Plenarprotokoll 16/57

Deutscher

Stenografischer Bericht

57. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 5469 C nung ...... 5467 A (FDP) ...... 5471 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 25 und 30 o ...... 5468 D (CDU/CSU) ...... 5472 D Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 5469 A 5474 C Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister AA ...... 5476 C Tagesordnungspunkt 3: Dr. (FDP) ...... 5478 C a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Bericht der Bundesregierung zum (CDU/CSU) ...... 5479 D Stand der Bemühungen um Rüstungs- kontrolle, Abrüstung und Nichtverbrei- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ tung sowie über die Entwicklung der DIE GRÜNEN) ...... 5481 D Streitkräftepotenziale (Jahresabrüs- (SPD) ...... 5483 B tungsbericht 2004) (Drucksache 15/5801) ...... 5469 B Robert Hochbaum (CDU/CSU) ...... 5485 A b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Rüstungs- kontrolle, Abrüstung und Nichtverbrei- Tagesordnungspunkt 4: tung sowie über die Entwicklung der a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Streitkräftepotenziale (Jahresabrüs- Agrarpolitischer Bericht 2006 der Bun- tungsbericht 2005) desregierung (Drucksache 16/1483) ...... 5469 B (Drucksache 16/640) ...... 5486 C in Verbindung mit b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Rahmenplan der Gemeinschaftsauf- gabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ für den Zeit- Zusatztagesordnungspunkt 2: raum 2005 bis 2008 (Drucksache 15/5820) ...... 5486 C Antrag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN: Für eine Wiederbelebung c) Antrag der Abgeordneten Hans-Michael des nuklearen Abrüstungsprozesses im Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Rahmen der deutschen EU- und G-8-Präsi- Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abge- dentschaft ordneter und der Fraktion der FDP: Imp- (Drucksache 16/3011) ...... 5469 C fen statt Töten – Praxisreife Marker- II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

impfstoffe entwickeln und anwenden d) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/1442) ...... 5486 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 19. und , Bundesminister 20. April 2005 zwischen der Bundesre- BMELV ...... 5486 D publik Deutschland und der Islami- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 5490 B schen Republik Afghanistan über die Förderung und den gegenseitigen Waltraud Wolff (Wolmirstedt) Schutz von Kapitalanlagen (SPD) ...... 5491 A (Drucksache 16/2863) ...... 5506 B Dr. (DIE LINKE) ...... 5492 C e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (BÜNDNIS 90/ zes zu dem Vertrag vom 10. August DIE GRÜNEN) ...... 5494 C 2005 zwischen der Bundesrepublik Johannes Röring (CDU/CSU) ...... 5495 C Deutschland und der Demokratischen Republik Timor-Leste über die Förde- Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) ...... 5496 D rung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen Dr. (SPD) ...... 5497 B (Drucksache 16/2864) ...... 5506 B Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5498 D f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU) . . . . . 5500 A zes zur Änderung des Transparenz- richtlinie-Gesetzes (SPD) ...... 5501 A (Drucksache 16/2952) ...... 5506 C Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 5501 D g) Erste Beratung des von der Bundesregie- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- DIE GRÜNEN) ...... 5502 C zes zur Änderung des Eichgesetzes (Drucksache 16/2920) ...... 5506 C (CDU/CSU) ...... 5504 D h) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Stärkung der Berufsaufsicht Tagesordnungspunkt 30: und zur Reform berufsrechtlicher Re- gelungen in der Wirtschaftsprüferord- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- nung (Berufsaufsichtsreformgesetz – rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- BARefG) zes zu dem Abkommen vom (Drucksache 16/2858) ...... 5506 C 6. Februar 2006 zwischen der Bundes- republik Deutschland und der Republik i) Erste Beratung des von der Bundesregie- Kroatien zur Vermeidung der Doppel- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- besteuerung auf dem Gebiet der Steu- zes über die Statistik der Verdienste ern vom Einkommen und vom Vermö- und Arbeitskosten (Verdienststatistik- gen gesetz – VerdStatG) (Drucksache 16/2955) ...... 5506 A (Drucksache 16/2918) ...... 5506 C b) Erste Beratung des von der Bundesregie- j) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten zes zu dem Vertrag vom 2. März 2005 Gesetzes zur Änderung des Versor- zwischen der Bundesrepublik Deutsch- gungsrücklagegesetzes land und der Republik Jemen über die (Drucksache 16/2855) ...... 5506 D Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen k) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/2861) ...... 5506 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom c) Erste Beratung des von der Bundesregie- 14. März 2006 zwischen der Bundesre- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- publik Deutschland und der Französi- zes zu dem Vertrag vom 16. Juni 2005 schen Republik über den Bau einer Ei- zwischen der Bundesrepublik Deutsch- senbahnbrücke über den Rhein bei land und der Arabischen Republik Kehl Ägypten über die Förderung und den (Drucksache 16/2860) ...... 5506 D gegenseitigen Schutz von Kapitalanla- gen l) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/2862) ...... 5506 A rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 III

ten Gesetzes zur Änderung von Ver- t) Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar brauchsteuergesetzen Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra (Drucksache 16/2951) ...... 5506 D Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Moratorium für m) Erste Beratung des von den Fraktionen der PC-Gebühren – Sofortige Neuverhand- CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- lung des Rundfunkgebührenstaatsver- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten trages Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Än- (Drucksache 16/3002) ...... 5507 D derung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (Drucksache 16/2969) ...... 5507 A Zusatztagesordnungspunkt 3: n) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten ten Gesetzes zur Änderung des Um- Jan Mücke, (Bayreuth), wandlungsgesetzes Patrick Döring, weiteren Abgeordneten (Drucksache 16/2919) ...... 5507 A und der Fraktion der FDP eingebrachten Gesetzes: Entwurf eines Gesetzes zur p) Erste Beratung des von der Bundesregie- Vereinfachung und Beschleunigung von rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Zulassungsverfahren für Verkehrspro- zes zu dem Rahmenabkommen vom jekte 22. Juli 2005 zwischen der Regierung (Drucksache 16/3008) ...... 5507 D der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Repu- b) Antrag der Abgeordneten Matthias blik über die grenzüberschreitende Zu- Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion sammenarbeit im Gesundheitsbereich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: und zu der Verwaltungsvereinbarung PC-Gebühren-Moratorium verlängern vom 9. März 2006 zwischen dem Bun- (Drucksache 16/2793) ...... 5508 A desministerium für Gesundheit der c) Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Bundesrepublik Deutschland und dem Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Minister für Gesundheit und Solidarität Dr. , weiterer Abgeordneter der Französischen Republik über die und der Fraktion der FDP: Keine Rund- Durchführungsmodalitäten des Rah- funkgebühr für Computer mit Internet- menabkommens vom 22. Juli 2005 über anschluss – Die Gebührenfinanzierung die grenzüberschreitende Zusammen- des öffentlich-rechtlichen Rundfunks arbeit im Gesundheitsbereich grundlegend reformieren (Drucksache 16/2859) ...... 5507 B (Drucksache 16/2970) ...... 5508 A q) Unterrichtung durch die Bundesbeauf- d) Antrag der Abgeordneten , tragte für die Unterlagen des Staatssicher- , Anna Lührmann, weite- heitsdienstes der ehemaligen Deutschen rer Abgeordneter und der Fraktion des Demokratischen Republik: Siebenter Tä- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Haus- tigkeitsbericht der Bundesbeauftragten haltskonsolidierung konsequent anpa- für die Unterlagen des Staatssicher- cken – Haushaltsgesetzgebung refor- heitsdienstes der ehemaligen Deutschen mieren Demokratischen Republik – 2005 (Drucksache 16/2998) ...... 5508 B (Drucksache 15/5960) ...... 5507 B e) Antrag der Abgeordneten Dr. Volker r) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Wissing, Frank Schäffler, Dr. Hermann Bericht des Bundeskartellamtes über Otto Solms, weiterer Abgeordneter und seine Tätigkeit in den Jahren 2003/2004 der Fraktion der FDP: Mehrwertsteuer- sowie über die Lage und Entwicklung satz für apothekenpflichtige Arzneimittel auf seinem Aufgabengebiet (Drucksache 16/3013) ...... 5508 B und Stellungnahme der Bundesregierung Tagesordnungspunkt 31: (Drucksache 15/5790) ...... 5507 C a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs s) Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Aydin, Ursula Lötzer, Barbara Höll, weite- vom 23. Mai 1997 über die Vorrechte rer Abgeordneter und der Fraktion der und Immunitäten des Internationalen LINKEN: Keine Hermes-Bürgschaft für Seegerichtshofs und zu dem Abkommen das Ilisu-Staudammprojekt vom 14. Dezember 2004 zwischen der (Drucksache 16/2995) ...... 5507 C Bundesrepublik Deutschland und dem IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Internationalen Seegerichtshof über setzung der Ratsentscheidung vom den Sitz des Gerichtshofs 19. Dezember 2002 zur Festlegung von (Drucksachen 16/1288, 16/2797) ...... 5508 C Kriterien und Verfahren für die An- nahme von Abfällen auf Abfalldeponien b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung (Drucksachen 16/2580, 16/2680 Nr. 1.1, des von der Bundesregierung eingebrach- 16/2839) ...... 5510 B ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- tokoll vom 27. März 1998 über die i)–s) Vorrechte und Immunitäten der Inter- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- nationalen Meeresbodenbehörde schusses: Sammelübersichten 92, 98, 99, (Drucksachen 16/1289, 16/2798) ...... 5509 A 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106 und 107 zu Petitionen c) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksachen 16/2763, 16/2764, 16/2765, Bundesregierung eingebrachten Entwurfs 16/2766, 16/2767, 16/2768, 16/2769, eines Gesetzes zur Auflösung der Unab- 16/2770, 16/2771, 16/2772, 16/2773) . . . 5510 D hängigen Kommission zur Ermittlung des Vermögens der Parteien und Mas- senorganisationen der DDR (Drucksachen 16/2256, 16/2808) ...... 5509 B Zusatztagesordnungspunkt 4: d) Zweite und dritte Beratung des von der Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs ordneten Cornelia Behm, Undine Kurth eines Gesetzes über die Weiterverwen- (Quedlinburg), Hans-Josef Fell, weiteren Ab- dung von Informationen öffentlicher geordneten und der Fraktion des BÜNDNIS- Stellen (Informationsweiterverwendungs- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- gesetz – IWG) wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung (Drucksachen 16/2453, 16/3003) ...... 5509 C des Bundesnaturschutzgesetzes (Urwald- schutzgesetz) e) Zweite Beratung und Schlussabstimmung (Drucksachen 16/961, 16/2880) ...... 5511 C des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 30. September 2005 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland Zusatztagesordnungspunkt 5: und der Republik Belarus zur Vermei- dung der Doppelbesteuerung auf dem Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- Gebiet der Steuern vom Einkommen nen der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ und vom Vermögen DIE GRÜNEN: Neue Armut in Deutsch- (Drucksachen 16/2705, 16/2992) ...... 5509 D land – Die aktuelle Diskussion um so ge- nannte Unterschichten f) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- (DIE LINKE) ...... 5512 A ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Dr. (CDU/CSU) ...... 5513 A kommen vom 1. Dezember 2005 zwi- schen der Bundesrepublik Deutschland (BÜNDNIS 90/ und der Kirgisischen Republik zur Ver- DIE GRÜNEN) ...... 5514 C meidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung von Steuerhinterzie- , Parl. Staatssekretär hungen auf dem Gebiet der Steuern BMAS ...... 5515 D vom Einkommen und vom Vermögen (FDP) ...... 5517 D (Drucksachen 16/2706, 16/2994) ...... 5510 A Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . 5519 A g) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- Dr. (DIE LINKE) ...... 5520 C ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 3. Mai 2006 zwischen der Klaus Brandner (SPD) ...... 5522 A Bundesrepublik Deutschland und der Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Republik Slowenien zur Vermeidung DIE GRÜNEN) ...... 5523 B der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Andreas Steppuhn (SPD) ...... 5524 C Vermögen (Drucksachen 16/2707, 16/2993) ...... 5510 A (CDU/CSU) ...... 5525 D h) Beschlussempfehlung und Bericht des Wolfgang Spanier (SPD) ...... 5527 A Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und (CDU/CSU) ...... 5528 A Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Um- Dr. (SPD) ...... 5529 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 V

Tagesordnungspunkt 5: b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- a) Große Anfrage der Abgeordneten Hans- zes zur Anpassung von Rechtsvorschrif- Josef Fell, Cornelia Behm, Winfried ten des Bundes infolge des Beitritts der Hermann, weiterer Abgeordneter und der Republik Bulgarien und Rumäniens zur Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Europäischen Union GRÜNEN: Gestaltung einer ergebnisof- (Drucksache 16/2954) ...... 5544 C fenen transparenten Endlagersuche mit großer Öffentlichkeitsbeteiligung (Drucksachen 16/1605, 16/2690) ...... 5530 C in Verbindung mit b) Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Zusatztagesordnungspunkt 6: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Um- gehend Konzept für eine ergebnisoffene Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der Standortauswahl für ein nationales SPD: EU-Beitritt Bulgariens und Rumä- Atommüllendlager vorlegen niens zum Erfolg führen (Drucksache 16/2790) ...... 5530 C (Drucksache 16/2997) ...... 5544 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Frank-Walter Steinmeier, Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Bundesminister AA ...... 5545 A Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten , Michael Markus Löning (FDP) ...... 5546 D Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Of- (CDU/CSU) ...... 5547 C fene Fragen zur Entsorgung radioak- tiver Abfälle klären – Verantwortung Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE) ...... 5549 A für nachfolgende Generationen über- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ nehmen DIE GRÜNEN) ...... 5549 D (Drucksachen 16/267, 16/1462) ...... 5530 D Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Dr. Lale Akgün (SPD) ...... 5551 A DIE GRÜNEN) ...... 5530 D (FDP) ...... 5552 C

Dr. (CDU/CSU) ...... 5532 C Carl-Eduard von Bismarck (CDU/CSU) . . . . 5553 A Angelika Brunkhorst (FDP) ...... 5534 A (CDU/CSU) ...... 5554 B , Bundesminister BMU . . . . . 5536 A Angelika Brunkhorst (FDP) ...... 5537 D Tagesordnungspunkt 7: Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 5539 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Philipp Mißfelder (CDU/CSU) ...... 5540 A schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Christoph Pries (SPD) ...... 5541 A – zu der Unterrichtung durch die Bundesre- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 5542 B gierung: Siebter Bericht der Bundesre- gierung über ihre Menschenrechtspoli- Renate Künast (BÜNDNIS 90/ tik in den auswärtigen Beziehungen und DIE GRÜNEN) ...... 5543 A in anderen Politikbereichen Marco Bülow (SPD) ...... 5543 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Burkhardt Müller-Sönksen, , Dr. Karl Addicks, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: 7. Be- Tagesordnungspunkt 6: richt der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärti- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- gen Beziehungen und in anderen Poli- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- tikbereichen zes zu dem Vertrag vom 25. April 2005 über den Beitritt der Republik Bulga- (Drucksachen 15/5800, 16/1999, 16/3004) . . 5555 C rien und Rumäniens zur Europäischen Union (Drucksache 16/2293) ...... 5544 C in Verbindung mit VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Zusatztagesordnungspunkt 7: Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) ...... 5573 B Antrag der Abgeordneten Holger Haibach, (BÜNDNIS 90/ , Carl-Eduard von Bismarck, DIE GRÜNEN) ...... 5574 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Herta Däubler-Gmelin, Christoph Strässer, , weiterer Abgeordneter und der Frak- Tagesordnungspunkt 9: tion der SPD: Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen – Wirksamkeit sichern a) Zweite und dritte Beratung des von der und Glaubwürdigkeit schaffen Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (Drucksache 16/3001) ...... 5555 C eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes (Drucksachen 16/1936, 16/3007) ...... 5575 C in Verbindung mit b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Abgeordneten Kersten Zusatztagesordnungspunkt 8: Naumann, Dr. , Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Antrag der Abgeordneten Fraktion der LINKEN: Aufbewahrungs- (Köln), , Dr. Uschi Eid, weite- frist der Lohnunterlagen von DDR-Be- rer Abgeordneter und der Fraktion des trieben bis 31. Dezember 2012 verlän- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Men- gern schenrechte in Zentralasien stärken (Drucksachen 16/2746, 16/3007) ...... 5575 C (Drucksache 16/2976) ...... 5555 D Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär Christoph Strässer (SPD) ...... 5556 A BMAS ...... 5575 D Florian Toncar (FDP) ...... 5558 A Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 5576 D Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 5559 D Andreas Steppuhn (SPD) ...... 5577 D Michael Leutert (DIE LINKE) ...... 5561 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) ...... Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ 5578 C DIE GRÜNEN) ...... 5562 A Jörg Rohde (FDP) ...... 5580 A Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 5563 D Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) ...... Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ 5580 C DIE GRÜNEN) ...... 5564 A Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5581 D Christoph Strässer (SPD) ...... 5564 B Klaus Brandner (SPD) ...... Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ 5582 D DIE GRÜNEN) ...... 5564 C Carl-Eduard von Bismarck (CDU/CSU) . . . . 5564 D Tagesordnungspunkt 10: Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 5566 B a) Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, Eduard Lintner (CDU/CSU) ...... 5567 D Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Strom- und Gasnetze in die öffentliche Hand Tagesordnungspunkt 8: (Drucksache 16/2678) ...... 5583 D Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, b) Antrag der Abgeordneten Dr. Herbert Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weiterer Abge- Schui, Hans-Kurt Hill, Dr. Barbara Höll, ordneter und der Fraktion der FDP: Kein weiterer Abgeordneter und der Fraktion Weißbuch ohne vorherige Parlamentsde- der LINKEN: Regelmäßige technische batte Überprüfung der Stromnetze (Drucksache 16/2082) ...... 5569 B (Drucksache 16/1447) ...... 5584 A Birgit Homburger (FDP) ...... 5569 B Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 5584 A Hans Raidel (CDU/CSU) ...... 5570 D Dr. (CDU/CSU) ...... 5584 D Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 5572 B Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 5585 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 VII

Gudrun Kopp (FDP) ...... 5586 D Tagesordnungspunkt 13: Rolf Hempelmann (SPD) ...... 5587 D a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ eines Gesetzes zur Änderung des Zwölf- DIE GRÜNEN) ...... 5589 B ten Buches Sozialgesetzbuch und ande- rer Gesetze (Drucksachen 16/2711, 16/2753, 16/3005) 5602 D

Tagesordnungspunkt 11: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines – Antrag der Abgeordneten , Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Katja Kipping, , weiterer Ausländern wegen Kindergeld, Erzie- Abgeordneter und der Fraktion der hungsgeld und Unterhaltsvorschuss LINKEN: Für ein menschenwürdi- (Drucksachen 16/1368, 16/2940, 16/2941) . . 5590 B ges Existenzminimum Elisabeth Winkelmeier-Becker – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Irmingard Schewe- (CDU/CSU) ...... 5590 C Gerigk, Volker Beck (Köln), weiterer Ina Lenke (FDP) ...... 5592 C Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Helga Lopez (SPD) ...... 5593 C Das Existenzminimum sichern – So- zialhilferegelsätze neu berechnen Diana Golze (DIE LINKE) ...... 5594 C und Sofortmaßnahmen für Kinder und Jugendliche einleiten Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5595 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, Elisabeth Scharfenberg und der Fraktion des Tagesordnungspunkt 12: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Eingliederungshilfe für Men- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schen mit Behinderungen weiterent- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit wickeln – Das Bruttoprinzip in der und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- Sozialhilfe beibehalten und Leistun- ordneten Ute Koczy, Jürgen Trittin, Undine gen aus einer Hand für Menschen Kurth (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter mit Behinderungen ermöglichen und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Schaden von der Reputation der (Drucksachen 16/2743, 16/2750, 16/2751, Osteuropabank abwenden – Das Öl- und 16/3005) ...... 5602 D Gasprojekt Sachalin II als Lackmustest für Jörg Rohde (FDP) ...... 5603 A die Einhaltung internationaler Umwelt- und Sozialstandards Peter Weiß (Emmendingen) (Drucksachen 16/1668, 16/2925) ...... 5596 C (CDU/CSU) ...... 5604 C Gabriele Groneberg (SPD) ...... 5596 C Jörg Rohde (FDP) ...... 5604 D Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 5598 A Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 5605 A Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 5599 A Jörg Rohde (FDP) ...... 5606 A Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 5600 C Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 5606 B Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ Elke Reinke (DIE LINKE) ...... 5606 C DIE GRÜNEN) ...... 5601 B (CDU/CSU) ...... 5607 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... Zusatztagesordnungspunkt 15: 5607 C Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 5608 C Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- Max Straubinger (CDU/CSU) ...... 5608 D nung: Antrag auf Genehmigung zur Durch- führung eines Strafverfahrens Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/3043) ...... 5602 C DIE GRÜNEN) ...... 5609 A VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) ...... 5609 D Tagesordnungspunkt 16:

Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 5610 D Antrag der Abgeordneten Cornelia Hirsch, Dr. , Volker Schneider (Saar- brücken), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Neuregelung des Tagesordnungspunkt 14: Hochschulzugangs und der Hochschulab- schlüsse als Impuls zur Hochschulöffnung Antrag der Abgeordneten Christoph Waitz, und Qualitätsentwicklung nutzen Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Jens (Drucksache 16/2796) ...... 5617 D Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für einen zukunftsfähi- gen europäischen Rechtsrahmen audio- visueller Mediendienste – Den Beratungs- Tagesordnungspunkt 17: prozess der EU-Fernsehrichtlinie aktiv Erste Beratung des von der Bundesregierung begleiten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (Drucksache 16/2675) ...... 5612 A Umsetzung der Regelungen über die Mit- bestimmung der Arbeitnehmer bei einer in Verbindung mit Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten (Drucksache 16/2922) ...... 5618 A

Zusatztagesordnungspunkt 9: Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Ab- Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Priska Hinz (Herborn), Markus Kurth, weite- SES 90/DIE GRÜNEN: Für eine verbrau- rer Abgeordneter und der Fraktion des cherfreundliche und Qualität sichernde BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Über- EU-Richtlinie für audiovisuelle Medien- schüsse der Bundesagentur für Arbeit für dienste Ausbildung, Qualifizierung und Progres- (Drucksache 16/2977) ...... 5612 A siv-Modell verwenden (Drucksache 16/2509) ...... 5618 B

Zusatztagesordnungspunkt 10: Tagesordnungspunkt 19: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der desregierung eingebrachten Entwurfs eines SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ Gesetzes zu dem Protokoll vom 1. Juni DIE GRÜNEN: Einfuhr- und Handelsver- 2006 zur Änderung des am 29. August 1989 bot für Robbenprodukte unterzeichneten Abkommens zwischen der (Drucksache 16/2755) ...... 5618 C Bundesrepublik Deutschland und den Ver- einigten Staaten von Amerika zur Vermei- dung der Doppelbesteuerung und zur Ver- hinderung der Steuerverkürzung auf dem Tagesordnungspunkt 20: Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und einiger anderer Steu- Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich ern (Bayreuth), Jan Mücke, Patrick Döring, wei- (Drucksachen 16/2708, 16/2956, 16/3012, terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: 16/3031) ...... 5612 A Umfassenden Feldversuch über die Vor- und Nachteile von 60-Tonnen-Lkw starten (Heidelberg) (Drucksache 16/2683) ...... 5618 C (SPD) ...... 5612 D in Verbindung mit Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 5614 A

Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5615 A Zusatztagesordnungspunkt 11: Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 5615 D Antrag der Abgeordneten Peter Hettlich, , Dr. , Lothar Binding (Heidelberg) weiterer Abgeordneter und der Fraktion (SPD) ...... 5617 B des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Keine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 IX

60-Tonnen-Lkw auf deutschen Straßen Anlage 3 (Drucksache 16/2990) ...... 5618 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Patrick Döring (FDP) ...... 5619 A der Anträge:

Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . 5620 A – Für einen zukunftsfähigen europäischen Rechtsrahmen audiovisueller Medien- Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) ...... 5620 C dienste – Den Beratungsprozess der EU- Fernsehrichtlinie aktiv begleiten Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 5623 A – Für eine verbraucherfreundliche und Qua- lität sichernde EU-Richtlinie für audiovi- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ suelle Mediendienste DIE GRÜNEN) ...... 5624 A (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord- nungspunkt 9)

