, Gesundheitsfür- beitslosigkeit muss daher zu einer Top-Pri-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 21 Udo Bullmann / Caroline Somnitz orität für die Europäische Union und die aldumping, die Praxis der Ausbeutung von Mitgliedstaaten werden, um nach der Wirt- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern schafts- und Finanzkrise nicht eine soziale müssen beendet, unsichere Arbeitsverträ- Krise zu riskieren. ge müssen zurückgedrängt, und die Arbeit- Das bedeutet, dass die bisher in Euro- nehmerrechte geschützt werden. Zu diesem pa verfolge reine Sparpolitik durch eine in- Zweck setzen wir uns ein für einen Pakt für telligente Haushaltskonsolidierung sowie existenzsichernde Mindestlöhne gemessen eine zukunftsgewandte europäische Wachs- am jeweiligen Durchschnittseinkommen in tums- und Beschäftigungsstrategie ergänzt allen EU-Mitgliedstaaten. Dieser Pakt muss werden muss. So müssen die vereinbarten dazu führen, dass alle europäischen Arbeit- europäischen Mittel im Kampf gegen Ju- nehmer, die in Vollzeit arbeiten, ein Ge- gendarbeitslosigkeit (6 Milliarden Euro) in halt über der Armutsgrenze erhalten. Denn den nächsten 2 Jahren schnell zur Verfü- trotz einer Vollzeitstelle zum Amt gehen zu gung gestellt und darüber hinaus deutlich müssen ist entwürdigend. Daneben wol- aufgestockt werden. Außerdem muss die len wir den massiv steigenden Missbrauch europäische Jugendgarantie, die jedem Ju- von Leiharbeit und von Werkverträgen mit gendlichen in Europa vier Monate nach Ver- wirksamen Maßnahmen bekämpfen. Außer- lassen des Bildungssystems oder Eintritts dem muss gelten: gleicher Lohn und glei- in die Arbeitslosigkeit einen Arbeitsplatz, che Arbeitsbedingungen für gleiche Arbeit Ausbildungsplatz oder eine Weiterbildungs- am gleichen Ort – für Frauen und Männer. maßnahme zusichert, zeitnah umgesetzt Das europäische Entsenderecht sollte ent- und anhand klarer Etappenziele überprüft lang dieses Prinzips weiterentwickelt wer- werden. Gute Bildung und Ausbildung sind den. Um weitreichendes Sozialdumping zu Voraussetzung für die Reduktion der Ju- verhindern, müssen mehr und gründliche- gendarbeitslosigkeit. Wir wollen, dass Eu- re Kontrollen der Arbeitsbedingungen von ropa die Mitgliedstaaten darin unterstützt, entsendeten Arbeitnehmern durchgeführt ihre Bildungssysteme zu modernisieren und werden. Darüber hinaus müssen alle Sub- zu verbessern. Bei der Einführung von Du- Unternehmer und Sub-Sub-Unternehmer so- alen Bildungssystemen kann Deutschland ziale Rechte genauso schützen wie die ent- Informationen über unser Modell zur Verfü- sendenden Unternehmen. gung stellen und das «Voneinander Lernen» fördern. Leider sind in Europa oftmals noch Steuerhinterziehung bekämpfen prekäre Arbeitsbedingungen von Jugend- Schätzungen gehen davon aus, dass jähr- lichen ein Problem. Auch dieses Problem lich in der Europäischen Union 1 Billion muss angegangen werden. Euro an Steuereinnahmen durch Steuer- In Europa führen immer noch viele hinterziehung, Steuerbetrug und schlechte Unternehmen einen Wettbewerb um die steuerpolitische Praktiken verloren gehen. niedrigsten Löhne und treiben somit Sozi- Das sind 7 Jahre gesamteuropäischer Haus- aldumping voran. Für uns ist das ganz klar halt, oder mehr als drei deutsche Bundes- politisch inakzeptabel, und zudem eine haushalte. Zum Vergleich: Bei der Jugend- Wettbewerbsverzerrung, die die ehrlichen garantie mussten wir hart für 6 Milliarden Unternehmen aus dem Markt wirft. Sozi- Euro kämpfen.

22 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europa besser machen

Da die Finanzierung von Infrastruktur, Wir haben uns mit Erfolg gegen die Pri- von Bildung und von Gesundheitsinvestitio- vatisierung der öffentlichen Daseinsvorsor- nen nur über eine solide finanzierte Einnah- ge gewehrt. Auch dank der Unterstützung mebasis gelingen kann, muss Steuerhinter- einer erfolgreichen europäischen Bürgerini- ziehung entschieden bekämpft werden. Zu tiative ist es uns im Europäischen Parlament diesem Zweck müssen wir Steuervorschrif- gelungen, die Wasserversorgung von einer ten voranbringen, welche die Transparenz europäischen Regelung auszunehmen, die fördern und Steuerflucht bekämpfen. Die in vielen Kommunen am Ende des Tages de Verschärfung des Zinssteuergesetzes, das facto zur Privatisierung der Wasserversor- grenzüberschreitende Steuerflucht in der gung – und zu einer möglichen Verschlech- EU verhindern soll und mit einem erwei- terung und Verteuerung – geführt hätte. terten Informationsaustausch einhergeht, Daneben müssen alle Handelsabkom- ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. men – auch jenes, über welches derzeit mit Wir wollen, dass bis Ende 2014 Steueroa- den Vereinigten Staaten verhandelt wird – sen identifiziert und auf einer europäischen an den Schutz der Menschenrechte, an sozi- schwarzen Liste veröffentlicht werden. Ge- ale Rechte, gute Arbeit, Umweltstandards, gen die auf dieser Liste geführten Drittstaa- an den Schutz der Kultur sowie die sozia- ten sollen von den EU-Staaten zuvor ge- le Verantwortung der Unternehmen und meinsam festgelegte Sanktionen verhängt Grundsätze des fairen Handels gebunden werden können. sein. Daneben sollten Aufsichtsbehörden Fi- nanzinstituten, die am Steuerbetrug mitwir- Mehr europäische Demokratie wagen ken oder diesen erleichtern, die Banklizenz Die Europäische Union ist eine politi- entziehen. Der Wettlauf zwischen Mitglied- sche Union, welche die Beteiligung ihrer staaten um die niedrigsten Unternehmens- Bürgerinnen und Bürger am demokrati- steuern muss gestoppt werden – durch eine schen Prozess sowie die effektive parlamen- gemeinsame Bemessungsgrundlage bei der tarische Kontrolle der Entscheidungen der Körperschaftssteuer sowie der Einführung EU sicher stellen will. eines Mindeststeuersatzes. Es muss der Dafür brauchen wir die nötigen Instru- Grundsatz gelten, dass Unternehmen dort mente und effiziente Institutionen, um den ihre Steuern zahlen, wo sie ihre Gewinne er- großen Herausforderungen zum Wohle al- wirtschaften. ler Europäer begegnen zu können. In der Vergangenheit wurde viel über den Kopf Unsere Standards nicht der Profitgier opfern von uns direkt gewählten Volksvertretern Der Bestand der öffentlichen Daseinsvor- entschieden, und erst recht über den Kopf sorge muss mit hoher Qualität erhalten der Bürger hinweg. Ein eklatantes Beispiel werden. Wir müssen dafür sorgen, dass je- ist hier das Wirken der Troika. Wir wollen der Bürger bezahlbaren Zugang zu qualita- uns dafür einsetzen, dass das Europäische tiv hochwertiger und verlässlicher Gesund- Parlament, die Interessensvertretung der heitsversorgung, zu Bildung, Energie- und Europäischen Bürgerinnen und Bürger, eine Wasserversorgung sowie zu öffentlichem entscheidende Rolle bei der europäischen Nahverkehr hat. Krisenpolitik einnimmt. Das Europäische

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 23 Udo Bullmann / Caroline Somnitz

Parlament und die nationalen Parlamente rund 20 Prozent der Weltbevölkerung in müssen die zentralen Orte der politischen Europa lebten, sind es heute nur noch die Entscheidungen sein. Jedoch kann die Wäh- Hälfte. Im Jahr 2060 werden es nur noch rungsunion nur überleben, wenn die Poli- 7 Prozent sein. Europa schrumpft. Wenn wir tische Union gestärkt und die Wirtschafts- morgen noch vorne mitspielen wollen, Trä- und Finanzpolitik auf europäischer Ebene ger der neuen Technologien für Wirtschaft verbindlicher koordiniert wird. Statt zwi- und Umwelt sein wollen, wenn wir das So- schenstaatlicher Verabredungen ohne par- zialmodell haben wollen, wie wir es uns in lamentarische Kontrolle braucht es mehr der sozialen Marktwirtschaft erarbeitet ha- gemeinsame Gesetzgebung bei der Steuer-, ben, dann werden wir all dies nicht mehr Beschäftigungs- und Sozialpolitik. national verteidigen können. Nur gemein- Europa muss vollständig demokratisiert sam als Europäische Union haben die eu- werden. Doch mehr Demokratie und mehr ropäischen Staaten die Möglichkeit, globa- Mitbestimmung in Europa darf nicht aus- le Entwicklungen und Herausforderungen schließlich das Institutionengefüge der EU aktiv mitzugestalten, anstatt ihnen hilflos betreffen, denn die Bürgerinnen und Bürger ausgeliefert zu sein. Gemeinsam können empfinden die politischen Entscheidungs- wir Souveränität und Gestaltungsrechte zu- prozesse als «zu weit weg». Mehr noch als in rückgewinnen, welche die Nationalstaaten den nationalen staatlichen Systemen fehlt in der Globalisierung verloren haben. Nur es für viele Menschen bei der EU an Infor- gemeinsam können wir genügend Druck mation und Vermittlung, um die politische aufbauen, um internationale Fehlentwick- Willensbildung in Brüssel und Straßburg lungen zu korrigieren – sei es in Wirtschaft, nachvollziehen zu können. Eine demokra- bei sozialen Standards oder bei der Frie- tische Erneuerung Europas kann vielmehr denssicherung. nur dann gelingen, wenn sich die Bürgerin- Europa war in seiner Geschichte immer nen und Bürger – so sie es denn wollen – dann stark und wurde von den Bürgern ge- auch aktiv in die Gestaltung Europas ein- tragen, wenn es mit einem konkreten Pro- bringen können. Ein erster Schritt in diese jekt verbunden war. Deshalb glauben wir, Richtung ist die historisch erstmalige Chan- dass wir Europa neuen Schwung verleihen ce für die Bürger der EU, bei der Europawahl müssen, indem wir es stärker von den Men- selber mitzuentscheiden, wer Präsident der schen her denken und als soziales Projekt Europäischen Kommission wird. gestalten. Dazu sollen die Reflexionen zu ei- ner neuen Balance zwischen moderner Wirt- Schlussbetrachtungen schaft und sozialer Demokratie als Denkan- Im Jahr 1925 haben unsere Vorväter das stoß dienen. Heidelberger Programm geschrieben, in dem sie sich zu den Vereinigten Staaten von Europa bekannt haben. Dies bedeutete sicher nicht, dass die Nationalstaaten auf- hören sollen zu existieren, und das wollen wir auch heute nicht. Jedoch müssen wir es modern interpretieren: Während 1960 noch

24 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Dierk Hirschel Europa braucht einen Politikwechsel

Europa steckt in einer schweren Krise. Seit ten zur Produktivität. Wenn Unternehmen EU-Gründung waren noch nie so viele Men- ihre sinkenden Lohnstückkosten für Preissen- schen arbeitslos. Fast 26 Millionen Euro- kungen nutzen, können sie ihre Waren im päer haben keine Arbeit. Zwischen Paris Ausland günstiger anbieten. Entscheidend und Athen ist jeder Zehnte erwerbslos. Am ist nun die Frage, ob die positiven oder ne- schlimmsten trifft es die Mittelmeerländer. gativen Effekte sinkender Lohnstückkosten In Spanien und Griechenland ist jeder Vier- überwiegen. te ohne Arbeit. Die Jugendarbeitslosigkeit In kleinen Ländern mit hohem Export- liegt dort bei 60 Prozent. In Südeuropa anteil kann die Kostensenkungsstrategie wächst eine verlorene Generation heran. aufgehen. Der positive Wachstumsbeitrag Doch rechtzeitig vor den Europawah- steigender Exporte überkompensiert die len sieht Brüssel Licht am Ende des Tunnels. schrumpfende Binnennachfrage. In Län- Nach vier Jahren Dauerkrise geht es angeb- dern mit geringer Exportquote wie Grie- lich wieder bergauf. Für das laufende Jahr er- chenland oder Spanien schwächt jedoch wartet die EU-Kommission ein Wachstum von der Kaufkraftentzug das Wachstum. 1,5 Prozent. Auch der Euroraum soll um 1,2 Kurzum: Die wirtschaftliche Lage der Prozent wachsen. Nächstes Jahr soll es noch Krisenländer bessert sich nicht wegen son- besser werden. Die Krisenländer Spanien und dern trotz Austeritätspolitik. Im modernen Portugal exportieren mehr und senken ihre Kapitalismus ist jede Krise irgendwann ein- Defizite. Nach Brüsseler Schätzungen wach- mal vorbei. Nach hinreichender Kapital- sen im laufenden Jahr fast alle Mitgliedslän- vernichtung kommt es wieder zu Moderni- der. Barroso, Rehn & Co feiern die Erholung sierungs- und Ersatzinvestitionen. Damit als ihren politischen Erfolg. Haushaltskürzun- ist der Grundstein für den nächsten Auf- gen und so genannte Strukturreformen hät- schwung gelegt. Ohne Austeritätspolitik ten die Krisenländer wieder wirtschaftlich fit wäre die wirtschaftliche Erholung früher gemacht, so die Behauptung. eingetreten und kräftiger ausgefallen. Diese Diagnose besteht jedoch kaum Zudem sind die Risiken eines Rückschla- den Praxistest. Die verbesserten Handels- ges hoch. In Südeuropa purzeln die Preise. und Leistungsbilanzen der Krisenländer sind Fallende Preise veranlassen die Verbraucher primär das Ergebnis krisenbedingt schrump- ihre Käufe aufzuschieben. Unternehmen fender Einfuhren. Sinkende Löhne drossel- bekommen weniger Aufträge, der Umsatz ten den privaten Konsum. Darunter litt auch sinkt. Gleichzeitig steigt die reale Belastung die Nachfrage nach ausländischen Gütern. der Schuldner. Aus Angst vor einer europa- Gleichzeitig verbesserte sich die preisliche weiten Deflation senkte Mario Draghi den Wettbewerbsfähigkeit der Exportbranchen. Leitzins bereits auf 0,25 Prozent. Sollten Sinkende Arbeitskosten bremsten die Lohn- die Preise weiter sinken, droht der Eurozone stückkosten – das Verhältnis von Arbeitskos- eine Depression.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 25 Dierk Hirschel

Anatomie einer Krise verbilligte die Kreditvergabe im Süden. Auf- Wer die Krise des Euroraums überwinden grund hoher Preise waren die Realzinsen will, muss ihre Ursachen verstehen. Die Eu- historisch niedrig. So wurde auf der iberi- rokrise wurzelt in schweren Konstruktions- schen Halbinsel ein Bau- und Immobilien- fehlern der Wirtschafts- und Währungsunion boom ausgelöst. Die damit einhergehende (WWU). Die Architekten der Europäischen Fehlsteuerung milliardenschwerer Kapital- Wirtschafts- und Währungsunion schufen ei- ströme lässt sich noch heute in den Geister- nen einheitlichen Währungsraum ohne poli- städten der Costa del Sol besichtigen. tische und soziale Union. Im letzten Jahrzehnt verdreifachte sich Eine Währungsunion funktioniert je- der Ölpreis. Die explodierenden Energie- doch nur, wenn alle Mitglieder sich an die preise machten Ländern, deren Energie- Spielregeln halten. Eine zentrale Spielregel versorgung stark von der Einfuhr fossiler besagt, dass die nationalen Preise nicht Brennstoffe abhängt, das Leben schwer. In dauerhaft auseinanderlaufen dürfen. Seit Griechenland, Portugal, Spanien und Itali- «Euro-Geburt» kletterten jedoch im Süden en trugen die teuren Energierechnungen kräftig die Preise, während sie im Norden maßgeblich zu den Leistungsbilanzdefiziten kaum vom Fleck kamen. Ursächlich für die bei. Noch nach der Krise war die Rechnung Inflationsdifferenzen war die unterschiedli- der italienischen Rohstoffeinfuhren zwei- che Entwicklung der nationalen Lohnstück- mal so hoch wie das gesamte italienische kosten. Deutschland, Finnland, Holland Leistungsbilanzdefizit. In Spanien belief und Österreich legten ihre Lohnstückkosten sich die Rohstoffimportrechnung auf das an die Kette. Hierzulande war dies das Er- 1,7-fache des Defizits der iberischen Volks- gebnis einer chronischen Lohnschwäche. wirtschaft. Aufgrund der gestiegenen preislichen Doch damit nicht genug. Auch entfes- Wettbewerbsfähigkeit konnte der Norden selte Finanzmärkte trugen zur Krise des Eu- der Eurozone jedes Jahr mehr Waren aus- roraums bei. Vor der Krise konnten Banker als einführen. Folglich stiegen die Handels- und Fondsmanager ungehindert auf Pump und Leistungsbilanzüberschüsse. In Grie- spekulieren. In der großen Finanzmarktkrise chenland, Spanien, Italien und Portugal 2008 platzte die Blase. Anschließend ret- wurden hingegen jährlich mehr Waren im- tete der Staat zahlreiche kriselnde Finanz- als exportiert. Deswegen vergrößerten sich institute vor dem Untergang. Aus privaten im Süden die Defizite. Die Überschüsse der Schulden wurden plötzlich öffentliche Schul- Einen waren die Defizite der Anderen. Die den. Konjunkturpakete und Bankenrettung Ungleichgewichte wurden jedes Jahr grö- ließen die Staatsschulden explodieren. Die ßer. Die wirtschaftlich starken Länder wur- Schuldenquote des Euroraums – Anteil der den stärker und die schwachen Nationen Staatsverschuldung am Bruttoinlandspro- schwächer. Von den Maastrichter Verträgen dukt – kletterte von 66 (2007) auf 84 Pro- führte ein direkter Weg in die aktuelle Krise. zent (2010). Die Ungleichgewichte stiegen aber Die hohen Staatsschulden wurden also auch durch unterschiedliche Finanzierungs- nicht dadurch verursacht, dass verschwen- bedingungen und kletternde Energieprei- derische Kassenwarte über ein Jahrzehnt se. Die einheitliche europäische Geldpolitik lang das Geld zum Fenster hinauswarfen.

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Die Staatsquoten der Krisenländer – An- Jüngst musste auch die Troika das teil der Staatsausgaben am Bruttoinlands- Scheitern ihrer Politik eingestehen. Der In- produkt – sind vor der großen Krise nicht ternationale Währungsfonds (IWF) beichte- gestiegen. Spanien und Irland verbuchten te, dass er die Risiken und Nebenwirkungen sogar Haushaltsüberschüsse. Folglich ging des europäischen Spardiktats unterschätzt ihre Schuldenlast zurück. Die Schuldenquo- hat. Die Ausgabenkürzungen ließen die ten – Anteil der Staatsverschuldung am Wirtschaft der Schuldnerländer mindestens Bruttoinlandsprodukt – schrumpften. Wer zwei- bis dreimal so stark schrumpfen, wie behauptet, diese Staaten hätten über ihre erwartet. Auch aus den Reihen der EU-Kom- Verhältnisse gelebt, der lügt. mission gab es vereinzelte kritische Stim- Trotzdem ist es Merkel, Barroso und Kol- men. Anschließend wurden die Sparaufla- legen gelungen, ihre Lesart der Krise mehr- gen etwas gelockert. heitsfähig zu machen. Heute gelten die In der Krise nutzen Troika, nationale Ar- Staatsschulden als Wurzel allen Übels. Ur- beitgeberverbände und konservativ-liberale sache und Wirkung wurden verkehrt. Schuld Politiker die Gunst der Stunde, um unter dem sind jetzt immer die Schuldner. Mit dieser Deckmantel so genannter Strukturreformen Diagnose konnte die «Medizin» der Austeri- die Tariflandschaft der Krisenländer umzu- tätspolitik verschrieben werden. pflügen, die Tarifautonomie auszuhebeln, den Sozialstaat abzubauen und öffentliches Neoliberale Schocktherapie Eigentum zu verscherbeln. Die schwere Wirt- Die deutsche Bundesregierung, die EU-Kom- schaftskrise stürzte große Teile der Bevölke- mission und der IWF versuchten die Eurokri- rung in einen alltäglichen Überlebenskampf. se mit einer drakonischen Kürzungspolitik Die Gewerkschaften waren und sind zu bekämpfen. Frische Kredite gab es nur durch die hohe Arbeitslosigkeit empfind- gegen Sparauflagen. Die Troika – EU-Kom- lich geschwächt. Die Krise ist der beste mission, Europäische Zentralbank und Inter- Zeitpunkt für einen radikalen politischen nationaler Währungsfonds – wollte mittels Kurswechsel in Tradition der neoliberalen Entlassungen im öffentlichen Dienst, Lohn- Schockstrategie. Ein solcher Kurswechsel kürzungen, Sozialabbau und höheren indi- wäre in normalen Zeiten nicht durchsetzbar, rekten Steuern die Staatshaushalte sanieren. wie Angela Merkel in ihrer Rede auf dem Diese giftige Medizin hat den europäischen Weltwirtschaftsforum in Davos auch ganz Patienten ans Krankenbett gefesselt. offen eingestand.1 Die kurzsichtige Kürzungspolitik war ökonomisch schädlich und sozial ungerecht. Sie beschleunigte die wirtschaftliche Tal- 1 «Auf der anderen Seite ist die politische Erfahrung, dass für politische Strukturreformen oft Druck fahrt der Krisenländer. Die Arbeitslosigkeit gebraucht wird. Zum Beispiel war auch in Deutsch- nahm dramatisch zu. Folglich brachen die land die Arbeitslosigkeit auf eine Zahl von fünf Steuereinnahmen ein und die Staatsschul- Millionen Arbeitslosen angestiegen, bevor die Be- den stiegen weiter. Zwangsläufig verfehlten reitschaft vorhanden war, Strukturreformen durch- zusetzen. Meine Schlussfolgerung ist also: Wenn Frankreich, Spanien und Portugal, trotz um- Europa heute in einer schwierigen Situation ist, fangreicher Haushaltskürzungen, ihre Kon- müssen wir heute Strukturreformen durchführen, solidierungsziele. damit wir morgen besser leben können.» Angela

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 27 Dierk Hirschel

Im Mittelpunkt der neoliberalen Schock- tes verhängt. In Griechenland wurden die therapie stand die Zerstörung der Ordnung Löhne der «Staatsdiener» um 30 Prozent des Arbeitsmarktes. Die Lohnfindung wurde gesenkt. Madrid, Lissabon, Rom und Dub- entweder in die Betriebe verlagert oder in- lin kürzten die Gehälter der öffentlich Be- dividualisiert. Der Flächentarifvertag wur- schäftigten um fünf bis zehn Prozent. In de ausgehöhlt. Haustarifverträge haben zu- Athen wurde der Mindestlohn um mehr als künftig Vorfahrt vor Flächentarifverträgen. ein Fünftel gekürzt. In Madrid und Lissabon In Griechenland und Irland wurden nationa- wurden die Mindestlöhne eingefroren. le Tarifverhandlungen abgeschafft. In allen Aus deutscher Sicht hat der neolibera- Krisenländern wurden Öffnungsklauseln ge- le Umbau des Arbeitsmarktes in den Kri- setzlich festgeschrieben. Das Günstigkeits- senländern noch einen besonders bitteren prinzip – Arbeitnehmer haben ein Anrecht Beigeschmack. Brüssel wirbt für seine Dere- auf die bessere arbeitsrechtliche Regelung – gulierungspolitik mit dem vermeintlich deut- wurde in Athen, Madrid und Rom einkas- schen Beschäftigungswunder. Die so ge- siert. In Spanien und Griechenland wurde nannten deutschen Arbeitsmarktreformen die Nachwirkung von Tarifverträgen zeitlich hätten zwischen Berlin und Stuttgart den begrenzt. Die Allgemeinverbindlichkeit von Weg frei gemacht für mehr Wachstum und Tarifverträgen wurde in Griechenland und Beschäftigung, so die Behauptung. Dass Portugal erschwert. In Athen, Madrid und sich das deutsche Jobwachstum zu einem Lissabon dürfen Tarifverträge auch von nicht großen Teil aus der Umverteilung vorhande- gewerkschaftlichen Arbeitnehmergruppen ner Arbeit zu prekären Bedingungen speist, ausgehandelt werden. In allen Krisenstaa- wird nicht thematisiert. Genauso wenig wie ten geht die Tarifbindung zurück. In Spani- die Tatsache, dass die Zahl der bezahlten Ar- en fiel die Zahl der tarifgebundenen Arbeit- beitsstunden – das Arbeitsvolumen – heute nehmer von 12 Millionen (2009) auf fünf nicht höher ist als vor 20 Jahren. Kurzum: Millionen (2013). Ein Rückgang von fast 60 Für einen direkten kausalen Zusammen- Prozent. In Portugal gab es 2012 nur noch hang zwischen «Arbeitsmarktreformen» und knapp 330.000 Beschäftigte, die durch ei- Beschäftigungszuwachs gibt es keinen be- nen Tarifvertrag geschützt wurden. Im Jahr lastbaren empirischen Beleg. Hinzu kommt 2008 waren es noch 1,9 Millionen. Das ist noch etwas anderes: Aufgrund der negati- ein Absturz der Tarifbindung um 84 Prozent. ven Erfahrungen mit Billigjobs, entfesselter In Griechenland sank die Zahl der Branchen- Leiharbeit, Hartz IV & Co vollzieht die große tarifverträge von 65 (2010) auf 14 (2013). Koalition gerade einen Politikwechsel. Die Zudem diktiert der Staat die Löhne im Einführung eines allgemeinen gesetzlichen öffentlichen Sektor. 2010 wurde in allen Kri- Mindestlohns soll den Niedriglohnsektor senländern ein allgemeiner Lohnstopp für austrocknen. Die geplante erleichterte All- die Beschäftigten des öffentlichen Diens- gemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen soll das deutsche Tarifsystem zukünftig stär- ken. Damit macht die Regierung Merkel im Merkel auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 24.1.2013, http://m.bundesregierung.de/ eigenen Land genau das Gegenteil dessen, Content/DE/Rede/2013/01/2013-01-24-merkel- was sie ihren kriselnden Nachbarn bisher davos.html. mit Nachdruck empfohlen hat.

28 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europa braucht einen Politikwechsel

Darüber hinaus wurden mit Hilfe der Neoliberale Wirtschaftsregierung neoliberalen Schockstrategie auch die ge- Nach Merkels gescheitertem Versuch, die setzlichen Rentenversicherungssysteme an- Eurokrise durch nationale Anti-Krisenpolitik gegriffen. In allen Krisenländern wurde das zu überwinden, suchten auch Konservative Rentenniveau gekürzt und das gesetzliche und Liberale nach einer dauerhaften eu- Renteneintrittsalter erhöht. Wer künftig in ropäischen Krisenlösung. Seitdem werden Rente gehen will, muss mehr Versicherungs- die europäischen Institutionen nach neoli- jahre nachweisen. Einmalzahlungen wur- beralem Bauplan (Six-Pack, Euro-Plus-Pakt, den gestrichen und für Erwerbsunfähige Fiskalpakt, Two-Pack, sowie den Euro-Ret- wird es immer schwieriger überhaupt eine tungsschirmen EFSF und ESM) aus- und um- Rente zu bekommen. Damit wird Altersar- gebaut. mut gesetzlich verordnet. Jetzt werden sogar konkrete Schritte zu Damit aber nicht genug. In der Krise einer vertieften WWU geplant. Die deut- wurde eine neue Privatisierungswelle ins sche Variante einer Europäischen Wirt- Rollen gebracht. In Athen und Lissabon schaftsregierung zielt jedoch nur auf eine wurde Kreditvergabe aus dem europäischen enge zwischenstaatliche Zusammenarbeit Rettungsschirm an umfangreiche Privatisie- der EU-Mitgliedstaaten ab. Es handelt sich rungen gebunden. In Spanien und Italien um eine Karikatur der ursprünglich franzö- wurde auf Druck der EZB privatisiert. Der sischen Initiative einer Europäischen Wirt- Ausverkauf öffentlicher Güter und Dienst- schaftsregierung. Die Form gleicht sich, der leistungen geht dabei immer zu Lasten der Inhalt könnte nicht unterschiedlicher sein. Beschäftigten und der einkommensschwa- Merkel will größere wirtschaftpoliti- chen Konsumenten. Gleichzeitig werden die sche Reformen zukünftig koordinieren. Zu- Möglichkeiten staatlicher Wirtschafts- und erst sollen die einzelnen Staaten ihre poli- Strukturpolitik beschränkt. tischen Vorhaben an die EU-Kommission Diese neoliberalen Strukturreformen melden. Dann soll Brüssel prüfen, wie sich waren und sind nichts anderes als ein Fron- die Maßnahmen auf die Wettbewerbsfähig- talangriff auf die Errungenschaften und keit auswirken. Darüber hinaus soll es zwi- Rechte der Beschäftigten und ihrer Gewerk- schen Brüssel und den Mitgliedsstaaten schaften. Im Dienste der globalen Wett- vertragliche Vereinbarungen über Struktur- bewerbsfähigkeit wurden und werden die reformen geben. So soll die Auflagenpolitik Löhne und so genannten Lohnnebenkosten der Troika generalisiert werden. Die natio- gesenkt. Mit durchschlagendem Erfolg! nalen Regierungen sollen mit der EU-Kom- Zwischen 2010 und 2014 (Prognose der mission Verträge aushandeln, in denen sie EU-Kommission) sinken die griechischen Re- sich zu Strukturreformen verpflichten. Mit allöhne um rund ein Fünftel. In Spanien, Hilfe dieses Pakts für Wettbewerbsfähigkeit Portugal und Irland fallen die Reallöhne sollen die nationalen Finanz-, Arbeitsmarkt- im gleichen Zeitraum zwischen sieben und und Sozialpolitiken dauerhaft neoliberal acht Prozent. Diese neoliberale Politik ver- ausgerichtet werden. schärft die wirtschaftliche und soziale Krise des Euroclubs.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 29 Dierk Hirschel

Ein Marshallplan für Europa Qualitatives Wachstum erfordert mehr Die europäische Krise kann nur durch einen private und öffentliche Investitionen. Im grundlegenden Politikwechsel nachhaltig Mittelpunkt stehen Investitionen in den überwunden werden. Die Austeritätspoli- ökologischen Umbau und die Modernisie- tik muss gestoppt werden. Eine Lockerung rung der europäischen Volkswirtschaften. der Sparauflagen – wie in Spanien und Grie- In Europa soll ein vernetztes System aus chenland geschehen – reicht dafür nicht aus. zentraler und dezentraler Erzeugung erneu- Die Krisenstaaten können aus ihren erbarer Energien entstehen. Eine solche eu- Schulden nur herauswachsen. Sie können ropäische Energiewende würde jährliche ihren Wachstumsmotor aber nicht selbst an- Investitionen in Höhe von 150 Milliarden kurbeln. Dafür müssten ihre wirtschaftlich Euro erfordern. So könnte der Verbrauch starken Nachbarn Starthilfe geben. Des- fossiler Energieträger reduziert werden. Die wegen sollten die Überschussländer ihre Abhängigkeit von Energieimporten wür- Binnennachfrage durch höhere Löhne und de zurückgehen. Durch die Energiewende Staatsausgaben stärken. Deutschland hat könnten 200 Milliarden Euro pro Jahr für hier eine besondere Verantwortung. Brennstoffimporte eingespart werden. Die Wir brauchen jetzt vor allem eine eu- Energieimportrechnung der Krisenländer ropäische Initiative für qualitatives Wachs- würde billiger werden. tum und Beschäftigung. Europa benötigt Desweiteren sollte in den Aus- und ein Investitions- und Aufbauprogramm zur Aufbau eines modernen multi- und inter- Verbesserung der europäischen Infrastruk- modal verknüpften transeuropäischen Ver- tur, der Umwelt und der Energieversor- kehrsnetzes investiert werden. Dafür wä- gung.2 Das Investitions- und Aufbaupro- ren weitere jährliche Investitionen von 10 gramm sollte institutionelle Maßnahmen, Milliarden Euro eingeplant. Zudem sollte direkte öffentliche Investitionen, Investiti- der Breitbandausbau europaweit gefördert onszulagen und konjunkturstabilisierende werden. Desweiteren sollten jedes Jahr 20 Konsumanreize umfassen. Eine solche eu- Milliarden Euro in soziale Dienstleistun- ropäische Wachstumsstrategie müsste auf gen – Pflege, Kitas, Schulen, Universitäten, 10 Jahre angelegt sein. Jedes Jahr sollten seniorengerechte Dienstleistungen, etc. – europaweit 260 Milliarden Euro, oder zwei investiert werden. Darüber hinaus sollten Prozent des europäischen Sozialproduktes, jährlich 30 Milliarden Euro in Bildung und ausgeben werden. Davon würden 160 Mil- Ausbildung fließen. liarden Euro auf Direktinvestitionen und Ein solches Investitions- und Aufbaupro- Investitionszulagen entfallen. Weitere 100 gramm könnte durch einen Europäischen Zu- Milliarden Euro müssten für Kreditsubventi- kunftsfonds finanziert werden. Dieser Fonds onen aufgebracht werden. würde 10 jährige «New Deal Anleihen» be- geben. Allein in Westeuropa beläuft sich das 2 Ein Marshallplan für Europa, Vorschlag des gesamte private Geldvermögen auf 27.000 Deutschen Gewerkschaftsbundes für ein Kon- Milliarden Euro. Dieses Finanzkapital sucht junktur-, Investitions- und Aufbauprogramm für Europa, Berlin 2012, http://www.dgb.de/ nach sicheren Anlagemöglichkeiten. Der themen/++co++985b632e-407e-11e2-b652- Europäische Zukunftsfonds sollte dazu bei- 00188b4dc422. tragen, einen Teil dieses privaten Geldver-

30 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europa braucht einen Politikwechsel mögens in Realinvestitionen umzulenken. werden. Die Lohnpolitik sollte europäisch – Die Anleihezinsen könnten aus den Einnah- unter Wahrung der Tarifautonomie – so men einer Finanztransaktionsteuer bezahlt abgestimmt werden, dass die nationalen werden. Um als erstklassiger Schuldner auf Lohnzuwächse mindestens den verteilungs- den Kapitalmärkten aufzutreten, benötigt neutralen Spielraum – Inflation plus Produk- der Zukunftsfonds ausreichend Eigenkapi- tivitätszuwachs – ausschöpfen. So würden tal. Dieses Kapital – 200 bis 250 Milliarden Wettbewerbsverzerrungen vermieden und Euro – sollte durch eine einmalige europa- ein Beitrag zum Ausgleich der Leistungsbi- weite Vermögensabgabe beschafft werden. lanzen geleistet. Dieses Programm für Investitionen Um Sozial- und Steuerdumping zu ver- könnte die europäische Wirtschaft auf ei- meiden, sollten auch die nationalen Sozi- nen langfristigen Wachstumspfad führen. al- und Steuerpolitiken besser abgestimmt Nach eigenen Berechnungen wäre ein werden. Die nationalen Ausgaben für so- Wachstumsimpuls von insgesamt 400 Mil- ziale Sicherheitssysteme müssten im Sinne liarden Euro möglich. Dies würde einem des Korridormodells an die ökonomische jährlichen Wachstum von drei Prozent ent- Leistungsfähigkeit der Staaten gekoppelt sprechen. Ein solches europäisches Inves- werden. Dadurch würde Sozialdumping ver- titions- und Aufbauprogramm könnte zwi- mieden und der soziale Aufholprozess der schen Amsterdam und Palermo neun bis elf schwächeren Mitgliedstaaten ermöglicht Millionen neue Jobs schaffen. werden. Darüber hinaus sollten Steueroa- sen ausgetrocknet werden. Durch harmo- Ein Politikwechsel für Europa nisierte Bemessungsgrundlagen und Min- Immer mehr Menschen verbinden mit Euro- destsätze für Unternehmenssteuern könnte pa weder wachsenden Wohlstand noch ein Steuerdumping beendet werden. stärkeres Zusammenwachsen. Vor allem in Desweiteren ist ein gemeinsames euro- den Krisenländern steht Brüssel heute für päisches Schuldenmanagement eine not- Lohnkürzungen und Sozialabbau, für Ar- wendige Voraussetzung für einen stabilen beitslosigkeit und soziale Ungleichheit. Des- Währungsraum. Durch gemeinsame Euro- wegen braucht Europa einen neuen Weg. anleihen – Eurobonds – könnte die Zinslast Nur ein soziales und demokratisches Euro- der Schuldnerländer sofort gesenkt werden. pa hat auch eine Zukunft. Die Krisenländer würden nicht mehr ins Fa- Das skizzierte europäische Investitions- denkreuz von Spekulanten geraten. und Aufbauprogramm ist ein wichtiger Ferner benötigen die europäischen Fi- Schritt in die richtige Richtung. Es reicht nanzmärkte neue Regeln. Der Finanzsektor aber nicht aus. Für die Eurozone als Kern muss dringend redimensioniert werden. Die eines sozialen Europas braucht es auch eine Quellen der Risikoproduktion müssen aus- europäisch koordinierte Wohlfahrtsstaats- getrocknet werden. Zielführend wäre ein und Steuerpolitik, ein gemeinschaftliches Mix aus hohen Eigenkapitalanforderungen, Schuldenmanagement sowie neue Regeln einer strikten Begrenzung des Eigenhan- für die Finanzmärkte. dels, einer strengen Regulierung der Schat- Die nationalen Lohn-, Sozial- und Steu- tenbanken (Hedge-Fonds, Geldmarktfonds, erpolitiken müssen europäisch koordiniert etc.) und ein Finanz-TÜV. Auch eine entspre-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 31 Dierk Hirschel chend ausgestaltete Bankenunion würde miert sein. Dies würde jedoch eine weitere diesem Zweck dienen. Demokratisierung der Europäischen Union Ein Investitions- und Aufbauprogramm voraussetzen. Dafür muss zunächst das Eu- für Europa, eine europäisch koordinierte ropäische Parlament gestärkt werden. Wohlfahrtsstaats- und Steuerpolitik, ein ge- Ein solcher Politikwechsel fällt nicht meinschaftliches Schuldenmanagement vom Himmel. Für ein Europa mit qualitati- und neue Regeln für die Finanzmärkte wä- vem Wachstum, Vollbeschäftigung und so- ren Aufgaben für eine demokratisch gewähl- zialer Sicherheit müssen Gewerkschaften, te supranationale Wirtschaftsregierung. soziale Bewegungen, Kirchen und Parteien Letztere müsste jedoch demokratisch legiti- gemeinsam mobilisieren.

32 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Michael Fischer Europas Krise – am Ende des «demokratischen Kapitalismus»? Anmerkungen zur «Streeck’schen Frage»

Wolfgang Streeck hat mit «Gekaufte Zeit. […] ein die ihm angeschlossenen National- Die vertagte Krise des demokratischen Ka- staaten regulierendes überstaatliches Ge- pitalismus» (Streeck 2013) eine beachtens- bilde ohne demokratisch verantwortliche werte Analyse vorgelegt. Streeck ist Direktor Regierung, dafür aber mit bindenden Re- des Max-Planck-Institutes für Gesellschafts- geln […], wobei Demokratie durch Märkte forschung in Köln und hat einflussreiche Be- domestiziert wird statt umgekehrt Märkte ratungsbeiträge zur Agenda 2010 geleistet. durch Demokratie.» (Streeck 2013: 163) In «Gekaufte Zeit» analysiert er das Span- Das lässt sich in der Politik der «Troika» aus nungsfeld demokratischer Politik und kapi- Internationalem Währungsfonds, Europä- talistischer Wirtschaftsweise grundsätzlich ischer Zentralbank und Europäischer Kom- und legt die inneren Widersprüche des Ka- mission durchaus beobachten. pitalismus dar, womit er nun seine linken Die hier in aller Kürze skizzierte Analy- Kritiker quasi links zu überholen scheint. se Streecks erscheint bemerkenswert radi- Streeck untersucht die Entwicklungsse- kal, insofern sie an die Wurzel der Probleme quenzen – oder vielmehr Krisensequenzen – zu gehen scheint, die wir heute in Europa des Kapitalismus seit der Nachkriegszeit bis beobachten können. Mancher Schluss da- zur Gegenwart. Da die Profitinteressen der raus erscheint weniger plausibel. So schlägt «Kapitalabhängigen» (Streeck) immer wie- er als Alternative zum sich abzeichnenden der mit Beschäftigten- und Bürgerinteres- Konsolidierungsstaat die Mobilisierung der sen kollidieren, werden Lösungen probiert, Überreste der demokratischen National- die schon bald wieder zum Problem wer- staaten in Europa vor. Doch wie Streeck den: Inflation, staatliche Verschuldung, pri- selbst unter anderen Vorzeichen schreibt, vate Verschuldung, «Finanzinnovationen», könnte dies auf die Gefahr einer Demokrati- schließlich wieder staatliche Verschuldung sierung von Institutionen hinauslaufen, die in bisher ungeahnten Dimensionen – «ge- letztlich nichts zu entscheiden hätten (vgl. kaufte Zeit». Dahinter verbergen sich stets Streeck 2013: 237). Ansprüche an künftig erwirtschaftetem Das berührt den eigentlichen Kern der Wohlstand, wobei die Kapitalansprüche «Streeck’schen Frage», nämlich nach dem mittlerweile ein Ausmaß erlangt haben, Organisationsgrad von Kapitalinteressen dass sie wohl nur noch auf Kosten bishe- und politischen Regulierungsmöglichkeiten riger Ansprüche weiter Bevölkerungsanteile grundsätzlich. Wenn der «Organisations- zu realisieren seien. Die dem entsprechende und Verwirklichungsvorsprung der neolibe- Regierungsweise sei der Konsolidierungs- ralen Lösung» (Streeck 2013: 235) so enorm staat: «Der europäische Konsolidierungs- ist, was wären dann angemessene Antwor- staat des beginnenden 21. Jahrhunderts ist ten hierauf? Dieser Frage versucht der vor-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 33 Michael Fischer liegende Beitrag anhand einer näheren Be- bewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft gelegen trachtung der Krise in Europa nachzugehen, habe. Bereits in ihrer Regierungserklärung und dabei neben der von Streeck ins Spiel vom 19. Mai 2010 machte die Bundes- gebrachten Lösung die vorherrschenden kanzlerin deutlich, dass aus ihrer Sicht «zu Kriseninterpretationen und entsprechende viele wettbewerbsschwache Mitglieder der Politik zu berücksichtigen. Euro-Zone […] über ihre Verhältnisse ge- lebt [haben] und […] damit den Weg in Europa und die Demokratie in der Krise – die Schuldenfalle gegangen [sind].» Bilder aber welcher? von «faulen Südländern» einerseits und «tu- Während dieser Beitrag entsteht, erwecken gendhaften Deutschen» andererseits waren Politik und Medien den Eindruck, dass die schnell zur Hand und damit ein Legitimati- Krise allmählich überwunden werde. Grie- onsschema für den Abbau öffentlicher Da- chenlands «Rückkehr an die Kapitalmärkte» seinsfürsorge und das Absenken von Mas- Anfang April 2014 wird als Zeichen einer all- seneinkommen zunächst in den von der mählichen Erholung gedeutet und kurz dar- Krise am stärksten betroffenen Ländern – auf behauptet die Bundeskanzlerin bei ihrer einfach, leicht verständlich (und falsch). Reise nach Athen, dass die schmerzhaften Diese Interpretation wird mittlerweile Reformbemühungen erste Erfolge zeigten, auch auf andere Länder der Eurozone an- wenngleich die Reformen nicht nachlassen gewandt, die in wirtschaftliche Schwierig- dürften. Die für Europas Krise verallgemei- keiten zu geraten drohen, wie Frankreich nerte Schlussfolgerung lautet, dass die Kri- und Italien: «Beide Länder brauchen mehr senlösungspolitik und insbesondere die aus als ein Ausgabenpaket, sie brauchen eine Sparauflagen für Staat und öffentlichen Sek- Neuorientierung: weniger Sozialstaat, we- tor sowie Liberalisierung, Deregulierung und niger Beamte, bessere Ausbildung, weni- Privatisierung bestehenden Maßnahmen ger Steuern für Firmen, die international der «Troika» erfolgreich seien. konkurrieren. Beide Länder brauchen ei- Dieser Schluss dürfte eher taktischen nen Schröder-Moment: Den Mut, mit dem Erwägungen im Vorfeld der Europawahl der frühere Bundeskanzler der Gesellschaft geschuldet sein, als einer realistischen Be- eine Agenda 2010 verordnete.» (Hagelü- urteilung der Lage. Abgesehen von de- ken 2014) Das Problem dabei ist aber, dass mokratietheoretisch fragwürdigen Ent- nicht nur Ursachen und Wirkungen ver- scheidungsstrukturen der europäischen tauscht, sondern auch fundamentale wirt- Krisenlösungspolitik basiert er auf einem schaftliche Interdependenzen ignoriert wer- Bild der Krise und ihrer Ursachen, das kei- den – mit gravierenden Folgen. neswegs den Tatsachen entspricht. In Politik und Medien geriet die Finanz- Folgen der «Lösung» der falschen Krise marktkrise bemerkenswert schnell aus dem Die Senkung öffentlicher Ausgaben, sei es Blick, stattdessen verfestigte sich das Bild bei Staatsbediensteten oder bei Sozialleis- der Staatsschuldenkrise, deren Ursache ei- tungen, führt zunächst zu einem Rückgang nerseits in einem zu ausgabefreudigen Ver- der Nachfrage, da auch die entsprechen- halten der Regierungen der Krisenstaaten den Einkommen öffentlich Beschäftigter und andererseits in der mangelnden Wett- und von Transferempfängern zurückgehen.

34 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europas Krise – am Ende des «demokratischen Kapitalismus»?

Um die Privatwirtschaft in Schwung zu brin- fast 28 Prozent lag und in Spanien bei na- gen, sollen Steuern, insbesondere für Unter- hezu 26 Prozent und in der Eurozone insge- nehmen, gesenkt werden, was erneut die samt bei 12 Prozent. Zum Vergleich: 2007 Einnahmebasis des Staates schwächt. De- betrug die Arbeitslosenquote im Euroraum regulierungen auf dem Arbeitsmarkt und 7,5 Prozent, in Spanien und Griechenland Absenkungen tariflicher Standards sollen jeweils 8,3 Prozent. den Unternehmen Flexibilität verschaffen, um leichter Beschäftigung zu schaffen oder Das deutsche Modell als Vorbild für Europa? im Bedarfsfalle leichter wieder abbauen zu Blickt man nur auf die jüngeren Entwick- können. Doch Lohnsenkungen und Entlas- lungen in Deutschland, entsteht ein an- sungen in der Privatwirtschaft verschärfen derer Eindruck – die Schuldenquote sinkt, über die entsprechenden Steuerausfälle die die Steuereinnahmen «sprudeln», die Ar- Mindereinnahmen des Staates. Zudem se- beitslosigkeit ist auf einem Tiefststand etc. hen sich wiederum die Unternehmen mit Die gängige Interpretation erklärt dies mit einer sinkenden bzw. weniger kaufkräftigen Deutschlands Rolle als vermeintlicher «Mus- Nachfrage konfrontiert, weshalb sie weiter terschüler» und Vorbild für eine gelungene zu sparen bzw. ihre Preise zu senken ver- Anpassung an die wirtschaftlichen Heraus- suchen (oder nach deutschem Modell ihr forderungen des 21. Jahrhunderts durch Heil im Export suchen, wobei ihnen sinken- die Reformen der Agenda 2010. Danach de Preise tendenziell helfen). Im Ergebnis bräuchten eben auch andere Länder ei- schrumpft das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nen «Schröder-Moment», wenn sie die Kri- und die staatliche Schuldenquote steigt. se überwinden und Herausforderungen der Eben dies ließ sich in den Ländern beo- Zukunft meistern wollen. Das oberste Ziel bachten, in denen dieses Rezept angewandt bestehe dabei in einer Verbesserung der wurde – Eurostat zufolge verzeichnete Grie- Wettbewerbsfähigkeit. Was aus einzelwirt- chenland 2008 zu Beginn der Krise einen schaftlicher Sicht plausibel ist, wirft jedoch öffentlichen Schuldenstand von knapp 113 ernste Fragen auf, was mit «Wettbewerbsfä- Prozent des BIP, im Jahr 2011 waren es über higkeit» gemeint ist, wenn es sich um ganze 170 Prozent; Spanien wies 2008 einen öf- Volkswirtschaften handelt. Als positiver In- fentlichen Schuldenstand von gerade ein- dikator werden oft Export- oder Leistungs- mal 40 Prozent des BIP auf und lag Ende bilanzüberschüsse zitiert, aber die sind lo- 2012 bereits bei 86 Prozent, mit weiter stei- gisch nicht verallgemeinerbar, da es immer gender Tendenz. Und in beiden Ländern eine Gegenseite mit entsprechenden De- sinkt das BIP weiter, in Griechenland zuletzt fiziten geben muss. Wettbewerbsfähigkeit 2012 um 6,7 Prozent, in Spanien um 1,7 ist ein Verhältnis zwischen wirtschaftlichen Prozent. Irgendwann mag eine untere Gren- Einheiten, und keine Eigenschaft, die ohne ze erreicht sein, ab der es langsam wieder entsprechende Auswirkungen auf andere aufwärts geht, aber die Folgen für die Be- verbessert werden könnte. Als volkswirt- völkerung bleiben verheerend. schaftliches Ideal ist sie eine «gefährliche Die «Erfolge» einer solchen Politik be- Obsession» (Paul Krugman). trifft auch die Entwicklung der Arbeitslosen- Da Deutschland dennoch als Mu- quoten, die Ende 2013 in Griechenland bei sterschüler («Weltmeister im Exportüber-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 35 Michael Fischer schuss») angeführt und dieses Modell prak- nämlich dass «die Deutschen» schlicht tu- tisch auch allen anderen Ländern Europas gendhafter seien, denn immerhin sparen nahegelegt wird, lohnt sich hier ein näherer sie durchschnittlich 10 Prozent des verfüg- Blick – vor allem auf die Verteilungsdyna- baren Einkommens. Tatsächlich verbergen mik. sich dahinter krass ungleiche Einkommens- entwicklungen: Während zwischen 1999 Deutschlands Exportüberschüsse, die Rolle der und 2009 das ärmste Einkommenszehntel Agenda-Reformen und der Beitrag zur Krise in einen realen Einkommensverlust von na- Europa – zurück zur Verteilungsfrage hezu 10 Prozent hinnehmen musste, selbst Im Gegensatz zum öffentlichen Diskurs neh- mittlere Einkommen noch real stagnierten men Verteilungsfragen in Streecks Analyse und auch das neuntreichste Zehntel nur ei- einen breiten Raum ein. Allerdings stehen nen Einkommenszuwachs von etwas über 3 bei ihm Entwicklungen im Vordergrund, Prozent verzeichnen konnte, wuchs das re- die sich über verschiedene Länder hinweg ale Einkommen des reichsten Zehntels um beobachten lassen, die spezifische Vertei- beinahe 17 Prozent. Das hatte Folgen für lungsdynamik in Deutschland und ihre Fol- das jeweilige Konsum- bzw. Sparverhalten, gen für Europa nimmt bei ihm hingegen so dass man auch eher von einem Import- keinen besonderen Stellenwert ein. Für das defizit anstelle eines Exportüberschusses Verständnis der Krise ist dies aber nicht un- sprechen könnte. (ausführlicher und mit erheblich. weiteren Quellen zu diesem Komplex: Fi- scher 2014) Wirkungen und Folgen der deutschen Die Agenda-Politik trug zu dieser Vertei- Agenda 2010-Reformen lungsentwicklung erheblich bei. Wolfgang Kritische Stimmen führen oft an, dass Streeck schrieb 1999 mit Rolf Heinze im Deutschland vor allem durch den relativ ge- SPIEGEL: «Das eigentliche Beschäftigungs- ringen Anstieg der Lohnstückkosten unfaire defizit der deutschen Volkswirtschaft liegt Wettbewerbsvorteile auf den internationa- im Bereich niedrigproduktiver Dienstlei- len Märkten innerhalb und außerhalb Eu- stungsarbeit. […] Schwierigkeiten beste- ropas gewonnen habe. Dies ist zwar nicht hen dort, wo es um die Expansion gering- gänzlich verkehrt, verleitet aber leicht zu produktiver Beschäftigung geht, deren dem Kurzschluss, dass Deutschlands Expor- Entlohnung notwendigerweise ebenfalls terfolge auf rein preislicher Wettbewerbs- niedrig sein muss. Beschäftigungspolitisch fähigkeit beruhten. Deutschland verbucht erfolgreichere Länder unterscheiden sich jedoch seine größten Exporterfolge bei von uns vor allem dadurch, dass sie sich Gütern, die im internationalen Vergleich viel schneller als wir dazu haben durchrin- eher hochpreisig sind: Kraftfahrzeuge, Ma- gen können, die hier bestehenden Beschäf- schinen und Maschinenteile, zunehmend tigungspotentiale zu nutzen.» (Heinze/ auch chemische und pharmazeutische Pro- Streeck 1999) Mit der Agenda 2010 wurde dukte. Was hingegen nahezu stagniert, ist eben dies doch durchgesetzt, und zwar mit die Binnennachfrage und damit auch die einigem «Erfolg»: 2011 lagen die Arbeitsko- Nachfrage nach Importen. Auch dafür fin- sten im privaten Dienstleistungssektor etwa det sich eine populäre (Schein-)Erklärung, 20 Prozent unter denen des verarbeitenden

36 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europas Krise – am Ende des «demokratischen Kapitalismus»?

Gewerbes (Stein et al. 2012) und die «An- zu gleichauf lagen, überstieg 2007 unmit- reize dafür, Arbeit aufzunehmen» – u. a. die telbar vor Ausbruch der Finanzmarktkrise Aussicht, nach nur einem Jahr Arbeitslosig- das weltweite Finanzvermögen mit gut 202 keit mit dem Arbeitslosengeld II auf Sozial- Billionen US-Dollar das globale Bruttosozi- hilfeniveau abzurutschen – haben nicht nur alprodukt von etwa 55 Billionen US-Dollar Druck auf Arbeitslose ausgeübt, sondern beinahe um ein Vierfaches. Nach einer leich- auch auf Beschäftigte und ihre Interessen- ten Korrektur im Zuge der Finanzmarktkrise vertretungen insgesamt. Die Erwerbsquote setzt sich diese problematische Entwicklung hat sich zwar erhöht, allerdings ist das Vo- fort, denn 2012 (2. Quartal) betrugen die lumen der insgesamt gearbeiteten Stunden weltweiten Finanzvermögen bereits wieder kaum gewachsen: Die Arbeit wurde prak- 225 Billionen US-Dollar, das weltweite Brut- tisch nur auf mehr Köpfe verteilt, sozialver- tosozialprodukt hingegen (immerhin) etwas sicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung über 71 Billionen US-Dollar (McKinsey Glo- vielfach in prekäre Teilzeitbeschäftigung bal Institute 2013). Letzteres ist zwar eine zerlegt (Dauderstädt 2013), und nicht zu- Stromgröße, während Vermögen Bestands- letzt ist in Deutschland der Anteil der Lohn- größen sind, aber es haben auch die laufen- einkommen am gesamten Volkseinkommen den Ansprüche aus Vermögen an den Volks- (Lohnquote) von über 60 Prozent im Jahre einkommen zugenommen (Gewinnquote vs. 2000 bis 2007 auf etwa 55 Prozent ge- Lohnquote). sunken (und die Gewinnquote dementspre- Zum anderen bezeichnet Finanzialisie- chend gestiegen). rung eine weitgehende Entkopplung von Besonders fatale Folgen für Europa Finanz- und Vermögenswerten von der «re- (bzw. die Eurozone) hatte diese Verteilungs- alen Wirtschaft». Die Trennlinie zwischen entwicklung im Verein mit einem Prozess Finanz- und Realwirtschaft ist schwer iden- der «Finanzialisierung», der eine Umleitung tifizierbar, schließlich stellt die Vermittlung der wachsenden und zunehmend ungleich von Ersparnissen und Krediten eine zentra- verteilten Ersparnisse weg von potentiell le realwirtschaftliche Aufgabe des Finanz- produktiven realen Investitionen hin zu rein sektors dar. Finanzwirtschaftliche «Inno- spekulativen und hochriskanten «Finanzin- vationen» jedoch, wie die Verpackung von novationen» begünstigte. Krediten und Versicherungen in Derivaten, von denen wiederum mehrfach andere Deri- Die Rolle der «Finanzialisierung» vate abgeleitet und gehandelt werden, ver- Finanzialisierung heißt zum einen, dass Be- schleiern zunehmend die Verhältnisse von deutung und Einfluss des Finanzsektors ge- Schuldnern und Gläubigern, so dass irgend- genüber anderen Wirtschaftssektoren mas- wann völlig unklar ist, ob den gehandelten siv gewachsen sind. Auf den ersten Blick Finanztiteln überhaupt noch reale bzw. rea- ablesbar an einem massiven Wachstum von listische Werte entsprechen. Hinzu kommt, Finanzvermögen im Vergleich zum Bruttoso- dass beim Handel mit Finanztiteln weni- zialprodukt. Während 1980 das weltweite ger die Einschätzung eine Rolle spielt, ob Bruttosozialprodukt mit ca. 10 Billionen US- sie fundiert sind, sondern vielmehr die Ein- Dollar und das weltweite Finanzvermögen schätzung, wie die Titel von anderen Markt- mit ca. 12 Billionen US-Dollar noch nahe- teilnehmern eingeschätzt und wie diese

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 37 Michael Fischer sich wohl verhalten werden. Diese Entwick- pektive zu bieten vermag, steht ein bislang lung entsprach irgendwann eher einem Ka- einmaliger Integrationsprozess möglicher- sino und führte dazu, dass deutsche Erspar- weise vor einer Umkehr. Der Euro als nicht nisse und auch Eigengeschäfte privater wie nur gemeinsame Währung, sondern auch öffentlicher Banken (z. B. Landesbanken) als gemeinsames Symbol für die Mitglieds- auf die internationalen Finanzmärkte und länder, leistete bis zum Ausbruch der Krise dabei in zweifelhafte Papiere gelenkt wur- zumindest in Ansätzen auch einen Beitrag den, anstatt inländische Investitionsbedar- zur Entwicklung einer gemeinsamen eu- fe zu befriedigen. Ermöglicht wurde dies ropäischen Identität. Dies könnte jetzt zur durch internationale Kapitalmarktliberali- Disposition stehen. Das neu gewählte eu- sierungen, aber auch durch eine Aufsicht, ropäische Parlament hat daher eine ganze die solche Geschäfte zuließ oder gar nicht Reihe von Herausforderungen zu bewälti- erst wahrnahm, begünstigt wurde es da- gen, worunter eine wirksame und mit de- durch, dass «innovative Finanzprodukte» mokratischen und rechtsstaatlichen Grund- viel höhere Renditen versprachen, als «lang- sätzen vereinbare Politik zur Lösung der weilige Kreditvermittlung». Eine Illusion, die wirtschaftlichen Krise die dringlichste ist. 2007 mit der Finanzmarktkrise platzte. Bis dahin flossen deutsche Ersparnisse Eine makroökonomisch tragfähige Alternative nicht nur in US-amerikanische Ramschkre- Da die Probleme im Finanzsektor fortbe- dite (z. B. über Lehman-Zertifikate), sondern stehen und großen Druck auf die «Real- waren in großem Maßstab auch im spa- wirtschaft» ausüben, wäre diese Aufgabe nischen und irischen Immobiliensektor in- vordringlich zu lösen. Die Vermögensan- volviert, an griechischen Banken beteiligt sprüche sind im Vergleich zur wirtschaftli- und nicht zuletzt (u. a. Betriebsrenten der chen Leistungsfähigkeit der Länder Europas ehemaligen Volksfürsorge) auch in italie- in vielen Fällen unrealistisch, weshalb kom- nische Anleihen investiert. Diese internati- plementär zu einer Sanierung der Staats- onale und intensive europäische Verflech- haushalte (und privater Schulden) ein kon- tung des Finanzsystems, in dem nicht nur trollierter Vermögensabbau unabdingbar besonders hohe, sondern auch kleinere Ver- ist – auch um diejenigen an der Lösung der mögen involviert sind, erschwert die Bewäl- Krise angemessen zu beteiligen, die für ihre tigung der Finanzmarktkrise, die inzwischen Entstehung mit verantwortlich sind. Im Un- zur Krise Europas mutiert ist. Die bisherige terschied zur bisherigen «Konsolidierungs- Krisenlösungspolitik wird diese Krise mit Si- politik», die primär auf Ausgabenkürzungen cherheit nicht lösen. zielte, müssten die Staaten wieder Hand- lungs- und Finanzierungsspielräume für öf- Europa, Deutschland und die Demokratie – fentliche Daseinsfürsorge und notwendige wie weiter? Zukunftsinvestitionen auch durch eine Re- Europa und die Europäische Währungsuni- duktion ihrer Schuldenlast wie auch eine on stehen derzeit am vielleicht wichtigsten strukturelle Verbesserung ihrer Einnahme- Scheideweg ihrer bisherigen Geschichte. situation erhalten. Diese Aufgabe ist nicht Wenn Europa den Mehrheitsbevölkerungen trivial, denn gerade hohe Vermögen und seiner Mitgliedsländer keine attraktive Pers- einflussreiche Finanzinstitutionen verfügen

38 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europas Krise – am Ende des «demokratischen Kapitalismus»?

über strukturell bessere Möglichkeiten, sich Szenario 1: Entdemokratisierung in einem solcher Zugriffe zu entziehen, als dies bei europäischen Konsolidierungsregime größeren Bevölkerungsanteilen mit jeweils Eine Fortsetzung der bisherigen europäi- bescheideneren Vermögen möglich ist. schen Politik ergäbe den Konsolidierungs- Darüber hinaus ist nach der weiteren staat, vor dem Streeck zu Recht warnt. In- realwirtschaftlichen Perspektive Europas zwischen ist selbst Frankreich unter Druck zu fragen. Eine ganze Reihe von Antworten geraten, das von der Troika empfohlene findet sich im «DGB-Marshallplan für Eur- Konsolidierungsschema umzusetzen, nicht opa» (DGB 2012), der auch übergreifende zuletzt dank des Einflusses der deutschen Herausforderungen wie den Klimawandel Regierung. Im Kern läuft dies auf einen in den Blick nimmt. Ein europaweites Pro- weiteren Abbau sozialer und tariflicher gramm für erneuerbare Energien und Ener- Standards hinaus, die gerade aus Sicht in- gieeffizienz, wie dort im Verbund mit einer ternationaler Konzerne unliebsame Kosten- europaweiten einmaligen Vermögensabga- faktoren darstellen. Im Ergebnis eine klare be und adäquaten Steuern auf Vermögens- Entdemokratisierung. einkünfte und sehr hohe Einkommen gefor- In diese Richtung deutet die Aufnah- dert wird, würde mehrere Fliegen mit einer me von «Schuldenbremsen» für öffentliche Klappe schlagen: Längerfristig würden En- Haushalte in das deutsche Grundgesetz ergiekosten sinken, die Energieabhängig- und in weiteren europäischem Ländern bei keit von außereuropäischen Handelspart- gleichzeitiger Ablehnung von Steuererhö- nern sinken (s. Ukraine-Konflikt), das Klima hungen auf Gewinne, hohe Einkommen und geschont, Arbeitsplätze geschaffen und Vermögen, verbunden mit Bekenntnissen zu übertriebene Ansprüche aus Vermögen ge- einem (absoluten) Abbau öffentlicher Schul- dämpft werden. Zusätzlich bedarf es einer den. Danach verbleibt nur die Senkung öf- europäischen Arbeitslosenversicherung, fentlicher Ausgaben, und da Unternehmen angepasst an jeweilige Durchschnittsein- neben einer guten und für sie möglichst kommen, um zu verhindern, dass struktu- günstigen Infrastruktur hohen Wert auf Si- relle Anpassungen direkt zu regionalen Re- cherheit legen, verbleiben fast nur Sozialaus- zessionen und Depressionen führen. Nicht gaben als «Anpassungsvariable». zuletzt bedarf es auch eines Aufbau- und Ein solches Konsolidierungsregime Unterstützungsprogrammes für funktionie- müsste eigentlich in massive Legitimati- rende und demokratisch kontrollierte öf- onsprobleme geraten. Man kann jedoch fentliche Verwaltungen, wofür es noch ei- mit Streeck annehmen, dass Vorstellungen niges Verbesserungspotenzial gibt. sozialer Gerechtigkeit, wie sie aus kulturel- Vielleicht erscheint diese Alternati- len Normen etc. gespeist werden, bei brei- ve vor dem Hintergrund der herrschenden ten Bevölkerungsteilen allmählich durch Machtverhältnisse als nicht besonders re- Marktgerechtigkeit ersetzt werden, bei der alistisch. Doch wie realistisch sind andere Ergebnisse «des Marktes» weitgehend als Szenarien? akzeptabel empfunden werden. Das kann sogar längere Zeit gut gehen und Legitima- tionskrisen ausbleiben, wie nicht zuletzt das deutsche Beispiel zeigte. Manche Kommen-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 39 Michael Fischer tatoren begrüßten die Agenda 2010-Poli- pektiven für eine planmäßige Rückabwick- tik, da sie zeige, dass marktkonforme Po- lung zunächst des Euroraums aussehen und litik auch gegen die eigene Bevölkerung was daraus folgen könnte. durchgesetzt werden könne. Erfolgreichen Streeck schlägt eine teilweise Rückab- Widerstand hat es bekanntlich nicht gege- wicklung vor, bei dem demokratische Nati- ben. Längerfristig kann dies anders ausse- onalstaaten gegen das vom Kapital domi- hen. Leider haben bisherige Erfahrungen nierte europäische Konsolidierungsregime mit sozialer Depravation und Prekarisie- gesetzt werden. Damit kein Chaos ausbre- rung gezeigt, dass daraus resultierende che, müsse ein System flexibler Wechsel- Ängste weniger zu progressiven Ansätzen kurse, ein europäisches «Bretton Woods» und (internationaler) Solidarität tendieren, errichtet werden. Dadurch erwüchsen nati- sondern eher zu Ressentiments gegenüber onalen Regierungen neue Spielräume: Für vermeintlich Schwächeren und zum emotio- eine eigenständige Geld- und Fiskalpoli- nalen und kognitiven Rückzug auf als «na- tik und für eine eigenständige Sozial- und türlich» idealisierte Gemeinschaften. (Som- Wirtschaftspolitik, wobei flexiblen Wech- mer 2010) Das wäre für Europas Zukunft selkursen eine entscheidende Rolle zu- eine unerquickliche Perspektive. käme – denn in entsprechenden Situati- Auch andere Interpreten der Krise in onen könnten Länder auf das Instrument Europa legen eine Rückbesinnung auf klei- der Währungsabwertung zurückgreifen: nere etablierte politische Einheiten nahe, «Wenn ein Land, das wirtschaftlich entwe- um die Krise zu bewältigen. So auch Wolf- der nicht mehr mitkommt oder nicht mehr gang Streeck, wenngleich er, wie er selbst mitkommen will, seine Währung abwertet, einräumt, diesen Vorschlag für «nicht sehr werden die Exportchancen ausländischer realistisch» hält. Produzenten geschmälert und die der inlän- dischen verbessert […]. Anders formuliert, Szenario 2: Rückabwicklung oder Desintegration verhindert die Möglichkeit der Abwertung, des Euroraums und Europas dass ‹wettbewerbsfähigere› Länder weniger Eine Umkehr des europäischen Integrations- ‹wettbewerbsfähige› dazu zwingen, die Ren- prozesses ist keineswegs unwahrscheinlich. ten ihrer schlechter verdienenden Bürger Dazu könnte eine erneute Finanzmarktkrise zu kürzen, damit ihre Besserverdienenden führen, schließlich sind die wachsenden Ver- den Produzenten der wettbewerbsfähigeren mögen und entsprechenden Einkommens- Länder ihre BMWs weiterhin verlässlich ansprüche mit Blick auf realwirtschaftliche zum Festpreis abnehmen können.» (Streeck Leistungsfähigkeiten oftmals überzogen. 2013: 247 f.) Fraglich ist nur, wann Marktakteure eben- Das «Lob der Abwertung» (Streeck) wirft falls zu dieser Einschätzung gelangen. Eine jedoch mehrere Fragen auf. Zuallererst die Desintegration Europas kann auch aus poli- nach der Denomination bestehender Ver- tischen Turbulenzen in Mitgliedsländern re- bindlichkeiten – in welcher Währung bzw. sultieren, wofür Voraussetzungen durchaus nach welchem Umrechnungskurs sollen bei gegeben sind, deren Eintritt aber ebenfalls einer Auflösung der Eurozone Schulden- kaum vorhersagbar ist. Im Fokus steht da- bzw. Vermögenstitel gehandelt werden? her im Folgenden die Frage, wie die Pers- Die Interessen von Gläubiger- und Schuld-

40 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europas Krise – am Ende des «demokratischen Kapitalismus»? nerländern sind dabei diametral entge- Fazit: Ein starkes, allerdings sozialeres und gengesetzt: «[…] bedenken wir, dass es bei demokratischeres Europa ist nötig Abwicklung einer Gemeinschaftswährung Streeck hat mit «Gekaufte Zeit» eine wich- für (demnächst) 18 Mitglieder 153 bilate- tige Analyse vorgelegt, die daran erinnert, rale Währungsrelationen gibt, und dass Lö- dass die vermeintliche Trennbarkeit von sungen auch für alle Bankeinlagen, Kredite, Wirtschaft und Politik lediglich eine für Ka- Unternehmensanleihen und Derivate in pitalinteressen nützliche und in Wirklich- 153 bilateralen Länderbeziehungen gefun- keit hochpolitische Fiktion ist; dass das ka- den werden müssen […]. Eine geordnete Ab- pitalistische Wirtschaftssystem, in dem wir wicklung des Euro ist nicht möglich.» (Schul- weiterhin leben, immer wieder zu Krisen meister 2013: 44) Die nächste betrifft die tendiert; und dass die Vereinbarkeit von Ka- nach der Struktur der Außenhandelsver- pitalismus und Demokratie keineswegs un- flechtungen – dämpft eine Abwertung tat- verbrüchlich ist. Die Stärke seines Beitrags sächlich primär die Nachfrage besser Ver- liegt in der schonungslosen Benennung dienender nach ausländischen Luxusgütern und Analyse der daraus resultierenden Wi- wie BMWs oder trifft sie alle Betriebe und dersprüche und ihrer Dynamik, wenngleich Privathaushalte, die auf Energieimporte an- manche wichtigen Details der Krise in Euro- gewiesen sind? Und nicht zuletzt wäre zu pa bei ihm weniger Beachtung fanden. fragen, ob einzelne Länder angesichts der Sein Lösungsvorschlag, ein Rückbau fortgeschrittenen Integration internationa- europäischer (und internationaler) Institu- ler Kapitalmärkte überhaupt in der Lage tionen anstelle eines Bemühens um ihre wären, auf Ab- oder Aufwertungen in ihrem Demokratisierung, überrascht allerdings. Es eigenen Interesse Einfluss zu nehmen? ist bereits dargelegt worden, weshalb diese Bedenkt man diese Zweifel an einer Option eigentlich keine ist, auch wenn mög- planmäßigen Rückabwicklung des Euro, licherweise genau das eintritt – dann aber muss man zu dem Schluss kommen, dass mit noch einmal gravierenderen Folgen für eine solche Alternative kaum weniger rea- demokratische Handlungsmöglichkeiten listisch ist, als das Bemühen um eine (wei- gegenüber einem zunehmend international tergehende) Demokratisierung der europä- vernetzten Kapital. ischen Institutionen. Bei der Einführung des Der Integrationsvorsprung von Kapital- Euro wurden Fehler begangen, die heute zu interessen ist enorm und wird noch deut- erheblichen Problemen führen, auf die jetzt licher, wenn man globale Konzernverflech- auch noch die falschen Antworten gege- tungen genauer betrachtet. Genau dies ben werden. Aber die Uhr lässt sich nicht haben erstmals Wissenschaftler der ETH einfach zurückdrehen: «Wie in der Natur so Zürich 2011 auf der Grundlage von Daten gibt es auch in Wirtschaft und Gesellschaft für 2007 unternommen. Dabei kommen sie (nahezu) irreversible Prozesse: Man kann 18 zu dem Schluss: «Im Detail werden über ein Flüssigkeiten in einen Krug gießen, rausbe- komplexes Netz von Eigentümerstrukturen kommen kann man sie nicht mehr.» (Schul- nahezu vier Zehntel der Kontrolle über den meister 2013: 44 f.) ökonomischen Wert von [43.060] transnati- onalen Unternehmen von einer Gruppe von 147 transnationalen Unternehmen im Kern

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 41 Michael Fischer

gehalten, die nahezu völlige Kontrolle über Literatur sich selbst haben. Die Inhaber an der Spit- Dauderstädt, Michael (2013): Deutschland – ein ze innerhalb dieses Kerns können daher als Wundermärchen, WISO direkt, Bonn. eine ökonomische ‹Super-Einheit› im globa- DGB (2012): Ein Marshallplan für Europa. Vorschlag len Netzwerk von Unternehmen verstanden des Deutschen Gewerkschaftsbundes für ein werden.» (Vitali et al. 2011: 6; eigene Über- Konjunktur-, Investitions- und Aufbauprogramm setzung) Drei Viertel dieser «Super-Einheit» für Europa, Berlin. sind «finanzielle Intermediäre», also Ban- Fischer, Michael (2014): Deutschlands Exporterfolge ken, Versicherungen und andere Finanz- und seine Importdefizite: Ein Verteilungspro- marktakteure, die auch die Top Ten bilden. blem, Gegenblende 25: Januar/Februar 2014, Der globale Verflechtungsgrad des Ka- online: http://www.gegenblende.de/25- pitals ist bedenklich, auch wenn sich von 2014/++co++1aed7666-8e61-11e3-8839- Beteiligungsverhältnissen nicht direkt auf 52540066f352. politischen Einfluss schließen lässt. Demo- Hagelüken, Alexander (2014): Schuld sind die Ande- kratische Belange und Interessen werden ren, in: Süddeutsche Zeitung, 5. April 2014. ihm gegenüber aber immer weniger auf Heinze, Rolf/Streeck, Wolfgang (1999): An Arbeit niedrigeren Integrationsebenen wie Nati- fehlt es nicht, in: Der SPIEGEL 19/1999, S. 38- onalstaaten entgegengesetzt werden kön- 45. nen, sondern eher auf höheren, wie der McKinsey Global Institute (2013): Financial globali- Europäischen Union. Deshalb ist es so wich- zation: Retreat or reset? Global capital markets, tig, für ihre Demokratisierung zu kämpfen – o.O. auch wenn dieser Kampf scheitern kann. Schulmeister, Stephan (2013): Euroabwicklung: Doch ein Rückzug, etwa auf den «demokra- Der finale Schritt in den Wirtschaftskrieg, in: tischen Nationalstaat», nähme die Niederla- Blätter für deutsche und internationale Politik ge nur vorweg. 10/2013, S. 39-49. Sommer, Bernd (2010): Prekarisierung und Ressenti- ments. Soziale Unsicherheit und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland, Wiesbaden. Stein, Ulrike/Stephan, Sabine/Zwiener, Rudolf (2012): Zu schwache deutsche Arbeitskosten- entwicklung belastet Europäische Währungsuni- on und soziale Sicherung, IMK Report 77. Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die ver- tagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurt am Main. Vitali, Stefania/Glattfelder, James B./Battiston, Ste- fano (2011): The network of global corporate control, in: PLoS ONE 6(10), online: http://ar- xiv.org/pdf/1107.5728v2.pdf.

