Vierteljahrshefte Für Zeitgeschichte Jahrgang 57(2009) Heft 2
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Jahrgang 57 (2009), Heft 2 Inhaltsverzeichnis: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv.html URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2009_2.pdf VfZ-Recherche: http://vfz.ifz-muenchen.de Jahrgang 57 (2009), Heft 2 Inhaltsverzeichnis: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv.html URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2009_2.pdf VfZ-Recherche: http://vfz.ifz-muenchen.de 171 Was begründet in modernen Massengesellschaften Individualität und Identität? Rechte wie linke Kultur- und Konsumkritiker waren sich – zumindest in Europa und hier vor allem in Deutschland – lange einig, daß der Herausbildung autonomer, eigenverantwort- licher Persönlichkeiten in der schönen neuen Welt der organisierten Vermassung und Vermarktung enge Grenzen gesetzt seien. In den Vereinigten Staaten hingegen entwik- kelte sich bereits im 19. Jahrhundert ein anderes Denkmodell, das die Massen- und Konsumgesellschaft positiv konnotierte und insbesondere auch die Individualitätsge- winne durch Konsum betonte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so Andreas Wirsching, gewann das konsumistische Paradigma auch in der Alten Welt eine Art kultu- relle Hegemonie, während die traditionelle Kultur- und Konsumkritik fast ganz ver- stummte. Der in Augsburg lehrende Historiker beschreibt diesen spektakulären Paradig- menwechsel und spürt auch seinen Ursachen nach, die er in tiefgreifenden gesellschaftli- chen Umwälzungsprozessen erkennt. In den postindustriellen Gesellschaften des Westens, so seine These, werden Eigendefinition und Selbstbilder weitaus weniger als früher durch Arbeit konstruiert. Immer größeres Gewicht gewinnen dagegen die indivi- duellen Chancen auf dem Markt der Freizeit und des Konsums. Andreas Wirsching Konsum statt Arbeit? Zum Wandel von Individualität in der modernen Massengesellschaft Die moderne Hausfrau hat eine Waschmaschine erworben – das bedeutet eine nachhaltige Rationalisierung der Hausarbeit, was wiederum Zeit spart. Wie aber wird die Hausfrau die gewonnene Zeit verbringen? Sie wird den Fernseher anstel- len und sich die TV-Werbung für Waschmaschinen ansehen1. In diesem ironisch zugespitzten Bild der modernen Konsumgesellschaft, das Jean Baudrillard 1970 zeichnete, verschränken sich Arbeit und Konsum in spezifi- scher Weise. Wir sehen das gleichsam zur Ikone gewordene Sinnbild des fordisti- schen Modells, auf dem die Wohlstandsdynamik nach 1945 beruhte. Rationali- sierte und taylorisierte Arbeit ermöglicht höhere Produktivität, höhere Produkti- vität ermöglicht höhere Löhne, die wiederum die Massenkaufkraft steigern. Im Idealfall erlaubt dieser Mechanismus eine neue Lebensform, einen Standard 2,in dem sich Arbeit und Konsum ausbalancieren: ein lebenslanger industrieller 1 Vgl. Jean Baudrillard, La société de consommation, Paris 1970, S. 240. Der vorliegende Bei- trag geht zurück auf Vorträge, die ich am 5. 7. 2006 im Historischen Seminar der Universität Freiburg und am 11. 6. 2008 im Institut für Zeitgeschichte gehalten habe. Für die kritischen Diskussionen und Anregungen sei gedankt. 2 Vgl. hierzu Andreas Wirsching, Erwerbsbiographien und Privatheitsformen. Die Entstandardi- sierung von Lebensläufen, in: Thomas Raithel/Andreas Rödder/Andreas Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jah- ren, München 2009, S. 83–97. VfZ 2/2009 © Oldenbourg 2009 DOI 10.1524/vfzg.2009.0040 Jahrgang 57 (2009), Heft 2 Inhaltsverzeichnis: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv.html URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2009_2.pdf VfZ-Recherche: http://vfz.ifz-muenchen.de 172 Aufsätze Arbeitsplatz für den alleinverdienenden Mann; Hausfrauenehe und Kindererzie- hung für die Frau und Mutter – am besten mit einem modernen Haushalt, Waschmaschine und Fernseher inklusive. Auf der Basis eines gesicherten Arbeits- einkommens expandieren Freizeit und Konsum. Während der 1950er und 1960er Jahre entwickelte dieser Standard in praktisch allen westlichen Industrie- gesellschaften formative Kraft, er prägte die Lebensläufe von Millionen von Män- nern und Frauen. Arbeitsgesellschaft und Konsumgesellschaft stabilisierten sich in einer nie gekannten Wohlstandsbalance. Wahrscheinlich – so ließe sich Baud- rillards Bild noch erweitern – arbeitet der Ehemann in einem Elektrokonzern, der Waschmaschinen oder Fernseher herstellt. Für die Kulturkritik der 1950er bis 1970er Jahre allerdings war dieses Leitbild ein Stein des ständigen Anstoßes. Sie betrachtete beides – die Arbeit wie den Konsum – als entfremdete Lebensäußerungen, die authentische Individualität nicht mehr zuließen. Der „Habitus, der unter dem Zwang fremdgeregelter Arbeitsver- fahren entsteht“, so erklärte zum Beispiel Jürgen Habermas 1956, werde nun