Zusatztagesordnungspunkt 12: Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) ...... 5627 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über (CDU/CSU) ...... 5628 C die Durchsetzung der Verbraucherschutz- Christoph Pries (SPD) ...... 5629 B gesetze bei innergemeinschaftlichen Ver- stößen Jörg Tauss (SPD) ...... 5630 B (Drucksache 16/2930) ...... 5625 A Christoph Waitz (FDP) ...... 5631 D Dr. (DIE LINKE) ...... 5633 A Tagesordnungspunkt 21: Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... Antrag der Abgeordneten Volker Beck 5633 C (Köln), Markus Kurth, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nichtig- keitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes Anlage 4 (Drucksache 16/1171) ...... 5625 B Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Proto- koll vom 1. Juni 2006 zur Änderung des am Tagesordnungspunkt 22: 29. August 1989 unterzeichneten Ab- kommens zwischen der Bundesrepublik Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Deutschland und den Vereinigten Staaten von Hellmut Königshaus, , weite- Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteue- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: rung und zur Verhinderung der Steuerverkür- Doha-Runde wieder beleben – WTO-Gene- zung auf dem Gebiet der Steuern vom raldirektor als Schlichter einsetzen Einkommen und vom Vermögen und einiger (Drucksache 16/2658) ...... 5625 C anderer Steuern (Zusatztagesordnungs- punkt 10)

Nächste Sitzung ...... 5625 D Dr. (DIE LINKE) ...... 5635 A

Anlage 1 Anlage 5

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 5627 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Neuregelung des Hochschul- zugangs und der Hochschulabschlüsse als Impuls zur Hochschulöffnung und Qualitäts- Anlage 2 entwicklung nutzen (Tagesordnungspunkt 16) Anette Hübinger (CDU/CSU) ...... 5635 D Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) zur Abstim- Dr. Ernst Dieter Rossmann mung über den Entwurf eines Zweiten Geset- (SPD) ...... 5636 D zes zur Änderung des Betriebsrentengesetzes (Tagesordnungspunkt 9 a) ...... 5627 B (FDP) ...... 5638 D X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 5639 C Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 5655 A (BÜNDNIS 90/ Eva Bulling-Schröter DIE GRÜNEN) ...... 5640 C (DIE LINKE) ...... 5655 C Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5656 B Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Anlage 9 des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Regelungen über die Mitbestimmung der Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Arbeitnehmer bei einer Verschmelzung von Anträge: Kapitalgesellschaften aus verschiedenen Mit- gliedstaaten (Tagesordnungspunkt 17) – Umfassenden Feldversuch über die Vor- und Nachteile von 60-Tonnen-Lkw starten (CDU/CSU) ...... 5641 B – Keine 60-Tonnen-Lkw auf deutschen Stra- (SPD) ...... 5643 C ßen Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 5644 C (Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesord- nungspunkt 11) Werner Dreibus (DIE LINKE) ...... 5645 B (CDU/CSU) ...... 5657 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 5646 A

Gerd Andres, Parl. Staatssekretär Anlage 10 BMAS ...... 5646 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Durch- setzung der Verbraucherschutzgesetze bei in- Anlage 7 nergemeinschaftlichen Verstößen (Zusatzta- gesordnungspunkt 12) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Überschüsse der Bundesagentur Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 5658 D für Arbeit für Ausbildung, Qualifizierung und Progressiv-Modell verwenden (Tagesord- Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 5660 A nungspunkt 18) Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 5660 D Peter Rauen (CDU/CSU) ...... 5647 B Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) ...... 5661 C Wolfgang Grotthaus (SPD) ...... 5649 A Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Dirk Niebel (FDP) ...... 5649 D DIE GRÜNEN) ...... 5662 C

Kornelia Möller (DIE LINKE) ...... 5650 D Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ Anlage 11 DIE GRÜNEN) ...... 5651 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Gerd Andres, Parl. Staatssekretär des Antrags: Nichtigkeitserklärung des BMAS ...... 5652 A Erbgesundheitsgesetzes (Tagesordnungs- punkt 21)

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 5663 B

Anlage 8 Dr. Carl-Christian Dressel (SPD) ...... 5664 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Sabine Leutheusser-Schnarrenberger des Antrags: Einfuhr- und Handelsverbot für (FDP) ...... 5665 C Robbenprodukte (Tagesordnungspunkt 19) (DIE LINKE) ...... 5666 A Dr. (CDU/CSU) ...... 5652 D Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 5654 B DIE GRÜNEN) ...... 5666 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 XI

Anlage 12 Dr. Ditmar Staffelt (SPD) ...... 5668 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Gudrun Kopp (FDP) ...... 5669 C des Antrags: Doha-Runde wieder beleben – WTO-Generaldirektor als Schlichter einset- Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 5670 B zen (Tagesordnungspunkt 22) Margareta Wolf (Frankfurt) Erich G. Fritz (CDU/CSU) ...... 5667 B (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 5671 A

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5467

(A) (C) Redetext

57. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Beginn: 9.01 Uhr

Vizepräsident Dr. : Keine Rundfunkgebühr für Computer mit Internetan- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schluss – Die Gebührenfinanzierung des öffentlich- rechtlichen Rundfunks grundlegend reformieren Sitzung ist eröffnet. – Drucksache 16/2970 – Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Überweisungsvorschlag: Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführ- Ausschuss für Kultur und Medien (f) ten Punkte zu erweitern: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Finan- Verbraucherschutz zielle Folgen für Beitragszahler und Patienten bei Ver- wirklichung des von der Koalition vorgelegten Gesetzes d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anja Hajduk, zur Gesundheitsreform Alexander Bonde, Anna Lührmann, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (siehe 56. Sitzung) NEN ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Haushaltskonsolidierung konsequent anpacken – Haus- (B) DIE GRÜNEN haltsgesetzgebung reformieren (D) Für eine Wiederbelebung des nuklearen Abrüstungspro- – Drucksache 16/2998 – zesses im Rahmen der deutschen EU- und G-8-Präsident- schaft Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) – Drucksache 16/3011 – Innenausschuss Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Volker (Ergänzung zu TOP 30) Wissing, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP a) Entwurf eines Gesetzes der Abgeordneten Jan Mücke, Horst Friedrich (Bayreuth), Patrick Döring, weiterer Ab- Mehrwertsteuersatz für apothekenpflichtige Arznei- geordneter und der Fraktion der FDP mittel Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Be- – Drucksache 16/3013 – schleunigung von Zulassungsverfahren für Verkehrs- Überweisungsvorschlag: projekte Finanzausschuss – Drucksache 16/3008 – ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache Überweisungsvorschlag: (Ergänzung zu TOP 31) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Hans-Josef Ausschuss für Tourismus Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Gesetzes zur Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des BÜNDNIS- (Urwaldschutzgesetz) SES 90/DIE GRÜNEN PC-Gebühren-Moratorium verlängern – Drucksache 16/961 – – Drucksache 16/2793 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Um- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) – Drucksache 16/2880 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Berichterstattung: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Abgeordnete Josef Göppel Verbraucherschutz c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Joachim Angelika Brunkhorst Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Karl Addicks, wei- Eva Bulling-Schröter terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Cornelia Behm 5468 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der LINKEN vom Einkommen und vom Vermögen und einiger anderer (C) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Neue Armut in Steuern Deutschland – Die aktuelle Diskussion um so genannte – Drucksachen 16/2708, 16/2956 – Unterschichten – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der (7. Ausschuss) SPD – Drucksache 16/3012 – EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum Erfolg führen Berichterstattung: – Drucksache 16/2997 – Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding (Heidelberg) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß Petitionsausschuss § 96 der Geschäftsordnung Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 16/3031 – Innenausschuss Sportausschuss Berichterstattung: Rechtsausschuss Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme Finanzausschuss (Erfurt) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Michael Lentert Verbraucherschutz Anja Hajduk Ausschuss für Arbeit und Soziales ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Hettlich, Verteidigungsausschuss Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordne- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Keine 60-Tonnen-Lkw auf deutschen Straßen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksache 16/2990 – Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien ZP 12 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Durchsetzung der Ver- ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Haibach, braucherschutzgesetze bei innergemeinschaftlichen Ver- Erika Steinbach, Carl-Eduard von Bismarck, weiterer Abge- stößen ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- neten Dr. Herta Däubler-Gmelin, Christoph Strässer, Niels – Drucksache 16/2930 – (B) Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Überweisungsvorschlag: (D) Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen – Wirk- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und samkeit sichern und Glaubwürdigkeit schaffen Verbraucherschutz (f) Innenausschuss – Drucksache 16/3001 – Rechtsausschuss ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Birgitt Bender, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der , Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Menschenrechte in Zentralasien stärken Arbeit in Armut verhindern – Drucksache 16/2976 – – Drucksache 16/2978 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Entwicklung ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Ulrike Höfken, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Bettin, der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Qualifizierung statt Quoten – Vermittlungsagenturen für landwirtschaftliche und andere grüne Berufe Für eine verbraucherfreundliche und Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste – Drucksache 16/2991 – – Drucksache 16/2977 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Kultur und Medien (f) Verbraucherschutz Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Die Tagesordnungspunkte 25 – Beschleunigung von Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Planungsverfahren – und 30 o – Elektronischer Ge- ZP 10 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung ein- schäftsverkehr – werden abgesetzt. Der Tagesordnungs- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom punkt 15 – dabei handelt es sich um mehrere Vorlagen 1. Juni 2006 zur Änderung des am 29. August 1989 unter- zur Terrorismusbekämpfung – wird morgen nach dem zeichneten Abkommens zwischen der Bundesrepublik Tagesordnungspunkt 24 aufgerufen. Von der Frist für Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhin- den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, ab- derung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern gewichen werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5469

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Schließlich mache ich auf zwei geänderte Ausschuss- Verteidigungsausschuss (C) überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und merksam: Entwicklung Der in der 54. Sitzung des Deutschen Bundestages ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion des BÜND- überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich NISSES 90/DIE GRÜNEN dem Rechtsausschuss (6. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Für eine Wiederbelebung des nuklearen Ab- rüstungsprozesses im Rahmen der deutschen Jahressteuergesetz 2007 (JSTG 2007) EU- und G-8-Präsidentschaft – Drucksache 16/2712 – – Drucksache 16/3011 – Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Zum Jahresabrüstungsbericht 2005 liegt ein Ent- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Sind Sie Die Federführung für den in der 54. Sitzung des Deut- damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so be- schen Bundestages überwiesenen nachfolgenden Gesetz- schlossen. entwurf soll nunmehr auf den Haushaltsausschuss (8. Ausschuss) übergehen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Rolf Mützenich von der SPD-Fraktion das Wort. Zweites Gesetz zur Änderung des Aufbauhilfe- fondsgesetzes (Beifall bei der SPD) – Drucksache 16/2704 – Überweisungsvorschlag: Dr. Rolf Mützenich (SPD): Haushaltsausschuss (f) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Finanzausschuss Kollegen! Es gibt keinen Zweifel: Der nordkoreanische Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Atomwaffentest ist eine gefährliche Provokation und ein Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Irrsinn. Wir verurteilen das Verhalten Nordkoreas. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (B) (Beifall im ganzen Hause) (D) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b sowie Zusatzpunkt 2 auf: Deshalb müssen wir heute Morgen über die nordkoreani- sche, aber auch über die iranische Atomkrise sprechen. 3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Wir sollten allerdings ebenso deutlich machen: Abrüs- gierung tung und Rüstungskontrolle gehören insgesamt wieder auf die internationale Tagesordnung. Bericht der Bundesregierung zum Stand der Be- mühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung NIS 90/DIE GRÜNEN) der Streitkräftepotenziale (Jahresabrüstungsbe- richt 2004) Eine effektive Rüstungskontrolle muss erneut zum Ord- nungsprinzip der internationalen Beziehungen werden. – Drucksache 15/5801 – Überweisungsvorschlag: Vertraglich vereinbarte Rüstungsbeschränkung kann Auswärtiger Ausschuss (f) die Welt sicherer machen. Während des Kalten Krieges Ausschuss für Wirtschaft und Technologie trug eine effektive Rüstungskontrolle maßgeblich zur Verteidigungsausschuss Kriegsverhütung und zur Vertrauensbildung bei. Sie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe schuf den Rahmen für Kooperation und friedlichen Wan- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung del. b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Abrüstung und Rüstungskontrolle waren aber nicht gierung nur im Kalten Krieg ein angemessenes Instrument. In seinem Schatten wurden auch eine Reihe regionaler Rüs- Bericht der Bundesregierung zum Stand der Be- tungskontrollverträge beschlossen. Diese Abkommen er- mühungen um Rüstungskontrolle, Abrüstung und leichterten die regionale Zusammenarbeit und schufen Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der ein Gefühl gemeinsamer Sicherheit. Abrüstung trug Streitkräftepotenziale (Jahresabrüstungsbe- dazu bei, vormalige Bürgerkriegsgesellschaften zu stabi- richt 2005) lisieren. So wurden mit dem Vertrag von Dayton – Drucksache 16/1483 – gegenseitige Abrüstungsschritte im ehemaligen Jugosla- wien vereinbart. Auch in El Salvador und in Kambod- Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) scha wurde der Friedensprozess durch die Vernichtung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie von Waffenbeständen unterstützt. 5470 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Rolf Mützenich (A) Doch nicht mehr nur Regierungen beeinflussen die Kernwaffen in Nordkorea sind eine ebenso große (C) Rüstungskontrolle. Ohne die Bürgerinnen und Bürger in Gefahr für den Frieden. Mehr noch: Ein unkontrollierter den so genannten Nichtregierungsorganisationen wäre Rüstungswettlauf könnte die Folge sein. Angesichts des das Landminenabkommen niemals in Kraft getreten. wachsenden Nationalismus, nicht geregelter Konflikte Das war ein bedeutendes Signal. und der mangelnden Bereitschaft zu einer gemeinsamen Vergangenheitsbewältigung schafft dies Unsicherheiten Seit einigen Jahren gibt es jedoch so gut wie keine in der Region, aber auch für uns. Fortschritte mehr. Der Rüstungskontrollprozess tritt auf der Stelle. Diese Krise ist allerdings nicht das Ergebnis In Zukunft darf es allerdings nicht allein darum ge- einer veralteten Idee. Im Gegenteil: Das Konzept der hen, länderspezifische Lösungen für Kernwaffenaspiran- Rüstungskontrolle ist modern und anpassungsfähig. Die ten zu suchen. Ebenso notwendig ist es, über die offen- eigentliche Ursache für das Ausbleiben weiterer Fort- kundigen Probleme und Schwächen, Ungleichgewichte schritte ist der fehlende politische Wille in wichtigen und doppelten Standards der Rüstungskontrollregime zu Ländern. sprechen. Dabei sollte eines klar sein: Die bisherigen Abkommen müssen in ihrer Substanz erhalten bleiben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Die Instanzen, die die Einhaltung der jeweiligen Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) träge überwachen, müssen gestärkt werden. Gleichzeitig sollten die Vertragslücken geschlossen und, wo nötig, er- Die USA haben sich aus den großen Verträgen zu- gänzt werden. Im Einzelnen gehören dazu wirksame und rückgezogen. Neue Vereinbarungen wurden ignoriert; überprüfbare Maßnahmen der nuklearen Abrüstung, eine Verbesserungen wurden blockiert. Russland behindert Nulllösung bei den taktischen Atomwaffen, ein Kern- die Umsetzung der konventionellen Abrüstung in Eu- waffenregister, die Offenlegung der Plutoniumbestände ropa. Frankreich und Großbritannien modernisieren wie und das In-Kraft-Setzen des umfassenden Teststoppver- auch die anderen Kernwaffenstaaten ihre nuklearen Ar- trages. Das Zusatzprotokoll zum Atomwaffensperrver- senale. Neue Sicherheitsdoktrinen weisen Kernwaffen trag muss von allen Vertragsstaaten ohne Einschränkun- eine frühzeitige Einsatzmöglichkeit zu. Weltweit steigen gen akzeptiert werden. die Rüstungsausgaben und – dies sage ich selbstkritisch auch an unsere Adresse – Rüstungsexporte haben wieder Der internationale Terrorismus ist heute auch eine Konjunktur. Weitere Gefahren sind die unkontrollierte sicherheitspolitische Herausforderung. Es besteht die Verbreitung von Trägerraketen und die unsichere Lage- Gefahr, dass diese Gruppen Massenvernichtungswaffen rung von hoch angereichertem Uran in zu vielen Län- besitzen und einsetzen wollen. Das beste Rezept, solche dern. Und nicht zu vergessen: Zwischen den Atommäch- Pläne zu verhindern, ist, weitere Staaten vom Besitz der- ten Indien und Pakistan gibt es noch immer kein (B) artiger Waffen abzuhalten und die Atomwaffenstaaten zu (D) belastbares Abkommen. überzeugen, endlich ihre Verpflichtung zur Abrüstung einzulösen. Diese Krisen zeigen deutlich: Wir brauchen neue An- strengungen zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dabei müssen wir sowohl die lokalen als auch die globa- der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des len Bedingungen beachten und verändern. Beide Ebenen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stehen in einem Zusammenhang. Je weiter Atomwaffen verbreitet sind, umso wahrschein- Im Atomkonflikt mit dem Iran müssen wir weiter- licher ist, dass sie in die Hände internationaler Terroris- hin konstruktiv, geschlossen und beharrlich an einer Lö- ten geraten. Rüstungskontrolle ist deshalb auch ein Mit- sung arbeiten. Der Versuch, den Streit in Verhandlungen tel gegen nicht staatliche Bedrohungen. zu lösen, war und bleibt richtig. Dass jetzt auch Sanktio- nen von den Vereinten Nationen beschlossen werden sol- Demokratien sind Ordnungen, die einer effektiven len, signalisiert nicht das Scheitern der Diplomatie. Die- Rüstungskontrolle aufgeschlossen gegenüberstehen. ser Schritt ergänzt vielmehr die bisherige Strategie. Der Deshalb ist es nicht nur ein Privileg, sondern auch die Iran muss seine Verstöße beenden, die Unklarheiten über Aufgabe demokratischer Institutionen, weitere Maßnah- sein Atomprogramm ausräumen und versuchen, durch men zur Rüstungsbegrenzung anzuregen. Vor allem vertrauensbildende Maßnahmen Glaubwürdigkeit herzu- müssen Parlamente und Regierungen den Frieden zwi- stellen. schen den Ländern stärken. Zweifellos sind dabei Demo- kratien gegenüber ihresgleichen friedensgeneigter. Dem- (Beifall bei der SPD) nach bedeutet die Zunahme der Zahl demokratisch regierter Länder auch eine Ausbreitung des Friedens. Die Verantwortlichen in Teheran sollten vor allem eines wissen: Weder Status noch Großmannssucht werden (Beifall bei der SPD) dem Land die gewünschte Rolle in der Welt zuweisen, sondern nur eine Politik der Akzeptanz, des Respekts Das ist allerdings keine einfache Gleichung. Die Form und der Kooperation gegenüber den Nachbarn und der allein bewirkt noch keine Demokratie. Außerdem sind Region. fragmentierte demokratische Staaten in der Regel keine friedlichen Gesellschaften. Deshalb sind militärische, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie von außen herbeigeführte Regierungswechsel nicht nur bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- völkerrechtswidrig; sie sind zum Aufbau demokratischer NISSES 90/DIE GRÜNEN) Gesellschaften vollkommen ungeeignet. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5471