42 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Andreas Maurer Legislativmacht und Politisierung Der Spagat des Europäischen Parlaments

«Das Europaparlament hat am Mittwoch Ausdruck kommenden Handlungsautono- die Einführung von abschreckenden Bildern mie, Definitions- und Durchsetzungsmacht auf Zigarettenpackungen beschlossen».1 deutlich stärker ausgebildet sind als in den «Die europäischen Automobilhersteller nationalen Parlamenten der EU. Ein starkes müssen von 2020 an schärfere Klimaaufla- Parlament, das sich von der Gründungsidee gen für Neuwagen einhalten. [...] Das hat Monnets, Adenauers, und de Gasperis weit- das EU-Parlament am Dienstag in Strass- gehend emanzipiert hat. Denn die Staats- burg beschlossen».2 Vergleichbare Nach- chefs waren in den 1950er-Jahren lediglich richten hatten vor 10 Jahren Seltenheits- bereit, einer parlamentarischen Versamm- wert; sie wären vor 20 Jahren undenkbar lung mit aus den nationalen Parlamenten gewesen. Hinter beiden Nachrichten ver- delegierten Abgeordneten einige wenige birgt sich ein mittlerweile übliches Segment Konsultations- und Kontrollrechte gegen- des Ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens über der EU-Kommission einzuräumen. (OGV): Nach der Verabschiedung von Ände- rungen am Kommissionsvorschlag geht der Die Macht des Parlaments im ordentlichen zuständige Parlamentsausschuss auf den Gesetzgebungsverfahren Ministerrat zu und handelt in sogenann- «Das Europäische Parlament wird gemein- ten Trilogsitzungen einen Kompromiss auf sam mit dem Ministerrat als Gesetzgeber Augenhöhe mit der Ratspräsidentschaft tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haus- als Vertreterin der Mitgliedstaaten aus. haltsbefugnisse aus». Artikel 14 des Euro- Das Verfahren ist das wohl augenfälligs- päischen Unionsvertrages (EUV) umreißt te Kennzeichen eines Parlaments, das sich in diesem kurzen und prägnanten Satz die über die letzten EU-Vertragsreformen von zentrale Stellung des EP im Entscheidungs- Maastricht (1993), Amsterdam (1999), Niz- gefüge der EU. Die Formulierung ist der za (2003) und Lissabon (2009) schrittweise wohl klarste Ausdruck seiner Politikgestal- Gesetzgebungskompetenzen erstritten hat, tungsfunktion (Nickel 2003: 501). Das Fun- die mit denjenigen klassischer Arbeitspar- dament zur Wahrnehmung dieser Funktion lamente der USA oder Kanadas vergleich- bildet das Mitentscheidungs- bzw. ordent- bar sind und die hinsichtlich der darin zum liche Gesetzgebungsverfahren (OGV) nach Artikel 294 des Vertrags über die Anwen- dung des EUV, bei dem Parlament und Mi- 1 «Brüssel führt Warnbilder auf Tabakpackungen ein», Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 49, 27. nisterrat gleichberechtigt über die Verab- Februar 2014, S. 1. schiedung europäischen Sekundärrechts 2 «Striktere CO2-Auflagen für Autos», Frankfurter All- verhandeln und gemeinsam entscheiden. gemeine Zeitung, Nr. 48, 26. Februar 2014, S. 10. Der besondere Charakter des Verfahrens

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 43 Andreas Maurer besteht in der interorganisationellen Kom- fende Rechtsakt in der Fassung des promissaushandlung. Kennzeichnend für Ratsentwurfs als erlassen. das aus maximal drei Lesungen bestehen- - Lehnt das EP den Textentwurf des de Verfahren und die machtpolitische Stel- Rates mit der Mehrheit seiner Mit- lung des Parlaments ist zweierlei: Erstens glieder ab, so gilt der vorgeschlage- tragen Parlament und Rat gemeinsam, ge- ne Rechtsakt als nicht erlassen. wissermaßen als Kolegislative analog zu - Verabschiedet das EP dagegen mit Zweikammersystemen, die gleichrangige der Mehrheit seiner Mitglieder Ände- Verantwortung für die Autorisierung oder rungen am Ratsentwurf, so wird der Verwerfung eines Gesetzgebungsakts. Und geänderte Parlamentsentwurf dem zweitens kann nur das Parlament, nicht Rat und der Kommission zugeleitet. aber der Ministerrat den geplanten Rechts- t Fünfter Schritt – zweite Lesung im Rat: akt durch einen Ablehnungsbeschluss mit - Billigt der Rat binnen drei Monaten der Mehrheit seiner Mitglieder zu Fall brin- nach Eingang den Parlamentsent- gen. Der Verfahrensgang insgesamt ist rela- wurf, gilt der betreffende Rechtsakt tiv einfach konzipiert: als erlassen. Hierbei gilt, dass der t Erster Schritt: Die Kommission unter- Rat Änderungen des EP, zu denen breitet dem EP und dem Rat einen Vor- die Kommission eine ablehnende schlag für eine Verordnung, eine Richtli- Stellungnahme verfasst hat, einstim- nie oder einen Beschluss. mig annehmen muss. t Zweiter Schritt – Erste Lesung im EP: - Erklärt sich der Rat dagegen nicht mit Das Europäische Parlament beschließt allen Änderungen des Parlaments in erster Lesung seinen Standpunkt und einverstanden, so berufen die Rats- übermittelt ihn dem Rat. präsidentschaft und der Parlaments- t Dritter Schritt – Erste Lesung im Rat: Bil- präsident binnen sechs Wochen den ligt der Rat den vom Parlament geän- paritätisch besetzten Vermittlungs- derten Textentwurf, so ist der betreffen- ausschuss beider Organe ein. de Rechtsakt in der vom EP geänderten t Sechster Schritt – die Vermittlung: Der Fassung erlassen. Vermittlungsausschuss berät innerhalb - Erklärt sich der Rat – mit qualifizier- einer Sechswochenfrist über die Text- ter Mehrheit – nicht mit dem Text- entwürfe der beiden Legislativorgane entwurf des EP einverstanden, be- mit dem Ziel der Erarbeitung eines ge- schließt er in erster Lesung seinen meinsamen Kompromissentwurfs. Hier- abweichenden Standpunkt, begrün- bei entscheidet die Ratsdelegation mit det seine Änderungen und über- qualifizierter Mehrheit; die EP-Delegati- mittelt den geänderten Textentwurf on mit einfacher Mehrheit. Findet der dem EP. Vermittlungsausschuss innerhalb der t Vierter Schritt – zweite Lesung im EP: sechswöchigen Frist keinen Kompro- - Billigt das EP binnen drei Monaten miss, so gilt der vorgeschlagene Rechts- nach der Übermittlung des Rats- akt als gescheitert. entwurfs den geänderten Text oder t Siebter Schritt – Dritte Lesung: Hat sich äußert es sich nicht, gilt der betref- der Vermittlungsausschuss auf einen

44 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Legislativmacht und Politisierung

gemeinsamen Entwurf geeinigt, müs- punkte möglichst weitgehend anzunähern sen EP und Rat diesen Text innerhalb und dabei, soweit zweckmäßig, den Erlass einer erneuten Frist von sechs Wochen des Rechtsakts in einem frühen Stadium bestätigen, wobei im EP die Mehrheit des Verfahrens zu ermöglichen.» In der Pra- der abgegebenen Stimmen und im Rat xis beginnt dieses Verfahren unmittelbar die qualifizierte Mehrheit erforderlich im Anschluss an die Abstimmung des Par- ist. Falls dagegen das EP oder der Rat lamentsentwurfs für die erste Lesung auf den Kompromisstext nicht bestätigen, Ausschussebene. Bevor der Entwurf also gilt der vorgeschlagene Rechtsakt als dem Plenum zur Abstimmung weitergelei- gescheitert. tet wird, formulieren die Ausschüsse auf der Grundlage des auf ihrer Ebene verabschie- Dieser Grundverlauf ist zahlreichen Verfah- deten Entwurfs ein Verhandlungsmandat. renskonkretisierungen unterworfen: Erstens Je nach Ausschuss setzt sich dann eine mit können die Dreimonats- bzw. Sechswochen- der Verhandlungsführung betraute Delega- fristen auf Initiative eines der beiden Legis- tion des EP aus dem Berichterstatter, dem lativorgane um maximal einen Monat bzw. Ausschussvorsitzenden und den Schatten- zwei Wochen verlängert werden. Zweitens berichterstattern der anderen Fraktionen sind alle drei unmittelbar beteiligten Orga- zusammen, die mit der Ratspräsidentschaft ne berechtigt, Einzelheiten ihrer Zusammen- und Vertretern der Kommission im soge- arbeit im Rahmen interinstitutioneller Ver- nannten ‹Trilogverfahren› einen Kompro- einbarungen zu verabreden. Und drittens miss auszuhandeln versucht. Gelingt dies, ist der ersten Lesung des EP der Mechanis- so ändert der federführende EP-Ausschuss mus der Überprüfung und etwaigen Rüge seinen Entwurf entsprechend ab und legt des Kommissionsvorschlags durch die nati- diesen dann dem Plenum zur Abstimmung onalen Parlamente vorgeschaltet. vor. Bestätigt das Plenum die im Trilog ver- Besondere wissenschaftliche wie politi- einbarten Änderungen, gilt das Dossier als sche Aufmerksamkeit verdienen die frühen, «in erster Lesung abgeschlossen». durch informelle Vermittlungsverfahren im Rahmen sogenannter Triloge erzielten Ei- Parlamentarisierung der EU nigungen zwischen EP und Rat in erster Zur Vergegenwärtigung des schrittweisen und zweiter Lesung (Maurer 2002; Farell/ ‹Zugangs› des EP in das Entscheidungsfin- Héritier 2004; Rasmussen 2007; Judge/ dungssystem der EU reicht es nicht aus, al- Earnshaw 2011; Maurer 2012). Grundlage leine die vertragsgemäßen Rechte des EP hierfür ist die seit dem Amsterdamer Ver- festzustellen. Soll die Entwicklung der Par- trag (1999) bestehende Möglichkeit, ein lamentsrechte über die Zeit sowie die reale OGV bereits in Stadium der ersten Lesung Intensität der Parlamentarisierung genauer abzuschließen. Expliziert wurde diese Opti- erfasst werden, kann die primärrechtliche on erstmals in der Gemeinsamen Erklärung Entwicklung der Entscheidungsverfahren zu den praktischen Modalitäten des Verfah- gegen ihre effektive Nutzung bilanziert wer- rens der Mitentscheidung, wonach die drei den (Maurer 2012). Untersucht wird dabei Organe «während des gesamten Verfahrens die effektive Umsetzung der über die Ver- loyal zusammen[arbeiten], um ihre Stand- träge sanktionierten Anreiz- und Restrik-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 45 Andreas Maurer tionsstrukturen, die sich den Organen als staatsangehörigen, zu umweltpolitischen Handlungskontext anbieten (Olsen 1996). Maßnahmen mit Finanzbestimmungen, Betrachten wir die primärrechtliche Ent- zu Raumordnungs-, Bodennutzungs- und wicklung der dem EP zur Verfügung ge- Wasserbewirtschaftungsfragen, zu Maß- stellten Anreize, dann ist zunächst ein lang- nahmen, die die Wahl eines Mitgliedstaa- samer, aber doch konstanter Ausbau der tes zwischen verschiedenen Energiequellen Parlamentsrechte festzustellen. Das relative berühren, und zu Vorschriften steuerlicher Ausmaß der «Nicht-Beteiligung» des Parla- Art. Ebenfalls aus dem OGV ausgenommen ments an den Politikgestaltungsrechten sind Maßnahmen zu Aspekten des Famili- des Ministerrates hat seit 1958 beträcht- enrechts mit grenzüberschreitendem Be- lich abgenommen (von 72.09 Prozent zum zug. Die Zahl der somit verbleibenden 112 Zeitpunkt des EWG-Vertrages hin zu 34.9 Handlungsermächtigungen des Rates, die Prozent mit Inkrafttreten des Lissabonner eine «Nichtbeteiligung» des Parlaments vor- Vertrages 2009). schreiben ist damit weiterhin relativ hoch. Der Lissabonner Vertrag hat den An- Die über Vertragsreformen sanktionier- wendungsbereich für das OGV von 45 (Ver- te Entwicklung der Entscheidungsverfahren trag von Nizza) auf 85 fallspezifische Hand- folgte bisher keinem einheitlichen Muster lungsermächtigungen ausgedehnt. Hierzu der einfachen Auswechselung «parlaments- gehören fast alle Einzelbestimmungen in loser» oder –«schwacher» durch «parla- der Justiz- und Innenpolitik, die Rahmenbe- mentsmächtige» oder –«intensive» Prozedu- schlüsse zur Landwirtschafts- und Fischerei- ren, sondern eher einer den europäischen politik, die Handelspolitik, Teilaspekte der Integrationsprozess typisierenden Asymme- wirtschaftspolitischen Koordinierung sowie trie zwischen «Kompetenzallokation» und die neuen Politikfelder des Katastrophen- «Legitimätsallokation»: Die Zuordnung der schutzes und der Verwaltungszusammen- Beteiligungsanreize des EP zur Sicherstel- arbeit. Ausgenommen vom OGV bleiben lung der parlamentarisch-demokratischen dagegen auch seit Inkrafttreten des Lissa- Verantwortung hinkt so der primärrechtli- bonner Vertrages die EU-Maßnahmen (des chen Begründung diesbezüglicher Rechts- Ministerrates) zum Aufenthaltsrecht mit grundlagen hinterher (Lepsius 1990). Die Blick auf Pässe und Personalausweise, zur Entwicklung hin zu einem Mehr an parla- sozialen Sicherheit und der Sozialversiche- mentsintensiven Verfahren zeigt aber auch: rung, zum aktiven und passiven Wahlrecht Anders als vom Bundesverfassungsgericht bei Kommunalwahlen und bei Wahlen zum in seinem Maastricht-Urteil 1993 behaup- EP, zur Erleichterung des diplomatischen tet, unterliegt die Entwicklung parlamenta- und konsularischen Schutzes, zum Kapital- risch-demokratischer Fundierungen der EU verkehr mit Drittstaaten, zur Steuerharmo- somit nicht einfach vorrechtlichen, struktu- nisierung und Körperschaftssteuer, zu den rellen – «einflussresistenten» – Bedingungen Sprachenregelungen für die Rechtstitel, zu wie gemeinsame Sprache, Volk oder Kultur, Mindestvorschriften für die soziale Sicher- sondern ist grundsätzlich bearbeitbar und – heit und den Schutz der Arbeitnehmer bei dies folgt aus der Beobachtung der Entwick- Beendigung des Arbeitsvertrags sowie zu lung der Vertragsgrundlagen – auf das Ziel den Beschäftigungsbedingungen von Dritt- der gesteuerten Reparlamentarisierung der

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EU angelegt. Andererseits kann aus der Be- verfahren involviert, so betrug dieser Anteil obachtung über die «nachhinkende» Parla- 1999 bereits 60,05 Prozent und lag 2011 mentarisierung der EU gerade mit Blick auf bei 52 Prozent. Gliedert man hierbei die die Maastrichter und Lissabonner Vertrags- größtenteils verwaltungstechnischen Rou- reformen keine einfache Regelmäßigkeit tineakte des Rates im Bereich der Agrar-, abgeleitet werden, da beispielsweise die Fischerei- und Zolltarifpolitik aus, so erhöht mit Maastricht 1993 sanktionierte Begrün- sich die EP-Beteiligungsquote erstens allge- dung einer bildungs-, jugend- und kulturpo- mein auf etwa 90 Prozent und der Anteil litischen Zuständigkeit der EG unmittelbar des OGV von 30,87 Prozent (für alle Ratsak- mit dem Mitentscheidungsverfahren ver- te) auf etwa 75 Prozent. Der Vergleich zwi- knüpft und die mit Lissabon 2009 erfolgte schen den relativen Zu- bzw. Abnahmeraten EP-Beteiligung in der Handelspolitik durch der primärrechtlichen Anreizstrukturen mit das OGV gewissermaßen von null auf 100 den tatsächlichen Ausnutzungsquoten der in einem Schritt realisiert wurde. zur Verfügung stehenden Verfahrensvor- schriften gibt somit Aufschluss über den Die effektive Politikgestaltungsmacht quantitativ messbaren Erfolg bzw. Misser- in der Praxis folg bei der schrittweisen «Parlamentarisie- Im Zeitraum vom Inkrafttreten der EEA am rung» des EU-Entscheidungssystems. 1. Juni 1987 bis 31. Dezember 2013 war das Erfolgreich verlief die Zurückdrängung EP in den folgenden Verfahren beteiligt: der «Nicht-Beteiligung» des Parlaments so- t 2139 Mitentscheidungs- bzw. Ordent- wohl im Rahmen der Fortentwicklung der liche Gesetzgebungsverfahren, EU-Verträge als auch im Rahmen der Ver- t 449 Kooperationsverfahren, tragsumsetzung. In beiden Untersuchungs- t 453 Zustimmungsverfahren, feldern ist ein beträchtlicher Rückgang zu t 3740 Konsultationsverfahren, und verzeichnen. Gleichwohl fällt die Ausnut- t 914 Haushalts- bzw. haushaltsrele- zung der «parlamentsmächtigen» Verfah- vante Verfahren. ren – Kooperation und Mitentscheidung – an der Summe aller vom Rat bzw. von In acht OGV konnte keine Einigung erzielt Parlament und Rat verabschiedeter Rechts- werden. 139 Vorschläge wurden von der akte geringer aus als ihr relativer Bedeu- Kommission zurückgezogen oder aber auf- tungszuwachs im Anschluss an die Vertrags- grund der Änderungen der Rechtsgrund- reformen hätte vermuten lassen. Bei der lage nicht weiter verfolgt. Weitere 204 Messung der EP-Mitwirkung im Verhältnis Verfahren befanden sich im Verhandlungs- zur Produktionsrate von Kommissionsinitia- prozess. Die seit dem Amsterdamer Ver- tiven fällt deutlich auf, welche Wirkungen trag geltende Möglichkeit der endgültigen die Schaffung des OGV und die schrittweise Verabschiedung eines Rechtsaktes bereits Ausdehnung seines Anwendungsbereichs nach der ersten Parlamentslesung wurde über die Vertragsreformen von Amsterdam dabei zunehmend intensiv genutzt. und Lissabon hatte: Seit 2006 pendelt die War das Parlament 1993 nur in 48,44 Parlamentsbeteiligungsrate um etwa 70 Prozent aller Rechtsakte des Ministerrates in Prozent aller Kommissionsvorschläge, wo- einem der in Frage kommenden Legislativ- bei auf das Mitentscheidungsverfahren ein

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 47 Andreas Maurer seitdem steigender Anteil von zuletzt fast Koalitionsmotivationen eher entsprachen. 68 Prozent entfielen. Dagegen konnten Änderungsanträge in erster Lesung effektiv genutzt werden, um Der Preis erfolgreichen Funktions- und auch gegenüber der europäischen Öffent- Machtmanagements lichkeit deutlich zu machen, dass das Er- Aufgrund seiner in den EU-Verträgen ur- gebnis der Europawahlen Folgen für die in- sprünglich auf Informations- und Kontroll- haltliche Ausrichtung der Parlamentsarbeit rechte beschränkten Funktionen galt das haben kann. Allerdings zwingen die parla- Parlament lange Zeit als der Gruppe der mentsinternen Verfahren der Behandlung Redeparlamente zugehörig. Die Einführung von Änderungsanträgen in zweiter Lesung des Gesetzgebungsverfahrens hatte aller- die Abgeordneten zur Aufgabe etwaig vor- dings nachhaltigen Einfluss auf die Funk- handener Divergenzen zwischen den Frak- tionsweise und das interne Management tionen. Dies verleiht zwar den Änderungs- des EP. Bereits im Zeitraum bis zum Inkraft- anträgen in zweiter Lesung aufgrund der treten des Lissabonner Vertrages hat sich höheren Unterstützerzahl im Parlament das OGV signifikant auf die Professionali- mehr Nachdruck als den Anträgen der er- sierung und Spezialisierung (Bowler/Farell sten Lesung. Andererseits leidet aber der 1995) einer relativ klein bleibenden Anzahl Wettbewerb der Fraktionen untereinander von Abgeordneten ausgewirkt. Aufgrund unter dieser Regel; Abgeordnete stimmen der funktionellen Reichweite des Gros der dann für Änderungsanträge, deren Inhalte Rechtsakte sind diese gezwungen, techni- sie kaum innerhalb ihrer Partei geschwei- sche Expertise selbst zu entwickeln oder ge denn ihrer Wahlklientel glaubhaft ver- aber innerhalb des Parlaments auf geeigne- mitteln können. Im Konflikt zwischen dem te Weise sicherzustellen. Das OGV offeriert allgemeinen Prinzip der Gestaltungsfreiheit anders als alle anderen Verfahren weitaus aller Abgeordneten und Fraktionen einer- mehr Verhandlungsspielraum auf dem Ge- seits und dem effizienzfördernden Prinzip biet der substanziellen Normdefinition, da der parteipolitischen Selbstbeschränkung die beteiligten Organe gezwungen sind, zugunsten des Machterhalts des EP behält technische Details gleichberechtigt im Inte- letzteres solange die Oberhand, wie das resse der Bürger (EP) und der Staaten (Mi- OGV selbst nur von einem Bruchteil der Ab- nisterrat) zu lösen. geordneten als Gelegenheit zur politischen Anders als die EP-Änderungen in erster Profilierung wahrgenommen wird. Lesung müssen diejenigen in zweiter Le- sung mit der absoluten Mehrheit der Par- Fraktionsbedeutung und Politisierung lamentsmitglieder verabschiedet werden. In Mehr Gesetzgebungsrechte, lautstarke Ab- allen zurückliegenden Legislaturperioden lehnungen internationaler Abkommen wie bedeutete dies nichts anderes als den fak- ACTA, die unmittelbarere Verknüpfung zwi- tischen Zwang von SPE/S&D und EVP zur schen der Parlamentswahl und der Bestel- «großen Koalition», da beide Fraktionen lung der Europäischen Kommission sowie eher selten imstande waren, Alternativko- mehr Kontroll- und Informationszuständig- alitionen zu bilden, die ihren parteipoli- keiten entfalten offenbar nicht die von vie- tischen Interessen und daraus abgeleiteten len erhoffte, wahlmobilisierende Wirkung.

48 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Legislativmacht und Politisierung

Offenbar tut sich die europäische Bürge- päischen Parlament ihre Stimme geben. Es rInnenschaft schwer mit dem einzigen su- lohnt daher ein Blick auf die Wirkungen der pranationalen Parlament der Welt. Ein parlamentarischen Legislativmacht auf die Parlament, das im Unterschied zu den na- Fraktionsgefüge im EP, um sich der Frage tionalen Parlamenten sehr viel autonomer anzunähern, unter welchen Bedingungen gegenüber den Exekutiven agieren kann. sich sozialistisch-progressive Parteiprogram- Diese Handlungsautonomie bringt Geheim- matik in der Gesetzgebungsarbeit des EP nis und Schicksal des Parlaments nahe bei- niederschlagen können. einander: Das Europäische Parlament teilt Lässt sich für die Europäische Union ein sich eben nicht auf in «Regierungsmehr- institutionelles System konzipieren, dass auf heit» und «Opposition». Obgleich die Kom- den im nationalstaatlichen Rahmen entwi- mission, der Ministerrat und der Europä- ckelten Prinzipien der Parteiendemokratie ische Rat mit Kompetenzen betraut sind, gründet und hierzu die Wahlen zum Euro- die wir im nationalen Kontext einer «Re- päischen Parlament nutzt, um den Europä- gierung» zuordnen würden, operiert dieses ischen Kommissionspräsidenten als Quasi- «Gubernativkonglomerat» doch nicht als Regierungschef einzusetzen? So attraktiv aus den europäischen Parlamentswahlen und einfach dieses Strukturziel erscheint: Es mittelbar hervorgehende EU-Exekutive, die wäre nur unter Inkaufnahme eines radika- sich auf eine Mehrheitsfraktion oder -koali- len Umbaus des EU-Systems möglich. Was tion im EP stützen muss. das Parlament an parteipolitischer Mobi- Das EP agiert gegenüber diesen Orga- lisierungspotential gewönne, würde es an nen eigenständig; mit wechselnden, meist Handlungsautonomie und Entscheidungs- großen, fraktionsübergreifenden Mehrhei- macht in der Gesetzgebung verlieren. Die ten. Die in den EU-Verträgen normierten Kommission selbst sähe sich nur dann als Mehrheitsanforderungen für Abstimmun- supranationale Regierung gestärkt, wenn gen im EP wollen es nicht anders und pro- nicht nur ihr Präsident, sondern das gesam- duzieren so implizit ein erhebliches Kommu- te Kollegium entsprechend des Wahlergeb- nikations- und Identifikationsdefizit, dass nisses zusammengesetzt würde und sowohl das Parlament undemokratisch, unecht, der Ministerrat als auch der Europäische schwach oder eben unpolitisch-technokra- Rat ihre exekutiven Zuständigkeiten kom- tisch erscheinen lässt. plett an diese Kommission abgäben. Insbe- Was wir WahlbürgerInnen wahrschein- sondere der Europäische Rat der Staats- und lich auch in der neuen Legislaturperiode Regierungschefs, der sich in immer stärke- vermissen werden, ist die Nachricht aus rem Maße als eine Art Parallelexekutive der Brüssel oder Straßburg darüber, ob sich die Merkel’schen «Unionsmethode» geriert und Mehrheit gegen die Opposition durchge- dabei in die Kommissionszuständigkeiten setzt hat, wer im Gegeneinander von sozial- grätscht, müsste auf rein impulsgebende, demokratisch-progressiv und christdemokra- koordinierende und symbolische Repräsen- tisch-konservativ obsiegt hat. In Erwartung tationsfunktionen zurückgestutzt werden. dieses parteipolitischen Streits treffen die Und schließlich müsste sich das Verhältnis meisten WählerInnen nach wie vor ihre zwischen den europäischen und den natio- Entscheidung darüber, wem sie im Euro- nalen Parteien zugunsten der gegenwärtig

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 49 Andreas Maurer eher als koordinierende Dachorganisatio- seits dieser Strukturvorgaben das effektive nen arbeitenden Europarteien umkehren. Fraktionsverhalten, dann lassen sich empi- Doch auch wenn sich die im national- risch sowohl der Grad der innerfraktionellen staatlichen Zusammenhang eingeübte Rek- Kohäsion als auch die Funktionsweise der rutierungsfunktion der Parteien angesichts interfraktionellen Koalitionen untersuchen. der besonderen Strukturmerkmale des Ins- Die Kohäsion der Fraktionen kennzeichnet titutionensystems nicht auf die EU übertra- dabei die innere Bindungskraft von Frak- gen lässt, bleibt die Frage berechtigt, wie tion und Partei. Gemessen wird auf einer und unter welchen Rahmenbedingungen Skala von 0,01 Prozent (ausschließlich Ab- sich wenigstens das Europäische Parla- weichler) bis 100 Prozent (konsistentes Ab- ment stärker als parteipolitische Arena ent- stimmungsverhalten ohne Abweichler) da- wickeln könnte. Denn die Forderung nach bei, wie häufig die Fraktionen geschlossen einer Politisierung der EU steht auch dann abstimmen. Die höchste Fraktionskohäsion im Raum, wenn es um die Verbesserung der weisen hierbei die Grünen auf (von 75 Pro- Legitimationsgrundlagen des Europäischen zent in der Legislaturperiode 1989/1994 Parlaments selbst geht. auf gegenwärtig über 94 Prozent), gefolgt Tatsächlich organisiert sich das Parla- von der Europäischen Volkspartei (von 88 ment seit den ersten Tagen der Montanuni- in 1979/1984 auf 92,6 Prozent), den So- on (1952) nicht nach nationalstaatlichen zialdemokraten (von 75 in 1979/1984 auf Delegationen, sondern in übernationalen, 92), den Liberalen (von 72 in 1989/1994 parteipolitischen Fraktionen. Deren Bildung, auf 88), und der Europäischen Linken (von innere Konsistenz und Funktionsfähigkeit 81 in 1979/1984 auf 78,6). Dieser gestie- gründet zunächst in der inhaltlichen und gene Kohäsionsgrad ist durchaus mit dem- programmatischen Nähe der sie konstituie- jenigen in nationalen Parlamenten zu ver- renden Parteien, die sich im Verlauf der letz- gleichen. ten 60 Jahre in europäischen Parteien zu- Allerdings wird an diesen Zahlen auch sammengeschlossen haben. Im operativen deutlich, dass im Unterschied zum natio- Tagesgeschäft des Europäischen Parlaments nalen Kontext keine Fraktion des Europäi- befördern die Regeln der Geschäftsordnung- schen Parlaments ohne Rebellen auskommt. die Fraktionsbildung und deren organisato- Zumindest die Mehrheits- bzw. Regierungs- rische Verdichtung. Denn die Fraktionsstär- fraktionen in den Mitgliedstaaten zeichnen ke ist ausschlaggebend für die Verteilung sich dagegen durch eine weitaus höhere der Redezeiten, der Berichterstatter, der Fraktionsdisziplin aus. Deutlich machen die Vertreter in den Ausschuss- und Delegati- Zahlen damit auch, dass es zwischen dem onsvorständen, der Anzahl der Büros und Europäischen Parlament und der Kommissi- Sekretariatskräfte sowie für die Zulässigkeit on, dem Ministerrat oder dem Europäischen von Entschließungsanträgen, Einsetzungs- Rat keine hierarchische Verknüpfung zwi- beschlüssen für Untersuchungsausschüsse schen einer stabilen Exekutivmehrheit und und schließlich auch für die Gewinn- und kontinuierlicher Opposition gibt. Verlustkoalitionen bei Abstimmungen. Die Messung der Koalitionen im Par- Nimmt man als Indikator der parteipo- lament liefert darüber hinaus Daten über litischen Organisation des Parlaments jen- die Vermittlungsleistung der gesellschaftli-

50 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Legislativmacht und Politisierung chen Konflikte in das parteipolitische Links- Zwar ergab sich in der zurückliegenden versus-Rechts-Schema. Es lässt damit auch Legislaturperiode die theoretische Mög- Rückschlüsse über den effektiven Politisie- lichkeit einer Koalition aus EVP, Liberalen rungsgrad des Europäischen Parlaments und Konservativen, die zusammen 54 Pro- zu. Spielt man alle Möglichkeiten der Koa- zent der Abgeordneten stellen. Die mitun- litionsbildung in namentlichen Abstimmun- ter erhebliche Zahl der Abweichler konnte gen durch, dann ergibt sich ein vom Nati- allerdings nur durch Einbindung der Sozi- onalstaat erheblich abweichendes Bild: In aldemokraten oder der Grünen kompen- über 70 Prozent aller Fälle stimmen die bei- siert werden. Wie oben dargestellt, hat den größten Fraktionen der Europäischen der Drang, weit über 50 Prozent liegende Volkspartei und der Sozialdemokraten seit Abstimmungsmehrheiten zu erzielen, sei- 1979 gemeinsam ab. Mehr noch: In etwa ne Ursache allerdings auch im vertrags- weiteren 20 Prozent stimmen diese bei- systematisch vorgezeichneten Kontext der den in Koalition mit nahezu allen anderen Gesetzgebungsverhandlungen zwischen Gruppierungen ab. Die «klassischen» Mitte- Parlament und Ministerrat. Je größer die Rechts- bzw. Mitte-Links-Koalitionen lassen Parlamentsmehrheit, desto geschlossener sich nur in weniger als 10 Prozent der Plen- tritt die Parlamentsdelegation gegenüber arabstimmungen feststellen. dem Rat auf. Umgekehrt war immer wieder Gründet die sich hieraus zu bilanzie- zu beobachten, dass der Ministerrat knap- rende Politisierungsblindheit in mangeln- pe Parlamentsmehrheiten als Einfallstor zur den Interessengegensätzen zwischen den Infragestellung des jeweiligen Parlament- Fraktionen? Eher nicht, denn in den Aus- santrags nutzte, zumal es in diesen Fällen schusssitzungen des Parlaments zu Fragen nicht selten vorkam, dass sich die Abgeord- der Innen- und Rechtspolitik oder der Um- neten am Verhandlungstisch mit gegenläu- welt- und Verbraucherschutzpolitik fliegen figen Positionen gegenseitig in den Rücken die Fetzen und der parteipolitische Konflikt schießen. Anders: Selbst in den ersten Le- prägt die Beratungsphasen zu fast jedem sungen des OGV, bei dem die Parlaments- Gesetzgebungsakt. Der Weg hin zur über- anträge noch mit der einfachen Mehrheit parteilichen Konkordanz wird allerdings angenommen werden können, sind die regelmäßig dann eingeschlagen, wenn die Abgeordneten doch bestrebt, größere weil Beratungen in die Entscheidungsphase gewichtigere Koalitionen zu bilden, um münden. Denn dann kommt zum Tragen, dementsprechend geschlossen und über- dass das Parlament bei Abstimmungen im zeugend gegenüber dem Ministerrat auftre- Gesetzgebungsverfahren die Mehrheit aller ten zu können. Abgeordneten benötigt, um Änderungsan- Gerade aufgrund des Fehlens einer klar träge gegen den Ministerrat zu beschlie- hierarchisierten und parteipolitisierten Be- ßen. Keine der beiden großen Fraktionen ziehung zwischen Legislative und hieraus verfügt über eine entsprechende Mehrheit. mittelbar hervorgehender Exekutive ist das Und wollen oder können sie nicht als «große EP in der Lage, autonome Entscheidungs- Koalition» entscheiden, sind beide auf min- präferenzen auszubilden und diese in den destens drei weitere der kleinen Fraktionen Gesetzgebungsverfahren effektiv umzuset- angewiesen. zen. Der Preis dieser Stärke ist allerdings

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 51 Andreas Maurer

nicht zu unterschätzen. Denn die in Groß- Literatur koalitionen dokumentierte Macht des Par- Bowler, Shaun/Farell, David (1995): «The Organi- laments wird auch künftig kaum in die zing of the European Parliament, Committees, nationalen, in der Regel parteipolitisch ge- Spezialisation and Co-ordination», in: British spaltenen BürgerInnengesellschaften der Journal of Political Science, Vol. 25, Nr. 1, EU zu vermitteln sein. S. 219–243. Sollte sich die institutionell-politische Farrell, Henry/Adrienne Hèritier (2004): «Interorga- Ordnung der EU also stärker in Analogie nizational Cooperation and Intraorganizational zur Verfassungswirklichkeit der Mitglied- Power: Early Agreements under Codecision and staaten entwickeln? Oder wäre es nicht Their Impact on the Parliament and the Coun- sinnvoller und aufrichtiger, die Maßstäbe cil», in: Comparative Political Studies, Vol. 37, zur Bewertung und Reform des EU-Systems Nr. 10, S. 1184–1212. expliziter entlang seiner Realverfassung zu Judge, David/Earnshaw, David (2011): «Relais ac- definieren? Hierüber und nicht alleine über tors» and Codecision First Reading Agreements den Spitzenkandidaten für das Amt des in the European Parliament: The Case of the Kommissionspräsidenten sollten Parteien Advanced Therapies Regulation, in: European offen, vor allem laut und in Anerkennung Journal of Public Policy, Vol. 18, Nr. 1, S. 53–71. der Eigenarten des EU-Systems streiten. Lepsius, M. Rainer (1990): «Der europäische Natio- nalstaat: Erbe und Zukunft», in: Ders.: Interes- sen, Ideen und Institutionen, Opladen, West- deutscher Verlag, S. 266–267. Maurer, Andreas (2002): Parlamentarische Demo- kratie in der Europäischen Union. Der Beitrag des Europäischen Parlaments und der nationa- len Parlamente, Baden-Baden, Nomos. Maurer, Andreas (2012): Parlamente in der EU, Stutt- gart/Wien, UTB/Facultas. Nickel, Dietmar (2003): «Das Europäische Parlament als Legislativorgan – zum neuen institutionellen Design nach der Europäischen Verfassung», in: Integration, Vol. 26, Nr. 4, S. 501–509. Olsen, Johan P. (1996): Europeanisation and Nation- State Dynamics, ARENA Working Paper No. 3/1996, (Oslo). Rasmussen, Anne (2007): Early conclusion in the codecision legislative procedure, EUI Working Papers, Nr. MWP 2007/31, Florence.

52 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Werner Wobbe Demokratie versus Eurobürokratie – ein deutsches Trauma

Ein durchgängiger Topos von Kommenta- europäischer Politik thematisieren. So wer- toren deutscher Tageszeitungen zu europä- den Aspekte des Verwaltungshandelns an ischer Politik ist die «Diktatur der Bürokra- ausgesuchten Beispielen erläutert und mit ten» und deren «Regulierungswahn» oder deutschen Praktiken verglichen. Besonders «Regulierungswut». Wenn von «Brüssel» die aber soll der Topos der schikanierenden Bü- Rede ist, dann ist zumeist die Europäische rokratie thematisiert werden, weil er einen Kommission als bürokratisches Verwaltungs- spezifisch deutschen Hintergrund hat. monster gemeint. Sie wird als ein nicht- demokratisch legitimiertes Gebilde aufge- Die Klassiker des «absoluten Wahnsinns» fasst, das durch Verwaltungsanordnungen Immer wider tauchen begeisternde Bei- versucht, den europäischen Bürger zu schi- spiele des «praxisfernen Irrsinns der kanieren. Dieser Topos suggeriert gleich Eurobürokratie»2 auf. Prominente Beispie- mehrere Tatbestände: Zum einen, dass eu- le sind z. B. die Salatgurke, das Schleswig- ropäische Gesetzgebung nicht demokratisch Holsteinische Seilbahngesetz oder die In- legitimiert ist bzw. dass in Europa zumindest fragestellung des Reinheitsgebotes des ein Demokratiedefizit besteht und zum an- deutschen Bieres. Die Liste ließe sich mühe- deren dass in Brüssel sich eine verselbstän- los verlängern, denn mit nahezu jeder eu- digte Verwaltung anmaßt, das Leben des eu- ropäischen Verlautbarung taucht von einer ropäischen Bürgers zu reglementieren. Interessengruppe, die ihre traditionellen Wenn in den vielerlei Vermutungen nicht Rechte oder Vorteile unmittelbar verletzt nur eine generelle Ablehnung europäischer sieht, z. T. massive Kritik auf. Im Folgenden Regulierung zum Ausdruck kommt (weil z. B. sollen nur wenige Beispiele zur Erläuterung eines der vielfältigen eigenen Interessen der Problemlage dienen. negativ berührt wird), so gehen Aussagen von ansonsten intelligenten Kommentato- sung demokratisch legitimierter Herrschaft hat mit ren über europäische Regulierungen oft auf zunehmend komplexen sozialen Gebilden aus sehr Unverständnis oder gar Unwissen der euro- unterschiedlichen Akteuren (z. B. Individuen, Staa- päischen Regierungsform zurück. Der Bei- ten, zwischen-staatliche Organisationen, ökonomi- trag soll deshalb Legitimations- und Funk- sche Einheiten, NGO’s), zu tun und agiert mit In- strumenten (z. B. Gesetzen, Initiativen, Richtlinien, 1 tionsaspekte bzw. Governancemethoden sozialen und technischen Normen, offene Methode der Koordinierung) die sich von der lokalen bis zur 1 Europäische Rechtsetzung, Entscheidung, Verwal- globalen Ebene erstrecken. tung und die faktische Um- und Durchsetzung 2 Diese Begrifflichkeit findet sich nicht nur in Re- staatlicher Aktion ist überaus komplex. Deshalb gionalzeitungen oder Verbandsblättern, die die bevorzugen wir nicht einfach von parlamentarisch Interessen ihrer jeweiligen Klientel verletzt sehen, legitimierten Gesetzesakten im juristischen Sinne sondern auch in den großen überregionalen Tages- zu sprechen, sondern von europäischer Gover- zeitungen wie Süddeutsche Zeitung, oder selbst nance und ihren Methoden. Die heutige Verfas- Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 53 Werner Wobbe

1988 trat die Gurkenkrümmungsverord- wenn der Konsument bereit war, ihn zu zah- nung der Europäischen Union «Verordnung len. Nr. 1677/88 EWG» in Kraft. Sie regelte Ein anderes gern zitiertes Beispiel ist die u. a., dass Gurken der Handelsklasse «Extra» Seilbahn-Richtlinie. Sie verpflichtet die Küs- maximal eine Krümmung von zehn Millime- tenländer u. a. wie Schleswig-Holstein oder tern auf einer Länge von zehn Zentimetern Hansestädte wie Hamburg und Bremen ein aufweisen durften. 2009 wurde die Ver- entsprechendes Landesgesetz zur Sicherheit ordnung im Zuge der von Edmund Stoiber von Seilbahnen zu verabschieden. Die Richt- geleiteten Expertengruppe zur Entbürokra- linie wurde auf Druck des Ministerrates und tisierung wieder außer Kraft gesetzt. Initia- mit Unterstützung des EU-Parlaments nach tor der ursprünglichen Verordnung war der Seilbahnunglücken in Italien vorgebracht, Gemüsehandel, der die jeweils eigenen Re- um die Sicherheit von Touristen zu gewäh- gierungen drängte, im Rahmen der EU eine ren und um ihr Vertrauen in Lifte zu erhö- Regelung zur Erleichterung von Verpackung hen. Der deutsche Föderalismus erlaubte es und Transport von Gurken zu verabschieden. nun allerdings nicht, dass der In Folge der öffentlichen Kritik sah sich die die Richtlinie in nationales Recht umset- Kommission veranlasst, die Verordnung ab- zen konnte, weil die entsprechende Ange- zuschaffen. Allerdings führte das nicht zur legenheit nach Artikel 70 Grundgesetz in Einstellung der Kritik. Ironischerweise muss- die Kompetenz der Länder fällt. Die Länder te sich die dänische Agrarkommissarin so- bestanden in gewohnter Manier reflexartig wohl gegen den Widerstand des deutschen auf ihren Souveränitätsrechten mit dem ge- Landwirtschaftsministeriums durchsetzen nannten grotesken Ergebnis. als auch gegen die Beschimpfung des deut- Das Gegenteil der Regulierung ist de- schen Bauernverbandes. Letzterer sah seine ren Abschaffung oder die Deregulierung. aufwendige Gurkenhochleistungsproduk- Von der Deregulierung waren vor allem tion gefährdet und fürchtete Billigkonkur- Herstellungs- und Handelsmonopole betrof- renz minderer Standards. Schließlich gab fen und so merkten sie auch am lautesten es bereits fast zwei Jahrzehnte vor der eu- auf. Die Deregulierungsmaßnahmen traten ropäischen Verordnung eine eigenständige gehäuft in der Frühphase bei der Durchset- deutsche Regelung über gesetzliche Han- zung des europäischen Binnenmarktes auf. delsklassen bei Gemüsen. Auch ganz ohne Eine europäische Kampffront für Deutsch- EU-Verordnung gelten heute noch die Stan- land vor dem Europäischen Gerichtshof war dards für die Krümmung der Gurke im Han- die Verteidigung der eigenen Marktinteres- del. Konsumenten wähnten Europa schul- sen und Monopolstellungen. Prominentes- dig dafür, dass krumme Gurken nicht im tes Beispiel war der Streit um die Zulassung Großhandelsangebot auftauchten, obwohl von ausländischen Biersorten auf dem deut- auch die Gurkenverordnung niemals unter- schen Markt, die nicht dem deutschen Rein- sagte, krumme Gurken anzupflanzen und heitsgebot entsprachen. Deutsche Bierbrau- zu verkaufen. Auf jedem Biomarkt konnte er stemmten sich gegen die Konkurrenz jederzeit ein Produzent seine Ware verkau- «unreiner» Biere. Die Binnenmarktregeln fen oder an den Handel weiterleiten und erlauben Gesundheits- oder Sicherheitskri- schließlich den doppelten Preis verlangen, terien für nationale Einfuhrbeschränkun-

54 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Demokratie versus Eurobürokratie – ein deutsches Trauma gen oder -verbote. Das Reinheitsgebot war ternationale Diskussion über die Bestand- im Mittelalter als Regulierung etabliert teile der guten deutschen Wurst zu befürch- worden, um Bierpanschern das Handwerk ten gewesen wäre. zu untersagen, die verantwortlich waren Die Beispiele mögen verdeutlichen, für Magenverstimmung und Schlimmeres. dass bei europäischer Regulierung – ob in Vor dem Europäischen Gerichtshof konn- Gesetzgebungsakten3 von Richtlinien oder te Deutschland in diesem Fall nicht über- Verordnungen – Interessen zwischen Na- zeugen mit dem Argument, dass nur Bier tionalstaaten, Regionen, einzelnen Wirt- heimischer Hersteller die Volksgesundheit schaftsbranchen, Einzelunternehmen, privi- gewähre. Zu deutlich waren die Defizite legierten Akteuren, oder dem sog. Bürger gesundheitsüberprüfender Kontrollen der von einem europäischen Gesamtinteresse Grundbestandteile von Bier, bestehend aus tangiert werden. Auch gibt es Interessen- Hopfen, Wasser und gemälzter Gerste. Mit gegensätze von Betroffenen einer Regu- dem USA-Einfuhrverbot von Hallertauer lierung zwischen Gruppen untereinander Hopfen (aufgrund von 17-maliger Behand- wie zwischen Klein- und Großbauern, dem lung mit Pestiziden) mit Wasserbrunnen im Händlernetz, Zulieferern, Geschäften und Münchener Stadtgebiet, sowie mit dem An- Kunden wie im Fall der Gurke. Demokrati- bau von Gerste entlang der Autobahn la- sche Legitimation ist deshalb ein überaus gen die Schwachstellen der Gesundheitsge- komplexer Prozess, der durch Interessenge- fährdung auch in Deutschland offen. gensätze oder eingefleischte Traditionen Auch der Alkohol wäre zu diskutieren und Verflechtungen einen optimalen Kom- gewesen. Er hatte schon beim Einfuhrver- promiss durch den Gesetzgeber erschwert, bot des Johannisbeerliköres «Cassis de Di- um politisch gesetzte Ziele umzusetzen, wie jon» eine entscheidende Rolle gespielt. z. B. beim Umweltschutz oder zur Energie- Deutschland verweigerte die Einfuhr, weil effizienz. der französische Likör mit 15 Prozent Alko- holgehalt nicht der deutschen Qualitäts- 3 Zu den EU-Rechtakten siehe http://europa.eu/eu- vorgabe von 20 Prozent entsprach. Das Ur- law/decision-making/legal-acts/index_de.htm. teil des Europäischen Gerichtshofes, dass Rechtsakte innerhalb der EU werden durch Verord- der geringere Alkoholgehalt in Frankreich nungen, Richtlinien, Entscheidungen, Empfehlun- gen oder Stellungnahmen erwirkt. Verordnungen der dortigen Bevölkerung nicht zu Gesund- sind ein verbindlicher Rechtsakt, den alle EU-Län- heitsschäden gereicht hätte, konstituierte der in vollem Umfang umsetzen müssen. Richtlini- folgend die Grundlage der gegenseitigen en legen hingegen nur ein Ziel festgelegt, das alle Anerkennung von Waren im Binnenmarkt. EU-Länder verwirklichen müssen. Wie sie dies be- Als eine der letzten bäumten sich deutsche werkstelligen, können die einzelnen Länder selbst entscheiden. Entscheidungen werden vor allem bei Wursthersteller gegen europäische Konkur- Verstößen gegen geltendes Recht angewandt, wie renz auf mit der Forderung nach Aufrecht- bei der Verhängung einer Geldstrafe für den Soft- erhaltung von Einfuhrverboten für aus- waregiganten Microsoft wegen Missbrauchs seiner ländische Wurstwaren. Deutschland war beherrschenden Marktposition im Bereich des Wettbewerbs im Binnenmarkt. Eine Empfehlung allerdings von ministerieller Seite nicht wei- hingegen ist nicht verbindlich ebenso wie eine ter interessiert dem Luxemburger Urteil zu Stellungnahme. Beide geben eine Orientierung für widersprechen, weil sonst eine breitere in- gutes Verhalten im europäischen Kontext.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 55 Werner Wobbe

Wütende Kommentare werden oft aus Bürokratie als Schreckgespenst des deutschen einer Position der Verletzung von Partiku- Bürgertums larinteressen geschrieben: So ist die Deut- In keinem anderen Land in Europa wird der sche Handwerkszeitung gegen die Einfüh- Bürokratievorwurf so beständig verwendet rung von Tachographen für 2,8–3,5 Tonner wie in deutschen Tageszeitungen. Es ist zu oder die Ärztezeitung gegen klinische Arz- vermuten, dass dieser Vorwurf in einem his- neitests, die Chemische Industrie gegen die torisch unbewussten Reflex bzw. Trauma des transparente Registrierung von chemischen deutschen liberalen Bürgertums begründet Stoffen, etc. Diese Stimmen sind umso lau- ist. Die Gedankenfigur, dass eine bürokrati- ter im nationalen Rahmen, wenn herkömm- sche Herrschaft die unternehmerischen Kräf- liche Privilegien verletzt werden. te des Bürgertums ersticken könne, taucht Je größer die Politikeinheiten sind umso erstmals beim liberalen Sozialwissenschaftler komplizierter erweist sich das Regierungs- Max Weber auf, der seit Anfang des letzten handeln. Als Beispiel mögen die deutschen Jahrhunderts Generationen von Studenten Länder in der Auseinandersetzung mit dem geprägt hat. Er schlägt damit einen Topos Bund dienen. Dabei haben wir die kommu- über die Bürokratie als Gegner sowohl frei- nale Ebene noch gar nicht einbezogen, die heitlicher Wirtschaftstätigkeit als auch demo- sowohl um die Einschränkung ihres politi- kratischer Bestrebungen an. Er thematisiert schen Aktionsspielraumes durch höhere eine Beamtenherrschaft mit ihrer Regulie- oder europäische Instanzen fürchtet – wie rungskraft, die das ökonomisch potente Bür- am Beispiel der Wasserrichtlinie zu sehen gertum behindert und somit die wirtschaftli- ist – als auch um die Pfründe der Posten che Vitalität eines Landes erstickt. in kommunalen Unternehmen oder (wie Dieser besonders deutsche Topos nähr- bei den europäischen Strukturfonds) gele- te sich aus den Erfahrungen des Bürgertums gentlich um die freihändige Vergabe von im Deutschen Reich, das bis zum 1. Welt- Infrastrukturaufträgen an befreundete Un- krieg keine passable Herrschaft für ihre Inte- ternehmer. ressen erringen konnte. Es war eingeklemmt Unglücklich für die Angelegenheiten zwischen den alten Klassen des Adels und Europas ist, wenn die Verlautbarungen seiner Abkömmlinge im Staatsapparat, der oft unterschiedlichen Interessen und dem Militär der Kaiserzeit und zwischen der die Abwägung für das Gemeingut durch aufstrebenden Arbeiterschaft – politisch re- öffentliche Medien nicht hinreichend kom- präsentiert durch die Sozialdemokratie. Das mentiert werden – wenn die Medien die liberale Bürgertum kannte schließlich den Sachlage und die Hintergründe für die Ent- autoritären deutschen Staat und befürch- scheidung parteilich einseitig oder verfäl- tete von den Sozialismusvorstellungen der schend darstellen und keine Debatte zur Sozialdemokraten noch Schlimmeres, denn Vorgeschichte, Motiven, Interessenlagen die sozialdemokratischen Vorstellungen wa- und Gesamtinteresse geführt wird. ren auf der politischen Ebene nicht auf eine Vollparlamentarisierung festgelegt, wie es sich das Bürgertum wünschte. Erst im frei- en Spiel der Kräfte im Parlament sah We-

56 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Demokratie versus Eurobürokratie – ein deutsches Trauma ber die entsprechende politische Führungs- Bürokratie oder Demokratie auslese für charismatische Persönlichkeiten, Der Vorwurf der unkontrollierten europä- die eine wachsende Verwaltung leiten und ischen Bürokratie erstreckt sich vor allem kontrollieren und sie damit zum Erfüllungs- auf die Europäische Kommission und we- gehilfen der Demokratie machen würde. niger auf die vielfältigen Entscheidungs- Auch im Bereich der Wirtschaft waren prozesse der gesamten europäischen Ins- liberale Ängste vorhanden, denn die Vor- titutionen. Die Kommission ist aber keine stellungen der Sozialdemokratie, wie die autonom agierende Institution, sondern sie der Chefideologen Kautsky und Bebel, wa- ist Teil der europäischen Entscheidungsme- ren nicht ausgegoren. Der große «Kladdera- chanismen. Insofern sie exekutive Funktio- datsch», wie Bebel den Zusammenbruch des nen ausfüllt ist sie mit nationalem Regie- Kapitalismus als System erwartete, sollte rungshandeln vergleichbar. Allerdings ist im systematischen Aufbau des Sozialismus die Kommission mit der zusätzlichen Auf- münden. Rudimentäre Ideen über die Wirt- gabe einer Hüterin der EU-Verträge be- schaftsverfassung im Sozialismus konnten traut und so kommt ihr die Beobachtung nur auf eine bürokratische Wirtschafts- und der ordnungsgemäßen Durchführung des Produktionsverwaltung hinauslaufen, an- EU-Rechts zu. Sie beobachtet, ob die Mit- statt auf das freie Spiel der Kräfte in den gliedstaaten das EU-Recht entsprechend Märkten zu setzen, getragen durch freie Un- der Verträge in Landesrecht umsetzen. Sie ternehmer und Unternehmensentscheidun- stört somit nationale Regierungen, wenn gen. Eine noch so gut funktionierende Ver- die Rechtumsetzung unpopulär ist. waltung oder Bürokratie, die sich nicht nur Die Kompetenzen der EU, überwacht auf das Rechtswesen und die Verwaltung im durch die EU Kommission, erstrecken sich Allgemeinen sondern nun auch noch auf die auf eine große Breite von Politikfeldern. Die Wirtschaft erstreckte, würde die produktiven Kompetenzen der EU reichen von der tra- Kräfte eines Landes lähmen und schließlich ditionellen Landwirtschaftspolitik, über die ersticken. Im Hinblick auf Wirtschaftsange- Handelspolitik bis zur Wettbewerbspolitik. legenheiten waren letztlich diese Ängste In diesen Politikfeldern besitzt die EU die nicht unberechtigt sondern im Gegenteil Oberkompetenz. Weitere Politikfelder sind eher weitsichtig, wie die Wirtschaftsverwal- geteilte Kompetenzen mit den Mitglied- tung des Ostblocks gezeigt hat. staaten wie im Bereich der Umwelt, Ener- Interessant ist, dass diese Furcht von gie, Innovation und Forschung. Eine hohe Liberalen auf eine andere Ebene – auf die Bedeutung hat der Binnenmarkt bekom- europäische Ebene gehoben wurde, wo nun men in dessen Bereichen sich die in der Öf- die Europäische Kommission als Bürokra- fentlichkeit strittigen Fragen abspielen. Es tie identifiziert wird, die mit dem «Krüm- sind die vier Freiheiten im Binnenmarkt von mungsgrad der Gurke» und vergleichbare Personen, Kapital, Arbeit und Dienstleis- Gesetzgebungs- und Verwaltungsakte in tungen zu nennen. Die Regeln des gemein- das Marktgeschehen eingreift und mit ihrer samen Binnenmarktes üben hohen Druck «Regelungswut» Wirtschaftsaktivität behin- auf traditionelle Wirtschafts- und Industrie- dert. strukturen aus, sowie auf die Sozial- und Ar-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 57 Werner Wobbe beitssysteme und vor allem wenig beachtet: tungsbeiwerk war, hat es in zwei Jahrzehn- sie favorisieren den Verbraucher. ten durch die neuen europäischen Verträge Die Europäische Union ist ein Gebilde, einen rasanten Machtzuwachs erlebt. Die das aus einer Mischung – je nach Politik- Einheitliche Europäische Akte (1987) trug feld – aus transnationaler und vielen natio- wesentlich zur festen Etablierung bei, um nalen Souveränitäten besteht. Es ist mit ei- dann in den schnell folgenden Verträgen ner einfachen Denkstruktur vom einzelnen von Maastricht 1982, Amsterdam 1997, Bürger der sein Anliegen in einer demokrati- Nizza 2001 und Lissabon 2007 ausgebaut schen Wahlstruktur durchsetzen kann, nicht zu werden, um schließlich im Mitentschei- zu erfassen. Die Entscheidungsmechanis- dungsverfahren als machtvoller Spieler im men auf europäischer Ebene sind deshalb Institutionengefüge angesehen zu werden. auf eine Ausbalancierung der Großinteresse- In der Frühzeit der Europäischen Gemein- anlagen abgestimmt. Nicht umsonst wur- schaft hatte die Kommission das alleinige de mit dem Initiativrecht der Europäischen Initiativrecht für Gesetzesvorschläge, die Kommission eine Vertretungsinstitution dann aber nur vom Ministerrat beschlossen für die Gesamtinteressen Europas instal- werden konnten. Heute ist das Parlament liert, der sowohl das Initiativrecht zugebil- zwar noch ohne Initiativrecht, jedoch ist es ligt wurde, als auch die Aufgabe zufiel, die zum mächtigen Mitentscheider aufgestie- beschlossenen Regelungen zu überwachen. gen. Es kann in vielen Politikbereichen so- Über die Vorlagen der Kommission aller- gar mit der Kommission gegen den Minis- dings beschließt der Rat als Interessenver- terrat Entscheidungen durchsetzen, wenn treter der einzelnen Mitgliedstaaten und dieser durch zu widerstrebende nationale das europäische Parlament als Ausdruck Einzelinteressen blockiert ist. des Willens der europäischen Bürger – auch Die Nationalstaaten versuchen ihre wenn diese im Parlament trotz der transna- Eigeninteressen gelegentlich zuunguns- tionalen Parteienfamilien sich noch stark ten anderer Mitgliedstaaten zu bewahren nach nationalen Gesichtspunkten organi- oder durchzusetzen. Ein typisches Beispiel sieren. Das sogenannte Kodezisionsverfah- hierfür ist das Steuerrecht. Nicht nur die ren ist Teil des Austarierens der Interessen- Schweizer, sondern auch Luxemburgs und lagen in Europa. Zwar ist das europäische Österreichs Banken haben sich durch nied- Parlament noch nicht zum Hauptakteur der rige privatrechtliche Steuersätze auf Kosten Gesetzgebung geworden, aber es hat im anderer Staaten gütlich getan. Irland und Laufe der Zeit zunehmend an Einfluss ge- einige osteuropäische Staaten betreiben wonnen und wir sehen, dass mit dem Ver- Steuerdumping im Bereich der Unterneh- fahren der Spitzenkandidaturen der euro- menssteuern gegenüber den größeren Mit- päischen Parteienfamilien sich eine neue gliedstaaten. Etappe andeutet, bei dem der Sieger der Zweifellos ist es an der Zeit, dass das Europawahl nach dem Amt des Kommissi- Europäische Parlament ein Initiativrecht für onspräsidenten strebt. Gesetze erhält und ihm nicht nur ein Miten- Während das Europäische Parlament tscheidungsrecht vorbehalten ist. Insofern von den Römischen Verträgen von 1957 bis ist Kritik an einer mangelnden Demokrati- Ende der 1980er-Jahre ein förmliches Bera- sierung in Europa berechtigt. An einer man-

58 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Demokratie versus Eurobürokratie – ein deutsches Trauma gelnden Kontrolle der Kommission fehlt es Die sanfte Macht des umfassenden Wissens allerdings kaum, da sie wie kaum eine an- in der Kommission dere Institution kritisch von den anderen Auf EU-Ebene lassen sich insgesamt drei Institutionen und der Öffentlichkeit beäugt Governanceformen identifizieren: Die klassi- wird. Die vielfältigen Interessenkonstellati- sche «Gemeinschaftsmethode», nach der die onen und Konfliktebenen auf europäischer Kommission einen Gesetzgebungsvorschlag Ebene liegen in nationalen, wirtschaftli- unterbreitet (Inzwischen auch oft initiiert chen, sozialen und kulturellen Interessen auf der Beschlussvorlage der Staats- und von Regionen begründet, die durch eine Regierungschefs), die «intergouvernemen- europäische Vollparlamentarisierung nicht tale Methode», bei der die Kommission nur aufgelöst werden. Mehrheitsentscheidun- unterstützend für zwischenstaatliche Zu- gen bedeuten natürlich auch die Unter- sammenarbeit agiert und seit diesem Jahr- drückung von Minderheitsinteressen. Das tausend die «offene Methode der Koordi- mehrheitliche europäische Interesse muss nierung (OMK)». In der Öffentlichkeit wird sich gegen die nationale Minderheitsinte- diese Methode am wenigsten beachtet. ressen durchsetzen. Die Verfassungsväter Die OMK wurde in den 1990er-Jahren Europas hatten sich deshalb dafür entschie- erstmals bei der europäischen Beschäfti- den, dass die Europäische Kommission die- gungsstrategie ausprobiert und schließlich se europäischen Interessen den Mitglied- im Vertrag von Lissabon verankert. Instru- staaten der Gemeinschaft zu Entscheidung mente der OMK sind Empfehlungen und vorlegen sollte. Mit dem Vertrag von Lissa- Leitlinien der Kommission an die Mitglied- bon (der am 1. Dezember 2009 in Kraft staaten. Dabei wird mit Benchmarks, ge- trat) hat sich das Machtgefüge zwischen genseitigem Lernen von fortgeschrittenen den Institutionen verschoben. Zwar ist der Praktiken innerhalb Regierungen, Leitlinie- Kommission ein Initiativrecht verblieben, je- nentwicklung und statistischen Vergleichen doch die Staats- und Regierungsoberhäup- gearbeitet. Bei dieser Form der Zusammen- ter bestimmen nun wesentlich auf dem Eu- arbeit aller Mitgliedstaaten legt die Kom- ropäischen Rat (nicht zu verwechseln mit mission punktuelle Berichte vor und gibt dem Ministerrat) die Richtlinien der Politik Empfehlungen ab. und sie können die Kommission mit Geset- Das Weißbuch der Europäischen Kom- zesinitiativen beauftragen. Im Ergebnis ist mission zu Governance der EU definiert die Kommission zu einer Exekutive mutiert, die OMK folgendermaßen: «Die offene Ko- die ihre Weisungen zwar nicht aus dem Par- ordinierungsmethode wird fallweise ange- lament so jedoch von den europäischen wandt. Sie fördert die Zusammenarbeit, den Staats- und Regierungschefs erhält. Aller- Austausch, bewährte Verfahren sowie die dings ist das Parlament in den überwiegen- Vereinbarung gemeinsamer Ziele und Leit- den Politikfeldern in eine Mitentscheidung linien von Mitgliedstaaten, die manchmal des Gesetzgebungsverfahrens eingebunden wie im Falle der Beschäftigung und der sozi- und gewinnt so zunehmend größeres Ge- alen Ausgrenzung durch Aktionspläne von wicht (Halling). Mitgliedstaaten unterstützt werden. Diese Methode beruht auf einer regelmäßigen Überwachung der bei der Verwirklichung

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 59 Werner Wobbe dieser Ziele erreichten Fortschritte und bie- me) für Reformen und Maßnahmen zur Erzie- tet den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, lung eines intelligenten, nachhaltigen und ihre Anstrengungen zu vergleichen und aus integrativen Wachstums in Bereichen wie den Erfahrungen der Anderen zu lernen».4 Beschäftigung, Forschung, Innovation, Ener- Die OMK wird in den Politikbereichen gie und soziale Eingliederung (nationale der Europäischen Sozialagenda, bei Prakti- Reformprogramme). Diese Berichte werden ken des Regierungshandelns in den Berei- dann von der Kommission bewertet. Wäh- chen, Erziehung und Ausbildung, Unterneh- rend im Frühjahr der Europäische Rat auf menspolitiken, Forschung und Innovation, der Grundlage des jährlichen Wachstumsbe- Sozialintegration, Umwelt-, Gesundheits-, richts Bilanz zieht zur makroökonomischen Migrations-, und Jugendpolitik angewandt Gesamtlage und den erzielten Fortschritten ebenso wie im Tourismussektor und bei Pen- auf dem Weg zu den EU-Kernzielen, geneh- sionsangelegenheiten. migt er im Sommer offiziell die länderspezifi- Eine herausgehobene Bedeutung er- schen Empfehlungen der Kommission. fährt diese Governanceform im sogenann- Die Form gemeinsamen Regierens ten «Europäischen Semester», das in der (Governance) sieht eine enge Konsultati- Folge der Wirtschaftskrise mit dem «Europa on mit dem Europäischen Parlament und 2020» Programm5 der zweiten Barroso-Kom- anderen beratenden Einrichtungen der EU mission beschlossen wurde. Dabei haben (Ausschuss der Regionen und Europäischer sich die EU Mitgliedsstaaten auf nationa- Wirtschafts- und Sozialausschuss) vor unter le Ziele für wachstumsfördernde Strategien umfassender Einbeziehung der nationalen geeinigt und die Kommission zur Beobach- Parlamente, der Sozialpartner, der Regio- tung und Kommentierung ihrer individuel- nen und anderer Akteure, damit die nötigen len Anstrengungen aufgefordert. So hat die Maßnahmen von einer breiten Mehrheit ge- Kommission einen jährlichen Zyklus für die tragen werden. Interessanterweise sind die- Koordinierung der Wirtschaftspolitik einge- se aufwendigen Konsultationen und Be- richtet, wobei sie eine eingehende Analyse ratungen in der breiten Öffentlichkeit der der Wirtschafts- und Strukturreformprogram- Mitgliedstaaten wenig bekannt. me der EU-Länder vornimmt und individu- elle Empfehlungen für die nächsten 12 bis Deutsche Normensetzung und europäische 18 Monate abgibt. Im jährlich wiederkehren- Standardisierung den Rhythmus der Zusammenarbeit legen Eines der großen Missverständnisse in Be- die Mitgliedsstaaten zuerst umfangreiche zug auf die europäische Regierungsform ist, Berichte vor. So für die Haushaltskonsolidie- dass die Europäische Kommission in immer rung (Stabilitäts- oder Konvergenzprogram- größerem Umfang neue Gesetze, Vorschrif- ten oder Erlasse tätigen würde. Faktisch hat die Kommission in den letzten Jahren die 4 Europäische Kommission, Europäisches Regieren – Anzahl der Richtlinien und Verordnungen ein Weißbuch 2001, S. 28 (PDF; 215 kB). reduziert6. Aber schon mit der Einführung 5 Europäische Kommission, 2010: Mitteilung der Kommission, EUROPA 2020 – Eine Strategie für des einheitlichen europäischen Binnen- intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachs- tum, Brüssel, KOM (2010) 2020 endgültig. 6 Europäische Kommission: Tätigkeitsbericht 2013.