uni- versell. Das „bedeutet, daß diese Arbeitshaltung, als Konsumhaltung verkleidet, nun auch alle übrigen Lebensbereiche besetzt und mit der ihr eigentümlichen Entfremdung überzieht“3. Der hiermit angesprochene, vieldeutig-widersprüchliche Zusammenhang zwi- schen Arbeit, Konsum und Individualität ist der Gegenstand der folgenden Aus- führungen. Sie knüpfen an einen unübersehbar mächtigen Trend der neueren Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften an. Tatsächlich hat das Paradigma der Konsumgesellschaft in jüngster Zeit eine überaus breite Rezeption erfahren und eine Fülle von gehaltvollen empirischen Einzelstudien angeregt4. Darüber hinaus spielt es mit guten Gründen eine zunehmend größere Rolle bei der Deu- 3 Jürgen Habermas, Notizen zum Mißverhältnis von Kultur und Konsum, in: Merkur 10 (1956), S. 212–228, hier S. 221; vgl. auch ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. II, Frank- furt a. M. 1981, S. 523. 4 Die Literatur über die Entfaltung und die Einzelaspekte der Konsumgesellschaft ist überaus vielfältig, breit gestreut und kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Einflußreich Neil McKendrick/John Brewer/J. H. Plumb, The Birth of the Consumer Society: The Commerciali- zation of Eighteenth-Century England, London 1982, die den Beginn der modernen Konsum- gesellschaft bereits auf das England des 18. Jahrhunderts datieren möchten. Neuere Überblicke stammen von Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000; Peter N. Stearns, Consumerism in World History. The Global Transformation of Desire, London 2001; Heinz-Gerhard Haupt, Konsum und Handel. Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2003; Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S. 87–94; Christian Kleinschmidt, Konsumgesellschaft, Göttingen 2008. Wichtige Sammelbände: Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hrsg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt a. M. 1997; Hartmut Berghoff (Hrsg.), Konsumpolitik. Die Regulierung des privaten Verbrauchs im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999; Martin Daunton/Matthew Hilton (Hrsg.), The Politics of Consumption. Material Culture and Citizenship in Europe and America, Oxford u. a. 2001; Michael Prinz (Hrsg.), Der lange Weg in den Überfluß. Anfänge und Entwicklung der Konsum- gesellschaft seit der Vormoderne, Paderborn 2003; Reinhold Reith/Thorsten Meyer (Hrsg.), „Luxus und Konsum“ – eine historische Annäherung, Münster u. a. 2003. Mit vergleichender Perspektive auf den Durchbruch der Konsumgesellschaft in Westeuropa nach 1945 Sabine Hau- VfZ 2/2009 Jahrgang 57 (2009), Heft 2 Inhaltsverzeichnis: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv.html URL: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2009_2.pdf VfZ-Recherche: http://vfz.ifz-muenchen.de Andreas Wirsching: Konsum statt Arbeit? 173 tung und historischen Einordnung der modernen westlichen Gesellschaften5. Allerdings ist dies keineswegs ein selbstverständlicher Vorgang; vielmehr bedarf er der Erläuterung, der historiographischen Kontextualisierung und zuletzt wohl auch eines kritischen Kommentars. Ein erster Gedankengang beschäftigt sich mit unterschiedlichen Traditionen der Konsumkritik. Im einem zweiten Teil wird auf frühere konsumaffirmative Tra- ditionen hinzuweisen und zu zeigen sein, wie sich die Stoßkraft der Kritik allmäh- lich verflüchtigte und zumindest seit den 1980er Jahren einer weitgehenden Akzeptanz des amerikanischen Modells des consumerism Platz machte. Drittens schließlich wird ein Deutungsmodell angeboten, das nach den Tiefenkräften die- ses Wandels fragt. Die wesentliche Ursache scheint nämlich in einer langfristigen historischen Verschiebung zu liegen. In den modernen Massengesellschaften ist es immer weniger die Arbeit, die die Konstruktion von Individualität erlaubt, als vielmehr der Konsum, über dem sich die Identität des einzelnen konstruiert und bestimmt. Abschließend wird darüber nachzudenken sein, wieweit diese Verschie- bung vor dem Hintergrund aktueller Tendenzen tatsächlich reicht und welche konzeptionellen Probleme sie aufwirft. Traditionen der Konsumkritik Bekanntlich hat Marx im ersten Kapitel seines berühmten „Kapitals“ vom „Fetischcharakter der Ware“ gesprochen. Damit meinte er das Eigenleben der Waren, das sich nicht mehr nach dem Gebrauchswert der Ware richtet, sondern nach einem letztendlich fiktiven Tauschwert, der, gleichsam hypertrophiert, sich in der kapitalistischen Gesellschaft vom Gebrauchswert abkoppelt und die Waren eine bloß „phantasmagorische Form“ annehmen läßt6. Für rund ein Jahrhundert begründete Marx’ Analyse den entscheidenden Strang der Konsumkritik „von links“, das heißt der Kritik am Verbrauch unter den entfremdeten Lebensbedin- gungen kapitalistischer Produktion. Seine wichtigste Fortentwicklung erfuhr die- ser Strang seit den 1920er Jahren durch die