Dr. Rolf Mützenich (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Heute liegen uns die Jahresabrüstungsberichte der (C) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Jahre 2004 und 2005 vor. Zusammenfassend lässt sich DIE GRÜNEN) festhalten: Gemeinsam mit dem Jahr 2006 waren es schwarze Jahre für die weltweite nukleare Abrüstung. Mehr noch: Derartige Handlungen diskreditieren das Über diesen Umstand kann auch ein Friedensnobelpreis Konzept des demokratischen Friedens, bedrohen die für die Internationale Atomenergiebehörde im Jahr 2005 Prinzipien des Völkerrechts und schaffen neue Unsicher- nicht hinwegtäuschen. heiten wie übermäßige Rüstung und falsches Regieren. Mit Nordkorea hat vermutlich ein weiterer Kernwaf- Die Krise der Abrüstung und Rüstungskontrolle ist fenstaat die weltpolitische Bühne betreten. Die Diskus- vor allem das Ergebnis politischer Fehlentscheidungen. sion über das iranische Atomprogramm schwelt weiter; Weil der politische Wille zugunsten von Abrüstung und eine tragfähige Lösung ist nicht in Sicht. Darüber hinaus Rüstungskontrolle fehlt, brauchen wir gerade jetzt mu- befinden sich das Nichtverbreitungsregime und dessen tige und kluge Schritte. Wir brauchen eine Wiederbele- Herzstück, der Nichtverbreitungsvertrag, in einer nicht bung der Abrüstung und Rüstungskontrolle. zu leugnenden Krise. Kernwaffenstaaten wie Russland (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und die USA modernisieren ihr Nuklearwaffenpotenzial, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ anstatt ihren vertraglichen Abrüstungsverpflichtungen DIE GRÜNEN) nachzukommen. Mit dem geplanten indisch-amerikani- schen Nuklearabkommen erhält der Kernwaffenstaat In den 70er- und 80er-Jahren waren es vor allem Indien die globale Anerkennung und Zugang zu westeuropäische Sozialdemokraten, die eine Politik der modernster Nukleartechnologie – spaltbares Material Entspannung durch Initiativen zur Abrüstung, Rüstungs- eingeschlossen –, obwohl Indien dem Nichtverbrei- kontrolle und Nichtverbreitung ergänzt haben. Egon tungsvertrag nie beigetreten ist. Solche nuklearen Dop- Bahr, Willy Brandt, Olof Palme und Bruno Kreisky sind pelstandards gefährden die Glaubwürdigkeit der interna- nur einige Namen in einer beachtlichen Reihe von Perso- tionalen Nichtverbreitungspolitik. nen, die für diese Politik standen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wenn wir heute, in Zeiten neuer Spannungen, wieder der SPD) eine Entspannungspolitik gestalten wollen, kann die SPD ihre Erfahrungen und Ideen einbringen. Dabei rei- Die genannten Punkte dokumentieren, dass die nuklea- chen gute und überzeugende Vorschläge allein nicht. Um re Abrüstung in eine politische Sackgasse geraten ist. die kollektive Friedenssicherung zu stärken, müssen wir Deshalb muss die Weltgemeinschaft jetzt entschlossen Abrüstung und Rüstungskontrolle als Ordnungsprinzip gegen eine neue nukleare Weltordnung angehen, in der (B) der internationalen Politik erneuern. Die deutsche Kernwaffen wieder eine zentrale sicherheitspolitische (D) Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union, vor al- Bedeutung erhalten. Der Eindruck, der Besitz von Atom- lem aber der einjährige Vorsitz Deutschlands in der G 8 waffen sei der Garant für internationale Macht, Einfluss bieten dafür einen geeigneten Rahmen. Es wäre leicht- und Anerkennung, hätte fatale Folgen: Es wäre ein un- fertig, wenn wir diese Chancen verpassen würden. widerstehlicher Anreiz für neue potenzielle Nuklear- mächte. Der nordkoreanische Atomtest war ein lauter Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Warnschuss vor den Bug einer statischen globalen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Sicherheitsarchitektur. Es ist dringend an der Zeit, dass bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- die großen Atommächte endlich ihren vertraglichen Ab- NISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. rüstungsverpflichtungen nachkommen. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Hoff von der Sowohl im Fall Nordkorea als auch in der Frage um FDP-Fraktion. das iranische Atomprogramm ist ein geschlossenes und konsequentes diplomatisches Vorgehen der P 5 weiterhin (Beifall bei der FDP) notwendig. In dieser schwierigen Lage benötigt die in- ternationale Abrüstungspolitik Impulse und politische Elke Hoff (FDP): Ansätze, damit sie sich aus ihrer Stagnation befreien kann. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir, zu Beginn einen Satz aus Es ist gut, wenn die Bundesregierung das Thema dem vorliegenden Jahresabrüstungsbericht 2005 zu zitie- „Abrüstung und Nichtverbreitung“ auf ihre politische ren: Agenda setzt. Aber diesen Ankündigungen müssen na- Verlust an regionaler Sicherheit … wirkt sich stets türlich entsprechende Taten folgen. Es ist deshalb die auf die weltweite Sicherheitsbalance aus. Aufgabe unseres Landes, als glaubwürdiger Nichtkern- waffenstaat auf diesem Gebiet eine Führungsrolle zu Der nordkoreanische Atomwaffentest vom 9. Oktober übernehmen. Die Rolle, die Deutschland bei den diplo- hat gezeigt, dass die Debatte um Abrüstung und Nicht- matischen Bemühungen der EU 3 um das iranische verbreitung von Massenvernichtungswaffen aktuell und Atomprogramm eingenommen hat, kann hierfür bei- dringender als selten zuvor ist. spielhaft sein. 5472 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Elke Hoff (A) Daher ist die bisherige Haltung der Bundesregierung gleich geblieben. Aber die Exporte von Kleinwaffen in (C) im Fall des indisch-amerikanischen Nuklearabkom- Entwicklungsländer haben sich in der Relation verdrei- mens unglücklich und über weite Strecken nicht akzep- facht: von 5 auf 15 Prozent der Gesamtausfuhren. Das ist tabel. In seiner bisherigen Form stellt die bilaterale Ver- angesichts der bereits geschilderten Auswirkungen in einbarung zwischen Indien und den USA eine Belastung den Entwicklungsregionen besorgniserregend. Die Bun- für die Glaubwürdigkeit der internationalen Nichtver- desregierung muss deshalb sicherstellen, dass die Emp- breitung dar. Bei den Beratungen in der Nuclear Sup- fängerländer bei Neulieferungen ihre alten Bestände ver- pliers Group, die dem Abkommen einstimmig ihre Zu- nichten, sodass diese Waffen nicht in die falschen Hände stimmung erteilen muss, hat sich die Bundesrepublik geraten und die Region weiter destabilisieren können. bisher hauptsächlich auf Nachfragen beschränkt. Me- dienberichten zufolge wurde auf diplomatischer Ebene (Beifall bei der FDP) von Bundeskanzlerin und Außenminister anfänglich nur Liebe Kolleginnen und Kollegen, die weltweite Ab- der Zeitpunkt des Abkommens beim transatlantischen rüstung und Nichtverbreitung sowohl von Massenver- Partner als schwierig bezeichnet. Indien als Nuklear- nichtungswaffen als auch von konventionellen Waffen macht müssen jedoch die gleichen Verpflichtungen auf- stellt die Weltgemeinschaft nach der Beendigung des erlegt werden wie den Kernwaffenstaaten, die den Nicht- Kalten Krieges vor große Herausforderungen. Wir müs- verbreitungsvertrag unterzeichnet haben, wenn es in den sen fähig sein, diese im Interesse der globalen Sicherheit Genuss modernster Nukleartechnologie kommen will. und Stabilität gerade jetzt gemeinsam zu bewältigen. Ich sehe eine Reihe von Möglichkeiten, gemeinsame Initia- (Beifall bei der FDP) tiven zu ergreifen und wichtige Übereinstimmungen her- Die Kritik an diesen Schwachstellen des Nuklearab- zustellen. Ich bin sehr sicher, dass wir hier im Parlament kommens wurde bisher vorrangig anderen europäischen vernünftige Schritte unternehmen werden. Dieses Nachbarstaaten wie Irland und Schweden überlassen. Thema ist so wichtig, dass wir alle unsere Kraft darauf Wir erwarten, dass die vom Bundesaußenminister im verwenden sollten. Juni genannten Kriterien zur Nachbesserung des Ab- Ich danke für die Aufmerksamkeit. kommens auch offiziell als deutsche Position in der nächsten Plenumssitzung der NSG zur Sprache gebracht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten werden. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte diese Nach- der CDU/CSU und der SPD) besserungen bereits in einem Antrag im Mai eingefor- dert. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die nukleare Nichtverbreitung ist nicht das einzige Das Wort hat jetzt der Kollege Eckart von Klaeden (B) abrüstungspolitische Themenfeld, das unserer verstärken von der CDU/CSU-Fraktion. (D) Aufmerksamkeit bedarf. Ende November findet in New (Beifall bei der CDU/CSU) York die 6. Überprüfungskonferenz für das Biowaffen- abkommen statt. Das Scheitern der Konferenz im Jahr 2001 stellt die internationale Gemeinschaft vor die Eckart von Klaeden (CDU/CSU): schwierige Aufgabe, neue Wege für eine Stärkung des Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Vertrages zu finden. Ein tragfähiges und handlungsfähi- Nordkoreas Bombe mag klein gewesen sein. Die Konse- ges Biowaffenregime wird besonders wichtig, da gerade quenzen des Atomtests – mittlerweile müssen wir ja da- die biologischen Waffen im Zuge der rasanten Entwick- von ausgehen, dass es sich um eine nukleare Explosion lung in den Biowissenschaften immer gefährlicher wer- gehandelt hat – sind aber als dramatisch zu bezeichnen. den. Die Welt ist ohne Zweifel unsicherer geworden. Wenn die gemeinsame Ablehnungsfront aus Amerikanern, Eu- Im Schatten der Debatte um die Nichtverbreitung von ropäern, Russen, Japanern und Chinesen keine angemes- Massenvernichtungswaffen steht viel zu häufig das Pro- sene Antwort auf diese Provokation Pjöngjangs findet, blem der weltweiten Verbreitung von Kleinwaffen. dann könnte der 9. Oktober 2006 als jener Tag in die Ge- Derzeit sind circa 650 Millionen dieser Waffen interna- schichte eingehen, an dem ein neues nukleares Wettrüs- tional im Umlauf. Vor allem in den Entwicklungsregio- ten begonnen hat. nen Afrikas, Asiens und Südamerikas werden Konflikte überwiegend mit Kleinwaffen und leichten Waffen aus- Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns über die getragen. Deswegen ist es nicht falsch, wenn im Zusam- Motive Nordkoreas klar werden: Nordkorea ist ein menhang mit Kleinwaffen von den wahren Massenver- Regime, das als Folge seiner selbst gewählten Isolierung nichtungswaffen unserer Zeit gesprochen wird. mit dem Rücken zur Wand steht. Zur Machterhaltung wählt es den Weg der Erpressung. Zur Erpressung wen- Der Jahresabrüstungsbericht 2005 verweist in diesem det Nordkorea hauptsächlich zwei Mittel an: zum einen Zusammenhang auf ein vorbildliches Engagement der seine Armee, zum anderen – so paradox es klingen Bundesregierung. Ich sehe das etwas anders. mag – die Drohung mit den wirtschaftlichen Folgen, die sein Scheitern für seine Nachbarn haben würde. Rüstungsexporte der Gegenwart sind nicht selten die Abrüstungsprobleme der Zukunft. Deshalb lohnt es sich, Bisher hat Nordkorea den militärischen Teil seiner einen Blick in den Rüstungsexportbericht zu werfen. Strategie vor allem auf konventionelle Streitkräfte ge- Die Gesamtsumme aller exportierten Kleinwaffen der stützt. Dieses bitterarme Land hat ungefähr 1,3 Millio- Bundesrepublik ist zwischen 2004 und 2005 nahezu nen Soldaten. Damit verfügt es über eine der größten Ar- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5473

Eckart von Klaeden (A) meen, die es auf der Welt gibt. Wir wissen, dass die zu tun beschlossen und dabei die Zusammenarbeit mit (C) wirtschaftlichen Schwierigkeiten Nordkoreas immer den Vereinigten Staaten gesucht. Es ist gut, dass der neue mehr dazu führen, dass diese Armee nicht mehr finan- japanische Premierminister Shinzo Abe, der über eine ziert werden kann. Deswegen hat die provozierende und eigene nukleare Bewaffnung seines Landes nachgedacht zugleich paradoxe Sicherheitsstrategie Nordkoreas zur hat, jetzt deutlich gemacht hat, dass er sich auf den Konsequenz, dass sich das Land um Atomwaffen be- Schutzschirm der Vereinigten Staaten verlassen will. Er müht. weiß, dass eine eigene Nuklearkapazität seines Landes mit erheblichen wirtschaftlichen Kosten und hohen Wie wir sehen, funktioniert diese Strategie. Südkorea diplomatischen Kosten für sein Land verbunden wäre. und China verhalten sich, wenn es um die wirtschaftli- Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund seiner Be- chen Folgen der im UN-Sicherheitsrat beschlossenen mühungen, das stark belastete Verhältnis zu Peking Sanktionen geht, sehr zurückhaltend, weil sie den Zu- durch seinen ersten Besuch dort zu verbessern. sammenbruch Nordkoreas fürchten. Dann müssten sie Flüchtlinge aufnehmen und die Bruchstücke des zusam- Aber auch andere Länder in der Region – Südkorea, mengebrochenen Regimes aufsammeln. Deswegen, so möglicherweise auch Taiwan – könnten sich durch die glaube ich, müssen wir auch mit Südkorea und China nordkoreanischen Aktivitäten motiviert fühlen, eigene Gespräche über die Folgen eines möglichen Zusammen- Nuklearkapazitäten aufzubauen. Deswegen ist gerade bruchs Nordkoreas führen. eine entschlossene und klare Reaktion der Weltgemein- schaft, des UN-Sicherheitsrates, auf die nordkoreani- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schen Aktivitäten so wichtig. Andere Länder sollen da- neten der SPD) von abgehalten werden, ebenfalls Nuklearkapazitäten Wir müssen uns aber auch klarmachen, dass der häu- aufzubauen. Dazu bedarf es diplomatischer Bemühun- fig vorgetragene Gedanke, Nordkorea hätte durch di- gen der Vereinigten Staaten von Amerika. Aber auch rekte Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten China und Russland spielen in dieser Krise eine zentrale und Nordkorea von seinem Nuklearprogramm abge- Rolle. China ist letztlich der Schlüssel dafür, dass Nord- bracht werden können, bestenfalls naiv zu nennen ist. korea seine Aktivitäten nicht fortsetzt. Solche direkten Gespräche zwischen Nordkorea und den Vereinigten Staaten hat es bereits nach der ersten nord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und koreanischen Nuklearkrise Mitte der 90er-Jahre gege- der SPD) ben. Diese Gespräche waren – so hat man es jedenfalls Der Nichtverbreitungsvertrag war bisher ein Erfolg. damals eingeschätzt – erfolgreich; denn sie haben mit Es wäre daher falsch, das Nichtverbreitungsregime ange- dem Abschluss eines Abkommens geendet. Als Gegen- sichts dieser Entwicklungen grundsätzlich infrage zu (B) leistung für die Einstellung seines Nuklearprogramms stellen, auch wenn wir feststellen müssen, dass es ernst- (D) erhielt Nordkorea in der Folge umfangreiche Öllieferun- haften Gefahren ausgesetzt ist. Der amerikanische Präsi- gen. Die extra zu diesem Zweck gegründete Organisa- dent John F. Kennedy hat in den 60er-Jahren prognosti- tion KEDO, an der sich auch die EU beteiligt hat, ziert, dass man binnen zehn Jahren mit 25 neuen begann zur Sicherstellung der Energieversorgung Nord- Nuklearmächten rechnen müsse. Glücklicherweise hat koreas mit dem Bau zweier Leichtwasserreaktoren. sich seine Prognose nicht erfüllt. Mittlerweile haben wir Pjöngjang hat dieses Abkommen gebrochen und sein außer den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates Nuklearprogramm vor drei Jahren – so nehmen wir je- Indien, Pakistan, Israel und, seit dem 9. Oktober, Nord- denfalls an – wieder aufgenommen. Das zeigt, dass der korea als potenzielle oder tatsächliche Nuklearmächte. beschriebene einfache Zusammenhang, der von man- Ungefähr 40 Staaten stehen laut dem Generaldirektor der chen hergestellt wird, bestenfalls naiv ist oder Ausdruck Internationalen Atomenergiebehörde, al-Baradei, an der des bei uns bedauerlicherweise verbreiteten Antiameri- Schwelle, sich nuklear bewaffnen zu können. kanismus, bei dem die Verantwortung für jede interna- tionale Krise zunächst einmal bei den Vereinigten Staa- Wir müssen aber auch sehen, welche Konsequenzen ten gesucht wird. die Reaktion der Weltgemeinschaft in Bezug auf den Nuklearkonflikt mit dem Iran hat. Der Iran wird sehr Welche Auswirkungen hat das Verhalten Nordkoreas genau beobachten, ob deutliche Sanktionen gegen Nord- auf das internationale Nichtverbreitungsregime und die korea verhängt werden und ob die Weltgemeinschaft Sicherheitslage? Besonders gefährlich sind die Auswir- sich durchringen kann, um die Proliferation von Nukle- kungen natürlich für Nordostasien; denn die atomare Be- arwaffen auszuschließen, den Schiffsverkehr von und waffnung Nordkoreas droht die dortige relativ stabile nach Nordkorea zu kontrollieren. geopolitische Lage der letzten Jahrzehnte durcheinander zu bringen. Diese Lage ist in kurzen Worten so zu be- Die Art, wie die Weltgemeinschaft jetzt auf Nordko- schreiben: Die Vereinigten Staaten schützen Südkorea. rea reagiert, wird andere Staaten, die nach Nuklearwaf- China hat die Rolle Russlands übernommen, Nordkorea fen streben, ermutigen oder möglicherweise davon ab- im Zaum zu halten. Japan steht ebenfalls unter dem halten, sich eigene Nuklearwaffen zuzulegen. Schutzschirm der Vereinigten Staaten. Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, welche Japan hat nach dem so genannten Taepodong-Schock sicherheitspolitischen Konsequenzen sich für uns aus aus dem Jahre 1998, als Nordkorea zum ersten Mal eine dieser Entwicklung ergeben. Wir müssen alles dafür tun, mehrstufige Rakete testete, intensiv über den Aufbau ei- dass das Nichtverbreitungsregime aufrechterhalten nes eigenen Raketenabwehrsystems nachgedacht, dies bleibt, und wir müssen eine Strategie dafür entwickeln, 5474 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Eckart von Klaeden (A) wie wir mit den Staaten umgehen, die sich außerhalb des (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Nichtverbreitungsvertrages bereits Nuklearwaffen zuge- neten der SPD – Uta Zapf [SPD]: China kann legt haben. uns schon jetzt erreichen!) Frau Kollegin Hoff, in diesem Zusammenhang fand Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ich Ihre Darstellung der Bemühungen der Vereinigten Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Schäfer von der Staaten um eine Heranführung Indiens an das Nichtver- Fraktion Die Linke. breitungsregime ein wenig einseitig, wenn ich das so sa- gen darf. Bei Ihrer Darstellung der amerikanischen Be- (Beifall bei der LINKEN) mühungen haben Sie nämlich vollständig außer Acht gelassen, dass es kein Geringerer als der Generaldirektor Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): der Internationalen Atomenergiebehörde, al-Baradei, ge- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- wesen ist, der unter Berücksichtigung aller realpoliti- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Jahresabrüs- schen Konsequenzen den Vertrag zwischen den Verei- tungsberichte der Bundesregierung sind wie immer nigten Staaten und Indien unter dem Strich als einen informativ und wichtige Arbeitsmittel für alle, die abrüs- Fortschritt gerade auch im Hinblick auf die Unterstüt- tungspolitisch engagiert sind. Dafür kann man sich zung des Nichtverbreitungsregimes bezeichnet hat, weil schon einmal bedanken. Ich spreche meine Anerken- Indien durch diese Verhandlungen und den Vertrag stär- nung auch all denjenigen aus, die darauf hingewirkt ha- ker an das Nichtverbreitungsregime herangeführt wird. ben, dass wir endlich Gelegenheit haben, in der so ge- nannten Kernzeit über dieses Thema zu sprechen. Es ist richtig, das Nichtverbreitungsregime aufrecht- zuerhalten und alle aufzufordern, sich daran zu halten, Der Haken bei der Sache: Abrüstung, substanzielle aber wir müssen schließlich auch eine Strategie dafür Abrüstung, findet nicht mehr statt. Abrüstung ist kein of- entwickeln, wie wir mit den Staaten umgehen und auf fizielles Thema mehr. Wir machen uns nicht die Sicht- konstruktive Signale der Staaten reagieren, die sich ne- weise zu Eigen, die besagt, dass es Rüstungsbedrohun- ben den offiziell anerkannten Nuklearmächten Nuklear- gen und Rüstungslasten anderswo gibt, zum Beispiel in waffen beschafft haben. Pjöngjang und Teheran, und dass wir damit nicht unmit- telbar zu tun haben. Hic Rhodus, hic salta! Wir müssen Durch die Entwicklung, die wir zu beobachten haben, hier auch darüber reden, was in diesem Hause geschieht. müssen wir uns aber auch die Frage nach unserer eige- nen Sicherheitspolitik stellen. Wir müssen uns die Frage (Beifall bei der LINKEN) vorlegen, wie wir auf die Gefahr der asymmetrischen Hier wird über mehr Auslandseinsätze der Bundeswehr, (B) Proliferation von Nuklearwaffen angemessen reagieren. über die dafür notwendige Um- und Aufrüstung und (D) Wir müssen uns im Rahmen der NATO auch Gedanken über mehr Geld für die Rüstung diskutiert. Auch das ge- darüber machen, wie wir auf die Gefahr, dass es weitere hört in diese abrüstungspolitische Debatte. Nuklearmächte geben kann, und auf die Gefahr, dass sich zum Beispiel der Iran tatsächlich nuklear bewaffnet, (Beifall bei der LINKEN) reagieren. Klar, die Bundesrepublik ist kein isolierter Akteur. Wir haben es mit Welttrends zu tun. Da ist, wie man Wir müssen bedenken, dass schon heute viele Staaten sieht, Abrüstung „out of time“. Da hilft auch keine Europas im Einzugsbereich iranischer Raketen liegen. Schönfärberei weiter. Im Jahresabrüstungsbericht der Es ist letztlich auch eine Frage der Zeit, wann wir die Bundesregierung bemüht man lieber Schönsprech statt Gefahren des nuklearen Terrorismus in der westlichen Tacheles. Ein Beispiel hierfür ist der Ausdruck von der Welt vor Augen geführt bekommen und wann wir damit „gemischten Bilanz der Abrüstungs- und Rüstungskon- rechnen müssen, dass auch Europa von Nuklearwaffen trollpolitik“. weiterer Atomstaaten bedroht wird. Darauf müssen wir angemessen reagieren, und zwar einerseits mit den be- Tatsache ist: Die weltweiten Ausgaben für das Militär reits vom Kollegen Mützenich beschriebenen Bemühun- steigen wieder kräftig. Konventionelle Abrüstung ist gen, das Nichtverbreitungsregime aufrechtzuerhalten kein Thema. Es gibt dazu keine Foren, auf denen derzeit und so viele Staaten wie möglich von ihren möglichen über Abrüstungsschritte verhandelt wird. Im Bereich der Plänen, sich Nuklearwaffen zuzulegen, abzuhalten, und Atomwaffen droht eine entscheidende Erosion des andererseits, indem wir Überlegungen anstellen, wie wir Nichtverbreitungsvertrags. Auch die Summe der Waf- unsere eigene Bevölkerung effizient und erfolgreich vor fengeschäfte, also die Ein- und Ausfuhren – der Kollege diesen Gefahren schützen können. Mützenich hat darauf schon hingewiesen –, steigt wieder kräftig an. Es ist auch ein bundesdeutsches Thema, wenn Das Beispiel Nordkorea und die Entwicklung in die- Rüstungsexporte wieder Konjunktur haben. sem Monat zeigen, dass wir unsere Sicherheit, die Si- cherheit unserer Bürgerinnen und Bürger, nicht mehr al- Es ist richtig, wie Kollege Mützenich sagt, dass man lein geografisch definieren können, sondern dass die über diesen rüstungskontrollpolitischen Ansatz wieder Entwicklungen in fernen Teilen unserer Welt auch für ernsthafter nachdenken muss. Das ist ein entscheidendes die Sicherheit in unserem Land unmittelbare Konse- Element der Vertrauensbildung. Aber es geht bei der quenzen haben. Wir müssen darauf vorbereitet sein. Rüstungskontrolle darum, einem undurchschaubaren und unkontrollierten Aufwuchs von Rüstung zu wehren. Vielen Dank. Abrüstung dagegen meint eine tatsächliche Reduzie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5475