60 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Demokratie versus Eurobürokratie – ein deutsches Trauma marktes hat sich die Kommission aus Be- Man mag sich dennoch die Schwierig- strebungen zur Vereinheitlichung durch Ein- keiten und Interessenkonflikte besonders zelgesetzgebung zurückgezogen. Selbst bei in der Frühzeit der europäischen Normung den seinerzeit 12 Mitgliedstaaten wäre sie vorstellen, als traditionelle nationale Pro- überfordert und der Arbeitsanfall unüber- dukte umgestellt und verändert werden schaubar geworden – ganz zu schweigen sollten. Jeder Hersteller versucht natürlich von den heute 28 Mitgliedstaaten. 1985 sein Produkt und seine Spezifikationen als wurde die sog. «Neue Konzeption» beschlos- Standard durchzusetzen und kämpft mit al- sen, die vorsieht, dass die technische Aus- len Mittel darum. So ist es bis heute nicht gestaltung europäischer Richtlinien bei den gelungen einen einheitlichen europäischen europäischen Normungsorganisationen lie- Elektrostecker zu entwickeln. Die gegenwär- gen solle. Die notwendige technische Spe- tige Auseinandersetzung dreht sich nun um zifikation von Richtlinien hatte zuvor z. T. die Vereinheitlichung der Stecker und An- mehrere Jahre gedauert, unter Einbezie- schlussbuchsen von Handyaufladegeräten hung und Konsultation einer Vielzahl unter- oder aber um den sog. Typ-2-Stecker zum schiedlicher nationaler Experten. Stromtanken von Elektroautos. Auch der Die EU hat sich schließlich ein deut- Stecker und die Ladeinfrastruktur für Elek- sches Prinzip zu Eigen gemacht, dass in troautomobile drohte an den Interessen den 1920er-Jahren als «industrielle Gemein- nationaler Hersteller zu scheitern, was eine schaftsarbeit» entwickelt wurde: die freiwil- grenzüberschreitenden Immobilität der lige Kooperation der betroffenen Indust- Fahrzeuge zur Folge gehabt hätte. rie, die seinerzeit Institutionen wie DNA/ Normen und Standards existieren nicht DIN, RKW oder REFA gründete. Heutzuta- nur als technische Spezifikationen, also als ge werden Standards oder Normen (z. B. Produktnorm, sondern auch als Terminolo- DIN A4 für die Abmessungen des Blattes gienorm, Prüfnorm, Grundnorm, Verfahrens- von Schreibmaschinenpapier und Aktenord- norm, Dienstleistungsnorm, Schnittstellen- nern) im europäischen Ausschuss für Nor- norm, Deklarationsnorm, Fachbereichsnorm mung (CEN), dem europäischen Ausschuss und Werknorm. Das Deutsche Institut für für elektrotechnische Normen (CENELEC) Normung DIN8 führte im Jahr 2012 über und dem europäischen Institut für Telekom- 33150 Normen ein und jährlich kommen munikationsstandards (ETSI) entwickelt, bei etwas 2000 neue hinzu. Inzwischen sind denen alle europäischen nationalen Nor- die überwiegende Zahl europäischen Nor- menausschüsse mitwirken7. Eine Norm gilt, men – mit EN oder DIN EN gekennzeichnet. wenn alle nationalen Institutionen zustim- Nur noch 15 Prozent der Normen sind deut- men. Diese europäische Norm muss dann sche nationale Normen. Anzumerken ist, die jeweilige nationale Norm ablösen. Aller- dass dennoch allein in Deutschland 26.000 dings haben diese gemeinsam entwickelten Menschen mit der Normungserarbeitung be- Normen und Standards keine Gesetzeskraft schäftigt sind, was in etwa dem in Brüssel sondern nur Empfehlungscharakter.

8 http://www.din.de/cmd?level=tpl-bereich&menui 7 http://www.cencenelec.eu/Pages/default.aspx. d=47388&languageid=de&cmsareaid=47388.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 61 Werner Wobbe ansässigen Stab der Kommissionmitarbeiter Legitimation vor dem Hintergrund eines entspricht. langwierigen Ausgleichs der Großinteres- Die EU greift in ihrer Gesetzgebung, ge- senlagen von Mitgliedstaaten und von ge- nauso wie der deutsche Gesetzgeber, gele- sellschaftlichen Gruppen ringen. gentlich auf Normungsarbeit zurück. Damit Die Gemeinschaftsmethode, die Geset- setzt sie zentrale politische Aufgaben wie zesakte verabschiedet, und die intergou- z. B. im Bereich Umwelt- und Klimaschutz, vernementale Methode, eine lockere zwi- der Energieeinsparung, der Hygiene-, Sani- schenstaatlichen Zusammenarbeit, sind die tär- oder öffentlichen Gesundheit, Normen beiden wichtigsten Beschlussformen der Eu- mit Empfehlungscharakter in verbindliche ropäischen Union. Jedoch hat die Soft-Pow- Vorschriften um. Die schrittweise Senkung er-Methode OMK eine unbeachtete prägen- der Schadstoffemissionen durch Normen de Wirkung erreicht, die dem europäischen für den Gehalt von Blei, Schwefel oder an- Dialog gegenseitiger Verständigung in vie- deren Schadstoffen in Treibstoffen ist ein len Politikbereichen dient und besonders gutes Beispiel oder der Partikelausstoß von die Konsensbildung in der Wirtschafts- und Automobilen. Inzwischen sind wir über die Sozialpolitik fördert. Jahre bei der Schadstoffeinstufung auf der Es besteht auch eine Konfusion zwi- verschärften Stufe 6 (EU6) und der Smog schen Gesetzgebungsakten und Europäi- in Großstädten in Europa oder der Verfall scher Normung. Technische Regulierung ist von Kulturdenkmälern durch schwefelhalti- in die freiwillige industrielle europäische ge Luft ist deutlich reduziert, im krassen Ge- Zusammenarbeit gelegt, als deren Vorbild gensatz zu der Situation in den Städten der Deutschland mit der längsten und ela- aufstrebenden Schwellenländer oder den boriertesten Tradition in Europa gilt. Erst lebensfeindlichen Bedingungen in chinesi- wenn der Gesetzgeber sich auf diese Nor- schen Großstädten. mungsarbeit mit einer Verordnung oder Richtlinie stützt, wird sie von einem Emp- Schlussbemerkung fehlungscharakter in eine verbindliche Vor- Die Europäische Union ist also ein Gebilde, gabe gehoben. das aus einer Mischung – je nach Politik- Sieht man von einer sinnvollen Überprü- feld – von transnationalen und nationalen fung von Gesetzen, Verordnungen oder Re- Souveränitäten besteht. Die Gemeinschafts- gulierung ab – die zuerst in Brüssel durch methode führt zu einer Machtbalance im den Bürokratieabbauer Edmund Stoiber Entscheidungsverfahren zwischen den Ge- berühmt und schließlich auch in der deut- meinschaftsinteressen Europas und den schen Ministerialbürokratie eingeführt wur- Mitgliedstaaten durch die Institutionen Eu- de – dann ist der Aufstand in der deutschen ropäische Kommission, Europäischer Rat/ Öffentlichkeit über die sog. Regulierungs- Ministerrat und Europäisches Parlament, wut der Eurokraten vor allem auf Fälle von die in wechselnden Konstellationen letzt- traditioneller Interessenverletzung zurück- lich zu Entscheidungen führen. Der Beitrag zuführen. Diese Verletzung mag überaus hat versucht deutlich zu machen, dass EU- vielfältige Bereiche betreffen, die von der Institutionen mit unterschiedlichen Gover- Deprivilegierung einzelner Gruppen bis zur nancemethoden um höhere demokratische Anrührung gewohnter Traditionen reichen.

62 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Demokratie versus Eurobürokratie – ein deutsches Trauma

Unglücklich ist der Umstand, dass der Öf- fentlichkeit der Kontext der Regulierung nicht unterbreitet und erläutert und somit auch nicht diskutiert wird. Ein transparen- Literatur tes und gut funktionierendes Verwaltungs- DIN, 2004:Die Deutsche Normungsstrategie, handeln ist ein hohes Gut für die europäi- http://www.din.de/sixcms_upload/me- sche Integration und sollte davor geschützt dia/2896/DNS_deutsch.28337.pdf. werden, durch die Angriffe einseitiger Grup- De La Rosa, Sybille /Höppner, Ulrike/Kötter, peninteressen beschädigt zu werden. Eine Matthias (Hrsg.), 2008: Transdisziplinäre umfassendere Aufklärung wäre hierfür Governanceforschung. Gemeinsam hinter den dienlich. Staat blicken, Baden-Baden, Nomos. Die Europäische Kommission ist eine Europäische Kommission, 2001: Europäisches Institution, die um Transparenz bemüht ist Regieren – ein Weißbuch. Brüssel/Luxemburg. und wohl das weltweit größte Gremium, Europäische Kommission, 2014: Gesamtbericht das für jede Gesetzesinitiative oder Regu- über die Tätigkeit der Europäischen Union lierung nicht nur eine sozio-ökonomische 2013, Luxemburg. und umweltpolitische Bewertung des Vor- Halling, Bend: Die Parlamentarische Revolution in habens für die Entscheider vorlegt, sondern der europäischen Union: Ein Rückblick, in: auch die sog. Stakeholder in einem Umfang Rudolph, Karsten/Wobbe, Werner (Hrsg.), konsultiert und anhört, wie es keine andere 2014: Eurobrüssel von Innen, Einsichten und Institution in diesem Umfang macht. Aussichten, Bochum/Freiburg. Den unbewussten deutschen Topos der Weber, Max, 1922: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Bürokratiekrake als Lebensgefühl liberaler rev. Auflage 1972, Tübingen, J .C.B. Mohr. deutscher Bürger hat eine Geschichte, die Weber, Max, 1958: Gesammelte politische Schriften, es Wert ist, ins Bewusstsein gehoben zu Tübingen, J .C.B. Mohr. werden, damit ein Reflex kontrolliert wer- den kann, dessen historischer Kontext nicht mehr gegeben ist. Der Europawahlkampf könnte dazu die- nen, stärker auf eine Vollparlamentarisie- rung der europäischen Entscheidungen zu drängen, d. h. dass das Europaparlament Gesetzesinitiativrechte erhält. Dabei ist an- zumerken, dass das Parlament sich zuneh- mend größere Rechte zu Eigen gemacht hat – auch wenn ihr diese durch die Euro- päischen Verträge nicht garantiert waren. So wird das EU-Parlament fortfahren, auch ohne neue europäische Verträge, sich wei- tere parlamentarische Rechte und Kompe- tenzen als Gewohnheitsrechte zu erstreiten.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 63 Klaus Faber EU-Perspektiven Auch in 50 Jahren kein demokratischer Bundesstaat?

Spätestens seit dem Scheitern des europä- nicht zureichend beschrieben, sondern ver- ischen Verfassungsprojekts in den Referen- harmlost würden, können ebenso wie (an- den in Frankreich und in den Niederlanden dere) anti-europäische und sonstige «iden- von 2005 gehören Auseinandersetzungen titäre» Parteiformationen den Sprung ins über die innere EU-Konstruktion und über EU-Parlament schaffen. Das gilt auch für die langfristige EU-Entwicklung nicht mehr die deutsche AfD. Ihr Parlamentseinzug war zu den großen Themen der deutschen poli- bereits vor der Entscheidung des Bundes- tischen Debatte. Das gilt auch für die Dis- verfassungsgerichts, die 3-Prozent-Hürde kussion über den am 1. Dezember 2009 in für das EU-Parlament aufzuheben, nahezu Kraft getretenen Vertrag von Lissabon, dem sicher. Jetzt wird wohl auch die NPD im EU- Nachfolgevertrag zum gescheiterten Verfas- Parlament vertreten sein. Die Begründung sungsvertrag, der wesentliche Teile dieses der erwähnten Gerichtsentscheidung und gescheiterten Vertrags aufgenommen hat- diese Entscheidung selbst haben nicht je- te. Vor den Wahlen zum Europaparlament dermann erfreut. Maßgeblich für das Votum 2014 beherrschten eher EU-kritische The- des Bundesverfassungsgerichts war u. a. men das Feld. Die wirtschaftspolitischen das Argument, die Befugnisse des EU-Par- Kompetenzen der Europäischen Zentral- laments und damit die Bedeutung der EU- bank EZB stehen in der Diskussion, ebenso Wahl seien (noch) nicht bedeutend genug, die Zuständigkeiten der EU- und der deut- um eine Einschränkung der Gleichgewich- schen Verfassungsgerichtsbarkeit. Das gilt tung aller Stimmen durch eine 3-Prozent- in gleicher Weise für die häufig zitierten Fäl- Hürde zur Sicherung der Funktionsfähigkeit le, die eine Brüsseler Neigung zu Detailre- des Parlaments zu rechtfertigen. gelungen belegen sollen, aber nicht selten Ein neues Element bilden 2014 die Per- eher auf den Lobby-Einfluss nationaler Re- sonalkandidaturen von Martin Schulz und gierungen und Interessengruppen zurück- Jean-Claude Juncker als Bewerber für die gehen. In diesen Zusammenhang gehören Präsidentschaft der EU-Kommission. Diese Vorwürfe zur tatsächlichen oder angebli- Kandidaturen ändern freilich nichts daran, chen EU-Geldverschwendung sowie das all- dass am Ende «unter Berücksichtigung» der gemeine Euro-Unbehagen. Wahlergebnisse der Europäische Rat, gebil- Die Aussichten für die Europawahlen det aus den 28 EU-Regierungen, über die sind durch negative Aspekte getrübt. Es ist Wahl eines neuen Kommissionspräsiden- nicht sicher, dass wir eine wesentlich höhe- ten befinden wird. Vielleicht wird keiner re Wahlbeteiligung haben werden als bei der beiden Kandidaten das Amt erhalten. der letzten Wahl. Offen Rechtsradikale, die Sie kommen aber unter Umständen für an- mit der Qualifikation «Rechtspopulisten» dere EU-Ämter in Betracht, für die Ämter

64 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 EU-Perspektiven des EU-Außenkommissars (Schulz?) und ein unumkehrbar zusammenwachsendes des EU-Ratspräsidenten (Juncker?). Der mit Institutionen- und Vertragsgefüge werde der Wahlkandidatur verbundene und viel in absehbarer Zeit zu einem demokrati- gepriesene Demokratiefortschritt hält sich schen europäischen Bundesstaat im west- also, so kritische Stimmen, in Grenzen. lichen, durch die militärische US-Präsenz Nach wie vor gibt es in der EU-Struktur gesicherten Europa führen. Diese Einschät- erhebliche Demokratiedefizite. Die Exekuti- zung blieb auch dann vorherrschend, als die ve – die EU-Kommission – wird nicht vom Europäische Verteidigungsgemeinschaft Parlament gewählt. Das Parlament ist nicht (EVG) von 1952, an der sich Frankreich, der entscheidende Faktor in der Gesetzge- Westdeutschland, die Benelux-Staaten und bung. Im Parlament gibt es große Unter- Italien beteiligen und dabei ihre Streitkräf- schiede in der Stimmgewichtung der Wäh- te zu einer europäischen Armee vereinigen ler aus den einzelnen Nationen. Die Stimme wollten, in der französischen Nationalver- eines Maltesers ist z. B. in der Gewichtung sammlung 1954 gescheitert war. Die Na- aufgrund der nationalen Schlüsselzuwei- tionalversammlung hatte die Zustimmung sung für die Anteile am EU-Parlament sehr zu dem entsprechenden Vertragswerk ver- viel mehr wert als diejenige eines Franzosen weigert. Alle diese Initiativen, zu denen oder eines Deutschen. Auf Gebieten, die für später auf dem wirtschaftlich-technologi- die europäische Integration wichtig sind, schem Kooperationsgebiet auch die Römi- hat die EU zum Teil sehr geringe oder gar schen Verträge von 1957 gehörten, hatten keine Kompetenzen, obwohl sie sich in der am Ende eine politische europäische Union Außenvertretung, mit Hymne, Fahne und zum Ziel. Auch die nach dem Scheitern der einem eigenen auswärtigen Dienst, manch- EVG für das Kooperations- und Integrations- mal so geriert, als ob sie bereits heute ein werk 1957 gewählte Bezeichnung – «Euro- europäischer Bundesstaat mit den dafür zu päische Gemeinschaften» (in denen mehre- erwartenden Zuständigkeiten wäre. Die EU re Vertragsteile zusammengefasst wurden: verfügt über keine eigenen Verteidigungs- u. a. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, oder Sicherheitskräfte. Wohl aber hat sie EWG, Euratom) – ließ dies erkennen. In der zwei Mitgliedsländer, die über Atomwaffen Publizistik und im öffentlichen politischen verfügen und in der Außenpolitik, auch bei Diskurs der sechs Gründerstaaten, die auch militärischen Konflikten, durchaus eigene das EVG-Projekt geplant hatten, vor allem Wege gehen. Rasch wirkende Änderungsan- in Westdeutschland und Frankreich, wurde sätze für diesen allgemeinen Zustand sind häufig deutlicher ausgesprochen, was nach nicht zu erkennen. Auffassung vieler gemeint war und ange- strebt wurde: die «Vereinigten Staaten von Faktoren des Stillstands und der Gefährdung: Europa» – eine politische Forderung, die un- EU im Schwebezustand ter ganz anderen Bedingungen bereits von Wie ist es zu dieser Lage des Stillstands der Weimarer SPD (Heidelberger Parteipro- und der Krise gekommen? In den 1950er- gramm von 1925) erhoben worden war. Jahren war das Projekt der (west-)europäi- Wesentliche Motive für diese Zielsetzung in schen Integration mit der weit verbreite- der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg waren ten Vorstellung aufgenommen worden, die Verteidigung gegenüber den von der

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 65 Klaus Faber

Sowjetunion drohenden Gefahren, die Nut- sich nicht mit der Situation im Kalten Krieg zung der militärischen Möglichkeiten West- gleichsetzen. Politisch, militärisch und öko- deutschlands (nach dem EVG-Scheitern im nomisch sind die USA und Russland heute Nato-Rahmen), die Einbindung und Kont- keine gleichrangigen Mächte mehr, auch rolle der westdeutschen Wirtschaftspoten- wenn sich manche wünschen sollten, es tiale und das Angebot für eine (zusätzli- wäre so. Es gibt keine bipolare Welt mehr. che) supranationale Identitätsorientierung, Putins neuem, ausgreifendem Russland das insbesondere an den Westteil der ge- fehlt eine aggressive, auf Weltbeherrschung teilten deutschen Nation gerichtet war. Im ausgerichtete Ideologie, wie sie der Sowjet- deutsch-französischen Verhältnis spielte union zur Verfügung stand. darüber hinaus das Ziel der Aussöhnung Das Verblassen und der Wegfall ei- zwischen früheren Kriegsfeinden eine Rol- nes größeren Teils der Gründungsmotivati- le. Konrad Adenauers Politik der Westinte- on waren im westeuropäischen Raum vor gration wurde in Westdeutschland anfangs 1990 nicht der einzige Grund für institu- von der SPD und anderen bekämpft. Kurt tionelle Entwicklungsschwierigkeiten. Be- Schuhmachers an Adenauer gerichteter reits in den 1960er-Jahren hatte der fran- Zwischenruf: «Der Bundeskanzler der Alliier- zösische Staatspräsident Charles de Gaulle ten!» kennzeichnet die Ausgangslage. Mit der europäischen Integration einen schwe- dem Godesberger Programm erkannte die ren Schlag versetzt. Die Römischen Ver- SPD 1959 im Kern die Notwendigkeit der träge sahen in den Europäischen Gemein- «Landesverteidigung» und die Alternativlo- schaften – «EG» (mit den erwähnten sechs sigkeit der Westintegration an. Gründerstaaten) – Mehrheitsentscheidun- Sieht man einmal vom allgemeinen gen vor, die für die überstimmten Staaten Ziel der Aussöhnung und Zusammenar- verbindlich waren. Zu Recht wurde in die- beit, nach 1990 im Ost-West-Verhältnis, ab, sen Regelungen ein integrationspolitischer wird niemand behaupten können, dass die Motor gesehen. De Gaulle lehnte derartige ursprüngliche Motivation für die europäi- Mehrheitsbeschlüsse in solchen Fragen ab, sche Integration heute noch große Bedeu- in denen der einzelne EG-Staat «sehr wich- tung hat. Das zeigen die inzwischen ein- tige» Interessen geltend machen konnte – getretenen Veränderungen deutlich: Die und er setzte sich mit diesem Standpunkt sowjetische Bedrohung existiert nicht mehr. durch (1966, «Luxemburger Kompromiss»). Deutschland ist nicht mehr in zwei Staa- Das europäische Leitbild sollte, so seine ten geteilt und seit der Wiedervereinigung, Auffassung, ein «Europa der Vaterländer» abgesehen von den supranationalen euro- sein, allerdings ohne Großbritannien. päischen Bindungen, kaum mehr in seiner Der Beitritt Großbritanniens (1973, Souveränität beschränkt. EU und Nato sind, nach de Gaulles Tod im Jahre 1970) und dem Wunsch der beitretenden Völker ent- weiterer europäischer Staaten veränder- sprechend, vor allem in östlicher Richtung te den Charakter der Europäischen Ge- erweitert worden. Wie sich auch immer die meinschaften (seit 1967 mit gemeinsa- neue Konfrontation um die Ukraine und die men Organen). Die EG näherten sich – mit Krim entwickeln wird, die aktuellen Kräfte- Großbritannien – in gewisser Weise dem verhältnisse und andere Umstände lassen «Vaterländer»-Leitbild de Gaulles an. Im

66 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 EU-Perspektiven

Rückblick wird manchmal behauptet, mit wussten, mit einer schlechteren Behand- der EG-Erweiterung von 1973 sei eine frühe lung durch die Siegermächte, auch durch Chance vertan worden, im westlichen Eu- die westlichen Siegermächte, gerechnet. ropa einen demokratischen europäischen Der Marshallplan war partiell übrigens mit Bundesstaat aufzubauen. Besser begründet der amerikanischen Erwartung verbunden, ist die These, dass bereits die gaullistische die Dekolonisierung der europäischen Ko- Politik eine bundesstaatliche Entwicklung lonien zu fördern. Für die Realisierung sol- blockiert hatte und es auch ansonsten im- cher Erwartungen war aber mehr Zeit not- mer ungewiss war, ob ein Frankreich ohne wendig, als dies ursprünglich angenommen de Gaulle den dafür erforderlichen Souve- worden war. ränitätsverzicht hätte leisten wollen. Für Nach dem Zusammenbruch des sowje- Westdeutschland sind solche Zweifel eben- tischen Imperiums schien beides möglich so nicht ganz auszuschließen. zu sein: die Vertiefung und die Erweiterung Die entsprechende strategische Wei- des vorhandenen europäischen Verbun- chenstellung ist wohl – negativ – bereits des – der Europäischen Union (EU), wie sie 1954 mit dem Scheitern der EVG erfolgt. nach dem Maastrichter Vertrag von 1993 Dabei muss berücksichtigt werden, dass meist genannt wurde. Mit der EU-Osterwei- 1954 Frankreich noch über ein großes Ko- terung von 2004 ist ein wichtiger Schritt lonialreich in Afrika verfügte, dass Algerien in einem Ausdehnungsprozess erfolgt, der 1954 konstitutionell ein sich «integrieren- heute zu 28 EU-Mitgliedstaaten geführt der» Teil Frankreichs («une partie intégran- hat. Die inzwischen vollzogenen Vertie- te de la France») war und erst 1962 nach fungsschritte haben, wie geschildert, nicht einem verlustreichen Kolonialkrieg (1954 den Abschluss erhalten, der mit dem 2005 bis 1962) in die Unabhängigkeit entlassen gescheiterten Verfassungsvertrag geplant wurde. Mit derartigen Belastungen wäre war. Zentrale Regelungen des gescheiterten wohl auch bei einer 1954 vollzogenen EVG- Verfassungsvertrags sind allerdings in den Gründung der Erfolg auf dem Weg zu ei- Vertrag von Lissabon (2009) eingegangen. ner politischen europäischen Union kaum Im Rückblick ist zu fragen, ob dem Kombi- zu garantieren gewesen. Mit dem ameri- nationskonzept von Vertiefung und Erwei- kanischen Marshallplan (1948 bis 1952) terung insgesamt nicht doch zu ehrgeizige war, unter Aufgabe der Morgenthau-Vor- Zielsetzungen zugrunde lagen. Die Erweite- stellungen, die auf eine Deindustrialisie- rung war politisch kaum zu bremsen, auch rung Deutschlands hinausliefen, und unter wenn die Vertiefung nicht immer so weit den politischen Rahmenbedingungen einer war, wie das manche Debattenteilnehmer wachsenden Ost-West-Spannung die euro- gewünscht hätten. Ein Spannungsverhält- päische Integration auf den Weg gebracht nis zwischen dem Wunsch nach schneller worden – damals zur Überraschung man- Erweiterung und der sorgfältigen Prüfung cher Deutscher der Kriegsgeneration. Sie der Aufnahmebedingungen war auch im hatten nach allem, was schon in der NS-Zeit Bereich der Aufnahmepolitik zu erkennen. über den Völkermord an den Juden, wie wir Die Euro-Einführung am 1. Januar 2002 heute wissen, in Umrissen vielen bekannt wurde und wird vielfach als Leistung inter- geworden war und nach dem Krieg alle pretiert, die Deutschland als Preis für seine

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 67 Klaus Faber

Wiedervereinigung an Frankreich und an europäischer Ebene Interventionen erfor- andere zu erbringen hatte. derlich, für die – in mancher Hinsicht immer habe damit vor allem dem französischen noch unvollkommene – Instrumente erst Präsidenten François Mitterand, der die eu- einmal geschaffen werden mussten. Die ropäische Integration Deutschlands nach von «reichen» Staaten wie Deutschland ge- dem Mauerfall und nach der von ihm mit leistete Hilfe wurde dabei auch im eigenen Vorbehalten akzeptierten Wiedervereini- Interesse gewährt – zu große Spannungen gung sichern wollte, eine Europäisierung in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik der D-Mark angeboten. Es mag sein, dass verträgt eine Währungsunion auf die Dau- dieser taktische Aspekt eine Rolle gespielt er nicht. hat. Der Plan war allerdings bereits von Hel- Gefahren drohen künftig nicht nur mut Schmidt erörtert worden und dürfte durch Anti-Euro- und allgemein anti-euro- ebenso Kohls eigenen Positionen entspro- päische Parteiformationen, sondern eben- chen haben. Deutschland hat auf diesem so durch ein Referendum über die weitere Gebiet trotz aller mit der Währungsunion EU-Zugehörigkeit von Großbritannien. Ein verbundenen Schwierigkeiten keinen Preis derartiges EU-Referendum ist nicht nur un- gezahlt und auch kaum einen ins Gewicht ter einer konservativ-liberalen oder konser- fallenden machtpolitischen Verzicht geleis- vativen britischen Regierung denkbar. Un- tet – das Gegenteil ist eher richtig. Es trifft ter jedem parteipolitischem Szenario wäre zwar zu, dass für die Euro-Einführung und damit die Gefahr eines britischen Austritts- die Steuerung der mit einer gemeinsamen votums verbunden. Könnte die EU den Aus- Währung gestellten Aufgaben in der Wirt- tritt überleben? Möglicherweise ja, wenn schafts- und Finanzpolitik stärkere suprana- unter den übrigen Mitgliedstaaten, vor al- tionale Kompetenzen auf diesen Gebieten lem in Frankreich und Deutschland, genü- erforderlich gewesen wären. Ebenso klar gend Bereitschaft besteht, den EU-Verbund ist aber auch, dass für den dafür notwen- in der Hoffnung auf eine künftige Revision digen Souveränitätsverzicht in den 1990er- der britischen Entscheidung fortzuführen. Jahren und, wie die Entwicklung gezeigt Dass ein britischer Austritt der EU außen-, hat, auch später mit der Zustimmung u. a. wirtschafts- und integrationspolitisch sowie Frankreichs nicht gerechnet werden konn- in jeder anderen Hinsicht schaden würde, te. Die Euro-Einführung war also nur als ein muss nicht betont werden. Man muss nur zunächst institutionell unvollkommen abge- an transatlantische Verhandlungen über sichertes Projekt möglich. Dabei ist zu be- Freihandelsabkommen oder an künftige rücksichtigen, dass die internationale Wett- Gipfeltreffen denken, an denen Großbritan- bewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten des nien als Nicht-EU-Staat teilnehmen würde. Euroraums ein unverzichtbares Ziel bildete. Die außenpolitische EU-Koordinierung Jugendarbeitslosigkeit und andere schwer- befindet sich auch heute schon in einem wiegende soziale Probleme in den Staaten Zustand, der nicht in jeder Hinsicht zufrie- der gemeinsamen Währung als Folge einer den stellen kann. In Libyen und Syrien gin- verfehlten Wirtschafts- und Finanzpolitik – gen die westlichen Staaten unterschied- verkürzt: der «Finanzkrise» – konnten diese liche Wege, was bekanntlich auch für die Zielsetzung gefährden. Es waren also auf beteiligten EU-Staaten zutraf. Die EU selbst

68 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 EU-Perspektiven fand dementsprechend in beiden Konflik- den Versuch wandte, Putins Motive rational ten keine einheitliche Linie. In den Iran-Ver- zu «verstehen») hat Heinrich August Wink- handlungen mag der Westen – mit einer in ler (ders., Die Spuren schrecken – Putins der Außendarstellung prominenten EU-Prä- deutsche Verteidiger wissen nicht, in wel- senz – bislang einheitliche Positionen ver- cher Tradition sie stehen, in: Der Spiegel, treten haben. Bewährungsproben stehen 14. 4. 2014, S. 28 f.) die Argumente zurecht für die sich abzeichnende Einigung zur ira- gerückt und dazu aufgefordert, sich von der nischen atomaren Bewaffnung allerdings westlichen Hoffnung bis auf weiteres «zu noch aus: Zum einen ist es nicht sicher, ob verabschieden, dass sich Russland zu einem der Iran die versprochene und vom Westen Rechtsstaat entwickelt». In der deutschen erwartete atomare Abrüstung auch tatsäch- Großen Koalition gibt es dazu aber offen- lich einhält. Zum anderen stellt sich nach bar unterschiedliche Akzente und Nuancen, wie vor die Frage nach einem glaubwürdi- wie selbst Äußerungen innerhalb derselben gen westlichen Verhalten gegenüber zahl- Parteiformation anzudeuten scheinen. Mar- losen Menschenrechtsverstößen der Islami- tin Schulz warnt vor einem «Krieg», Sigmar schen Republik Iran. Sie kann nach ihrer Gabriel spricht davon, dass «russische Pan- verfassungsrechtlichen Ausgangslage, die zer» Grenzen in Europa überschreiten könn- von der geltenden iranischen Verfassung ten und Frank-Walter Steinmeier betont, ge- in diesem Punkt ausdrücklich gegen Ände- gen Verhandlungsskeptiker, immer wieder rungen abgesichert ist, keine Glaubens- und die Notwendigkeit, auf Verhandlungen zu Meinungsfreiheit nach dem westlichen und setzen – ganz zu schweigen von den Bewer- nach dem UN-Verständnis gewähren. Be- tungen der zwei noch lebenden deutschen sonders hart trifft dies die Baha‘i-Minder- Ex-Kanzler der Sozialdemokratie. heit, die im Iran in jeder Hinsicht als ver- Die vollzogenen EU-Erweiterungsakte folgt angesehen werden muss. werden inzwischen im Wesentlichen ak- Im neuen Konflikt um die Krim und die zeptiert. Das schließt Kritik an einzelnen Ukraine hat das westliche Bündnis zunächst Verfahrensschritten, z. B. an der EU-Ver- Einigkeit demonstriert. Nach den Genfer handlungspolitik über ein Assoziierungs- Absprachen mit Russland vom 17. April abkommen mit der Ukraine, nicht aus. Im 2014 haben sich allerdings Risse gezeigt. Rückblick verdienen die nicht abgeschlos- Sie betreffen die Auslegung der Vereinba- senen EU-Verhandlungen mit der Erdogan- rung zwischen Russland und dem Westen, Türkei, für die die inzwischen weiterentwi- aber auch die Abstimmung über die weite- ckelten Kopenhagener Kriterien von 1993 ren westlichen Schritte gegen das russische den inhaltlichen Rahmen setzen, ebenso kri- Vorgehen. Eine Rolle spielen dabei Eigenin- tische Bemerkungen. Sehr spät ist offenbar teressen der beteiligten westlichen Staaten erkannt worden, dass man es bei dem tür- z. B. auf dem Gebiet der Rüstungs- und der kischen AKP-Ministerpräsidenten Erdogan, Wirtschaftspolitik, zum Teil auch Grundsatz- um ein geflügeltes Wort aus einem anderen fragen zur Beurteilung der Lage etwa im Zusammenhang im Kontext zu variieren, deutschen Parteien- und Medienspektrum. nicht mit einem «lupenreinen Demokraten» In seiner Kritik an den deutschen Putin- zu tun hat. Das Re-Islamisierungsprogramm Verteidigern (die sich natürlich nicht gegen Erdogans richtet sich z. B. gegen die Rech-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 69 Klaus Faber te von Minderheiten, etwa der Alewiten, bewerb der Lebensführungsangebote wird die nach einer Entscheidung des Straß- sich, wie auch andere Emanzipationsprozes- burger Menschenrechtsgerichtshofs einer se zeigen, wohl dasjenige durchsetzen, das eigenständigen Religion angehören. Sei- mehr Entfaltungsspielräume bietet. Trotz ne Bestrebungen zur Machtkonzentration kulturell-politischer Besonderheiten in der verletzen die Medienfreiheit sowie weitere sozialen Geschichte und Orientierung wer- Demokratieprinzipien und seine neoosma- den sich Musliminnen und Muslime auf nische Außenpolitik destabilisiert in gewis- diesem Gebiet auf die Dauer nicht anders sem Umfang den Nahen Osten (vgl. dazu verhalten als die übrigen Angehörigen der im Einzelnen die AKP-Bewertung in Klaus Bevölkerung. Das gilt wohl ebenso für ande- Faber, Demokratie, Menschenrechte und Is- re europäische Länder, auch wenn sich dort, lamismus, in: perspektiven ds, 2/13, S. 80– etwa in Frankreich, die Probleme und die 89, S. 84–86). Elementare Grundfreiheiten damit gestellten Aufgaben in einer anderen hätten in den Verhandlungen mit der Tür- Größendimension bewegen. kei eine deutlichere Ansprache verdient. Eindimensionale Beurteilungen sind Nach Erdogan kann es unter Umständen dabei nicht angemessen. Einwanderung eine Rückentwicklung zur Rechtsstaatlich- kann die Parteien- und Wahlverhältnisse keit und zur Demokratie geben, was wohl verändern, phasenweise im negativen, frem- auch eine größere Distanz zur dominanten denfeindlichen, gegen Muslime gerichte- sunnitisch orientierten Islam-Variante in der ten und im antisemitischen Sinne, wie wir Türkei und den Verzicht auf eine neoosma- das jetzt in einigen europäischen Ländern nische Politik voraussetzt. erleben. Zu wenig beachtet und partiell Die türkischen Verhältnisse stehen in verharmlost wurden und werden auch auf einem Zusammenhang mit interkulturellen europäischer Ebene antisemitische Einstel- Integrationsvorgängen innerhalb der Ge- lungen, die u. a. muslimische Einwanderer sellschaften der EU-Mitgliedsländer. Auch zum Teil aus ihren Herkunftsländern in die hier gibt es Entwicklungsdefizite, die über europäischen Gesellschaften, die ebenfalls die nationalen Grenzen und ebenso über über antisemitische Grundströmungen ver- die EU-Außengrenzen hinaus wirken. In ei- fügen, mitgebracht haben. Es geht dabei nigen europäischen Ländern findet in der nicht, wie einige behaupten, im Wesentli- muslimischen Bevölkerung ein Wettlauf chen um Neben- und Folgewirkungen des zwischen dem kulturell-politischen Integ- arabisch-israelischen Konflikts. Eine derarti- rationsprozess und einer Radikalisierung ge, leider verbreitete «Kontextualisierung» (oder Abschottung) statt, für die z. B. in läuft am Ende vielfach auf Vermittlung von Deutschland Erdogan, u. a. über die ihm «Verständnis» oder auf Rechtfertigung hin- nahestehende Milli-Görüs-Organisation, aus, was in jeder Hinsicht unzulässig wäre. neben anderen einen gewissen Anteil an Die Erfahrung mit schwarzafrikanischen Verantwortung zu tragen hat. Viel spricht Diktaturen legitimiert nicht den anti-afrika- dafür, dass in Deutschland dieser Wettlauf nischen Rassenhass – der durch nichts zu le- (trotz zurzeit noch entgegenstehender Um- gitimieren ist. Ein Ritualmordvorwurf gegen frageergebnisse) am Ende von der Integra- Juden, die, so vor kurzem eine ägyptische tionsbewegung «gewonnen» wird. Im Wett- Zeitung nach dem Vorbild einer früheren, in

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Europa zu empfangenden Hisbollah-Fern- schen Staatenbund und Bundesstaat. In sehsendung, angeblich das Blut von ge- dieser nach seiner Auffassung zu loben- schlachteten Christenkindern zum Backen den «Uneindeutigkeit» erkennt der frühe- von Mazzeh-Brot verwenden, ist ebenso we- re Richter am Bundesverfassungsgericht nig durch Erfahrungen im arabisch-israeli- Udo Di Fabio einen Vorteil (vgl. derselbe, schen Konflikt zu erklären oder «kontextuell» Lob der Uneindeutigkeit des europäischen zu rechtfertigen. Es handelt sich dabei um Projektes, in: Der Hauptstadtbrief, 121. eine alte, vorchristliche, christliche und seit Ausgabe, 2014, S. 22–29, S. 23; dort auch einiger Zeit ebenso muslimische Form der seine Bewertungen der Möglichkeiten und antisemitischen Diffamierung, die unmittel- Grenzen der Fiskalpolitik in der EU-Finanz- bar, wie bereits die Ereignisse in Damaskus krise, a.a.O., S. 24–29). Das Bundesverfas- von 1840 gezeigt hatten, zum Judenmord sungsgericht spricht in diesem Zusammen- führen kann. Die öffentliche Wahrnehmung hang von der EU als einem «neuartigen muss diese Grundbewertung auch auf der Staatenverbund». Die meisten politischen EU-Ebene besser erkennen und in ihren Re- Kommentatoren sehen in dem Schwebezu- aktionen, z. B. im EU-Parlament, berücksich- stand allerdings eher einen Zwischenstatus, tigen. Französische Juden wandern, dies der sich entweder in Richtung auf eine in- sollte ein Warnzeichen sein, in wachsendem stitutionelle Integration, wie ursprünglich Umfang aus Frankreich nach Israel und geplant, weiterbewegt oder zu einem EU- anderen Ländern aus, um dem antisemiti- Rückbau und damit zu einer eher staaten- schen Druck, auch in Form von Anschlägen, bündisch organisierten Konstruktion führt. zu entgehen. Ansatzpunkt für die Kritik an dem Schwe- Nicht mit Wanderungsbewegungen, die bezustand ist in erster Linie der Mangel an von außen in den EU-Raum kommen, hängt demokratischer Legitimation für die inzwi- die Roma-Diskriminierung zusammen (je- schen beachtlich angewachsene supranati- denfalls nicht mit einer Einwanderung in onale EU-Macht. jüngerer Zeit). Es gibt etwa 12 Millionen Roma in Europa (nur im deutschsprachigen Europäische Föderation? Raum spricht man von Sinti und Roma, ob- Auf dieser Grundlage fordern der frühere wohl die Sinti eine Untergruppe der Roma deutsche Außenminister , sind). Der Anteil der Roma in Deutschland der frühere deutsche EU-Kommissar Gün- ist im europäischen Vergleich auffällig ther Verheugen und andere in Deutschland klein. Für die Roma ist Deutschland bislang und Europa für die langfristige Entwicklung offenbar kein attraktives Land. Dass es eine einen europäischen Bundesstaat, eine euro- massive Roma-Diskriminierung in Europa päische «Föderation». Nach dem deutschen gibt, muss nicht durch Umfragen belegt oder partiell nach dem US-Föderalismusmo- werden. Auch hier ist die Verantwortung für dell soll es danach eine parlamentarisch ge- eine positive Veränderung der Lage auf ver- wählte europäische Regierung und für die schiedenen Ebenen anzusiedeln, auch auf Gesetzgebung ein Zweikammersystem ge- der europäischen. ben, neben dem europäischen Parlament ei- In ihrem aktuellen Zustand befindet nen Staatenrat oder einen Senat mit in den sich die EU in einem Schwebezustand zwi- Mitgliedstaaten gewählten Senatoren. Mit

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 71 Klaus Faber

Rücksicht auf die Stimmung und den politi- wesentliche eigene Verteidigungskräfte wie schen Diskurs in Großbritannien ist es sinn- bisher doch eher auf US-Sicherheitsgaranti- voll, so auch Verheugen, auf absehbare Zeit en verlassen wollen. Man kann verstehen, den Begriff «Bundesstaat» oder allgemeiner dass vor diesem Hintergrund Angela Merkel «Staat» nicht unbedingt in den Vordergrund aus Anlass des 50-Jahre-Jubiläums der Rö- der Debatte zu stellen, obwohl die künfti- mischen Verträge von 2007 sagte, es werde ge «Föderation» die Kriterien eines Staats auch in weiteren 50 Jahren keinen «Bundes- erfüllen würde. Auf der von Verheugen für staat Europa» geben. möglich gehaltenen Entwicklungslinie liegt Eine andere Frage vertieft unter Um- auch die Überlegung, dass die europäische ständen derartige Zweifel: Wo hört «Euro- Föderation über eigene Streitkräfte ver- pa» auf? Die europäischen Vertragsbestim- fügen sollte, die zumindest einen Teil der mungen verlangen für einen Beitritt, dass Streitkräfte der Mitgliedstaaten umfassen. ein «europäischer» Staat einen Aufnahme- Dass auf dem Weg zu diesem Ziel er- antrag stellt (Lissabonner Vertrag vom 1. De- hebliche Schwierigkeiten zu überwinden zember 2009: «Jeder europäische Staat, der wären, auch auf konstitutionellem Gebiet in die in Artikel 2 genannten Werte achtet und Deutschland, ist offensichtlich. Anders als im sich für ihre Förderung einsetzt, kann bean- Bundesstaat der USA, der seine Identität im tragen, Mitglied der Union zu werden.»). Der Wesentlichen auf die Staatsgründung durch Staat muss dann in einem längeren Überprü- europäische Siedler verschiedener Herkunft fungsverfahren, u. a. zu den Demokratievor- aufbaut, gibt es in EU-Europa viele Sprachen aussetzungen und zu den Menschenrechten, und Kulturen, die zum Teil in ihrer Verbin- nachweisen, dass er die bereits mehrfach er- dung zu staatlichen Formen auf eine weit wähnten Kopenhagener Kriterien erfüllt. Das über tausend Jahre alte Geschichte zurück- Merkmal «Europäisch» soll vor diesem Hinter- blicken. Sie werden in absehbarer Zeit nicht grund auch kulturell verstanden werden. Zy- zugunsten einer neuen Dominanzsprache pern, geographisch eine asiatische, geteilte und -kultur verschwinden. Es gibt bislang im Insel ist deshalb, auch auf den Wunsch Grie- engeren Sinne noch keine europäischen Par- chenlands, EU-Mitglied geworden. teien, keine tatsächlich Nationen übergrei- Mit der kulturellen Dimension des Euro- fenden, ins Gewicht fallenden europäische päischen wird die Grenzziehung nicht ein- Medien, keine kontinuierliche, übernationa- facher. Wenn die Türkei einen Aufnahme- le politische Debatte, die diese Bezeichnung antrag stellen kann, die geographisch nur verdient, und auch keine europäische politi- zu einem kleinen Teil, mit dem türkischen sche Elite. Die französischen, britischen oder Thrakien, zu Europa gehört – und sie sollte polnischen Eliten müssten, in der Zukunft dies tun können, wenn auch unter Erdogan einmal vor diese Wahl gestellt, abwägen richtigerweise nicht mit Erfolg, dann stellt und entscheiden, ob sie in zentralen Vertei- sich die Frage, weshalb einen derartigen digungsfragen von einer europäischen Re- Antrag, immer im Rahmen der Kopenhage- gierung – vermutlich häufig mit deutscher ner Kriterien, nicht auch Georgien, die Uk- Regierungsbeteiligung – abhängen oder raine, Weißrussland und ebenso Russland, sich im Ernstfall in einem europäischen wenn es das etwa nach Putin wollen soll- Staatenbund oder «Staatenverbund» ohne te, stellen können. Sie sind alle nicht we-

72 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 EU-Perspektiven niger «europäisch» als die Türkei, Russland an ausländischen Investitionen jeder Art, auch in seinem asiatischen Teil. Über den seine demographische Schwäche (145 Milli- damit beschriebenen Großraum hinaus die onen Einwohner, keine ins Gewicht fallende EU-Institution, wenn auch in fernerer Zu- Einwanderung, über eine lange Zeit niedri- kunft, auszudehnen, ist aber aus verschie- ge Geburtenrate) – ob alle diese und wei- denen Gründen weniger sinnvoll. Das gilt tere Schwächefaktoren nicht dafür sprechen insbesondere von Marokko bis Ägypten für müssten, die Westbindung im Interesse der das südliche Mittelmeerufer, das zwar zum russischen Modernisierung und Entwicklung Römischen Reich gehört hat, dessen Kul- zu stärken. Die Volksrepublik China kann turen und Staaten aber seit über tausend auch vor dem Hintergrund eigener Entwick- Jahren andere Wege gegangen sind. Ähnli- lungsprobleme den Westen auf allen diesen ches gilt für einige Staaten im zentral- und Gebieten als Modernisierungspartner kaum westasiatischen Raum (Kasachstan, Syrien, ersetzen. Putins Kurs mag, gemessen an den Irak etc.). Innerhalb der EU-Apparatur mag erkennbaren russischen Interessen und dem es weitergehende Überlegungen gegeben begrenzten Wert der Gewinnbilanz seiner haben und geben, zum Teil, was etwa eine Intervention – einer annektierten Krim, ei- ägyptische EU-Mitgliedschaft anbelangt, ner insgesamt für Putins Eurasische Union in der euphorischen Stimmung des «ara- wohl verlorenen Ukraine und erheblicher bischen Frühlings» ebenso in der europäi- politisch-ökonomischer Kollateralschäden, schen Publizistik und Wissenschaft, auch schwer nachzuvollziehen sein. Das ändert in Deutschland. Einer realistischen Beurtei- aber alles nichts daran, dass Putin, soweit lung der Kohäsions- und Konvergenzpoten- sich das absehen lässt, den russischen Kurs tiale über die Erdteile hinweg halten solche bestimmen und damit den Westen, vor al- Pläne aber nicht stand. lem Obama, zwingen wird, auf die russische Herausforderung allein schon deshalb zu Faktoren der Bewegung: Chancen der reagieren, weil eine weitere Duldung der institutionellen EU-Integration; Europas Völkerrechtsverletzungen die amerikanische Perspektiven sowie die Nato-Glaubwürdigkeit schwer Die Krim- und Ukrainekrise hat ein für viele beschädigen und unabsehbare Folgen in unerwartetes, neues Element in die Bewer- vielen anderen Weltregionen, etwa im Zu- tung der europäischen Entwicklung einge- sammenhang mit den ostasiatischen Insel- führt. Hält man Winklers Einschätzung für streitigkeiten, haben könnte. richtig, Putins Russland sei, auch in der künf- Niemand hat Ähnliches nach dem rus- tigen Option, kein rechtsstaatlicher und da- sischen Angriff auf das georgische Staats- mit auch kein demokratischer Partner mehr, gebiet in Abchasien und in Südossetien verändern sich die strategischen Koordina- vorhergesehen, obwohl die Intervention in ten. Man kann diese Tatsache bedauern. Georgien im Rückblick gesehen der Probe- Man kann auch fragen, ob die langfristi- lauf für die Krim gewesen war. Müssen wir gen Interessen Russlands, sein technologi- unsere Prognosekriterien und insgesamt scher und wirtschaftlicher Rückstand, seine unsere Prognosefähigkeit überprüfen? Und Abhängigkeit von Rohstoffexporten, deren welche Konsequenzen hat das für die Ein- Wert mittelfristig sinken wird, sein Bedarf schätzung der EU-Entwicklung?

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 73 Klaus Faber

Trotz einiger Unsicherheiten in der Be- reits erwähnte Gesichtspunkte sprechen wertung künftiger Vorgänge auch für ei- dennoch eher für eine Rückkehr zur West- nen relativ kurzen Zeitraum von 50 Jahren orientierung, zur Entwicklung von Rechts- sind einige Grundfaktoren nach wie vor zu staatlichkeit und Demokratie. Die russische erkennen: Die USA bleiben auf absehbare Demokratiebewegung ist zurzeit noch nicht Zeit die bedeutendste Wirtschafts- und Mi- mehrheitsfähig. Aber das kann sich ändern. litärmacht. Sie werden in der Bevölkerungs- Einige Umfragen in Deutschland zeigen zahl (in diesem Jahrhundert wohl über 500 zur EU-Bewertung eine gewisse Ambivalenz Millionen Einwohner, vielleicht mehr) konti- zwischen – nicht unberechtigter – Kritik am nuierlich wachsen und dabei die EU-Bevöl- EU-Zustand (vor allem: Ablehnung von De- kerungszahl überrunden. Die USA werden tailregelungen, Undurchschaubarkeit der immer wieder einmal in ihrer strategischen Willensbildung) und einer Grundzufrieden- Orientierung schwanken – zwischen den heit, der EU anzugehören – trotz erheblicher Polen von Rückzug und Intervention, zwi- Anteile von Zweiflern etwa an der Nato- schen Ostasien, Lateinamerika und Euro- Westbindung (siehe dazu z. B. die ARD-Welt- pa. Nach Obama (2016) wird es vermutlich Umfragen vom April dieses Jahres). Die eine Präsidentin oder einen Präsidenten europäische Integrationsbewegung war an- geben, die sich wieder stärker an der glo- fangs ein Produkt des Kalten Krieges. Sie balen USA-Präsenz orientieren. Die EU-Ge- sollte Sicherheit in einer unsicheren Um- samtbevölkerung wird bei allen regionalen gebung und Zeitphase gewährleisten. Der Unterschieden (die Bevölkerung Deutsch- Außendruck hat die Integrationschancen lands wächst zurzeit, insbesondere wegen erhöht. Einen neuen Kalten Krieg wird es der polnischen Immigration) trotz der au- in Europa nicht geben. Sicherheitsgefähr- ßereuropäischen Einwanderung wegen der dungen sind aber nicht auszuschließen. Die geringen Geburtenzahlen wahrscheinlich europäischen Verteidigungsleistungen sind deutlich abnehmen. Der europäische Anteil insgesamt nicht unbeachtlich, aber häufig an der Erdbevölkerung wird ebenso deutlich ineffizient organisiert. Auch hier gäbe es zurückgehen. China und Indien werden die sinnvolle Ansätze für eine europäische Ko- zwei größten Nationen der Erde sein, ver- ordinierung und für eine gemeinsame Poli- mutlich wird Indien an der Spitze liegen. tik, die sich nicht ausschließlich auf die Na- Die beiden Länder werden jeweils spezifi- to-Absicherung verlässt. sche regionale und soziale Entwicklungs- Es wird vor allem von innereuropäi- probleme haben, China möglicherweise vor schen Faktoren abhängen, wohin Europa allem in den Beziehungen zwischen den gehen wird. Vielleicht hat Angela Merkel weit entwickelten Küstenregionen und dem mit ihrer Einschätzung Recht, auch in 50 zurückgebliebenen Landesinnern. Die Leit- Jahren werde es keinen europäischen Bun- bilder von Demokratie und Menschenrech- desstaat geben. Unter Umständen ist sogar ten werden wohl auch in 50 Jahren weiter- eine Entwicklung denkbar, in der sich die hin global attraktiv sein. EU zurückbilden wird und Austritte, nicht Wohin wird sich Russland nach Putin nur Großbritanniens, erfolgen. In diesem wenden? Es gibt bei derartigen Progno- Fall werden sich einige den von Di Fabio ge- seversuchen keine Sicherheiten. Viele be- schätzten EU-Schwebezustand unserer Zeit,

74 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 EU-Perspektiven in all seiner «Uneindeutigkeit», zurückwün- periale» Formation wäre die Europäische Fö- schen. deration dabei ebenso wenig wie etwa Chi- Es sind aber auch andere Szenarien denk- na oder Indien. Unter dem Zwang, sich an bar: Sicherheitsbedürfnisse könnten die euro- der Bildung einer Föderationsregierung be- päische Integration fördern und zur Bildung teiligen zu müssen, werden sich europäische eines erneuerten europäischen Bundesstaats Parteien, Medien und Eliten ausformen. Die führen, mit einer funktionsgerechten Aufga- europäischen (Noch-)Nicht-Föderationsmit- benteilung zwischen Zentralstaat und Mit- glieder werden der Föderation durch Assozi- gliedsländern, mit weniger europäischen ierungsverträge oder Abkommen über Frei- Detailregelungen, mit einer besseren Koor- handelszonen verbunden sein («von Lissabon dinierung der Außen- und der Umweltpolitik bis Wladiwostok»), ebenso die nordamerika- und mit europäischen Streitkräften. Die vom nischen Staaten, darunter die USA, und die Parlament gewählte Regierung der Europä- Länder des südlichen Mittelmeerufers. ischen Föderation könnte über den Einsatz Eine problemfreie Welt des ewigen Frie- der dann immer noch vorhandenen Atom- dens und der globalen Demokratie wäre waffen zweier Mitgliedstaaten im Notfall im das gewiss nicht. Aber wohl eine Welt, in Einvernehmen mit den Regierungen dieser der es sich in Europa – und anderswo – bes- privilegierten Mitgliedstaaten entscheiden – ser leben ließe. Es liegt auch an uns und an jedenfalls solange die Atomwaffen nicht in den künftigen Generationen, über derartige ganz Europa abgeschafft werden. Eine «im- Optionen mitzuentscheiden.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 75 Gregor Fitzi Ja! Nein! Vielleicht... Europa-Stimmungen in Italien

Europäismus Wahlniederlage 1946 spaltete sich jedoch 1941 verfasste Altiero Spinelli zusammen mit die Partei. Aus der nachfolgenden Partito Ernesto Rossi und Eugenio Colorni das Ma- repubblicano wurde eine kleine, zur Mehr- nifest von Ventotene. Damit war der Grund- heitsbeschaffung notwendige Parlaments- stein des italienischen Europäismus gelegt. fraktion, die über Jahrzehnte mit der DC Wie Gramsci diagnostizierte, war die Revo- koalierte. Ihre letzten Epigonen stiegen lution im Okzident gescheitert. Stalins Russ- in den 1990er-Jahren in Berlusconis Boot land bot jedoch keine Alternative. Der Krieg ein. Spinelli blieb seinem Programm treu. und die kapitalistische Ausbeutung wurden Von 1970 bis 1976 wurde er Mitglied der als Folgen der Krise des europäischen Natio- Europäischen Kommission. Als es mit Ber- nalstaates eingestuft. Nur der Aufbau einer linguers Programm des Eurokommunismus europäischen Föderation könne eine Alter- 1976 zur europäistischen Wende der KPI native bieten. Sie soll die imperialistischen kam, engagierte sich Spinelli an vorders- Tendenzen der Staaten in Schach halten und ter Front als Indipendente auf den Wahllis- die soziale Frage durch die internationale So- ten der KPI. Er wurde Mitglied des Europä- lidarität der Arbeiterklasse lösen. ischen Parlaments und setzte sich für die Nach dem Krieg suchte Italien die An- Stärkung seiner Machtbefugnisse als «euro- bindung an den Westen. Spinellis Europäis- päische Volksvertretung» ein. mus stieß auf Zustimmung bei den Konser- In Zeiten der reformistischen Aufbruchs- vativen. De Gasperi bezog die Democrazia stimmung rückt der Europäismus ins Zent- Cristiana (DC) in das europäische Projekt rum der politischen Kultur Italiens. Dies gilt ein. Am 25. März 1957 wurden die Römi- für die 1970er-Jahre und zuletzt für die Zeit schen Verträge unterzeichnet. Die Europä- nach dem Ende des Kalten Kriegs in den ische Wirtschaftsgemeinschaft, die durch frühen 1990er-Jahren. Die Mehrheit der einen gemeinsamen Sozialausschuss noch Wähler hat das europäische Ideal jedoch integriert werden sollte, kam zustande. Spi- nie wirklich begeistern können. Europa ist nelli war 1937 wegen «Trotzkismus» aus zu weit weg. Ihr Projekt ist zu abstrakt. Die der Partito comunista italiano (KPI) aus- Not des Alltags spricht eine andere Spra- geschlossen worden. Nach dem Krieg rang che. Die ideologische Identifikation der Ita- sein Movimento Federalista Europeo um ei- liener hat stets andere Wege verfolgt. nen Standort in der politischen Landschaft Italiens. Aus der linksliberalen Fraktion Italienischer Amerikanismus der Partisanenbewegung, die Giustizia e Historisch betrachtet plagte Italien ein libertà, war die Partito d’Azione hervorge- Minderwertigkeitskomplex gegenüber den gangen, der Spinelli nahe stand. Nach der anderen europäischen Nationen – so Pless-

76 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Ja! Nein! Vielleicht... ner in der Einleitung zur zweiten Auflage nen von Teigwaren, um den Hunger unse- der Verspäteten Nation 1959. Das natio- rer Bevölkerung zu stillen. Stalin hingegen nale Ressentiment gründet in einem Miss- liefert keine Butter, um sie anzumachen». verhältnis der Bedeutung Italiens im 19. An den USA gefiel dem Durchschnittsitalie- Jahrhundert zu seiner historischen Vergan- ner eine gewisse Vorstellung des Laissez-fai- genheit als Vorbereiter der Moderne und re-Liberalismus, die niedrigen Steuern, das wurde durch seine Behandlung als Alliierte Ideal der lokalen Selbstverwaltung. Dieses zweiter Güte im Ersten Weltkrieg bestärkt. Identifikationsmuster passte zur korporativ Nach den Erfahrungen des Faschismus, der verfassten Gesellschaft Italiens, indem es Kriegsniederlage und des Bürgerkriegs von die bestehenden Privilegien und Ungleich- 1943 bis 1945 wurde die Beziehung zu den heiten im Namen der Zurückhaltung des anderen Nationen Europas nicht einfacher. Staates in Wirtschaftsfragen nicht antaste- Ein Bund mit Deutschland war nach 1945 te. Unter dem Schutzschild der Amerikaner für die Mehrheit der Italiener nicht mehr fühlte man sich sicher. Sie hielten die KPI vorstellbar. Die Verbrechen der SS, aber in Schach. Die aus dem Faschismus hervor- auch der Wehrmacht, während der Besat- gegangene soziale Schichtung blieb im We- zungsjahre hatten ein Feindbild entstehen sentlichen erhalten, so dass die Eigentums- lassen, das zu tief sitzt. Die Franzosen gal- verhältnisse nicht infrage gestellt wurden. ten den Italienern als «überhebliche Cou- Der ideologische Deckmantel der Affini- sins» jenseits der Alpen, die immer alles tät zu den USA ermöglichte sowohl christ- besser zu machen glaubten. England war lich-konservative Sichtweisen zu vertreten weit weg und kaum verständlich. Die Län- als auch einen langsamen Prozess der Sit- der Nordeuropas stellten das Ziel einer wirt- tenauflockerung zu betreiben. Die Flexibi- schaftsbedingten Migration dar, aus der lität des italienischen Amerikanismus der man als Rentner zurückzukehren hoffte, um Nachkriegszeit verhalf ihm zur kulturellen sich im Heimatort niederzulassen. Hegemonie. Der Wirtschaftsboom weich- Für die italienische Linke war das Band te die Maschen der sozialen Hierarchie mit den «Brüdervölkern Osteuropas» viel auf und machte die Epoche des Dolce vita stärker als der Bezug zu den Ländern der möglich. Die Mittelklasse und die Arbeiter- Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Im schaft wurden wirtschaftlich besser gestellt Krieg hatten sie auf der «richtigen Seite» und bekamen Zugang zu den Produkten gekämpft, danach engagierten sie sich für der US-amerikanisch dominierten Kulturin- den Aufbau des Sozialismus. Man besuch- dustrie. Dies beflügelte das Konsumverhal- te sie und berichtete mit Begeisterung, wie ten und stand im krassen Widerspruch zu viel besser der Sozialstaat dort entwickelt dem konservativen Moralismus der kommu- sei als in Italien. Spiegelbildlich dazu spielte nistischen Elite, der langsam bröckelte. Mit die Identifikation der konservativen Schich- der Revolte der bürgerlichen Jugend der ten mit den USA eine entscheidende Rolle 1968er Generation gerieten die traditionel- für die Geschichte der italienischen Repu- len Geschlechterrollen ins Wanken. Die se- blik im Zeitalter des Kalten Krieges. Zum xuelle Befreiung erreichte ihren Höhepunkt Marshallplan sagte De Gasperi im Wahl- in den 1970er-Jahren. Flower-power wurde kampf 1948: «hiermit bekommen wir Ton- zur Massenbewegung. Jimi Hendrix, Janis

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 77 Gregor Fitzi

Joplin und Jim Morrison waren Symbole der position. Nach dem Ende des Kalten Krie- Jugend und leiteten das neue Zeitalter des ges ist ein Wandel dieser Grundhaltung zu Protestes ein. Europa war so gut wie kein beobachten, der in Italien allerdings nicht Thema. Später brachte der Terrorismus ein zum Durchbruch zu einer überzeugten pro- Revival der kommunistischen Tradition mit europäischen Position führte. sich, das sich jedoch gegen die Sowjetunion wandte und von kurzer Dauer war. Nach ei- Nach dem Kalten Krieg nigen Jahren der blutigen Auseinanderset- Die Jahre um 1989 brachten nicht nur die zung brachen die 1980er-Jahre mit einem Gewissheit mit sich, dass der Realsozialis- Paukenschlag durch. Die linke Kultur trat mus gescheitert ist, sondern leiteten eine den Rückzug an. «Reagans Hedonismus» übergreifende Zerstörung der politischen war angesagt. Das Zeitalter des privaten Landschaft Italiens ein. Die Regierungs- Fernsehens bahnte sich an. Die neue poli- parteien der 1980er-Jahre wurden durch tische Führung Italiens kam aus der gehei- Korruptionsskandale überrollt, die die Mai- men Hauptstadt des Landes, das «Mailand länder Staatsanwaltschaft mit ihren Ermitt- zum Trinken», wie man damals sagte. Wer lungen der sogenannten «sauberen Hände» eine Wertorientierung bemängelte, sollte aufdeckte. Die KPI blieb davon weitgehend sie bei der Solidarność suchen. verschont, konnte sich nach dem Fall der Obwohl sich die KPI Gramscis Pro- Mauer allerdings nicht mehr in ihrer alten gramm lange verpflichtet fühlte, die Lin- politisch-ideologischen Aufstellung um die ke in Italien zur kulturellen Hegemonie zu Gunst der Wählerschaft bewerben. Der von verhelfen, scheiterte sie grandios daran. Berlinguer eingeleitete eurokommunisti- Der Amerikanismus stellt nicht nur die ei- sche Kurs schritt in den 1980er-Jahren nur gentlich hegemoniale Volkskultur Italiens zögerlich voran. Die Partei steckte in einer nach 1945 dar, sondern diente auch stets tiefen Identitätskrise. Die Mehrheit wollte als Grundorientierung der politischen Eli- von der kommunistischen Vergangenheit te. Dies bezeugt der Automatismus, mit Abschied nehmen. Der maximalistische Flü- dem sowohl die Massenmedien als auch gel hielt an der alten Parteinarration fest. die Entscheidungsträger bei internationa- Sie trennten sich auf dem letzten Kongress len Krisen für die Positionen der USA Partei der KPI am 3. Februar 1991. Eine neue po- ergreifen. Das man sich im Voraus mit den litische Gruppierung der Linke sollte sich europäischen Partner verständigen könnte, unter der Flagge der bürgerlich-fortschritt- bevor man Stellung bezieht, wurde nicht in lichen Ideale von 1789 präsentieren. Die Erwägung gezogen. Der rote Faden der Li- Eiche als Symbol der französischen Revo- nientreue zu den USA erstreckte sich von lution stand im Zentrum der neuen Partei- der Skepsis gegenüber der Ostpolitik Willy symbolik. Die Postkommunisten machten Brandts bis zur Teilnahme an den zwei Irak- sich auf die Suche nach einer linkslibera- Kriegen. An der Seite der USA fühlte sich len Position mit europäischen Wurzeln. Die Italien auch im europäischen Kontext bes- Parteiideologen orientierten sich jedoch ser aufgehoben und gewann als Gegenpart lieber am theoretischen Angebot der US- zum Schwergewicht der deutsch-französi- amerikanischen Philosophie als an der Tra- schen Achse eine bessere Verhandlungs- dition der europäischen Sozialdemokratie.

78 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Ja! Nein! Vielleicht...

John Rawls wurde zum Star des neuen poli- en Machthabern an. Nicht nur die in der tischen Zeitalters. Verfassung verankerte Résistance-Mytholo- Eine Grundsatzdebatte über die «Re- gie, sondern die gesamte Wertorientierung geln des Politischen» wurde entfacht. Ita- der Ersten Republik wurde als ein Ausläufer lien sollte auf den Weg der großen euro- des Stalinismus beschimpft und liquidiert. päischen Demokratien gebracht werden. Es kam zu einem Wettkampf der revisionis- Ein neues, dem Mehrheitsprinzip verpflich- tischen Überbietung, die Berlusconis Sen- tetes Wahlgesetz sollte dies ermöglichen. der medienwirksam inszenierten und die Die neue Partei der Linken verbündete sich ihre Krönung in der Erhebung Mussolinis mit den Reformkräften, die einen Volksent- zum bedeutendsten Staatsmann des 20. scheid zur Abschaffung des Proporzsystems Jahrhunderts durch den Historiker Renzo der Ersten Republik anstrebten. Am 9. Juni De Felice erlebte. Geplagt durch ihre ideo- 1991 fuhr das Referendum einen Riesener- logische Desorientierung wusste die Linke folg für die Reformbewegung ein. Die über- jahrelang alldem nichts entgegenzuset- wiegende Mehrheit der Wähler sprach sich zen. Am Ende blieb eine politisch-ethische für den Systemwechsel aus. 1994 fanden Wüste übrig. Italien verfügt über keine re- die ersten Wahlen mit dem neuen Wahlsys- publikanischen Werte mehr, ist regional zu- tem statt. Sie besiegelten den Triumpf des tiefst gespalten und versteht nicht, was es hastig ins Leben gerufenen Mitte-Rechts- mit Europa anfangen soll. Es gab zwar eine Bündnisses von Silvio Berlusconi. Mit die- politische Elite, der die politischen Werte sem Ereignis ging die Aufbruchsstimmung Europas bewusst sind und für die Figuren zu Ende, die die friedlichen Revolutionen in wie Spinelli bis in die 1980er-Jahre hinein Mittel- und Osteuropa seit 1989 in Italien eintraten. Dazu gehört auch Romano Pro- erweckt hatten. Die Linke war zutiefst scho- di, der sich als Präsident der Europäischen ckiert und wirkte wie gelähmt. In den da- Kommission engagierte, nachdem ihn die rauffolgenden Jahren konnte sie unter der Mitte-Links-Parteien 1998 gestürzt hatten. Leitung von Romano Prodi neue Erfolge fei- Der politisch-kulturelle Bruch der 1990er- ern. Allerdings setzte eine politisch-ideologi- Jahre machte es allerdings kaum möglich, sche Umorientierung mit verhängnisvollen die politische Kultur des Europäismus an Folgen in Italien ein. Auch für die Wahrneh- die heranwachsenden Generationen weiter mung des europäischen Projekts brachte sie zu geben. Dies zeigt auch die Entstehungs- bedeutende Konsequenzen mit sich. geschichte der Demokratischen Partei, Ita- liens größtes politisches Projekt der Linken Ablehnung der europäischen Sozialdemokratie seit 1989. Die Fusion der christlich-sozialen Berlusconi hat die postfaschistische Partei Partei La Margherita mit den Postkommu- der Nationalen Allianz salonfähig gemacht nisten der Democratici di sinistra erfolgt und an die Regierung gebracht. Die Signal- 2007 unter der Flagge einer an der Traditi- wirkung dieser Entwicklung war enorm. Es on der US-amerikanischen Democratic Par- schien, als ob alle Hemmungen des öffent- ty inspirierten politischen Ausrichtung. Ein lichen Diskurses fallen gelassen wurden. leerer Behälter für ein vermeintlich posti- Namhafte marxistische Intellektuelle gin- deologisches Zeitalter sollte hergestellt wer- gen nach rechts und dienten sich den neu- den, damit sowohl ehemalige Christdemo-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 79 Gregor Fitzi kraten als auch ehemalige Kommunisten ne besorgte jedoch niemanden wirklich. Als und ehemalige Sozialisten sich dort nieder- Italien wenig später unter Aufsicht gestellt lassen können. Es gehört zur Ironie des Me- wurde und Montis Technokraten-Regierung dienzeitalters, dass die Vertreter der Partito an die Macht kam, war die öffentliche Mei- Democratico heute in Deutschland als Sozi- nung gespalten. Den einen gefiel es, dass aldemokraten angesprochen werden, wäh- Italien wieder ein präsentables Gesicht hat rend sie sich nicht im Geringsten mit der und in Europa ernst genommen wird. Die Tradition der europäischen Sozialdemokra- anderen beanstandeten den Sparkurs und tie identifizieren. die Einmischung der Europäischen Union, sprich der deutschen Bundeskanzlerin, in Populismus die italienische Finanzpolitik. Bei der Einführung des Euros 2002 ergriff Auf Dauer fand die Technokraten-Re- die amtierende zweite Berlusconi Regierung gierung keine Unterstützung durch die keine Maßnahmen, um die Währungsspe- Wählerschaft. Berlusconi hatte Angst. Seine kulationen zu überwachen und einzudäm- Umfragewerte sanken. Seine definitiven Ver- men. Statt dessen rekurrierte Berlusconis urteilungen rückten näher. Er startete mit Rhetorik gerne auf die neue Währung, um vorgezogenen Parlamentswahlen. Im Feb- jede Kritik für die ungelösten Probleme der ruar 2013 fanden sie statt. Nun setzte sich italienischen Wirtschaft von sich zu weisen. die neue politische Bewegung des ehemali- Die einfachen Wähler kauften ihm das ab, gen Komikers und überzeugten Linkspopu- so dass die bedeutende Verschlechterung listen Beppe Grillo durch. Mit einem Hand- des Lebensstandards, die Italien in den umdrehen wurde aus einem Protestblog im 2000er-Jahren auszeichnet, einseitig auf Internet die stärkste Parlamentsfraktion mit die Rechnung des Euros übertragen wur- einem Stimmenanteil von stolzen 25,5 Pro- de. Nach dem Zwischenspiel des zweiten zent. Die antieuropäischen Töne des Movi- Wahlsieges, der zweiten Regierung und des mento Cinque Stelle sind kaum zu überhö- zweiten Sturzes Romano Prodis durch sei- ren. Grillos Erfolg setzte ein nachhaltiges ne Verbündeten kehrte Berlusconi 2008 Erdbeben der politischen Landschaft in an die Macht zurück und leitete das Zeit- Gang. Die Demokratische Partei (PD) war alter des Bunga-Bunga ein. Italien schien zuerst gezwungen mit Berlusconi zu koalie- wie eingefroren und isoliert vom übrigen ren, versuchte sich aber davon zu befreien. Europa. Das Schmunzeln von Merkel und Im September 2013 gelang es dem dama- Sarkozy auf die Frage eines Journalisten ligen Ministerpräsident der PD, Enrico Let- über das Vertrauen in Berlusconis Beitrag ta, Berlusconis Partei zu spalten. Die Füh- zur gemeinsamen Sparpolitik im Oktober rungsriege des Mitte-Rechts-Bündnisses 2011 besiegelte den Prestigeverlust Italiens wollte sich vom vorbestraften und bald zum auf der europäischen Bühne. Der Umstand Sozialdienst verurteilten Berlusconi freispre- erweckte keinen besonderen Alarm in Ita- chen. Doch auch in der PD brodelt es. Die lien. Dass sich europäische Politiker über Ressentiments gegenüber der älteren, aus Berlusconi lustig machen, fand die Hälfte der KPI hervorgegangenen Führungsriege, der Italiener richtig. Die mangelnde Anwe- die trotz anfänglich sehr guter Umfragen senheit Italiens auf der europäischen Büh- nicht in der Lage war, die Wahl 2013 klar

80 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Ja! Nein! Vielleicht... zu gewinnen, sind enorm gestiegen. Der po- Bundeskanzlerin, der die Verantwortung für pulistisch veranlagte und rhetorisch begab- Italiens Misere einseitig zugeschoben wird, te Bürgermeister von Florenz Matteo Renzi d. h. ohne zwischen ihren endogenen und gewann die parteiinternen Primaries und exogenen Ursachen zu unterscheiden. Die- drängte anschließend Letta aus dem Amt. se mit Ressentiments beladene Stimmung Renzis politische Schwäche besteht darin, in einem Wettbewerb gegeneinander ver- dass er nicht durch einen Wahlsieg zum Mi- feindeter Populismen war am Vorabend der nisterpräsidenten wurde. Die Europawahl Europawahl deutlich zu spüren. am 25. Mai 2014 wurde seine erste Bewäh- Im Folgenden seien ein paar Kostpro- rungsprobe, in der er sich gegenüber den ben der Wahlrhetorik genannt, wie sie in zwei Schwergewichten des italienischen Po- Italien zurzeit kursieren. Statt einer klassi- pulismus, Grillo und Berlusconi, mit bravo- schen Wahlkampagne zog der Satiriker Bep- rösen 40,8 Prozent durchsetzen konnte. pe Grillo mit seiner Show durch Italien und In den ersten Wochen seiner Amtszeit hielt seine inzwischen berühmt-berüchtig- gab sich Renzi als guter Schüler Europas. ten Monologe ab. In der entsprechenden Die Maastrichter Kriterien wurden Italien Vorschau war zu lesen: «Ein Monster geht nicht von Europa, oder gar von Deutschland durch Europa. Es heißt Euro. Wer mit ihm aufgedrückt, sondern seien in Italiens eige- verkehrt, ist oft der Armut verfallen. Ganze nem Interesse einzuhalten. Aus der 3-Pro- Staaten sind Schuldner einer Bank, der EZB zent-Klausel sollten jedoch die Investitionen geworden. Wenn Du nicht zahlst, anstelle für die Wiederbelebung der Konjunktur und des Mafioten, kommt die Troika, was viel die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ausge- schlimmer ist. Das politische Europa hat nommen werden. Ähnliche Töne schlug Prä- sich in einen finanziellen Alptraum gewan- sident Napolitiano an, der sich gegenüber delt. Unser Leben, vom Darlehen für das der Europäischen Union als Garant der Re- Haus bis zur Jagd auf den Kormoran, wird gierung eines wohl erfolgreichen aber noch durch unbekannte Beamte fremdbestimmt. unerfahrenen Renzi präsentiert. Eine große Ein surreales, komisches, unhaltbares Euro- Unzufriedenheit mit der amtierenden Eu- pa, das noch niemand erzählt hat». ropäischen Kommission äußerten indessen Die Liga Nord, die in den 1990er-Jah- Romano Prodi und Massimo D‘Alema, der ren die extremistischsten Töne des italieni- ehemalige Chef der Postkommunisten, in schen Populismus quasi erfunden, die Aus- einem vertraulichen Gespräch, das durch länderfeindlichkeit geschürt hat und heute ein Handy aufgenommen wurde. Die Kom- abgeschlagen zusehen muss, wie der Meis- mission sei regungslos und habe nichts ge- ter durch seine Schüler überboten wird, kon- gen die Massenarbeitslosigkeit in Südeuro- zentrierte sich indessen auf die Basta Euro pa unternommen. Das Spardiktat ohne die Kampagne. Im entsprechenden Handbuch ausgestreckte Hand, die Italien aus einer mit dem Titel Basta Euro. Wie man aus ei- mehrjährigen Konjunkturdelle verhelfen nem Alptraum herauskommt war u. a. ein soll, stößt bei einer breiten Mehrheit der Ita- Statement des Ökonomen und ehemaligen liener auf starke Ressentiments. Diese wen- Managing Director bei der Deutschen Bank, den sich vornehmlich gegen die Europapo- Claudio Borghi Aquilini, zu lesen: «Der Euro litik Deutschlands und vor allem gegen die ist der größte Fehler der Geschichte. Die, die

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 81 Gregor Fitzi ihn begangen haben, sind zu allem bereit, davor sowohl in Italien als auch im Ausland um es nicht zuzugeben. Sie sind bereit, die in den besten Laboren und in den aufge- Arbeitsplätze von Millionen Italienern, die klärtesten Salons von Berlin und Paris, von Ersparnisse von ganzen Leben, ein unschätz- Mailand und Rom in vitro vorbereitet wur- bares Vermögen an Unternehmen, das für de. Ein Putsch, der durch die Trennung der die ganze Welt ein Vorbild ist, aufzuopfern. Wirtschaft von der Politik, durch die Tren- Bald werden sie den Verkauf unserer Kunst- nung des ‹Kapitalismus› von der ‹Demokra- schätze sowie der Goldreserven der Banca tie› vollzogen wurde, als ob diese unabhän- d’Italia verlangen. Für Europa sind sie da- gige und somit trennbare Variablen wären». bei, unser Leben zu verkaufen. Sie haben Die Töne der europäischen Wahlkampa- uns in eine Depression gerissen, die schlim- gne des «Sozialdemokraten» Matteo Renzi mer ist als die von 1929. Sie haben ganze waren etwas ausgeglichener. Doch kann da Völker geknetet und erniedrigt, wie die Grie- noch viel passieren. Die Ressentiments der chen, nur um das höllische Instrument des verarmten italienischen Mittelklasse sind Euros aufrechtzuerhalten. Eine Last, die uns enorm gewachsen. Wer seinen Lebensstan- vergessen lässt, was Freiheit ist». dard in den letzten zehn Jahren um gut die Berlusconis Partei warb ihrerseits mit Hälfte sinken sah, sucht nach einem Sün- dem Slogan: «Mehr Italien in Europa. We- denbock. Europas Sparpolitik eignet sich niger Europa in Italien». Zur Erklärung heißt sehr gut dafür. Dass die italienische Misere es: «Mehr Italien, weniger Deutschland. Die durch die privilegierte Stellung der parasitä- durch Deutschland erzwungene Austerity ren Upperclass bei einer völlig abwesenden hat uns zur Rezession geführt. Das müssen Umverteilungspolitik endogene Ursachen wir ändern! Schluss mit der Fremdwährung hat, will niemand wahrhaben. Antieuropäi- Euro. Sparen wir 50 Milliarden. Nein zu dem sche Argumente sind in der Wahlpropagan- durch Europa erzwungenes fiscal compact». da wirksamer. Renzi hat große Erwartungen Am Ende der Webseite der Partei steht ein nach einer Kursänderung der italienischen Zitat aus dem Buch Bugie e verità (Lügen Politik und nach einer Verbesserung der und Wahrheit) des ehemaligen Wirtschafts- Lebenslage der Mehrheit der Italiener er- ministers von Berlusconis Regierung, Giulio weckt. Er ist extrem ehrgeizig. Nach seiner Tremonti, das sich offenbar auf ihre Krise Bewährungsprobe bei der Europa-Wahl im Sommer 2011 bezieht: «Im August-Sep- zeigt sich, wie weit er bereit ist, mit seinem tember 2011 wurde in Italien ein‹ ‹weicher› eigenen Populismus zu gehen, um seine Staatsstreich durchgeführt. Ein Putsch, der Stellung zu sichern.

82 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Jennifer L. Allen / Terence Renaud Europäische Geschichte aus Sicht US-amerikanischer Studenten am Beispiel Deutschlands

Deutschland-Bilder ben, die oft so zusammengestoppelt sind, Bei US-amerikanischen Studenten,1 die das dass sie mehr einer Collage ähneln als ei- Glück gehabt haben, eine kurze Ferienzeit nem zusammenhängenden Bild einer na- oder einen akademischen Austausch in tionalen Geschichte, Politik und Kultur. Es Deutschland verbracht zu haben, ruft das ist ebenso in Bezug auf andere europäi- Wort «Deutschland» Vorstellungen von bay- sche Länder, auch wenn sich die Amerika- erischen Dirndlkostümen, Oktoberfest und ner mit den Briten und Iren ein bisschen großen, warmen, weichen Brezeln hervor. enger verbunden fühlen mögen. Deutsch- Vielleicht auch Vorstellungen von Döner, land ist für unsere Studenten das Deutsch- gelockerten Regelungen hinsichtlich alko- land der Filme Schindlers Liste, Inglourious holischer Getränke im öffentlichen Raum Basterds, Operation Walküre und vielleicht und legendären Techno-Partys. Eventuell auch Good Bye, Lenin!, Das Leben der An- kennen die Studenten auch den Namen deren oder Unsere Mütter, unsere Väter. Ihr Berghain oder Tacheles. Möglicherweise Deutschland ist das Deutschland der Fuß- ist ihnen das von Ludwig II. beauftragte ballweltmeisterschaften, deren ziemlich Schloss Neuschwanstein schon bekannt – wenige amerikanische Zuschauer sich als ein Schloss, das als Vorbild für die Marke irgendwie «cooler» und kosmopolitischer des enormen Disney-Reichs ihrer Kindheits- fühlen als ihre Freunde, denen Fußball tage diente. nicht gefällt. Ihr Deutschland besteht viel- Die anderen, die nie Deutschland be- leicht auch aus einem Stück der Berliner sucht haben, kennen das Land aber aus Mauer, das ein Verwandter ihnen als An- Filmen, Tageszeitungen, Abendnachrichten denken zurückgebracht hat. Da sie in ei- und natürlich dem Geschichtsunterricht. Ihr ner Welt ohne UdSSR, ohne Berliner Mauer «Deutschland» besteht aus kleinen Scher- und ohne geteilte Staaten und Städte auf- gewachsen sind, wird ihr Deutschland-Bild mit Kaltem-Krieg-Kitsch statt echtem politi- 1 Obwohl viele unserer Studenten aus dem Ausland schem Konflikt ausgestaltet. Das Weltbild kommen, bezeichnen wir sie als «US-amerikanische der Mehrheit unserer Studenten enthält nur Studenten», weil unsere Unterrichte und das Mili- eu dieser Studenten entscheidend von amerika- ein Deutschland, und bedauerlicherweise nischer Kultur und amerikanischen Institutionen wissen sie davon ziemlich wenig. geprägt sind. Wir betrachten uns selbst in gleicher Weise als US-amerikanisch – ohne Rücksicht auf Wissen und Nicht-Wissen Staatsbürgerschaft – obwohl wir eine geraume Zeit in Deutschland verbracht und gewohnt haben Als zwei Doktoranden im Fach Geschichte und obwohl wir eine enge Verbundenheit mit un- an der University of California-Berkeley ar- serer akademischer Wahlheimat fühlen. beiten wir oft als LehrassistentInnen, die

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 83 Jennifer L. Allen / Terence Renaud kleine Seminare (discussion sections) leiten. Die Lücken ihres durchschnittlichen his- Diese Seminare finden neben den großen torischen Wissens sind auf den ersten Blick Vorlesungsreihen und Lehrveranstaltungen erstaunlich: es gab kein Heiliges Römisches statt. Auf diese Weise haben wir oft die Reich, keinen Johannes Gutenberg, keinen Chance, direkteren und engeren Kontakt Martin Luther (außer wenn man evangelisch mit den Studenten als die ProfessorInnen ist), keinen Dreißigjährigen Krieg, keinen aufzunehmen. Da wir in dieser Hinsicht Westfälischen Frieden, keinen Wiener Kon- auch an der Schaffung bzw. Umarbeitung gress und kein Frankfurter Parlament. Ob- des allgemeinen Deutschlandbildes unse- wohl man von einem Staatsmann namens rer Studenten teilnehmen, beobachten wir Bismarck wahrscheinlich schon gehört hat, aufmerksam, was unsere Studenten von beginnt deutsche Geschichte tatsächlich Deutschland wissen und nicht wissen, wo- mit dem Ersten Weltkrieg. Die komplizier- für sie sich interessieren und was sie – zu te Entstehung des Deutschen Kaiserreiches unserem Leidwesen – langweilig finden. und die vergeblichen Bemühungen, eine de- Die folgenden Bemerkungen, die unsere mokratische Revolution im 19. Jahrhundert Erfahrungen und Überlegungen darstellen, auszuführen, fehlt in ihrem Geschichtsbild. möchten wir im Voraus als nur impressionis- Unbekannt sind die deutsche Beteiligung tisch und ganz unwissenschaftlich bezeich- am europaweiten Wettlauf um Afrika und nen. die Schnelligkeit deutscher Industrialisie- Obwohl jedes Seminar Sonderfälle hat, rung. Der Begriff «Aufklärung» ist unseren fangen die meisten Studenten in der Regel Studenten allgemein bekannt, ebenso Kant, mit einem finsteren Bild von der Geschichte Beethoven und Mozart – aber nicht als Teil Europas und Deutschlands an. Europäische dieser europaweiten Geistes- und Kulturbe- Geschichte empfinden sie als eine vage wegung. Mit dem Namen Karl Marx sind sie Mischung von Revolutionen, Reaktionen, natürlich vertraut; mit der Entwicklung des Industrialisierungen und Nationalisierun- Sozialismus sowohl als Idee als auch als po- gen. Vielleicht erinnern sie sich an ein paar litische Praxis aber nicht. Daten, Namen und Orte, die schon in der Grundschule und Sekundarschule immer Das 20. Jahrhundert wieder zur Sprache kamen. «Europäische Anders ist es aber, nachdem sie die Schwel- Geschichte» wird meistens für eine lange le des 20. Jahrhunderts überqueren. Die Epoche der Könige, Ritter und Schlösser ge- kulturellen und politischen Aspekte der halten. Danach aber kam die Französische Weimarer Republik sind unseren Studen- Revolution und Napoleon, und deshalb gibt ten ziemlich gut bekannt: die expressionis- es heutzutage keine Monarchie mehr. Fol- tischen Filme, das Phänomen des Dada- gend war Kolonialismus und die Herstel- ismus, die Tapete aus dem durch massive lung u. a. der amerikanischen Kolonien. Inflation wertlos gemachten Bargeld und Und mit den amerikanischen Einschaltun- natürlich das Aufkommen des Nationalso- gen in den Ersten und Zweiten Weltkrieg zialismus hinter dem jungen Mann, dessen endete diese Geschichte. Das heißt natür- erste (unerwiderte) Liebe Aquarellmalerei lich nicht, Hitler und die Nazis zu vergessen. war. Wahrscheinlich wenig überraschend ist Und es gab irgendwann eine Mauer, oder? es, dass viel von deutscher Geschichte aus

84 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europäische Geschichte aus Sicht US-amerikanischer Studenten am Beispiel Deutschlands

Sicht amerikanischer Studenten sowohl be- meine Vorfahren haben keine Sklaven be- ginnt als auch endet mit den Nazis. sessen. Was hat die Schuld an der Sklaverei Mehrmals haben die Studenten die mit mir zu tun? Ich habe gar nichts getan” – Namen Hitler und Auschwitz gehört. Mit so etwas Ähnliches hört man oft von ihnen. einem morbiden Schauder und einer rela- Ihrer Meinung nach funktioniert die Nazi- tiv schuldlosen Naivität schauen sie Fotos zeit für die Deutschen auf ähnliche Weise. von den irgendwie noch lebenden Gerippen Filme wie 12 Years a Slave und Unsere Müt- von Dachau anlässlich ihrer Befreiung an. ter, unsere Väter sind deshalb funktional Sie fragen sich, wie Menschen solch eine gleich: es fällt solchen Filmen schwer, die- Gewalt anderen Menschen antun können. se beiden geschichtlichen Erfahrungen und Dann lesen sie Primo Levi, Hannah Arendt die damit verbundene Mitschuld völlig zu und Albert Speer. Obwohl man nie ein vol- gegenwärtigen.2 les Verständnis von diesen Gräueltaten ha- Teilweise aus diesem Grund haben ei- ben kann, nähern sich unsere Studenten nige Begriffe und Bezugspunkte deutscher damit ein wenig an die Asymptote des ge- Geschichte bei unseren Studenten ihre schichtlichen Verständnisses an. konkreten sozialen, politischen und kultu- Zwischen diesen Studenten und ame- rellen Bedeutungen verloren. Gelegentlich rikanischen Studenten vergangener Ge- spricht man von «Appeasement» in Bezug nerationen gibt es aber einen wichtigen auf irgendeine Vogel-Strauß-Politik (zuletzt Unterschied. Die heutigen Studenten ent- hinsichtlich der Krim). Im Vergleich mit den koppeln fast ausschließlich die Erinnerung 1960er- und 1970er-Jahren, als «Faschis- an den Holocaust und den Nazi-Terror von mus» und «Faschisten» die Metaphern erster der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft. Wahl für die Beschreibung einer untragba- Ihnen ist Deutschland keine tatsächliche ren Politik waren, scheint die heutige Ver- oder mögliche «Täternation». Man glaubt wendung solcher Worte jedoch eher miss- nicht, dass alle Deutschen Nazis sind oder bräuchlich. Solch eine Entfernung von den sein könnten. Das war vor einigen Jahrzehn- Ereignissen der Nazizeit produziert auch ten eine leider weit verbreitete These. Das lustige Wirkungen. Da Namen wie Joseph heißt, die Schuld an den Nazi-Verbrechen Goebbels partiell ihre Gravität verloren ha- liegt zwar in der Vergangenheit. Der Auf- ben, lohnt es einigen unserer Studenten trag zur und die Verantwortung für Erin- nicht, die genaue Rechtschreibung seines nerung bleibt ihnen aber gegenwärtig. Als Namens zu lernen. Auf einer Prüfung wur- Schüler haben sie irgendwann das United States Holocaust Memorial Museum be- sucht und Das Tagebuch der Anne Frank 2 Vor einigen Jahrzehnten war solch eine Aufgabe vielleicht einfacher zu erfüllen. Die schwarze Bür- gelesen. Ihres Erachtens lässt der Holocaust gerrechtsbewegung in den 1950er- und 1960er- sich mit der Sklavenzeit in den USA verglei- Jahren hat in den USA die politischen und sozia- chen: zwei unangenehme Themen, die sich len Folgen der Sklavenzeit neu in Frage gestellt. angenehm zeitlich distanziert fühlen. Un- Nur kurz danach fingen die (West-)Deutschen an, die Nazi-Vergangenheit aufzuarbeiten. Aus diesem sere Studenten erkennen sich als Teil einer Grund funktionierten Filme und Fernsehserien wie postmodernen und sozusagen «post-racial» Roots (1977) und Holocaust (1978) ganz anders Generation. „Aber ich bin kein Rassist und als die heutigen Produktionen.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 85 Jennifer L. Allen / Terence Renaud de er einmal als «Joe Gobbles» geschrieben Ausblick und versehentlich wurde der berüchtigte Endlich kommen wir zurück zum heutigen nationalsozialistische Propagandaminister Deutschland. Man hat eine Ahnung von der zu einer Karikatur des amerikanischen Ern- unbesiegbaren deutschen Wirtschaft, von tedankfests («Gobble» ist das Geräusch ei- Angela Merkel und ihren bunten Power Suits nes Truthahns, was traditionell als Haupt- und von der Größe und Vielfalt der deut- gericht des Fests dient). Bei einem anderen schen Bevölkerung. Obwohl die Spannungen Anlass hat ein Student in Bezug auf die innerhalb der EU und die Kritik an der «im- Novemberpogrome «cinigogs» statt «syn- perialistischen» Finanzpolitik Deutschlands agogues» (Synagogen) geschrieben, was unseren Studenten größtenteils unbekannt Amerikanern ein bisschen wie eine Art sü- oder mindestens undurchsichtig sind, erwar- ßes Frühstücksgebäck mit Zimt klingt. ten sie, dass Deutschland in Europa eine Nach Joe Gobbles, Cinigogs, Adolf Hit- stabilisierende Vermittlerrolle spielen wird. ler und Auschwitz macht die deutsche Ge- Das gilt nicht nur für die Ereignisse in der schichte des 20. Jahrhunderts im Großen Ukraine und auf der Krim. Deutschland steht und Ganzen eine Pause. Dass es einmal für Frieden und ein vereintes Europa. Für die zwei deutsche Staaten gab, ist für unsere heutige Generation US-amerikanischer Stu- Studenten bestenfalls eine kleine Fußnote, denten gibt es keine «Deutsche Frage». die mit der Berliner Mauer und dem sow- Da wir keinen ungerechterweise negati- jetischen Kitsch verbunden wird. Schlimms- ven Eindruck unserer Studenten vermitteln tenfalls ist es ganz vergessen. Einerseits ha- wollen, möchten wir mit einigen positiveren ben die Studenten das Elend und Trauma Aspekten schließen. Deutschland als Na- der ostdeutschen Diktatur vergessen oder tion scheint den meisten Studenten ganz einfach niemals davon gehört. Anderer- normal zu sein. Ihre allgemeine Stimmung seits mangelt es ihnen an Verständnis für gegenüber Deutschland ist neugierig, opti- die sozialistische Verheißung einer besseren mistisch und zukunftsorientiert. Wie andere nicht-kapitalistischen Welt.3 Es gab bei ih- Nationen auch hat Deutschland eine viel- nen keinen 17. Juni, keine Stasi und keine schichtige Geschichte, die sowohl das Gute friedliche Revolution. Die Berliner Mauer als auch das Böse enthält. Je mehr unsere existierte einmal, aber sie ist einfach nicht Studenten von dieser Geschichte erfahren, mehr da. Die verbleibenden Stücke finden desto höher schätzen sie die Fortschritte, sie trotzdem schön. Ebenso die Erinnerung die Deutschland seither gemacht hat. Man- an David Hasselhoff, der manchen unserer che entwickeln sogar eine Leidenschaft 1980er- und 1990er-nostalgischen Hipster- für Deutschland, wenn sie erkennen, dass Studenten möglicherweise bekannt bleibt. es noch viel gibt, das die USA in den Be- reichen Energie, Wohlfahrt usw. vom heu- tigen Deutschland erfahren könnten. Die Normalisierung einer nationalen Geschich- te hat Vorteile und Nachteile. Unsere Rolle 3 Vgl. Ingo Schulze, «1989: How We Lost Political Alternatives», Bulletin of the German Historical als LehrassitentInnen ist zwischen der Skyl- Institute (Washington D.C.), Vol. 52 (Spring 2013), la einer Vollnormalisierung und der Charyb- S. 75–92. dis eines deutschen Sonderwegs zu steuern.

86 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Europäische Geschichte aus Sicht US-amerikanischer Studenten am Beispiel Deutschlands

Oft bedeutet das, dass wir die Instinkte sprechende Klassenstruktur (eine breite unserer Studenten mit weniger Skepsis be- Mittelstandsgesellschaft) und die elitären trachten und mehr Vertrauen darauf setzen. Institutionen wie Universitäten nähern sich Es wird manchmal behauptet, dass erheblich an. Vor allem schreitet der Prozess sich die USA und Europa kulturell ausein- der Globalisierung immer weiter fort, wo- ander entwickeln. Unserer Erfahrung nach durch die materiellen und technologischen ist solch eine Behauptung übertrieben. Das Normen aller entwickelten Länder letztend- Zeitalter des amerikanischen Kulturimpe- lich homogenisiert werden. Wohl oder übel rialismus ist zwar schon vorbei, aber der sind sowohl unsere Studenten als auch die gegenseitige Handel in Konsum- und Kul- Studenten an europäischen Universitäten turprodukten bleibt stetig. Auch die ent- die Avantgarde dieses Prozesses.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 87 WILLY-BRANDT-SPEZIAL

Tobias Kühne Willy Brandt und kein Ende?

Das «ds» im Titel unserer Zeitschrift steht Bezug zur historischen Person oder der «Neu- für «Demokratischer Sozialismus» und so en Ostpolitik» haben, muss bezweifelt wer- verwundert es nicht, dass der demokrati- den. Die Beteiligten müssten es eigentlich sche Sozialist Willy Brandt uns bewegt, an- besser wissen, aber mit Brandt ist noch je- regt und zu manchem Beitrag veranlasst. der Kommentar und jede Meinung gegen Einige der besten Brandt-Kenner unter den Kritik immunisiert. Aus einem anderen poli- Historikern und Politikwissenschaftlern sind tischen Lager kommen noch merkwürdigere Mitglieder der HDS oder schreiben regelmä- Einwürfe: «‹Ich knüpfe an Willy Brandt an›, ßig für die perspektiven ds. sagt er, die Stimme bedeutungsvoll gesenkt: Allerdings: Gerade nach dem Jubiläums- ‹Ich schlage der Bundesregierung vor, dass jahr 2013 mag man «von Willy» auch schon wir eine neue Ostpolitik machen.›»1 So Gre- nichts mehr hören und lesen. Die unzähligen gor Gysi auf dem letzten Parteitag der Links- Publikationen sind selbst für Interessierte partei, auf dem seine Parteifreundin Sevim kaum noch zu überschauen und die immer Dağdelen in diesem Zusammenhang von gleichen Bilder und Zitate, «Kniefall» und einer «Kumpanei der Bundesregierung mit «mehr Demokratie wagen», im Fernsehen Faschisten»2 sprach. und der Presse – sie nerven langsam. Kaum In seiner Funktion als politischer Stein- eine sozialdemokratische Rede kommt ohne bruch befindet sich Willy Brandt in guter Bezugnahme auf den langjährigen Parteivor- Gesellschaft. Darüber, wie häufig August sitzenden aus und man hat nicht immer den Bebels Die Frau und der Sozialismus gründ- Eindruck, dass die Redner und Redenschrei- lich missverstanden und seine Argumenta- ber mit dem demokratisch-sozialistischen tion in das genaue Gegenteil verkehrt wor- Kontext und Potential der eingewobenen Zi- den ist3, ließe sich ein separater Aufsatz tate vertraut sind. «Mehr Demokratie» etwa bedeutete ja nicht, alle Jubeljahre einmal 1 Süddeutsche Zeitung vom 12. Mai 2014. in einem zentral gelenkten Prozess über ei- 2 taz vom 12. Mai 2014. nen Koalitionsvertrag abzustimmen. Und ob 3 Zahlreiche Beispiele für «interessante» Interpretatio- die seltsamen Einwürfe einiger Weggefähr- nen in Bissinger, Manfred/Thierse, Wolfgang (Hg.): ten und «Enkel» Willy Brandts zum Konflikt Was würde Bebel dazu sagen? Zur aktuellen Lage in der Ukraine überhaupt noch irgendeinen der Sozialdemokratie, Göttingen 2013, S. 249 ff.

88 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Willy Brandt und kein Ende? schreiben. Die Frage «Was würde Bebel im Jahr 2014 nicht mehr weiter, seine Be- dazu sagen?» kann knapp beantwortet wer- schwörung in Reden und Beiträgen ist eher den: Nichts. Mit Bebel und noch mehr Willy ein Ausdruck von Hilflosigkeit und einer hei- Brandt lässt sich – so muss man es leider meligen Erinnerung an die alte BRD – eine formulieren – monetär und politisch «Kasse Zukunftsperspektive ist dies nicht. Hätte der machen». junge Willy Brandt im Jahr 2014 womöglich Dennoch haben wir uns in der Redak- der Sozialdemokratie den Rücken gekehrt tion dazu entschlossen, in diesem Heft ein und wäre einer sozialistischen Alternative kleines Willy-Brandt-Spezial zu publizie- beigetreten? Man sollte der Skulptur im Wil- ren und zu weiteren Beiträgen einzuladen. ly-Brandt-Haus jedenfalls ein Pendant des Klaus Schönhoven beschäftigt sich mit Wil- Jahres 1931 an die Seite stellen um, wie es ly Brandts Rolle als Parteivorsitzender, die auf der Homepage des Willy-Brandt-Hauses zu Unrecht hinter seinen Leistungen als geschrieben steht, «zum Nachdenken und Kanzler verblasst oder ihn in der Spätzeit in Interpretieren» herauszufordern. der öffentlichen Wahrnehmung in die Rich- Eine Schlagwortsuche «Willy Brandt» tung des «netten linken Parteionkels» rückt. im Bibliothekskatalog der Friedrich-Ebert- Gleiches gilt für seine Zeit in Berlin, in der Stiftung ergibt 980 Treffer (Stand: 6. Mai er ja Protagonist harter und bisweilen voll- 2014, «August Bebel»: 289 Treffer). Kaum kommen überzogener innerparteilicher ein wichtiges Dokument, das – wie so vor- Auseinandersetzungen war. Bernd Rother bildlich in der 2009 abgeschlossenen Berli- hingegen wirft einen Blick zurück auf das ner Ausgabe5 geschehen – noch nicht ediert Gedenken an Willy Brandt im Jahr 2013. Er worden wäre. Ist Willy Brandt also «ausge- verdeutlicht, dass dem Gedenken trotz und forscht», bleibt der Historikerzunft nur noch gerade wegen der durchgehend positiven mikroskopische Kleinstarbeit übrig? Nicht Bewertungen doch auch eine gewisse Am- so ganz. Brandts Leistungen in der Innen- bivalenz innewohnte. «Und die SPD?», fragt politik sind noch nicht hinreichend ausge- er treffend – ist im Brandt-Jahr zur Mehr- leuchtet. Auch ideengeschichtliche Aspekte heitsbeschafferin der Union geschrumpft, bleiben unterbelichtet. Wo eigentlich lagen so sehr man auch 1966 beschwören mag. die Kontinuitäten im politischen Denken Eines ist diesbezüglich anzumerken: «Die Willy Brandts? Es ist ja kein Zufall, dass ge- Wirtschaftspolitik der Großen Koalition, rade ein «Linksozialist» – man denke auch maßgeblich formuliert und durchgesetzt an Willi Eichler oder Fritz Erler – die Nach- von der SPD-Koryphäe , ging kriegs-Sozialdemokratie als linke Reform- mit einer vielseitigen keynesianischen Glo- partei in der gesellschaftlichen Mitte veran- balsteuerung die Probleme an.»4 Nun ja, kerte. Die SPD wurde nicht (nur) von innen, diese Zeiten sind vorbei. sondern auch von (halb-)außen (SAP, ISK, Politisch gesehen hilft der Brandt-My- Neu Beginnen) modernisiert. Entgegen der thos als sozialdemokratisches Poesiealbum sozialdemokratischen Erzählung war Willy Brandt eben mehr demokratischer Sozialist 4 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsge- schichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949- 5 http://www.willy-brandt.de/stiftung/forschung/ 1990, München 2008, S. 60. berliner-ausgabe.html.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 89 Tobias Kühne als Sozialdemokrat, «Vernunft-Sozi» aber si- heitspolitische Funktion Willy Brandts wird cher kein gläubiger «Parteisoldat». Ein «lin- ausschließlich auf den «Kniefall» reduziert7, ker Lebenslauf»6 umfasst mehr als ein Par- aber da gibt es gewiss mehr, das ein Hinse- teibuch und das kann man z. B. angesichts hen lohnt. Es ist wohl gerade die Entkop- der Zustände im ehemaligen Landesver- pelung von Willy Brandt und der Sozialde- band Willy Brandts nicht überbetonen. mokratie in der kollektiven Erinnerung, die Am spannendsten aber bleibt die auch dazu beigetragen hat, dass die SPD von der von Bernd Rother aufgeworfene Frage nach allgemeinen Anhänglichkeit an ihn nicht Willy Brandt als deutscher (oder europäi- oder kaum noch profitiert. Und vielleicht scher?) «Erinnerungsort». Wie eigentlich ent- auch ein Unwissen innerhalb der SPD, aus stand der Mythos, die Ikone «Brandt»? War- welchen historisch und moralisch veranker- um ist «der andere Deutsche» – zu Lebzeiten ten Grundwerten heraus Willy Brandt seine umstritten und heftig geschmäht – heute schöpferische Politik entwickelte. in fast jedem politischen Lager anschluss- Wir werden uns in den perspektiven ds fähig und warum, der Name Albrecht Mül- also wieder und weiterhin an Willy Brandt ler fällt einem hier fast zwangsläufig ein, abarbeiten. Nicht um etwas von ihm zu ler- kann er für beliebige politische Forderun- nen, sondern über uns. Klaus Schönhoven gen «missbraucht» und «ausgeschlachtet» und Bernd Rother machen einen Anfang. werden? Die erinnerungs- und vergangen-

7 Vgl. Kumkar, Nils: Der Kniefall von Warschau, in: Walter, Franz/Butzlaff, Felix (Hg.): Mythen, Ikonen, Märtyrer. Sozialdemokratische Geschichten, Berlin 2013, S. 127-135; Krzemiński, Adam: Der Knie- fall, in: François, Étienne/Schulze, Hagen (Hg.): 6 Vgl. Heimann, Siegfried: Was ist ein linker Lebens- Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 42001, lauf?, in: perspektiven ds 27 (2), 2010, S. 51–55. S. 638–653.

90 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Bernd Rother Willys Hundertster

Willy Brandt hatte 2013 Konjunktur. Im ver- listischen Revolutionäre, in der sich Brandt gangenen Dezember gab es kaum ein Medi- in den 1930er-Jahren bewegte, keinen Zu- um, das nicht seinen 100. Geburtstag zum gang gefunden hat. Anlass für ausführliche Berichte, für Extra- Bernd Faulenbach ist auf knapp 130 beilagen und für Sonderhefte nahm. Etwa Seiten eine ausgewogene Biographie gelun- 250 Artikel im In- und Ausland, 18 TV- gen, die auch die späten Jahre gebührend Sendungen und noch mehr Radiobeiträge würdigt. Einhart Lorenz, dessen Porträt auf widmeten sich Willy Brandt, darunter eine Norwegisch und auf Deutsch erschienen ist, Fernsehdokumentation, die auf Arte und behandelt die ersten Lebensjahrzehnte bis im Ersten gesendet wurde. 23 neue Bücher zur Rückkehr aus dem Exil besonders inten- über Brandt erschienen, neun wurden wie- siv. Für die Folgezeit streut er immer wieder der aufgelegt. Welche Botschaften wurden Stimmen aus Skandinavien und anderen von den Medien transportiert? Woher rührt Ländern ein und durchbricht damit die rein das enorme öffentliche Interesse? Was wird deutsche Perspektive auf Brandt. Sein Buch vermutlich bleiben? Und auch: Was hat die gewinnt dadurch. Ähnliches kann man von Sozialdemokratie davon? Hélène Miard-Delacroix sagen, nur dass hier aus nahe liegenden Gründen die fran- Der Büchertisch zösische Sicht gewählt wird. Wie auch Fau- Beginnen wir mit einem Blick auf den Bü- lenbach bewegt sie sich auf der Höhe der chermarkt. Bernd Faulenbach, Vorsitzender Forschungen zu Brandt und vergisst nicht der Historischen Kommission der SPD, Ein- die Jahre zwischen 1974 und 1989. Was hart Lorenz, deutsch-norwegischer Spezia- nun noch fehlt, ist eine englischsprachige list für Brandts Exilzeit, Hans-Joachim No- Biographie. Eine niederländische ist für das ack, als Spiegel-Redakteur lange Jahre dicht Frühjahr angekündigt. an Brandt dran, und die französische Zeit- Der hundertste Geburtstag konnte nicht historikerin Hélène Miard-Delacroix haben ohne die Veröffentlichung persönlicher Er- neue Gesamtbiographien vorgelegt. Eher innerungen vorbeiziehen. Überraschend enttäuschend ist Noacks Werk. Von der war, dass mit Peter Brandt erstmals eines Nähe zu Brandt ist im Buch kaum etwas zu der Kinder ausführlich berichtet. Willys äl- spüren, weder durch Anekdoten noch durch tester Sohn, bis vor wenigen Wochen Ge- eine besondere Tiefe der Erkundung von schichtsprofessor an der Fernuniversität Ha- Person und Politik. Brandts internationale gen, mischt dabei klug selbst Erlebtes mit Aktivitäten nach dem Rücktritt als Bundes- der Reflexion und Analyse des professionel- kanzler – ob als Präsident der SI oder als len Historikers. Nunmehr vier Auflagen des Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission – Buches sind eine Belohnung dafür. Auch kommen praktisch nicht vor. Zu spüren ist hat – aufbauend auf seiner 1996 auch, dass der Autor zur Welt der linkssozia- erschienenen Autobiographie – seine Sicht

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 91 Bernd Rother

Willy Brandts zu Papier gebracht. Viele der den klügsten Köpfen unter den politischen Fakten sind nicht neu, aber die Gedanken Journalisten gehört. Er blickt weit über die darüber, was für ein Mensch und Politiker Sachthemen hinaus und stellt uns die bei- der Freund gewesen ist, sind auch für Ken- den Charaktere vor. Über alle Schwierigkei- ner der Brandtschen Vita anregend. Dass ten hinweg – der Tiefpunkt dürfte 1983 ge- sich auch Albrecht Müller zu Wort melden wesen sein – verband die beiden Großen der würde, war absehbar. Seit Jahren ist er die Nachkriegssozialdemokratie tiefer Respekt. prominenteste Stimme der Willy-Nostalgiker. Und von Schmidts Seite war es anfänglich Nach jedem verlorenen Wahlkampf mahnt und zum Schluss wieder auch Freundschaft. er die SPD, den von 1972 zum Vorbild zu Dem Verhältnis beider zueinander wird eine nehmen, dann werde es schon klappen. In Edition des Briefwechsels, die Meik Woyke seinem neuen Buch schießt er Breitseiten von der Friedrich-Ebert-Stiftung im Auftrag auf Historiker ab, die Brandt seiner Meinung der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung er- nach seit Jahren herunterschrieben. stellt, schärferes Profil geben. Eine Publikation sui generis sind Tors- Zwei andere Editionen sind bereits er- ten Körners 500 Seiten über «Die Familie schienen: der Briefwechsel Brandt-Grass und Willy Brandt». Der Titel lässt monarchisti- Brandts Reden zur Geschichte. Asymmet- sche Hofberichterstattung befürchten. Ganz risch könnte man das Verhältnis zwischen so schlimm kommt es dann doch nicht. den beiden Nobelpreisträgern nennen. Der Über lange Passagen sind es sehr plausi- Schriftsteller traktierte den Politiker mit ble, manchmal gar faszinierende Lesarten langen Briefen, auf die dieser nicht immer, von Brandts politischem und privatem Le- aber stets knapp antwortete. Dennoch soll- bensweg. Sprachlich bewegt sich das Buch te nicht unterschätzt werden, wie wichtig auf hohem Niveau. Lars und Peter Brandt Grass in den 1960er- und 1970er-Jahren für haben sich dem Autor in einem Maße ge- Brandt war, als Verbindungsmann zu Intel- öffnet, wie das nicht zu erwarten gewesen lektuellen und als Anreger für Worte wie für war. Aber dann gibt es doch Abschnitte, Themen. Grass träumte wohl, darüber hin- wo im besten Intellektuellenjargon Banales aus zu einem deutschen Pablo Neruda zu dargeboten wird, das man auch in der Bun- werden, der das Chile Salvador Allendes als ten finden könnte, nur eben dort in barrie- Botschafter in Paris vertreten durfte. Dafür refreiem Deutsch. «Rocco und seine Brüder» aber war Brandt zu sehr Realpolitiker. ist solch ein Kapitel; es handelt vom «bilin- Dass Brandt ohne die Nazi-Diktatur viel- gualen Papagei» der Familie. Wer praktisch leicht ein respektabler Historiker geworden nicht vorkommt, ist Brigitte Seebacher. Der wäre (er hatte beabsichtigt, Geschichte zu Autor gibt dafür keine Begründung ab. So studieren), zeigt die Edition seiner Reden bleibt es ein Buch, dessen Titel eigentlich zur deutschen und zur sozialdemokrati- «Die Familie Rut und Willy Brandt» hätte schen Geschichte, die Klaus Schönhoven be- lauten müssen. sorgt hat, ebenfalls für die Bundeskanzler- Uneingeschränkt empfehlenswert ist Willy-Brandt-Stiftung. Auf 850 Seiten kann Gunter Hofmanns Essay über Willy Brandt man nachvollziehen, wie für Brandt histo- und . Der frühere Zeit-Kor- rischer Rückblick und gegenwärtige Politik respondent beweist auch hier, dass er zu immer wieder zusammengehörten. Bei al-

92 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Willys Hundertster len Einschränkungen, die auch ihm bewusst Zum Geburtstag sind auch Neuaufla- waren, beharrte Brandt darauf, dass aus der gen von Standardwerken erschienen, unter Geschichte Schlüsse gezogen werden könn- denen zuallererst Peter Merseburgers Bio- ten, wenn man schon nicht vom «Lernen graphie zu nennen ist. Leider hat nur Gre- aus der Geschichte» reden will. Sein eigenes gor Schöllgen dies zum Anlass einer aktu- Geschichtsbild war durchaus fest verankert. alisierenden Neubearbeitung genommen. Das überwiegend negative Urteil über die Brigitte Seebachers Erinnerungen an ihren Mehrheitssozialdemokratie in der Revoluti- Mann kamen unverändert auf den Markt. on 1918/19 ließ er sich von Einwänden uni- Neue Sichtweisen gab es also, aber tra- versitärer Historiker nicht nehmen. ditionelle Herangehensweisen dominierten. Wie breit Willy Brandts 100. Geburtstag Körners Familiengeschichte und die beiden von Verlagen und Verlegern als bedeuten- Comics gehören zu den Innovationen, trotz des Datum der Geschichtskultur verstan- der Defizite. Peter Brandts Buch und die Äu- den wurde, zeigen auch zwei Comics – ein ßerungen seiner Brüder Lars und Matthias Genre, das bei solchen Anlässen eher selten sowie der einzigen Tochter (aus der ersten zum Zuge kommt. Heiner Lünstedts und In- Ehe), Ninja Frahm, gegenüber Körner und grid Sabischs Comic ist zwar ästhetisch ge- den Medien brachten auch viel über sie lungener, aber vom sachlichen Gehalt und selbst ans Licht. Als erfreulich kann kons- von der historischen Genauigkeit wenig tatiert werden, dass nicht im entferntesten empfehlenswert: Das Buch von Helga Gre- Reminiszenzen an den Streit in der Familie bing und Ansgar Lorenz bietet Besseres. Helmut Kohls zu erkennen waren. Schließlich sei noch auf zwei weite- Zur Bilanz dieser Publikationswelle ge- re Neuerscheinungen verwiesen. «Willy hört auch, dass der Ver- Brandts Außenpolitik» ist Titel und Thema lierer im Wettstreit der Erinnerungen ist – eines Sammelbandes, der vom Autor dieser jedenfalls wenn der Blick auf die einstige Zeilen herausgegeben wurde. Europa, USA, «Troika» gerichtet ist. Häufig kam er nur Ostpolitik, internationale Sozialdemokratie am Rande vor und wenn er doch eine Rol- und Nord-Süd-Beziehungen sowie die Art le spielte, dann meist als der große Schur- und Weise, wie Brandt Außenpolitik betrieb, ke, der 1974 – so die nicht haltbare These sind Gegenstand der Beiträge. Gertrud Lenz, von Egon Bahr – im Zusammenspiel mit früher Leiterin des Willy-Brandt-Archivs in Erich Honecker den Sturz von Willy Brandt der FES, hat Gertrud Meyer, Brandts erster betrieb. Helmut Schmidt ist omnipräsent, Lebensgefährtin, eine Biographie gewidmet. Willy Brandt wurde zum runden Geburts- In allen bisher zu und von Brandt erschiene- tag breit als herausragender Staatsmann nen Werken wurde ihr Anteil am Wirken des gewürdigt, aber an den Strippenzieher und SAP-Exils in Norwegen unterschätzt. Dies zu- Einpeitscher Wehner erinnern sich jenseits rechtzurücken ist das Verdienst der Arbeit, der Jahrgänge, die ihn erlebten, nur noch die aber darunter leidet, dass die Autorin Spezialisten. Zu erklären ist das nicht nur den Nachlass von Gertrud Meyer nicht nut- mit dem fehlenden hervorgehobenen Amt. zen durfte und dass die Lektüre nicht immer Wehners Art Politik zu betreiben ist uns ein sprachliches Vergnügen ist. heute fremd. Er war zu machiavellistisch, kann also nicht wie Brandt auf der Suche

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 93 Bernd Rother nach Visionen bemüht werden und er be- aber von selbst. Besonders eher konserva- dient auch nicht den Wunsch nach dem tive Blätter oder Autoren konnten sich für perfekten Realpolitiker, wie dies Schmidt Brandts Patriotismus erwärmen. In der Welt tut. Wehners große Verdienste um die Re- am Sonntag hieß eine Überschrift «Duell gierungsfähigkeit der SPD geraten darüber der Patrioten. Willy Brandt und Axel Sprin- leider in Vergessenheit. ger – zwei Männer, die für Deutschlands Einheit kämpften». Die Spiegel-Titelge- Zeitungen und Zeitschriften schichte von Jan Fleischhauer, dem beken- Willy Brandts 100. Geburtstag war noch ein- nenden Konservativen, hieß auf dem Cover mal eine große Stunde des «Nebenzweigs «Der Patriot». Konsens scheint mittlerweile der holzverarbeitenden Industrie», wie der darüber zu bestehen, dass die Ostpolitik ein Journalist Willy Brandt seine Profession wichtiger Baustein der deutschen Einheit selbst nannte. Keine Internetseite konnte war. Von der Kritik an der «Nebenaußen- mit den Erzeugnissen der Zeitungen und politik» der Achtzigerjahre mit ihren engen Zeitschriften mithalten. Das «Netz» musste Beziehungen zu kommunistischen Parteien mit einer dienenden Funktion vorlieb neh- in Osteuropa war kaum noch etwas zu spü- men: «Die Langfassung des Interviews fin- ren. Besonders weit gingen Welt und Welt den Sie unter www» oder: «Wenn Sie mehr am Sonntag, also die publizistischen Flagg- wissen und Willy Brandt hören wollen, dann schiffe des Axel-Springer-Verlags, Brandt klicken Sie hier». Vorwärts, ZeitGeschich- entgegen. Sven-Felix Kellerhoff wertete die te und Stern publizierten Sonderhefte, der damalige Berichterstattung der Welt über Spiegel widmete Willy Brandt zum 31. Mal die Zuerkennung des Friedensnobelpreises eine Titelgeschichte, der Tagesspiegel und 1971 als «beschämende Fehlleistung». Tho- die Berliner Zeitung produzierten themati- mas Schmid ergänzte in einem Leitartikel sche Beilagen, weitere Zeitungen gestalte- der Welt vom 18. Dezember, dass die Ost- ten Extraseiten. politik die Springer-Zeitungen «zu empör- In einem stimmte der Tenor fast al- ten, zum Teil hasserfüllten Attacken veran- ler Beiträge überein: Willy Brandt ist heu- lasste.» Dies sind klare Worte, daran gibt te unumstritten. Vom Focus bis zum Neuen es nichts zu deuteln. Noch überzeugender Deutschland ist nichts mehr zu finden von wären sie, publizierte die Welt nicht auch der fundamentalen Kritik früherer Zeiten, Artikel, in denen Brandt als «seinen Trieben die sich bis zum Hass und bis zu Verleum- offenbar rettungslos ausgelieferte(r) Kanz- dungskampagnen steigern konnte. Manche ler» verleumdet wird, wie dies noch am 18. Medien publizierten gar ein Mea Culpa. Ge- April 2013 geschah. Übrigens schrieb der stritten wird heute eher darüber, welchem selbe Autor, Ulli Kulke, für die Welt vom 18. Lager Brandt heute (mehr) gehört. Patriot Dezember einen Artikel, in dem er bekann- scheint für viele – mit Ausnahme der Partei te, 1972 vor Freude über den Wahlsieg von «Die Linke» – der Begriff zu sein, auf den Brandt geheult zu haben. Aber auch Hans- man sich bei der Charakterisierung Wil- Olaf Henkel gehörte 1972 zu den Willy- ly Brandts einigen kann. Die Ergänzung Wählern und engagiert sich nun in der AfD. «demokratischer Patriot» wird zwar auch «Hasserfüllte Attacken» gegen Brandt verwendet, versteht sich im Falle Brandts hatte es in früheren Jahrzehnten auch vom

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Neuen Deutschland gegeben. Anders als aber darauf hin, dass «das Mehr an sozia- bei der Welt erinnert sich in der Redaktion ler Gerechtigkeit und demokratischer Mit- anscheinend niemand mehr daran. Mehr bestimmung (…) der individuellen Freiheit Vergangenheitsaufarbeitung als die Ein- dienen» solle. schätzung, der Umgang mit dem Sozialde- Die größte Überraschung bot Gerhard mokraten sei «lange Zeit ruppig» gewesen, Stadelmaier, Theaterkritiker der FAZ. Eine floss den Autoren nicht aus der Feder. Da- Woche vor dem Geburtstag kam von ihm für liegt das ND an der Spitze, wenn es um der Aufmacher des Feuilleton, in dem er die Vereinnahmung Brandts für die eige- unter der Überschrift «Torquato Tasso trifft ne Sache, hier der Partei «Die Linke», geht. Willy Brandt» die legendäre Bremer Insze- Die Titelseite vom 16. Dezember ziert das nierung Peter Steins vom März 1969 mit Brandt-Zitat aus dem Jahr 1982 «Wenn es Brandts Vereidigung als Kanzler am 21. Ok- irgend geht, Finger weg von Großen Koaliti- tober auf eine Stufe stellte. Die Parallelisie- onen.» Brandt erscheint beim ND als linker rung begann mit den beiden großen Fotos Flügelmann der SPD, der sich heute nicht oberhalb des Textes: Willy Brandt «mit him- mehr dort, sondern in der Partei «Die Linke» melsstürmender Schwurhand (…) und Bruno heimisch fühlen würde. Überzeugend wirkt Ganz mit himmelssichernder Schwurhand das nicht, wenn man sich nicht der eigenen als Torquato Tasso», so die Bildunterschrift früheren Haltung stellt und sich auch nicht der FAZ. Seine damaligen Empfindungen mit Brandts wohl begründetem Antikom- berichtend, griff Stadelmaier zu Formulie- munismus nach 1945 auseinandersetzt. rungen, die dem Vorwärts sofort den Vor- Ohne Rekurs auf die eigene Vergan- wurf eingebracht hätten, nunmehr nordko- genheit kam auch die FAZ aus, dennoch reanische Propagandaelogen zu imitieren: ist ihr Bild von Brandt anlässlich des 100. «Denn er war der Politiker, der in Gehabe Geburtstags bemerkenswert. Die Medien- und Sprache auch als Dichter durchgehen seite schrieb von Brandts «Jahrhundertle- konnte. (…) Glücklicher und gelöster und ben» und seiner «weltpolitisch singuläre(n) zuversichtlicher hat sich das Land selten Rolle». Jasper von Altenbockum, auch sonst gefühlt. Und über allem schwebend: Willy, nicht als Freund der Linken aufgefallen, mit dem Lorbeer der Ausnahmeerscheinung hielt im Politikteil dagegen und erklärte, bekränzt. Dem eine ganze junge Generati- «dass die Freiheit der ‹inneren Ordnung›, die on zu Füßen lag.» So wie bei Peter Steins Brandt 1969 nur durch ‹Mitbestimmung› Jahrhundert-Inszenierung, «der eine ganze und ‹Mitverantwortung› garantiert sah, in junge Generation zu Füßen lag.» seiner Regierungszeit weiter geschwächt Fazit: Willy Brandt erwies sich als viel- wurde.» Damit knüpfte er an eine Debat- fältig anschlussfähig. Von fast Linksradika- te während Brandts Regierungszeit an, ob len bis hin zu konservativen Patrioten fand denn nicht ein Mehr an Demokratie ein beinahe jeder bei Brandt Lebensabschnitte Weniger an Freiheit mit sich bringe. Hel- oder Themen, die ihn oder sie begeistern mut Schelsky gehörte zu denen, die derlei konnten. Damit unterscheidet sich Brandt Bedenken trugen. Brandt schrieb damals von allen anderen Bundeskanzlern. Selbst (1973) an den Soziologen, dass auch ihm die posthume Adenauer’sche Linke, die Jür- ein «möglicher Konflikt» bewusst sei, wies gen Habermas mit seinem Respekt vor der

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Westbindung der Bundesrepublik konturier- Frahm für den geheimen Parteitag seiner te, machte den ersten Bundeskanzler nicht Sozialistischen Arbeiterpartei am 11. März so anschlussfähig wie Brandts facettenrei- 1933 erstmals diesen Tarnnamen wählte. cher Lebensweg vom linksradikalen Anti- Sachsen-Anhalts Hauptstadt erinnerte an faschisten über den antikommunistischen «Brandts Heimspiel in Magdeburg» just an Bürgermeister und den europäischen Ent- dessen 76. Geburtstag. Intensiv war die spannungspolitiker bis hin zum globalen Beschäftigung mit Brandts Verbindung Vorstreiter für einen Ausgleich zwischen zum Ort in Schweinfurt, wo insbesondere Nord und Süd. Zeitzeugen in einem Volkshochschulkurs seine Aufenthalte in der Kugellagerstadt Stolz, dass Willy bei uns war zusammentrugen. Am Ende stand eine Ein sicheres Anzeichen dafür, dass jemand Ausstellung «Spurensuche: Willy Brandt in zum Mythos geworden ist, zumindest für Schweinfurt», die im Sommer 2012 im Rat- ein Segment der Gesellschaft, ist der Be- haus als Ergänzung zur Wanderausstellung ginn von lokalen Recherchen: Ist Willy auch der Friedrich-Ebert-Stiftung gezeigt wurde. bei uns gewesen? Welche Spuren gibt es, wer erinnert sich daran? In Berlin mag das Generation Brandt? noch sofort einleuchtend wirken, aber die Hier stoßen wir auf das Phänomen der «Ge- kontrafaktische Frage, ob man sich einen neration Willy Brandt», das dem Gedenken Spaziergang oder eine Rundfahrt auf den im vergangenen Dezember eine ganz eige- Spuren von Otto Suhr oder Heinrich Albertz ne Prägung gab. Als diese Generation soll vorstellen könnte, mag doch aufzeigen, wie hier – ohne lange Begründungen (die aber wenig selbstverständlich dies auch in der eine interessante Diskussion eröffnen könn- Stadt ist, mit der Brandts Name am engs- ten) – die von Brandt in großer Zahl für das ten verbunden ist. Die Wochenendbeilage demokratische Gemeinwesen gewonnene der Morgenpost erklärte Brandt zum «Jahr- APO-Generation bezeichnet werden (übli- hundert-Berliner» und die Berliner Zeitung cherweise mit den Geburtsjahren 1938– verklärte: «Willy Brandt war in Berlin zu 1948 abgegrenzt), ergänzt um die Jahrgän- Hause. Hier ist er nachts Kegeln gegangen, ge bis 1954, die 1972 das erste Mal wählen hier hat er den Kalten Krieg mit Worten be- konnten, denn 1969 war nur der Jahrgang kämpft. Hier ist er mit seinen Jungs über 1948 zum Zuge gekommen. Die Senkung den Schlachtensee gerudert, hat sich in ei- der Altersgrenze auf 18 machte es möglich. nen Schreibtisch verliebt und ist zum Staats- Die «Willy wählen»-Kampagne gehört zu ih- mann gereift». Der rbb stellt im Internet 15 ren prägendsten politischen Erfahrungen. Stationen vor, die Brandt mit Berlin verbin- Der schon erwähnte Gerhard Stadelmaier, den. «Berlin – die Stadt seines Lebens» lau- 1950 geboren (Jasper von Altenbockum tet der Titel dafür. hingegen 1962), und der ein Jahr jüngere Dresden reklamierte für sich die «Ge- Jochen Hieber, Verfasser der preisenden For- burt» von Willy Brandt: «Wenn man so will, mulierungen auf der Medienseite der FAZ, kam dieser Willy Brandt am 11. März 1933 gehören dazu. Beim Vorwärts-Extra zum in Dresden zur Welt.», schrieb die Sächsische 100. von Brandt wurden 25 Autoren 1954 Zeitung und meinte damit, dass Herbert oder früher geboren, nur sechs nicht. Zur

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«Generation Brandt» gehört auch der dop- Willy Brandt war der Anlass, auf den eige- pelgesichtige Ulli Kluke. Holger Schmale nen Werdegang zurückzuschauen. berichtete im Magazin der Berliner Zeitung, Dass er auch Nachgeborene faszi- wie er durch Willy Brandt begeistert im be- niert, betonte der vierzigjährige Philip Cas- schaulichen und konservativen Aumühle sier im Wochenendmagazin der Berliner (gleich nebenan liegt Bismarcks Alterssitz Morgenpost vom 15. Dezember 2013. Die Friedrichsruh) bei den Jusos die örtliche Poli- Überschrift ist nichts für Brandt-Puristen: tik aufmischte. «Idol einer Generation. Willy «Brandt. Willy Brandt». 007 lässt grüßen. Brandt hat als Kanzler vor allem die jungen «Wenigen Politikern ist es vergönnt, selbst Deutschen elektrisiert. Er war so alt wie ihre bei denjenigen nostalgische Gefühle herauf- Väter – und dennoch ganz anders», so laute- zubeschwören, die sie kaum erlebt haben. ten Titelzeile und Untertitel dazu. Auch die Willy Brandt gehört zu dieser raren Spezies.» Bild am Sonntag stellte sich in die Tradition Was sagen die Meinungsforscher dazu? Für dieser Generation: «Mein Willy. Sehr persön- seine Altersgenossen lag Cassier daneben, liche Erinnerungen von BamS-Autor Helmut wie eine Forsa-Umfrage von Anfang Dezem- Böger (64) zu Brandts 100. Geburtstag. (...) ber (also vor dem Höhepunkt des Brandt-Hy- Er wurde das Idol meiner Jugend, vor Be- pes) belegt. Bei den 30- bis 44-jährigen ist ckenbauer und den Beatles. Brandt war so der Anteil derer, für die Brandt der «bedeu- anders als die Männer seiner Generation, tendste Kanzler» war, am niedrigsten: nur die ich persönlich kannte. Einer, der nicht 12 Prozent. Bei den 18- bis 29-jährigen kam Hitler gedient hatte.» er auf 18 Prozent, bei den Älteren auf 21 Dietmar Seher beschrieb die Bedeutung Prozent, auch bei der «Generation Brandt», des Generationenempfindens im Kommen- in der Helmut Schmidt vor Konrad Adenau- tar in der Westdeutschen Allgemeinen Zei- er führt. Bei den SPD-Anhängern lag Brandt tung so: «Vielleicht wird man, wenn die Ge- ebenfalls hinter Schmidt. Die erste Stelle er- neration Brandt abgedankt hat, nicht mehr reichte er nur bei den Linken (knapp) und vom Denkmal Brandt sprechen. Man wird den Grünen (mit großem Vorsprung). vielleicht eher sagen, dass der Mann ge- Gibt es also doch keine «Generation holfen hat, den Weg Deutschlands ins drit- Brandt» oder ist die Brandt-Begeisterung te Jahrtausend zu ebnen. Das ist wahrlich nur ein Phänomen des linken und linkslibe- Anerkennung genug.» Die meisten Jahrgän- ralen Milieus? Sicherlich reproduziert sich ge der «Generation Brandt» sind schon in in der Umfrage der Befund, den Zeitgenos- Rente, aber gerade in den Medien muss das sen bereits «1968» und 1972 machen konn- nicht heißen, dass sie nicht mehr aktiv sind. ten: Nur ein kleiner Teil der Jüngeren war Gunter Hofmann, 1942 geboren, ist ein Bei- politisch aktiv, selbst in diesen bewegten spiel dafür und selbst der 1928 zur Welt ge- Zeiten. Sie waren insofern die Spitze eines kommene Peter Merseburger war in zahlrei- Eisberges als in abgeschwächter Form vie- chen Medien wieder präsent. Die Jüngeren le ihrer AltersgenossInnen zustimmten. Das der Generation sind nun am Ende ihres Be- hervorragende Jungwählerergebnis der SPD rufslebens angekommen, was auch bedeu- 1972 zeugt davon. Zudem: Brandt sprach tet, dass sie das Maximum ihres Einflusses eher kritische Intellektuelle an, auch die erreicht haben. Der 100. Geburtstag von Jüngeren, die das erst noch werden sollten

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 97 Bernd Rother oder wollten. Helmut Schmidt fand positi- die Wirkung Brandts auf seine Anhänger ve Resonanz in anderen gesellschaftlichen nachvollziehbar macht. Das Fazit formulier- Gruppen, besonders in wirtschaftsaffinen te die 98jährige Elisabeth Spanjer-Fischer, Milieus, seien es Industriemeister oder lei- die Brandt erstmals 1934 in ihrer nieder- tende Angestellte. Dies mag erklären, dass ländischen Heimat begegnet war: «Er war bis heute aus den Medien Brandt Bewunde- die Zierde unserer Generation». So wie in rung entgegengebracht wird, während Hel- den meisten Printmedien blieben auch in mut Schmidt eher Respekt erfährt. der Dokumentation kritische Stimmen und umstrittene Entscheidungen ausgeblendet. TV und Radio Kein Christdemokrat kam zu Wort. Leider Am Anfang stand Günther Jauch. Bereits wurde auch Brandts Witwe Brigitte Seeba- am 3. November ließ er seine Talkshowgäs- cher nicht angefragt, die auch von vielen te zu zweitbester Sendezeit – gleich nach anderen Medien ignoriert wurde. dem Sonntagskrimi – über Willy Brandt sprechen. Was ein guter Auftakt hätte sein Und die SPD? können, erwies sich als hastig zusammenge- Die Würdigung ihres längstjährigen Par- stoppeltes Produkt, das die ZuschauerInnen teivorsitzenden (noch vor Bebel, jedenfalls ratlos zurück ließ. Peter Brandt und Egon was die formalen Amtszeiten angeht) durch Bahr konnten trotz guter Beiträge das Gan- die SPD erfolgte in angemessener Weise. ze nicht mehr retten. Aber von da an ging Zahlreiche Untergliederungen der Partei zo- es bergauf. Siebzehn weitere Sendungen gen eigene Gedenkakte auf, so dass man auf verschiedensten Fernsehkanälen und sagen kann: Willy Brandt ist in der SPD im- 28 Termine im Hörfunk folgten. Von zwei- mer noch voll präsent. Kein Wunder bei der minütigen Erinnerungen an den Kniefall bis Altersstruktur, gibt es doch gegen alle Re- zu einer über sechsstündigen «Langen Willy- geln der Demographie auf Jubilarsehrun- Brandt-Nacht» des WDR waren alle Forma- gen mehr Genossinnen und Genossen, die te dabei. Material stand reichlich zur Ver- auf 40 Jahre Mitgliedschaft, als solche, die fügung. Brandt war der erste Kanzler des auf 25 Jahre zurückblicken können. Medienzeitalters und er besaß besonderes Aber was brachte die posthume Willy- Geschick im Umgang mit dem Fernsehen. Begeisterung des Jahres 2013 für die gesell- Unbestrittener Höhepunkt war die von schaftliche Akzeptanz sozialdemokratischer Arte und ARD ausgestrahlte Dokumenta- Vorstellungen? Demoskopische Befunde lie- tion «Willy Brandt – Erinnerungen an ein gen nicht vor, außer dem harten Fakt des Politikerleben». Je 90 Minuten räumten Wählerverdikts vom 22. September. Die Er- beide Sender dafür frei – heutzutage eine innerung an bessere Zeiten hat auch bei die- seltene Ausnahme. Ohne einen einzigen ser Bundestagswahl herzlich wenige Wäh- Kommentar aus dem Off, nur durch gelun- lerinnen und Wähler beeindruckt. Zudem genes Zusammenschneiden der Zeitzeugen wäre es wohl auch schwer, die Auswirkun- und Historiker schuf der Regisseur André gen der 150-Jahrfeier der Partei und die der Schäfer ein überzeugendes Porträt Willy anhaltenden Hochschätzung von Helmut Brandts. Im Detail unheroisch summierten Schmidt durch eine breite Öffentlichkeit von sich die Aussagen doch zu einem Bild, das denen des 100. Geburtstages zu trennen.