Paul Schäfer (Köln) (A) rung, Minderung und Eliminierung von Waffenarsena- ment programme“ begonnen und ihre Mitgliedstaaten (C) len, Reduzierung der Zahl der Streitkräfte und Senkung aufgefordert hatte, die Mittel für die Rüstungsetats jähr- der Rüstungsausgaben. Das ist viel weitgehender. Über lich um 5 Prozent zu steigern, ein entsprechendes Pro- genau diesen Punkt muss man diskutieren. gramm unter umgekehrten Vorzeichen auflegt. Warum sagen wir nicht, die Mitglieder sollen jährlich die Mittel Der Gedanke, der in den 80er-Jahren eine große Rolle für die Rüstungsetats um 5 Prozent reduzieren? gespielt hat, dass Rüstung teuer ist, volkswirtschaftliche Ressourcen bindet und eine zerstörerische und tödliche (Beifall bei der LINKEN) Wirkung hat – auch das muss man in diesem Zusammen- hang einmal sagen –, muss wieder Platz greifen. Deshalb Die Bundesregierung schreibt in ihrem Bericht, im hat Abrüstung für uns einen eigenen Stellenwert. Mittelpunkt ihrer Bemühungen stehe die „Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und ih- (Beifall bei der LINKEN) rer Trägermittel“ mit dem langfristigen Ziel der vollstän- Die Linke versteht sich als Partei der Abrüstung und das digen Abschaffung. Das ist sehr wichtig. Spätestens seit wird auch so bleiben. dem jüngsten stupiden Atomtest in Nordkorea steht die nukleare Frage wieder auf der Tagesordnung. Auch die Ich halte es für problematisch, dass der Jahresabrüs- Debatte um das iranische Atomprogramm hat gezeigt, tungsbericht aus einem Aufrüstungs- und einem Abrüs- dass der Vertrag über die Nichtverbreitung von Atom- tungsteil besteht und sich unkritisch gegenüber dem waffen in einer Krise steckt. zeigt, was an Aufrüstung in der NATO und in der EU stattfindet. Auf das Problem des „demokratischen Frie- Es droht in der Tat – darin ist meinen Vorrednern zu- dens“ und darauf, dass man das kritisch reflektieren zustimmen – eine Entwicklung, die zu mehr Atomwaf- muss, ist schon hingewiesen worden. Manche verklären fenmächten und neuen atomaren Rüstungswettläufen die NATO zur größten Friedensbewegung der Welt und führen wird. Es zeigt sich aber auch, dass sich auf Dauer deshalb soll all das, was dort an Rüstungs- und Aufrüs- nicht aufrechterhalten lässt, dass es auf der einen Seite tungsmaßnahmen vor sich geht, gut sein. Der Hinweis das exklusive Monopol einer kleinen Staatengruppe gibt, auf Irak und Afghanistan an dieser Stelle muss genügen, die für sich den Besitz von Atomwaffen beansprucht, um zumindest die Sichtweise, es handele sich um gute und auf der anderen Seite die nuklearen Habenichtse. Hegemonialmächte und das, was sie rüstungspolitisch Das hat nicht zuletzt die ergebnislose Überprüfungs- täten, sei in Ordnung, zu hinterfragen. konferenz im Jahr 2005 gezeigt. Es bleibt die Tatsache: Zwei Drittel der Weltmilitär- Wenn sich nichts an der beharrlichen Weigerung der ausgaben werden durch die NATO bestritten. Wenn (B) Atomwaffenbesitzer, abzurüsten, ändert, dann werden (D) dann auch hier im Hause diskutiert wird und aufseiten wir bei der nuklearen Abrüstung nicht weiterkommen. der Bundesregierung völlig zu Recht darauf hingewiesen Die Nuklearmächte müssen daran erinnert werden, dass wird, dass es ein krasses Missverhältnis zwischen den sie sich im Atomwaffensperrvertrag zur Abrüstung ver- Weltmilitärausgaben und den Ausgaben für öffentliche pflichtet haben. Diese Verpflichtung müssen sie endlich Entwicklung gibt, dann muss man doch zunächst einmal ernst nehmen. innehalten und sich fragen: Was tragen wir, die Bundes- republik, und die NATO als Bündnis, dessen Mitglied Auf der anderen Seite steht der um sich greifende mi- wir sind, dazu bei? litärische Interventionismus der Staaten des Nordens, der in anderen Teilen der Welt als bedrohlich empfunden Dazu muss man einfach sagen: Dieses krasse Miss- wird. Auch darüber muss man sich Gedanken machen. verhältnis besteht. Die Weltmilitärausgaben sind inzwi- Man muss sich schließlich nicht wundern, wenn manche schen auf die astronomische Summe von weit über glauben, sie könnten sich besser schützen, wenn sie sel- 1 Billion Dollar gestiegen. Ich glaube, die öffentlichen Entwicklungsmittel liegen gegenwärtig bei etwas über ber über die tödlichste aller Waffen verfügten. 80 Milliarden Dollar. Das ist ein krasses Missverhältnis. Die Glaubwürdigkeit der Atommächte – auch darauf Dieses Element trägt entscheidend zu Unfrieden und wurde schon hingewiesen – wird auch erschüttert, wenn Unsicherheit in der Welt bei. Hieran muss gearbeitet sie selber eine Politik der doppelten Standards verfolgen. werden. Das heißt: Abrüstung auch bei uns. Ebenso Während dem Iran wegen möglicher Atomwaffen- muss die NATO Beispiele dafür geben, dass sie abrüs- ambitionen bestimmte Rechte des Atomwaffensperrver- tungspolitisch vorangehen will. trags nicht zuerkannt werden, soll der neue Atomstaat (Beifall bei der LINKEN) Indien mit einer breiten nukleartechnischen Zusammen- arbeit belohnt werden. Das ist der Punkt. Ich bin pragmatisch denkend ge- nug, um zu wissen, dass man hier nicht wie bei einer Zur Erhöhung der nuklearen Gefahren gehören auch Wundertüte von der einen Seite auf die andere Seite um- waffentechnologische Entwicklungen, die die Schwelle verteilen kann. Aber dennoch ist der Hinweis auf diese für den Einsatz dieser Waffen herabsetzen. Früher galten Diskrepanz zwischen Militär- und Entwicklungsausga- Atomwaffen als politische Abschreckungswaffen. Es ben wichtig, weil er einfach Fehlentwicklungen zeigt, gab immer Bestrebungen, sie auch für militärische Ein- die korrigiert werden müssen. Deshalb fordern wir in un- sätze zu instrumentieren, um ihre Glaubwürdigkeit zu serem Entschließungsantrag, dass die NATO ähnlich wie erhöhen. Das war die Paradoxie der nuklearen Abschre- in den 70er-Jahren, in denen sie ein „long-term develop- ckungsphilosophie. 5476 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Paul Schäfer (Köln) (A) Inzwischen hat sich unsere Lage in rüstungstechnolo- Spielräume für Abrüstung nutzen. Das Bombodrom in (C) gischer Hinsicht verändert. Es gibt die so genannten der Kyritz-Ruppiner Heide muss geschlossen werden. Mini-Nukes und Bunker brechende Waffen, die für sehr Der Weg muss für eine zivile Nutzung freigemacht wer- konkrete Einsatzszenarien vorgehalten werden sollen. den. Das heißt, dass die Gefahr des Einsatzes dieser Waffen immens steigt. Auch darauf muss in diesem Zusammen- (Beifall bei der LINKEN) hang hingewiesen werden, um daraus die entsprechen- Die Rüstungsexporte müssen eingeschränkt und schließ- den Schlüsse zu ziehen. lich beendet werden. Das alles fordern wir in unserem Was folgt daraus? Ohne eine neue Dynamik bei der Entschließungsantrag. Ich empfehle Ihnen, diesem zuzu- atomaren Abrüstung ist der Weg zu atomaren Rüstungs- stimmen. wettläufen vorprogrammiert. Darüber muss gesprochen Vielen Dank. werden. Als erster Schritt müssen die bereits 1995 dekla- rierten negativen Sicherheitsgarantien, nach denen (Beifall bei der LINKEN) Nichtatomwaffenstaaten nicht atomar angegriffen wer- den dürfen, rechtsverbindlich werden. Die Ersteinsatz- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: doktrinen gehören in den Orkus. Der Grundsatz „No first use“ ist aktueller denn je. Das Wort hat jetzt der Bundesminister Dr. Frank- Walter Steinmeier. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des Es geht aber nicht nur darum, was in anderen Staaten Auswärtigen: geschieht. Auch in Deutschland geht es, wie gesagt, um Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich teile nukleare Abrüstung und um die deutschen Beiträge nicht alles, was mein Vorredner gesagt hat. Aber in ei- dazu. Wir brauchen die taktischen US-Nuklearwaffen, nem Punkt hat er Recht: „Abrüstung“ klingt wie ein die in Büchel und Ramstein lagern, nicht mehr als trans- Stichwort aus einer vergangenen Zeit. Ich bin mir sicher, atlantische Klammer. Es ist ein armseliges Bündnis, das dass bei einer solchen Debatte noch vor 20 Jahren nicht auf einer solchen Lastenteilung beruht. nur die unteren Ränge des Hauses sehr viel voller (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jürgen gewesen wären, sondern auch die Pressetribünen. Das Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bedrohungsgefühl hat sich hierzulande offensichtlich verändert. Vor 15 Jahren, nach dem Ende der Blockaus- Diese Waffen sind gefährlich, und zwar sowohl für die- einandersetzungen und mit Herstellung der europäischen (B) jenigen im Osten, auf die sie gerichtet sind, als auch für Einheit, hat die Furcht vor Bedrohung nachgelassen. (D) uns, weil sie Zielpunkte bei Einsatzplanungen anderer Man begann zu hoffen, dass sich die Bedrohung durch Staaten sind. Deshalb ist die Bundesregierung aufgefor- Massenvernichtungsmittel in Europa verflüchtigt oder dert, die USA zum Abzug zu drängen und diese Frage in irgendwie von selbst erledigt. Das war ein böser Trug- der Nuklearen Planungsgruppe der NATO beharrlich an- schluss. Der Atomtest in Nordkorea vor zehn Tagen hat zusprechen. – darauf haben bereits viele hingewiesen – die Menschen Bei der Diskussion über die Revision des strategi- aufgerüttelt. Wir erleben nun, dass das Zeitalter der schen Konzepts der NATO mit Blick auf den Gipfel Atomwaffen ganz offensichtlich nicht vorbei ist. Im Ge- 2008 sollte die Bundesregierung energisch darauf drän- genteil: Manche Machthaber wie die in Nordkorea set- gen, dass die aus dem Kalten Krieg übernommene For- zen ganz offenkundig darauf, sich mit atomaren Macht- mel, wonach diese taktischen Nuklearwaffen essenziell spielen wieder einen Platz in der Weltpolitik zu für die Verteidigung des Bündnisses sind, endlich in der verschaffen. Mottenkiste der Geschichte verschwindet. Lassen Sie mich an dieser Stelle und vor Einstieg in (Beifall bei der LINKEN) das eigentliche Thema einen Dank an das Hohe Haus richten. Der Deutsche Bundestag hat das zur Diskussion Schließlich sollte die nukleare Teilhabe der Bundes- stehende Thema – ich glaube, das darf ich sagen – nicht republik endgültig ad acta gelegt werden. Das heißt, dass nur dann ernst genommen, wenn es im Brennpunkt der auch die Tornadostaffel, die die Träger für diese Waffen medialen Aufmerksamkeit stand. bereitstellt, aufgelöst werden sollte. ( [Wiesloch] [SPD]: Sehr (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) richtig!) Das ist eine Reihe von Vorschlägen. Ich könnte einige Allen hier vertretenen Parteien ist das Thema Abrüstung Vorschläge zur Rüstungsexportpolitik anschließen. Auch immer ein Anliegen gewesen, wenn auch vielleicht mit in diesem Bereich könnte die Bundesrepublik Deutsch- unterschiedlichen Gewichtungen. Das weiß man auch land sehr viel mehr tun, als es gegenwärtig der Fall ist. außerhalb der Grenzen unseres Landes. Weil man uns in Also nicht immer auf andere zeigen, sondern hier mit der Abrüstungsfragen ernst nimmt, finden Kongresse und Abrüstungspolitik beginnen! Leider reicht meine Zeit Veranstaltungen zu diesem Thema – achten Sie einmal nicht mehr, darauf genauer einzugehen. darauf! – häufig in Deutschland statt. Zuletzt fand im Noch einmal: Die NATO muss ein positives Signal Willy-Brandt-Haus eine Veranstaltung zu den Themen bei der Abrüstung setzen. Wir müssen die nationalen „Abrüstung“ und „nukleare Abrüstung“ zusammen mit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5477

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) dem Direktor der Internationalen Atomaufsichtsbehörde, schen Dialogs, nicht nur weil ich ihn für richtig halte, (C) al-Baradei, statt. sondern auch weil ich ihn für alternativlos halte. Wir diskutieren heute über den Jahresabrüstungsbe- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie richt und dokumentieren damit zum 22. Mal in der Ge- bei Abgeordneten der FDP und der Abg. schichte der Republik die Anstrengungen der Bundesre- [Bremen] [BÜNDNIS 90/ gierung bei der Rüstungskontrolle, der Nichtverbreitung DIE GRÜNEN]) und der Abrüstung. Zu Beginn der Vorlage der Abrüs- Mit der gleichen Sorge, aber auch mit dem gleichen tungsberichte stand natürlich die Situation in Deutsch- Ziel haben wir uns in den Konflikt um das iranische land und in Europa – das habe ich vorhin angedeutet – Atomprogramm eingeschaltet und Teheran zu einem im Vordergrund. Die Bedrohung durch Massenvernich- frühen Zeitpunkt in diesem Jahr, nämlich schon im Juni, tungsmittel und Trägerraketen war für unser Land allge- gemeinsam mit anderen ein sehr, sehr weit reichendes genwärtig. Heute stehen wir vor der Aufgabe, dem da- Angebot zu Gesprächen und zu Verhandlungen gemacht. mals gewählten und noch immer richtigen Ansatz von Dabei ist auch Ihnen immer wieder offenbar geworden: multilateralen Verpflichtungen und Verträgen zu neuer Wir sprechen Teheran eben nicht das Recht auf zivile Geltung und Durchsetzungsstärke zu verhelfen. Nutzung von Atomenergie ab, aber wir wollen verhin- (Beifall bei der SPD) dern, dass sich Teheran unter diesem Deckmantel eigene Nuklearwaffen zulegt. Europa und insbesondere Deutschland stehen dabei – das bekenne ich – in ganz besonderer Verantwortung. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Wir wollen die Gefahr eines nuklearen Wettlaufs auch in FDP sowie der Abg. Marieluise Beck [Bre- anderen Weltregionen durch eine aktive Abrüstungspoli- men] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) tik verhindern. Deshalb besteht die Weltgemeinschaft auf einer interna- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tionalen Kontrolle des Atomprogramms. Deswegen der CDU/CSU) pochen wir auf eine Aussetzung der Urananreicherung und deshalb muss Teheran den Nachweis liefern, dass Wie dringlich dies ist, zeigt der Atomtest in Nord- geheime Aktivitäten aus offensichtlich mehr als 18 Jah- korea, auf den ich schon zu Beginn meiner Rede hinge- ren weder im Hauptzweck noch im Nebenzweck der wiesen habe. Das nordkoreanische Regime verstößt mit Entwicklung einer eigenen nuklearen Waffentechnologie dieser Provokation eklatant gegen die Bestimmungen gedient haben. des Nichtverbreitungsvertrages. Wie Sie wissen, bedeu- Die Auseinandersetzungen mit Nordkorea und dem (B) tet die Zündung eines nuklearen Sprengkopfes, wie sie (D) nun stattgefunden hat, eine neue Eskalationsstufe. Iran offenbaren – viele andere haben es eben gesagt – eine schleichende Erosion des Nichtverbreitungsver- Deshalb unterstützen wir – ich bin froh, dass das auch trages. Auch dieses Thema ist in der Weltpolitik in den viele andere hier gesagt haben – die eindeutige und deut- vergangenen Jahren zu Unrecht unter den Punkt „Ver- liche Antwort des Weltsicherheitsrats auf diesen unver- schiedenes“ gerutscht. Manche hat es kaum beunruhigt, antwortlichen Schritt; denn wir dürfen nicht wegsehen, dass die Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungs- wenn Nordkorea auf diese Weise nicht nur den Frieden vertrages im Mai 2005 ohne jedes substanzielle Ergebnis in der Region gefährdet, sondern mit seinen Aktivitäten auseinander- und zu Ende gegangen ist. Ich will deshalb der Welt geradezu einen neuen nuklearen Rüstungswett- für uns betonen: Wir müssen das Thema Abrüstung wie- lauf aufzuzwingen versucht. der oben auf die Tagesordnung setzen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Werner Hoyer [FDP]) Deshalb lassen Sie uns auch von dieser Stelle noch ein- Für die Bundesregierung – das verspreche ich Ihnen – mal das Regime in Pjöngjang dazu aufrufen, den Weg ei- bleibt es ein zentrales Anliegen, dass die nächste Über- ner, wie ich finde, völlig sinnlosen Selbstisolation zu prüfungskonferenz im Jahr 2010 ein Erfolg wird. Herr verlassen, und dies nicht nur wegen des Rüstungswett- Mützenich hat darauf hingewiesen, dass die G 8 einen laufs, sondern auch weil Nordkorea damit noch mehr Rahmen dazu bietet, die Arbeiten schon im nächsten Armut und noch mehr Leid über die eigene Bevölkerung Jahr aufzunehmen. Arbeit gibt es reichlich. Erst 41 von bringt. 44 Staaten haben den umfassenden Kernteststoppvertrag unterzeichnet. Sieben müssen noch ratifizieren, darunter (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP die wichtigsten. Die Arbeit in der Genfer Abrüstungs- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) konferenz braucht frische Impulse. Auch die Abrüstung der Kernwaffenstaaten und insbesondere die Abrüstung Indem ich das sage, bringe ich aber auch in Erinnerung, der nuklearen Kurzstreckenraketen von Russland und dass in der Antwort des Weltsicherheitsrats ein Zweites den USA müssen wieder auf den Tisch kommen. enthalten ist, nämlich auch die Aufforderung an Nord- korea, im Rahmen der Sechsergespräche an den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verhandlungstisch zurückzukehren. Wir unterstützen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ausdrücklich die schnelle Wiederaufnahme eines politi- CDU/CSU) 5478 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Zur Logik der Nichtverbreitung gehört aber auch, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) dass wir glaubwürdige Angebote für die zivile Nutzung Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Werner Hoyer von der Kernenergie für solche machen, die sie nutzen wol- der FDP-Fraktion. len. Deshalb habe ich – dem einen oder anderen wird das aufgefallen sein – vor wenigen Wochen einen Vorschlag (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Uta Zapf zur Multilateralisierung des nuklearen Brennstoffkreis- [SPD]) laufs in die Diskussion gebracht, nicht etwa deshalb, weil ich meinte, es gebe nicht genügend, sondern weil Dr. Werner Hoyer (FDP): ich der Meinung bin, dass jedenfalls auf Grundlage der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! bisherigen Vorschläge kein Fortkommen zu erzielen war Nachdem meine Kollegin Elke Hoff, unsere abrüstungs- und deshalb die Diskussion wieder neu angestoßen wer- politische Sprecherin, die wesentlichen Fragen der bei- den muss. Es gab Reaktionen auf diesen Vorschlag: Sie den Jahresabrüstungsberichte behandelt hat, möchte ich waren so ermutigend, dass wir diesen Weg weitergehen jetzt auf das, was Minister Steinmeier und andere Red- werden. ner gesagt haben, eingehen und mich in meinem kurzen Beitrag auf wenige Punkte beschränken. Wir werden diesen Weg fortsetzen, auch wenn er, wie ich weiß, lang, beschwerlich und dornenreich ist. Ob- Herr Steinmeier, es ist richtig: Ende der 80er-, Anfang wohl das so ist, haben wir der Nuclear Suppliers Group der 90er-Jahre war Abrüstungspolitik en vogue. Bei ei- erst am Freitag der vergangenen Woche angeboten, dass nem solchen Thema wäre dieses Haus voll gewesen und Deutschland zum ersten Mal in der Geschichte dieser man hätte sich danach gedrängt, in diesem Bereich Gruppe ihren Vorsitz übernimmt. Nach Lage der Dinge irgendeine Rolle zu spielen. Wer sich damals in den Ver- wird das etwa im Jahr 2008 der Fall sein. Damit will ich teidigungsausschuss begeben hat, wurde eigentlich belä- Ihnen nur sagen, dass wir es mit unserem Engagement chelt, weil er eher als Aufrüster dargestellt wurde. Heute für eine multilaterale Nichtverbreitung ernst meinen. spielt die Abrüstungspolitik offensichtlich keine so Wir sind bereit, auch dafür Verantwortung zu überneh- große Rolle mehr. So schlimm die Themen sind, mit de- men. nen wir uns gegenwärtig befassen müssen – Nordkorea, Iran –: Vielleicht ist mit dieser Situation die Chance für (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der einen Neubeginn in der Abrüstungspolitik verbunden. CDU/CSU) (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- Mit einigen wenigen Worten muss ich einen zweiten loch] [SPD]) Komplex erwähnen: konventionelle Rüstungsgüter, ins- besondere Kleinwaffen und Minen. Es handelt sich da- Womöglich wird uns bewusst, dass Abrüstungspolitik (B) (D) bei um eine Kategorie von Waffen – ich habe es hier im auch in Zeiten asymmetrischer Bedrohung einer Logik Hohen Hause schon einmal gesagt –, mit denen mehr folgen muss. Es war damals relativ einfach – ich aner- Menschen als mit den Waffen aller anderen Kategorien kenne, was Ende der 80er-, Anfang der 90er-Jahre in der zusammen umgebracht werden. Wie Sie wissen – es Abrüstungspolitik geleistet worden ist –, weil man sich wurde hier gesagt –, werden durch die massenhafte Ver- in einem Gleichgewichtsdenken bewegen konnte. breitung dieser Waffen Konflikte verschärft und wird die Heute ist Abrüstungspolitik so schwierig, weil wir es Entwicklung in vielen Ländern destabilisiert. Deshalb teilweise mit abstrakten, teilweise mit konkreten Bedro- haben wir uns in diesem Bereich engagiert, vor allen hungen zu tun haben, aber keine beidseitige Reduzie- Dingen bei der Entschärfung von Minen. Die Bundesre- rung im Sinne einer Gleichgewichtspolitik betreiben gierung hat zum Beispiel mit dem Internationalen Kon- können. Deswegen muss man bei diesem Thema sehr versionszentrum Bonn und anderen Nichtregierungsor- viel Mut, Konsequenz und Standhaftigkeit haben. ganisationen, mit der GTZ und der Bundeswehr, Herr Jung, dafür gesorgt, dass viele dieser Minen entschärft (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Rolf werden. Dadurch wurde das Leben vieler Menschen Mützenich [SPD]) wieder sicherer gemacht. Fast möchte ich selbstkritisch fragen: Was haben wir Wir werden bei diesem Engagement bleiben, etwa versäumt? Darauf komme ich gleich zurück. wenn es um die Einführung von Standards für Antifahr- zeugminen geht. Wir werden uns im Rahmen dieser An- Wichtig ist mir, vorweg zu sagen: Was die konkreten strengungen auch für ein völkerrechtlich verbindliches Fälle angeht, müssen wir klarstellen, wer verantwortlich Verbot von Streumunition einsetzen. ist. Für das, was im Iran oder in Nordkorea passiert, sind die Regierungen im Iran und in Nordkorea und nie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie mand anders verantwortlich. bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der NISSES 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich Sie können sich darauf verlassen, dass unser Engage- [SPD]) ment erhalten bleibt. Wenn wir uns selbstkritisch mit der Frage beschäftigen, Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. was wir machen können, um eine zukunftsorientierte Abrüstungspolitik zu gestalten, dann entlässt das diese (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Regierungen nicht aus ihrer Verantwortung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5479