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Konstatieren kann man zumindest, dass globalisierten Welt, in der die Völker Euro- eine breitere Debatte über «Brandt heute» pas an Zahl, wirtschaftlichem Gewicht und kaum gelaufen ist. In den Medien domi- politischem Einfluss verlieren, lässt sich nur nierte eindeutig die Erinnerung. Und auch erhalten, wenn unser Land nationale Au- in der Partei diente die Willy-Begeisterung tonomie willentlich und gezielt zugunsten eher als Energieträger für die sozialdemo- einer europäischen Selbstbestimmung auf- kratischen Wärmestuben denn als Feuer für gibt. Das ist das europapolitische Erbe Willy Zukunftswerkstätten. Natürlich hatte das Brandts.» viel damit zu tun, dass erst die Bundestags- In der Tat ist das eine angemessene wahl und dann die Regierungsbildung alles Aktualisierung der Brandt’schen Politik. andere überlagerten, wobei angemerkt sei, Die Politik konnte seiner Ansicht nach ihre dass das Agieren der SPD-Führung in den Handlungsfähigkeit nicht mehr alleine im Koalitionsverhandlungen jedem Vergleich Rahmen des Nationalstaates aufrechterhal- mit dem Willy Brandts standhält, ja sie da- ten. Die ökonomische Globalisierung erfor- bei sogar deutlich vorne liegt. derte auch eine Globalisierung der Politik. Sigmar Gabriel führte in seiner Rede Aber jenseits der Bedeutung dieser Erkennt- auf der Festveranstaltung der SPD und der nis für die Europapolitik von Sozialdemo- Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung am kraten wurden die Konsequenzen im Jubilä- 18. Dezember im Willy-Brandt-Haus aus, umsjahr kaum debattiert. Erst 2014 setzte dass «uns Willy Brandts Politik auch aktu- eine Diskussion über die internationalen ell noch eine Menge sagen» könne, erinner- Verpflichtungen Deutschlands ein, wie sie te sich dann aber doch daran, dass es bes- Willy Brandt bereits 1991 vorgeschlagen ser ist, die Fragen von früher aufzunehmen hatte. Wer sich an seine damaligen Äuße- und zu aktualisieren statt auf alte Antwor- rungen erinnert, in denen er vom vereinten ten zurückzugreifen. «Heute stellen sich die Vaterland forderte, den Vereinten Nationen Menschen andere Fragen, die wir im Geis- auch Soldaten zur Verfügung zu stellen, te Willy Brandts beantworten wollen: Wie kann nur erfreut auf Frank-Walter Steinmei- sichern wir allen Bürgerinnen und Bürgern ers Bemühungen reagieren. Brandt bevor- die Chance auf sozialen Aufstieg und ein zugte auch nach 1989 diplomatische Mittel selbstbestimmtes Leben? (...) Können wir gegenüber militärischen. Pazifist, wie dies in dieser Welt so nachhaltig leben, dass ein abtrünnig gewordener früherer SPD-Vor- etwas davon für unsere Kinder und Enkel sitzender unterstellt, war Brandt jedoch nie. übrig bleibt?» Ausführlich ging er auf die Politik ist Kommunikation. Das wuss- Europapolitik ein: «Die Europäische Union te Willy Brandt, Schöpfer der Formulierung wird derzeit von einer tiefen Krise erschüt- von der «Neuen Mitte», sehr wohl. In der tert. (...) Deutschlands Stärke liegt nicht in Tradition seiner Politik wäre es gut gewesen seiner Größe, sondern in seinem Willen zur (kann aber jederzeit nachgeholt werden), Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn! In den Begriff der «Reformen» wieder neu zu Wahrheit lassen sich nationale – auch deut- besetzen. In Brandts Kanzlerzeit signali- sche – Interessen nur noch mit und in der sierte er Hoffnung auf Verbesserung, seit europäischen Zusammenarbeit verwirkli- den Achtzigerjahren hat er etwas Bedrohli- chen. Und nationale Souveränität in einer ches an sich. Der Bürger, die Bürgerin bit-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 99 Bernd Rother

tet heutzutage, von Reformen verschont zu Lorenz, Einhart: Willy Brandt: Deutscher – Europä- bleiben. Ob es nun bei diesem Begriff bleibt er – Weltbürger, Stuttgart (Kohlhammer) 2012. oder ein besserer gefunden wird: Die Politik Lünstedt, Heiner/Sabisch, Ingrid: Willy Brandt. Sein muss es schaffen, vom Reparieren zum Ge- Leben als Comic, Berlin (Knesebeck) 2013. stalten überzugehen. Dies war das Verspre- Michels, Eckard: Guillaume, der Spion. Eine deutsch- chen und die Praxis der ersten Kanzlerjahre deutsche Karriere, Berlin (Ch. Links) 2013. Brandts und damit begeisterte er viele, die Müller, Albrecht: Brandt aktuell: Treibjagd auf einen mitgestalten wollten. Hoffnungsträger. Sein Vermächtnis, (Westend) 2013. Münkel, Daniela: Willy Brandt. Mensch – Politiker – Neuerscheinungen und Neuauflagen aus Ikone, Stuttgart (Kohlhammer) 2014 (Juni). Anlass von Willy Brandts 100. Geburtstag – Bemerkungen zu Willy Brandt, Berlin (Vorwärts- Buchverlag) 2013. Neuerscheinungen – Kampagnen, Spione, geheime Kanäle. Die Stasi a) deutschsprachig und Willy Brandt, Berlin (BF informiert 32) Bahr, Egon: «Das musst du erzählen». Erinnerungen 2013. an Willy Brandt, Berlin (Propyläen) 2013. Noack, Hans-Joachim: Willy Brandt. Ein Leben, ein Brandt, Peter: Mit anderen Augen. Versuch über den Jahrhundert, Berlin (Rowohlt) 2013. Politiker und Privatmann Willy Brandt, Bonn Rother, Bernd (Hg.): Willy Brandts Außenpolitik, (J.H.W. Dietz) 2013. Wiesbaden (Springer VS) 2013. Faulenbach, Bernd: Willy Brandt, München (C.H. Woyke, Meik (Hg.): Willy Brandt und Helmut Beck) 2013. Schmidt – Partner und Rivalen. Der Briefwech- Grebing, Helga/Lorenz, Ansgar: Willy Brandt. Eine sel (1958–1992), Bonn (J.H.W. Dietz, Willy- Comic-Biografie, Berlin (Vorwärts-Buchverlag), Brandt-Dokumente, Bd. 3) 2014. 2013. Hofmann, Gunter: Willy Brandt und Helmut b) fremdsprachig Schmidt. Eine schwierige Freundschaft, Mün- Brandt, Willy: Wspomnienia [Erinnerungen, chen (C. H. Beck) 2012. Polnisch], Poznan (Wydawnictwo Poznańskie) Keck, Tina/Klingsporn, Margot (Hg.): Willy Brandt. 2013. Eine Hommage in Bildern, Göttingen (Steidl) Lorenz, Einhart: Willy Brandt. Et politisk liv, Oslo (Res 2013. Publica [Oslo]) 2013. Kessler, Jürgen: Über den Klippen. Als ich Willy – Willy Brandt i Oslo, Oslo 2013 (Reiseführer, ver- Brandt einmal zu Bett brachte, Ingelheim (Lein- öffentlicht von der Norwegisch-Deutschen Willy- pfad Verlag) 2013. Brandt-Stiftung). Kölbel, Martin (Hg.): Willy Brandt und Günter Grass. Miard-Delacroix, Hélène: Willy Brandt, Paris (Fayard) Der Briefwechel, Göttingen (Steidl) 2013. 2013. Körner, Torsten: Die Familie Willy Brandt. Biographie, Frankfurt/ Main (Fischer) 2013. Neuauflagen Lenz, Gertrud: Gertrud Meyer. Ein politisches Leben Brandt, Willy: Links und frei. Mein Weg 1930–1950, im Schatten Willy Brandts (1914–2002), Pader- Hamburg (Hoffmann und Campe) 2012. born (Ferdinand Schöningh) 2013.

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– «Kommen Sie aus Deutschland oder aus Über- Schöllgen, Gregor: Willy Brandt. Die Biographie, Ber- zeugung?» Politische Witze, München (dtv) lin (Berlin-Verlag) 2013 (leicht erweiterte und 2013 (überarbeitete Neuausgabe). aktualisierte Neuauflage). – Erinnerungen, Berlin (List) 2013. Seebacher, Brigitte: Willy Brandt, München (Piper) Heilemann, Uwe: Norge med Willy. Durch Norwegen 2013. auf den Spuren von Willy Brandt, (Books on Stern, Carola: Willy Brandt, Reinbek (Rowohlt) 2013. Demand) 2013. Ihlefeld, Heli: Willy Brandt – «Auch darüber wird CDs Gras wachsen...». Anekdotisches und Hinter- Brandt, Willy: Mehr Demokratie wagen. Reden und gründiges, München (Herbig) 2013 (erweiterte Gespräche, 5 CDs, (Der Hörverlag) 2013. Neuauflage). Brandt, Willy/Roth, Jürgen: Wir sind keine Erwähl- Merseburger, Peter: Willy Brandt 1913 – 1992. Visio- ten, wir sind Gewählte. Gesprochen von Gert när und Realist, München (Pantheon) 2013. Heidenreich, CD, 2013.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 101 Klaus Schönhoven An der Spitze der Sozialdemokratie 1964–1987 Führungsstil und Politikverständnis von Willy Brandt

Als Willy Brandt im März 1987 von seinem Dezember 1966 und Oktober 1982 an der Amt als SPD-Vorsitzender zurücktrat, endete Regierung der Bundesrepublik beteiligt war eine Ära in der Geschichte der Sozialdemo- und von 1969 bis 1982 immer auch den kratie. Vor ihm hatte kein Sozialdemokrat Bundeskanzler stellte, hatte sie in der Ära so lange an der Spitze der Partei gestanden. Brandt sechzehn Jahre lang die mit der Re- Nach ihm begann in der SPD eine Periode gierungsverantwortung verbundenen kom- der schnellen Führungswechsel, in deren plexen innen- und außenpolitischen Proble- Verlauf in zwei Jahrzehnten neunmal ein me ebenfalls zu bewältigen. neuer Vorsitzender gewählt werden musste. Für Brandt, der zunächst als Außenmi- Hatte Brandt die SPD fast ein Vierteljahr- nister der Großen Koalition und dann ab hundert lang geführt, so amtierten seine Herbst 1969 als Kanzler einer sozial-libera- Nachfolger zumeist nur zwei bis vier Jahre. len Koalition bis Mitte 1974 die Gallionsfi- Auch deshalb wird die «Ära Brandt» in der gur der Sozialdemokratie in der Regierung Sozialdemokratie mittlerweile oft zu einer war, stellte die zweifache Belastung als Par- glanzvollen Periode verklärt, in der ein Vor- teivorsitzender und als führender Repräsen- sitzender die Partei souverän und kontinu- tant der SPD im Bundeskabinett eine dop- ierlich leitete. pelte Herausforderung dar. Denn in dieser Doch die knapp zweieinhalb Jahrzehnte Zeitspanne vollzog sich in Politik, Gesell- zwischen den frühen sechziger und den spä- schaft und Kultur ein emanzipatorischer ten achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, Aufbruch, der die Bundesrepublik bis in ihre in denen Brandt Parteivorsitzender war, Grundfesten erschütterte und nachhaltig können in der SPD-Geschichte nicht gera- veränderte. Sie trat nun endgültig aus der de als ruhige Zeiten charakterisiert werden. restaurativ geprägten Adenauer-Ära her- Denn während der Ära Brandt durchlebte aus und durchlebte eine Periode der Neu- die SPD parteipolitisch eine Phase tiefer orientierung, in der Begriffe wie Wertewan- Umbrüche, in der sich ihre Mitgliederzahl del und Partizipation in das Zentrum der mehr als verdoppelte und die Millionen- Gegenwartsanalysen rückten. Gleichzeitig grenze überschritt. Mit diesen Massenein- bahnte sich aber auch das Ende der öko- tritten verwandelte sich die Partei von einer nomischen Boomphase der «Trente Glori- traditionsbewussten und straff geführten euses» an, diskutierte man in Wissenschaft Milieupartei zu einer vielschichtigen Volks- und Politik erstmals intensiv über die öko- partei, deren politisches Erscheinungsbild logischen Grenzen und Gefahren eines un- heftige programmatische Flügelkämpfe gezügelten Wirtschaftswachstums. Daher und schwer überbrückbare Generations- muss man also immer auch den bereits konflikte prägten. Da die SPD zwischen in zeitgenössischen Diagnosen kontrovers

102 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 An der Spitze der Sozialdemokratie 1964–1987 wahrgenommenen widersprüchlichen Cha- tegischer Kopf in der Bonner Parteizentra- rakter dieser Jahrzehnte im Blick haben, le die Fäden zog. Er baute Brandt systema- wenn man den Führungsstil und das Politik- tisch als seinen Wunschkandidaten für das verständnis Brandts als Parteivorsitzender Spitzenamt in der SPD auf. Dabei ging es der SPD analysiert. Wehner, wie sich bald herausstellen sollte, auch um die Absicherung seiner eigenen Vorsitzender ohne Fortune Machtposition als heimlicher Vorsitzender Brandts Weg an die Spitze der SPD war kei- der Sozialdemokratie. Aus Wehners Sicht ne Einbahnstraße, sondern ein windungsrei- sollte Brandt die Partei als populärer Re- cher Weg. Seinen Aufstieg in der Sozialde- gierender Bürgermeister Berlins repräsen- mokratie prägten auch von ihm mit harten tieren, während er selbst die SPD auch wei- Bandagen ausgefochtene innerparteiliche terhin politisch und organisatorisch von der Konflikte in Berlin, deprimierende Nieder- Bundeshauptstadt Bonn aus dirigieren und lagen in Vorstandswahlen der SPD, sein kontrollieren wollte. Scheitern als sozialdemokratischer Kanz- Diese zweckrationale Arbeitsteilung lerkandidat im Herbst 1961 und die immer zwischen Bonn und Berlin konnte nicht von wieder im konservativen Lager geschürten Dauer sein. Zunächst gelang es Brandt je- Diffamierungskampagnen über seine Exil- doch nicht, aus dem Schatten seines Zieh- zeit in Norwegen und Schweden während vaters Wehner herauszutreten, dessen per- der NS-Diktatur. sönlicher Politikstil als sozialdemokratischer Als Brandt im Februar 1964 als Nach- Zuchtmeister nicht gerade von der Bereit- folger von Erich Ollenhauer, der die Partei schaft zur Kollegialität geprägt war. Brandt über ein Jahrzehnt lang mehr verwaltet als hatte Mühe, im Machtzentrum der Partei geführt hatte, zum Vorsitzenden der SPD in Bonn überhaupt Fuß zu fassen, in dem gewählt wurde, war er noch keineswegs neben Wehner auch noch Fritz Erler, der der allseits anerkannte Parteiführer, dessen Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Autorität in der Sozialdemokratie niemand mit großem Selbstbewusstsein den Kurs anzweifelte. Er galt in den eigenen Reihen der Sozialdemokratie mitbestimmte. Der als ein Mann, der sich als Regierender Bür- als Berliner Außenseiter wahrgenommene germeister bei der Bevölkerung Berlins gro- Brandt blieb deshalb auf der Bonner Büh- ßes Vertrauen und für seine kämpferische ne ein Nebendarsteller. Sein Image als dy- Standfestigkeit in dieser Frontstadt des Kal- namischer deutscher «Kennedy», mit dem er ten Krieges weltweites Ansehen erworben 1961 den Bundestagswahlkampf bestritten hatte. Aber seine innerparteiliche Autorität hatte, verblasste mehr und mehr. Vier Jahre hielt sich in Grenzen, weil ihm der sprich- später, als Brandt im Herbst 1965 erneut wörtliche sozialdemokratische «Stallge- als sozialdemokratischer Kanzlerkandidat ruch» fehlte und weil er über keine eigene scheiterte, war er in den Augen vieler seiner Hausmacht in der westdeutschen Parteior- Parteigenossen ein Politiker ohne Fortune, ganisation verfügte. der für die Partei als Vorsitzender eine Be- Dass Brandt dennoch zum Parteivorsit- lastung darstellte und der selbst auch nicht zenden gewählt wurde, hatte er vor allem mehr daran glaubte, Bundeskanzler werden Herbert Wehner zu verdanken, der als stra- zu können.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 103 Klaus Schönhoven

Repräsentant der reformbereiten bereitschaft und die sich vielerorts bemerk- Sozialdemokratie bar machende Aufbruchsstimmung. Ihm Auf die in der Mitte der sechziger Jahre in war bewusst, dass die sich immer deutlicher der Bundesrepublik einsetzende politisch- durchzeichnende Liberalisierung der gesell- kulturelle Umbruchphase, die einherging schaftlichen Umgangsformen innerpartei- mit einem beschleunigten Mentalitätswan- lich nicht mehr autoritär eingehegt werden del, einer Öffnung von sozialen Lagergren- konnte, dass die SPD als zentral gesteuerte zen, der Lockerung von Milieubindungen und hierarchisch strukturierte Funktionärs- und der Individualisierung von Lebensstilen, partei keine Zukunft hatte, dass sie deshalb reagierte Brandt sensibler als die meisten ihre programmatische Öffnung zur Volks- führenden Sozialdemokraten. Er präsentier- partei endlich auch organisatorisch und te sich nun als entschlossener Modernisie- politisch verwirklichen musste. Gleichzeitig rer, der die SPD für neue Mitglieder- und distanzierte Brandt sich vom konservativen Wählerschichten öffnen wollte, und er pro- Staatsverständnis der Unionsparteien und filierte sich als Politiker des Aufbruchs, der bekannte sich zu einem expansiven und dy- den in der Partei gepflegten Traditionalis- namischen Demokratiebegriff, der auch die mus für nicht mehr zeitgemäß hielt. gesellschaftlichen Beziehungen einschloss. Seine Bereitschaft, über die Grenzen Zugleich intensivierte Brandt in der des Gewohnten hinauszugehen, war – blickt zweiten Hälfte der sechziger Jahre seine man auf seine Biografie – alles andere als innerparteiliche Kommunikation und warb zufällig. Brandts programmatisches und po- für neue direkte Kontaktformen mit den litisches Koordinatensystem orientierte sich Mitgliedern. Auf Parteitagen stellte er die nämlich an persönlichen Erfahrungen, die konzeptionelle Unbeweglichkeit und Selbst- man bei ihm bis in seine SPD-kritische Ju- bezogenheit der Sozialdemokratie immer gendzeit zurückverfolgen könnte, an Lehren wieder in Frage. Hier entfaltete er auch sei- aus seiner norwegischen und schwedischen ne rhetorische Begabung, also seine immer Exilzeit, in der er in diesen beiden Län- unverwechselbarer werdende Redekunst, in dern eine undogmatische, freiheitliche und der sich seine Dialogbereitschaft ebenso volkstümliche Arbeiterbewegung schätzen widerspiegelte wie seine Nachdenklichkeit gelernt hatte, sowie an in Berlin gewonne- und seine geringe Neigung zur Rechthabe- nen Einsichten, die man nur in dieser zwi- rei. Diese Haltung vermittelte er auch ge- schen West und Ost geteilten Stadt machen zielt über die Massenmedien, in denen er konnte. geschickt auf das politische Meinungsklima Mit seinem Politikverständnis, das von einzuwirken verstand. partizipatorischen und emanzipatorischen Brandts Auftreten als Parteivorsitzen- Zielvorstellungen geprägt war, traf Brandt der wurde in der Sozialdemokratie nun in den späten 1960er-Jahren den sich ver- als diskursiv und kollegial, als argumenta- ändernden Zeitgeist und gewann auch in tiv und integrativ wahrgenommen. Diesen den eigenen Reihen immer mehr Zustim- Zuschreibungen hätte Brandt sicherlich zu- mung. Denn er reflektierte wie kaum ein gestimmt, betonte er doch selbst in einem anderer führender Sozialdemokrat die brei- Fernsehinterview, zu seinem Führungsstil te Teile der Bevölkerung erfassende Reform- gehöre, «dass dort, wo ich den Vorsitz habe,

104 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 An der Spitze der Sozialdemokratie 1964–1987 selten abgestimmt wird.» Er schätze es näm- mehr, weil es ihm gelang, zwischen den lich, «eine Frage diskutieren zu lassen, die verschiedenen Strömungen in der SPD als Argumente gegeneinander abzuwägen» Moderator zu vermitteln und die gemein- und eine Entscheidung erst zu treffen, wenn same politische Mission glaubwürdig zu er wisse, «was in einer Situation drin ist und verkörpern. Er stand unabhängig über den was nicht in ihr drin ist».1 Flügelkämpfen in der Partei und besaß ein Die Kehrseite dieser kommunikativen ausgeprägtes «Sensorium für den Wind der und antiautoritären Grundhaltung rück- Veränderung».2 ten seine parteiinternen Kritiker allerdings immer wieder in das Blickfeld, wenn sie Chancen und Grenzen der charismatischen Brandts aus ihrer Sicht zu große Nachsicht Führung bei innerparteilichen Auseinandersetzun- In seiner Amtszeit als Bundeskanzler zwi- gen, sein zu zögerliches Verhalten in Kon- schen dem Herbst 1969 und dem Frühsom- fliktsituationen und seine zu große Geduld mer 1974 verstummte zwar die innerpar- im Umgang mit dem Eigensinn von noch teiliche Kritik am zurückhaltenden und nicht angepassten Neumitgliedern der SPD integrativen Führungsstil Brandts nie völlig. kommentierten. Dieses im Parteivorstand Als ihre Wortführer brachten sich vor allem gelegentlich auch lautstark geäußerte Un- Helmut Schmidt und Herbert Wehner im- behagen an seinem Rollenverständnis als mer wieder politisch in Position, deren So- SPD-Vorsitzender beeindruckte Brandt je- lidarität zu Brandt stets spannungsgeladen doch nicht besonders. Er hielt an seiner Me- blieb. Aber gleichzeitig wuchs das persönli- thode der dialogischen Konsensfindung in che Ansehen Brandts weit über die sozial- der Sozialdemokratie fest, vertraute auf die demokratischen Parteigrenzen hinaus. Ihn Überzeugungskraft der besseren Argumen- nahmen nun viele Menschen als einen visi- te, distanzierte sich von jeder Form eines onären Hoffnungsträger jenseits aller tages- bevormundenden Dirigismus und präsen- politischer Beschränkungen und Barrieren tierte sich nicht als Mann der Machtworte. wahr und vertrauten auf seine «charismati- In einer Partei, die nicht mehr als dis- sche Autorität».3 ziplinierte Gesinnungsgemeinschaft mit Dieses gesinnungsethisch fundierte einem weitgehend konformen Erschei- Vertrauen zu Brandt, das sich innerhalb nungsbild wie die alte Arbeiterbewegung und außerhalb der SPD bis zur begeister- auftreten konnte, sondern sich zu einer sozi- ten Verehrung steigern konnte, speiste al fragmentierten, beruflich vielschichtigen sich aus sehr unterschiedlichen Quellen. Volkspartei mit heterogener Herkunft und Als Antifaschist, der den Nationalsozialis- unterschiedlichen Interessen ihrer Mitglie- mus entschlossen bekämpft hatte, wurde der entwickelt hatte, war Brandt als Vor- sitzender zweifellos eine Idealbesetzung. Seine Führungsposition festigte sich immer 2 So Peter Brandt, Mit anderen Augen. Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt, Bonn 2013, S. 212. 1 So in einem Fernsehinterview am 30. September 3 So in einem Vortrag: Willy Brandts 1964 mit Günter Gaus. Vgl. http://www.rbb- Charisma (Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy- online.de/interview_archiv/brandt_willy.html. Brandt-Stiftung, Heft 11), Berlin 2004, S. 24.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 105 Klaus Schönhoven

Brandt zum Vorbild einer sich in den frü- matik. Sie setzte auf den kontinuierlichen hen 1970er-Jahren in der Bundesrepublik Wandel durch kalkulierbare kleine Schritte etablierenden Gedächtnisgesellschaft, die und nicht auf den revolutionären Sprung in den Perspektivenwechsel vom Vergessen den Zukunftsstaat. zum Erinnern vollziehen wollte; als innen- Schließlich mussten auch Brandts Kon- politischer Reformpolitiker, der für ein par- trahenten in der Parteiführung anerkennen, tizipatorisches Demokratieverständnis und wie sehr der erfolgreiche Durchbruch der für mehr gesellschaftliche Solidarität ein- Sozialdemokratie zu einer modernen Mas- trat, gewann er die Unterstützung breiter senpartei, der sich einer Verjüngung ihrer Bevölkerungsschichten, die vom emanzipa- Mitglieder, einer Erweiterung ihres sozia- torischen Zeitgeist erfasst waren; als außen- len Spektrums und einem professionellen politischer Realist, der eine Normalisierung Ausbau ihrer organisatorischen Strukturen der nachbarschaftlichen Beziehungen zur widerspiegelte, vor allem ihm zu verdan- DDR anbahnte und sich für eine Strate- ken war. Brandt war ohne Zweifel der Ga- gie der entspannungspolitischen Vernunft rant dafür, dass dieser historisch beispiel- zwischen den Blöcken einsetzte, verkörper- lose Wachstumsprozess der SPD zu einer te er die Hoffnungen auf eine friedlichere vielschichtigen Volkspartei mit mehr als Welt. Mit symbolischen Gesten wie dem einer Million Mitglieder ohne dauerhafte Warschauer Kniefall demonstrierte Brandt Zerklüftungen oder einschneidende partei- zugleich die moralische Dimension seiner politische Abspaltungen bewältigt werden Politik, für die man ihm auch international konnte. große Hochachtung zollte. Dies dokumen- Zu Beginn der 1970er-Jahre stand tierte beispielsweise die Zuerkennung des Brandt als erfolgreicher Bundeskanzler und Friedensnobelpreises im Jahr 1971. unbestrittener Parteivorsitzender im Zenit Auch als Parteivorsitzender verfügte seiner politischen Karriere. Dies dokumen- Brandt nun über einen großen Rückhalt. tierte der überwältigende Wahlsieg der SPD Zwar stieß sein Plädoyer für eine mit Geduld im Herbst 1972, bei der die Partei erstmals und Augenmaß zu betreibende Integration in der Geschichte der Bundesrepublik die der aus der Studentenbewegung in die SPD meisten Stimmen erhielt. Doch bereits kur- geströmten jungen Parteirebellen nicht auf ze Zeit nach diesem Triumph musste auch ungeteilten Beifall in den Führungsetagen Brandt die Erfahrung machen, dass jedes der Partei. Aber die Kritik verstummte mehr politische Charisma eine Verfallszeit besaß, und mehr, weil es Brandt in zäher argumen- im Regierungs- und Parteialltag zerrieben tativer Kleinarbeit und mit einer gezielten werden konnte und sich dann schnell ver- Konsensstrategie gelang, die innerparteili- flüchtigte. Nun schwächte sich die anfäng- chen Konflikte zu kanalisieren und zu ent- liche Aufbruchseuphorie deutlich ab, wurde schärfen. Auch die sich radikaldemokra- die quasireligiöse Identifikation mit Brandts tisch und antikapitalistisch artikulierenden, Politik brüchig, verlor das von ihm verkör- keiner innerparteilichen Konfrontation aus perte Fortschrittsparadigma mehr und dem Wege gehenden Neumitglieder aus mehr an Überzeugungskraft und wuchsen dem akademischen Milieu überzeugte er die Zweifel am Zukunftsoptimismus. letztlich mit seiner reformerischen Program-

106 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 An der Spitze der Sozialdemokratie 1964–1987

Dies war 1973/74 der Fall, als welt- weise hin, ohne den Fraktionsvorsitzenden wirtschaftliche Turbulenzen einen ökono- der SPD für diese maßlose Kritik zur Rechen- mischen Gezeitenwechsel ankündigten, die schaft zu ziehen. Ölkrise die Grenzen des Wachstums drama- Brandts Versuch, nach langem Zögern tisch sichtbar machte und sich in der Bun- und Abwarten die politische Initiative wie- desrepublik die innenpolitischen Fronten der zurückzugewinnen und eine Neuformie- noch mehr verhärteten. Jetzt wurde in Po- rung der zerstrittenen Parteiführung ein- litik und Publizistik die Kritik am partizipa- zuleiten, kam im April 1974 zu spät. Denn torischen Politikansatz Brandts immer deut- gleichzeitig eskalierten die öffentlichen De- licher artikuliert. Man porträtierte ihn als batten über die Spionageaffäre Guilleaume, kraftlosen «Kanzler in der Krise»4, verwies die dann zum vordergründigen Auslöser auf seine Entscheidungsscheu, attestierte von seinem Rücktritt als Bundeskanzler wur- ihm Amtsmüdigkeit und prophezeite, sein de. Die tieferen programmatisch-konzeptio- Autoritätsverfall werde auch innerparteilich nellen Hintergründe dieses Abschieds aus schnell voranschreiten. dem Kanzleramt offenbarten sich erst in der In dieser Phase funktionierte das zur Regierungszeit seines Nachfolgers Helmut Troika verklärte sozialdemokratische Trium- Schmidt, der mit autoritärer Bestimmtheit virat von Brandt und seinen beiden Stellver- amtierte und ein anderes Politikverständnis tretern Schmidt und Wehner noch schlech- als Brandt hatte. ter als jemals zuvor und war allenfalls nur noch die Karikatur eines harmonisch den Parteipatriarch und Weltpolitiker Parteikarren ziehenden Dreigespanns. Es Im Mai 1974 hätte sicherlich niemand die wurde überdeutlich, dass die unterschiedli- Prognose gewagt, dass Brandt noch drei- chen Temperamente dieser drei sozialdemo- zehn Jahre lang an der Spitze der SPD ste- kratischen Spitzenpolitiker, ihr voneinander hen würde. Die publizistischen Wahrsager, abweichendes Politikverständnis und ihr die ihm ein schnelles Ende als SPD-Vorsit- individueller Führungsstil sich kaum noch zender prophezeiten, unterschätzten ganz miteinander in Einklang bringen ließen. Vor offenkundig seine Fähigkeiten zur Macht- allem Brandt agierte in diesen Auseinan- behauptung, aber auch die besondere Be- dersetzungen, in denen man ihn auch per- deutung seiner innerparteilichen Schlüssel- sönlich nicht schonte, mehr und mehr un- rolle als unverzichtbarer Integrator in einer entschlossen und noch dünnhäutiger, als er oft zerstrittenen Sozialdemokratie. Zweifel- ohnedies schon war. Die Vorwürfe Wehners, los stand der diskursive Führungsstil des er sei «entrückt», «abgeschlafft», bade «ger- Parteipatriarchen Brandt «der sozialdemo- ne lau», deshalb fehle der sozial-liberalen kratischen Seele näher» als die schwer zu Regierung «ein Kopf»5 nahm er beispiels- erschütternde Selbstsicherheit von Bundes- kanzler Helmut Schmidt.6 Ihm gab Brandt jedoch immer wieder die notwendige Rü- 4 So die Titelgeschichte des Spiegel, Nr. 50 vom 10. Dezember 1973. ckendeckung in den nun anbrechenden 5 Diese von Wehner auf einer Reise in Moskau im Oktober 1973 vor Journalisten geäußerten Vorwür- 6 Vgl. dazu Bernd Faulenbach, Willy Brandt, Mün- fe zitierte der Spiegel, Nr. 41 vom 8. Oktober 1973. chen 2013, S. 90 ff., Zitat S. 94.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 107 Klaus Schönhoven internationalen Krisenzeiten. Dabei stra- se immer fragiler gewordene Dreierallianz. pazierte er seine Loyalität zum Kanzler bis Wehner und Schmidt zogen sich aus der ak- an die Grenze der Selbstverleugnung. So tiven Politik zurück. Brandt blieb als Partei- beispielsweise in der kontroversen Nachrüs- patriarch und Staatsmann ohne Staatsamt tungsdebatte, als er trotz seiner grundsätz- die in vielerlei Hinsicht dominante Persön- lichen Bedenken den Kurs von Schmidt bis lichkeit der Sozialdemokratie und wuchs zu- zum Ende der sozial-liberalen Koalition im gleich über diese hinaus. Von ihm gingen Herbst 1982 mittrug. die entscheidenden Impulse für die Erarbei- Brandt ließ sich als Vorsitzender der tung eines neuen Grundsatzprogrammes SPD in die Pflicht nehmen, um deren Hand- aus, wobei er dafür plädierte, die von den lungsfähigkeit als Regierungspartei zu be- alternativen Bewegungen aufgeworfenen wahren. Zugleich sah er aber auch die po- Fragen zu reflektieren und in das sozialde- larisierende Brisanz der gesellschaftlichen mokratische Grundwerteverständnis zu in- Konflikte, die sich am Beginn der 1980er- tegrieren. Und er wollte, dass Europa sich Jahre entzündeten. Sein Plädoyer, die sich als Friedensunion profilierte. Als Präsident formierenden «neuen sozialen Bewegun- der Sozialistischen Internationale und als gen», deren politisches Spektrum von Anti- Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission kon- Atomkraft-Aktivisten bis zu militanten Pa- zentrierte er gleichzeitig sein Engagement zifisten reichte, nicht völlig auszugrenzen, immer stärker auf globale Probleme, die fand jedoch weder den Beifall der Gewerk- außerhalb des nationalen Horizonts seiner schaften noch eine positive Resonanz in Partei lagen8. den Spitzengremien der Sozialdemokratie. Im Motto «Links und frei», das Brandt Für die ökologischen und postmateriellen als Titel für seine 1982 publizierten Erin- Positionen der Umweltbewegung, die nach nerungen an die Jahre zwischen 1930 und der Meinung Brandts nichts anstrebte, «was 1950 wählte9, spiegelte sich auch das Le- den Zielen des demokratischen Sozialismus bensgefühl des «elder statesman» Brandt fremd sein müsste»7, waren die in der indus- wider, das seine Nachfolger an der Spitze triellen Arbeitswelt verankerten Kerngrup- der SPD so weder verkörpern konnten noch pen der SPD nicht zu gewinnen. Und einmal wollten. Welches Führungsvakuum Brandt mehr traten Herbert Wehner und Helmut in seiner Partei bei seinem Rücktritt 1987 Schmidt in den innerparteilichen Diskussio- hinterließ, sollte sich dann in den folgenden nen als Gegenspieler Brandts auf. Jahrzehnten zeigen. Nach dem Ende der sozial-liberalen Ko- alition im Herbst 1982 zerbrach auch die-

7 So in einer Rede mit dem Titel «Sozialdemokrati- sche Identität», die Brandt am 21. Oktober 1981 zum Gedenken an Willi Eichler, dem Mitverfasser des Godesberger Programms, hielt. Abgedruckt in: 8 Vgl. dazu Willy Brandt, Über Europa hinaus. Dritte Willy Brandt, Im Zweifel für die Freiheit. Reden zur Welt und Sozialistische Internationale. Bearb. von sozialdemokratischen und deutschen Geschichte. Bernd Rother und Wolfgang Schmidt, Bonn 2006. Hrsg. und eingeleitet von Klaus Schönhoven, Bonn 9 Willy Brandt, Links und frei. Mein Weg 1930–1950, 2012, S. 514–525, Zitat S. 519. Hamburg 1982.

108 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 BEITRÄGE UND DISKUSSIONEN

Dieter Klein Doppelte Transformation und ein neues linkes Crossover

Die Zeiten nach der Bundestagswahl deu- zwischen der Überzeugung vieler Linker ten auf ein neoliberales «Weiter so» hin, und in sozialorientierten bürgerlichen Mili- gestützt auf sozialdemokratisch inspirierte eus, dass ein politischer Richtungswechsel soziale Zugeständnisse an benachteiligte dringlich ist, und der Handlungsschwäche Gruppen der Gesellschaft. Aber auf diesem der potentiellen Akteure progressiver gesell- Weg werden die Überlebensprobleme unse- schaftlicher Transformation. SPD, Linkspar- rer Zeit keine Lösung finden. tei und Grüne können die Gesellschaft nicht Doch ein tiefer Widerspruch bestimmt getrennt voneinander entscheidend verän- das öffentliche Bewusstsein in Deutsch- dern. Die Bewegungslinke ist ebenfalls seg- land und vielen anderen Weltregionen. Die mentiert und dadurch geschwächt. Es fehlt meisten Deutschen sind mit ihrer Lage im ein gemeinsames linkes Gesellschaftspro- Vergleich zu der in anderen Ländern relativ jekt und ein ernsthafter breiter Diskurs zur zufrieden. Zwar existiert das mehrheitliche Suche nach den Umrissen eines solchen al- Empfinden, in einer ungerechten Gesell- ternativen Projekts sowie nach Bündnissen schaft zu leben, in einer bedrohten natür- zur Durchsetzung zentraler konkreter Teil- lichen Umwelt und mit einem politischen projekte für eine solidarische Gesellschaft. System, das den einzelnen kaum Chancen Ein wirkungsmächtiges neues Crossover bietet, die eigenen Interessen wirksam zur gerät auf die Tagesordnung im Parteien- Geltung zu bringen. Zugleich ist die Mehr- spektrum links von CDU/CSU und in alten heit der Deutschen jedoch in der lähmen- und neuen sozialen Bewegungen. Sämtliche den Überzeugung befangen, dass es keine linke Kräfte haben Anlass, in diesem Lichte realistischen, machbaren Alternativen gebe. ihre Strategien auf den Prüfstand zu brin- In der Bundestagswahl 2013 erreichten gen. Drei Dimensionen linker Strategien SPD, LINKE und Grüne mit den Stimmen könnten als besonders wichtig betrachtet von 30,3 Prozent der Wahlberechtigten den werden: tiefsten Punkt der Zustimmung seit 1990. Erstens muss eine Erfolg versprechende 1998 hatten noch 53 Prozent der Wähle- linke Strategie Machtoptionen bieten. SPD, rinnen und Wähler für diese drei Parteien LINKE und Grüne werden sich zu der Ein- gestimmt, 2013 nur noch 43 Prozent, 51 sicht durchringen müssen, dass sie nur ge- Prozent dagegen für die CDU/CSU, FDP meinsam eine alternative Machtoption ha- und AfD. Ein tiefer Widerspruch existiert ben.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 109 Beiträge und Diskussionen

Zweitens sollten Schlussfolgerungen Zweitens erfordert eine linke Machtop- daraus gezogen werden, dass die über Jahr- tion, dass SPD, Grüne und LINKE sich auf zehnte hegemoniale neoliberale Erzählung Richtung und Umrisse einer politischen Al- vom Markt als bestmöglichem Problemlö- ternative und auf entscheidende Projekte ser zwar in der jüngsten Mehrfachkrise ins ihrer Realisierung verständigen. Die SPD Wanken geraten ist, die Linke jedoch im his- braucht zum einen erst einmal den Willen torischen Moment weitgehender Desavou- zu einem wirklichen Richtungswechsel und ierung des Marktradikalismus nicht in der zum anderen das Bündnis mit Grünen und Lage war, eine hegemoniefähige eigene Ge- Linkspartei dafür. generzählung von den Konturen einer bes- Die Linkspartei hat wiederholt ihre Be- seren Gesellschaft zu präsentieren. Ohne reitschaft zu rot-rot-grüner Kooperation auf diese beiden Aspekte werden die Linken Bundesebene bekundet. Allerdings müssen keinen Kanzler mehr stellen. Neigungen in Teilen der Partei überwunden Drittens sollte sich die plurale Linke in werden, die einem neuen Crossover-Prozess Europa von dem Konzept einer doppelten abträglich sind. Dazu gehört, Friedensorien- Transformation leiten lassen. Das bedeutet, tierung, Gerechtigkeit und echtes Demokra- für einen längeren Zeitraum eine innersys- tieverständnis als Alleinstellungsmerkmale temische Transformation vom neoliberalen für DIE LINKE zu reklamieren, ohne Differen- Kapitalismus zu einer demokratischeren, zierungen in anderen Parteien hinreichend mehr sozialen, stärker ökologisch orientier- zu beachten. Schwarz-Weiß-Bilder von den ten postneoliberalen Gesellschaft im bür- gesellschaftlichen Verhältnissen und Rück- gerlich-kapitalistischen Rahmen voranzu- fälle in Verbalradikalismus sind gleichfalls treiben. Zugleich ginge es bereits in diesem nicht förderlich für Verständigungsprozesse. Prozess darum, alle potentiell sozialistischen Drittens wird eine neue linke Partei- Formen und Tendenzen für den Einstieg in enkoalition und ein enges Zusammenwir- eine Große Transformation über die Grenzen ken von Parteilinker und Bewegungslinker des Kapitalismus hinaus auszuschöpfen. nur dann Wirkungsmacht erreichen, wenn sich große Teile der Bevölkerung durch ihre Machtoptionen Neigung zu linken Politikangeboten für ein Eine erfolgreiche linke Strategie muss eine neues gesellschaftliches Mitte-Unten-Bünd- Machtoption einschließen. Dreierlei macht nis anstelle des gegenwärtigen Oben-Mitte- linke Machtoptionen aus: Bündnisses entscheiden. Die Prekarisierten Erstens werden Parteien links von der und Ausgegrenzten im Niedriglohnsektor, CDU/CSU die Verhältnisse nur dann zum in privaten Haushalten und die Arbeitslo- Tanzen bringen können, wenn sie Forderun- sen, die bedrohte Arbeitnehmermitte, die gen, Vorschläge, Impulse und Praxen sozia- soziallibertären Milieus und die kritischen ler Bewegungen und Initiativen aufnehmen Bildungseliten in der oberen Mitte können und parlamentarisch zur Geltung bringen. ebenso für konservativ-liberale Politik wie Ein neuer emanzipatorischer Machtblock für eine progressive Richtungsänderung ge- wird nur aus engen Beziehungen von außer- wonnen werden. parlamentarischer und parlamentarischer Es wird darauf ankommen, mit einer Linken entstehen. zeitgemäßen linken Erzählung, einer radi-

110 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen kalen Realpolitik links von der Mitte und gieren weit vorn, wenn Menschen von ihren einer einladenden politischen Kultur linker Wünschen erzählen. Sicherheit ist der Mehr- Diskurse Mehrheiten für eine sozialökologi- heit ein zentraler Wert. In Frieden und ohne sche und emanzipatorische Transformation Gewalt wollen die Menschen leben, von zu gewinnen. guter Arbeit am liebsten. Und gerecht soll es zugehen, nicht zuletzt zwischen Frauen Eine linke Crossover-Erzählung und Männern. Im Grunde wollen die weit- Die plurale Linke bedarf als eine Grundlage aus meisten einfach über ihr Leben selbst zeitgemäßer Strategie und des Zusammen- bestimmen können. In Freiheit wollen sie le- wirkens heute getrennt voneinander wirken- ben. Viele gute Gedanken sind da und be- der linker Akteure neben der Verständigung dürfen des Katalysators einer befreienden über wichtige Teilreformen einer modernen, Erzählung, die sie zu einem neuen Zeitgeist einenden linken Erzählung. Es «mangelt vor zusammenführt. allem daran, die verschiedenen konzeptio- In der diskursanalytischen Forschung nellen Ansätze der Wirtschafts-, Umwelt- des Denkwerk Demokratie werden dem kon- und Gesellschaftspolitik in einer politischen servativen Diskurslager der Diskurs «Frei- Zukunftserzählung zusammenzuführen», heit und schlanker Staat» und der Diskurs meint beispielsweise Benjamin Mikfeld «Made in Germany» zugeordnet. Im progres- (Mikfeld, 2012: 4). siv-demokratischen Diskurslager werden die Was für eine Trumpfkarte in den geis- Diskurse «Marktwirtschaft mit gesellschaft- tig-politischen Auseinandersetzungen unse- licher Verantwortung», «Grünes Wachstum», rer Zeit wäre es, käme in kulturvollen Dis- «Soziale Regulierung und gerechte Vertei- kursen vieler gesellschaftlicher Kräfte und lung», «Maßvoller Wohlstand», «Alternatives schöpfend aus deren je eigenen und un- Wirtschaften und Postwachstum» verortet terschiedlichen Teilerzählungen eine linke (Turowski/Mikfeld, 2013; Mikfeld, a.a.O.). Erzählung von der Art zustande, über die Leider nicht gesondert hervorgehoben wird Ernst Bloch mit Verweis auf Thomas Car- der feministische Diskurs «Reproduktionsar- lyle – idealisierend und überhöht gewiss – beit und Geschlechtergerechtigkeit» mit sei- schrieb: «Was der geistige Vorkämpfer sagt, nem starken Plädoyer für einen neuen zent- waren alle Menschen schon nicht weit ent- ralen Stellenwert der gesamten Sorgearbeit fernt zu sagen, sehnten sich danach, es aus- in den Familien und humanorientierten zusprechen. Die Gedanken aller fahren wie Dienstleistungen (Winker/Degele, 2009; aus einem schmerzlichen Zauberschlaf bei Madörin, 2007). seinem Gedanken auf und erwidern ihn mit Als zentrale Idee einer linken Erzählung Zustimmung.» (Bloch, 1959: 143) von einer alternativen Gesellschaftsent- Die Gedanken aller – ihre Kinder sei- wicklung schält sich aus vielen Erzählun- en ihnen das wichtigste, sagen in den All- gen die freie Persönlichkeitsentwicklung ei- tagsgesprächen viele in Sorge um deren Zu- ner und eines jeden aufgrund sozial gleicher kunft. Vor allem Gesundheit wünschen sich Teilhabe an den elementaren Bedingungen andere mit Blick auf Zeitstress, Arbeitshet- eines selbstbestimmten Lebens, an den Frei- ze, krankmachende Ängste und bedrohliche heitsgütern, heraus (Brie, 2003: 120–129). Umweltkrisen. Liebe und Freundschaft ran- «Freie Individualität, gegründet auf die uni-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 111 Beiträge und Diskussionen verselle Entwicklung der Individuen» (Marx, Verhältnis zu bringen. Dieses wird nur in 2005: 91), menschlicher Reichtum also in langen praktischen und theoretischen Ex- Einklang mit der universellen Erhaltung der perimentier-, Such- und Lernprozessen her- Natur, das kann als der zentrale Gedanke auszufinden sein (Klein, 2013: 139 ff.; Groll, einer gerechten solidarischen Gesellschaft, 2009: 141–161; Notz, 2012). Linke unter- eines demokratischen grünen Sozialismus, schiedlichster Provenienz werden sich hier und des Weges dahin betrachtet werden. wechselseitig zu ergänzen haben. Das bietet sich als Grundtenor der Erzäh- Aber vorerst geht es zwischen den ver- lung einer modernen Linken an. Er findet schiedenen Kräften im linken und linksli- sich auf unterschiedliche Weise in den Pro- beralen Spektrum um die umfassendere grammen sowohl der SPD als auch der Grü- Frage einer zeitgemäßen linken Erzählung nen und der LINKEN. von den Grundkonturen einer emanzipa- Menschlicher Reichtum anstelle von Ka- torischen Gesellschaftsalternative. Sollen pitalreichtum – das ist die Mitte einer mo- sie sich in dem Rahmen bewegen, den An- dernen linken Erzählung. Diese Mitte hat thony Giddens der Sozialdemokratie zuge- einen unschätzbaren Vorteil: die Hinwen- schrieben hat?: «Heute hat niemand mehr dung zum Menschen in der Fülle seiner eine Alternative zum Kapitalismus zu bie- individuellen Bedürfnisse und Fähigkei- ten – zur Debatte steht nur noch, in wel- ten, zu den Bedingungen für ein Leben in chem Maße und auf welche Weise der Ka- Würde, zu Universalität der Menschenrech- pitalismus begrenzt und gezähmt werden te in der Realität des Lebens. Diese Mitte soll.» (Giddens, 1999: 57) Oder soll dieser hat einen schwerwiegenden Nachteil: der Rahmen überschritten werden? Horst Hei- Profit als Sinn kapitalistischer Produktions- mann verweist darauf, dass Giddens´ Auf- weise peitscht unmittelbar Innovationen fassung in dem von Sigmar Gabriel heraus- und einzelwirtschaftliche Produktivität zu gegebenen Sammelband «Die Kraft einer enormer Dynamik voran. Er mobilisiert di- großen Idee» von Peer Steinbrück und Mi- rekt die Gewinninteressen von Individuen. chael Vassiliades ausdrücklich geteilt wird. Das Ziel der freien Entfaltung der einzelnen Kritisch kommentiert Heimann ferner: «Alle als Sinn eines demokratischen Sozialismus anderen 43 Autoren aller Richtungen ver- ist dagegen keineswegs eine unmittelba- wenden weder den Begriff Demokratischer re Triebkraft. Was das Wohl der einzelnen Sozialismus noch gehen sie auf die Grund- im Einklang mit dem Gemeinwohl aller satzfrage eines Systemwechsels ein. Nur ist und welche Wirtschaftsstrukturen, Gü- Thomas Meyer erläutert in seinem Beitrag, ter und Leistungen dafür erforderlich sind, warum der Begriff Sozialismus durch Sozia- folgt mitnichten unvermittelt aus solchem le Demokratie ersetzt wurde.» (Heimann in Ziel. Eine neue Regulationsweise muss das dieser Publikation)1 Kunststück ermöglichen, die Selbstermäch- Eine bewegende linke Erzählung unse- tigung von Individuen und Organisationen rer Zeit muss aber den großen Anspruch ha- zu Entscheidungen, staatliche strategische ben, erhebliche Teile der Bevölkerung davon Verantwortung im Gemeinwohlinteresse und größtmögliche Freiheiten für ein mo- 1 Horst Heimanns Anmerkungen sind im aktuellen dernes Unternehmertum in ein produktives Beitrag gestrichen (Anm. der Redaktion).

112 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen zu überzeugen, dass Alternativen möglich 1. Gerechte Umverteilung von Lebens- sind, in deren Zentrum menschlicher Reich- chancen und Macht tum anstelle von Kapitalreichtum tritt. Es 2. Sozialökologischer Umbau von Wirt- geht um nicht weniger als um eine Wende schaft und Gesellschaft in der öffentlichen Mehrheitsstimmung, um 3. Demokratische Umgestaltung von Wirt- eine Abkehr vom Verharren in Alternativlo- schaft und Gesellschaft sigkeit, um eine Hinwendung zu einer wohl- 4. Umfassende Friedenspolitik und inter- begründeten «konkreten Utopie» (Bloch). Es nationale Solidarität. geht um den langen Weg zur geistigen He- gemonie der Linken. Dieses Konzept der «Vier U» kann hier aus Selbst Gespräche zwischen SPD, Links- Platzgründen nicht ausgewogen vorgestellt partei und Grünen auf verschiedenen Ebe- werden. Der Niedergang der Demokratie in nen, so sinnvoll sie sind, werden zu wenig Europa ist in jüngster Zeit wiederholt an- bewegen, würden sie in geschlossenen Zir- geprangert worden (Crouch, 2008; Haber- keln verbleiben. Aber sie in die Öffentlich- mas, 2013 und 2014; Streek, 2013; Wahl/ keit zu tragen, in einer Erzählung gebün- Klein, 2010). Wolfgang Streeks Krisenana- delt auszusprechen, was viele «Menschen lyse mündet in die Aussage: «Der heute schon nicht weit entfernt (waren) zu sagen» wahrscheinlichste Ausgang wäre dann die und damit ihre Gedanken und ihr Handeln Vollendung ... der Diktatur einer vor demo- auffahren zu lassen für eine bessere Gesell- kratischer Korrektur geschützten kapitalisti- schaft auf dem Weg einer doppelten Trans- schen Marktwirtschaft.» (Streek, 2013: 235) formation – das wäre die gemeinsame Auf- Umso dringlicher ist, dass die plurale gabe der Linken. Linke diesem Trend eine Politik für die Er- SPD, Grüne und Linkspartei stehen vor neuerung der Demokratie auf allen Ebenen der Aufgabe, ihr Profil in Gestalt ihrer je ei- entgegensetzt: für die Selbstermächtigung genen Erzählung von ihren Zukunftsvorstel- der einzelnen und lokaler Akteure, für die lungen zu schärfen und zugleich eine Ver- Neugewinnung der Souveränität von Parla- ständigung über eine Crossover-Erzählung menten, für die Herausbildung neuer Mit- zu suchen, über das also, was sie gemeinsam entscheidungsgremien – vielleicht in der strategisch wollen. Anstöße dafür bietet un- Gestalt von Räten unter Beteiligung unter- ter anderem das Institut Solidarische Moder- schiedlichster zivilgesellschaftlicher Akteu- ne, beispielsweise mit dem Strategiepapier re –, für Wirtschaftsdemokratie und nicht «Umrisse einer sozialökologischen Gesell- zuletzt für eine europäische Politische Uni- schaftstransformation» (ISM, 2011; Buckel/ on auf solidarischen Grundlagen. Re-Demo- Oberndorfer/Troost/Ypsilanti, 2013; siehe kratisierung der erodierenden Demokratie – auch Thie, 2013; Brie, 2013; Klein, 2013). das ist der Schlüssel zur Verwirklichung aller Vier Leitideen einer emanzipatorischen anderen Dimensionen einer emanzipatori- Transformation ließen sich mit dem Grund- schen linken Erzählung. Demokratie heißt motiv der Persönlichkeitsentfaltung einer emanzipatorisches Handeln von Bürgerin- und eines jeden und schöpfend aus unter- nen und Bürgern. Ein entscheidendes The- schiedlichen progressiven Erzählungen ent- ma einer linken Erzählung ist deshalb, ob wickeln: und unter welchen Bedingungen Menschen

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 113 Beiträge und Diskussionen sich aufmachen, um sich selbst, die Kräfte- dergrund zu stellen und damit die unteren verhältnisse und damit die Gesellschaft zu Schichten der Gesellschaft anzusprechen.» verändern (Candeias, 2014; Klein, 2013: (Brandt/Brie/Brie/Wolf, 2013: 63) DIE 99–106; Wright u. a., 2011). LINKE wird von Resten überzogener Enteig- nungsvorstellungen Abschied zu nehmen Gerechte Umverteilung von Lebenschancen haben und stärker ihren Sinn für die Bedeu- und Macht tung unternehmerischer Spielräume entwi- Wer kein Eigentum an Wirtschaftsressour- ckeln müssen. cen, keine Verfügung, keine Macht und we- Die wirtschafts- und sozialpolitischen nig Geld hat, kann kaum umgestalten. Des- Aufgaben erfordern nach der Auffassung halb ist Umverteilung der Ausgangspunkt, der Brüder Brie, Peter Brandts und Frieder das erste Kapitel einer linken Erzählung. Otto Wolfs «eine Neudefinition der SPD als Natürlich setzt dies eine effiziente und in- einer Partei, die nicht zuletzt auch einen novative, sozial und ökologisch orientierte breiten wirtschaftlichen Ansatz einbringt, Umgestaltung der Produktion voraus. Um- eine gute Grundlage für eine neue kon- verteilung nimmt Forderungen nach besse- kurrenzfähige linke Alternative.» (ebenda) ren Löhnen und guter Arbeit auf, das Ge- Aber SPD und Grüne werden wohl auch rechtigkeitsgefühl der Occupy-Bewegung die Vorstellung zu überprüfen haben, dass und der Indignados, der Empörten in Süd- ein wirklicher Richtungswechsel der Politik europa, das feministische Verlangen nach ohne wirksame Veränderungen von Eigen- Geschlechtergerechtigkeit und den Gedan- tums- und Machtverhältnissen vorstellbar ken der Solidarität mit dem globalen Sü- und durchsetzbar sei. den. Umverteilung ist ferner unverzichtbar, Alle Beteiligten stehen vor der ungelös- um Mittel für den sozialökologischen Um- ten Frage, wie denn die Regulationsweise bau über die Neuwertschöpfung hinaus zu einer Gesellschaft aussehen kann, in der die mobilisieren. Aber sie schließt auch Macht- Konkurrenz um größtmöglichen Profit nicht fragen ein. Muss nicht vor allem im Ban- mehr die entscheidende Triebkraft ist, die kensektor und in der Energiewirtschaft die aber auf andere Weise sozialökologische Dominanz des privaten Monopoleigentums Zielsetzungen mit hoher ökonomischer Effi- durch Überführung von Großunternehmen zienz zu verbinden vermag. in gesellschaftliches Eigentum gebrochen werden? Erstrangiges Gewicht für die sozi- Sozialökologischer Umbau, Friedenspolitik al gleiche Teilhabe aller an entscheidenden und Solidarität Lebensbedingungen wird der öffentlichen Der Gegenstand eines zweiten, aber nicht Daseinsvorsorge zukommen, vorwiegend zweitrangigen Kapitels einer linken Er- gestützt auf öffentliches Eigentum. In einer zählung von einer besseren Gesellschaft künftigen mixed economy werden für alle und von den Wegen dahin ist der sozial- Eigentumsformen soziale und ökologische ökologische Umbau von Wirtschaft und Rahmensetzungen gelten. Gesellschaft. Alle eben skizzierten Fragen In einer künftigen Parteienkooperation gerechter Umverteilung gehören zur sozi- fiele der Linkspartei besondere Verantwor- alen Dimension der Veränderung der ge- tung dafür zu, «die soziale Frage in den Vor- sellschaftlichen Naturverhältnisse. Eine zu-

114 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen kunftsorientierte linke Erzählung handelt dass die großen Chancen dezentraler Ver- von der Ablösung eines am profitträchtigen fügbarkeit erneuerbarer Energien für die Zuwachs des bruttoinlandsproduktsorien- Abkehr von den zentralen Strukturen der tierten Wirtschaftswachstums durch eine Energiekonzerne, für kleinere Investoren, Entwicklung, die die Bedingungen für die für die Stärkung der kommunalen Ener- Persönlichkeitsentfaltung der einzelnen in giewirtschaft und für Energiedemokratie Solidarität mit anderen hervorbringt. So- von unten verspielt werden, wenn die Po- ziale Sicherheit, Menschenwürde, solidari- litik überwiegend auf Großprojekte wie die sche zwischenmenschliche Beziehungen, Nordsee-Windparks oder Desertec in Nord- Selbstbestimmtheit, eine gesunde Umwelt, afrika und entsprechend große Stromtras- Bildung und Kultur gewinnen – die Über- sen setzt statt auf eine Kombination von windung von physischer Armut vorausge- Fernnetzen und dezentralen Netzen und die setzt – wachsendes Gewicht in den künfti- Förderung bürgernaher Energieerzeugung. gen Lebensweisen. Die Energiewende kann mit sozialverträg- Entscheidende Veränderungen der Le- lichen Lösungen für Strompreise, für die bensweise und des Umgangs mit der Natur Mieten bei der energetischen Sanierung der sind also zwei Seiten eines Prozesses. Jen- Bausubstanz und für die Tarife im öffentli- seits eines angenehmen Niveaus materieller chen Personennahverkehr verlaufen oder Lebensbedingungen, so hat beispielsweise mit der Abwälzung der Energiewendekos- die Verarbeitung von Hunderten wissen- ten auf die Bevölkerungsmehrheit zu Guns- schaftlichen Studien durch Richard Wilkin- ten weniger Großprofiteure. Bei der Novel- son und Kate Pickett bewiesen, steigt mit lierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes wachsenden Einkommen und Vermögen die geht es nicht zuletzt um diese Fragen. Lebenszufriedenheit nicht mehr dauerhaft Die Überwindung von Kriegen rund an (Wilkinson/Pickett, 2010). Zufriedenheit um den Erdball und von asymmetrischen und Glück sind aber in Ländern mit gerin- Weltwirtschaftsbeziehungen zu Gunsten gerer sozialer Ungleichheit bei niedriger Ar- des Friedens und einer gerechten Weltwirt- mutsquote verbreiteter als in Ländern gro- schaftsordnung sind Grundbedingungen ßer sozialer Polarisierung, selbst wenn diese für menschenwürdiges Leben weltweit und über ein weit höheres Bruttoinlandsprodukt für den Schutz der Umwelt. verfügen. Natürlich gilt für große Erdregio- SPD und Grüne haben wiederholt einer nen weiter, dass dort die Überwindung von Bundeswehrbeteiligung an Kriegen zuge- Hunger, Trinkwassermangel und Analpha- stimmt, die wie in Afghanistan von vorn- betismus und der Aufbau einer Gesund- herein keine Aussicht auf die Lösung der heitsversorgung vorrangig sind. Aber auch aufgestauten Probleme boten. Bisher bleibt dies ist zugleich eine umweltpolitische Fra- eine Analyse der Ergebnisse von Ausland- ge, weil extreme Armut wenig Raum für die seinsätzen der Bundeswehr aus, die zu einer Schonung von Naturressourcen lässt. weit stärkeren Orientierung der Außen- und Auch in den reichen Ländern hat jeder Sicherheitspolitik auf die präventive Besei- umweltpolitische Schritt zugleich politi- tigung von Kriegsursachen anstelle neuer schen und sozialen Charakter. In der Ener- Kriegseinsätze führen könnte. Die Linkspar- giewende beispielsweise ist zu fürchten, tei hat sich von der Überzeugung leiten las-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 115 Beiträge und Diskussionen sen, dass durch Kriegseinsätze in aller Re- nen emanzipatorischen Entwicklungspfad gel Probleme nicht gelöst, sondern häufig zu beschreiten. Die Arbeitnehmerfonds in noch mehr Probleme geschaffen werden. Schweden, die Verstaatlichungen durch die Sie lehnt daher Kampfeinsätze der Bundes- erste Regierung Mitterand in Frankreich wehr im Ausland strikt ab. Sie drängt auf und die erweiterte Mitbestimmung in der Abrüstungsinitiativen der Bundesrepublik, Bundesrepublik waren praktische Ansät- auf Konversion, Verbot von Rüstungsexpor- ze dafür. Aber die etablierte Reformpolitik ten und präventive Konfliktbearbeitung, war nicht in der Lage, sie fortzuführen. Die auf ökonomische, soziale und ökologische marktradikalen Kräfte nutzten diese Schwä- Stabilisierung armer Länder und zerfallen- che und setzten eine Transformation zu ei- der Staaten. Aber sie hat ihrerseits nicht nem neoliberalen und später stark finanz- geprüft, in welchen wenigen Fällen wo- marktgetriebenen Kapitalismus durch, der möglich das Eingreifen ausländischer Frie- schließlich verlustreich in die jüngste mehr- denstruppen in der Lage gewesen wäre, dimensionale große Krise mündete. Her- Katastrophen zu verhindern, beispielsweise kömmliche Reformen sozialdemokratischen den Völkermord in Ruanda, der innerhalb Typs allein entsprechen zudem nicht der von rund hundert Tagen mehr als 800.000 Veränderungskraft der erforderlichen künf- Menschen das Leben kostete. tigen Brüche. Alle drei Parteien haben Anlass, ihre au- Revolution als Zerschlagung aller ge- ßen- und sicherheitspolitischen Positionen gebenen Verhältnisse – sowohl der Aus- zu überprüfen, durchaus nicht die Linkspar- beutung und Unterdrückung als auch der tei allein. Der Solidarität der reichen Länder Evolutions- und Zivilisationspotenziale der Europas für die Überwindung von Hunger, Moderne – ist in Gestalt der Staatsparteisozi- Mangelkrankheiten, Bildungsnotstand, Um- alismus mit schrecklichen menschlichen Ver- weltzerstörung und Flüchtlingsdasein wird lusten gescheitert. Eine Revolution im Sinne dabei größte Bedeutung zukommen. eines zeitlich gerafften großen Umsturzakts ist in Europa weder in Sicht noch verspräche Doppelte Transformation ein solcher Versuch angesichts der Kompli- Die Linken unterschiedlicher Provenienz ha- ziertheit, Komplexität und Größe der aufge- ben zu überprüfen, auf welchem Weg der stauten Probleme Erfolg. Nicht aufzugeben neoliberale Kapitalismus durch eine solida- ist allerdings der Anspruch auf eine revolu- rische gerechte Friedensgesellschaft im Ein- tionäre Tiefe künftigen gesellschaftlichen klang mit der Natur überwunden werden Wandels. Denn die Gesellschaftsprobleme, kann. die in der Herrschaft der ökonomischen Als in den 1970er-Jahren der sozial- und politischen Machteliten wurzeln, kön- staatlich regulierte Kapitalismus (Fordis- nen nur durch die Beschränkung von deren mus) in die Krise geriet, hätte es radikale- Macht gelöst werden können. rer Schritte über die bis dahin praktizierte Wenn aber weder Reform noch Revolu- Reichweite von Reformen hinaus bedurft. tion allein den Herausforderungen unserer Eigentums- und Machtverhältnisse hätten Zeit genügen, wird ein anderer konzeptio- angetastet werden müssen, um in der da- neller Zugang zur Bewältigung der großen mals entstandenen Scheidewegsituation ei- Fragen unserer Zeit notwendig. Als eine

116 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen dritte Entwicklungsweise gerät die Transfor- nen systeminternen Wandel einschließen mation in den Blick, genauer: eine doppelte müssen. Ihre zweite Seite sollte darin be- Transformation, die die Stärken von Reform stehen, dass bereits im Verlauf innersyste- und Revolution bewahrt und beider Grund- mischer Transformation antikapitalistische defizite überwindet. und potentiell sozialistische Tendenzen, Als erste Seite dieser doppelten Trans- Elemente, Institutionen und Praxen ent- formation ist in Deutschland und in großen wickelt und gestärkt werden. In die mögli- Teilen Europas für eine lange Zeitspanne che progressive postneoliberale bürgerliche auch unter der notwendigen Voraussetzung Transformation muss vom Standpunkt lin- weitreichender Veränderung der gesell- ker radikaler Realpolitik der Einstieg in die schaftlichen Kräfteverhältnisse nach links Überschreitung des Kapitalismus, also der im glücklichsten Falle eine progressive de- Beginn einer zweiten Großen Transformati- mokratische, stärker soziale und umwelto- on hineingeholt werden. So wie Karl Pola- rientierte Transformation im bürgerlich-ka- nyi den Übergang von vorkapitalistischen pitalistischen Rahmen zu erwarten. Gegen Gesellschaften zum Kapitalismus als erste die Auffassung, dass dem neoliberalen Ka- Große Transformation ansah, ist eine zweite pitalismus unmittelbar ein demokratischer Große Transformation zu einem demokrati- und grüner Sozialismus folgen könnte, spre- schen grünen Sozialismus die postkapitalis- chen gewichtige Faktoren: die Machtfülle tische Perspektive für das 21. Jahrhundert. des internationalen Kapitals, die Schwä- Ansätze mitten in bürgerlichen Gesell- che und Segmentiertheit der pluralen Lin- schaften, die zu Einstiegsprojekten in eine ken und anderer demokratischer Kräfte, die Große Transformation entwickelt werden bereits erwähnte Größe der ungelösten Ge- könnten, sind beispielsweise die Verstaatli- sellschaftsfragen und die starke Verinnerli- chung von Banken – wenn sie denn für ei- chung bürgerlicher Werte und Handlungs- nen öffentlichen Einfluss auf das Finanzsys- normen in der Bevölkerungsmehrheit. tem und seine Kontrolle genützt würde! –, Eine postneoliberale progressive bürger- ferner die Existenz öffentlicher Daseinsvor- liche Transformation ist kaum vorstellbar, sorge und eines breiten Non-Profit-Sektors, ohne von gefahrenbewussten, strategisch die Rekommunalisierung privatisierter Un- handelnden Teilen der Machteliten mitge- ternehmen wie zum Beispiel von Stadt- tragen oder toleriert zu werden – so wie der werken und Kliniken, Unternehmen der New Deal in den USA von einem reformfä- Solidarwirtschaft, kostenlose Kitaplätze higen Teil des herrschenden Blocks geprägt und besondere Förderung für Kinder aus wurde. Aber auch solche Fraktionen der bildungsfernen Familien, Mietersyndikate, Mächtigen würden unter dem Druck der Formen demokratischer Staatlichkeit von Probleme und von unten diesen Weg nur unten wie die Consejoscommunales und gehen, um ihre Macht und deren kapitalisti- die Misiones in Venezuela, Formen demo- sche Grundlagen zu bewahren. kratischer Erneuerung wie Bürgerhaushalte, Daher, aber vor allem, um die Domi- wie die Stadtteilversammlungen in Madrid nanzverhältnisse zwischen Profit und freier und generell Kämpfe um eine umfassende individueller Entfaltung umzukehren, wird Durchsetzung der Menschenrechte (Candei- eine doppelte Transformation mehr als ei- as/Völpel, 2014).

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 117 Beiträge und Diskussionen

Für sich genommen durchbrechen die- die Dominanzverhältnisse zwischen Kapi- se Seiten gegenwärtiger Realität den Rah- tallogik und sozialökologischer Logik um- men des Kapitalismus keineswegs. Aber zukehren. Ernst Bloch plädierte daher da- ein Moment des Antikapitalismus und ein für, «die Fantasie des objektiv Möglichen» Atem von Sozialismus wirkt da schon, wenn immer wieder neu zu erwecken und beton- das Öffentliche gegen die Profitdominanz te: «Deshalb geht wirkliches Überschreiten gestärkt wird statt durch Privatisierung ge- auch nie ins bloß Luftleere eines Vor-uns, schleift zu werden, wenn über Gesundheit, bloß schwärmend, bloß abstrakt ausma- Bildung, Licht und Wärme anstelle des Pro- lend. Sondern es begreift das Neue als ei- fits das Gemeinwohl bestimmt. «Sozialismus nes, das im bewegt Vorhandenen vermittelt ist seinem Kern nach die universelle Men- ist, ob es gleich, um freigelegt zu werden, schenrechtsbewegung der Moderne.» (Brie, aufs Äußerste den Willen zu ihm verlangt.» 2006: 84) Folglich verweisen Kämpfe um (Bloch, 1959: 2) demokratische, soziale, ökologische, kul- Der LINKEN verlangt die Umsetzung turelle und informationelle Rechte in den des Konzepts doppelter Transformation in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften Realpolitik aufs Äußerste ab, Evolutions- im Maße ihrer Erfolge bereits auf Charakte- und Zivilisationspotenziale der bürgerlich- re des demokratischen Sozialismus. Dieser kapitalistischen Gesellschaften anzuerken- ist nicht allein das Ziel der anderen besse- nen, um sie voll für progressive Reformen ren Gesellschaft, sondern zugleich Weg, Be- ausschöpfen zu können. Sie hat deshalb wegung, Prozess und ein Wertesystem als Tendenzen zu überwinden, sich in Schwarz- Handlungsorientierung auf diesem Weg. weißmalerei zu üben, überwiegend als Pro- Die Chance für eine Verknüpfung von testpartei zu verstehen und zu wenig Ge- progressiver Transformation im Kapitalis- staltungsverantwortung im Gegenwärtigen mus und einer Großen Transformation über zu übernehmen. Teile der Linkspartei müs- ihn hinaus knüpft an der Grundtatsache sen überdies lernen, dass auch gerechtfer- an, dass das Kapital für seine Reproduktion tigte große Forderungen meist nicht als stets seines eigenen Gegenpols bedarf. Karl Sofortakte realisierbar sind, sondern eher Polanyi verwies darauf, dass die gesamte prozesshaft in einem Gemisch von Reform- Geschichte des Kapitalismus eine vom Wir- schritten, kleinen und größeren Brüchen. ken zweier Organisationsprinzipien gezeich- Das könnte beispielsweise für die Heraus- nete Doppelbewegung ist. Das Prinzip des bildung eines kollektiven europäischen Si- Wirtschaftsliberalismus, der profitgesteuer- cherheitssystems unter Beteiligung Russ- ten Marktregulation, funktioniert nur des- lands anstelle der NATO gelten. halb, weil ihm das Prinzip der Schutzes der Der Sozialdemokratie ist aufs Äußers- Gesellschaft vor den destruktiven Wirkun- te der Wille abverlangt, «aus Affinität zum gen des Profitmechanismus Grenzen setzt Stern, der sich noch unter dem Horizont be- (Polanyi, 1976: 185; 112). findet», zu handeln (ebenda: 137), «wenn Es kommt also darauf an, alle Seiten die kleine SPD nicht an der Seite der großen des dem Kapital entgegengesetzten Prin- Merkel-CDU zerrieben werden soll.» (Meyer, zips in den gegenwärtigen Gesellschaften 2013: 13) Im Gefolge der CDU/CSU wird zu erkennen, sie zu stärken und schließlich die SPD zum Beispiel kaum zu der Einsicht in

118 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen

die Grenzen eines Militärbündnisses für die Buckel, Sonja/Oberndorfer, Lukas/Troost, Axel/ Bewältigung explosiver Situationen durch Ypsilanti, Andrea, 2013: Solidarisches Europa – Gemengelagen von autoritärer Herrschaft, Crossover: Alternativen zum neoliberalen Boll- sozialer Spaltung und Perspektivlosigkeit für werk – eine konkrete Utopie! Hamburg die Jugend, von Patriarchat, ethnischen und Candeias, Mario/Völpel, Eva, 2014: Plätze sichern! religiösen Konflikten, Gewaltausbrüchen Zur Lernfähigkeit des Mosaiks in den USA, Spa- und Terrorismus gelangen und kaum kons- nien und Griechenland. Hamburg truktive Schritte zu einem kollektiven Sicher- Crouch, Colin, 2008:Postdemokratie. Frankfurt/Main heitssystem in Europa wagen. Giddens, Anthony, 1999: Der Dritte Weg. Die Erneu- Die Grünen werden sich zu entscheiden erung der sozialen Demokratie. Frankfurt/Main haben, ob sie ihre umweltpolitische Kompe- Groll, Franz, 2009: Von der Finanzkrise zur solidari- tenz aufs Äußerste für einen tiefgreifenden schen Gesellschaft. Visionen einer neuen Wirt- sozialökologischen Umbau einsetzen wol- schaftsordnung für Gerechtigkeit, Zukunftsfä- len, der mit den profitorientierten Machte- higkeit und Frieden. Hamburg liten und ihnen zugeneigten Parteien nicht Habermas, Jürgen 2013: Demokratie oder Kapitalis- zu haben ist, oder ob sie der Kapitalherr- mus? In: Blätter für deutsche und internationale schaft eine grüne Stütze hinzufügen wollen. Politik. 5 Das Konzept doppelter Transformati- – 2014: Ein starkes Europa, aber was heißt das? on ist eine Herausforderung für alle realen In: Blätter für deutsche und internationale oder potentiellen Linkskräfte, ihre Strategie Politik. 3 und Politik vom Standpunkt notwendiger ISM/Institut Solidarische Moderne, 2011: Umrisse Verschränkung von Reformen und tiefen einer sozialökologischen Gesellschaftstransfor- Brüchen zu überprüfen. Sie könnte ein Denk- mation. ISM-summer factory. September anstoß für einen völlig neuen linken Cross- Klein, Dieter, 2013: Das Morgen tanzt im Heute. over-Prozess werden. Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus. Hamburg Madörin, Mascha, 2006: Plädoyer für eine ei- Literatur genständige Theorie der Care-Ökonomie. In: Bloch, Ernst, 1959: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/ Niechoj, T./Tullney, M. (Hrsg.): Geschlechterver- Main hältnisse in der Ökonomie. Marburg Brandt, Peter/Brie, André/Brie, Michael/Wolf, Frie- Marx, Karl, 2005: Grundrisse der Kritik der politi- der Otto, 2013: Für ein neues linkes Crossover. schen Ökonomie. In: MEW. Bd. 42. Berlin In: Blätter für deutsche und internationale Meyer, Thomas L., 2013: SPD – eine neue Strategie tut Politik. 11 not. In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 10 Brie, Michael, 2012: 4 U. Eine vierfache Umkehr. In: Mikfeld, Benjamin, 2012: Alte und neue Wege aus neues deutschland. 12. Juni der großen Krise. Eine Landkarte aktueller po- – 2006: Ist sozialistische Politik aus der Regie- litischer Diskurse über Zukunft von Wirtschaft, rung heraus möglich? Fünf Einwände von Rosa Wachstum und Gesellschaft. Werkbericht 1 Luxemburg und fünf Angebote zur Diskussion. (Kurzfassung) denkwerkdemokratie. Berlin In: Brie, Michael/Hildebrandt, Cornelia (Hrsg.): Notz, Gisela, 2012:Theorien alternativen Wirtschaf- Parteien und Bewegungen. Die Linke im Auf- tens. Fenster in eine andere Welt. Stuttgart bruch. Berlin

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 119 Beiträge und Diskussionen

Streek, Wolfgang, 2013: Gekaufte Zeit. Die vertagte Wilkinson, Richard/Pickett, Kate, 2010: Gleichheit Krise des demokratischen Kapitalismus. Frank- ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für furt/Main alle besser sind. Berlin Thie, Hans, 2013: Rotes Grün. Pioniere und Prinzipi- Winker, Gabriele/Degele, Nina, 2009: Intersektio- en einer ökologischen Gesellschaft. Hamburg nalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Turowski, Jan/Mikfeld, Benjamin, 2013: Gesell- Bielefeld schaftlicher Wandel und politischer Diskurse. Polanyi, Karl, 1976: The Great Transformation. Poli- Überlegungen für eine strategische Diskursana- tische und ökonomische Ursprünge von Gesell- lyse. denkwerkdemokratie. Hans-Böckler-Stif- schaften und Wirtschaftssysteme. Frankfurt/ tung. Werkbericht 3 Main Wright, Erik Olin, u. a., 2011: Rückkehr der Kämpfe? In: LuXemburg 2

120 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen

Klaus-Jürgen Scherer Gedankensplitter über ein außergewöhnliches Wahljahr

Natürlich mussten Sozialdemokraten seit NRW, Schleswig-Holstein, Niedersachsen) über 150 Jahren immer wieder mit Nieder- die Bundestagswahl fast schon gewonnen. lagen umgehen. Im Kaiserreich trösteten In den meisten Umfragen hatte Schwarz- revolutionäre Heilserwartung und die ei- Gelb keine eindeutige Mehrheit mehr. Dann gene Welt der Arbeiterkultur über gesell- führte die vorzeitige Sturzgeburt des Kanz- schaftlichen Ausschluss hinweg. Sogar die lerkandidaten und seine zu hohen Neben- Nazibarbarei konnte Standhaftigkeit, feste verdiensthonorare, aber auch die mediale Überzeugungen und Geschichtsoptimismus Treibjagd gegen ihn, zum Absturz der SPD nicht gänzlich zerstören. In der Nachkriegs- auf das Niveau von 2009. Der mediale Ein- zeit, der Ära des Kalten Krieges, war die Vor- heitskommentar suggerierte: Bei «Mutti» herrschaft des konservativen Adenauerstaa- Merkel liege das Gemeinwohl in bewährt tes lange ungebrochen. Im sowjetischen guten Händen, demgegenüber sorge Stein- Machtbereich der SBZ/DDR dominierten brück vor allem für sich selbst. Vertrauen Verbot, Verfolgung und Unterordnung un- ließ sich so nicht herstellen. Banales war ter das SED-System. Nach dem Intermezzo auf einmal skandalisierbar, wie der Satz, des «roten Jahrzehnts (1967–1977)» (Gerd eine Flasche trinkbarer Pinot Grigio müsse Koenen), nach den Kanzlerschaften von schon 5 Euro kosten, oder die Bemerkung, Brandt und Schmidt musste die SPD ab der Bundeskanzler verdiene im Vergleich zu 1982 die langen Jahre des Stillstandes der Führungsjobs der Wirtschaft zu wenig. Hier westdeutschen und dann gesamtdeutschen wurde der populistische Moment gegen «die Regierungen Kohl ertragen – beendet erst da oben» ausgenutzt und erfolgreich auf sechzehn Jahre später durch Rot-Grün und den Kanzlerkandidaten projiziert. Sein po- Schröder. sitives Image als Manager der Finanzmarkt- Im letzten Jahr konnte mit dem zweit- krise wurde radikal entwertet. Fast im ge- schlechtesten Ergebnis der SPD seit 1949 samten Bundestagswahlkampf gelang kein das Trauma der katastrophalen 23 Prozent nachhaltiger Befreiungsschlag, der aus die- von 2009 kaum wirklich überwunden wer- sem Tief, aus der zugeschriebenen Rolle als den. Jedoch öffnete das erneute Scheitern «Kanzlerverlierer-Kandidat», herausführte. daran, Angela Merkel endlich abzulösen, Erst auf der Zielgeraden änderte sich nicht nur ein neues Kapitel sozialdemokrati- kurzzeitig die Stimmung, kam etwas Be- scher Leidensgeschichte. Vielmehr sah sich wegung in die Wählerpräferenzen. Nach die Genossen-Befindlichkeit 2013 einer ra- dem erfolgreichen Fernsehduell lief Peer santen Achterbahnfahrt der Gefühle, in der Steinbrück zur rhetorischen Höchstform ei- es auch aufwärts ging, ausgesetzt. nes SPD-Wahlkämpfers auf. Alles schien 2012 schien in zu optimistischer Projek- wieder möglich – zumindest in der sozial- tion der knappen Regierungswechsel nach demokratischen Selbstsuggestion war das Landtagswahlen (Baden-Württemberg, Rennen wieder offen. Bevor dann, gewisser-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 121 Beiträge und Diskussionen maßen bereits auf der Ziellinie, der ironisch USA verhindert, wenn es in Europa öffentli- gemeinte pantomimische Stinkefinger von che Güter, Umwelt- und soziale Standards Steinbrück im SZ-Magazin der Medienkam- und kulturelle Förderung gefährdet? Kann pagne wieder neue Nahrung gab. sich die zum Genmais ablehnende Haltung Das enttäuschende Bundestagswahl- von SPD und CSU durchsetzen? usw. Von ergebnis, mit 25,7 Prozent nur knapp über der behaupteten Zwangsläufigkeit, die Gro- dem Niveau von 2009, schien zunächst Ko beschleunige den Niedergang der SPD, ausschließlich Opposition nahezulegen. «Es war jedenfalls nicht mehr die Rede. bleibt ein Staunen über die Filterblasen der So ergab sich zuletzt doch noch ein – ge- Medien und die Ratlosigkeit einer einst gro- wisses – sozialdemokratisches Happy End ßen Partei», so das Fazit des Wahlkampfes im Auf und Ab der großen Gefühle. Damit durch die FAZ-Edelfeder Nils Minkmar1. war das schwierige Jahr 2013 gewisserma- Merkwürdigerweise, das Münchhausen- ßen abgehakt und es erschien wieder mög- Bild des Sich-selbst-aus-dem-Sumpf-ziehen lich, dass es 2014–17 gelingen kann, viele drängt sich auf, gelang nach der Nieder- sozialdemokratische Inhalte in der neuen lage ein kollektiver Selbstheilungsprozess Regierung umzusetzen. der SPD – ein strategisches Meisterstück, durchgesetzt durch den Parteivorsitzenden Gewandelter Blick auf die Vergangenheit Sigmar Gabriel, der dafür sogar mit Willy Man kann die These vertreten, dass der Brandt verglichen wurde. Die SPD wurde wichtigste sozialdemokratische Lernprozess nicht einfach zur Mehrheitsbeschafferin der in den Monaten nach der erneuten Bundes- Kanzlerin, die ihre absolute Mehrheit ja nur tagswahlniederlage darin bestand, dass knapp verfehlt hatte. Die SPD agierte be- sich der Tenor der Wahlanalyse von 2009 reits in der Koalitionsverhandlung mit der wandelte. Zumeist war der Absturz zu ei- Union auf gleicher Augenhöhe, die wesent- ner fast 20-Prozent-Partei darauf zurückge- lichen Inhalte kamen von SPD-Seite (wenn führt worden, dass eine GroKo dem Junior- auch die Union manches zu verhindern partner prinzipiell schade und dass Angela wusste). Das neue Instrument innerpartei- Merkel noch immer alle Koalitionspartner, licher Demokratie, die briefliche Mitglie- wie 2013 bekanntlich sogar die FDP, klein- derbefragung, mündete mit fast 80%iger bekommen habe. Selbst von dem 2007–09 Beteiligung und einer Dreiviertelmehrheit unbestritten erfolgreichen SPD-Krisenmana- Ja-Stimmen in einer erneut aufgerichteten gement, das Deutschland besser als ande- Partei mit gestärktem Selbstbewusstsein re europäische Länder aus der EU-Finanz- und neuer Legitimation. marktkrise hat hervorgehen lassen, habe Gewiss blieb Kritik an der Großen Koali- letztlich nur die Kanzlerin profitiert. Bei er- tion. Doch wendete diese sich einzelnen Is- neuter GroKo drohe der SPD daher sogar sues zu: Was wird wirklich getan gegen die der Verlust des Volksparteienstatus. Totalüberwachung in der digitalen Gesell- Gegen diese bedenkenswerte Argumen- schaft? Wird ein Freihandelsabkommen EU- tation setzte sich im Herbst 2013 in den innerparteilichen Debatten der SPD die 1 Nils Minkmar: Der Zirkus. Ein Jahr im Innersten der selbstkritische Sichtweise durch, dass 2009 Politik. Frankfurt/M. 2013, S. 219. weniger das Diabolische von Angela Merkel

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(also das Präsidiale, das Mittige, das prag- Offensive zu kommen. Die Zukunft ist eben matisch Machtorientierte, das sozialdemo- offen. Das Abenteuer der erneuten GroKo kratische Politik Integrierende, das «Teflon- könnte ebenso wie die erste GroKo 1966– artige», bei dem nichts Negatives haften 1969 wieder zugunsten des kleineren Part- bleibt etc.), gesiegt hätte. Sondern dass die ners ausgehen. SPD für ihre Niederlage letztlich selbst ver- Dieser Blickwechsel war (neben dem antwortlich gewesen sei. Schließlich hatte parteitaktischen Argument, dass man Mer- die Partei jahrelang ein problematisches kel nicht zu einer Minderheitsregierung hät- Erscheinungsbild geboten: Es gelang kein te zwingen können und bei Neuwahlen eine einheitliches sozialdemokratisches Narra- SPD, die sich der Verantwortung entzieht, tiv der Agenda-Politik. Die Kommunikati- weiter verloren hätte), das Fundament des on zwischen Liberalisierungspolitiken und Lernprozesses hin zum zustimmenden Mit- Sozialrhetorik blieb widersprüchlich. Sozial- gliedervotum. demokratisches Profil – was auf die Frage, «wozu SPD?» zu antworten sei – blieb un- Nicht umsonst gewesen: Verkannte klar und wenig glaubhaft. Die Parteibasis Programmjahre hatte von der Basta-Politik von oben, von Kaum eine Wahlanalyse berücksichtigt die der sie sich nicht mitgenommen fühlte, die Vorgeschichte angemessen. Als ob es nicht Nase voll. Erfolge gingen in der ersten Mer- eine vierjährige beharrliche programma- kel-GroKo auf das Konto der Kanzlerin, wäh- tische Arbeit der Partei, sondern nur eine rend für Zumutungen wie die Rente mit 67, Stunde Null des Kandidaten gegeben hät- die besonders in SPD-nahen Milieus vehe- te2. Von vorsichtigen Korrekturen der Fehler ment abgelehnt wurde, die SPD verantwort- der Agenda 2010, über organisationspoliti- lich zeichnete. Hinzu trat verlorene Glaub- sche Beschlüsse zu Beteiligung und Demo- würdigkeit durch die schnellen Wechsel kratisierung, über die Aufnahme der nach führender rot-grüner Spitzenpolitiker in gut Fukushima erneuerten Fortschrittsdebatte, dotierte Industriejobs, in denen es um Par- über einen grundsätzlichen Wertediskurs tialinteressen und Lobbyismus, nicht jedoch zur sozialen Demokratie bis hin zur klaren um Gemeinwohlabwägung ging. Zerstrit- programmatischen Profilbildung in Gerech- tenheit und Intrigen in der Parteiführung, tigkeitsfragen (wie Mindestlohn, Steuer- etwa das Ypsilanti/Beck-Debakel, oder erhöhung für Reiche) und der sozialen Si- 2005–09 allein vier verschiedene Parteivor- cherheit (wie Bürgerversicherung, Kampf sitzende: Das alles konnte nicht gutgehen. der Altersarmut) und sogar bis hin zu einer Die hier skizzierte Analyse bedeutet präzisierten kulturpolitischen Programma- umgekehrt: Mit klarer Ausrichtung, dem tik hatte die SPD – anders als oft behaup- Ernst- und Mitnehmen der Basis, mit neuer tet – ihre Oppositionsjahre keineswegs ver- Glaubwürdigkeit von Programm und Perso- nen, mit erfolgreicher – und kommunikativ 2 Bei Minkmar a.a.O. heißt es einerseits: «das Willy- vermittelter – Umsetzung zentraler Inhalte, Brandt-Haus hat noch keinem Glück gebracht» (8) und andererseits lobt er an Steinbrück «die konsis- sowie mit einem sozialdemokratischen Nar- tente Arbeit seines engeren Teams» (219). Eine ge- rativ des digitalen 21. Jahrhunderts ist es rechte Bilanz der Arbeit des SPD-Parteivorstandes prinzipiell möglich als SPD wieder in die ist dies nicht.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 123 Beiträge und Diskussionen schlafen. Vieles mündete ein in das «Projekt gelingen, schließlich lagen die Grünen ver- Zukunft» der SPD-Bundestagsfraktion Ende meintlich stabil bei fast 15 Prozent 2012 und mehr noch in das umfassende Es kam, wie wir wissen, anders. Übri- SPD-Regierungsprogramm vom Frühjahr gens auch, weil die Grünen am Ende noch 2013. Besonders letzteres besaß fast basis- hinter der Linkspartei (8,6 Prozent) nur 8,4 demokratischen Charakter, fügte auf breiter Prozent erreichten. Sie erschienen auf ein- Basis Parteianalysen, programmatische Be- mal als unglaubwürdig (halbherzige Auf- schlüsse, Essentials der Mitgliederdiskurse arbeitung des Pädophilenproblems der und eine breite Bürgerbeteiligung zusam- 1980er-Jahre), als besserwisserische Bevor- men und trug weniger – was verschiedent- munder (Veggie-Day in den Kantinen), als lich kritisiert wurde – die besondere Hand- links von der SPD positioniert (ihr Steuerer- schrift des Kanzlerkandidaten. höhungsprogramm traf einen Teil ihrer Kli- Dennoch vertrat Steinbrück in seinen entel) und als insgesamt nicht mehr auf der Wahlkampfreden das Programm rhetorisch Höhe der Zeit. Das moderne großstädtische bravourös. Allerdings ließ sich im linkssozi- Bürgertum, deren politischer Ausdruck die aldemokratischen und gewerkschaftlichen Grünen sind, erweist sich erneut als volatil. Milieu manche Erinnerung an alte Agen- da-Zeiten nicht ganz verdrängen. So mein- Kein Weg aus der Defensive: te der Politikwissenschaftler Frank Decker: Diskurse und Themen «Die SPD hat nicht auf die falschen Themen Weniger das umfangreiche SPD-Regierungs- gesetzt, verfügte aber in Peer Steinbrück programm, sondern das, was neuerdings als über keinen optimalen Kandidaten. Der frü- «strategische Diskursführung mit dem Ziel here Finanzminister konnte die starke Be- der Herstellung von Diskursallianzen und tonung der sozialen Missstände im Wahl- einer politischen Transformation»4 bezeich- kampf nicht glaubhaft verkörpern, die von net wird, erwies sich als Problem. Viele ein- Teilen der Wählerschaft auch als Folge so- zelne Themen des 118 Seiten starken (im zialdemokratischer Regierungspolitik wahr- Willy-Brandt-Haus erarbeiteten) Wahlpro- genommen wurden.»3 gramms erhielten durchaus Zustimmung: Noch zu Zeiten des Führungstrios Ga- So hatte die SPD mit den Gerechtigkeits- briel – Steinmeier – Steinbrück hatte die fragen5 «auf die richtigen Themen gesetzt. programmatische Vertrauensarbeit durch- Aber die Leute haben ihr den Einsatz für aus Früchte getragen: Die SPD hatte sich diese Themen nicht recht abgenommen». im Sommer 2012 von den 23 Prozent auf rund 30 Prozent erholt. Wenn nun noch mit 4 Benjamin Mikfeld, Jan Turowski: Sprache. Macht. einem erfolgreichen Wahlkampf eines Kan- Denken – Eine Einführung. In: Denkwerk Demokra- didaten, so die Überlegung, der die Mitte tie (Hg.): Sprache. Macht. Denken. Politische Dis- der Gesellschaft am besten anspricht, 5 kurse verstehen und führen, Frankfurt/New York Prozent hinzu gewonnen werden könnten, 2014, S. 45. dann würde der rot-grüne Politikwechsel 5 Das war der größte Erfolg der Union in der Koa- litionsverhandlung, wie sang- und klanglos das Gleichheitsthema begraben wurde, dabei sind in 3 Frank Decker: Große Koalition ohne Alternative? keinem Land der Euro-Zone die Vermögen so un- In: perspektive 21 58/2013, S. 20. gleich verteilt wie in Deutschland.

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Gegenüber Merkel «fehlten Vertrauen und zog nicht gegenüber der Merkel‘schen Ent- Kompetenz»6. lastung von Politik und ihrer konsequenten Auch die «richtigen» Themen konnten inhaltlichen Dethematisierung. Der Spruch öffentlich nicht durchdringen, weil – so die «Sie kennen mich» am Ende des Fernsehdu- These von Kellermann und Mikfeld – die ge- ells konnte so schließlich zum entscheiden- samtgesellschaftliche Diskurslage bereits in den «Argument» werden. den Krisenjahren 2008–10, lange vor dem Fassen wir die wesentlichen Stichworte eigentlichen Wahlkampf, entschieden wor- der Wahlanalysen,8 die die asymmetrisch den war. Die SPD habe zugelassen, dass die hohen 41,5 Prozent der Union zu erklären systemische Krise des Finanzkapitalismus, suchen, noch einmal zusammen: also die Bankenkrise, in eine Staatsschul- t Bedeutungsverlust der innenpolitischen denkrise umgedeutet wurde. «Letztlich ver- Agenda durch die Eurokrise, bei der die schob sich die Konfliktlinie weg von ‹Finanz- Kanzlerin als Verteidigerin der nationa- märkte vs. Bürger und Gemeinwohl› hin len Interessen hohes Ansehen gewon- zu ‹Schuldenländer vs. Stabilitätsländer›»7. nen hatte; Damit war die Diskursstrategie des Bun- t gute wirtschaftliche Lage mit gesunke- destagswahlkampfes «Stabilität und Si- ner Arbeitslosigkeit, so dass der SPD- cherheit» der Union gegenüber «soziale Ge- Diskurs wachsender sozialer Ungleich- rechtigkeit» der SPD im Vorteil und Merkel heit nicht verfangen konnte; konnte sich als Hüterin unseres Geldes und t eine modernisierte Union, die sich in Garantin für Stabilität und Ordnung in Eu- der politischen Mitte positionierte und ropa inszenieren. Mehrheitsstimmungen nachgab (ener- Ein politischer Kurswechsel zog also giepolitische Kehrtwende, Aufnahme nicht in einer Zeit, in der die meisten, auch von Elementen der SPD-Sozialpolitik); mit dem vergleichenden Blick auf die Kri- t Merkels quasi präsidiale Trennung se bei den europäischen Nachbarn, relativ vom schlechten Erscheinungsbild der zufrieden waren. Der SPD-Spitzenkandidat schwarz-gelben Koalition, was in der konnte nicht ziehen angesichts des persön- Abstrafung der FDP mündete; lichen Vertrauens, das Angela Merkel lang- t hohe persönliche Sympathiewerte der fristig als Personifizierung des Stabilitäts- Kanzlerin: Sie führte als erste Regie- versprechens aufgebaut hatte. Politische rungschefin während ihrer gesamten Inhalte (differenzierte soziale Lage, Kon- Amtszeit die Liste der beliebtesten Po- zentration privater Vermögen, Investitions- litiker an, demgegenüber hätte wohl stau usw.), diskursive Aufklärung, zugespitz- keiner der potentiellen SPD-Kandidaten te Argumente, geschliffene Rede – all das eine Chance gehabt; t hinzu kam das Problem, dass die SPD gegen die übermächtige Merkel Pro- 6 Rita Müller-Hillmer: Es fehlten Vertrauen und Kom- gramm, Performance und Person nicht petenz. In: perspektive 21, 58/2013, S. 28. 7 Christian Kellermann, Benjamin Mikfeld: Politische Diskursführung in der Praxis. Eine kleine Fallstudie über den Bundestagswahlkampf 2013. In: Denk- 8 Siehe auch Bundestagswahl 2013 in: APuZ 48– werk Demokratie a.a.O., S. 284. 49/2013.

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wirklich kongruent hinbekam. Unter Brandt-Grass9 mit einer Lesung und an- dem Claim «Das Wir entscheidet» erleb- schließendem Podium mit dem 85-jähri- te man die individuelle Stärke des Kan- gen Literaturnobelpreisträger und mit Peer didaten, sein überzeugendes Auftreten Steinbrück. Im Laufe des Gesprächs formu- als intelligenter und unterhaltsamer lierte Günter Grass über Merkel, sie habe in Einzelkämpfer, mit außergewöhnlichem ihrer FDJ-Zeit Anpassung und Opportunität Sachverstand und mit ganz eigenen und bei Kohl den Umgang mit der Macht Ecken und Kanten. gelernt. Diese harmlose Äußerung nahm die BILD-Zeitung tags darauf zum Anlass, Wahlkampagne im neuen Biedermeier dies unter der Überschrift «Dabei war er sel- Die Rolle von Medien und prominenten ber bei der SS… Grass greift Merkel wegen Meinungsmachern erlebte 2013 gewiss ei- DDR-Vergangenheit an» zu skandalisieren. nen problematischen Höhepunkt. Nun ist Steinbrück wurde in dem reich bebilderten es ein alter Streitpunkt, wo eigentlich Medi- Hauptartikel auf Seite 2 vorgeworfen, sich enkampagnen beginnen, wie viele und wie mit diesem zwielichtigen Grass einzulassen: direkte Absprachen dazu notwendig sind. «Wie lange tut sich die SPD das noch an?». Empirisch belegbar ist jedenfalls das Rudel- Ein dreistes Wahlkampfstück mit drei Bot- verhalten der Medienmeute, wenn plötzlich schaften: (1) Ein weiterer Anlass der Sprin- nur noch Einzelne, wie der Freitag oder die gerpresse, Grass moralisch zu diskreditie- taz, eine abweichende Meinung vertreten. ren und ihn als Lügner darzustellen, hier Und wenn Grenzen des Anstandes über- ist noch eine historische Rechnung offen. schritten werden, wie beim Versuch der Botschaft (2): Steinbrück habe es nicht im charakterlichen Demontage Steinbrücks Griff, er schaffe es nicht einmal, den prob- (Ego-Shooter, Spielernatur, gar Stasi-Ver- lematischen Grass loszuwerden. (3) Es geht leumdung) oder der unbegründeten Be- darum, ostdeutsche Identitäten für Merkel hauptung, die (detailliert durchgerechnete) zu mobilisieren, nach dem Motto: Wir las- SPD-Programmatik wäre unseriös. Beson- sen uns unsere (FDJ-)Vergangenheit nicht ders vernichtend war für Rot-Grün, dass der kaputtreden. Unterschwellig: Der westdeut- Gerechtigkeitsdiskurs, den rund zwei Drittel sche Kandidat erkennt DDR-Biographien der Bevölkerung mittrugen, umgedreht wur- nicht an. de zu einem Diskurs über Steuererhöhun- Zweitens konnte der große satirische gen, die eine Mehrheit ablehnten. Alle Ar- Plakatkünstler Klaus Staeck, seit Jahren gumente, nur die oberen 5 Prozent wären Präsident der Berliner Akademie der Küns- (zu Recht) betroffen, wurden nicht mehr ge- te, noch einmal mit einer Plakat-Postkarte, glaubt. wie so oft in den 1970er-Jahren, die Repu- Zur Illustration dieser Medienmacht im blik erschüttern. Sie zeigte den wegen Steu- Zeitgeist der Entpolitisierung zwei signifi- erhinterziehung angeklagten Vereinsprä- kante Beispiele aus der eigenen Erfahrung sidenten Uli Hoeneß, dem Angela Merkel des Autors: auf der Tribüne des FC Bayern freudig die Im Willy-Brandt-Haus organisierten wir am 27. Juni 2013 eine Buchvorstellung 9 Willy Brandt und Günter Grass: Der Briefwechsel, des historisch bedeutenden Briefwechsels hrsg. Von Martin Kölbel, Göttingen 2013.

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Hand reicht. Darüber stand: «Glückwunsch fenbar galt es nicht mehr als peinlich, wenn Uli! Wir Steuern das schon» als Kritik dar- der Schauspieler Moritz Bleibtreu auf der In- an, wie nachlässig die Regierung mit Steu- ternetseite der Gala verkündete: «Ich habe erbetrug umgeht. Von den Jusos verteilt vor noch niemals gewählt». Josef Joffe behaup- Fußballstadien (außerhalb Münchens) wur- tete ganz im Sinne der Kanzlerin «Wahl- de die Postkarte in den wichtigsten Medien müdigkeit signalisiert nicht Verdruss, son- publiziert – allerdings als angeblicher Skan- dern Vertrauen.»11 Nichtwähler wurden zur dal: Diese Satire sei übergriffig und belei- stärkste Partei der geistigen Elite: 58,3 Pro- digend, würde Hoeneß vorverurteilen und zent der von der ZEIT (5. September 2013) den Fußball politisch instrumentalisieren. befragten «48 namhaften Künstler und In- «Verweigert wird einmal mehr die Debatte tellektuelle» gaben keine Wahlempfehlung um Inhalte», so das Fazit Staecks, der von ab (gegenüber: SPD 14,6, Grüne 12,5, Uni- der «bewussten oder in Kauf genommenen on 8,3, Linkspartei 6,3 Prozent). Geisteswis- Fehlinterpretation des Motivs» «durch fast senschaftler wie Harald Welzer, Peter Sloter- alle Medien» schrieb: «Das Thema meiner dijk, Richard David Precht, Schriftsteller wie Satire ist Steuerhinterziehung und gewerbs- Thea Dorn, Jana Hensel, Maxim Biller, oder, mäßig betriebene Steuervermeidung durch wie schon vier Jahre zuvor, der Journalist global agierende Konzerne zum Schaden Gabor Steingart und viele andere fanden der Steuerzahler – und die Nichtbehand- die Wahl zwischen Wählen oder Nichtwäh- lung durch die Politik.»10 Auch diese inhalt- len nicht mehr wirklich wichtig. liche Auseinandersetzung wurde von den Dies griffen die Medien vom Spiegel Medien ganz im Sinne der Unionsvorgabe, bis zur Sonntagabendtalkshow von Gün- keine Themen und Kontroversen aufkom- ter Jauch begierig auf: «Soll ich wählen men zu lassen, verweigert. oder shoppen?» fragte Die Zeit12. Statt die Statt über inhaltliche Alternativen wur- programmatischen Unterschiede der Par- de wochenlang darüber diskutiert, ob man teien zu analysieren, dominierte die The- eigentlich wählen gehen solle. Die Sozial- se: «Früher konnte ich als Wähler das Land forschung lehrt uns, dass die Legitimations- auf verschiedene Wege schicken – heute krise der Parteiendemokratie eigentlich vor nähern sich die Ideen der Parteien an»13. allem mit Exklusion zu tun hat, mit dem pre- Dieser objektiven Unterstützung des De- kären Leben ganz unten. «Die da oben ma- mobilisierungswahlkampfes der Kanzlerin chen doch eh, was sie wollen», mit solcher lagen natürlich unterschiedliche Motive der Politikverachtung antworten überdurch- Wahlenthaltung zugrunde: weil die Partei- schnittlich die Armen und Niedriggebilde- enangebote alle gleich seien; weil doch so- ten, die damit die Interessenvertretung der wieso die Marktgesellschaft und nicht die Schwachen noch mehr schwächen. demokratische Politik das Sagen habe; weil Doch nun bekannte sich mancher öf- die Politiker doch alle abgehoben seien und fentliche Intellektuelle und prominente Kul- turmensch dazu, nicht wählen zu gehen. Of- 11 Josef Joffe: Glückliche Republik. In: Die Zeit vom 5. September 2013, S. 12. 10 Klaus Staeck: Kolumne: Es lebe die Postkarte! In: 12 Die Zeit 19. September 2013, S. 19. FR 29. 08. 2013, S. 10. 13 Ebenda.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 127 Beiträge und Diskussionen in ihre eigene Tasche wirtschaften würden. offenen Debatte über die Rolle der SPD in Oder weil das ganze demokratische System der zukünftigen Großen Koalition schreckte erneuert werden müsse, so der Schriftsteller man erst recht zurück, wahrscheinlich wäre Eugen Ruge14. Oder weil, so Harald Welzer dies tatsächlich als vorzeitige Kapitulation auch auf einer Veranstaltung des Kulturfo- ausgelegt worden. rums der Sozialdemokratie am 26. August 2013 im Deutschen Theater in Berlin, die Was droht uns noch? Kleiner Ausblick Aufgabe einer überlebensfähigen demokra- Die Zusammensetzung des neuen Bundes- tischen Zivilisation zu groß sei für Bundes- tages ist erheblich linker als das tatsächli- tagswahlen. «Keine Idee für die Bewahrung che Meinungsspektrum in der Bevölkerung, der Demokratie im 21. Jahrhundert findet das sich angesichts der europäischen Krise sich im Angebot der Parteien, weshalb es nach rechts verschoben hat. Etwa will eine die Kategorie des kleineren Übels nicht Mehrheit deutsche Interessen in Europa mehr gibt!»15 Allen subjektiv interessanten stärker vertreten sehen und stimmt der Aus- Begründungen zum Trotz blieb die eigentli- sage zu, der deutsche Steuerzahler sei der che Wirkung, dass diese Intellektuellen und große Verlierer der europäischen Schulden- Kulturschaffenden mit dazu beitrugen, dass krise. Doch der durch sozialdemokratische sich 2013 keine rot-grüne Aufbruchsstim- Handschrift deutlich mitgeprägten GroKo mung entwickeln konnte. stehen mit der Linkspartei und den Grünen Zuletzt kam noch, gewissermaßen als zwei im Grunde von links her argumentie- traurige Neuauflage der letzten Wochen rende Oppositionsparteien gegenüber. Die des Bundestagswahlkampfes von 2009, Rechte ist im derzeitigen Bundestag eigent- die fehlende Machtperspektive hinzu. Wer lich nicht angemessen vertreten. Es ist ein von vorneherein als The Biggest Loser gilt – Glücksfall des Wahlergebnisses, das die was im Grunde feststand, als der rot-grüne neoliberale Rechte (FDP 4,8 Prozent) her- Schulterschluss nicht verfing und wenig ausgefallen ist und die nationalkonservativ- beachtet blieb – wird schließlich auch des- populistische Rechte (AfD 4,7 Prozent) den halb bei Wechselwählern seltener gewählt, Einzug knapp verfehlte. Bei aller postmo- weil sich masochistische Neigungen bei dernen Chuzpe, sich den Begriff des eins- den meisten in Grenzen halten. Wieweit tigen Gegners überzustülpen, wusste die ein Wechsel weg vom kategorischen Nein BILD-Zeitung schon, warum sie versuchte, zu jeder Annäherung an die Linkspartei das sich in den ersten Wochen des Jahres 2014 Spiel geöffnet hätte, muss offenbleiben. als neue Außerparlamentarische Oppositi- Derartige grundsätzliche Schwenks mitten on (APO) zu inszenieren. im Wahlkampf können das Glaubwürdig- Denn hier könnte sich die Konstellati- keitsdefizit noch erhöhen. Und von einer on der Zukunft andeuten. Die Diskurslage dürfte sich wie bereits in anderen europäi- schen Ländern so entwickeln, dass die Gro- 14 Eugen Ruge: Wir haben ja keine Wahl. In: Die Zeit 12. September 2013, S. 48. Ko mit ihrer Interessen ausbalancierenden, 15 Harald Welzer: Das Ende des kleineren Übels. vermeintlich rationalen und alternativlosen Warum ich nicht mehr wähle. Essay. Der Spiegel Problembearbeitung nicht mehr nur von 22/2013, S. 123. links kritisiert wird. Ihr vielmehr vor allem

128 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen der rechtspopulistische Protest, der Ängste re Sozialsysteme». Hinzu kommen kulturelle und Vorurteile der Bevölkerung weit besser Feindbilder («wir hier unten gegen die da aufzugreifen und zu bedienen vermag, ge- draußen», auch «gegen die da oben»), Is- genüberstehen wird. lamophobie und/oder Antisemitismus, so- Es wird jetzt nicht nur darum gehen, ob wie Europaskepsis, Euro-Gegnerschaft und mit Grünen und der Linkspartei Vorarbeiten die Renationalisierung des Politischen. Ver- gelingen für ein gemeinsames Regierungs- bunden mit einer Selbststilisierung als das projekt in der nächsten Legislaturperiode. «Normale» und als die wahren Verteidiger Mehr noch wird es darum gehen, Angrif- der Demokratie, was nicht an der pauscha- fe gegen die sogenannte Political Correct- len Herabwürdigung von Institutionen, Par- ness und den «neuen Tugendterror»16 im teien und Politikern hindert. Gespeist aus Namen des angeblichen Tabubruches, des Ressentiments, Wohlstandschauvinismus Gestus des «Man-wird-doch-wohl-noch-sa- und diffusen Krisenängsten gehören diese gen-dürfen», zurückzuweisen. Aufgerufen eigenartigen Botschaften des rechten Popu- wird gegen den «Meinungsterror der linken lismus mittlerweile zum Zeitgeist. Massenmedien», gegen die weltfremden «Gutmenschen», gegen den «Gleichheits- Referat aus dem Januar 2014 wahn», gegen «die Einwanderung in unse-

16 Thilo Sarrazin: Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland. München 2014.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 129 Beiträge und Diskussionen

Kira Ludwig Die Geschichte der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e. V. Teil 2: Die frühen Jahre (1980–1984)

Nachdem im ersten Teil der Rahmen für die Dieser «zweite Bonner Machtwechsel» Gründung des Vereins HDS abgesteckt wur- mit dem Wechsel der FDP zu den Konserva- de, bewegt sich der Akademikerverein an tiven sowie zweitens der Einzug der Grünen der SPD jetzt weiter in die frühen 1980er- in den Deutschen Bundestag, sind Ergebnis- Jahre. Dazu lohnt ein Blick auf das politi- se starker Veränderungen gesellschaftlicher sche Umfeld und die «Lieferanten» für die Problemlagen und haben die politische Theoriebildung der HDS. Die grundlegen- Landschaft neu justiert. Die Wirtschaftskri- den Elemente des Verständnisses von De- se, Legitimationsprobleme der Politik insge- mokratischem Sozialismus und die kurze samt und neue Fragen wie der Schutz der Betrachtung der Kritik aus dem rechten Umwelt rücken in den Vordergrund.2 Spektrum der Sozialdemokratie bestimmen Die SPD stand während der Regierungs- in diesem Abschnitt in etwa den Standort zeit, wie Faulenbach es formuliert, «unter der HDS kurz vor Herausgabe der ersten doppelter Spannung»: Sie bestimmte die perspektiven ds im Jahr 1984. Politik in Deutschland, wurde zunehmend wichtiger in Europa und war gleichzeitig Wandel des Politischen erfasst von einer «Fundamentalpolitisie- Die «Wende», wie wir sie heute verstehen, rung» der Gesellschaft.3 Das stürzte die Par- nämlich den Fall der Mauer und die deut- sche Einheit von 1989/90 sollte erst noch Hans-Joachim/Scherer, Klaus-Jürgen (Hrsg.): Ende kommen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde der Wende? Konservative Hegemonie zwischen die «Wende» zumindest aus sozialdemokra- Manifestation und Erosion. (Schriftenreihe der tischer Perspektive für das Jahr 1982 ange- Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus, setzt, nämlich mit dem Wechsel von Kanzler Bd. 24). Marburg 1990. Dieser zeitgenössischen Helmut Schmidt zu Kanzler Helmut Kohl.1 Wahrnehmung treten Historiker heute entgegen, die von Kohl ausgerufene «geistig-moralische Er- neuerung» habe nicht funktioniert, sondern ist im 1 Diese Wahrnehmung spiegelt sich u. a. in den Schmiergeldsumpf und Blockierung der Republik Überschriften einiger HDS-Autoren wieder: Scha- durch die Konservativen steckengeblieben. bedoth, Hans-Joachim: Bittsteller oder Gegen- 2 Meng, Richard: Die sozialdemokratische Wende. macht? Perspektiven gewerkschaftlicher Politik Außenbild und innerer Prozess der SPD, 1981– nach der Wende, Marburg 1985; Vgl. auch Wasch- 1984. Gießen 1985. kuhn, Arno: Was wird aus den «neuen sozialen 3 Faulenbach, Bernd: Das sozialdemokratische Jahr- Bewegungen», wenn sich die «Wende» politisch zehnt : von der Reformeuphorie zur Neuen Unüber- weiter stabilisiert? In: perspektiven ds, 1/1988. sichtlichkeit. Die SPD 1969–1982. (Die deutsche Ebenfalls das 1990 (sic!) erschienene Schabedoth, Sozialdemokratie nach 1945, Bd. 3). Bonn 2011.

130 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen tei selbst in eine Identitätskrise. Einerseits waren in den 1970er-Jahren bereits weit suchte sie ihre Erfüllung in der Befriedigung auseinander gefallen, eine Phänomen, das der Erwartungen der Arbeiterbewegung man bei allen Parteien in Regierungsver- und wurde vom rechten Flügel für die prag- antwortung früher oder später beobachten matische Politik, an der sie tunlichst festhal- kann. Und Teilen der Partei war Brandts ten sollte, gelobt. Der linke Flügel, die JU- Fühlung mit den Außerparlamentarischen SOS und die Neuen Sozialen Bewegungen verdächtig, besonders Richard Löwenthal. hingegen vermissten eine Anpassung an Grundsätzlich gehörten Brandt und Lö- die gesellschaftlichen Veränderungen und wenthal zwei verschiedenen Traditionen an, warfen ihr vor, nicht mehr fortschrittlich zu vielleicht trifft es das Wort Kulturen auch sein. Innen wie außen rang man um den Be- besser; ihre Auffassungen fußten auf unter- griff und die Konzepte von Modernisierung. schiedlichen Menschenbildern. Als Brandt Mit dem Thema Umwelt tat sich die 1981 über «Sozialdemokratische Identität» SPD dabei schwer und ließ quasi den grü- sprach, wurde deutlich, dass diese Bilder nen Platz beinahe frei. Die Partei «Die Grü- nicht mehr miteinander vereinbar waren.5 nen» zog 1983 in den Bundestag ein. Das Löwenthal legte 1981 sechs Thesen vor, mit ganze Parteiensystem war in Bewegung ge- denen er sich gegen Brandts Annäherungs- raten. Der Wandel des Politischen war mit versuche an die Bewegungen außerhalb der der Abnahme der Bedeutung der Gewerk- Sozialdemokratie aussprach. Die Geschich- schaften und dem Aufkommen der Neuen te ihres Erscheinens ist eine kleine Intrige Sozialen Bewegungen in den 1980er-Jah- der Rechten, die kulturelle Hegemonie im ren in der politischen Landschaft ange- sozialdemokratischen Gebäude zu erringen, kommen. Es entstanden neue Formen des der Ton zwischen den Lagern verschärfte politischen Arbeitens, sie sorgten für mehr sich wieder. Im Verlauf der Auseinander- politische Teilhabe in bestimmten Gesell- setzung legte Herbert Wehner die Chefre- schaftsschichten. Andererseits folgte der daktion der «Neuen Gesellschaft» nieder wirtschaftlichen Privatisierung eine «wach- und Peter Glotz übernahm das Amt. Das sende Skepsis gegenüber historisch ge- war gleichzeitig auch das Ende der Troika wachsenen staatlichen Kernkomptenzen», Wehner – Brandt – Schmidt.6 Mit Glotz hat- die Bürgerinnen und Bürger entfernten sich te jemand die Redaktion des Theorieorgans von Politik und Staatsgeschäften.4 inne, der den demokratischen Sozialisten Innerhalb der SPD tat sich Interessan- näher stand. tes. Die neue gefühlte Unabhängigkeit des Beherrschend wurde das Thema Frie- Vorsitzenden Brandt, der sich mehr zutrau- denspolitik mit Nato-Doppelbeschluss und te und in seiner Rolle ganz aufging, öffne- Groß-Demonstrationen, das zu einem Spalt- te die SPD. Partei und Regierungsapparat 5 Hofmann, Gunter: Willy Brandt und Helmut Schmidt. Geschichte einer schwierigen Freund- 4 Ruck, Michael: Tanker in der rauen See des Struk- schaft. München 2012, 209. tur- und Wertewandels. In: AfS 52, 253–271, 254. 6 Hofmann, 2012, 211. Vgl. auch Gebauer, Anne- Süß, Dietmar/Woyke, Meik: Schimanskis Jahr- katrin: Der Richtungsstreit in der SPD. Seeheimer zehnt? Die 1980er-Jahre in historischer Perspekti- Kreis und Neue Linke im innerparteilichen Macht- ve. In: AfS 52, 3–20, 8. kampf. Wiesbaden 2005, 176 f.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 131 Beiträge und Diskussionen pilz wurde. Die beiden Führungsfiguren – rung selbst zum Problem geworden war.10 Noch-Kanzler Schmidt und Parteivorsitzen- Alles schien auf den Prüfstand zu kommen, der Brandt standen sich in dieser Phase oder musste sich rechtfertigen; das zeigte wie zwei Pole an den Enden der Auseinan- sich beispielsweise besonders am Umgang dersetzung um den Nato-Doppelbeschluss mit industriellen Großprojekten. Arbeitslo- gegenüber, und Gunther Hofmann macht sigkeit und soziale Verwerfungen führten deutlich, dass das auch aufgrund der ver- außerdem verstärkt dazu, die Zukunft nicht schiedenen Biografien und Kohortenzuge- mehr optimistisch zu sehen. Aber wie sollte hörigkeit so sein musste. Während Brandt Politik darauf antworten? Die SPD reagier- sich nach SAP-Vergangenheit, nach Flucht te und begann erneut eine ernsthafte Pro- und Kampf gegen den Nationalsozialismus grammdiskussion. mit der Friedensbewegung, ihren Metho- Die HDS beteiligte sich intensiv an der den, ihrer Sprache, ihren Anliegen leichter Debatte. Wichtiger Partner dabei wurden identifizieren konnte und ihre Sorgen durch- die Juso-Hochschulgruppen. Da die HDS aus verstand, zog Schmidt professionelle selbst bei den Mitgliedern kaum noch zu- Hilfe zu Rate, um die «Angst» zu verstehen, legte, bemühte sie sich entsprechend um die diese Menschen zu hunderttausenden Nachwuchs. in den Bonner Hofgarten brachte.7 Gunther 1983 und 1984 entstanden zwei Ko-Pro- Hofmann eröffnet seine Doppelbiografie dukte zwischen JUSO-HSG und HDS. 1983 von Schmidt und Brandt mit einem «letzten hieß das Blatt «SPD wohin?» Als Herausge- Bild», nämlich dem Parteitag von 1983. Die ber fungierten in der Reihenfolge zuerst die Partei lehnte den Nato-Doppelbeschluss ab, Juso-HSG mit Dieter Kinkelbur, danach die Brandt und Schmidt sahen sich nicht an.8 Hochschulinitiative mit Norbert Kunz aus Das innen- wie außenpolitisch empfun- dem Vorstand der HDS: ein Hinweis darauf, dene «Krisengefühl», das seit den 1970er- wer wem aufgeholfen hat, bzw. wie eng Jahren die Szenerie beherrschte9, war ja mit Verflechtungen der jungen HDS mit der stu- dem Parteitagsbeschluss nicht aufgelöst. dentische Juso-HSG war.11 Vielmehr schien der Modernisierungspro- 1984 beim gemeinsamen zweiten Heft zess der Gesellschaft an einem Ende ange- war es andersherum: Die sich weiter profes- kommen zu sein, an dem die Modernisie- sionalisierende HDS stand – mit dem Na- men ihrer brandneuen Zeitschrift perspekti- ven ds und eigenem Verlag – oben auf dem

7 Hofmann 2012, 209–211. Schmidt sprach häufiger mit dem Psychoanalytiker und Sozialphilosophen Horst-Eberhard Richter über die Angelegenheit. 10 Süß/Woyke 2012, 11. Der Terminus der Risikoge- 8 Hofmann 2012, 9 und ausführlicher 225 f. sellschaft geht zurück auf: Beck, Ulrich: Risikoge- 9 Hacke, Jens: Der Staat in Gefahr. Die Bundesrepu- sellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. blik der 1970er-Jahre zwischen Legitimationskrise (Edition Suhrkamp1365 = n.F., Bd. 365). Frankfurt und Unregierbarkeit. In: Geppert, Dominik/Hacke, am Main 1986. Jens (Hrsg.): Streit um den Staat. Intellektuelle 11 Juso-Hochschulgruppen/Hochschulinitiative De- Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980. Göt- mokratischer Sozialismus e. V. (Hrsg.): SPD wohin? tingen 2008, S. 188–206, 189. Bonn, Berlin 1983.

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Heft mit dem Titel «Abschied vom Sozialis- te sich stark auf die Theorie des demokrati- mus?», die Juso-HSG war diesmal der Gast.12 schen Sozialismus und Ökosozialismus und Das erste Heft beschäftigte sich mit führte Rubriken und thematische Zusam- der SPD nach der konservativen Wende in menhänge ein. Bonn und die Herausgeber legten die Mo- tivation für die Zusammenarbeit der bei- Die «Anti-These zum Marxismus-Leninismus»14 den Gruppen offen: Kräfte bündeln und Die Theoriearbeit stand für die HDS zwar grundlegende Analysen vornehmen, um der im Vordergrund, sie musste aber im Sinne SPD bei ihrer Findung in der Oppositions- eines «Sozialismus in Theorie und Praxis» rolle gestaltend zur Seite zu stehen.13 Auf stets in praktische Politik übersetzbar wer- jeden Fall wollte man verhindern, dass die den können. Dafür standen speziell drei SPD ihr Heil künftig in einer konservative- Männer ein: Fritz Vilmar, Johano Strasser ren Programmatik suchte. Die darin enthal- und Horst Heimann. Vilmar wurde nicht tene Gefahr einer stärkeren Polarisierung in müde, ohne jede Verklausulierung zu er- der Auseinandersetzung mit dem orthodo- klären, wie wichtig es sei, dem orthodoxen xen linken Flügel könnte sich zerstörerisch Marxismus entgegen zu treten.15 Horst Hei- auswirken. Anfang 1984 sollte ein größerer mann wählte vielfach den Weg, über das Kongress der HDS stattfinden, der den Titel Thema «Wissenschaft und Sozialismus» trug «Aufgaben der Sozialdemokratie in der Zweifel am wissenschaftlichen Marxismus- Opposition». Immerhin waren 13 Jahre ver- Leninismus mit gut geführten Argumenten gangen, in denen man sich an die Macht nachhaltig zu streuen, außerdem bereitete gewöhnt hatte und in denen die Skepsis er Bernsteins Reformtheorien für die Debat- gegenüber denen, die an dieser Macht be- te auf.16 Johano Strasser stritt sich in seiner teiligt waren, erheblich angewachsen war. Deshalb thematisierte «SPD-wohin?» nicht 14 Vgl. Titel von Grebing, Helga: Die Traditionen des nur die mögliche Rolle in der Opposition. Es demokratischen Sozialismus als Anti-These zum wurde sich außerdem im Heft an der CDU Marxismus-Leninismus – Der Weg zum Godesber- abgearbeitet, das Bündnis mit den Gewerk- ger Programm. In: Heimann, Horst/Blessing, Karl- heinz (Hrsg.): Sozialdemokratische Traditionen und schaften gepflegt, die Programmdiskussion demokratischer Sozialismus 2000. Köln 1993. unter dem Stichwort «Godesberg erneuern» 15 Der Start der Debatte begann in der Neuen Gesell- aufgenommen, das Konzept eines «Ökoso- schaft: Vilmar, Fritz: Demokratischer Sozialismus: zialismus» in die Debatte geworfen und Diskussionsgrundlage für eine theoretische Platt- thematisch gearbeitet (Wirtschaftspolitik, form. In: Neue Gesellschaft 22 (1975), 583–590. Frauen, Hochschule). Doch bei dieser etwas 16 Vgl. als Auswahl u. a. Heimann, H./Meyer, T. unsystematischen Vorgehensweise sollte es (Hrsg.): Bernstein und der demokratische Sozialis- mus. Bericht über den wissenschaftlichen Kongress nicht bleiben. Das zweite Heft konzentrier- «Die historische Leistung und aktuelle Bedeutung Eduard Bernsteins. Berlin 1978.; Bernstein, Eduard: Texte zum Revisionismus. Ausgew., eingel. und 12 Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e. kommentiert von. Bonn-Bad Godesberg 1977; Hei- V./Juso-Hochschulgruppen (Hrsg.): Abschied vom mann, Horst (Hrsg.): Dialog statt Dogmatismus. Sozialismus? Berlin, Bonn 1984. Wissenschaftspluralismus und politische Praxis. 13 Vgl. Vorbemerkung von Dieter Kinkelbur und Nor- (Schriftenreihe der Hochschulinitiative Demokra- bert Kunz in: SPD Wohin? 1983, 3. tischer Sozialismus, Bd. 7). Frankfurt a. M., Köln

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 133 Beiträge und Diskussionen

Altersklasse im Juso-Bundesvorstand mit Freiheit, wie sie u. a. von Kurt Schumacher den orthodoxen Marxisten herum und lie- 1951 in der Rede zur Gründung der Sozi- ferte ebenfalls grundlegende Texte.17 alistischen Internationale (SI) 1951 betont Die Hochschulinitiative Demokratischer wurde: «Es gibt keinen Sozialismus ohne Sozialismus e. V. war nie ein homogener Ver- Freiheit. Der Sozialismus kann nur durch band, der per Beschluss den Stand der Din- die Demokratie verwirklicht, die Demokra- ge feststellt. Sie ist ein Ort der Debatte und tie nur durch den Sozialismus vollendet der wissenschaftlichen Untersuchung, be- werden.»18 müht sich um Konsense und muss so nach Hermann Weber, Professor für Geschich- eigenem Selbstverständnis auch arbeiten. te, ehemaliges Mitglied der KPD, die ihn hi- Das bedeutet, es gibt kein einheitliches Kon- nauswarf, weil nicht stalinistisch genug, zept des Demokratischen Sozialismus (DS), war ab 1955 mit vielen anderen ehemali- es handelt sich immer um DS-Konzepte in gen Kommunisten, die nach dem Verbot der der HDS, um einen Diskussionsprozess. KPD 1956 eine neue Partei-Heimat such- Gleichwohl ist dieser Prozess nicht völlig ten, in der SPD Mitglied geworden. Beinahe offen. Wirklich konservative Gastbeiträger 20 Jahre nach seinem Eintritt, 1973, fasste gibt es nicht, ebenso sind Beiträge rechter Weber alle wesentlichen Dokumente zum Sozialdemokraten selten vertreten. In der Demokratischen Sozialismus in einem Band Debatte wichtig ist dagegen immer wieder zusammen und schloss damit quasi seine die Auseinandersetzung mit dem dogmati- persönliche «Sozialdemokratisierung» ab.19 schen linken Flügel der SPD, Mitgliedern des 1992 wurde das Buch ganz neu aufgelegt. Frankfurter Kreises, der Parlamentarischen Bereits mit der Auswahl und Anordnung der Linken und der «Stamokap»-Jusos, an denen Dokumente, die mit der Gründung des All- die HDS ihr Freiheitskonzept schärfte. gemeinen Deutschen Arbeitervereins 1867 Denn die wichtigste Grundlage des De- beginnen (im 2. Kapitel schiebt Weber das mokratischen Sozialismus der HDS ist die Kommunistische Manifest von 1848 und zwei weitere Dokumente von 1983 nach)

1978; Heimann, Horst/Meyer, Thomas (Hrsg.): Reformsozialismus und Sozialdemokratie. Zur The- 18 Erklärung der Sozialistischen Internationale oriediskussion des demokratischen Sozialismus in (1951). Ziele und Aufgaben des demokratischen der Weimarer Republik: Bericht zum wissenschaft- Sozialismus. Dokument 82. In: Weber, Hermann lichen Kongress der Friedrich-Ebert-Stiftung „Bei- (Hrsg.): Das Prinzip Links. Beiträge zur Diskussion träge zur reformistischen Sozialismustheorie in der des demokratischen Sozialismus in Deutschland, Weimarer Republik» vom 9. bis 12. Oktober 1980. 1848–1990: eine Dokumentation. 2.Aufl. Berlin Berlin 1982; Heimann, Horst: Theoriediskussion in 1992, 221. der SPD: Ergebnisse und Perspektiven. Frankfurt 19 Weber, Hermann: Das Prinzip Links. Eine Doku- am Main [u. a.] 1975. mentation : Beiträge zur Diskussion des demokra- 17 Vgl. Strasser, Johano: Was ist demokratischer Sozi- tischen Sozialismus in Deutschland, 1847–1973. alismus? [Bonn] 1974 und die Gegenschrift Eckert, [S. l.] 1973 Vgl. auch Brandt, Peter: Vorbildliches Rainer: Das ist «demokratischer Sozialismus». Leben nach dem «Prinzip links». Hermann und Ger- Eine Antwort auf Johano Strassers Frage: «Was da Webers Erinnerungen. Rezension. http://www. ist demokratischer Sozialismus?» (Marxistische globkult.de/politik/besprechungen/474-vorbild- Taschenbücher, Reihe Marxismus aktuell, Bd. 92). liches-leben-nach-dem-rprinzip-linksl-hermann-und- Frankfurt a. M. 1975. gerda-webers-erinnerungen. (18.03.2013).

134 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen und in der Ausgabe 1973 zunächst mit Aus der Ahnengalerie des Demokrati- Schmidts Rede zum Orientierungsrahmen schen Sozialismus wurden u. a. Karl Kau- endet, zeigte er deutlich seine Auffassung tsky, Rosa Luxemburg, August Bebel und darüber, zu wessen Tradition der Demokra- viele andere wichtig, vor allem aber Eduard tische Sozialismus gehört, auch wenn er ihn Bernstein. Anhand ihrer Ideen setzte man vielleicht nicht immer auf der obersten Ebe- sich von der linken Orthodoxie ab und such- ne der SPD verwirklicht sehen konnte.20 Frei- te gleichzeitig nach anschlussfähigen, the- heit, Demokratie und die Abgrenzung zum oretisch versierten Politikern bei den Grü- Staatssozialismus der DDR waren dabei lei- nen. Hier die Begriffe zu «gendern» erübrigt tend, sie stellte er einleitend als Motivatio- sich beinahe vollständig, denn besonders nen für das Buch voran. Damit schuf Weber bei den Grünen kamen Frauen häufiger als eine Fibel für die Demokratischen Sozialis- Thema denn als reale Mitglieder der Füh- ten in der SPD, ein kommentiertes Studien- rungsspitzen vor. Politik schien immer noch buch, das dabei helfen sollte, die Begriffe Männersache zu sein und Männer sind ent- Links, den Marxismus, seine theoretische sprechend auch die Vorbilder, manchmal Ausgestaltung seit 1848 in die Mitte der sogar dieselben, ob im roten oder im grü- SPD zu holen, das Godesberger Programm nen Lager. Mit Genuss zitiert Klaus-Jürgen in die Reihe zu integrieren und Sozialismus Scherer eine Äußerung des Grünen-Bundes- und Marxismus aus den Klauen der ML- tagsabgeordneten Joschka Fischer, der am orientierten Parteilinken und «Stamokap»- Beginn seiner Karriere stand: «Die Grünen Jusos zu befreien. Die Dokumente zu «SPD sind in ihrer Kautskyschen Phase und ich und Kommunismus» sowie Johano Strassers spiele die Rolle Bernsteins.»22 «Zur Stamokap-Theorie» runden den Band Insgesamt galt: Karl Marx musste von praktisch ab. Außerdem sind die Dokumen- Lenin befreit werden und bot insgesamt te so gewählt, dass die Partei-Rechte auf nicht mehr und nicht weniger praktische die Plätze verwiesen wird, aber ein kleines Ansatzpunkte als andere «Wurzeln des De- Türchen offen bleibt: Helmut Schmidt er- mokratischen Sozialismus»: Aufklärung und scheint in der Dokumentensammlung mit bürgerliche Emanzipation, die «emanzipato- einer Rede zum «Orientierungsrahmen ’85» rischen Momente der bürgerlichen Revolu- und wird eingerahmt von und tion […] fanden ihre Ergänzung in der Vor- , deren Dokumente den demo- kratischen Sozialismus bereits im Titel tra- gen.21 Dem puren Pragmatismus wurde so lungen zur Gewerkschafts-, SPD- und Widerstands- die passende Theorie gegeben. geschichte) darauf gerichtet, der Quasi-Annexion der Geschichte der modernen sozialen Bewegun- gen durch die Stalinisten und Poststalinisten zu 20 Vgl. Einleitung Weber 1992. Ausführlich wird in widersprechen, die ›Säuberung‹ der Vergangenheit der Erstausgabe der Streit zwischen «Stamokap» aufzudecken und auf diese Weise einen grund- und Mehrheitsjusos dokumentiert, das fällt in spä- legenden, niemals aufzuhebenden Widerspruch teren Ausgaben weg. des kommunistischen Etatismus ins öffentliche 21 Brandt 18.03.2013: «In gewisser Weise ist das ge- Bewusstsein zu heben.» samte publizistische und wissenschaftliche Wirken 22 Scherer, Klaus-Jürgen: Vom Demokratischen Sozia- Hermann Webers (sofern es dem Kommunismus lismus zum Ökosozialismus? In: HDS e. V. (Hrsg.): galt, daneben entstanden Editionen und Darstel- pds 1(1984), Marburg 1984, 52, Anm. 7.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 135 Beiträge und Diskussionen stellung von der sozialen Demokratie, wie einandersetzten. Thomas Meyer unterzog sie in der 1848er Volksrevolution zum Tra- nun sowohl Popper und viele andere Den- gen kam», das Genossenschaftswesen, die ker und Theoriespender aus der Geschich- christliche Sozialethik, Konzepte von Selbst- te der Arbeiterbewegung einer gründlichen verwaltung, auch autoritär-staatssozialis- Revision in dem Band «Grundwerte und tische Gedanken und Elemente des katho- Wissenschaft im Demokratischen Sozialis- lisch-sozialen Pluralismus.23 mus». Im 6. Kapitel beschäftigt er sich mit Ossip K. Flechtheim lieferte mit der er- der Gegenwart und den praktischen Auswir- neuten Ausgabe der Marx-Werke und der kungen der Theorien auf die Grundwerte Zusammenfassung seiner Zukunftsentwür- der SPD. Sieben Konzepte wägt er gegenei- fe eine weitere theoretische Grundlage nander ab: den «Kritischen Rationalismus», und wichtige Quelle zur Zielvorstellung der den «Funktionalismus», die «Kritische The- HDS, die sich 1975 zusammengefunden orie (Frankfurter Schule)», den «Konstrukti- hatte, um aus wissenschaftlicher Sicht he- vismus (Erlanger Schule)», «Normativismus raus die Zukunft zu gestalten. Mit der Eu- (Weisser‘scher Richtung und Freiburger ropäischen Verlagsanstalt hatte er einen Schule)», den «Orthodoxen Marxismus» in mutigen Partner gefunden.24 In seinen seinen verschiedenen Varianten und «Wei- Schriften entwickelte ausgehend von einer tere Varianten pragmatisch-kasuistischer Analyse, die die Entstehung der Bundesre- Orientierung».27 Damit stieg Meyer tief in publik Deutschland in mehrfacher Weise die widerstreitenden Theorien der Gesell- als defizitär beschreibt, zunächst ein düste- schaftspolitik und der Wirtschaftspolitik res Bild der Republik mit wieder erstarkten ein, zeigte ihre Praxisrelevanz auf und dis- Konservativen und entwickelt danach sei- kutierte ihre theoretischen Möglichkeiten nen Dritten Weg.25 und Defizite. So ermöglichte er eine fundier- Ein weiterer grundlegender Band te Auseinandersetzung. stammt von Thomas Meyer.26 1975 war ein Buch mit einem Vorwort von Helmut Elemente des Demokratischen Sozialismus Schmidt der sich institutionalisierenden der HDS Parteirechten herausgekommen, die sich Die von Meyer und anderen ausgearbeitete mit dem kritischen Rationalismus von Karl Unterscheidung war notwendig, denn dem Popper als Fundierung ihrer Strömung aus- Demokratischen Sozialismus näherte man sich in den Heften der HDS von durchaus 23 Grebing, Traditionen, S. 26–43, S. 31. Helga Gre- verschiedenen Seiten an. Das Theoriedefizit bing, die von Anbeginn in der HDS aktiv ist, hat in und um die SPD wurde als ein Doppel- seit 1966 in zahlreichen Publikationen das Thema tes ausgemacht und bestand in der sozial- ausgebaut. demokratischen pragmatischen Herange- 24 Groenewold, Kurt/Heydorn, Irmgard/Körner, hensweise einerseits, die klar wahlpolitisch Klaus: Mit Lizenz. Geschichte der Europäischen orientiert war, und dem Scheitern der mar- Verlagsanstalt ; 1946–1996. Hamburg 1996. 25 Flechtheim, Ossip K.: Zeitgeschichte und Zukunfts- xistischen Theorie andererseits, die aber politik. 1.-5. Tsd. Hamburg 1974. analytisch-methodisch immer noch von 26 Meyer, Thomas: Grundwerte und Wissenschaft im demokratischen Sozialismus. Berlin, Bonn 1978. 27 Meyer 1978, 162.