Dr. Werner Hoyer (A) Es entlässt auch nicht diejenigen aus ihrer Verantwor- gegeben. Vielmehr wird dort ständig über neue nukleare (C) tung, die jetzt über Sanktionen nachdenken und im Systeme philosophiert und es wird modernisiert. Deswe- Zweifel darüber entscheiden. Ich glaube, wir sind an ei- gen müssen wir auch gegenüber denjenigen, die überle- nem Punkt angekommen, der es in beiden Fällen nahe gen, ob sie sich eine nukleare Option schaffen sollten, legt, dieses Mittel nicht mehr auszuschließen. Aber wir Glaubwürdigkeit demonstrieren. Unseren Partnern in alle müssen wissen: Sanktionen wie Embargomaßnah- Ost und West sollten wir entsprechend Mut machen. men können nur funktionieren, wenn sie „dicht“ sind. Dann darf es nicht schon am Anfang Relativierungen ge- Herr Minister, ich freue mich, dass Sie den Vorsitz der ben, wie wir sie jetzt seitens Chinas wieder gehört ha- Nuclear Suppliers Group übernehmen. Das bedeutet ben. aber auch, dass Sie in der Nuclear Suppliers Group rich- tig abstimmen müssen, wenn es um Indien geht. Ich be- Ich glaube, dass in China jetzt eine Schocksituation grüße sehr, dass der Kollege Mützenich für die SPD- eingetreten ist und deshalb vielleicht wirklich eine Fraktion gesagt hat: Es kann nicht sein, dass auf der Chance besteht, die chinesischen Kollegen beim Wort zu Grundlage der gegenwärtigen Bedingungen Deutschland nehmen. Uns als Obleuten des Auswärtigen Ausschusses dem Nukleardeal zwischen den Vereinigten Staaten und haben die chinesischen Kollegen vor wenigen Monaten Indien zustimmt. nachdrücklich gesagt, für wie realistisch und machbar sie die diplomatische Lösung im Falle des Iran – aber (Beifall bei der FDP) wahrscheinlich auch im Falle Nordkoreas – halten. Wir Meine Damen und Herren, es gibt – ich bin ein gna- müssen sie jetzt einmal zeigen lassen, was sie auf diesem denloser Optimist – vielleicht eine Chance, die Abrüs- Gebiet können. Nur Nein zu sagen, das kann es bei die- tungspolitik wieder in Gang zu bringen. Ich freue mich, sem Thema wirklich nicht sein. dass Sie gesagt haben – wir haben Sie in diesem Jahr be- (Beifall des Abg. Eckart von Klaeden [CDU/ reits mehrfach in Plenardebatten dieses Hauses dazu auf- CSU]) gefordert –, dass Sie die Abrüstungspolitik für die Bun- desregierung ganz oben auf die Tagesordnung Ihrer Zweitens. Ich halte es für völlig absurd, davon auszu- Politik setzen werden. Sie werden dabei unsere Unter- gehen, dass sich die Vereinigten Staaten in direkte Ge- stützung haben. Das wird ein schwerer Weg sein, und spräche mit Nordkorea hineinbomben lassen. Insofern zwar deshalb, weil die intellektuelle Herausforderung, ist das Verhalten Nordkoreas gerade im Zusammenhang vor der wir stehen, wenn wir über Abrüstung bei asym- mit dem Anliegen, das Nordkorea verfolgt, kontrapro- metrischer Bedrohung reden, sehr viel Musik enthält. duktiv. Wir werden Sie nach Kräften unterstützen. Ich hoffe, Ich sehe aber auch das Dilemma, vor dem die Verei- dass wir bald Taten sehen werden; übrigens auch des- (B) (D) nigten Staaten stehen. Wenn man eine militärische halb, weil Deutschland in der Völkergemeinschaft und Option ausschließt, was ich tue und was übrigens auch insbesondere in Europa eine ganz wichtige Rolle spielt, auf Südkorea zutrifft, dann gibt es entweder die Mög- da wir ein für alle Mal auf Atomwaffen verzichtet haben. lichkeit, die Chance zu direkten Gesprächen nicht auszu- In Europa und darüber hinaus gibt es viele Länder, die schlagen, oder die Möglichkeit, sich endgültig damit ab- ebenfalls der Meinung sind, dass eine gute Zukunft und zufinden, dass Nordkorea über Nuklearpotenzial und ein großer Einfluss in der Weltpolitik auch dann möglich über die entsprechenden Trägersysteme verfügt. sind, wenn man nicht über Atomwaffen verfügt. Deshalb sollten wir uns im Westen Mut machen, wie- Herzlichen Dank. der daran zu gehen, auf der Basis unserer eigenen Werte (Beifall bei der FDP) und Überzeugungen Abrüstungspolitik zu betreiben. Die Erosion der Regime in Osteuropa – teilweise schreckli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: cher Regime – ist nicht über eine konkrete militärische Bedrohung, sondern über eine militärisch abgesicherte Herzlichen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege Erosion von innen erfolgt. Darauf muss man auch im Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg von der CDU/ CSU-Fraktion. Falle Nordkoreas auf Dauer setzen. Von daher sollte man Gespräche nicht von vornherein ausschließen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der SPD) Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ CSU): Drittens. Ich kann mich nicht mit dem Gedanken ab- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und finden, dass wir es, wenn der Iran und Nordkorea Erfolg Herren! Fast alles, was der Kollege Hoyer gesagt hat, ist haben sollten, mit einer zweistelligen Zahl – sie reicht an zu unterschreiben bzw. zu unterstreichen. Es ist wenig die 20 heran – von Atommächten zu tun haben werden; hinzuzufügen. Trotzdem werde ich sicherlich noch ei- mit der Perspektive, dass dann die Proliferation an nicht nige Punkte finden. staatliche Akteure nicht mehr wird verhindert werden können. Deshalb muss jetzt hier mit einer neuen Politik Herr Bundesaußenminister, wir begrüßen ausdrück- eine Grenze gezogen werden. Das erfordert aber ein hö- lich den Stellenwert, den Sie der Rüstungskontrolle jetzt heres Maß an Glaubwürdigkeit der jetzigen Atom- einräumen und zukünftig einräumen wollen. Dieser Stel- mächte, und insbesondere der P 5. In diesem Kreise hat lenwert spiegelt sich in dem sicherlich ehrgeizigen An- es über Jahre in der Tat keine beherzte Abrüstungspolitik satz wider, was die nächste Überprüfungskonferenz 5480 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) anbelangt, und in dem ehrgeizigen Ansatz, bei beiden Was wäre zu tun? An sich ist mit den neuen Konflikt- (C) Präsidentschaften – ich glaube, dass sich hier eine Ver- herden – wir spüren das heute Morgen – auch eine neue zahnung finden lässt – die Rüstungskontrolle ganz oben Diskussionsdynamik gewonnen. Das ist wahrscheinlich auf die Tagesordnung zu setzen. Wir werden das unter- der einzige positive Schluss, den wir angesichts des ins- stützen. Wir halten das für den richtigen Ansatz. gesamt verheerenden Bildes ziehen können. Die Beglei- tung dieser Dynamik dürfen wir aber nicht allein den (Beifall bei der CDU/CSU) Medien überlassen; auch wir hier in diesem Hause müs- Die Debatte, die wir heute führen, ist außerordentlich sen sie aufgreifen – die heutige Tagesordnung spiegelt vielschichtig. Daher müssen wir uns davor hüten, mit das schon wider –, substanziell unterfüttern und ohne einseitigen Schuldzuweisungen zu arbeiten. Die Viel- einseitige Schuldzuweisungen mit unseren Partnern fort- schichtigkeit zeigt sich beispielsweise in den Diskussio- entwickeln. Insofern können wir sicherlich aus den ge- nen, die wir im Unterausschuss führen. Herr Kollege scheiterten Konferenzen der vergangenen Jahre lernen. Schäfer, ich glaube, wir müssen sehr aufpassen, dass wir Manchmal ist der Lerneffekt auch ein guter, der in die bezüglich gewissen Partnern und Bündnissen nicht einen Zukunft hineinzureichen weiß. Zungenschlag in die Diskussion bekommen, der in mei- In meinen Augen wäre auch eine Ausbalancierung nen Augen wenig hilfreich wäre. Sie haben die NATO genannt. Wenn in der Diskussion der Zungenschlag üb- der Prozesse – zum einen Nichtverbreitung und zum an- rig bliebe, dass die NATO ein Faktor der Unsicherheit deren Abrüstung – geboten. Kollege Mützenich hat da- wäre, dann wäre das – bei allem Reformbedarf – sicher- rauf hingewiesen. Angesichts der heute gegebenen Ver- lich falsch und ließe vergessen, welche Beiträge die netzungen der asymmetrischen Komplexe neigen wir NATO in den vergangenen Jahren für unsere Sicherheit noch dazu, in allzu starren, hergebrachten Mustern zu und für die Stabilität in Europa geleistet hat und auch denken. Ich glaube, wir müssen uns vom noch herr- heute noch leistet. schenden Kastendenken verabschieden und kreativ neue Wege aufzeigen, um die Ausbalancierung herzustellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir müssen aber auch differenzieren: So sehr aus nu- klear aufgerüsteten Staaten Proliferationsrisiken ent- Die Rüstungskontrolle befindet sich – das ist heute in stehen können, so wenig wird aus der Umkehrung eine allen Beiträgen angeklungen – in einer Krise. Herr Bun- zwangsläufige Logik. Sie haben auf den Punkt der Logik desaußenminister, Sie haben sogar von „Erosion“ ge- hingewiesen, Kollege Hoyer. Wir dürfen daher nicht ver- sprochen. Symptomatisch für diesen Befund ist mit kürzt argumentieren, sondern sollten zur Kenntnis neh- Sicherheit der derzeitige Zustand des Nichtverbreitungs- men, dass sich nukleare Proliferation kaum durch hun- vertrages. Für uns muss entscheidend sein, dass der Ein- dertprozentige Abrüstungsbereitschaft der existierenden (B) druck, der gerade vor dem Hintergrund der Situation in Nuklearmächte vermeiden oder aufhalten lässt. Diesen (D) Nordkorea und im Iran derzeit entsteht, dass Dreistigkeit Punkt muss man immer wieder zur Sprache bringen. Das und Unverschämtheit siegen würden, niemals Maßstab heißt nicht, dass wir dem Ziel der völligen Abrüstung einer zielführenden Rüstungskontrollpolitik für uns sein von Nuklearwaffen nicht verpflichtet bleiben müssen kann. Wir müssen diesem Eindruck entgegenwirken, – das haben wir im Koalitionsvertrag ja auch entspre- meine Damen und Herren. chend festgehalten –, sondern dass wir darauf achten Nun könnte man meinen, dass es der Alarm- und müssen, dass Hypothesen und Realitäten sich nicht in Weckrufe in dieser und in vergangener Zeit genug gege- gefährlicher Weise innerhalb der Argumentationsketten ben habe. Allerdings scheinen sich einige internationale vermengen. Mitspieler noch ganz bewusst im Dornröschenschlaf be- Ich bezweifle leider, dass dem nordkoreanischen und finden zu wollen. Manches Dornröschen mit Mundge- iranischen Streben nach Atomwaffen durch entspre- ruch küsst man auch ungern wach. Das gilt sicherlich chende Abrüstungsschritte des Westens tatsächlich Ein- auch für uns. halt geboten werden könnte. Das sind zwei völlig unter- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – schiedliche Ebenen, die wir zu behandeln haben. Das ist [CDU/CSU]: Das ist wahr! – bedauerlich und soll auch nicht falsch verstanden wer- Dr. [CDU/CSU]: Ein sehr den: Abrüstung ist dringend geboten. Doch man würde schönes Bild!) es sich allzu leicht machen, lediglich isoliert vorzuge- hen. Wer glaubt, unsere Sicherheit würde sich sprung- Das mag eine etwas harte Metapher sein, haft erhöhen, wenn der Westen als solcher auf die Atom- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die ist gut! waffen verzichten würde, der erliegt einer Illusion, Aus dem Leben gegriffen!) insbesondere solange wir Staaten wie Syrien und Iran gegenüberstehen, die sich anderen Kontrollregimes nicht aber sie spiegelt wider, vor welchen Defiziten und vor verpflichtet fühlen; beispielhaft sei das Chemiewaffen- welchen Paradoxa wir in dieser Thematik letztlich ste- übereinkommen oder das Biowaffenübereinkommen ge- hen. Die Mängel des Nichtverbreitungsvertrages sind nannt. Es ist eine hochkomplexe Angelegenheit mit un- uns seit Jahren hinlänglich bekannt. Die fehlende Uni- terschiedlichen Schichten, in der man nicht zu brachial versalität ist letztlich nur paradigmatisch für viele andere argumentieren sollte. Das soll nicht heißen, dass gewisse Dinge, die wir herausgreifen können und sollten. Ge- Zeichen bestimmter uns partnerschaftlich verbundener schehen ist letztlich wenig, zu wenig. Daher ist die Über- Staaten im gesamten Abrüstungsbereich mit Blick auf prüfungskonferenz sicher der richtige nächste Schritt. faktisch oder möglicherweise auch bündnispolitisch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5481

Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (A) nicht mehr benötigte Systeme und Waffen nicht wün- rade im Senat statt. Das ist etwas, was wir positiv auf- (C) schenswert wären. Das darf man ansprechen und das greifen sollten. Da sollten wir nicht immer mit der fla- sollte man auch in der entsprechenden Form ansprechen. chen Hand über den Tisch fahren. Es genügt natürlich nicht, gebetsmühlenartig immer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie nur die Vereinigten Staaten zu nennen. Man sollte in die- bei Abgeordneten der FDP) sem Kontext mit derselben Vehemenz, vielleicht mit ei- Zuletzt zum Iran. Ich bin für das dankbar, was der ner noch größeren Vehemenz, auch einmal Russland be- Bundesaußenminister genannt hat. Ich möchte in diesem nennen. Rahmen Folgendes sagen: Es sind schwierige und (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) manchmal fast dilemmatisch geprägte Verhandlungs- züge, in denen man sich hier befindet. Die Bundesregie- Heute ist auch auf Presidential Declarations oder Initia- rung hat in den vergangenen Monaten auf dem Gebiet tives hingewiesen worden, die es im Jahr 1991 gab. Da kreativ verantwortungsvoll gehandelt und verhandelt. ist herzlich wenig geschehen. Auch Russland muss hier Das verdient auch einmal den Dank dieses Hauses. Was in die Pflicht genommen werden. hier zu leisten war, war nicht einfach. Es wurden viele (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Impulse gesetzt – das muss man wirklich sagen – und FDP) die Bundesregierung verhält sich hier entsprechend. Ein Zweites; auch das ist ein sehr komplexer Ansatz. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Es gilt in meinen Augen eine Politik zu entwickeln, die Dr. Werner Hoyer [FDP]: Dank an Michael sich zielführend mit dem zu Recht und zu Unrecht erho- Schaefer!) benen Vorwurf der doppelten Standards auseinander – Michael Schaefer ist in der Tat einer, der hier an der setzt. Das ist mittlerweile ein wechselseitig, und zwar Spitze zu nennen ist, mit Sicherheit, Herr Kollege Hoyer. mit enormer Dynamik, erhobener Vorwurf. Es ist fast eine Double-standards-Kultur entstanden, die wir nut- Es wäre zu wünschen, dass all das, was heute ange- zen, wann immer es uns wunderbar passt, gerade auch klungen ist, keine Eintagsfliege bleibt – zurzeit stehen im wirtschaftlichen Sinne, Herr Bundesminister. Bei- wir ja unter dem Eindruck der Probleme Nordkorea und spielhaft sei hier die Debatte über das US-indische Nu- Iran –, dass dieser Tagesordnungspunkt so prominent be- klearabkommen – das ist heute schon angeklungen – ge- setzt bleibt und Kohärenz mit anderen Themenfeldern nannt. Das ist eine außerordentlich schwierige Thematik, findet. Herr Bundesaußenminister, unsere Unterstüt- die mit allen Schattierungen gesehen werden muss. Wir zung haben Sie, wenn Sie es in den kommenden Jahren dürfen diese Debatte nicht verkürzen. Man hat aber gele- so hoch auf der Tagesordnung ansetzen. Ich danke Ihnen (B) gentlich den Eindruck, dass mittlerweile die USA und allen dafür, dass Sie sich mit dieser Thematik entspre- (D) nicht Nordkorea oder Iran als hauptverantwortlich für chend befassen. Hier liegt viel vor uns. Es sind kom- den Niedergang des Nichtverbreitungsregimes angese- plexe Themenfelder. hen werden. Dazu wird dieses Abkommen jetzt gern he- Herzlichen Dank. rangezogen. Es wird auch ernsthaft argumentiert, dass sich Iran und Nordkorea durch das Abkommen erst er- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der mutigt gefühlt hätten, nach Atomwaffen zu streben. Das FDP) ist – das muss klar festgestellt werden – barer Unsinn. Dem Willen der internationalen Gemeinschaft läuft Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: das Verhalten Teherans und Pjöngjangs selbstverständ- Das Wort hat jetzt der Kollege Jürgen Trittin von lich entgegen. Aber dass dem US-indischen Abkommen Bündnis 90/Die Grünen. diesbezüglich eine Ursächlichkeit zugesprochen wird, dem müssen wir einen Riegel vorschieben; denn das Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nutzt in der Gesamtdebatte, die wir gerade führen, nun Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist of- wirklich niemandem. Das Abkommen zwischen den fenkundig: Die Nordkoreakrise offenbart auch die Krise USA und Indien ist im Hinblick auf diese beiden Pro- der Abrüstungspolitik. Israel, Indien und Pakistan ist blemkreise weniger das Problem. Es ist natürlich para- es gelungen, sich in den Besitz von Atomwaffen zu brin- digmatisch für all die bekannten Schwächen des Nicht- gen, Nordkorea ist dabei und wir haben die schlimme verbreitungsvertrages. Frau Zapf, das ist etwas, was Sie Vermutung, dass Iran Ähnliches betreibt. mit großer Vehemenz und mit großer Verve bearbeiten. Herr von Guttenberg, Sie haben hier gesagt, wir Ich nehme an, dass Sie uns heute noch einige Punkte müssten vermeiden, dass Dreistigkeit belohnt wird. nennen werden, die wir hier beachten müssen und in Zu- Diese Forderung kommt – ich muss das sagen – leider zu kunft beachten werden. spät. Schauen Sie sich die Reaktionen auf die Dreistig- Die Verhandlungen laufen noch, was dieses Abkom- keit von Indien und Pakistan an! Beide Staaten werden men anbelangt. Vielleicht wäre es auch einmal geboten, heute mit Waffen bezahlt; alle Diskussionen über Em- bei uns von parlamentarischer Seite auf die Kontakte zu- bargos usw. sind beendet worden. Das ist der Haupt- rückzugreifen, die beispielsweise zum amerikanischen grund, warum wir zu dem US-indischen Atomdeal so Senat bestehen. Weil gern so platt mit Schuldzuweisun- kritisch stehen; denn genau das ist die Botschaft, die von gen gearbeitet wird, will ich einmal sagen: In den USA dieser Vereinbarung ausgeht: dass Dreistigkeit beim Zu- findet eine wirklich kontroverse Auseinandersetzung ge- griff auf Atomwaffen belohnt wird. 5482 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Jürgen Trittin (A) Man kann sich da auch nicht hinter Herrn Baradei chen wird – was richtig ist, Herr Bundesaußenminister –, (C) verstecken; er hat das ebenfalls konditioniert. Herr Bun- aber uns in der nächsten Woche der Bundesverteidi- desaußenminister, meinen Sie das, was Sie hier gesagt gungsminister den Entwurf eines Weißbuchs, abgeseg- haben, ernst? Sie sagen, wir könnten an Indien kein Nu- net durch einen Kabinettsbeschluss, präsentiert. Ich klearmaterial liefern, wenn es nicht den Teststoppvertrag möchte gerne einmal wissen, lieber Herr Jung und lieber unterschrieben hat; wir könnten das nur tun, wenn wir es Herr Steinmeier: Findet sich auch nach dem Kabinetts- schaffen, Ihren richtigen Vorschlag der Multilateralisie- beschluss der Satz, der noch im Entwurf des Weißbuchs rung des nuklearen Brennstoffkreislaufes umzusetzen. – enthalten ist, wieder, nämlich dass für eine glaubhafte Ich kann Ihnen sagen, wie Sie sich in den nächsten Jah- Abschreckung die nukleare Drohung nach wie vor un- ren aller Voraussicht nach in der Nuclear Suppliers verzichtbar ist? Das heißt, Sie bedienen selber die Logik Group verhalten müssen, wenn Sie diese Bedingungen derjenigen, die heute nach Atomwaffen greifen. Deshalb ernst nehmen, Herr Bundesaußenminister: Sie werden sage ich: Kehren Sie vor der eigenen Haustür! Nein sagen müssen an dieser Stelle. Sie werden sich ge- nau so verhalten müssen, wie wir als Grüne das hier be- (Beifall bei der LINKEN) antragt haben. Sorgen Sie dafür, dass dieser Satz bis zur nächsten Wo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) che aus dem Weißbuch gestrichen wird! Ich glaube, dass es richtig ist, an dieser Stelle Nein zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen; denn eine Welt, in der 15, 20 oder mehr Staaten sowie bei Abgeordneten der LINKEN) über Nuklearwaffen und die entsprechende Technologie Wenn wir über Abrüstung reden, dann müssen wir verfügen, was dazu führt, dass wir uns mit möglicher il- auch und gerade den Bereich der konventionellen Waf- legaler, halblegaler oder auch legaler Lieferung von sol- fen einbeziehen. Ich glaube übrigens, dass es im Deut- cher Technologie an Verbrecher, an Terroristen auseinan- schen Bundestag für weitergehende Schritte – damit der zu setzen haben, können wir uns, glaube ich, nur sehr meine ich nicht nur den Verzicht auf nukleare Teilhabe schwer vorstellen. Deutschlands – wie die wirksame Begrenzung von Ich habe immer gesagt, dass – da sind wir vielleicht Kleinwaffen und ein Verbot von Antifahrzeugminen sogar einer Meinung – es vernünftig wäre, insgesamt auf oder von Streumunition eine breite Mehrheit gibt. Aber die Nutzung der Kernenergie zu verzichten. Das ist der diese breite Mehrheit zeigt sich angesichts der Vereinba- beste Schutz vor Proliferation. Aber wenn Sie diesen rungen der großen Koalition im Deutschen Bundestag besten Schutz nicht weltweit realisieren können, dann ist nicht. Das steht im krassen Gegensatz zu dem, was bei- es notwendig, die Fragen der Anreicherung und der Wie- spielsweise der Vorsitzende der Sozialdemokratischen (B) deraufarbeitung einem konsequenten multilateralen Re- Partei, Kurt Beck, auf einer gemeinsamen Veranstaltung (D) gime zu unterstellen. Da stimme ich Ihnen ausdrücklich mit dem Bundesaußenminister geklärt hat. Er hat näm- zu. Aber dieses multilaterale Regime wird nur dann er- lich gefordert, die Frage der Abrüstung nachdrücklich folgreich sein, wenn es kein einseitiges ist, wenn es eines auf die Tagesordnung zu setzen. ist, das auch uns hier in Deutschland und ebenso die Wir hätten uns gefreut, wenn angesichts des Besuchs USA, Russland, Frankreich und alle anderen betroffenen von Hans Blix nächste Woche anlässlich der Vorstellung Staaten entsprechend bindet und einbindet. Nur dann seines Berichts Deutschland seine Absicht bekunden wird es ein glaubwürdiges und belastbares Regime sein, würde, im Bereich der Abrüstung die eine oder andere das die Verbreitung von solchen Technologien, die eben Initiative, die sich im Bericht findet, zu unterstützen. auch für kriegerische Zwecke zu nutzen sind, tatsächlich Aber wenn wir uns gerade die Bereiche Kleinwaffen unterbinden kann. und Streumunition ansehen, dann muss man sagen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass auf diesem Feld, lieber Herr Kollege Mützenich, erst einmal gar nichts passiert. Bezüglich der heute Atomwaffen besitzenden Mächte will ich hier nicht über Schuld und Ähnliches lange strei- Ich darf in diesem Zusammenhang auf folgenden ten, Herr von Guttenberg. Sie haben Recht, die aktuell Punkt hinweisen: Gestern erst hat der Menschenrechts- größte Bedrohung ist die, die von Nordkorea ausgeht; ausschuss unseren Antrag zum effektiven Regime über das ist richtig. Aber Sie können doch nicht in Abrede Kleinwaffen abgelehnt. Der Knackpunkt, warum er ab- stellen, dass die permanente Weigerung, nuklear abzu- gelehnt wurde, war, dass nicht nur illegale, sondern eben rüsten – Russlands, Chinas, der USA, Großbritanniens, auch legale Exporte und die entsprechende Munition un- Frankreichs, also all derjenigen, die diese Waffen besit- ter ein solches Regime gestellt werden sollten. Ich finde zen –, eine der Hauptursachen gewesen ist, dass es bei es nicht glaubwürdig, auf Konferenzen der Friedrich- der Nichtverbreitungskonferenz nicht zu einem Ergebnis Ebert-Stiftung für Abrüstung zu plädieren und gleichzei- gekommen ist. Auch das dürfen wir in einer solchen De- tig solche Anträge im Deutschen Bundestag abzulehnen. batte nicht verschweigen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Ich will diese kritische Betrachtung für den Bereich des Abg. [SPD]) der Streubomben fortsetzen. Ich habe hier mit großem Ich füge hinzu: Man muss sich gelegentlich an die ei- Interesse die Aussagen des Bundesaußenministers über gene Nase fassen. Es kann nicht sein, dass in der Debatte ein Verbot von Streubomben gehört. Schauen wir uns die in dieser Woche über die Frage der Abrüstung gespro- Debatten dieser Tage im Bundestag an, dann muss man Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5483