136 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen großer Bedeutung sein sollte.28 In diesem Daneben wurde von den Arbeitsheften Dilemma gefangen waren auch die vom bis hin zu den perspektiven ds immer wich- Parteivorstand der SPD herausgegebenen tiger, was politisch-praktisch aus Theorie Hefte zu «Theorie und Grundwerte», die sich und Menschenbild folgen musste, nämlich in dem Heft «Grundfragen» beinahe länger Wirtschaftsdemokratie. 1981 gab die HDS mit dem auseinandersetzte, was Demokrati- in ihrer Schriftenreihe einen Studientext zur scher Sozialismus alles nicht ist, als mit des- ökonomischen Reformpolitik heraus.32 Die sen Inhalten.29 Die HDS wollte mehr. Anhänger Ota Šiks und eine in der HDS zu- Dafür grundlegend wiederum war ein nehmende Zahl von Ökonomen diskutier- bestimmtes Bild vom Menschen, eine Frage ten die Elemente einer sich ständig erneu- der Anthropologie. Die Beschäftigung da- ernden Demokratie in Freiheit und Vielfalt mit war nötig, weil man sich mit der leni- und brachten die osteuropäischen Kon- nistischen Sichtweise der Notwendigkeit ei- zepte von Wirtschaftspolitik ins Spiel.33 Ihr nes «neuen Menschen» für den Sozialismus Wirtschaftskonzept war das einer «mixed in allen seinen Abwandlungen der orthodo- economy», keine völlige Vergesellschaf- xen Linken äußerst kritisch auseinanderset- tung, sondern eine gemeinwohlorientierte, zen wollte und jede Form autoritären Vorge- durchaus marktwirtschaftliche Ökonomie. hens ablehnte. Das wiederum konnte nur gelingen, wenn Vorherrschend war eine eher optimisti- man Wirtschaftsdemokratie in das Konzept sche Sicht auf den Menschen, die «konkre- einfügte, die dabei half, das Gemeinwohl te Utopie des mündigen Staatsbürgers», der zu beachten und damit Steuerung im Sin- der Grundbedingung der Freiheit zumeist ne aller zu ermöglichen. Eine gesamtwirt- vernünftig auf ihre Weise begegnete.30 schaftliche Rahmenplanung war damit Bernhard Claußen, der für die Redaktion unerlässlich. Sie warf das Problem der Büro- die politische Bildung betreute, und Karl kratisierung auf, ein zentrales Anliegen der Theodor Schuon steuerten viele Texte zur Demokratischen Sozialsten in der HDS, das Theoriedebatte bei, in denen die Anthropo- zu bekämpfen, bzw. zu demokratisieren war. logie immer wieder eine Rolle spielte.31 Außerdem bedeutete Wirtschaftsdemokra- tie Teilhabe der Arbeitnehmer an den Un- ternehmen, auch an den Entscheidungen, 28 HDS Arbeitshefte 1975–1976, Nr. 1, 12. sowie das Genossenschaftsprinzip. 29 Vgl. Vorstand der SPD (Hrsg.): Grundfragen des Der «Minimalkonsens» bei der Grün- Demokratischen Sozialismus 1974. dung der HDS vom Oktober 1975 beinhal- 30 Vgl. Berhard Claußen in: Schuon, Karl T./Claußen, tete nur wenige wegweisende programma- Bernhard (Hrsg.): Politische Theorie des demo- kratischen Sozialismus. Eine Einführung in die Grundelemente einer normativ-kritischen Theorie demokratischer Institutionen. (Schriftenreihe der (1987), 2–3 (1987), 2 (1988), 3 (1988), 2 (1989), Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus, 3 (1990). Bd. 19). Marburg 1986, 53. 32 Meissner, Werner/Kosta, H. G. J./Welsch, Johann 31 Die grundlegenden Texte kamen von Schuon, (Hrsg.): Für eine ökonomische Reformpolitik. Claußen lieferte Rezensionen, Sammelrezensio- (Schriftenreihe der Hochschulinitiative Demokrati- nen und Tagungsberichte. Vgl. perspektiven ds 1 scher Sozialismus, Bd. 11). Frankfurt a. M. 1981. (1984), 1 (1985), 1 (1986), 2 (1986), 4 (1986), 1 33 Meissner/Kosta/Welsch 1981.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 137 Beiträge und Diskussionen tische Aussagen. Wichtig war von Beginn dass eine allumfassende Bildung zur Kultur an, dass sich die Arbeit nicht nur auf ein in einen «Kulturstaat» mündet.35 theoretisches Konstrukt begrenzen sollte, Der Weg dahin soll konsequent über sondern dass die Theorie und die Praxis Reformen verlaufen, es gibt keinen «Endzu- des sozialistischen Handelns erarbeitet wer- stand» oder bestimmten Aggregatzustand, den sollte. Genau darin hatten viele Theo- bei dem genau festgestellt werden könnte, rien ihre Schwäche, waren entweder nicht wann man im Sozialismus angekommen ist. praxistauglich oder allzu pragmatisch bei einem klaren Theoriedefizit. Für die Praxis Kritik «von rechts» am Demokratieverständnis Anweisungen zu liefern, darin sahen Fritz Der Reformkurs der HDS war beiden Vilmar und die anderen Gründer die Aufga- SPD-Strömungen rechts und links der HDS be und zwar gar nicht allein auf die Bundes- ein Dorn im Auge. Von den orthodoxen Lin- republik und die SPD bezogen. ken wurden die Akademiker ohnehin als ver- Darum zog eine staatstheoretische Dis- brämte Marktwirtschaftler beschimpft, die kussion immer wieder Vergleiche zu ande- den herrschenden Kapitalismus nur mit ein ren europäischen Ländern heran. Erstens bisschen Genossenschafts- und Mitbestim- beschäftigte man regelrecht Experten für mungsbrimborium garnieren wollten. Das die Debatte, räumte ihr eine eigene Rubrik Demokratieverständnis, das sie zeigten, ein, in der die Vertreter relativ kurz Grund- wurde von vielen nicht geteilt, zum Beispiel legendes erläuterten, aber auch aufeinan- von der damaligen Mehrheitsströmung in der eingingen und sich gegenseitig kom- der SPD, den Anhängern des Seeheimer mentierten. Dabei reichten die Beiträge Kreises. Das Angebot von Willy Brandt von von der Frage «Demokratischer Sozialismus 1969 hieß «Wir stehen nicht am Ende der ohne Staat»34 über verschiedene Entwürfe Demokratie, sondern wir fangen erst richtig der Staatsorganisation bis zu den aktuellen an.»36 Die Parteirechten warfen allen Lin- Vorstellungen der SPD. Unter dem Stich- ken, besonders aber den «Demokratischen wort «Neue Formen der Politik» integrierte Sozialisten» unter ihnen vor, den Begriff der man die Mitte der 1980er-Jahre populärer Demokratie völlig fehl zu deuten, weil die werdenden Modelle der Partizipation, Bür- Demokratie dazu benutzt würde, das Sys- gerentscheide und andere Formen der Be- tem zu verändern. Es handle sich um eine teiligung. Denn die «herrschaftsfreie Gesell- «Verfremdung» des Demokratiebegriffs, sei- schaft» mit demokratischer Organisation in ne Potentiale würden überzogen und damit allen Lebensbereichen war eine der Zielvor- der Begriff der Demokratie zu einem «Par- stellungen, wie sie Fritz Vilmar vorschweb- teibegriff» werden.37 Die in der Tradition der te. Bildung stellte darin einen wesentlichen Seeheimer argumentierende Annekatrin Schlüssel dar, ebenso wie die Vorstellung, Gebauer zielt in ihrer Dissertationsschrift

35 Vgl. auch Schuon/Claußen 1986. 34 Das Thema bekam ab 1985 kurzzeitig eine feste 36 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 6. Rubrik. Der schon erwähnte Karl Theodor Schuon, Wahlperiode, Stenographische Berichte Bd. 71, Arno Waschkuhn und Wolfgang Luthardt waren Bonn 1969/70, 20–34. Beiträger in diesem Segment. 37 Gebauer, 2005, 60 und Anm. 159.

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2005 speziell auf Fritz Vilmar als «ein typi- damit die Abschaffung politikwissenschaft- sches Beispiel solcher Fehlinterpretation». lichen «Schulen». Gebauer zitiert dabei interessanterweise Vor diesem Hintergrund bewegte sich den konservativen Politikwissenschaftler der Streit. Hättich trat nicht nur von seinem Manfred Hättich: «Wenn aber der Prozess Amt zurück, sondern verließ mit einer Rei- der Umkonstituierung der Gesellschaft ma- he von Kollegen die DVPW, um eine neue terialiter zum Wesensgehalt der Demokra- Vereinigung zu gründen, die Deutsche Ge- tie gemacht wird, dann verzichtet man auf sellschaft für Politikwissenschaften, DGfP.39 den demokratischen Konsens und macht Die Spaltung führte zu einem enormen Pro- die Demokratie zu einem Parteibegriff.»38 duktivitätsschub in der zurückgebliebenen Mit dem Rückgriff auf Hättich holt Gebau- DVPW, die ihre Basis verbreitern wollte und er die Geschichte der Politikwissenschaft mehr Anschluss in der Gesellschaft sucht.40 ans Licht, die parallel zu den gesellschaft- Dieser Schub hatte Strahlkraft bis in die per- lichen und den politischen Entwicklungen spektiven ds hinein, denn wir können ihn in der 1970er und 1980er-Jahre einigen Er- den Ausgaben nachvollziehen: Allein von neuerungen und Wandlungen unterzogen 1987–1990 sind neun Berichte von Kon- war. Hättich war 1981–1983 Vorsitzender gressen und Sektionstagungen der DVPW der Deutschen Vereinigung für Politische abgedruckt. Berichte anderer Vereinigun- Wissenschaften, DVPW, es gab einen (Rich- gen, der Gewerkschaften oder Facharbeits- tungs-)Streit, in dem es vordergründig da- kreise außerhalb der HDS kommen nicht so rum ging, wer genau Mitglied der DVPW häufig vor. sein darf, namentlich ob der Kreis um Stu- So führten die Jahre des Wandels oder dierende erweitert werden sollte. Der Wan- der Wende zu einer Schärfung der Theo- del in den Politikwissenschaften war u. a. riefragen und letztendlich zu einer festen eine Folge des Aufschwungs der Sozialwis- Publikation, den Perspektiven des Demo- senschaften, der Soziologie und der Hin- kratischen Sozialismus. Wie sich die Aka- wendung der Geschichtswissenschaften zur demikerinnen und Akademiker in, an und Sozialgeschichte, die immer mehr an den um die SPD herum mit dem SPD-Programm, Rändern der Politikwissenschaften knab- den Grünen und der neuen Zeit auseinan- berte, ja zum Beispiel mit der (historischen) dersetzten und wie sie ihr Konzept eines Untersuchung von Einstellungen und Struk- Ökosozialismus definierten, verfolgt die Ge- turen neuerdings ganz Stücke aus der Po- schichte der HDS im nächsten Heft weiter. litikwissenschaft herausbeißen wollte. So kam das Fach unter Druck. Gleichzeitig verlangte die Studierendenschaft im Sinne einer sich weiter demokratisierenden Ge- sellschaft Veränderungen, z. B. die Abschaf- 39 Bleek Geschichte der Politikwissenschaft in fung Ein-Personen-zentrierter Institute und Deutschland, München 2002, S. 363. 40 Buchstein, Hubertus: Michael Th. Greven und die PVPW. In: DVPW (Hrsg.): Politikwissenschaft. Rund- brief der Deutschen Vereinigung für Politische 38 Gebauer 2005, 60 f. Hättich, Manfred: Demokra- Wissenschaft. Nr. 147, Münster, Hamburg 1999, tie als Herrschaftsordnung, Köln 1967, 51. S. 15–19.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 139 Beiträge und Diskussionen

Michael Müller / Kai Niebert Politik im Anthropozän Die sozial-ökologische Transformation wird zur Systemfrage

Zusammenfassung ren. Unser Jahrhundert wird entweder ein Es ist ein Irrtum anzunehmen, die Mensch- Jahrhundert erbitterter Verteilungskämp- heit sei sich ihrer Zukunft gewiss. Mit der in- fe und entfesselter Gewalt oder es wird zu dustriellen Revolution kam es zwar zu einer einem Jahrhundert der Nachhaltigkeit, das gewaltigen Entfaltung der Produktivkräfte wirtschaftlich-technische Innovationen mit und zu einer enormen Reichtumsprodukti- ökologischer Verträglichkeit und sozialer on, aber die Menschen stiegen dadurch zur Gerechtigkeit verbindet. stärksten Kraft geo-ökologischer Verände- Nachhaltigkeit heißt, die Wirtschaft und rungen auf – vergleichbar mit den Naturge- Gesellschaft durch die Ausrichtung auf die walten selbst. Kipp-Punkte werden erreicht, Natur grundlegend zu reformieren. Notwen- planetarische Grenzen überschritten. Klima- dig sind eine innovative Technik und die Ver- wandel, Peak-Oil oder Artenzerstörung dro- wirklichung von mehr sozialer Gerechtigkeit. hen zum Ground Zero der Moderne werden. Dafür brauchen wir mehr Demokratie in al- Das muss vor dem Hintergrund mindestens len Bereichen. Nachhaltigkeit ist nicht ver- weiterer 1,5 Milliarden Menschen, der nach- einbar mit dem heutigen Arbitragekapita- holenden Industrialisierung der Entwick- lismus, der mit seinem spekulativen Regime lungs- und Schwellenländer sowie großer der Kurzfristigkeit, das sich an den Erwartun- sozialer Ungleichheiten auf der Welt gese- gen der Märkte orientiert, die Spaltung der hen werden. Welt zwischen arm und reich vertieft und Deshalb hat der Nobelpreisträger für mit den bisherigen Formen der motorisierten Chemie, Paul J. Crutzen, im Jahr 2000 den Mobilität und des Energieverbrauchs, mit Vorschlag gemacht, unsere Erdepoche, die dem modularisierten Konsum, mit der Über- gemäßigte Warmzeit, die seit rund 12.000 nutzung der Flächen und der industrialisier- Jahren die Entwicklung der Erde geprägt ten Landwirtschaft und mit der Verslumung hat, nicht länger Holozän zu nennen, son- der Mega-Citys die ökologischen Probleme dern Anthropozän, das menschlich ge- verschärft. Deshalb ist eine sozialökologi- machte Neue. Das ist keine modische Be- sche Transformation notwendig. griffsänderung, sondern eine Mahnung und Aufforderung von enormer Tragwei- Auf der Höhe der Zeit te. Die Natur ist der limitierende Faktor, Die Erde, wie sie in der Menschheitsge- der uns vor gewaltige Herausforderungen schichte unsere Heimat wurde, existiert stellt. Denn ohne eine Rückkehr in die Wirt- nicht mehr.1 Heute sind über 75 Prozent schaft und Gesellschaft wird es keine gute Zukunft geben. Die Alternative, die sich 1 Davis, Mike (2011): Wer wird die Arche bauen? damit auftut, heißt: gestalten oder zerstö- Berlin.

140 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen der Erdoberfläche vom Menschen umge- ern, die Böden können die Überdüngung pflügt, versiegelt oder bebaut, die Kohlen- nicht mehr kompensieren und degradieren. stoffdioxid-Emissionen (CO2) sind heute 17 Das gegenüber dem Beginn der Industriali- mal höher als vor 100 Jahren, der Wasser- sierung um den Faktor 100 erhöhte Arten- verbrauch hat sich nahezu verzehnfacht. In sterben zerstört ganze Ökosysteme3. ganz Europa gibt es keine Urwälder mehr. Der Wissenschaftsjournalist Christian Die Industrielle Revolution hat Kapitalis- Schwägerl übersetzt Anthropozän mit Men- mus und massenhafte Nutzung fossiler schenzeit: «Der Mensch erschafft neue Land- Brennstoffe eng miteinander verflochten. schaften, greift in das Weltklima ein, leert Die Menschheit ist in den letzten 200 Jah- die Meere und erzeugt neuartige Lebewe- ren zum stärksten Treiber geo-ökologischer sen. Aus der Umwelt wird die ‹Menschen- Prozesse aufgestiegen. Mit den heutigen welt› – doch sie ist geprägt von Kurzsichtig- wirtschaftlichen und technischen Möglich- keit und Raubbau»4. An den Tipping Points keiten kommen diese Kräfte der Menschen bricht die bisherige Entwicklung ab, kann in vielerlei Hinsicht den Kräften der Natur die Richtung wechseln oder sich plötzlich gleich, allerdings ohne die Fähigkeit, die stark beschleunigen. Die Natur verhält sich ökologischen Systeme zu stabilisieren. Wir nicht linear. Niemand kann genau sagen, überschreiten planetarische Grenzen. wo eine Grenze liegt, aber die Geschichte Die moderne Zivilisation hat die natür- zeigt: Überschreiten wir eine Grenze, ändert liche Umwelt radikal verändert und zum sich die Natur rapide und plötzlich. Die Al- menschlich gemachten Neuen verändert ternative, die sich damit auftut, heißt: Zer- Deshalb schlugen Paul Crutzen, der 1995 stören oder gestalten. Schwägerl stellt die für die Erforschung des stratosphärischen Frage: «Entwickeln wir die Reife, unsere Ozonabbaus mit dem Nobelpreis für Che- Macht für eine lange Zukunft zu nutzen?» mie ausgezeichnet wurde, und Eugene F. Die politische Antwort auf diese Heraus- Stoermer, Gewässerforscher an der Univer- forderung heißt Nachhaltigkeit. Diese Ant- sität Michigan, im Jahr 2000 vor, unsere Er- wort ist nicht nur eine ökologische, sondern depoche folgerichtig als Anthropozän zu be- in erster Linie eine gesellschaftliche. Denn nennen2. Sie begründeten ihren Vorschlag in Geiselhaft der Märkte und in Abhängig- in erster Linie mit dem vom Menschen ver- keit von den fossilen Energiesystemen ist ursachten Klimawandel. Aber nicht nur bei Nachhaltigkeit nicht möglich. Max Weber der Erderwärmung, auch in anderen Berei- beschrieb den Kapitalismus als ein großes chen steuern wir scheinbar unaufhaltsam Triebwerk, dessen Zwängen sich niemand auf Tippingpoints zu, wie kritische Umkipp- entziehen könne, wahrscheinlich bis die letz- Punkte genannt werden. Die natürlichen ten Zentner fossilen Brennstoffs verglüht Puffer der Erde sind an vielen Stellen bereits aufgebraucht: Die Ozeane müssen immer mehr Kohlenstoff aufnehmen und versau-

3 Gladwell, Matcolm (2002): Tipping Point. Mün- 2 Crutzen, Paul / Eugene F. Stoermer (2000): The chen. Anthropocene (www.mpch-mainz.mpg.de/-air/ 4 Schwägerl, Christian (2010): Menschenzeit. Zerstö- anthropocene/). ren oder gestalten. München.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 141 Beiträge und Diskussionen sind.5 Deshalb ist Nachhaltigkeit unverein- baut, versiegelt, umgepflügt, verformt. Im- bar mit der Verschwendungswirtschaft und mer mehr und immer schneller werden die dem Regime der finanzmarktgesteuerten natürlichen Ressourcen vom Menschen aus- Kurzfristigkeit, das zum globalen Arbitrage- gebeutet. Nach den Untersuchungen der In- kapitalismus geführt hat: So wenig wie die ternationalen Energieagentur (IEA) wurde Steinzeit aus einem Mangel an Steinen ge- der Höhepunkt der Ölförderung bereits im endet ist, wird das Kohlezeitalter aus einem Jahr 2008 erreicht7, die Zahlen der Joint Or- Mangel an Kohle zu Ende gehen. Was not- ganisations Data Initative (JODI) der Verein- wendig ist, ist ein gewollter und geplanter ten Nationen und auch die Prognosen der Umstieg in die Nachhaltigkeit. Wir sehen US-Energieagentur (EIA) bestätigen diese Er- deshalb keine Möglichkeit, Nachhaltigkeit hebungen. Die Tropenwälder verschwinden, ohne Systemreformen zu verwirklichen. das Aussterben der Arten beschleunigt sich. Zwei Jahre später präzisierte Crutzen Über die Hälfte des verfügbaren Süßwassers sein Anliegen in einem kurzen, aber einfluss- wird von Menschen genutzt. In vielen küs- reichen Essay für die Fachzeitschrift Nature: tennahen Zonen entnimmt die Fischerei 35

«Auf Grund der anthropogenen CO2-Emissi- Prozent der primären Produktion. Die Stick- onen dürfte das Klima auf dem Planeten in stoffentnahme aus der Atmosphäre hat sich den kommenden Jahrtausenden signifikant gegenüber der vorindustriellen Zeit um 347 von der natürlichen Entwicklung abwei- Prozent erhöht8. Das heißt: Die Menschheit chen. Insofern scheint es mir angemessen, ist in ein Zeitalter eingetreten, für das «in die gegenwärtige, vom Menschen gepräg- den letzten Millionen Jahren keine Entspre- te geologische Epoche als ‹Anthropozän› zu chung zu finden ist»9. bezeichnen.» Für den langjährigen Direktor Die massiven Verschlechterungen in des Max-Planck-Instituts in Mainz ist «die den globalen Öko-Systemen sind jüngeren Menschheit auf Jahrtausende hinaus ein Datums. Ob in der Chemie und Dynamik maßgeblicher ökologischer Faktor»: Alleine der Atmosphäre, im Wasserkreislauf, in der unsere heutigen CO2-Emissionen werden Quantität und Qualität von fruchtbaren Bö- über Jahrhunderte wirksam sein. Deshalb den oder in der Biodiversität: Die stärksten spricht er von der Geologie der Mensch- Veränderungen sind jüngeren Datums. In heit – Geology of Mankind6. keinem dieser Bereiche gab es zu Beginn des letzten Jahrhunderts mehr als ein Drit- Der Mensch formt die Natur tel der heutigen Schädigungen10. Die öko- Für die Überlastung und Ausplünderung der logischen Grenzen müssen vor dem Hinter- natürlichen Lebensgrundlagen gibt es eine Vielzahl von Fakten: Fast Dreiviertel der Erd- 7 IEA (2010–2013). World Energy Outlook. Paris. oberfläche sind bereits umgewandelt, be- 8 Crutzen, Paul J. et al. (2007): The Anthropocene: Are Humans now Overwhelm in the Great Forces of Nature?. www.bioone.org. 5 Weber, Max (1904). Die protestantische Ethik und 9 Zalasiewicz, Jan et al. (2008): Are we now living in der Geist des Kapitalismus. In: Archiv für Sozialwis- the Anthropocene? In: Geological Sociey of Ameri- senschaft und Sozialpolitik. ca. Vol. 18. 2008. 6 Crutzen, Paul J. (2002): Geology of Mankind. In: 10 Clark, William (1986). Verantwortliches Gestalten Nature 415. des Lebensraums Erde. Heidelberg.

142 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen grund der nachholenden Industrialisierung bensmittel der Menschen, wird in weiten großer Schwellenländer, dem anhaltenden Teilen Asiens und Afrikas knapp12. Die Na- Bevölkerungswachstum und der unerträg- tur reagiert auf unsere Einflüsse, die Ent- lichen sozialen Ungleichheit gesehen wer- wicklung wird für die Menschen immer we- den. Die Vernutzung und Vermarktung der niger steuerbar. Natur eskalieren, solange das Motto «Alles Eine erste wissenschaftliche Beweisfüh- jederzeit und überall» heißt11. rung, warum die Umbenennung in Anthro- Mit dem Klimawandel wurde ein bei- pozän gerechtfertigt ist, lieferte 2008 die spielloses Experiment mit der Zerbrechlich- Geological Society of London, die älteste keit unseres Planeten gestartet. In 30 Jah- geowissenschaftliche Vereinigung ihrer Art. ren wird eine globale Erwärmung um zwei Ihr Kardinalskollegium, die Internationa- Grad Celsius nicht mehr zu verhindern sein. le Stratigraphische Kommission (ICS), kam Die Prognosen des neuen IPCC-Berichts ge- zu dem Ergebnis, dass der vom Menschen hen davon aus, dass auch ein Anstieg um verursachte Anstieg der Treibhausgase, die vier Grad Celsius gegenüber dem vorindust- Ausbreitung der industriellen Agrarwirt- riellen Niveau nicht ausgeschlossen werden schaft, die Übersäuerung der Meere oder kann. Das hätte vor allem für die ärmsten die fortdauernde Vernichtung der Biodiver- Weltregionen, insbesondere für Afrika, die sität zu bleibenden Veränderungen führen, asiatischen Küstenregionen und die pazifi- die auf sehr lange Zeit das Leben auf der schen Inselstaaten, katastrophale Auswir- Erde prägen werden. Die Entwicklung unse- kungen. Die großen Klimasünder haben die res Planeten baut auf vom Menschen ver- ärmsten Länder in den ökologisch sensiblen schobenen Beständen der Natur auf. Weltregionen faktisch schon abgeschrie- Dass ein Organismus den Planeten ben, für sie gibt es keine Rettungsschirme, formt, ist in der 5,4 Milliarden Jahre währen- die nach der Finanzkrise von 2008 fast den Geschichte unseres Planeten keine Sel- selbstverständlich für die großen Banken tenheit: Vor etwa 2,7 Milliarden Jahren be- aufgespannt wurden. Und sie haben auch gannen Bakterien Sauerstoff zu produzieren gar nicht das Geld und die technischen Mit- und formten damit die Atmosphäre. Immer tel, sie aufzuspannen. wieder schwankte der Kohlenstoff- und Sau- 1990 forderte die Klima-Enquete des erstoffgehalt der Atmosphäre, kalkbildende Deutschen Bundestages im ersten Bericht Organismen sorgten dafür, dass Kalk ent- zum Klimawandel noch, dass alles getan steht, sich ablagert und daraus schließlich werden müsse, eine Erwärmungsobergren- Gebirge entstehen können. Aber noch nie ze von 1,5 Grad Celsius einzuhalten. Doch hat ein Organismus die Erde so vielschich- trotz des Kyoto-Protokolls, das 1995 be- tig verformt und in so kurzer Zeit wie der schlossen wurde, steigen die Treibhausga- Mensch im Industriezeitalter. Normalerwei- se auf immer neue Rekordhöhen. Auch in se finden Veränderungen in Jahrtausenden Deutschland gehen sie seit 2012 wieder oder Jahrmillionen statt, aber nicht in zwei hoch. Und Trinkwasser, das wichtigste Le- Jahrhunderten. Der Einfluss des Menschen

11 Weder, Dietrich Jörn (2012): Umwelt: Bedrohung 12 UNDP (2006): Human Development Report. New und Bewahrung. Bonn. York.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 143 Beiträge und Diskussionen ist nicht nur in seinem Umfang, sondern neun Bereiche konnten die Wissenschaftler auch in seiner Geschwindigkeit gewaltig. noch nicht quantifizieren. Das belegen auch die Untersuchun- Die Überlastung der natürlichen Sen- gen, die ein Wissenschaftlerteam unter ken und die expansive Nutzung der Natur der Leitung des schwedischen Umweltfor- übersteigt die Tragfähigkeit der Erde. Das schers Johan Rockström vom Stockholm zeigt auch der ökologische Fußabdruck Resilience Center und seines australischen (Ecological Footprint). Das ist eine Berech- Kollegen Will Steffen vom australischen Cli- nungsgröße, die 1994 von Mathis Wacker- mate Change Institute für die Erforschung nagel und William Rees entwickelt wurde15. der planetarischen Grenzen durchgeführt Der ökologische Fußabdruck ist ein Um- haben (planetary boundaries). Zur Vermei- weltindikator. Er bündelt zahlreiche Daten dung ökologischer Katastrophen legten die und Wirkungszusammenhänge zu einem 28 Experten der Kommission Belastungs- einzigen handhabbaren Wert, nämlich der grenzen in neun für das Erdsystem essenti- Fläche, die für den Lebensstil und den Le- ellen Bereichen fest13. Wird dort eine Grenze bensstandard eines Menschen (für Produk- überschritten, besteht die Gefahr gravieren- tion, Konsum, Energie- und Materialwand, der und irreversibler Veränderungen der na- Mobilität sowie für Emissionen und Müll) türlichen Lebensgrundlagen. gebraucht wird16. Das Konzept der planetarischen Gren- Die maximale Biokapazität der Erde bil- zen zeigt auf, wie viel Raum und damit det dabei die natürliche Grenze für ihre Nut- auch Zeit noch bis zur Erreichung der Be- zung. Dies entspricht einem ökologischen lastungsgrenzen bleibt. In drei Bereichen Fußabdruck von 1. Jede Region mit einem (Klimawandel, Biodiversität, Phosphorein- geringeren Fußabdruck ist von daher (noch) trag in die Ozeane) sind sie bereits über- nachhaltig, jede mit einem Abdruck größer schritten, in drei weiteren rücken sie schnell als 1 ist nicht nachhaltig17. näher. Nur bei der stratosphärischen Ozon- Danach liegt der globale ökologische konzentration wurden die Daten besser, Fußabdruck 2,7 mal höher, als die Erde im weil es nach dem dramatischen Abbau der Jahr regeneriert. Das geht immer stärker Ozonschicht Mitte der Achtzigerjahre mit auf Kosten der Substanz. Lebten alle Men- dem Wiener Abkommen und den Montre- schen wie in Deutschland, bräuchten sie für aler Protokollen zum Verbot von FCKW und die biologische Regenerationsfähigkeit von Halonen kam14. Das ist eines der Beispie- 4,6 Erden, der Wüstenstaat Katar sogar von le – allerdings mit einem sehr eingeschränk- fast zwölf Erden. Entscheidende Treiber für ten Kreis von Produzenten und bei bereits den Raubbau an der Natur sind der Kon- vorhandenen Ersatzstoffen – wie wirksam sum- und Wirtschaftsstil der Industriestaa- nachhaltige Politik sein kann. Zwei der ten, die nachholende Industrialisierung der

13 Rockström, Johan et al. (2009): A Safe Operating 15 Wackernagel, Mathis/Bert Beyers (2010): Der Eco- Space for Humanity. Stockholm. logical Footprint. Die Welt neu vermessen. Ham- burg. 14 Deutscher Bundestag. Enquete Kommission Vor- sorge zum Schutz der Erdatmosphäre (1988): Eine 16 www.footprintnetwork.org. internationale Herausforderung. Bonn. 17 Global footprint (2012). Bericht vom 7. Mai 2012.

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Schwellenländer und das anhaltende Bevöl- (1723–1790) für die Wirtschaftsordnung20, kerungswachstums. gingen von Denkkategorien aus, die der Na- Wahrscheinlich wird im Jahr 2015 offi- tur keinen Wert zuerkennen. Als Vordenker ziell entschieden, ob es zu der vorgeschla- der liberalen Demokratie wollte Locke die genen Umbenennung unserer Erdepoche feudalen Besitz-, Abhängigkeits- und Herr- kommt. Die britische Gesellschaft plädiert schaftsverhältnisse überwinden. Seine zent- dafür, den Beginn des Anthropozän auf das rale Kategorie war das auf Arbeit beruhen- Jahr 1800 festzulegen. Damals kam es zum de Recht auf Privateigentum, in der auch Aufschwung der Industriellen Revolution, die Natur der Nützlichkeit unterworfen die mit der Erfindung der Dampfmaschine wird: «Gott gab also durch das Gebot, sich in Schottland in der zweiten Hälfte des 18. die Erde zu unterwerfen, die Vollmacht, sie Jahrhunderts begann und sich Zug um Zug sich anzueignen. Und die Bedingung des in Westeuropa und den USA ausbreitete. menschlichen Lebens ... führt notwendiger- Ihre Grundlagen waren die systematische weise zum Privatbesitz». Nutzung der Technik für die Entfaltung der Smith sah die Natur in erster Linie in Produktivkräfte, die massenhafte Ausbeu- einem Zusammenhang mit warenerzeugen- tung der fossilen Rohstoffe sowie – seit der der Produktivität. Die Natur an sich wird zweiten industriellen Revolution im letzten als wertlose Quelle gesehen, die erst mit- Jahrhundert – der Taylorismus und Fordis- tels männlicher Arbeit in Reichtum verwan- mus durch die wissenschaftliche Steuerung delt wird. Als Gebrauchswert wird die Na- von Arbeitsabläufen und die Ausbreitung tur durch die Arbeit kultiviert, hergerichtet, der Massenproduktion. unterworfen und ausgeplündert. Natürlich Diese Transformation war nicht nur mit wollten beide Vordenker die Befreiung des einer raschen Verstädterung, der Heraus- bürgerlichen Individuums, aber sie setzten bildung der Industriearbeiterschaft und dafür auf einen Weg, der die Endlichkeit tiefgreifenden sozialen Umwälzungen ver- der Erde ignoriert, also nicht nachhaltig ist. bunden, sondern auch mit einer weiteren Ra- Wachstum jenseits der natürlichen Gren- dikalisierung im Wechselverhältnis Mensch zen wurde vor allem im letzten Jahrhundert und Natur. Den sozialen Bewegungen ging zum Triebwerk der Moderne21. Aus der ver- es in erster Linie um die Revolutionierung markteten Natur wird die besiegte Natur22. der Produktionsverhältnisse, weniger um die Die heutigen ökologischen Probleme Ausgestaltung der Produktionsweisen.18 waren wahrscheinlich vor 200 und 300 Jahren nicht vorstellbar. Aber Locke und Ein Epochenwechsel Smith verkannten die Einheit von Natur und Die Väter der politischen und ökonomi- menschlichem Leben. Seitdem hat es wich- schen Theorie, John Locke (1632–1704) für den Freiheitsgedanken19 und Adam Smith 20 Smith, Adam (1776/1973). Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes. Gie- ssen. 18 Müller, Michael/Johano Strasser (2011). Transfor- 21 Müller, Michael/Matthias Zimmer (2013). Die mation 3.0. Berlin. Ideengeschichte des Fortschritts. Bonn. 19 Locke, John (1690/1977 ). Zwei Abhandlungen 22 Brüggemeier, Franz Josef/Thomas Rommelspacher über die Regierung. Frankfurt am Main. (1987). Besiegte Natur. München.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 145 Beiträge und Diskussionen tige Erkenntnis- und Modernisierungsprozes- her. ... Das, was wir Fortschritt nennen, ist se gegeben, doch ihre Theorien blieben für dieser Sturm»25. politische und wirtschaftliche Regulations- Ohne Frage hat hohes Wirtschaftswachs- systeme grundlegend. Fortschrittsvorstellun- tum in den letzten 200 Jahren in einem Teil gen, die auf diesem Ideengebäude aufbau- der Welt dazu beigetragen, die Armut zu ver- en, gehen von einer Dichotomie zwischen ringern und die Demokratie zu festigen. In Mensch und Natur aus. Mehr noch: Seit dem den letzten Jahrzehnten hat es auch beim letzten Jahrhundert wurden technischer Umweltschutz deutliche Verbesserungen ge- Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum, geben. Die Flüsse wurden sauberer, Abfall- die für die sozialen und liberalen Bewegun- berge kleiner, der Himmel wieder blauer. gen nur das Mittel waren, als Ziel gesehen Das war die erste Phase der Umweltpolitik. und mit Fortschritt gleichgesetzt. Dadurch Aber der Sturm ist geblieben. Mit der nachho- wird die Tragfähigkeit der Erde überschrit- lenden Industrialisierung vor allem der bevöl- ten. Heruntergebrochen gilt das für fast alle kerungsreichen Länder wie China und Indien Länder, aber die Hauptverursacher sind – zu- ist er sogar noch stärker geworden. mal wenn die Hypothekenlast einbezogen Damit werden entscheidende Grundla- wird – die Industrieländer. gen unserer Zivilisation in Frage gestellt, Das Anthropozän stellt Grundannah- denn die Stabilität der natürlichen Res- men der Moderne in Frage, die den Men- sourcen ist die materielle, energetische und schen über die Natur gestellt hat23. Gün- räumlich-ästhetische Voraussetzung des ter Altner nennt das Naturvergessenheit24. menschlichen Lebens. An vielen Stellen fres- Durch den maßlosen Beschleunigungs- und sen die ökologischen und gesundheitlichen Wachstumswahn stößt die naturbestimmte, Folgekosten den durch das Wirtschafts- auf jeden Fall naturabhängige Lebens- und wachstum entstandenen Wohlstand wieder Wirtschaftsweise an Grenzen. Durch die auf. Die ökologische Auszehrung stellt so Überlastung und Übernutzung der natür- den sozialen Fortschritt und die ökonomi- lichen Ressourcen werden Naturschranken sche Entwicklung in Frage. Das sind syner- erreicht, die nur um den Preis ökologischer gistische Gefahren, die in enger Verwandt- Katastrophen überschritten werden kön- schaft mit alten und neuen Formen von nen. Diese Folgen schilderte Walter Benja- Unfreiheit, Armut und sozialer Ungerechtig- min schon 1920 in der Beschreibung Ange- keit stehen. lus Novus, dem Engelsbild des Malers Paul Ein krasses Beispiel für die Verbindung Klee: «Aber ein Sturm weht vom Paradiese von sozialen und ökologischen Folgen, aber letztlich auch wirtschaftlichen Problemen sind die Folgen der Erderwärmung auf 23 Es gab auch andere Sichtweisen, z. B. bei Fried- rich Wilhelm Joseph Schelling, auch bei Gottfried die Landwirtschaft, die durch hartnäckige Wilhelm Leibniz und Martin Luther sind eine Übernutzung der Ressourcen, profitbringen- hohe Wertschätzung der Natur zu finden, aber in de Monokulturen, globale Ungerechtigkei- der Ideengeschichte der Moderne überwog ein ten und eine Marktordnung, die regionale Verständnis, in dem der Mensch über die Natur gestellt wird. 24 Altner, Günter (1991): Naturvergessenheit. Darm- 25 Benjamin, Walter (1920/1995–2000). Gesam- stadt. melte Briefe. Frankfurt am Main.

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Anbieter an den Rand drängt, verursacht Recht herausgestellt, dass die Industrielän- und verstärkt werden. Nach William R. Cli- der die Hauptverursacher der globalen Öko- ne droht in 29 ärmsten Ländern der Erde Krise sind. Die Ökonomie des Vermeidens ein Verlust von mindestens 20 Prozent des hat das Ziel, durch die Verhinderung unnö- heutigen Ernteertrages26. Dabei leiden be- tiger Verbräuche und Emissionen die ökolo- reits 870 Millionen Menschen an Unterer- gischen Schäden deutlich zu verringern. Die nährung27. Ein anderes Beispiel ist die urba- Ziele heißen ZERO-Emission und Aufbau ne Verwahrlosung. Laut Habitat-Bericht der ökologischer Kreisläufe. Vereinten Nationen leben mehr als eine Mil- Technisch-ökonomische Umstellungen liarde Menschen in Slums, in erster Linie in sind aber allein nicht die notwendige Ant- wuchernden Mega-Citys. Bis zum Jahr 2030 wort auf das Anthropozän. Natürlich geht wird mit einer Verdoppelung der Bewohner es nicht ohne eine Effizienzrevolution bei von Slums gerechnet28. Energie und Rohstoffen, ohne den konse- Anthropozän heißt aber auch: Ein einfa- quenten Umstieg von Kohle und Atom auf ches Zurück zur Natur, wie es der amerikani- Sonne und Wind. Doch wir brauchen ge- sche Philosoph Henry David Thoreau noch nauso eine Kultur der Solidarität und Ver- im 19. Jahrhundert gefordert und vorgelebt antwortung. Wir müssen sozial-ökologische hat, ist nicht möglich29. Auch dort, wo Wild- Partnerschaften mit den armen Weltregio- reservate eingerichtet werden, existiert die nen eingehen und die Wirtschafts- und Kon- unberührte Natur nicht mehr. Wir haben sumformen fördern, die in Einklang sind mit es weltweit mit einer Kulturlandschaft zu der Tragfähigkeit der Erde. tun. Die Herausforderung heißt deshalb Diese Herausforderungen sind spätes- nicht Rückzug, sondern die Aufgabe ist die tens seit 1972 bekannt, seit der Veröffent- Vertiefung und bessere Nutzung unseres lichung des Berichts des Club of Rome über Wissens und eine Förderung unserer Ver- die Grenzen des Wachstums30. Oder seit antwortungsbereitschaft, um die Natur zu 1975, als Erhard Eppler eine Revision der schützen, Gewinngier zu beenden und Kon- Fortschrittsvorstellungen forderte – sowohl sumexzesse zu verhindern. Die Menschen aus moralischer Verantwortung als auch müssen unter anderem die ökologischen wohlverstandenem Eigeninteresse für eine Folgekosten in die Preise internalisieren. So gute, friedliche Zukunft. Dafür verlangte wird die Beachtung der Tragfähigkeit des er, das Miteinander mit der Natur so zu ge- Planeten auch eine wirtschaftliche Größe. stalten, dass die Selbstregulierung und der Die Industriestaaten müssen mit einer Erhalt gesichert werden. Ebenso sah Eppler sozialökologischen Transformation begin- die Notwendigkeit einer Reform der Produk- nen. Der Erdgipfel von Rio 1992 hat zu tionsweisen und Konsumstile, damit sie den Anforderungen der Einen-Welt gerecht wer- den31. 26 Cline, William (2007). Global Warming and Agri- culture. Washington. 27 FAO (2012). World Food Situation. Rom. 30 Meadows, Dennis et al. (1972). Die Grenzen des 28 United States (2010). Habitat-Bericht. New York. Wachstums. Stuttgart. 29 Thoreau, Henry David (1837–1861). Die Welt und 31 Eppler, Erhard (1975). Ende oder Wende. ich. Gütersloh. München.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 147 Beiträge und Diskussionen

Es geht nicht um die Rückkehr in eine umfassende Neuordnung von Wirtschaft simple Vergangenheit, sondern um den Weg und Gesellschaft. Eine sozialökologische in eine aufgeklärte Zukunft. Der Humanist Transformation muss die Frage nach der Erich Fromm brachte das in «Haben oder Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ins Sein» auf den Punkt: Eine Welt, die weder Zentrum rücken. Sie muss die Ökologie zum Mangel noch Überfluss kennt32. Die Grund- zentralen Ziel wirtschaftlicher und politi- lagen für eine nachhaltige Entwicklung sind scher Entscheidungen machen und die Dik- nicht unbedingt einzelne Umweltgesetze, tatur der kurzen Frist beenden. Erste wichti- so wichtig sie sind, sondern die Pflicht, dem ge Schritte, um die Ökologie zum Motor des öffentlichen Wohl auf Dauer die Priorität Umbaus zu machen, sind: vor individuellem Reichtum einzuräumen. t Wir brauchen eine Ökonomie, die die Das Anthropozän erfordert den Umbau Natur mit in ihre Rechnung einbezieht der Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung und eine Theorie der Nachhaltigkeit, in eine Ökonomie des Bewahrens und des die die Ökologie zu dem macht, was sie Vermeidens hoher Energie- und Ressourcen- ist: Die Basis von Wohlstand. einsätze. Es geht nicht um Teilkorrekturen, t Wir brauchen eine absolute Entkoppe- sondern um eine Systemreform. Sie muss lung zwischen Wirtschaftswachstum mehr Gerechtigkeit verwirklichen und einen und Naturverbrauch durch eine Viel- kulturellen Wandel einleiten, der ein gutes zahl von Maßnahmen – von der ökolo- Leben wichtiger stellt als immer mehr zu ha- gischen Finanzreform über neue Haf- ben33. Nur dann hat der Umbau eine fort- tungsbestimmungen bei ökologischen schrittliche Perspektive, die ihn mehrheits- Risiken bis zum Ausbau des Ordnungs- fähig macht. rechts. Vergleichbar ist diese Zeitenwende t Wir brauchen eine Gesellschaft, die wahrscheinlich nur mit dem Aufstieg der mehr Demokratie wagt. Nur wenn wir europäischen Moderne, mit der Erweite- Beteiligung der Zivilgesellschaft massiv rung der großen Ideen von Aufklärung und ausbauen, wird Nachhaltigkeit erreich- Vernunft. Auch diesmal geht es um eine bar werden.

32 Fromm, Erich (1976). Haben oder Sein. Frankfurt am Main. 33 BUND / Misereor (1996): Zukunftsfähiges Deutschland. Basel/Boston/Berlin.

148 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen

Horst Heimann Neues aus der Welt des Antikapitalismus – und des Demokratischen Sozialismus

Mark Fisher, Kapitalistischer Realismus ohne zur Aufweichung mentaler Blockaden ge- Alternative? VSA-Verlag, Hamburg 2013, 117 S., führt habe. (S. 92): «Wir sind wieder bei der € 12,80 Stunde Null angelangt, der Raum für das Allein der Titel reizte mich, weil er andeu- Entstehen eines neuen Antikapitalismus ... tete, der Autor wolle nach einer Alternative hat sich geöffnet.» (S. 92) Darin sieht er eine zum Kapitalismus suchen, was auch 81 Pro- große Chance zur Bekämpfung des «kapita- zent der Deutschen wünschen und was ich listischen Realismus»: «Wir müssen die lan- selbst in vielen Beiträgen in den perspekti- ge, dunkle Nacht am Ende der Geschichte ven ds versucht habe. Ein Slavoy Zizek zu- als große Chance begreifen. Die unterdrü- geschriebener Satz enthält die Quintessenz ckerische Verbreitung des kapitalistischen dessen, was Fisher unter «kapitalistischem Realismus bedeutet, dass sogar der kleinste Realismus» versteht: «Es ist einfacher, sich Funke alternativer politischer oder ökonomi- das Ende der Welt vorzustellen, als das scher Möglichkeiten eine überproportionale Ende des Kapitalismus.» (S. 8) Anders als starke Wirkung haben kann.» (S. 95) die Neoliberalen, «die kapitalistischen Rea- Dankenswerterweise verweist Fisher listen par excellence», die den «kapitalisti- nicht nur abstrakt-pauschal auf die «gro- schen Realismus» propagieren, kritisiert Fis- ße Chance», sondern macht auch konkrete her durchgehend die Denkweise, dass der Vorschläge, die diese «überproportionale Kapitalismus das einzige System darstellt starke Wirkung haben» könnten: «Politisch und «dass es mittlerweile fast unmöglich Handelnde» einer «genuin wiederbelebten geworden ist, sich eine kohärente Alternati- Linken» könnten «das angehen, was dem ve dazu überhaupt vorzustellen.» (S. 8) Da- Neoliberalismus offensichtlich nicht gelun- mit hänge auch die Überzeugung zusam- gen ist: eine massive Reduktion von Büro- men, «dass niemals etwas Neues geschehen kratie einzuleiten.» (S. 93) Dieser Kampf sei wird» (S. 9), präzisiert in Fukuyamas These nur zu gewinnen, «wenn sich ein neues poli- vom «Ende der Geschichte». (S. 13) tisches Subjekt formiert». Offen bleibe noch Offensichtlich teilt er eine Kritik an der die Frage, ob «z. B. die Gewerkschaften» da- «globalisierungskritischen, antikapitalisti- bei eine Rolle spielen könnten oder «neue schen Bewegung», dass sie sich «dem kapi- politische Organisationen» notwendig sei- talistischen Realismus ergeben» habe, «weil en. (S. 93) Allerdings «die Gewerkschaften sie unfähig war, ein kohärentes, alternatives im Bildungssektor» könnten schon begin- polit-ökonomisches Modell auszuarbeiten». nen, «den öffentlichen Sektor von der On- (S. 22) Realistisch stellt er fest, dass die Kre- tologie des Unternehmertums zu befreien». ditkrise 2008 «nicht von sich aus zum Ende (S. 94) Besonders wichtig für die Formie- des Kapitalismus führen wird», aber doch rung des «neuen politischen Subjekts» sind

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 149 Beiträge und Diskussionen die psychisch Kranken. Daher sei es «eine Er ist das einzige handelnde Subjekt, ge- dringende Aufgabe der Linken, psychische gen den alle Menschen ohnmächtig sind. Krankheiten zu repolitisieren» (S. 48) und Neben Slavoj Zizek sind vor allem franzö- «die weitverbreiteten psychischen Krankhei- sische «Meisterdenker» Quellen für sein ten von medikamentös zu behandelnden furchterregendes Gemälde des Kapitalis- Störungen in kraftvolle Antagonismen (zu mus, u. a. Deleuze und Guattari (Kapitalis- verwandeln).» Die mit diesen «affektiven mus und Schizophrenie): Sie «beschreiben ... Störungen» verbundene «Unzufriedenheit» den Kapitalismus als eine dunkle Potenzi- müsse «gegen ihre wahre Ursache gerichtet aliät. ... Eine monströse, unendlich formba- werden: das Kapital». (S. 94) re Entität, die fähig ist, alles zu absorbieren und zu verdauen, mit dem sie in Kontakt Keine Konkurrenz für das Kapital! kommt.» (S. 12 f.) Und sie behaupten, «die Auch eine wohlwollende Prüfung jener Schizophrenie (markiert) die äußere Grenze praktischen Vorschläge Fishers könnte nur des Kapitalismus» und «der Kapitalismus er- zum Ergebnis kommen: Selbst wenn seine nährt und reproduziert die Stimmungen der «kleinen Fünklein» für eine Alternative eine Bevölkerung». (S. 45 f.) milliardenfach «überproportional starke Als Fisher über Probleme spricht, bietet Wirkung» hätten, würde das noch nicht zu er eine Lösung an, nämlich, «dass wir erneut einer für das Kapital spürbaren Konkurrenz deutlich machen (müssen), dass dies keine werden. Denn in seinen gesamten Überle- isolierten, kontingenten Probleme sind, son- gungen sind nicht einmal Ansätze und Kri- dern im Gegenteil, die Folgen einer einzel- terien für eine «kohärente Alternative» zum nen, systemischen Ursache: die des Kapitals. wortgewaltig verdammten Kapitalismus zu Wir müssen beginnen, Strategien gegen das erahnen. Und das liegt nicht an einzelnen sich ontologisch und geografisch allgegen- Unzulänglichkeiten, sondern an seinem wärtige Kapital zu entwickeln – und zwar ganzen Denkansatz, an seinem Paradigma so, als würden wir dies zum ersten Mal der Kapitalismuskritik, das sogar jegliches tun.» (S. 91) Als er über «die Zentrumslosig- Nachdenken über eine Alternative blockiert. keit des globalen Kapitalismus» spricht, die Erschwerend kommt noch hinzu: Fisher ist wir «durch ein Telefonat mit einem Callcen- kein isolierter Einzeldenker, sondern Teil ei- ter» erfahren können, wundert er sich, dass ner «kohärenten» intellektuellen Machtelite, «schlechte Erfahrungen mit Callcentern» die im linken Milieu großen, aber kontrapro- dem Kapitalismus nichts anhaben können duktiven Einfluss ausübt. Diese Machtelite «fast so, als wären Probleme mit Callcentern hat zwar nicht die Absicht, aber die Wir- nicht Folge des systemischen Vollzugs der kung, vorhandenes antikapitalistisches Be- Logik des Kapitals». (S. 76) wusstsein politisch zu neutralisieren und Auch sein Hinweis auf eine Alterna- zu verhindern, dass es zu einem politischen tive in der Vergangenheit enthält kein er- Machtfaktor für einen realistischen Antika- mutigendes Potenzial für die Zukunft: In pitalismus werden könnte. den 1980er-Jahren «existierten politische Aus seinen zahlreichen Verweisen und Systeme und Ideen, die zumindest dem Zitaten aus «linken» Quellen folgt ein onto- Namen nach noch Alternativen zum Ka- logisch überhöhtes Bild des Kapitalismus: pitalismus darstellten.» Für die Alternati-

150 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen ve, die Fisher heute für die Zukunft sucht, aber sehr begeisterungsfähige Fangemein- hat er selbst auch noch nicht einmal einen de verfügt. Und für Kapitalisten enthält das Namen, nur die kulturpessimistische Diag- Buch die gute Nachricht, für Antikapitalis- nose: «Heute haben wir es aber mit einem ten die schlechte Nachricht: Es gibt absolut tieferen, weitaus umfassenderen Gefühl der keine Alternative zum Kapitalismus. Erschöpfung, der politischen und kulturel- Daran ändert auch ein zarter Hauch len Sterilität zu tun. In den 1980er-Jahren von Selbstkritik nichts, der sich in Fishers existierte der ‹realexistierende Sozialismus› «Nachwort zur deutschen Ausgabe» andeu- noch, wenngleich er sich bereits in den tet. Ausgehend von einem Satz von Samu- letzten Zügen befand.» (S. 14) Er erwähnt el Beckett, über eine Interpretation von Zi- zwar beiläufig «die Niederlage der Bergar- zek, gelangt Fisher zu der selbstkritischen beiter» in England gegen Thatcher, deutet Schlussfolgerung, dass man «die Politik des aber nicht einmal an, ob die einst starke ‹Ereignisses›» von Alain Badiou «aufgeben demokratische Arbeiterbewegung, die den sollte und wir uns stattdessen dem offen- Wohlfahrtsstaat geschaffen hatte, nicht sichtlich banaleren Alltagsgeschäft des Auf- vielleicht auch einmal ein ernsthaftes Be- baus einer Hegemonie im Parlament und in mühen war, den Kapitalismus durch die Al- den Mainstreammedien widmen müssen.» ternative des Demokratischen Sozialismus (S. 100) «Diese beiden Orte» betone er des- zu überwinden. halb, «weil die Linke nach 1968 – und das Er erwähnt nur kurz das «sozialdemo- betrifft auch meine eigene Analyse in Ka- kratische Modell» im Zusammenhang mit pitalistischer Realismus – sie in zunehmen- dem durch die Krise diskreditierten Neolibe- dem Maße vernachlässigt hat. Alle ... sind ralismus: «Um sich selbst zu retten, könnte der festen Überzeugung, dass Mainstream- der Kapitalismus zu einem sozialdemokrati- Politik korrupt und wirkungslos ist.» (S. 100) schen Modell zurückkehren», oder zu einem Da Fisher aber seine kurz angedeutet Wen- autoritären System. (S. 92) Diese Formu- de in Richtung einer Alternative zum kapi- lierung impliziert den Glauben an die All- talistischen Realismus nicht weiter ausbaut, macht des Kapitalismus. Nicht die Arbeiter- können wir nur hoffen, in einem ebenfalls bewegung hatte das «sozialdemokratische im VSA-Verlag erschienen Buch mehr Ermu- Modell» geschaffen, sondern der Kapita- tigendes für einen realistischen Antikapita- lismus als das einzig handelnde Subjekt. lismus zu finden. Nachdem er dieses «sozialdemokratische Modell» durch «mutige Reformen» abge- Dieter Klein, Das Morgen tanzt im Heute – Trans- schafft hatte, könnte er natürlich auch den formation im Kapitalismus und über ihn hinaus. Wohlfahrtsstaat wieder einführen. Denn VSA-Verlag Hamburg 2013, 214 S., € 16,80 der Kapitalismus hat´s gegeben, der Ka- Die «Flugschrift» von Fisher ist gewiss leich- pitalismus hat´s genommen, er könnte es ter zu lesen als das Buch von Klein, weil Kri- auch wieder zurückgeben. tik am Kapitalismus leichter ist als die an- Die leicht lesbare Schrift verschafft dem strengende Suche nach Alternativen. Das Leser zugleich einen Überblick über eine politisch-wissenschaftliche Engagement spezifisch linke Gruppierung von Antika- Kleins widerlegt Fishers resignative Mei- pitalisten, die auch über eine zwar kleine, nung, dass nur noch in den achtziger Jah-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 151 Beiträge und Diskussionen ren «Ideen (existierten), die zumindest dem mer und überall unveränderbar das Gleiche. Namen nach noch Alternativen zum Kapi- Er ist nicht reformfähig. Dagegen hält ihn talismus darstellten». (Fisher, S. 14) Denn er Klein ausdrücklich für «reformfähig». Auch gehört zu jenen Intellektuellen, die den So- Transformationen innerhalb des Kapitalis- zialismus als Alternative zum Kapitalismus mus sind relevant für eine Transformation für die Zukunft weiterentwickeln wollen. über ihn hinaus. Dem dogmatischen Bild des immer gleichen Kapitalismus widerspre- «Demokratischer grüner Sozialismus» – Fernziel der chend, verweist er auf die «innerkapitalisti- «zweiten Großen Transformation» sche Transformation vom Konkurrenz- zum Mit dem zentralen Begriff der «zweiten Gro- Monopolkapitalismus, von diesem zum so- ßen Transformation» knüpft Dieter Klein an zialstaatlich regulierten fordistischen Kapi- Karl Polanyis «The Great Transformation» talismus und schließlich zum neoliberalen an, die im Laufe von mehr als drei Jahrhun- Kapitalismus», dem «eine postneoliberale derten vom Feudalismus zum Kapitalismus Transformation folgen» könnte. (S. 13) führte.1 Der Inhalt dieser «zweiten Großen Im Gegensatz zur dogmatisch-marxis- Transformation» werde «wiederum der Über- tischen Position hält Klein den Übergang gang zu einem anderen alternativen Gesell- zum heutigen «neoliberalen Kapitalismus» schaftssystem sein, zu einer solidarischen, nicht für naturnotwendig, sondern für die gerechten Gesellschaft im Einklang mit Folge einer falschen politischen Weichen- der Natur, die auch als demokratischer grü- stellung: In der Krise des sozialstaatlichen ner Sozialismus bezeichnet werden kann.» Kapitalismus war es der Linken nicht gelun- (S. 13) gen, durch ein «wirksames Engagement ... Da diese «zweite Große Transforma- für Elemente eines demokratischen Sozialis- tion» aber nicht als «der nächste Akt der mus» eine Alternative zur neoliberalen Lö- Geschichte» zu verwirklichen sei, müsse sung anzubieten. (S. 24 ff.) man «mit einer ‹kleinen› Transformation ... Die aktuelle Krise des «neoliberalen im Rahmen des Kapitalismus beginnen.» Kapitalismus» werde sicher zu einer «post- (S. 13) Um einen Zusammenhang zwischen neoliberalen Transformation» führen, de- der «systeminternen und der systemüber- ren Ergebnis noch offen ist, das aber auch schreitenden Transformation» herzustellen, von «Transformationsstrategien» beeinflusst prägt er den Begriff «doppelte Transforma- werden kann. (S. 32) tion». (S. 16) Mit diesem Konzept weicht Klein deutlich ab von einem in der alten 4 Szenarien einer «postneoliberalen Transformation» Neuen Linken verbreiteten dogmatisch- Transformation ist nicht nur ein linker Be- marxistischen Bild des Kapitalismus: Das griff und ein Thema für die Partei Die LIN- Wesen des Kapitalismus als Totalität ist im- KE, sondern auch Gegenstand sozialwis- senschaftlicher Forschung. Transformation 1 Vgl. Rolf Reißig, Gesellschafts-Transformation im und Transformationsforschung hatten «ihre 21. Jahrhundert. Ein neues Konzept sozialen Wan- Hochkonjunktur in den 1990er-Jahren», um dels. Wiesbaden 2009. Horst Heimann, Voraus- den «Übergang vom „Staatssozialismus zum setzungen der «Zweiten Großen Transformation» und die Aufgaben der Sozialdemokratie (Teil I), in: Kapitalismus» als notwendige Anpassung perspektiven ds, 2/11, Teil II. ebd. 1/12. des Ostens an den Westen zu interpretieren

152 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen und zu legitimieren. (S. 23 ff.) Die Tendenz, f.) «Per Saldo» zeige dieser «modifizierte neo- die heutigen Veränderungsprozesse schon liberale Kapitalismus, dass er transformato- «als Transformation zu einer neuen Zivili- rische Ansätze hervorbringt, ihre Entfaltung sation» zu interpretieren, beurteilt Klein kri- zu einer postneoliberalen innerkapitalisti- tisch: «Die Annahme, die Welt befinde sich schen Transformation jedoch verhindert und bereits in der Transformation zu einer neu- dadurch in tiefe Krisen verstrickt bleibt.» en Zivilisation, birgt die Gefahr, dass der Be- (S. 46) griff Transformation zum freundlich-unver- Diese Begrenzungen bei Szenario III bindlichen Allerweltsbegriff gerät.» (S. 32) machen ein Szenario IV notwendig, das Der Transformationsbegriff Kleins orien- «aber nur bei einer Veränderung der Kräf- tiert sich dagegen an demokratisch-sozialis- teverhältnisse eine Chance (hätte)». (S. 46) tischen Werten. Wenn auch die anspruchs- Wenn diese «Veränderung der Kräftever- volle «zweite Große Transformation» mit hältnisse» in den nächsten Jahren stattfän- dem Fernziel eines «demokratischen grünen de, könnte Szenario IV, das Klein bevorzugt, Sozialismus» Schwerpunkt seines Buches ist, die künftige Entwicklung prägen. konzentriert er sich zunächst auf vier Szena- «Szenario IV: Sozial und ökologisch regu- rien einer möglichen systeminternen «post- lierter postneoliberaler Kapitalismus (Green neoliberalen Transformation», die bereits in New Deal)». (S. 46 ff.) Das Neue dieses IV. der aktuellen Politik eine Rolle spielen. Szenarios besteht darin, dass es sich schon Sowohl das «Szenario I: Neoliberales um einen «Richtungswechsel» handelt, ‹Weiter so›» (S. 34 ff.) als auch «Szenario zwar noch «im Rahmen des Kapitalismus» II: ‹Weiter so› – noch autoritärer und entzi- (S. 46) – aber auch schon über ihn hinaus vilisierter» (S. 39 ff.), sind zwar nicht ausge- weisend. Im Rahmen des «Konzepts einer schlossen, aber angesichts der noch nicht doppelten Transformation» geht es um die überwundenen Krise, eher unwahrscheinlich. Möglichkeit, «ob zunächst im Rahmen des «Szenario III: Staatsinterventionistisch Kapitalismus die Charaktere einer solidari- modifizierter und grün modernisierter Ka- schen gerechten Gesellschaft zunehmende pitalismus» (S. 41 ff.) dagegen «beschreibt Bedeutung gewinnen und in einer Folge von eine wahrscheinliche Entwicklung der kom- Brüchen in eine zweite Große Transformati- menden Zeit». (S. 41). Elemente für dieses on zur vollen Entfaltung einer solchen Ge- Szenario «stecken in der Politik Angela Mer- sellschaft übergehen können.» (S. 48) kels, stärker im Kurs der SPD». (S. 41) und Doch welche politischen Akteure könn- in Bemühungen zur «Finanzmarktregulie- ten dieses IV. Szenario gegen Widerstän- rung». (S. 42) Aber nicht angetastet werde de anderer Akteure durchsetzen? Klein er- die «Umverteilung von unten nach oben», wähnt nicht die einfache altmarxistische u. a. wegen Kürzung der Sozialausgaben Antwort: Die Arbeiterklasse erobert die und Verzichts auf «eine einmalige Abgabe politische Macht und entmachtet die Bour- auf große Vermögen». (S. 43) Die «ökologi- geoisie – wie auch die Mehrheit der Sozial- sche Modernisierung» mit der «Energiewen- demokraten bis in die erste Hälfte des 20. de» sein zwar «ein einschneidender Bruch», Jahrhunderts glaubten, und bürgerliche Stu- der allerdings «den Rahmen des neolibera- denten sogar bis vor kurzem. Klein gibt eine len Kapitalismus» nicht überschreite. (S. 43 sehr differenzierende Antwort, die durchaus

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 153 Beiträge und Diskussionen plausibel und realistisch wirkt. «Der flexible mächte ganz erheblich anwächst». (S. 51) Teil der Machteliten ... könnte sich ... mehr Und «wenn die Klassenkämpfe und sozialen oder weniger vom marktradikalen, finanzge- Bewegungen von unten entscheidenden triebenen Neoliberalismus lösen ... und ver- Einfluss auf das gesellschaftliche Gesche- anlasst sehen, emanzipatorische Forderun- hen gewinnen.» (S. 52) gen in eine veränderte Entwicklungsweise Zentrale Elemente des IV. Szenarios wer- aufzunehmen.» Und «dieser Teil des Blocks den durchaus bereits intensiv diskutiert und an der Macht ... könnte ... gezwungen wer- wären auch mittelfristig zu verwirklichen, den, in Koevolution mit Elementen eines lin- wie z. B.: «Eine umwelttechnologische Inves- ken Projektes zu handeln.» (S. 46) titionswelle ... vermehrte Aufwendungen für Zum Beleg für diesen Optimismus, auf- die öffentliche Daseinsfürsorge in Bildung, geklärte Mitglieder der Machtelite, verweist Gesundheit, Wissenschaft. ... Eine gerechte- er auf den Spitzenmanager André Doré, re Primärverteilung zwischen Profiten und der einen Vortrag über Management hal- Löhnen und eine Stärkung des Sozialstaats ten sollte und erklärte: «Ich habe mich aber durch höhere Besteuerung der Leistungs- entschieden, über das Gefälle zwischen Arm starken». (S. 50) und Reich zu sprechen. Das ist meiner Mei- Die wichtigsten gesellschaftspoliti- nung nach das große Problem, das wir in schen Forderungen dieses IV. Szenarios wa- Zukunft überhaupt haben.» (S. 47) Und er ren schon in den Wahlprogrammen der drei zitiert den Chef des Davoser Weltwirtschafts- linken Parteien enthalten, die im Septem- forums, Klaus Schwab: «Das System, das uns ber 2013 schon eine Mehrheit der Mandate in die Krise geführt hat, ist längst überholt.» im Bundestag gewonnen haben. Wenn sich (S. 47) Und Frank Schirrmacher habe über SPD, Grüne und Die LINKE auf diese Kern- eine Artikelserie etablierter Autoren in der forderungen konzentrierten und sich ernst- FAZ geurteilt, deren Rhetorik sei «früher aus- haft für dieses linke Projekt engagierten, schließlich militanten, systemfeindlichen könnten sie schon 2017 zum Regierungs- Kräften ... vorbehalten» gewesen. (S. 47) In programm einer neuen Dreier-Koalition der Tat, kapitalismuskritische bis antikapi- werden. Im Konzept der «doppelten Trans- talistische Rhetorik ist auch in den Medien, formation» von Dieter Klein könnte mit der die dem «Kapital» gehören, weit verbreitet. Politik für Szenario IV bereits die «zweite Andererseits erinnert Klein aber auch Große Transformation» in Richtung Szena- an die spezifischen Aufgaben der Linken: rio V beginnen: «Solidarische gerechte Ge- Denn selbst wenn «sich flexible und sta- sellschaft im Einklang mit der Natur oder tegisch denkende Teile des herrschenden demokratischer grüner Sozialismus». (S. 53) Blocks» einer «postneoliberalen Transforma- Offen bliebe in diesem «best-case-scena- tion» öffnen, sei es allerdings unwahrschein- rio» aber die Frage, ob SPD und Grüne an lich, «dass eine progressive postneoliberale einer systemverändernden Zielsetzung in Transformation des Kapitalismus überwie- Richtung «demokratischer grüner Sozialis- gend aus einer Revolution von oben resul- mus» mitwirken möchten. Um die Frage zu tieren wird». (S. 51) Der vorteilhafteste Ent- beantworten, ob die SPD dabei mitwirken wicklungspfad käme nur zustande, «wenn könnte, ist eine Publikation über die Jung- der Druck der Linken und anderer Gegen- sozialisten von besonderem Interesse.

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Thilo Scholle/Jan Schwarz, «Wessen ist die Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands» Welt» – Geschichte der Jusos, vorwärtsbuch, zusammenschlossen. 1907 entstand eine Berlin 2013, 261 S., € 20,- «Internationale Verbindung sozialistischer Für die Suche nach einer Alternative zum Jugendverbände», die Karl Liebknecht zum Kapitalismus könnte diese «Geschichte der Vorsitzenden wählte. In einer 1914 in Mün- Jusos» noch hilfreicher sein als eine Analy- chen gegründeten «Jugend-Sektion» ge- se der aktuellen Theorie und Programmatik brauchte ihr Vorsitzender erstmals das Wort der Gesamt-SPD, und zwar aus folgendem «Jungsozialisten». Ein Parteitag lehnte al- Grund: Das neue Hamburger Grundsatzpro- lerdings den Antrag ab, diesen Namen of- gramm von 2007 enthält zwar noch ein ver- fiziell nutzen zu dürfen. Die Geschichte der bales Bekenntnis zum «demokratischen Sozi- Jungsozialisten als eigener politischer Orga- alismus». Dennoch bleibt die Frage offen, ob nisation begann daher erst in der Weimarer die SPD noch an ihrer traditionellen system- Republik. 1920 legitimierte der Parteitag verändernden Zielsetzung festhält, den Kapi- in Kassel die Bildung «Jungsozialistischer talismus durch ein besseres Wirtschafts- und Gruppen» für 18–25 Jährige. Für 14–18 Jäh- Gesellschaftssystem des Demokratischen So- rige entstand 1922 die «Sozialistische Ar- zialismus zu überwinden, oder ob das Grund- beiterjugend (SAJ)». satzprogramm unter demokratischem Sozi- Scholle und Schwarz nennen als «Auf- alismus nur noch Richtlinien für SPD-Politik gaben der Jungsozialisten» vor allem «Ge- im Kapitalismus versteht, zu dem es keine selligkeit, Agitation und Bildung». (S. 95) Alternative gibt. Eine baldige Klärung dieser Rückblickend dürfte ihre politische Bil- Grundsatzfrage ist nicht zu erwarten, da sich dungsarbeit, verbunden mit eigener The- fast kein SPD-Politiker dafür interessiert. oriediskussion, die nachhaltigsten Wir- Im Gegensatz zur Verdrängung dieser kungen gehabt haben, die auch dem Grundsatzfrage in der SPD haben die Jung- demokratischen Neuanfang nach 1945 zu sozialisten in ihren Beschlüssen bis in die gute kamen. Denn diese Bildungsarbeit hat jüngste Vergangenheit im Demokratischen demokratisch-sozialistische Überzeugungen Sozialismus die Systemalternative benannt, geschaffen, die die Nazi-Propaganda weit- die den Kapitalismus überwinden soll. Die gehend überlebt haben. Prüfung dieser Beschlüsse kann also die Fra- Bei der Bildungs- und Theoriearbeit der ge beantworten, ob die Jusos im Gegensatz Jusos ging es nicht nur darum, vorhandenes zum vorherrschenden hilflosen Antikapita- Wissen und feststehende Bildungsinhalte lismus wenigstens Ansätze für eine konst- zu vermitteln, sondern auch durch kontro- ruktive Alternative zum kritisierten Kapita- verse Diskussionen zur Entwicklung der The- lismus anzubieten haben. orie und des demokratisch-sozialistischen Bewusstseins aktiv beizutragen. Die Analy- Die Entwicklung der Jungsozialisten als se zahlreicher Beschlüsse, Zeitschriftenauf- Organisation bis 1931 sätze bestätigt: Ein positives Fazit des Ju- Eigenständige organisatorische Zusam- so-Vorsitzenden Lepinski im Jahr 1930 war menschlüsse einer «Arbeiterjugendbewe- nicht nur Eigenlob: «Die Jungsozialisten gung» bildeten sich erst seit 1904, die sich sind der geistig regsamste und aktivste Teil 1906 zum Dachverband «Verband junger der Partei.» (S. 97)

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Die Zeitungen «Die Arbeitende Jugend» zeitige Ende der Jusos sehen die Autoren (seit 1905) und «Die Arbeiterjugend» er- nicht «parteiisch», sondern sachlich-kritisch: reichten hohe Auflagen: 100 000 im Jahr «Auch wenn die Jungsozialisten am Ende 1914. Seit 1907 erschien «Die Junge Gar- vor allem an sich selbst scheiterten: Ein de» , mit dem Anspruch, «die Jugend zum Großteil dessen lag auch am Unwillen der Sozialismus zu führen». (S. 30) Neben der Weimarer Sozialdemokratie, sich mit abwei- Erziehung zum Sozialismus spielten auch In- chenden Meinungen auseinanderzusetzen.» ternationalismus und Antimilitarismus eine (S. 106) wichtige Rolle. 1907 formulierte Karl Lieb- knecht das Ziel: «Die proletarische Jugend «Die Jusos im Gleichschritt mit der Partei» muss von Klassenbewusstsein und von Hass Mit dieser zutreffenden Überschrift cha- gegen den Militarismus systematisch durch- rakterisieren die Autoren die Nachkriegs- glüht werden.» (S. 39) entwicklung der «Arbeitsgemeinschaft der Obwohl keine Juso-Gruppierung die Jungsozialisten in der SPD», gegründet auf Ideen und gesellschaftverändernden Zie- dem ersten Parteitag der SPD 1946 in Han- le des Demokratischen Sozialismus in Fra- nover. Geleitet von einem Zentralsekretär ge stellte, kam es doch zu Richtungs- und der Partei, gehörten den Jusos alle SPD- Flügelkämpfen. Vereinfacht zusammenge- Mitglieder zwischen 18 und 35 Jahren an, fasst: Neben den traditionell marxistischen zeitweilig nur zwischen 18 und 30, ab 1959 Jusos entstand eine kleine Gruppe von An- aber wieder bis 35 Jahre. Auf einer zent- hängern des neokantianischen Philosophen ralen Juso-Konferenz 1948 betonte Heinz Leonard Nelson, «Nelsonianer» oder «ethi- Kühn, dass die Jusos «den gemeinsamen sche Sozialisten», und die «Hofgeismarer»: Kampf der sozialdemokratischen Bewegung Eine Tagung Ostern 1923 in Hofgeismar, für die Verwirklichung des demokratischen mit kompetenten Referenten, löste lebhaf- Sozialismus mit der lebendigen Kraft der Ju- te kontroverse Debatten aus. Die «Hofgeis- gend beflügeln.» (S. 122) Bei der lebhaften marer», eher rechts der SPD eingeordnet, Debatte auf dem Weg zum Godesberger Pro- versuchten Sozialismus und Nation zu ver- gramm 1959 blieben die Jusos abstinent. binden. (S. 61) Dem setzten die Marxisten Während die parteifrommen Jusos entgegen: «Nicht national, sondern interna- der SPD bis Mitte der sechziger Jahre nur tional auf dem Boden des Klassenkampfes Freude bereiteten, begann schon Ende der wollen wir stehen.» (S. 64) 1950er-Jahre der Konflikt mit dem 1946 ge- Unabhängig von den produktiven the- gründeten Sozialistischen Studentenbund oretischen Kontroversen kam es vor allem Deutschlands (SDS), der schon vor SPD, in der Endphase der Weimarer Republik im- Jusos und FDP für eine neue Deutschland- mer wieder zu unproduktiven Konflikten mit und Ostpolitik eintrat. Während die Jusos der Parteiführung: 1930 löste die Berliner noch 1959 einen Beschluss gegen eine Zu- SPD «die jungsozialistische Vereinigung» sammenarbeit mit kommunistischen Orga- auf. Da Versuche einer Reorganisation auf nisationen verabschiedeten, befürwortete Reichsebene scheiterten, löste der Leipziger der SDS schon Gespräche mit Organisati- Parteitag 1931 die Organisation der Jusos onen der DDR. 1961 trennte sich die SPD insgesamt auf. Die Ursachen für dieses vor- durch den «Unvereinbarkeitsbeschluss» vom

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SDS und gründete den parteifrommen So- Schröder, die jegliche Revision der ursprüng- zialdemokratischen Hochschulbund (SHB), lichen Lehre des Propheten Marx schärfs- von dem sie sich 1971 trennte. tens verurteilten. Anschaulich und sachlich-kritisch ana- «Linkswendekongress 1969» lysieren die Autoren die tragische Farce Schon der Bundeskongress 1967 «forderte dieser Fraktionskrämpfe, die schon mit die Anerkennung der DDR als gleichberech- dem Bundeskongress 1974 zur Folge hat- tigten Verhandlungspartner der Bundes- ten, dass «die Jusos massiv an Kredit in der republik.» (S. 132) Auch der 1961 gegrün- Öffentlichkeit verloren und in der Bericht- dete SHB entwickelte sich zügig nach links erstattung fast nur noch Spott über den und nahm in seinen Debatten «einen Teil Verband (dominierte)». Ihre «abstrakten der späteren Ostpolitik der sozialliberalen Theoriediskussionen» konnte die Basis nicht Koalition vorweg.» (S. 133) Auf dem Bun- mehr nachvollziehen, so dass «die Aktivzah- deskongress im Mai 1968 solidarisierten len» zurückgingen. Auf dem Juso-Kongress sich die Jusos mit der Außerparlamentari- 1975 wäre es fast zur Spaltung des Verban- schen Opposition. Nach Bildung der sozi- des gekommen, weil sich zwei miteinander alliberalen Koalition im Herbst 1969 voll- unvereinbare Glaubensbekenntnis unver- zogen die Jusos auf ihrem Bundeskongress söhnlich gegenüberstanden: Während die im Dezember in München ihre endgültige eine Hälfte glaubte, «der Staat ist der ide- «Linkswende» so medienwirksam, dass das elle Gesamtkapitalist», glaubte die andere Wort «JUSO» neben «APO» zu einem Mar- Hälfte das Gegenteil, «der Staat wirkt als kenzeichen für die jugendliche Protestbewe- ideeller Gesamtkapitalist». (S. 165) Eine Ur- gung wurde: In ihren Beschlüssen warfen sache für den selbstzerstörerischen Theo- sie der SPD vor, «ihre sozialistische Position riekampf sehen die Autoren darin, dass es aufgegeben» zu haben und forderten «die einigen «nicht um inhaltliche Überzeugun- Überführung der Produktionsmittel in die gen (ging), sondern mehr um ... Taktik zur Nutzung und Verantwortung der Gesamt- Macht- und Personalpolitik.» (S. 167) gesellschaft». (S. 142) Diese Bilanz einer Selbstdemontage ist Der innerparteiliche und mediale Tri- zwar niederschmetternd. Aber eine differen- umpf der «Linkswende» 1969 wurde bald zierende Analyse der Entwicklung der Jusos beeinträchtigt durch unproduktive Konflik- auf drei Ebenen zeigt auch positive Ergeb- te mit der Partei, vor allem wegen Zusam- nisse: 1. Der Machtkampf der Fraktionen menarbeit mit kommunistischen Organisa- um Mehrheiten. 2. Das politische Gewicht tionen. Noch fataler wirkte die Bildung von der Jusos und ihre Einmischung in die prak- drei miteinander verfeindeten «Theoriefrak- tische Tagespolitik. 3. Der Beitrag der Jusos tionen»: Gegen die Mehrheitsfraktion auf zur Theorie und Programmatik. den Bundeskongressen, die «Reformisten», später «undogmatische Jusos» genannt, op- Die Entwicklung der Fraktionen ponierten zunehmend die stärker werdende Die Autoren analysieren ausführlich die Fraktion der «Juso-Linken», besser bekannt sich verändernden Kräfteverhältnisse zwi- als «Stamokap», und die sich für am weites- schen den Fraktionen, unterschiedliche Ko- ten links haltenden «Antirevisionisten» mit alitionen, die fraktionsinternen Konflikte

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 157 Beiträge und Diskussionen und Spaltungen, die Rolle von «strömungs- gierung und das berüchtigte «Schröder-Blair- freien» Mitgliedern der Bundesvorstände, Papier» als «Secondhand Neoliberalismus». die Umbenennungen und Neuorientierun- (S. 225 f.) Ihre Kritik an Schröders Basta- gen der Fraktionen: Die Minderheitsfrakti- und Agenda-Politik machte ihre Kampag- on «Hannoveraner Kreis» (Stamokap) entwi- ne «SPD-Erneuern!» nach dem Wahldesas- ckelte sich über die «Juso-Linke» (seit 1991) ter 2009 glaubwürdig, so dass sie auch die als «Netzwerk linkes Zentrum» (NWLZ) zur «Neuaufstellung» der SPD für die Bundes- inzwischen stärksten Gruppierung, theo- tagswahl 2013, etwas weiter links, inhalt- retisch aber nicht mehr auf die Stamokap- lich beeinflussen konnten. Und nach der Theorie reduziert. In Zusammenarbeit mit Wahl im September 2013 übernahm auch Parteilinken gibt NWLZ die Zeitschrift «So- die SPD die schon frühere Erkenntnis der Ju- zialistische Politik und Wirtschaft» heraus. sos, man dürfe auch eine Zusammenarbeit Die ursprüngliche Mehrheitsfraktion Re- mit der Partei Die LINKE als Machtoption formsozialisten agierte zeitweilig unter nicht grundsätzlich ausschließen. dem Namen «Undogmatische Jusos», die Antirevisionisten wurden über diverse Ver- Der Beitrag der Jusos zur Theorie und mischungen mit anderen zu den «Traditio- Programmatik des Demokratischen Sozialismus nalisten». Manchmal entstehende «rechte» Dieses Thema ist entscheidend für die Ant- Gruppierungen («Junge Sozialdemokraten») wort auf die Frage: Könnte das theoretisch- erlangten keine nachhaltige Bedeutung. programmatische Selbstverständnis der Jusos dazu beitragen, dass die SPD aktiv Das politische Gewicht der Jusos und ihre in die aktuellen lebhaften kapitalismus- Einmischung in die Tagespolitik kritischen Debatten eingreift und den De- Ihre plötzlich errungene Rolle als attraktiver mokratischen Sozialismus als realistische Medienstar und politischer Machtfaktor, als Alternative zum krisengeschüttelten Kapi- Hoffnungsträger und Bürgerschreck, hatten talismus wenigsten wieder zur Diskussion die Jusos, wie «Schlafwandler», aufgekün- stellt? Könnte dadurch der vorherrschende digt. Dennoch mischten sich die Jusos auch hilflose Antikapitalismus durch Anbindung immer wieder aktiv in die Tagespolitik ein. an eine noch relativ starke Partei zu einem In den achtziger Jahren verstanden sie sich politischen Machtfaktor werden, der auch als Teil der Friedensbewegung, demonstrier- die SPD stärken könnte? ten gegen die Nachrüstung, nahmen 1985 Bereits Ende der 1970er-Jahre veröf- an den Weltjugendfestspielen in Moskau fentlichte der Hannoveraner Kreis (Stamo- teil. 1984 führten sie eine Frauenquote kap) die «Herforder Thesen» und die Frak- von 30 Prozent ein, die die SPD 1986, so- tion der Antirevisionisten die «Göttinger gar mit 40 Prozent, übernahm. Schon 1988 Thesen», die fraktionsübergreifend und wandten sie sich gegen geplante Privatisie- kontrovers diskutiert wurden. Auch in den rungen, 1989 gegen eine überstürzte Wie- 3 Zeitschriften der Fraktionen erschienen dervereinigung, 1992 gegen die Einschrän- anregende Diskussionsbeiträge: Seit 1976 kung des Asylrechts. publizierten die Antirevisionisten ihre Zeit- Scharf kritisierten sie die Wirtschafts- schrift «Der Sozialist», seit 1978 gab der und Sozialpolitik der rot-grünen Bundesre- Hannoveraner Kreis die noch heute er-

158 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen scheinende Zeitschrift «Sozialistische Po- gramms nur durch eine Überwindung des litik und Wirtschaft» heraus. Die Reform- Kapitalismus Realität werden kann.»2 sozialisten publizierten ihre Ideen in der Zeitschrift «Sozialistische Praxis». Dort Die Jusos haben Geschichte geschrieben! schrieb Malte Ristau 1986, «das integrale Nur thesenartig ist dieses übertrieben schei- Sozialismuskonzept» der «undogmatischen nende, aber gerechtfertigte Urteil hier zu Juso-Linken» (früher Reformsozialisten) begründen: Die Faktoren, die bei der Links- müsse «(marxistischen und ethischen) Re- wende zum spektakulären Erfolg beitrugen, formsozialismus, Ökosozialismus und Femi- sind gegenwärtig die Ursachen für die ge- nismus zusammen denken». (S.188) 1987 ringen Erfolgschancen des noch immer «be- veröffentliche Uwe Kremer von der Juso- schlossenen» Juso-Sozialismus, und zwar Linken in der spw den diskussionswürdi- deshalb, weil es diese Faktoren heute nicht gen Beitrag «Moderner Sozialismus». Die mehr gibt: im April 1989 veröffentlichten «53 Thesen» des «Projektes moderner Sozialismus» for- 1. 1969 war in der Gesellschaft der Bun- dern, «die verschiedenen Analyseansätze desrepublik vor allem die studentische sachlich zu diskutieren» (S. 204), also frak- Jugend schon mobilisiert, politisiert tionsübergreifend. Auf dem Vereinigungs- und in einer linken optimistisch-konst- kongress der West- und Ostjusos 1990 in ruktiven Aufbruchsstimmung. Potsdam bekannten sich die vereinigten 2. Der Linkswende der Jusos 1969 auf Jusos zum «modernen und demokratischen Bundesebene war schon sein einigen Sozialismus», verbunden mit scharfer Kritik Jahren eine Linkswende im intellektuel- am gescheiterten «realen Sozialismus» im len wissenschaftlich-kulturell-publizisti- Osten. (S. 211) Trotz einiger Tendenzen zum schen Milieu vorausgegangen. «Abschied vom Sozialismus» blieben die Ju- 3. Die Linkswende der Jusos war verbun- sos für die Mehrheit «weiterhin ein sozialis- den mit einer wachsenden innerpartei- tischer Richtungsverband». (S. 215) lichen Opposition in der «ruhigen» SPD, Zu den Projekten der 2007 mit 76 Pro- eines linken Flügels, der innerhalb und zent gewählten Bundesvorsitzenden Fran- außerhalb der SPD erkennbar war. ziska Drohsel gehörte es, «bei den Jusos 4. Aktive Jusos hatten ein klares Bild von wieder grundsätzliche Debatten zu führen». der politischen Situation und ihren Ein Ergebnis war der Sammelband: Franzis- Chancen. 1968 bezog sich ein «Haus- ka Drohsel, Was ist heute links? – Thesen für hammer Manifest» der bayerischen eine Politik der Zukunft. Es enthält auch «63 Jusos auf die Unzufriedenheit der jun- Thesen zur jungsozialistischen Politik», die der Juso-Bundeskongress im Oktober 2008 2 , Was ist heute links? – Thesen beschlossen hat. Im Vorwort präzisiert Fran- für eine Politik der Zukunft, Frankfurt/New York ziska Drohsel, «was für uns elementare An- 2009, S. 11. Vgl. dazu auch: Horst Heimann, Wo nahmen linker Politik sind». Dazu gehöre bleibt der demokratische Sozialismus? – Bei den für die Jusos die «Kritik am Kapitalismus» Jusos!?, in: perspektiven ds 1/10, S. 111 ff. Fran- ziska Drohsel, Zum demokratischen Sozialismus bei und die Überzeugung, «dass der ‹demokra- den Jusos – Eine kurze Replik auf Horst Heimann, tische Sozialismus› des SPD-Grundsatzpro- Ebd., S. 126 ff.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 159 Beiträge und Diskussionen

gen Generation, auch deshalb scharf 8. Gegenwärtig gibt es weder in der SPD die SPD kritisiere, «weil sie immer noch noch in einem ihr nahestehenden lin- die heimliche Hoffnung der fortschritt- ken intellektuellen Milieu anregende lichen jungen Generation ist.» (S. 136) kapitalismuskritische Debatten, die mit Und daher werden die bayerischen Ju- der Alternative des Demokratischen sos «nichts unversucht lassen, die Ideen Sozialismus auf die lebhaften antika- der jungen Generation in die SPD einzu- pitalistischen Diskussionen und Stim- bringen, und auf diese Weise mitzuhel- mungen in der Gesellschaft und in fen, die Zukunft der Sozialdemokratie den sozialen Bewegungen ausstrahlen zu sichern.» (S. 137) könnten. Da eine produktive Kommu- 5. Andere SPD-Funktionäre sahen darin nikation zwischen diesen zwei Ebenen aber nicht die Sicherung, sondern die fehlt, fehlt in den Parteien der Mut zu Gefährdung der Zukunft der SPD. Der visionärem Denken und in den sozialen 1969 in München abgewählte Juso- Bewegungen der Sinn für politischen Vorsitzende Peter Corterier beschuldig- Realismus und praktische Politik. te die neue Mehrheit, sie «möchte die Jungsozialisten zu einem Brückenkopf Dennoch Chancen für eine «zweite Große der APO in der SPD machen» und sie Transformation»? «zu einer extremistischen Partei um- Die noch gültigen Beschlüsse der Jusos für funktionieren». (S. 140) eine systemverändernde Reformstrategie 6. Faktisch wurden die Jusos zu einem Brü- zur Überwindung des Kapitalismus durch ckenkopf in der APO. Ihren gut erkenn- Demokratischen Sozialismus entsprechen baren linken und sozialistischen Positi- im Prinzip dem Szenario V von Dieter Klein onen war es zu verdanken, das große für die «zweite Große Transformation»: Es Teile der rebellierenden jungen Genera- handle sich nicht um einen «Masterplan tion beim Zerfall der APO nicht in poli- mit feststehenden Konturen». (S. 53) Die tisch ohnmächtige Fundamentalopposi- Linken in Deutschland und Europa verfü- tion abglitten, sondern für die Mitarbeit gen noch nicht «über eine gemeinsame Vor- in der repräsentativen und direkten De- stellung von den Konturen der von (ihnen) mokratie gewonnen werden konnten. erstrebten Gesellschaft. Sie haben noch 7. Im Zusammenhang mit den intensiven kein vorweisbares Bild von ihrer Hoffnungs- linken wissenschaftlich-publizistischen gesellschaft.» (S. 54) Aber die plurale Linke Debatten haben die Jusos einen blei- brauche «ein zusammenfassendes Gesell- benden Beitrag zur Präzisierung der The- schaftsprojekt», für das er in seiner Arbeit orie und Strategie des Demokratischen «die Leitideen für eine doppelte Transforma- Sozialismus geleistet. Die Strategie sys- tion als Erzählung einer modernen Linken» temverändernder Reformen und die vorlege. (S. 54) Doppelstrategie könnten, wenn man sie Einige linke Sozialdemokraten, die aus dem strahlungssicheren Endlager Grundsatzdebatten vermissen, beklagen herausholte, aus dem heute hilflosen auch, dass der Linken leider eine solche «Er- Antikapitalismus wieder einen konstruk- zählung», oder sogar eine «Große Erzählung» tiven politischen Machtfaktor machen. fehle. Einige allerdings sehen kein Problem

160 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Beiträge und Diskussionen darin, dass es diese «Erzählung» nicht mehr An der vom neoliberalen Tsunami hin- gibt, sondern nur darin, dass es noch eini- weg gespülten «Erzählung» des Demo- ge gibt, die darin ein Problem sehen. Aber kratischen Sozialismus haben einst sogar allen, die noch an dieser «Erzählung» inter- führende sozialdemokratische Politiker «fe- essiert sind, sei dieses Buch besonders zur derführend» mitgeschrieben. 1975 erschien Lektüre empfohlen, zumal ich hier nicht auf in der Reihe «Demokratischer Sozialismus die umfangreichen und anregenden Überle- in Theorie und Praxis» ein Band, in dem gungen Kleins zu dieser «Erzählung» einge- die gewiss vielbeschäftigten Politiker Willy hen kann. Nur auf einen Aspekt sei hier hin- Brandt, Bruno Kreisky, Olof Palme intensiv, gewiesen. Klein hält die Suche nach einer kenntnisreich und kompetent über die da- gemeinsamen «Erzählung» der pluralen Lin- mals einflussreiche linke «Erzählung» des ken für notwendig, um der «Erzählung des Demokratischen Sozialismus diskutierten.3 Neoliberalismus» eine «Gegenerzählung der Heute dürften allerdings kaum führende Linken» entgegenzusetzen. (S. 61) Und er er- linke Politiker noch Zeit und Muße für eine innert an eine Tatsache, die die meisten Ver- solche Aufgabe aufbringen. Daher könnte ächter des Neoliberalismus kaum zur Kennt- wohl eine ebenbürtige «Gegenerzählung» nis genommen haben: «Jahrzehnte vor der zum heute noch marktbeherrschenden praktischen Umsetzung neoliberalen Den- Neoliberalismus nur entstehen, wenn eine kens in marktradikale Politik ... haben Wis- Schicht linker Intellektueller, Wissenschaft- senschaftler, Politiker und Journalisten in ler, Publizisten und Künstler die neoliberale Dutzenden von konservativen Think Tanks Hegemonie wieder durch eine linke Hege- und Universitätsinstituten an den Leitideen monie im politischen Denken und dann in gearbeitet, die heute den neoliberalen Ka- der praktischen Politik ablöst. pitalismus bestimmen.» (S. 60)

3 Willy Brandt/Bruno Kreisky/Olof Palme, Briefe und Gespräche 1972 bis 1975, Frankfurt/Köln 1975, in der Reihe Demokratischer Sozialismus in Theorie und Praxis, hrsg. von Günter Grass, Eber- hard Jäckel und Dieter Lattmann.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 161 BERICHTE UND REZENSIONEN

Edgar Göll Doppeldissertation haben der Lebensqua- «Inspirationen für eine Kultur der Zukunftsfä- litätsforscher Thomas Haderlapp und die higkeit». Rezension zu Haderlapp, Thomas/ Politologin Rita Trattnigg, die als Nachhal- Trattnigg, Rita: Zukunftsfähigkeit ist eine tigkeitsexpertin im österreichischen Lebens- Frage der Kultur. Hemmnisse, Widersprüche ministerium tätig ist, nun ein Werk vorge- und Gelingensfaktoren des kulturellen legt, das sowohl in Inhalt als auch Form Wandels, oekom Verlag, München 2013, starke neue Impulse geben kann. 702 S., € 44,95 Ein zentraler Ausgangspunkt wird im Seitdem das Leitbild «Nachhaltige Entwick- Vorwort des Dissertationsbetreuers, des Phi- lung» 1992 auf der UN-Konferenz für Um- losophen Peter Heintel formuliert, nämlich welt und Entwicklung verstärkt, wenngleich die Frage, «warum so wenige Fortschritte in zögerlich auf die politische Tagesordnung Richtung einer nachhaltigen bzw. zukunfts- gerückt wird, können Verschiebungen des fähigen Entwicklung zu verzeichnen sind», Fokus beobachtet werden. Das sogenannte und er meint, dass das Buch genau dafür ei- Drei-Säulen-Modell ist im deutschsprachi- nen «kulturellen Selbstaufklärungsprozess» gen Raum hegemonial geworden, und sei- bietet, der für die LeserInnen «einsehbar» ne drei Dimensionen Ökologie, Ökonomie werden und «eine anregende, selbstauf- und Soziales sind in unterschiedlichen Kom- klärende Wirkung haben möge» (S. 16 f.). binationen oder auch Konfliktlinien aus- Und tatsächlich spüren die Verfasser im führlich debattiert worden. Nun wird immer Forschungsfeld nach vorhandenen Wider- deutlicher, dass die Umsteuerung in einen sprüchen, machen sie bewusst, und sie ar- zukunftsfähigen Entwicklungspfad nur teil- tikulieren dies in einem durchgängig di- weise mittels technokratischer Mittel und alogischen, reflektierenden Duktus, der Konzepte zu erreichen ist. Vielmehr schei- stellenweise explizit persönlich und subjek- nen die drei Dimensionen jeweils noch eine tiv wird. Entsprechend begreifen sie «Nach- Tiefendimension aufzuweisen, die als Quer- haltige Entwicklung bzw. Zukunftsfähigkeit schnittsdimension gelten kann: Kultur. Die auch als kulturellen Modus, sich mit den für Nachhaltigkeit dringend erforderlichen unauflösbaren Widersprüchen (Aporien) in Veränderungen und Innovationen sind von der Welt und im Menschen auseinander- Menschen zu praktizieren und das heißt: zusetzen und als den Anspruch, diese Wi- das «Gewohnheitstier Mensch» ist in hohem dersprüche auszuhandeln, einen zeitgemä- Maße gefordert und muss eine neue, eine ßen Umgang mit ihnen zu finden und diese zukunftsfähige Kultur entwickeln. doch (bei Zeiten) hinterfrag- und verhandel- Zu diesem Themenfeld liegen bislang bar zu halten. Die entscheidende kulturelle lediglich punktuelle wissenschaftliche Ar- Frage wird also sein, WIE wir mit diesen Wi- beiten vor. Doch mit der umfangreichen dersprüchen umgehen.» (S. 26)

162 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Berichte und Rezensionen

Haderlapp/Trattnigg konstatieren ein- Auffällig sind eklatante Differenzen der gangs eine «Abkopplung der professiona- Befragten in Bezug auf ihre Selbst- bzw. lisierten Politik von den Lebenswelten der Fremdeinschätzung. Zwischen Politik und BürgerInnen» (S. 37) und formulieren un- Zivilgesellschaft existieren sehr differente mittelbar anschließend eine ambitionierte Sichtweisen. Befragte aus dem Feld Politik Lösungsmöglichkeit: «Die Entwicklung ei- verstehen ihren Bereich als «Problemlöser», nes weiten Begriffsverständnisses von ‹Po- als «wohlstandssichernd» und als «notwen- litik› könnte dazu beitragen, dass sich Po- dige Institution». Demgegenüber sehen die litikerInnen, VerwaltungsmitarbeiterInnen, Befragten aus der Zivilgesellschaft Politik Zivilgesellschaft, BürgerInnen usw. gemein- häufig als Bereich, «der den Souverän aus sam als Ko-ProduzentInnen von Politik bzw. den Augen verliert»; «hinter dem andere als AkteurInnen der Politikgestaltung ver- Mächte agieren»; aber auch als Akteur «mit stehen» – wobei Auswirkungs- und Nachwir- dem Allianzen für lösungsorientierte Ver- kungsprüfungen einzusetzen wären (S. 42 änderungen geschmiedet» werden können f.). Hierfür werden Beispiele angeführt, wie (S. 256 f.). Art of Hosting, Gewaltfreie Kommunikati- Speziell LeserInnen, die sich mit dem on, Soziokratie, Systemisches Konsensieren, Leitbild der Nachhaltigkeit bzw. Zukunfts- Restorative Circles, Dynamic Facilitation/ fähigkeit befassen und sich dafür einsetzen, BürgerInnen-Räte, the work that re-con- werden die zahlreichen Zitate aus den Inter- nects’, Theory U, Arbeit mit Großgruppen views als typische Äußerungen wieder er- (z. B. Future Search, Open Space, Zukunfts- kennen. Dabei geht es den Verfassern nicht werkstätten). Dabei wird zugleich bewusst darum, die Interviewpartner zu entlarven, gemacht, welche Vielzahl unterschiedlicher sondern deren Haltung und Äußerungen moderner Ansätze für Klärungs- und Ent- in den Kontext und in Bezug auf die große scheidungsprozesse bereits existieren – aber Herausforderung Nachhaltigkeit zu stellen. noch viel zu selten angewendet werden. So haben sie als Erklärung für die bislang Die eigenständige empirische Basis für unzureichende Umsetzung unter anderem die Studie sind insgesamt 33 (anonymisier- fünf Dilemmata ausgemacht. 1. das Unend- te) Tiefeninterviews mit RepräsentantIn- lichkeits-/Fassbarkeitsdilemma, es besagt, nen der österreichischen Politik und Zivilge- das Thema Nachhaltigkeit sei derart umfas- sellschaft. Dieses Vorgehen wurde mit der send, dass «man nicht weiß wo man begin- maßgeblich auf Heintel zurückgehenden nen soll». 2. das Komplexitätsdilemma weißt Interventionsforschung inter- bzw. trans- darauf hin, dass nur integratives, ganzheitli- disziplinär ausgerichtet. Demnach sollten ches, vernetztes Denken weiterhelfen wird. die Interviewer möglichst als «Experten des 3. das Bewahrungs-/Veränderungsdilemma Nicht-Wissens» (S. 184) agieren. Gefragt zeigt auf die Gleichzeitigkeit von bewahrens- wurden die Gesprächspartner nach ihrem werten und systemverändernden Aspekte in Selbstverständnis, ihrer Sicht auf die an- der Nachhaltigkeitskonzeption hin, 4. das deren Akteure, dem Verständnis von Nach- Verwertbarkeitsdilemma thematisiert die haltigkeit und dann vor allem nach den häufig erst mit großen Zeitverzug politisch Hemmnissen für die Verwirklichung dieses verwertbaren Effekte/Erfolge von Nachhal- Leitbildes. tigkeitsaktivitäten. 5. das Authentizitätsdi-

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 163 Berichte und Rezensionen lemma verweist darauf, dass in der Politik zu überwinden sei es essentiell, Räume/ aufgrund vieler Faktoren selten tatsächlich Orte und Zeiten für ein Innehalten und nachhaltig gehandelt würde (S. 213 f.). Hier- Überdenken zu schaffen, damit ein «Her- bei zeigt sich, dass es sich bei diesen Phä- austreten und das Sich-Erheben aus System- nomenen nicht unbedingt um «Dilemmata» zwängen» (S. 28) – also das Klären von Mög- sondern – bei handlungsorientiertem An- lichkeitsräumen, Kontingenzen, Potenzialen spruch, um Probleme, Herausforderungen überhaupt möglich bzw. wahrscheinlich wer- und Aufgabenstellungen handelt. den. Dazu sei es unumgänglich, «vor allem Aus den Einschätzungen der befragten Räume zu schaffen, in denen Menschen zu- ExpertInnen destillieren die Verfasser meh- sammenkommen können und die Zeit ha- rere Hemmnisse für eine zukunftsfähige Po- ben, sich darüber auszutauschen, welche litikgestaltung heraus und sie bestätigen da- Zukunft sie wünschen und was sie dazu mit bisherige Forschungsergebnisse. Hierzu beitragen können, dass sie auch umgesetzt gehören das System der repräsentativen De- werden kann», meint ein Vertreter der Zivil- mokratie und die Schwäche des Parlamenta- gesellschaft (S. 365). Wie im Diskurs über rismus (in Österreich), die Ausrichtung der Nachhaltigkeit üblich, wird die spürbare herrschenden Politik an parteipolitischer Stärkung demokratischer Strukturen betont. Mehrheitsbeschaffung, Kurzfristdenken, Haderlapp/Trattnigg thematisieren überfordernde wechselseitige Erwartungen aber darüber hinausgehend mit ihrem kul- und fehlendes Zutrauen und Vertrauen zwi- turellen Horizont noch weitere systemische schen Politik und Zivilgesellschaft, medialer Probleme bzw. Herausforderungen auf dem Imagedruck versus die Versuchung medial Weg zu Nachhaltigkeit; diese weisen tief in aufzutreten, die Bedeutungslosigkeit von Vi- die conditio humana und die Gestaltungs- sionen im politischen Alltagsgeschäft; und und Steuerungsprobleme in Gesellschaf- schließlich sind aufgrund der wachsenden ten und sind wiederum in Form von zehn gesellschaftlichen Komplexität und Dyna- für das Forschungsfeld «charakteristische mik die Gestaltungsmacht und Qualität von Widersprüche» formuliert. Hierzu gehören traditioneller Politik unzureichend. z. B. Unbestimmtes-Bestimmtes, Trennen- Aufgrund ihres in die Breite und die Verbinden, Gestaltung-Zufall, Mensch-Na- Tiefe gehenden Blicks widmen sich die Ver- tur und Leben-Tod, also philosophische und fasser auch weiteren Hemmnissen für eine existenzielle zivilisatorische Themen (S. 425 zukunftsfähige Alltagsgestaltung in der Be- ff.). Und bei Betrachtung all dieser Heraus- völkerung. Hierzu gehören: Alltagssorgen, forderungen (bzw. Widersprüche oder Di- Überforderung und Bequemlichkeit, unge- lemmata) wird im Zuge des Lesens deutlich, eignete Anreizsysteme, mangelnde Offen- welch überaus ambitionierte Aufgabe die heit und Reflexionsfähigkeit, fehlende Be- Umsetzung von nachhaltiger Entwicklung troffenheit und Verdrängung, die Rolle der darstellt. Es wundert also wenig(er), dass Medien (Informationsskandal vs. Beeinflus- Nachhaltigkeit noch immer nicht erreicht sung) und tägliche Zwänge und nichtnach- ist. Doch in dem Buch werden unzählige in- haltige Gelegenheitsstrukturen. teressante Anregungen gegeben, die alten Um diese in alltäglichen Gewohnheiten nichtnachhaltigen Gewohnheiten zu über- eingeschriebenen Hemmnisse angemessen winden.

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Abschließend werden von den Verfas- Das Buch ist ein sehr gelungener, in- sern zahlreiche «Wege zu einer Kultur der teressanter und inspirierender Spagat zwi- Zukunftsfähigkeit» aufgezeigt. Stichworte schen akademischer Abschlussarbeit und hier sind beispielsweise: Sensibilisierung den dazu erforderlichen Qualitäten einer- für globale und übergreifende Zusammen- seits, und andererseits der Darlegung ei- hänge ebenso wie für Entkoppelung und ner zukunftsorientierten, im besten Sinne Begrenzung; Förderung von Methoden zur selbstreflexiven, persönlichen Haltung. Und Ermöglichung und Durchführung von sozia- das wird unaufdringlich, ohne «erhobe- len Prozessen zur kollektiven Verständigung nen Zeigefinger» bewerkstelligt. Die Studie und Aushandlung; Abkoppelung von Sach- steckt voller «Inspirationen für eine Kultur zwängen; bewusste Förderung reflexiver der Zukunftsfähigkeit» und bietet zugleich Gestaltungsmacht als Teil einer «Zweiten eine eingehende «Reflexion des Forschungs- Aufklärung», und die Thematisierung der prozesses». Manche Begriffe hätten etwas qualitativen bzw. immateriellen Sphäre von präziser definiert werden mögen; so scheint Lebensqualität (S. 608 ff.). Für das Gelingen «Widerspruch» etwas unpräzise benutzt, des Transformationsprozesses werden eine desgleichen die Begriffe Paradoxien, Prob- aufgeklärte, lebenskünstlerisch-genussvol- leme, Konflikte. Der intellektuelle Reichtum le Haltung sowie Experimentierfreude und dieses umfassenden Werkes lässt sich dar- Pioniergeist vorgeschlagen. Und die Anre- an erkennen, dass es anschlussfähig ist an gungen beziehen sich auf Individuen, aber viele moderne SozialwissenschaftlerInnen, auch auf Institutionen und «die Politik» und so beispielsweise an das Denken von Pierre deren Akteure. Bourdieu oder auch Norbert Elias. Fazit: Anstatt einer «großen Erzählung» Wer sich auf dieses Buch einlässt, verfeinert braucht es für die kollektive Zukunftsgestal- und stärkt sich zur Zukunftsfähigkeit hin. tung vielmehr das aus der Weisheit der Vie- len schöpfende «große Gespräch» (S. 646), das sich aus vielen kleinen Gesprächen in Sebastian Voigt unterschiedlichen Kontexten (Familie, Or- Tradition und Verdrängung. Über die geistes- ganisation, Gemeinde/Region usw.) zusam- geschichtlichen Wurzeln der Sozialdemokratie. mensetzt. Notwendig werden dafür mit in- Rezension zu Erler, Hans: Judentum und novativen Methoden gestaltete partizipative Sozialdemokratie. Das antiautoritäre Funda- Prozesse. Für diese zukunftsfähigen Impul- ment der SPD, Campus, Würzburg 2009, se zur Organisation von Selbstorganisation 188 S., € 19,80; Erler, Hans: Zur Aktualität wird im Buch der Begriff der «Soziopoiese» des Judentums. Vorträge 1997 bis 2010, geprägt (S. 594). «Eine Kultur der Zukunfts- Königshausen u. Neumann, Würzburg 2011, fähigkeit ist kein feststehender Zustand und 272 S., € 29,80. keine Weltformel, sondern ein permanenter, «Wir gestatten keine Ablenkung der sozi- kollektiver, offener, diskursiver Reflexions- aldemokratischen Bewegung auf antise- und Aushandlungsprozess.» (S. 53) Und hier mitische Bahnen, aber ebenso wenig eine wird ein Motto formuliert, das weite Verbrei- Ablenkung auf philosemitische Bahnen.» tung verdient hat: «Handle stets so, dass sich Dies erwiderte der Mitbegründer der öster- die Lebendigkeit umfassend erhöht!» (S. 53) reichischen Sozialdemokratie, Victor Adler,

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 165 Berichte und Rezensionen

1896 auf die Angriffe von Antisemiten, die ler nach seiner Pensionierung unmittelbar die Sozialdemokratie als «verjudet» und als der SPD beitrat, sondern vor allem auch da- «Judenschutztruppe» verleumdeten. Wäh- durch, dass er sich nachdrücklich (und er- rend die deutschsprachige Sozialdemokra- folgreich) dafür einsetzte, das Judentum als tie die wichtigste gesellschaftliche Kraft eine der geistigen Grundlagen der Sozialde- war, die gegen antisemitische Organisati- mokratie im Hamburger Parteiprogramm onen vorging, verhielt sie sich ambivalent von 2007 zu benennen. gegenüber den Vorwürfen, sie betreibe eine Die inhaltliche Begründung seines An- Politik zu Gunsten der Juden. In ihren popu- liegens führt Erler in den beiden Büchern listischen Tönen gegen die Finanzkapitalis- aus, wobei hier das Augenmerk auf die ten lief sie auch bisweilen Gefahr, selbst grundlegende Argumentationslinie in «Ju- antisemitische Denkmuster zu bedienen. dentum und Sozialdemokratie» gelegt Zugleich waren viele führende sozialdemo- werden soll. Wie der Untertitel «Das anti- kratische Politiker und Theoretiker jüdischer autoritäre Fundament der SPD» nahelegt, Herkunft. Diese Widersprüche entfalten betrachtet der Autor die Auflehnung gegen ein Spannungsfeld, dem sich Hans Erler in ungerechtfertigte Autorität und die Einrich- zwei Büchern zuwendet, die das Resümee tung der Welt nach humanistisch-aufkläre- seiner über 20 Jahre andauernden Ausein- rischen Maßstäben als Basis des sozialde- andersetzung mit dem Judentum und des- mokratischen Weltbildes, das wiederum sen Bedeutung für die Sozialdemokratie seine Wurzel im Judentum habe. Um die- darstellen. Bereits 2009 veröffentlichte er se Verbindung ideengeschichtlich nachzu- «Judentum und Sozialdemokratie. Das an- zeichnen, liefert Erler, wie Micha Brumlik im tiautoritäre Fundament der SPD» und zwei Vorwort anmerkt, eine unkonventionelle In- Jahre später schließlich «Die Aktualität des terpretation der Schöpfungsgeschichte. Das Judentums. Vorträge 1997 bis 2010». Essen vom Baum der Erkenntnis im Paradies Hans Erler, der Sohn des ehemaligen deutet er nicht als Sündenfall, sondern als SPD-Fraktions- und stellvertretenden Par- ersten autonomen Akt des Menschen und teivorsitzenden Fritz Erler, war lange für die damit als Bedingung der Möglichkeit ge- CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung tätig. schichtlicher Entwicklung überhaupt. Erst Im Rahmen seiner dortigen Tätigkeit wur- der Verstoß gegen die göttlichen Gebote, so de ihm Ende der 1980er-Jahre die Aufga- Erler, ermögliche dem Menschen die Ausbil- be übertragen, zusammen mit Ernst Lud- dung eines moralischen Gewissens und der wig Ehrlich einen deutsch-jüdischen Dialog Fähigkeit zur Reflexion: «Der Ungehorsam zu initiieren. Damit begann seine intensive ist somit – aus religiös-jüdischer Sicht – das Beschäftigung mit dem jüdischen Leben in hervorragendste Attribut der Freiheit des Deutschland nach dem Holocaust. Die Aus- Menschen, Voraussetzung der Erkenntnis einandersetzung dehnte Erler zunehmend von gut und böse, der Liebe und – des Dia- auf die Gebiete der jüdischen Religion und logs. Erst der Ungehorsam macht den Men- Philosophie aus, womit sie sukzessive eine schen zum Menschen und erzwingt den Dia- immer stärkere politische Bedeutung für log.» (S. 31) Die Bejahung des Widerspruchs seine eigene Entwicklung erhielt. Deutlich unterscheide das Judentum von allen ande- wurde dies nicht nur daran, dass Hans Er- ren Religionen, die jeweils die Unterwer-

166 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Berichte und Rezensionen fung unter den Willen Gottes forderten. jüdischen Staates erkannt hätte, die Erler Nicht zuletzt deshalb habe die Auflehnung ebenfalls unterstreicht. gegen die göttliche Autorität zuerst den Zu Recht seien Hess’ Gebeine deshalb Antijudaismus und schließlich in der Mo- im Jahr 1961 nach Israel überführt worden derne den Antisemitismus hervorgebracht. und zu Recht hätten die Kölner Sozialde- Aufgrund der feindlichen Umgebung sei mokraten bereits lange zuvor auf seinem das Judentum über Jahrhunderte gezwun- Grabstein folgende Inschrift anbringen las- gen gewesen, seinen religionsphilosophi- sen: Vater der deutschen Sozialdemokratie. schen Nukleus – die zur Freiheit drängende Auch Karl Marx und Ferdinand Lassalle sei- Rebellion gegen Ungerechtigkeit – zu ver- en stark von ihren Elternhäusern geprägt bergen. Dennoch tauche dieses Bestreben worden und hätten die jüdische Ethik in immer wieder auf, wie Erler am Beispiel so ihre politische Philosophie übernommen. unterschiedlicher Personen wie Leo Baeck, Bei beiden sei das Ziel der Beendigung Martin Buber, Hannah Arendt und Theodor der antijüdischen Diskriminierung an die W. Adorno aufzuzeigen versucht. Bei allen Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft Differenzen basiere ihr Denken auf Wider- gekoppelt gewesen: ohne Befreiung der spruch und Dissens, auf der Ablehnung au- Menschheit keine wirkliche Emanzipation toritärer Verhältnisse und dem Wunsch, die der Juden. In Bernsteins Reformismus, so Er- Gesellschaft nach den Prinzipien der Dialo- ler, habe sich darüber hinaus frühzeitig die gizität und des gegenseitigen Respekts ein- Ablehnung autoritärer Strömungen des So- zurichten. zialismus ausgedrückt, die das antiautoritä- Besonders nach der Ermordung der eu- re Fundament pervertiert hätten. ropäischen Juden im Holocaust, den Erler Nach dem Zusammenbruch des Realso- mit dem Begriff Dan Diners als «Zivilisati- zialismus – vor allem aber als Konsequenz onsbruch» fasst, seien diese Grundsätze aus dem Massenmord an den Juden – müs- aktueller denn je, gerade auch für die So- se sich die Sozialdemokratie wieder ihrer his- zialdemokratie. Sie solle sich endlich wie- torischen und geistigen Wurzeln besinnen, der ihrem lange Zeit verdrängten, jüdisch gerade weil das Streben nach einer solidari- grundierten Erbe zuwenden. Offenkundig schen Einrichtung der gesellschaftlichen Ver- werde diese Traditionslinie anhand der hältnisse nichts an Dringlichkeit eingebüßt wichtigsten Gründungspersönlichkeiten habe. Hierzu bedürfe es, so die Überzeu- des Sozialismus und der deutschsprachi- gung Erlers, des Widerspruchs, der Rebellion gen Arbeiterbewegung: Moses Hess, Karl gegen illegitime Herrschaft und der gegen- Marx, Ferdinand Lassalle und Eduard Bern- seitigen Anerkennung als vernunftbegabte stein. Zustimmend zitiert Erler aus Hess’ Individuen. Kategorisch formuliert er: «Die Text Mein Messiasglaube: «Das Judentum Antwort auf Auschwitz kann – für Nichtju- kennt aber keinen Kastengeist und keine den – nur ‹Judentum› heißen» (S. 141), und Klassenherrschaft. Der Geist des Judentums zwar in dem dargelegten Sinn. ist ein sozialdemokratischer von Haus aus.» Das zweite Buch Erlers, eine Sammlung (S. 89). Auch sei Hess einer der ersten ge- von Vorträgen aus mehr als einer Dekade, wesen, der aufgrund der Hartnäckigkeit des beleuchtet einige der dargelegten Aspekte Antisemitismus die Notwendigkeit eines noch genauer. Allerdings enthält es wegen

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 167 Berichte und Rezensionen des Formats viele Redundanzen und ein Helga Grebing sorgfältigeres Lektorat wäre wünschenswert Wandel durch Annäherung? Überlegungen gewesen. Sein fundamentales Ansinnen, die zu Engelberg, Ernst: Wie bewegt sich, was antiautoritären Traditionen der Sozialdemo- uns bewegt? Evolution und Revolution in der kratie wiederzubeleben, scheint wahrlich Weltgeschichte. Herausgegeben, bearbeitet auf der Tagesordnung zu stehen. Plausibel und ergänzt von Achim Engelberg. Mit einer erläutert Erler den starken Einfluss, den Per- Einführung von Peter Brandt, Franz Steiner sonen jüdischer Zugehörigkeit auf die Ent- Verlag, Stuttgart 2013, 229 S., € 44,00 stehung und Entwicklung der Arbeiterbe- Achim Engelberg, der Sohn (geboren 1965), wegung ausübten. Dabei ist es nicht nötig, gibt zu bedenken, ob nicht das Spätwerk sei- seiner Interpretation in allen Punkten zu fol- nes Vaters, Ernst Engelberg (geboren 1909, gen. So ließe sich bezweifeln, dass es einer verstorben 2010) für «globalhistorische Stu- spezifischen Interpretation der Schöpfungs- dien belangvoll werden» könnte: die Ge- geschichte bedarf, um die Relevanz des jü- schichte «national wie weltweit als Ablauf dischen Denkens für die Idee der mensch- von Gesellschaftsformationen zu sehen und lichen Emanzipation zu unterstreichen. Da zu erzählen». Das könnte, meint er, für eine Erler den Fokus außerdem auf die ideenge- Neuausbreitung des Marxismus im Zuge schichtliche Kontinuität legt, blendet er den der «Krise des finanzmarktgeleiteten digi- oftmals widerspruchsvollen Geschichtsver- talen Kapitalismus» beitragen (Zitate S. 9). lauf aus. Ein Autor kann aber niemals alle Ein Beitrag also der Geschichtswissenschaft Facetten eines Themas behandeln und den zur Erklärung einer Gegenwart und ihrer zu- Büchern kommt ohne Zweifel das Verdienst kunftsweisenden Elemente? Vielleicht auch zu, einen meist vernachlässigten Aspekt um- gleichzeitig ein Beitrag zum gegenseitigen fassend zu diskutieren. Ob Hans Erler mit Verstehen, zur Annäherung, ja, zum «Ver- seinen intellektuellen Interventionen Ein- söhnen» der Historiker einst in Deutschland fluss auf die langfristige Entwicklung der Ost und Deutschland West? SPD zu nehmen vermag, bleibt abzuwarten. Peter Brandt gibt (S. 13–19) die dazu sti- Mit dem Hamburger Programm von 2007 mulierende «Einführung». Er stellt Ernst En- wurde bereits ein Anfang gemacht. Anläss- gelberg als einen «der bedeutendsten mar- lich des 150. Jahrestags der Gründung des xistischen Historiker deutscher Zunge» vor, Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der als einen «Aufklärer durch und durch und am 23. Mai 2013 begangen wurde, stellt zugleich Erbe des Denkens der deutschen sich die Frage nach den historischen Wur- klassischen deutschen Philosophie verpflich- zeln der deutschen Sozialdemokratie erneut. tet». Er spricht vom Wachsen seiner eigenen Die Lektüre der Bücher Erlers könnte dabei «Engelberg-Euphorie» angesichts dessen Bis- als Wegweiser dienen. marck-Biografie, die er «ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung» nennt. Seine Sympa- thie für «den großen deutschen Historiker» wuchs, als dieser 1985 erklärte, die «Deut- sche Frage» sei noch nicht erledigt. Haben da jene Historiker, die alles immer noch an- ders sehen, etwas verpasst? Sollten sie nicht

168 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Berichte und Rezensionen vielleicht die Chance ergreifen, sich von ihrer Als Ernst Bloch und Hans Mayer wie andere nachhaltigen Distanz heilen zu lassen? auch gehen oder dazu gezwungen werden, Ich will es versuchen, denn ich gehöre zu bleibt Engelberg, zuletzt von 1969 bis 1974 denen, die es anders sehen – aus subjektiv als Leiter der Forschungsstelle für Methodo- persönlichen, aber nicht weniger aus objek- logie und Geschichte der Geschichtswissen- tiv politischen Gründen. Wer ist Ernst Engel- schaft der Akademie der Wissenschaft der berg konkret und nicht auf einen denkmals- DDR in Berlin. ähnlichen Podest erhoben? Er wurde 1909 Ernst Engelberg bleibt dabei: bei sei- im Badischen in eine erzsozialdemokratische ner positiven Bewertung der Oktoberrevo- Familie hinein geboren. Der Großvater war lution und Lenins; erst im April 1989, lässt ein 1848er Revolutionär, der Vater, ein Dru- er sich an seinem 80. Geburtstag öffentlich ckereibesitzer, hatte 1898 in Haslach im Kin- auf eine vorsichtige Stalin-Kritik ein. Es ist zigtal die SPD gegründet. Was tut der Enkel Achim Engelberg, der einräumt: «Bei der bzw. der Sohn, der Geschichte studiert? Er Frage, warum der Sozialismus scheiterte, tritt im Mai 1928, also 19 Jahre alt, nach sei- sind seine Schriften gerade auch im Ver- nen eigenen Worten «in die revolutionäre Ar- gleich zu anderen Marxisten blass.» (S. 168) beiterbewegung» ein; das hieß für ihn in den Konsequenterweise bleibt Engelberg nach Kommunistischen Jugendverband und zwei der Wende auch politisch dort stehen, wo Jahre später in die KPD. Er sieht darin die er stand: bei der sich in die PDS umbenen- «Verbindung von Patriotismus und Interna- nenden SED. Achim Engelberg bemüht sich tionalismus» (S. 170). Das alles soll die stali- nun zu beweisen, dass und weshalb dies nistische KPD gewesen sein, aus der die wirk- nicht der ganze Engelberg ist – an Hand lichen Kommunisten bereits ausgeschlossen von Texten aus dem Spätwerk seines Va- waren oder sich von ihr getrennt hatten? Da ters. Seine Methode ist zumindest merkwür- muss viel ideologische Blindheit im Spiel ge- dig zu nennen, jedenfalls im Vergleich zu wesen sein bei dem jungen begabten Stu- den Kriterien der üblichen Editionsarbeit. denten. 1934 kann er gerade noch promo- Er setzt Textteile zusammen, er deutet sie, vieren mit einer Dissertation über Bismarcks wie er sie versteht, und ergänzt sie teilweise Sozialpolitik; dann wird er verhaftet und zu durch eigene Beiträge und Erläuterungen. 18 Monaten Zuchthaus verurteilt. Danach Ich will offen lassen, ob ein solches Vorge- gelingt ihm die Flucht in die Schweiz, wo er hen wissenschaftlich legitimierbar ist. Hier in Genf bei Max Horkheimer in dessen Insti- geht es um die Auseinandersetzung mit der tut für Sozialforschung arbeiten kann. 1940 Antworten der beiden Engelbergs; wie sich geht er durch Vermittlung von Horkheimer bewegt, was uns bewegt. nach Istanbul, wo er Kontakt zu Ernst Reu- Zentraler Fixpunkt der Theorie der Ge- ter findet. Und was macht er nach dem Ende schichte ist bei Ernst Engelberg die Dialek- der nationalsozialistischen Diktatur? 1948 tik. Der Begriff taucht in vielen Varianten kehrt er nach Deutschland, in die SBZ, zu- und Kombinationen immer wieder auf: «Di- rück und wird Mitglied der SED. Seine wis- alektik» selbstverständlich nicht im trivialen senschaftliche und politische Karriere als ei- Verständnis, auch nicht Hegelscher Quali- ner der einflussreichsten Historiker der DDR tät, sondern Marx und vor allem Engels fol- beginnt 1949 an der Universität Leipzig. gend: Der Widerspruch löst einen Prozess

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 169 Berichte und Rezensionen der historischen Durchsetzung der logisch republik, vor allem sein Verleger und Duz- stärkeren Kräfte aus, die zur Triebkraft der freund Wolf Jobst Siedler, mit diesem Werk historischen Bewegung werden. Es kommen sei der Anschluss der DDR-Historiografie bei Ernst Engelberg vor: die Dialektik von an jene in der Bundesrepublik erreicht. Das Absoluten und Relativem, von Subjekt und hat aber nicht gestimmt. Für Engelberg Objekt, von Vernunft und Gefühl, von Not- blieb Bismarck der Urpreuße und reaktio- wendigkeit und Zufall, von Wesen und Er- näre konservative pommersche Junker; aber scheinung, Struktur und Ereignis, Produktiv- eine merkwürdige Dialektik der Geschichte, kräften und Produktionsverhältnissen, von ihre «List» sozusagen, ließ ihn mit der von Evolution und Revolution, Revolution und ihm realpolitisch betriebenen Reichsgrün- Reform, Revolution und Konterrevolution, dung, die zum Motor der industriekapitalis- Angriff und Verteidigung. tischen Expansion Deutschlands wurde, die Ich bin nicht sicher, ob ich alle «dialekti- «Revolution von oben» erfolgreich durchfüh- schen Paare» gefunden habe; ich habe auch ren. Bismarck war nach Engelbergs Ansicht Zweifel, ob sie wirklich alle inhaltlich als wi- nicht der erste konservative Revolutionär im dersprüchlich definiert werden könnten. Ent- modernen Sinne, das waren auch die preu- scheidend ist jedoch etwas anderes: in der ßischen Reformer nach 1806. Engelberg Permanenz der Dialektik steckt eine Zielfüh- setzt also konservative Akteure als eine Art rung, nämlich die zum Sieg des Proletariats, revolutionäres «Ersatzproletariat» in der his- zur Hegemonie, ja zur Verwirklichung des So- torischen Bewegung in Funktion. zialismus am Ende dann doch. Vielleicht zum Wer den Begriff «Revolution» als alterna- Ende der Bewegung der Geschichte? Aus tiv zu füllende Hülle benutzt, mag so argu- dieser beschworenen Dialektik wurde bereits mentieren können. Wer ihn aber mit eman- mehrmals nichts, im Gegenteil: statt Sozialis- zipatorischen Elementen verknüpft sieht, mus kam die Barbarei oder abgeschwächte wird dies nicht tun können. Das Einschwen- Formen von ihr, die den Kapitalismus do- ken der Liberalen auf Bismarcks Reichs- minant hielten. Engelbergs allmächtige Be- gründungspolitik war verbunden mit der rufungsinstanz sind Marx und Engels. Die Umsetzung ihrer Prioritäten – statt Freiheit Auseinandersetzung mit den Kritikern bei- und durch Freiheit zur Einheit hieß es nun: der, die vielen Versuche, Dialektik als Erklä- erst Einheit und dann Freiheit. Darin spie- rungszentrum für die Bewegungskräfte ge- gelte sich nicht ein Akt der Unterwerfung, sellschaftlicher Formationen zu modifizieren, sondern ihm lag ein effizientes Herrschafts- z. B. Horkheimers und Adornos «Dialektik der bündnis zu Grunde. Bismarck konnte einen Aufklärung» als ein Prozess der Selbstzerstö- monarchisch-autoritären großpreußischen rung oder Adornos «Negative Dialektik», blei- Staat etablieren, die sich als liberal kenn- ben unerwähnt, unverarbeitet. zeichnende Bourgeoisie hatte den erstreb- Eine große Bedeutung in seiner Theorie ten ökonomischen Freiraum bekommen und der historischen Bewegung gibt Engelberg konnte in ihrem Interesse herrschen lassen, dem Faktor «Revolution von oben». Sie wird auch und gerade gegen die sich herausbil- zum zentralen Erklärungsmodus in seiner dende Arbeiterklasse. Was von Engelberg Bismarck-Biografie verwendet. Als diese er- (übrigens im Gefolge von Engels) «Revoluti- schien, meinten viele in der 1949er Bundes- on von oben» genannt wird, war ein erfolg-

170 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Berichte und Rezensionen reicher Coup, für den die Konservativen in wenn auch dynamisch bewegten Struktu- ihrer Geschichte bis ins 20. Jahrhundert hi- ren» (S. 12) der methodische Schlüssel. nein die ihre Identität bestimmende Formel In den Diskussionen mit ehemaligen gefunden haben: Konservativ sein, heißt DDR-Historikern fällt immer wieder auf, an der Spitze des Fortschritts marschieren dass sie erklären, dass in der Spätzeit der (wenn es Herrschaft stabilisierend passt). DDR auch unter Historikern ein «neues Den- Ernst Engelberg hat uns selbst «verra- ken» zumindest angefangen hätte, wie in ten», warum für ihn die Kategorie «Revolu- den anderen Geisteswissenschaften eben- tion von oben» eine solche zentrale Bedeu- falls. Das mag ja sein, wenn es auch zu spät tung hat. Die Frage der «Revolution von war. Nur, die bundesrepublikanischen Histo- oben» hängt seiner Meinung nach unlöslich riker haben davon fast nichts wahrnehmen mit der «Dialektik von Evolution und Revo- können; das zeigte sich bei dem ersten und lution» zusammen: «Leugnet man nämlich einzigen offiziellen Treffen, zu dem die His- aus einer Art politischer Schamhaftigkeit, torische Kommission des SPD-Vorstandes die dem Preußen Bismarck um alles in der im März 1987 Historiker aus der DDR nach Welt keinen revolutionären Zug zubilligen Bonn eingeladen hatte, darunter auch Ernst will, die Revolution von oben, dann öffnet Engelberg, der über das Thema sprach: «Die man dem evolutionistischen Reformismus Evolution in der Geschichte macht früher Tür und Tor.» So schrieb Engelberg 1980 oder später eine Revolution notwendig.» in einer Aufsatzsammlung (Theorie, Empi- (Vgl. Susanne Miller, Malte Ristau (Hrsg.), rie und Methode in der Geschichtswissen- Erben deutscher Geschichte, 1988). Es kann schaft, S. 283). Revolution muss sein, und durchaus sein, dass vielleicht das eine oder sei sie «von oben»; Evolution taugt nur, andere Signal aus der DDR nicht erkannt wenn sie die Revolution, gleich in welcher wurde. Aber während Reformansätze in der Form, provoziert. Nichts taugt der «evoluti- Geschichtswissenschaft aus Polen, Ungarn onistische Reformismus» – der sozialdemo- und der Tschechoslowakei, ja auch aus der kratischen Arbeiterbewegung, so darf man Sowjetunion, auf den jährlichen Tagungen wohl ergänzen. auf dem «neutralen Boden» Österreichs in 1996 hat Ernst Engelberg rückblickend Linz diskutiert wurden, war die DDR dort bestätigt, dass seine methodologischen Re- immer nur durch handfeste wissenschaftli- flexionen zwar als eine Art Modernisierung che Funktionäre vertreten. der DDR-Historiografie betrachtet werden Es ist daher zu begrüßen, dass Achim En- können und keineswegs als eine liberali- gelberg die Leistungen seines Vaters dessen sierte geschichtspolitische Linie: Wenn man Nachwelt bekannt macht und dass er auf will, aber das sagt er nicht, eine Variante diese Weise einen Beitrag liefert, die noch der «Revolution von oben». Es ging um das ausstehenden Dispute auf eine anregende fortschrittliche Erbe der deutschen Natio- Weise auf den Weg zu bringen. Es bleibt al- nalgeschichte, das die DDR/SED für sich lerdings auch ein Hauch von Betroffenheit reklamierte. Und in diesem Kontext war die darüber, dass ein so beeindruckender Histo- Aufdeckung des «dialektischen Zusammen- riker wie Ernst Engelberg nicht seinen Weg hangs zwischen singulären Geschehen, per- zur Wende gefunden hat, sondern stehen ge- sönlichen Handelns und länger währenden, blieben ist – in einer DDR, die zerfiel.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 171 AUTORINNEN UND AUTOREN

Jennifer L. Allen (*1984), MA, Doktorandin im Fach Geschichte an der University of Cali- fornia-Berkeley. Bereitet derzeit eine Doktorarbeit zur kulturellen und politischen Dezentra- lisierung Deutschlands während den 1980er- und 1990er-Jahren mit einem Schwerpunkt auf die Idee einer «nachhaltigen Utopie» vor.

Heinz-J. Bontrup, Prof. Dr., Dipl.-Ökonom, Dipl.-Betriebswirt, Wirtschaftswissenschaftler an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, Campus Recklinghausen und Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Letzte Buchveröffentlichung: Krisenkapitalis- mus und EU-Verfall, Köln 2013.

Udo Bullmann (*1956), Dr., ist Politikwissenschaftler, Mitglied des Wirtschafts- und Wäh- rungsausschusses und Vorsitzender der SPD-Abgeordneten im EU-Parlament.

Klaus Faber, Staatssekretär a. D., Rechtsanwalt in Potsdam; Vorsitzender des Wissen- schaftsforums der Sozialdemokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, Kuratoriumsmitglied des Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam sowie des Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Pu- blikationen zu juristischen und bildungspolitischen Fragen, zu Nahost-, Islam- und Antise- mitismusthemen; u. a.: Peter Glotz/Klaus Faber, Grundgesetz und Bildungswesen, in: Ben- da/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Berlin, New York, 1995; Neu-alter Judenhass, Berlin, 2. Aufl. 2007, Mitherausgeber und Koautor.

Michael Fischer (*1975), MA, Soziologe und Sozialpsychologe. Referent für die Arbeitsbe- reiche Gewerkschaften und Mitbestimmung in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn.

Gregor Fitzi (*1963), Dr. Habil., ist Privatdozent für allgemeine Soziologie an der Univer- sität Potsdam. Von 2010 bis 2014 Senior Researcher am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg. DFG Projekt: Die Entwicklung von Servicerobotern und humano- iden Robotern im Kulturvergleich – Europa und Japan. Letzte Veröffentlichung:Grenzen des Konsenses. Rekonstruktion einer Theorie transnormativer Vergesellschaftung. Weilerswist: Velbrück, 2014.

Edgar Göll (*1957), Dr., Sozialwissenschaftler, ist als Zukunftsforscher und Dozent in Ber- lin vor allem zum Themenfeld Nachhaltige Entwicklung und Governance tätig.

172 Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 Autorinnen und Autoren

Helga Grebing (*1930), Prof. Dr., Professorin (em.) für die vergleichende Geschichte der in- ternationalen Arbeiterbewegung und die soziale Lage der Arbeiterschaft, Mitglied der His- torischen Kommission beim SPD-Parteivorstand. (Mit-)Herausgeberin der perspektiven ds. Veröffentlichungen u. a.:Freiheit, die ich meinte. Erinnerungen an Berlin. Verlag für Berlin- Brandenburg: Berlin 2012; Willy Brandt. Der andere Deutsche; Wilhelm Fink Verlag: Mün- chen 2008 und Die Deutsche Revolution 1918/19, vorwärts|buch: Berlin 2008.

Horst Heimann (*1933), Dr., Politikwissenschaftler und HDS-Vorstandsmitglied. Zahlrei- che Beiträge zu Begründung über den «Demokratischen Sozialismus».

Dierk Hirschel (*1970), Dr., Bereichsleiter Wirtschaftspolitik bei der Dienstleistungsgesell- schaft Ver.di, Mitglied der SPD-Grundwertekommission.

Dieter Klein, Prof. Dr. rer. oec., seit der Emeritierung an der Humboldt-Universität tätig in der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit: Kapitalis- mustheorie, Krisen im neoliberalen Kapitalismus, Transformation. Jüngste Buchpublikation «Das Morgen tanzt im Heute. Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus», 2013.

Tobias Kühne (*1974), MA, Historiker und Wissenschaftlicher Bibliothekar. Redaktionslei- ter der perspektiven ds. Schließt derzeit ein Promotionsvorhaben zur Geschichte des Netz- werks «Neu Beginnen» in der Berliner Nachkriegs-SPD ab.

Ludwig, Kira (*1965), Historikerin, Industriekauffrau, Projektmitarbeiterin am Historischen Institut der Universität Rostock.

Maurer, Andreas, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft und Politik der Europäischen Integration an der Universität Innsbruck.

Michael Müller (*1948), Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschland und langjäh- riger SPD-MdB.

Kai Niebert (*1979), Prof. für Nachhaltigkeit und Naturwissenschaftsdidaktik an der Leu- phana-Universität Lüneburg und (ab August 2014) an der Universität Zürich.

Terence Renaud (*1985), MA, Doktorand im Fach Geschichte an der University of Califor- nia-Berkeley. Bereitet derzeit eine Doktorarbeit zum Begriffs- und Generationswandel des deutschen Sozialismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor.

Bernd Rother (*1954), Dr., Historiker, Mitglied der Historischen Kommission beim SPD-Par- teivorstand, neueste Publikation (als Hrsg. und Autor): Willy Brandts Außenpolitik, Wiesba- den (Springer VS) 2014.

Perspektivends 31. Jg. 2014 / Heft 1 173 Autorinnen und Autoren

Klaus-Jürgen Scherer (*1956), Dr. phil., Geschäftsführer des Kulturforums der Sozialdemo- kratie; Redakteur der Zeitschrift «Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte». Vorstandsmitglied der HDS. Veröffentlichungen u. a.: Weiterdenken. Begegnungen mit Wolfgang Thierse, Ber- lin 2008 (Mitherausgeber); Vorarbeiten für eine neue Mehrheit. Sozialdemokratische Think Tanks – Unterschiede und Gemeinsamkeiten. In NG/FH 4/2014.

Klaus Schönhoven (*1942), Prof. Dr. (em.) für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte; Mitglied der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Gewerkschaften und der Sozialdemokra- tie im 19. und 20. Jahrhundert; zur Sozialgeschichte der Weimarer Republik und der Bun- desrepublik; zur Vergangenheits- und Erinnerungspolitik in Deutschland und Europa.

Caroline Somnitz (*1987), hat Volkswirtschaftslehre in Berlin studiert und ist Referentin für Wirtschaft und Finanzmarkt im Brüsseler Büro von Udo Bullmann.

Sebastian Voigt (*1978), Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeit- geschichte, München – Berlin; Lehrbeauftrager an der Universität Leipzig. Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit liegen auf den Gebieten der jüngsten Gewerkschaftsge- schichte, der Geschichte des Antisemitismus, der französischen Nachkriegsgeschichte und der Geschichte kommunistischer Dissidenz.

Werner Wobbe (*1948), Dr. der Sozialwissenschaft, arbeitete in der Europäischen Kom- mission Brüssel, in den Abteilungen Industrie und Unternehmen und in der Forschung und Innovation. Er leitete die Abteilung wissenschaftliche Vorausschau und unterstützte hoch- rangige ökonomische Expertengruppen im Bereich der Wissensgesellschaft, der Dienstleis- tungen, des Benchmarking und der Innovation. Autor zahlreicher Berichte und Artikel so- wie Herausgeber von Büchern zum Thema Europa.

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