Jürgen Trittin (A) sagen, dass das, was Union und SPD miteinander verein- Fortschritt ist. Wir sollten verfolgen, wie es in Bezug auf (C) baren konnten – ich will Ihnen unterstellen, dass Sie ei- die internationalen Abkommen weitergeht. gentlich etwas anderes wollten; aber Sie konnten nur das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vereinbaren –, in dem schönen Satz gipfelte, man wolle der CDU/CSU) die „gefährliche Streumunition verbieten“. Mir ist neu, dass es auch ungefährliche Streumunition gibt. Ich will nun etwas tun, was heute eigentlich ange- bracht gewesen wäre und immer gemacht wurde, heute Es ist völlig egal – das können Sie zurzeit im Libanon aber in der Agitation über die weltpolitische Situation sehen –, ob in einem Cluster von Streubomben 10, 30 vergessen wurde, nämlich ganz herzlich für die Vorlage oder 40 Prozent der Munition nicht explodieren. Es ist der Abrüstungsberichte – jeweils für die Jahre 2004 und egal, ob 50 oder 500 Pellets zum Beispiel in einer Plan- 2005 können wir einen entgegennehmen – zu danken. Es tage liegen. In jedem Fall kann diese Plantage nicht sind hervorragende Berichte. mehr betreten und nicht mehr bewirtschaftet werden. Ein einziges dieser Pellets reicht aus, um ein Kind zu einem (Beifall bei der SPD) Invaliden zu machen oder sogar zu töten. Dies ist eine gute Arbeitsgrundlage. Man sollte auch Deswegen sage ich Ihnen: An dieser Stelle können während des Jahres immer wieder einmal in den jeweili- Sie nicht einen solch halbseidenen und inkonsequenten gen Bericht schauen, wenn man Initiativen in Gang set- Kurs fahren. Diese Munition darf insgesamt nicht akzep- zen will. Auch für die gute Zusammenarbeit mit dem tiert werden. Es ist eine Tatsache, dass die gleiche Muni- Auswärtigen Amt möchte ich danken. tion, die jetzt im Libanon zu finden ist und täglich zu To- Zur allgemeinen Situation, zu der Aufgabe, die wir desfällen führt, im Besitz unserer Bundeswehr ist. Die haben, ist schon in vielen Reden etwas gesagt worden. Bundeswehr sollte diese Munition in eine geordnete Ent- Deshalb werde ich versuchen, mein Konzept etwas zu- sorgung überführen. Wir dürfen solche Waffen nicht be- sammenzustreichen und auf ein paar wichtige Punkte sitzen. Das bedeutet, Abrüstung in unserem Lande einzugehen, die noch erwähnt werden sollten. Wir haben durchzuführen. konstatiert, dass der Zeitpunkt des 9. Oktobers 2006, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 10.36 Uhr, der Todesstoß für das Nichtverbreitungs- regime gewesen sein könnte. Wir haben festgestellt, wo Es ist viel von den 80er-Jahren die Rede gewesen. Ich überall es in den letzten Jahren Rückschritte in der will Sie an eine Lehre aus den 80er-Jahren erinnern. Nichtverbreitungspolitik gegeben hat. Wir haben auch Es gab damals immer das Bestreben, nur dann abzurüs- festgestellt, dass dies ein Anlass für uns ist, der Abrüs- ten, wenn die andere Seite etwas tut. Da galt das Motto: tungspolitik einen neuen Schub zu geben, Impulse zu (B) Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Die Friedensbewe- setzen und miteinander darüber zu beraten, was gemacht (D) gung hat dem eine ganz einfache Erkenntnis entgegenge- werden muss. setzt: Abrüstung beginnt immer bei einem selber. Abrüs- Die Situation ist doch so, dass der für die Nichtver- tung beginnt dadurch, dass wir konsequent auf eine breitungspolitik so wichtige 13-Punkte-Aktionsplan nukleare Teilhabe verzichten. Abrüstung beginnt bei der nach dem Jahre 2000, in dem dieser von der Überprü- Forderung, Kleinwaffen einem internationalen Regime fungskonferenz verabschiedet worden ist, in keiner zu unterwerfen. Abrüstung beginnt, wenn wir sagen: Wir Weise umgesetzt worden ist. Deshalb plädiere ich dafür, wollen, dass Streumunition verboten wird. Wir wollen noch einmal zu schauen, was für uns die wichtigsten An- solche Waffen nicht mehr besitzen. – Das ist glaubwür- satzpunkte für unsere Nonproliferationspolitik sind. dige Abrüstungspolitik. Wenn wir den 13-Punkte-Aktionsplan noch einmal be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) trachten, dann können wir vielleicht ein paar Ansatz- punkte herausfiltern. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kollege von Guttenberg, wir machen keine Schuldzu- Das Wort hat jetzt die Kollegin Uta Zapf von der weisungen. Aber wir müssen bei der Analyse sauber sein SPD-Fraktion. und hinterfragen, warum bestimmte Dinge schief gelau- fen sind. Es gibt – darauf werde ich gleich noch einmal zurückkommen – Doppelstandards. Wir müssen aber Uta Zapf (SPD): auch konstatieren, dass diese 13 Punkte, die damals – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch in diesem Hause – breiter Konsens waren, nicht Kollege Trittin, ich fühle mich, obwohl ich das eigent- eingelöst worden sind und es dafür Verantwortliche gibt. lich nicht wollte, bemüßigt, ein Wort zu Ihrer Kritik an Als Erstes nenne ich den Atomteststoppvertrag. Er unserem Antrag zur Streumunition zu sagen. Sie sind wurde von den Amerikanern signiert, nicht ratifiziert lange genug in der Politik, um zu wissen, wie schwierig und wird jetzt infrage gestellt. Deshalb wird ein ganz es in dem gesamten Prozess um Antipersonenminen und wichtiger Eckstein der zukünftigen Nichtproliferations- andere Minenarten war, Fortschritte zu erreichen. Das- politik nicht weiter ausgebaut. selbe gilt für die Streumunition. Ich finde, dass der Schritt-für-Schritt-Ansatz im Hinblick auf die Aussteue- Das Zweite ist das Cut-off-Abkommen. Wenn es uns rung einer ganzen Kategorie von Streubomben und den nicht gelingt, ein Verbot der Produktion waffenfähigen Auftrag an die Bundesregierung, entsprechend zu ver- Nuklearmaterials zu erreichen, werden wir der Prolifera- handeln, den wir formuliert haben, schon einmal ein tion nicht genügend entgegenzusetzen haben. 5484 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Uta Zapf (A) Ein weiterer Punkt – er wurde schon erwähnt – sind wegen werden wir das auch von Indien, das sich dem (C) die Sicherheitsgarantien. Ich glaube, dass es für ganz bisher schlicht verweigert, verlangen müssen. viele Nichtnuklearstaaten von äußerster Wichtigkeit ist, die Zusicherung zu bekommen, nicht nuklear angegrif- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fen zu werden, wenn sie selbst keine Nuklearwaffen ha- der FDP und der LINKEN) ben. Diese Sicherheit haben sie aber nicht. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn sonst passiert das, was viele Analysten befürchtet haben, nämlich dass Der Konsens ist auch – das muss man einmal sagen – dadurch, dass wir Brennstoff für die zivilen Reaktoren aufgrund von Entscheidungen der Kernwaffenstaaten liefern, die unter der Inspektion der IAEA stehen, ande- zerbrochen. Das ist keine Schuldzuweisung, sondern res Material zur Produktion von waffenfähigem Material eine Erinnerung an die Verantwortung der Kernwaffen- frei wird und damit das indische Atomprogramm auf- staaten. Sie haben ihre Arsenale verändert, weiterent- wächst, so, wie Indien es ganz offen verkündet hat. Das wickelt und neue Kategorien entwickelt. Dadurch muss verhindert werden. drohen Kernwaffen mehr und mehr zu Kriegsführungs- waffen zu werden. Dann müssen mit der IAEA Full-Scope-Safeguard- Abkommen getroffen und ein Zusatzprotokoll abge- In diesem Zusammenhang möchte ich einen letzten schlossen werden. Wir müssen darauf dringen, dass eine Punkt anführen. Wir müssen feststellen – ich sage das Deckelung des Nuklearwaffenarsenals auf dem heutigen ganz vorsichtig –, dass sich die Nuklearstrategien in Stand stattfindet. Denn sonst findet tatsächlich ein Auf- Richtung Kriegsführungsstrategien mit Nuklearwaffen wuchs statt und Indien würde sozusagen als Kernwaffen- zu entwickeln drohen. Auch das trägt dazu bei, dass es staat legitimiert. Länder gibt, die sagen: Vielleicht wäre es doch ganz nett, über Nuklearwaffen als Abschreckungspotenzial zu ver- Wir müssen Restriktionen bei den Lieferungen der fügen. Nukleartechnologie und des -materials vornehmen. Das heißt, dass wir keine Anreicherungs- und Wiederaufbe- Das Ausscheren von Nordkorea und Iran aus dem reitungstechnologie und keine Schwerwassertechnologie Nonproliferationsregime ist hier ausreichend dokumen- liefern dürfen. Das hat übrigens der Kongress in seiner tiert und kommentiert worden. Ich will, provoziert durch Resolution selber so formuliert. meinen Kollegen zu Guttenberg und das, was Frau Hoff zum Indien-USA-Nuklearabkommen gesagt hat, ein (Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es!) paar Worte sagen. Ich mache mir große Sorgen. Ich Das ist sehr hilfreich. glaube, dass wir in diesem Hohen Hause zu einem Kon- sens kommen und unserer Regierung einen Auftrag er- Wir müssen darauf dringen, dass eine Endverbleibs- (B) teilen müssen. Das gilt insbesondere, wenn diese Regie- klausel eingeführt wird, dass also gelieferte Nuklear- (D) rung in der Nuclear Suppliers Group eine Rolle spielen technik und -material nicht an Dritte weitergereicht wer- will. den dürfen. Wir müssen für den Fall, dass Indien einen Atomtest durchführt, den Stopp der Kooperation und al- Herr von Klaeden, ich teile Ihre Auffassung nicht, ler Lieferungen verlangen. Das lehnen die Inder voller dass Herr al-Baradei Recht hat, wenn er sagt: Das ist ein Empörung ab. Das verstehe ich nicht. Wir müssen auch gutes Abkommen, es führt Indien an das Nonprolifera- dafür sorgen, dass Indien seinerseits die restriktiven Ex- tionsregime heran. Das wird das Abkommen in der vor- portgesetze für die Weitergabe von Technologien über- liegenden Form nicht leisten können. Das Abkommen nimmt. Das hat Indien nicht immer eingehalten. Es hat wird sicherlich für die Umwelt, die Energiepolitik und keinen sauberen Rekord hinsichtlich der Nichtverbrei- alles mögliche andere gut sein. Auch das sind Punkte, tung. die al-Baradei genannt hat. Es wird Indien aber nicht an das Nonproliferationsregime heranführen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich will einige Punkte anführen, die meines Erachtens Frau Zapf, bedenken Sie bitte Ihre Redezeit. für eine Zustimmung in der Nuclear Suppliers Group notwendig wären. Ob wir uns hier auf alle Punkte eini- Uta Zapf (SPD): gen können, weiß ich nicht. Ich habe versucht, zusam- Ich bin sofort fertig. menzufassen, was uns einigermaßen aus der Zwick- mühle herausbringen könnte. Es gibt eine viel beklagte und von den USA sanktio- nierte Zusammenarbeit mit dem Iran, in deren Rahmen Der erste Punkt wurde schon erwähnt: Zeichnung und Materialien geliefert worden sind, die eigentlich auf der möglichst Ratifizierung des Atomteststoppvertrages. In- Sanktionsliste der Amerikaner stehen. Auch das muss dien hat gesagt: Wir werden nicht testen. Es hat aber eine ein Gesichtspunkt sein. Klausel eingefügt, nach der es doch testen kann, wenn es meint, das tun zu müssen. Mein Vorschlag geht darüber Ich habe nach dieser Debatte ein bisschen Hoffnung hinaus. Die Zeichnung und Ratifizierung wären also auf – das ist mein letzter Satz –, dass wir gerade in dieser alle Fälle gut. wichtigen Frage zu einem Konsens kommen und dass es uns vielleicht gelingt, mit dem Ansatz, der hier von Frau Zweitens: Produktionsstopp von waffenfähigem Hoff, von mir und von anderen vorgetragen wurde, einen Spaltmaterial. Alle Nuklearstaaten haben sich dazu ver- überfraktionellen Antrag zu stellen. Herr zu Guttenberg, pflichtet. Alle, inklusive China, halten sich daran. Des- ich zähle auf Sie. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5485

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Proliferationsgefahren im Nahen und Mittleren (C) Frau Zapf, bitte! Osten sowie auf der koreanischen Halbinsel beschäfti- gen uns nicht erst seit letztem Montag. In den beiden Uta Zapf (SPD): vorliegenden Abrüstungsberichten der Jahre 2004 und 2005 geht die Bundesregierung daher schwerpunktmä- Ich bin fertig. ßig auf diese Regionen ein. Ziel ist, die Verbreitung von Herzlichen Dank. Massenvernichtungswaffen einschließlich ihrer Träger- mittel in friedlicher Mission zu verhindern. Letztlich (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie muss die endgültige Abschaffung solcher Waffen, insbe- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- sondere in den genannten Regionen, angestrebt werden. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Allerdings sind nicht nur Nordkorea und der Iran ein Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bedrohungsschwerpunkt. Daher wird in beiden Jahresab- rüstungsberichten zu Recht darauf hingewiesen, dass das Sie haben eine Hustenzeitzulage bekommen. Anders Risiko der Proliferation von Massenvernichtungswaffen ist die Überschreitung der Redezeit nicht zu begründen. nicht regional begrenzbar ist. Nichtstaatliche Akteure (Uta Zapf [SPD]: Ich danke Ihnen!) und terroristische Gruppen schmieden weltweit ihre Pläne für weitere Angriffe. Die Ereignisse in New York, Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat Madrid und Istanbul haben uns dies leider auch vor un- das Wort der Kollege Robert Hochbaum von der CDU/ serer eigenen Haustür vor Augen geführt. Die Antwort, CSU-Fraktion. die die Bundesregierung in ihrem Bericht auf die regio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nale Unbestimmtheit dieses Risikos gibt, ist richtig und von entscheidender Bedeutung für den Kampf gegen Terrorismus und Gewalt. Globalen Gefahren muss glo- Robert Hochbaum (CDU/CSU): bal begegnet werden. „Global“ bedeutet in diesem Fall Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und immer: gemeinsam. Kollegen! Wir führen heute die Debatte über die Jahres- abrüstungsberichte 2004 und 2005. Auch wenn zeitlich Die Weltgemeinschaft muss zusammenhalten. Wie gesehen in diesen Berichten eine nachträgliche Betrach- ich zu Beginn meiner Rede sagte, tut sie das auch, zu- tung vorgenommen wird, so steht die Thematik – das ha- mindest in Bezug auf Nordkorea und den Iran. Nur die ben wir heute schon sehr oft gehört – gerade in diesen Bewahrung des im Bericht beschriebenen Konsenses Tagen ganz weit oben in der Prioritätenliste. Nordkorea der internationalen Staatengemeinschaft kann uns vor (B) und Iran zeigen uns gegenwärtig deutlich, welche der Weiterverbreitung solcher Waffen schützen. Die (D) potenzielle Gefahr weiterhin – auch nach dem Ende des Bundesregierung fördert diesen Konsens in Überein- Kalten Krieges – für die Bürgerinnen und Bürger unse- stimmung mit der am 12. Dezember 2003 verabschiede- res Landes von Nuklearwaffen – hier ein Einschub für ten EU-Strategie gegen die Verbreitung von Massenver- Herrn Trittin – in den falschen Händen ausgeht. nichtungswaffen. Beide Staaten versuchen, mit ihrer ignoranten und Eine internationale Ordnungspolitik mit den Para- provozierenden Haltung ihre negativen Interessen skru- digmen der Allgemeinverbindlichkeit und der Transpa- pellos durchzusetzen. Dieser klägliche Versuch eines renz der Regularien sowie – das ist ganz wichtig – die Katz-und-Maus-Spiels ist mit aller Nachdrücklichkeit zu Vereinten Nationen als Wächter sind dabei oberste verurteilen. Er wird scheitern; denn die Weltgemein- Handlungsmaxime. Dies ist ausdrücklich zu begrüßen schaft steht geschlossen zusammen und spricht ein deut- und mit aller Notwendigkeit im Sinne von Frieden und liches Nein zu weiteren Atomwaffentests in Nordkorea, Stabilität in der Welt fortzuführen. Operativ bilden unse- zur weiteren Anreicherung von nuklearwaffenfähigem rer Meinung nach die Sechsergespräche sowie die Ge- Material im Iran und zur illegalen Weiterverbreitung von spräche innerhalb der EU 3 das geeignete Forum, um un- Trägermitteln. sere Ziele im Hinblick auf diese sensible und polypole Thematik zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD]) Zugegeben, es ist bedauerlich, dass die Verhandlun- gen im Zusammenhang mit den Nuklearwaffenprogram- Ich bin fest davon überzeugt, dass die vom UN- men des Iran und Nordkoreas in den Jahren 2004 und Sicherheitsrat beschlossenen Sanktionen die einzig 2005 sowie leider auch gegenwärtig noch ohne greifbare richtigen Maßnahmen sind, die von uns allen unterstützt Erfolge geblieben sind, was sicherlich nicht an uns gele- werden sollten. Nordkorea und der Iran müssen durch gen hat. Dennoch gilt es, diesen Weg und die Deeskala- Sanktionen unter Druck gesetzt werden. Ihnen muss be- tionsstrategie gemäß der Verantwortung für den Welt- wusst werden – ja, sie müssen es förmlich zu spüren be- frieden konsequent weiter zu verfolgen. kommen –, dass Ignoranz zu Isolation und zu wirtschaft- lichen Einbußen führt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das vordergründigste Ziel der Bemühungen der Welt- Meine Damen und Herren, wie bereits erwähnt, stan- gemeinschaft muss allerdings bleiben – ich hoffe, darin den nicht nur der Iran und Nordkorea im Blickpunkt der sind wir uns hier im Hause einig –, eine Lösung nur auf abrüstungspolitischen Bemühungen. In beiden Berichten friedlichem Wege herbeizuführen. werden auch Fortschritte in anderen Bereichen aufgeführt. 5486 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Robert Hochbaum (A) Diese sind ebenfalls von zentraler Bedeutung und sollten verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- (C) genügend Beachtung finden. Stellvertretend möchte ich sungen so beschlossen. nur die Erfolge, die im Zusammenhang mit der Klein- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: waffenproblematik erzielt wurden, nennen. Laut Anga- ben der Vereinten Nationen machen jährlich 600 Millio- a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- nen Klein- und Leichtwaffen die Welt unsicher. 300 000 regierung Menschen sterben jährlich durch ihren Einsatz in den Konflikten der Welt. Kofi Annan sagte auf einer UN- Agrarpolitischer Bericht 2006 der Bundes- Konferenz in New York: „Das große Töten geschieht regierung durch Kleinwaffen.“ – Drucksache 16/640 – Das ist nicht von der Hand zu weisen. Denn in den Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und meisten Konflikten spielen diese Waffen die dominie- Verbraucherschutz (f) rende Rolle. Dabei geht es nicht nur um unsere ohne Finanzausschuss Zweifel sehr große Verantwortung gegenüber den vielen, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie meist zivilen Opfern in zahlreichen Ländern dieser Erde, Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit sondern auch – das darf nicht vergessen werden – um Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit unsere Verantwortung gegenüber unseren eigenen Solda- Ausschuss für Bildung, Forschung und ten, die beispielsweise im Kongo, im Sudan oder in Technikfolgenabschätzung Afghanistan im Einsatz für Frieden und Freiheit sind. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Haushaltsausschuss b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Ich konnte mir in der letzten Woche zusammen mit gierung Kolleginnen und Kollegen aus dem Verteidigungsaus- schuss in Afghanistan ein Bild davon machen, welche Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Ver- Unmengen von illegalen Kleinwaffen von den Taliban, besserung der Agrarstruktur und des Küsten- von Drogenbaronen und anderen Verbrechern gehortet schutzes“ für den Zeitraum 2005 bis 2008 werden und so eine Bedrohung unserer Truppen darstel- len. In diesem Zusammenhang ist es natürlich zu begrü- – Drucksache 15/5820 – ßen, dass seit der Zeichnung des Ottawa-Abkommens Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ende 1997 nun im Dezember 2005 ein erstes globales Verbraucherschutz (f) Rüstungskontrollabkommen im Konsens von der UN- (B) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (D) Generalversammlung verabschiedet wurde, welches es Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit den Staaten ermöglicht, unerlaubte Kleinwaffen und Ausschuss für Tourismus leichte Waffen rechtzeitig und zuverlässig zu identifizie- Haushaltsausschuss ren und, was ganz wichtig ist, ihre Lieferung zurückzu- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- verfolgen. Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, versäumen, den daran Beteiligten der Bundesregierung Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne- für ihr Engagement meinen Dank auszusprechen. ter und der Fraktion der FDP Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die erzielten Impfen statt Töten – Praxisreife Markerimpf- Fortschritte als Ansporn nehmen, den eingeschlagenen stoffe entwickeln und anwenden Weg mit allem Nachdruck weiterzugehen. Nordkorea – Drucksache 16/1442 – und der Iran sowie die anderen ungelösten Probleme werden mit Sicherheit auch in Zukunft all unsere Auf- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und merksamkeit erfordern. Es gilt, mit allem Nachdruck zu Verbraucherschutz (f) verhindern, dass Iran eine Atombombe herstellt, und Ausschuss für Bildung, Forschung und Nordkorea muss dazu bewogen werden, sein Atomwaf- Technikfolgenabschätzung fenprogramm glaubhaft einzustellen. Zum Agrarpolitischen Bericht liegt ein Entschlie- Herzlichen Dank. ßungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Ich schließe die Aussprache. ner das Wort dem Bundesminister Horst Seehofer. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (Beifall bei der CDU/CSU) den Drucksachen 15/5801, 16/1483 und 16/3011 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung, gen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 16/2999 Landwirtschaft und Verbraucherschutz: soll an dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Druck- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die sache 16/1483 überwiesen werden. Sind Sie damit ein- Agrarwirtschaft ist für unser Land nicht nur volkswirt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5487

Bundesminister Horst Seehofer (A) schaftlich von großer Bedeutung. Sie befindet sich der- wollen Klasse –, sehr ideologisch gefärbt war. Es war (C) zeit in guter, in Teilbereichen sogar in blendender nämlich auch falsch. Wir haben mit unseren Produkten Verfassung. Das gilt für das, was für die Menschen pro- einen hohen Marktanteil in Deutschland und wir sind duziert wird, unsere Lebensmittel, unsere Nahrungsmit- beim Export weltweit Spitze, nämlich unter den Top tel: beste Qualität, gesunde Produkte. Mir liegt sehr four. Mit all dem, was wir national produzieren und ver- daran, darauf hinzuweisen, dass an den Lebensmittel- markten sowie international exportieren, haben wir nicht skandalen der letzten Monate kein einziger landwirt- nur einen hohen Marktanteil, sondern dies zeugt auch schaftlicher Betrieb, keine Bäuerin, kein Bauer beteiligt von einer hohen Qualität der Produkte, also von Klasse. war. Das heißt, dass unsere Bauern gut ausgebildet sind und sehr verantwortlich mit der Schöpfung umgehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deshalb gilt für mich nicht die Forderung Klasse statt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Masse, sondern ich finde, dass wir stolz darauf sein kön- neten der SPD) nen, dass wir Masse haben und diese Masse auch klasse Die Agrarwirtschaft erlebt seit einiger Zeit einen ist. Beides gehört zusammen. mächtigen Aufwind. Das kann man an verschiedenen In- (Beifall bei der CDU/CSU – Cornelia Behm dikatoren festmachen. Es geht los beim Export, wo die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben Zeichen auf Erfolg stehen: Seit 1993 hat sich das Export- nur Masse, weil wir Klasse haben!) volumen unserer landwirtschaftlichen Produkte von 17,7 Milliarden Euro auf über 34 Milliarden Euro ver- Ein wichtiger Punkt ist auch die Innovationskraft doppelt. Es wird oft darauf hingewiesen, dass alleine die bzw. die Dynamik in unserer deutschen Landwirtschaft. Zuwächse der Exporte nach Osteuropa im letzten Jahr Es lacht einem das Herz, wenn man in Deutschland un- um 30 Prozent gestiegen sind. Die große Befürchtung, terwegs ist und die Betriebe besucht. Ich behaupte, dass dass die Erweiterung der Europäischen Union von der die deutsche Agrarwirtschaft ein Motor für den techno- deutschen Agrarwirtschaft nicht zu schultern sei, ist logischen Fortschritt in unserem Lande ist. Wir sind auf widerlegt worden. Das Gegenteil ist der Fall. Ich darf der Höhe der Zeit. Ich kenne kaum Bereiche, die einen darauf hinweisen, dass es in unserem Ministerium auch scharfen Strukturwandel, dem sie seit vielen Jahren aus- aus diesem Grunde seit einigen Monaten eine Koordinie- gesetzt waren, so wie die deutschen Bäuerinnen und rungsstelle für Exportförderung gibt. Bauern angenommen haben. Ich nenne nur das Stich- wort „nachwachsende Rohstoffe“. Es wurde nicht viel Der Biomarkt boomt mit zweistelligen Wachstumsra- nachgefragt, welche Subventionen und welche Unter- ten. Die Nachfrage nach Holz steigt in nicht geahnte Hö- stützung es durch den Staat gibt. Die Landwirte haben hen. Der Umsatz im Bereich des Holzes ist in Deutsch- (B) die Dinge selbst in die Hand genommen und auf einen (D) land bei mittlerweile 115 Milliarden Euro angelangt. Die großen Erfolgsweg gebracht. Preise machen in vielen Bereichen einen gewaltigen Sprung nach oben. In den letzten Monaten sind die (Beifall bei der CDU/CSU) Preise für Brotweizen, Hafer und Mais um 20 Prozent nach oben geschnellt. Für den Brotroggen war sogar eine Ich nenne die Stichworte Biogas, Biomasse und Bio- Preissteigerung von 30 Prozent zu verzeichnen. All diese kraftstoffe. Wir investieren zum Beispiel viel in die Pro- Daten und Entwicklungen stützen die These, dass die duktion von Biogas. Ich werde alles dafür tun, dass das deutsche Landwirtschaft wirtschaftlich in einem mächti- von den Bauern produzierte Biogas in absehbarer Zeit gen Aufwind ist. Durch all dies werden Einkommen, Ar- auch für unsere Erdgasversorgung eingespeist wird. Es beitsplätze und Investitionen gesichert. Wir sollten viel ist überhaupt nicht einzusehen, warum das nicht der Fall mehr positiv darüber reden, damit wir wieder junge sein sollte. Menschen für einen Beruf in der Landwirtschaft gewin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. nen. Die Landwirtschaft ist lukrativ und hat Zukunft. Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Immer dann, wenn etwas positiv läuft, betreten natür- lich die Skeptiker wieder die Bühne. Manchmal habe ich Mit dem Thema Klasse statt Masse, das in den letz- den Eindruck, dass manche, die auf diesem Feld tätig ten vier Jahren immer wieder eine Rolle gespielt hat, sind, ihren Kindern nur deshalb zu kleine Schuhe kau- möchte ich mich noch einmal kurz beschäftigen. Wir fen, damit sie von Kindesbeinen an lernen, zu jammern. stellen 80 Prozent der von uns benötigten Nahrungsmit- tel hier in Deutschland her. Wir haben einen hohen Grad (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Selbstversorgung. Bezüglich des Exportes unserer Produkte sind wir an vierter Stelle auf der Welt. Erst Jetzt höre ich nämlich schon wieder kritische Stim- kommen die Amerikaner, dann die Franzosen, dann die men, die fragen, ob wir genügend Flächen für die Nah- Niederländer und dann die Deutschen, was übrigens ein rungsmittelproduktion und für nachwachsende Roh- sehr starkes Indiz dafür ist, dass weltweit Vertrauen in stoffe haben. Dass wir eine solch positive Entwicklung unsere Produkte gesetzt und die Qualität geschätzt wird. haben – auch wirtschaftlich –, liegt eindeutig an der Politik der Pluralität und der Vielfalt. Wir haben den Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass die typisch deut- Landwirten in Deutschland mehrere Möglichkeiten er- sche Phrase, die vor einigen Jahren hier an diesem Pult öffnet: Nahrungsmittelproduktion, Rohstoffproduktion, geäußert wurde – wir möchten nicht Masse, sondern wir Pflege der Kulturlandschaft und Verbindung der 5488 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Bundesminister Horst Seehofer (A) Landwirtschaft mit dem Tourismus, der Freizeit und der Wir streben an, in Deutschland eine Großanlage für (C) Erholung, Kollege Ernst Hinsken. Aus mehreren Mög- Kraftstoff aus Bt-Mais für die nächste Generation der lichkeiten ergeben sich höhere Chancen. Aus höheren Biokraftstoffe zu errichten. Aber ich möchte nur darauf Chancen ergeben sich bessere wirtschaftliche Erfolge. hinweisen, dass wir wegen der zweiten Generation nicht die Chancen der ersten Generation ungenutzt lassen dür- Ich warne davor, in die Diskussion einzusteigen, ob es fen. für all diese Nutzungsmöglichkeiten unseres Bodens in der Bundesrepublik Deutschland ausreichend Flächen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gibt. Ich habe darauf eine ganz einfache Antwort: Das neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE soll um Gottes willen keine ministerielle Planungsbüro- GRÜNEN) kratie, sondern niemand anders als der Markt entschei- Eine zweite Generation hat nach der Logik nur dann ei- den. nen Sinn, wenn die Chancen der ersten Generation ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nutzt werden. Dabei verweise ich ohnehin darauf, dass neten der SPD) wir bei der ersten Generation wegen vieler ungeklärter Fragen wahrscheinlich noch einen langen Weg vor uns Das, was ich hier zu vermelden habe, ist in erster Li- haben. nie ein Erfolg der Bauern. Auch bei der Entbürokratisierung in der Landwirt- (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schaft haben wir Wort gehalten. Ich weise nur auf die NEN]: Und der Bäuerinnen!) Tatsache hin, dass mir der Präsident des Deutschen Bau- ernverbandes vor gut acht Tagen für die Entschlackung, Ich registriere aber auch, dass die Bauern wieder Ver- die wir bei der Kontrolle der Landwirte bei der Einhal- trauen in die Politik haben. Wir haben in allen Berei- tung der Standards durchgeführt haben, Danke gesagt chen, die uns betreffen, Wort gehalten. Ich verweise auf hat. Ich habe immer gesagt: Ich bin dafür, dass Betriebe die Agrarverhandlungen der Welthandelskonferenz, daraufhin überprüft werden, ob sie die Standards hin- auf der wir die deutschen Bauern nicht auf dem Altar der sichtlich des Umweltschutzes, des Naturschutzes und Welthandelskonferenz geopfert haben. Vielmehr haben des Gewässerschutzes einhalten. Aber ich war immer wir deutlich gemacht: Wir sind nur dann für die Öffnung der Meinung, dass diese Kontrolle nicht in Schikane aus- der Märkte und den Wegfall der Exportsubventionen, arten darf. Das haben wir geschafft. wenn dies für alle Länder dieser Erde gilt. Es geht um faire Wettbewerbsbedingungen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Angesichts des Vorwurfs, wir hätten bei der ersten (D) neten der SPD) und zweiten Säule Mittel gekürzt, möchte ich auf folgen- Wir haben in der sozialen Sicherung, was die Beteili- den Umstand hinweisen: In dem Finanzierungsrahmen gung des Bundes an Zuschüssen betrifft, verlässliche der Europäischen Union für die nächsten sieben Jahre ist Bedingungen geschaffen. Die Bauern haben in Europa vorgesehen, dass wir in Deutschland etwa 60 Milliarden wieder eine Stimme. Sie müssen nicht nach Paris fahren, Euro als Unterstützung für die landwirtschaftliche Pro- wenn in Brüssel ihre nationalen Interessen vertreten wer- duktion und die ländlichen Räume ausgeben: 35 Milliar- den sollen. Eine Reise nach Berlin reicht aus. den Euro in der ersten Säule, 18 Milliarden Euro in der zweiten Säule unter Einschluss der Ländermittel und Wir haben den ländlichen Raum mit seiner Bedeutung 8 Milliarden Euro in der GAK. Das sind etwa 60 Milliar- mit einer langen Dialogreihe zur Zukunft des länd- den Euro. lichen Raumes, die wir eröffnet haben, wieder in den Mittelpunkt gerückt. Das betrifft auch, aber nicht nur die Nun verschweige ich auch nicht, dass für diese sieben Landwirtschaft. Ich verweise darauf, dass wir sehr hart Jahre die EU-Mittel um etwa 1 Milliarde Euro gekürzt daran arbeiten, damit der ländliche Raum bei der Ent- werden, und zwar von 9,2 auf 8,1 Milliarden Euro. Aber wicklung der neuen Technologien nicht abgehängt, son- wir alle in der Koalition gehören nicht zu den Politikern, dern einbezogen wird, zum Beispiel bei der Einführung die auf der einen Seite trotz der Erweiterung der EU des Breitbandkabelnetzes. Das ist für die Entwicklung nicht mehr zahlen und auf der anderen Seite zu den Fol- des ländlichen Raumes unglaublich wichtig. gen dieser Entscheidung national nicht stehen wollen. Man kann nicht allen Ernstes von einer Benachteiligung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Landwirte oder des ländlichen Raumes sprechen, neten der SPD) wenn bei einem Fördervolumen von etwa 60 Milliarden Euro in den nächsten sieben Jahren die Mittel um 1 Mil- Ich hatte am Montag gemeinsam mit dem Kollegen liarde Euro gekürzt werden. Davon sind zehn Bundes- Gabriel ein Gespräch mit Vertretern aller deutschen Au- länder betroffen. Man muss die 1 Milliarde Euro durch tomobilhersteller, der Mineralölwirtschaft und dem sieben teilen. Verteilt auf zehn Bundesländer sind das Deutschen Bauernverband. Das Thema war die mittel- circa 15 Millionen Euro pro Land. Es kann wohl nie- fristige und langfristige Weiterentwicklung der Biokraft- mand im Ernst behaupten, dass dies die Zukunft der stoffe. Das ist auch hinsichtlich der Wertschöpfung im Landwirtschaft oder des ländlichen Raumes zerstört. ländlichen Raum ein ungeheuer spannendes Thema. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ( [CDU/CSU]: Absolut!) neten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5489

Bundesminister Horst Seehofer (A) Ich möchte zum Schluss auf einen Umstand hinwei- Herr Minister, Sie haben leider nicht Wort gehalten. (C) sen, der vielleicht hier oder da missverstanden worden Es reicht schlicht nicht, etwas festzustellen, ohne es ist. Wir beraten heute über den Agrarpolitischen durch Handeln zu belegen. Beim Handeln ist bei Ihnen Bericht 2006 und stützen uns dabei auf Zahlen des aber schlicht Fehlanzeige, Herr Minister. Jahres 2004. Wenn Politiker über veraltete Zahlen disku- tieren, dann laufen sie Gefahr, dass auch die Politik alt (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) aussieht. Knapp ein Jahr nach der Bundestagswahl und dem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Regierungswechsel stellt sich die Frage, ob sich die Poli- tik geändert hat. Ich muss feststellen, dass sich wenig ge- Deshalb habe ich heute ganz aktuelle Zahlen genannt. ändert hat – mit Ausnahme der Tatsache, dass der Minis- Ich bin der Meinung, dass wir durchaus jährlich über die ter im Zusammenhang mit dem agrarpolitischen Lage der Agrarwirtschaft diskutieren sollten. Wir sollten Jahresbericht kaum mehr vorträgt als die Agrarpreise, an aber mit dem Unsinn aufhören, der Beratung fünf Be- denen er keinen Anteil hat. richte zugrunde zu legen, die die Verwaltung und viel Personal binden und meistens veraltet sind, weil sie der (Beifall bei der FDP) Debatte um ein oder zwei Jahre hinterherhinken. Der Jahresrückblick enthält wenig Gutes, Herr Minis- ter Seehofer. Man muss richtig danach suchen. Ich habe (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- mich bemüht, alles Positive herauszustellen, aber es gibt Eckardt) wenig. Das Versprechen der CDU/CSU eines Politik- Mein Vorschlag ist nicht, den Bericht abzuschaffen, wechsels ist im Bereich der Agrarpolitik Schall und sondern – darüber werden wir in den Regierungsfraktio- Rauch. nen reden – einen größeren Berichtszeitraum vorzuse- Minister Seehofer, Sie sind in Ihrem Amt als Bundes- hen, um uns auf aktuelle und repräsentative Daten stüt- landwirtschaftsminister nicht angekommen. Sie trauern zen zu können. Wir sollten uns nicht auf Daten stützen, der Gesundheitspolitik nach. die zum Zeitpunkt der Debatte hoffnungslos überholt sind. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Er sieht doch viel glücklicher aus als vorher!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Aber wir brauchen mehr als Worte: Wir brauchen Han- deln. Wir werden in der Ratspräsidentschaft im nächsten Jahr die Entbürokratisierung in meinem Bereich beson- (Widerspruch bei der CDU/CSU) (B) ders in den Mittelpunkt stellen. Wie ernst wir es mit der (D) Einbindung der Landwirtschaftspolitik in unsere Ge- Dass Sie nicht handeln, hat für die Menschen in den samtpolitik meinen, mögen Sie daraus ersehen, dass die ländlichen Räumen und die landwirtschaftlichen Be- nächste Grüne Woche im Januar – sie stellt für alle be- triebe in unserem Land sehr schlimme Folgen. Fast ein teiligten Politiker ein Stressprogramm dar – in Anwesen- Drittel der Menschen in Deutschland lebt in den ländli- heit der Bundeskanzlerin und des Präsidenten der Euro- chen Räumen. Deren Lebensqualität ist nach wie vor päischen Kommission, Barroso, eröffnet wird. Das soll auch mit dem Wohlergehen der landwirtschaftlichen Be- den Landwirten und der Agrarwirtschaft in ganz Europa triebe verbunden. Deswegen brauchen wir die Stärkung zeigen, dass die Landwirtschaft bei uns nicht als An- der unternehmerischen Landwirtschaft. Die Landwirte hängsel oder auslaufender Posten betrachtet wird, son- brauchen planerische Sicherheit, die Sie ihnen nicht ge- dern, wie ich eingangs sagte, ein für unser Land sehr be- ben. Sie brauchen Vertrauen in die Zukunft, um investie- deutsamer volkswirtschaftlicher Bereich ist. ren zu können, und rationale Entscheidungen und nicht solche, die aus dem Bauch heraus getroffen werden. Sie Herzlichen Dank. wissen genauso gut wie ich: Die Menschen sind der Na- tur entfremdet. Deswegen lobe ich Sie dafür, dass Sie die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Qualität unserer Produkte herausgestellt haben. Aber, neten der SPD) Herr Minister, das reicht nicht.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es reicht im Übrigen ebenfalls nicht, die Jahresergeb- Als Nächste spricht die Kollegin Dr. Christel nisse der Betriebe zu betrachten; denn diese schwanken Happach-Kasan von der FDP-Fraktion. beträchtlich. Es gilt auf die Gesamtentwicklung zu schauen. Hier verheißt Ihr Handeln nichts Gutes, Herr (Beifall bei der FDP) Minister. Ihr erstes Jahr war von drei Fleischskandalen geprägt. Ich will ehrlich sagen, dass Sie am ersten keinen Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Anteil hatten. Er hatte seinen Ursprung – genauso wie Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die beiden anderen – in Bayern. Im November des letz- Ich spreche heute, weil der agrarpolitische Sprecher un- ten Jahres haben Sie ein Sofortprogramm zur Verhinde- serer Fraktion, Michael Goldmann, kurzfristig erkrankt rung weiteren Fehlverhaltens vorgelegt. Der letzte ist. Ich denke, auch Sie senden ihm gute Genesungswün- Fleischskandal im September zeigte aber, dass sich sche. nichts geändert hat. Das Programm ist nicht umgesetzt worden. Es wurde von Ihnen noch einmal verkauft, frei (Beifall) nach dem Motto „alter Wein in neuen Schläuchen“. Sie 5490 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Christel Happach-Kasan (A) haben auf Stimmungen reagiert, angekündigt und Aktio- deutschen Landwirtschaft ist zwar bemerkenswert. Aber (C) nismus gezeigt. Aber Sie stehen letztlich bei den gerade auf dem von Ihnen angesprochenen wichtigen Fleischskandalen mit absolut leeren Händen da. Das Feld der Biogasproduktion versagen Sie völlig. heißt, bei diesem wichtigen verbraucherpolitischen Thema haben Sie schlicht gepatzt. (Marlene Mortler [CDU/CSU]: Oje!) – Kollegin Mortler, dreimal sind Eckpunkte zur Novel- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ lierung des Gentechnikgesetzes angekündigt worden. DIE GRÜNEN) Dreimal! Wo sind sie denn? Es gibt sie nicht. Warum ist Herr Minister, ein weiteres Drama ist die Diskussion die Novellierung nicht längst erfolgt? Das ist ein Versa- über den Biodiesel. Entgegen allen Wahlaussagen haben gen des Ministers. CDU/CSU und SPD im Koalitionsvertrag festgelegt, die (Peter Bleser [CDU/CSU]: Wir wollen sehr so- ursprünglich bis Ende 2008 vereinbarte Steuerbefreiung lide vorgehen! – Marlene Mortler [CDU/ von Biodiesel einzukassieren. Die Folge ist ein massiver CSU]: Gut Ding will Weile haben! – Ulrich Verlust an Vertrauen in politisches Handeln. Wo waren Kelber [SPD]: Was gut ist, muss nicht geän- Sie bei der Diskussion über den Biodiesel? Wo haben dert werden!) Sie sich geäußert? Wo haben Sie sich für die Landwirt- schaft eingesetzt? Nirgendwo! Sie waren schlicht abge- Sie alle wissen aufgrund der rechtspolitischen Dis- taucht. Sie haben an dieser Debatte gar nicht teilgenom- kussion, dass dieses Gesetz Rechtsunsicherheit für die men. Menschen im Lande und die landwirtschaftlichen Be- triebe schafft, und zwar sowohl für die Betriebe, die die (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben Gentechnik anwenden, als auch für die Betriebe, die Wahrnehmungsschwierigkeiten!) keine Gentechnik anwenden. Dies ist nicht in Ordnung. – Nein, Herr Kollege, ich habe keine Wahrnehmungs- (Beifall bei der FDP) schwierigkeiten. Ich höre sehr genau zu. Der Minister war nicht anwesend. Wenn er nichts sagt, kann man ihn Sie sprechen davon, dass Sie die Menschen mitneh- nicht hören; das ist eindeutig. men wollen. Das ist zwar richtig. Aber auf Ängste einzu- gehen, die nachweislich unbegründet sind, bedeutet, den (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Stimmt!) Menschen Information und Aufklärung zu verweigern. Die Steuerbefreiung wurde durch die Einführung ei- Das ist mittelalterliches Handeln und entspricht in keiner ner unternehmensbezogenen Biokraftstoffquote für Weise den Erfordernissen einer Wissensgesellschaft. Wir Benzin und Diesel ersetzt. Die Auswirkungen sind dra- brauchen eine Novelle des Gentechnikgesetzes, und (B) matisch. Fiskalpolitisches Handeln hat wirtschaftliches zwar sofort. (D) Denken ersetzt, und zwar zum Schaden der mittelstän- (Beifall bei der FDP – Cornelia Behm [BÜND- disch geprägten Biokraftstoffbranche. In Deutschland NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir nicht!) geplante Investitionen wurden nach Schweden und Eng- land verlagert. Sie, Herr Minister, sind in der Diskussion – Sie, Kollegin Behm, verweigern den Bauern Rechts- schlicht abgetaucht. Sie haben keinen Handschlag zu- sicherheit. Das ist das Schlimmste, was man als Politiker gunsten unserer Landwirte getan. Das wird zur Folge ha- machen kann. Das tun Sie mit einem Gesetz, das Sie zu ben – das ist absehbar –, dass Billigimporte aus Ländern verantworten haben. Das ist ein Skandal. ohne Sozial- und Umweltstandards das Gegenteil von (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: dem bewirken, was wir alle wollen: eine nachhaltige Geht es nicht eine Nummer kleiner, Frau Biokraftstoffproduktion. Happach-Kasan?) Herr Minister, Sie haben eben angekündigt, dass Sie Die Charta für Wald ist eine Maßnahme der letzten sich dafür einsetzen wollen, dass Biogas in die Erdgas- Regierung, die auch wir immer unterstützt haben. versorgung eingespeist wird. Ich bin gespannt, ob und wann – in diesem oder im nächsten Jahrzehnt – Sie die- ser Ankündigung Taten folgen lassen werden. Das ist auf Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: jeden Fall ein sehr dringendes Thema. Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Herr Minister, des Weiteren haben Sie bei der Geflü- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): gelpest versagt. Ihr Besuch auf Rügen war falsch. Wir hoffen, dass Sie sich in Zukunft bei einem Seuchenfall Die jetzige Regierung hat vorgeschlagen, die Waldzu- angemessen verhalten werden. Im Interesse des Schutzes standsberichte nur noch einmal in der Legislaturperiode der Menschen und des Tierschutzes muss die Nichtimpf- zu erstellen. Das ist eine richtige Entscheidung. Nur, politik der EU beendet und durch eine Politik des geziel- Herr Minister, ich frage mich, ob Sie angesichts des Pro- ten Impfens mit markierten Impfstoffen ersetzt werden. testes eine solche rationale Entscheidung wirklich durch- Wir investieren enorm viel in die Anlagen der Insel halten werden oder ob Sie als Bauchpolitiker nicht rela- Riems. Wo bleiben die Ergebnisse, die den dort getätig- tiv schnell kneifen werden. Ich habe vermisst, dass Sie ten Investitionen entsprechen? dem Bundesunternehmen Deutsche Bahn AG einmal ge- sagt hätten, dass Holz, das im Inland produziert wird, Ihr Zickzackkurs in Sachen Gentechnik ist ein einzi- gutes Holz ist und dass die Bahn dieses auch verwenden ges Trauerspiel. Ihr Lob für die Investitionskraft der sollte. Nichts dergleichen ist geschehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5491

Dr. Christel Happach-Kasan (A) Herr Minister, Ihr erstes Jahr im Amt ist weitgehend nen Jahren, speziell im letzten Jahr, sehen. Man sieht den (C) von Schatten geprägt. Ich hoffe, dass das nächste Jahr et- Trend zu ökologischen Produkten. Bereits seit einigen was heller wird. Jahren hält dieser Boom ununterbrochen an. So hatten wir das gar nicht prognostiziert. Der Umsatz ökologi- Danke schön. scher Produkte ist vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2004 von (Beifall bei der FDP) 2 Milliarden Euro auf 4 Milliarden Euro gestiegen. Ich denke, in einer so kurzen Zeit eine Verdopplung zu errei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: chen, ist sicherlich sehr gut. Das geschah gewiss des- Als Nächste spricht Waltraud Wolff für die SPD- halb, weil die Menschen diesen Produkten eine hohe Fraktion. Qualität zuschreiben und sie mit gesunder Ernährung verbinden, aber auch weil im Jahr 2001 das Biosiegel (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eingeführt wurde, das den Kriterien der EU-Öko-Verord- nung entspricht. Das wird von den Konsumenten erkannt Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): und angenommen. Das wird in der Zukunft in der Land- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wirtschaft zu Arbeitsplatzsicherung führen. Kollegen! Zahlen sind zwar nicht alles, aber Zahlen sind etwas Abrechenbares. So können wir auch im Agrarpoli- Damit wir die Nachfrage nach Ökoprodukten in Zu- tischen Bericht 2006 der Bundesregierung sehen, dass kunft noch stärker durch eigene Produktion befriedigen sich die wirtschaftliche Situation der landwirtschaftli- können, ist natürlich auch die Politik gefragt. Ich finde, chen Betriebe in Deutschland in Folge verbessert hat. hier sind ganz speziell die Länder in der Pflicht. Ich erin- Damit das so bleibt, ist es unser Ziel, das Vertrauen der nere an die Möglichkeiten im Rahmen der Gemein- Verbraucherinnen und Verbraucher in heimische Pro- schaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des dukte zu steigern. Darüber hinaus wollen wir auf Eigen- Küstenschutzes“. Für die Zeit von 2005 bis 2008 sollten verantwortung und auf Nachhaltigkeit setzen. die Länder diesen Rahmenplan nutzen. Mit den entspre- chenden Förderrichtlinien wird den Betrieben auch der Die SPD hat schon in der Vergangenheit in ihrer Re- Schritt zur Umstellung erleichtert. gierungszeit mit dafür gesorgt, dass Transparenz in die Produktion Einzug hält. Mit der Einführung des QS-Sys- Es gibt die Kritik, dass die Förderung des Ökoland- tems 2001 wird die Produktion vom Acker bis zur La- baus durch den Bund zu gering sei und dass das Angebot dentheke nachvollzogen. Dieses freiwillige Prüfsiegel ist der Nachfrage nicht nachkomme. In der Argumentation in der Branche zu einem Markenzeichen geworden. stimmt das zwar auf den ersten Blick, aber wir sollten uns doch die Mühe machen und einmal ein bisschen ge- (B) Mit dem jetzt auch vom Bundesrat endlich beschlos- nauer hinschauen: Man muss damit rechnen, dass kon- (D) senen Verbraucherinformationsgesetz haben wir als ventionelle Betriebe im Schnitt zwei Jahre brauchen, um Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich das Recht auf In- auf ökologische Landwirtschaft umzustellen. Das ent- formation durch die Behörden, wenn es zu Verstößen ge- sprechende Angebot kann es also erst dann geben, wenn gen das Lebensmittel- und das Futtermittelrecht kommt, ein Betrieb sich umgestellt hat. Das bedeutet auf gut ganz egal ob die Ware noch im Regal steht oder nicht. Deutsch, dass es diese Angebote nur mit einer Zeitverzö- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gerung geben kann. – Herzlichen Dank. – Wir haben aus dem Gammel- Ungeachtet dessen – das sage ich auch in Richtung fleischskandal eine zusätzliche Lehre gezogen, nämlich der Opposition – besteht die Aufgabe fort, an konzeptio- dass bei kriminellen Handlungen das bestehende Recht nellen Verbesserungen zu arbeiten, wo dies angezeigt ist. in Deutschland ausgeschöpft werden muss. Herr Minis- Aus diesem Grund begrüßen wir als SPD auch im Hin- ter Seehofer, ich danke Ihnen an dieser Stelle ganz herz- blick auf den nächsten Haushaltsansatz, dass das Bun- lich für Ihre klaren Worte, die Sie zu diesem Thema ge- desprogramm Ökologischer Landbau weitergeführt funden haben. Denn es kann einfach nicht angehen, dass wird. auf der einen Seite grobe Verstöße mit Bußgeldern um die 100 Euro oder 500 Euro geahndet werden, auf der Ich habe vorhin gesagt: Eigenverantwortung und anderen Seite aber das Geld aus Verkäufen von Gammel- Nachhaltigkeit. Diese Punkte spielen auch in der Praxis fleisch in den Kassen bleibt und zusätzlich eine gesund- eine immer größere Rolle. Mit der Entkoppelung der heitliche Gefährdung von Konsumenten in Kauf genom- Prämien von der Produktion sind die Bauern gefordert, men wird. von der Überschussproduktion wegzukommen. Wie wir alle wissen, sind in Zukunft sowohl Intervention als auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Exporterstattungen immer unwahrscheinlicher. Hier gibt das deutsche Recht ein Strafmaß von bis zu Zusätzliche, neue Einkommensquellen sind für viele fünf Jahren Haft vor. Ich denke, die Gerichte sollten an Betriebe schon jetzt genauso wichtig wie auch vielfältig. dieser Stelle aufgefordert werden, ein solches Strafmaß Die Produktion und der Einsatz von Biomasse in der auszuschöpfen; denn nur so schafft man es, die schwar- landwirtschaftlichen Produktion haben rapide zugenom- zen Schafe herauszufinden, und vermeidet man es, den men. Auf etwa 1,5 Millionen Hektar Fläche waren im gesamten Berufsstand in den Schmutz zu ziehen. Jahr 2006 nachwachsende Rohstoffe angepflanzt. Das Dass die Menschen im Lande auf qualitativ hochwer- sind sage und schreibe 13 Prozent der Ackerfläche in tige Lebensmittel setzen, konnte man in den vergange- Deutschland. Der Einsatz von Biomasse in Biogasanlagen 5492 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) oder die Verarbeitung zu Biosprit wird vom Berufsstand masseerzeugung liegen dabei in einer effizienten und (C) natürlich schon intensiv genutzt. umweltgerechten Produktion. Lassen Sie mich an dieser Stelle einmal ein ganz tol- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Agrarbe- les Beispiel nennen; gerade gestern habe ich es über den richt 2006 enthält so viele Dinge, die beleuchtet werden Bauernverband gehört. Brandenburg ist ein Bundesland sollten, aber leider sind zehn Minuten keine Stunde. Ich mit schlechten Ackerbodenwerten. Der Anbau von Rog- hoffe und wünsche, dass die Kolleginnen und Kollegen, gen war für viele Brandenburger Betriebe überlebens- die nach mir reden, weitere Themen ansprechen werden, wichtig. Allerdings – das weiß jeder hier im Haus – ist die auch mir noch wichtig sind. diese Produktion immer am Markt vorbeigegangen. Um Herzlichen Dank. die Marktpreise trotzdem stabil zu halten, hat die EU diese Überproduktion vom Markt genommen, in die In- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tervention gegeben und dafür auch gezahlt. Wie sieht es denn heute aus? Heute ist es so, dass die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Brandenburger Bauern ihren Roggen vorrangig für die Als Nächste spricht für die Linksfraktion die Kollegin Bioethanolherstellung anbauen, soweit ich weiß, nichts Dr. Kirsten Tackmann. mehr in die Intervention geben und sogar bessere Preise (Beifall bei der LINKEN) erzielen. (Stephan Hilsberg [SPD]: Richtig! Kluge Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Menschen!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Durch dieses Beispiel wird das unterstrichen, was auch Kollegen! Verehrte Gäste! Nach den vielen eher bangen Herr Seehofer vorhin gesagt hat: Der Berufsstand be- Jahren der Vergangenheit kann der vorliegende Agrarbe- steht fort, auch wenn er nicht subventioniert wird. richt hinsichtlich der betrieblichen Abschlüsse der land- wirtschaftlichen Betriebe auf positive Ergebnisse ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der weisen. Das ist gut. Denn wir brauchen eine stabile und CDU/CSU) leistungsfähige Landwirtschaft als wesentliche wirt- Im „Wegweiser Nachhaltigkeit“ aus dem letzten Jahr schaftliche Säule im ländlichen Raum. stellt die Bundesregierung dar, dass gerade bei der Nut- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. zung von Biomasse eine Nutzungskaskade von der stoff- Ulrich Kelber [SPD]) lichen bis hin zur energetischen Nutzung möglich ist. Gerade hier liegt ein weiteres, noch relativ ungenutztes Die Bilanz ist aber nicht nur positiv. Die volkswirt- (B) (D) Potenzial im Bereich der Wärmeenergie. Die Auflage ei- schaftliche Wertschöpfung ist um 3 Prozent gefallen. nes Wärmeenergiegesetzes würde meiner Auffassung Viele Betriebe, vor allem kleinbäuerliche Betriebe in nach im Sinne einer nachhaltigen Energienutzung Westdeutschland, müssen aufgeben. Der Agrarbericht ebenso positiv wirken wie seinerzeit das Erneuerbare- spricht von 3 Prozent pro Jahr im langjährigen Mittel. Energien-Gesetz für die Stromerzeugung. Mit jeder Betriebsaufgabe ist in der Regel der Verlust von Arbeitsplätzen verbunden. Mitarbeitende Familien- (Beifall bei der SPD – Cornelia Behm mitglieder, vor allem Frauen, sind davon sehr hart be- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann macht troffen. Auch wer auf ergänzendes ALG II angewiesen doch eins!) ist, kann Haus und Hof verlieren. Der ländliche Raum Auch hier würden landwirtschaftliche Betriebe profi- wird daher immer mehr zum sozialen Brennpunkt. tieren, Arbeitsplätze für den ländlichen Raum gehalten Trotzdem ist das Licht nicht zu übersehen: Die be- und die Wirtschaftskraft – das liegt uns allen am Her- trieblichen Gewinne waren im bundesweiten Durch- zen – gestärkt. schnitt um 23,9 Prozent höher als im Vorjahr. Die ost- Darüber hinaus, liebe Kolleginnen und Kollegen, bin deutschen Betriebe haben überdurchschnittlich gut abgeschnitten. In den Bereichen ökologischer Landbau ich der Auffassung, dass wir nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auch auf nationaler Ebene einen und nachwachsende Rohstoffe ist die erhoffte positive Aktionsplan Biomasse brauchen, um die energetische Entwicklung nun endlich eingetreten. Dass die ostdeut- schen Landwirtschaftsbetriebe im Durchschnitt um und stoffliche Nutzung hier in Deutschland weiter vo- ranzubringen. Ziele, wie 20 Prozent des Stromver- 20 Prozent höhere Gewinne erzielt haben als die Be- brauchs im Jahre 2020 über regenerative Energien oder triebe in den Altbundesländern, zeigt, dass auch diese Landstriche und die dort wohnenden Menschen Poten- 5,75 Prozent des Treibstoffverbrauchs im Jahre 2010 über Biosprit zu decken, ziale haben und diese auch nutzen. (Ulrich Kelber [SPD]: Mindestens!) Vor allem in Brandenburg konnten die Betriebser- gebnisse deutlich verbessert werden. Unterdessen arbei- dürfen von uns nicht nur formuliert werden, sondern wir ten – so der Präsident des Landesbauernverbandes, Udo müssen auch zur Erfüllung beitragen. Folgart, vor wenigen Tagen gegenüber der „Märkischen Oderzeitung“ – 40 000 Brandenburgerinnen und Bran- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) denburger in der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft. Wir haben dafür das notwendige Potenzial hier in Das sind 2 000 mehr als noch vor fünf Jahren. Der Ab- Deutschland. Die Perspektiven einer nachhaltigen Bio- wärtstrend ist also gestoppt. Der Anteil der brandenbur- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5493

Dr. Kirsten Tackmann (A) gischen Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt beträgt sich gerade entwickelnde regionale Wachstumsmarkt (C) nunmehr 6 Prozent. Bundesweit beläuft sich der Anteil Biokraftstoffe ist akut gefährdet. Dem Landwirt bleibt der Landwirtschaft auf nur 1 Prozent. Im neuen Leitbild nur beim Eigenverbrauch ein Kostenvorteil – und wahr- der Landesregierung spielt die Landwirtschaft komi- scheinlich auch der nicht ewig. scherweise trotzdem keine Rolle. Beispiel 5: Ökolandbau – auch er ist schon ange- Der positive Trend geht leider an sehr vielen Men- sprochen worden. Die Bundesregierung bringt auch hier schen im ländlichen Raum völlig vorbei. Am Räder zum Stillstand. Die kräftige Steigerung des Absat- 14. Oktober 2006 berichtete die „Märkische Allgemeine zes von Bioprodukten – 14 Prozent mehr als im Be- Zeitung“, dass mein Heimatlandkreis im Nordwesten richtsvorjahr – wird politisch nicht mehr aufgegriffen. Brandenburgs mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf- Die Zahl der Betriebe und auch die ökologisch bewirt- Einkommen von nur 13 000 Euro von Platz 419 auf schaftete Fläche stagnieren trotz guter Absatzlage und Platz 423 – bei 439 Landkreisen im gesamten Bundesge- im Durchschnitt höherer Gewinne dieser Betriebe. Statt- biet – gefallen ist. Bei dem Licht am Ende des Tunnels dessen wird dieser attraktive Binnenmarkt zunehmend kann es sich also auch um einen entgegenkommenden aus dem Ausland bedient. Auch das ist ein Ergebnis der Zug handeln. aktuellen Förderpolitik. Zudem sind die positiven Trends, auf die der Bericht Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass insbeson- verweist – Minister Seehofer hat bereits darauf hinge- dere die Risiken der Umstellung auf den ökologischen wiesen –, nicht das Verdienst der aktuellen Regierung. Landbau einer Förderbegleitung bedürfen. Wir sehen im Aufgabe der jetzigen Regierung wäre es, diese positiven Ökolandbau eine Möglichkeit, natürliche Ressourcen zu Trends im Interesse der Schaffung von Arbeitsplätzen schonen und gleichzeitig Arbeit und Wertschöpfung im und der Steigerung der Wertschöpfung im ländlichen ländlichen Raum zu halten, da der Ökolandbau ver- Raum zu stabilisieren. gleichsweise arbeitsintensiv ist. Aber die politischen Entscheidungen der vergangenen Die Bundesregierung vergrößert die Verunsicherung Monate sprechen eine andere Sprache. aber auch im Bereich der konventionellen Landwirt- schaft. Beispiel 6: Umgang mit der Agro-Gentechnik. Beispiel 1: Fördermittel für den ländlichen Raum. Die deutschen Verbraucherinnen und Verbraucher leh- Das ist bereits angesprochen worden. Die EU-Mittel für nen mit großer Mehrheit Lebensmittel ab, die aus oder den ländlichen Raum sind gekürzt worden. Statt dies mit gentechnisch veränderten Organismen hergestellt über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der werden. Aber auch der Anbau von Bt-Mais für Biogas- Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ mit Bundesmit- anlagen ist nur scheinbar risikoarm; denn die ökologi- (B) teln auszugleichen, werden diese 2006 und 2007 um je- schen Risiken der Anwendung bleiben. (D) weils 50 Millionen Euro gekürzt. Vor dem Hintergrund der reduzierten Bundesmittel kürzen jetzt die Bundeslän- Die Bundesregierung schreibt im Agrarbericht, dass der wichtige Programme, wie etwa für benachteiligte sie Forschung und Entwicklung der Agro-Gentechnik Gebiete und den ökologischen Landbau. unterstützten will. Diese Zielsetzung geht aus meiner Sicht klar am Wählerwillen vorbei. Es wird nicht einmal Beispiel 2: Steuerbelastung für die kleinen und mitt- mehr hinterfragt, ob der vermeintliche Nutzen der Agro- leren Landwirtschaftsbetriebe. Durch die Mehrwertsteu- Gentechnik in Mitteleuropa wirklich belegbar ist. Das ererhöhung und die unzureichende Anpassung des Steu- Problem ist, dass wir dafür einen Standortvorteil riskie- ersatzes für die pauschalierenden Betriebe wurde ren. Denn qualitätsorientierte Strategien der landwirt- zusätzliches Einkommen reduziert. schaftlichen Primärerzeugung, verbunden mit hohen Umweltstandards, waren bisher die Garanten für eine Beispiel 3: Beiträge zum agrarsozialen System. wettbewerbsfähige und verbraucherorientierte Landwirt- Trotz steigender Beitragssätze werden jetzt die Bundes- schaft. Die Agro-Gentechnik befördern heißt daher für zuschüsse für die landwirtschaftliche Unfallversicherung mich, den Pfad dieser Tugend zu verlassen. Mein Fazit: um 100 Millionen Euro reduziert. Der für 2007 geplante Das Aufatmen vieler landwirtschaftlicher Lobbyvereini- Ausgleich über die Rückflüsse früherer Förderkredite ist gungen beim Regierungswechsel wird immer öfter zum nur eine Vertagung des Problems. Es liegt nach wie vor großen Seufzer. kein zukunftsfähiges Konzept für die landwirtschaftliche Unfallversicherung vor. In der aktuellen Diskussion um die Gemeinschafts- aufgabe teile ich die Auffassung, dass die inhaltliche Aber das Sündenregister der Bundesregierung ist län- Ausgestaltung der Förderrichtlinien im Wesentlichen ger. Beispiel 4: Biokraftstoffe – darüber wurde schon den Erfordernissen entspricht und den EU-Rahmenbe- gesprochen. Natürlich ist an vielen Tankstellen mit dem dingungen gerecht wird. Vor allem die Ausgleichszu- Preis für die fossilen Brennstoffe auch der Preis für Bio- lage für benachteiligte Gebiete sowie die Agrarinvesti- diesel gestiegen. Die damit angeblich bestehende Über- tionsförderung sind aus meiner Sicht wichtig – nicht nur kompensation, welche die Regierung jetzt mit Steuern für Ostdeutschland. Mit der Ausgleichszulage können abschöpfen will, gibt es für viele aber trotzdem nicht. Arbeitsplätze gesichert, mit Agrarinvestitionen neue ge- Ein Teil des Biodiesels wird gar nicht an den Tankstellen schaffen werden. Daher dürfen diese Förderungen nicht abgesetzt, sondern direkt an Speditionen verkauft – na- den Kürzungen auf EU-, Bundes- oder Länderebene zum türlich zu anderen Preisen. Der Rohstoff Raps ist unter- Opfer fallen. dessen teurer geworden; die Nebenprodukte Glycerin und Rapsexpeller sind billiger geworden. Kurzum: Der (Beifall bei der LINKEN) 5494 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Kirsten Tackmann (A) Es muss das vorangige Förderziel sein, soziale und na- entwickelt wird, Antworten geben. Deswegen erwarte (C) türliche Lebensbedingungen in den ländlichen Räumen ich es mit ungestillter Neugier. mindestens zu erhalten. Das heißt auch, Anreize zur Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Schaffung von Arbeitsplätzen und damit Existenzmög- lichkeiten im ländlichen Raum zu schaffen. Das ist ein (Beifall bei der LINKEN) gesamtgesellschaftliches Interesse; denn die Konsequen- zen des Sozialabbaus werden immer deutlicher und ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hen weit über persönliche Schicksale hinaus. Der gesell- Als Nächstes hat das Wort Cornelia Behm für schaftliche Zusammenhalt droht zu erodieren, wenn ein Bündnis 90/Die Grünen. demokratisches System so viele Verlierer hinterlässt. Selbstverständlich ist die Förderung nicht nur eine Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frage der Finanzausstattung. Ganz sicher können die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Gelder auch effektiver und noch zielgerichteter einge- Kollegen! Landauf und landab klopfen sich Unionspoliti- setzt werden. Aber die Decke bleibt nun einmal zu kurz – ker zurzeit auf die Brust, sind stolz auf den Aufwärtstrend ob man sie hin und herzieht oder nicht. in der Landwirtschaft und verbuchen die verbesserte Wirt- Das dritte Thema dieser Debatte hat nur scheinbar schaftslage auf ihr eigenes Konto. Dabei belegt der Agrar- wenig mit den bisherigen Themen zu tun. Ich bin immer bericht, dass sie sich mit fremden Federn schmücken; denn wieder darüber erstaunt, wie oft das Risiko von Infek- die um 24 Prozent erhöhten Gewinne der Agrarbetriebe tionskrankheiten bei Nutztieren ausgeblendet wird – wurden bereits im Wirtschaftsjahr 2004/05 gemessen – der und das, obwohl sie in Zeiten exorbitanter Personen- und Minister hat darauf hingewiesen –, also zu rot-grünen Zei- Warenströme einer globalisierten Welt die größte wirt- ten, als Renate Künast Ministerin war. schaftliche Bedrohung unserer Nutztierbestände und da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit auch der tierhaltenden Betriebe darstellen. Die nur scheinbar überraschenden Ausbrüche von MKS, Geflü- Für 2005/06, also in der schwarz-roten Ära, zeichnet gel- und Schweinepest und jetzt der Blauzungenkrank- sich laut Agrarbericht hingegen wieder ein Rückgang heit sind meine Kronzeugen. der Einkommen um circa 5 Prozent ab. Das sind die Fak- ten, die der Agrarbericht nennt, meine Damen und Her- Welche Schlussfolgerungen müssten daraus gezogen ren von der Union, auch wenn Sie die nicht so gern hö- werden? Es müsste alles dafür getan werden, dass wis- ren. Was wahr ist, muss wahr bleiben. senschaftlich begründet und konzeptionell gehandelt werden kann. Stattdessen aber verstärkt sich auch für Dieser rot-grüne Aufschwung hatte seine Gründe. (B) mich angesichts der immer wieder stattfindenden Mas- (Zuruf von der CDU/CSU: Welcher Auf- (D) sentötungen der Eindruck mittelalterlicher Rituale. Spä- schwung?) testens die Bilder der brennenden Kadaverberge wäh- rend des MKS-Seuchenzuges in Großbritannien hätten Durch eine zielgerichtete Orientierung auf Qualitäts- zum Umdenken zwingen müssen: produktion – Sie erinnern sich noch: Klasse statt Masse; auch das hat der Minister zitiert – haben wir er- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- reicht, dass die Verbraucher wieder Vertrauen in die neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) deutsche Lebensmittelproduktion gewonnen haben. Dies hin also zu vernünftigen Präventions- und Interventions- spiegelt sich im gestiegenen Absatz inländischer Erzeug- konzepten. nisse wider. Aber auch die deutschen Agrarexporte ha- ben sich positiv entwickelt. Im Jahr 2004 haben sie um Dabei kann es nicht nur, aber es muss auch um kluge 5,5 Prozent zugenommen. Experten führen dies auf Impfstrategien gehen, wobei wir dann nicht nur über die ebendiese Qualitätsorientierung und -förderung durch großen Nutztierbestände, sondern auch über die kleinen, die Politik zurück. Also: Erst Klasse, dann kommt genetisch wertvollen oder einfach nur moralisch wert- Masse. vollen Klein- und Hobbyhaltungen nachdenken müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Darüber hinaus muss es aber um Folgendes gehen: Erstens. Einschleppungs- und Verschleppungsrisiken Qualität, Vertrauen und der Trend zu Bioprodukten müssen sicher bestimmt und überwacht werden. Zwei- haben dazu geführt, dass sich der Ökolandbau gut am tens. Mit schnellem, effektivem Handeln müssen grö- Markt platzieren konnte. So verbesserte sich auch die ßere Ausbrüche von Endemien und Epidemien verhin- Ertragslage der ökologisch wirtschaftenden Betriebe dert werden. weiter. Das ist eine erfreuliche Tendenz; denn die Öko- betriebe haben im Durchschnitt einen um 30 Prozent hö- (Beifall bei der LINKEN) heren Arbeitskräftebesatz. Sie sind damit für die ländli- chen Räume ein wichtiger Jobmotor. Drittens. Wirtschaftliche Schäden müssen minimiert werden. Viertens. Nach Kosten-Nutzen-Analysen opti- Wenn man auf die aktuelle großkoalitionäre Agrar- mierte Interventionskonzepte müssen dringend entwi- politik blickt, dann muss man sich besorgt fragen: Soll ckelt werden. das, was so schön begann, schon wieder zu Ende sein? Auf diese Herausforderungen muss das Agrarfor- Hier meine wichtigsten Kritikpunkte: Im Agrarbe- schungskonzept, das seit Monaten angekündigt und jetzt richt betont die Bundesregierung den hohen Stellenwert Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5495

Cornelia Behm (A) einer Förderung der ländlichen Entwicklung; in der kon- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C) kreten Politik setzt sie dies allerdings nicht um. Denken Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das ma- Sie nur an den Merkel-Kompromiss zu den EU-Finan- chen wir!) zen. Opfer sind die ländlichen Räume. Massiv gekürzt wurden die Mittel für die zweite Säule der Agrarpolitik. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich kann das Rechenexempel von Ministern nicht nach- Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege vollziehen; da wird viel schöngerechnet. Johannes Röring. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) In den Bundesländern steht – wie man feststellt, wenn man sich das einmal wirklich kritisch anschaut – real bis Johannes Röring (CDU/CSU): zu 50 Prozent weniger Geld für den ländlichen Raum zur Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen Verfügung. Wer da seine Hoffnungen auf den Minister und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst eines feststel- setzt, der jüngst seine Liebe zum ländlichen Raum ent- len: Die Stimmung in der Landwirtschaft, ja in der deckt haben will, wird von der Realität bitter enttäuscht. ganzen Agrarwirtschaft ist zurzeit ausgesprochen gut. Der Agrarhaushalt weist keine Kompensation der EU- Dieses Stimmungshoch ist nicht allein durch die Verbes- Kürzungen auf. Im Gegenteil, die GAK-Mittel wurden serung der Betriebsergebnisse zu erklären. Frau Behm, im Haushalt 2006 um 50 Millionen Euro gekürzt. Die Einkommen werden durch den Fleiß und das Können Folge ist, dass viele notwendige und sinnvolle Pro- von bäuerlichen Familien erzielt und nicht durch die gramme im ländlichen Raum in Zukunft entweder gar Politik. Deswegen ist das alles zu relativieren. nicht mehr oder nur noch stark gerupft angeboten wer- den. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die große Koalition Diese Ergebnisse sind erfreulich; aber sie sind nicht gefährdet eine weitere wichtige Säule, mit der Rot-Grün der Grund für die gute Stimmung. Die Begründung liegt für mehr Einkommen bei den Landwirten gesorgt hat: an anderer Stelle. Bäuerinnen und Bauern, Land- und Sie haben die Mineralölsteuerbefreiung für Biokraft- Forstwirte, Gärtner und Fischer wurden viele Jahre öf- stoffe aufgehoben. Damit drehen Sie einer aufstreben- fentlich angeklagt. Sie wurden, und das sogar von füh- den Branche, die mittelständisch organisiert ist, eine renden Regierungsmitgliedern, verantwortlich gemacht Vielzahl von Arbeitsplätzen geschaffen und zahlreiche für Tierseuchen, Krankheiten wie BSE Innovationen finanziert hat, im wahrsten Sinne des Wor- (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tes den Hahn ab. (B) NEN]: Nicht die Bauern!) (D) Wir Grüne haben dem Bundestag einen Entschlie- oder das Quälen von Tieren und das Verschmutzen von ßungsantrag vorgelegt, mit dem wir diese gefährliche Böden und Wasser. Entwicklung stoppen wollen. Wir fordern von der Bun- desregierung, das Energiesteuergesetz und das Biokraft- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr! So stoffquotengesetz so zu korrigieren, dass der Ausbau der war es!) Bioenergie und der Aufbau einer mittelständischen Bio- Andere bezeichneten die Landwirtschaft als sterbende kraftstoffwirtschaft fortgeführt werden können. Wir for- Branche, als Subventionsempfänger und im Übrigen als dern, dem hohen Stellenwert der ländlichen Entwicklung überflüssig, da ja alles, was wir produzieren, auf dem durch eine ausreichende finanzielle Ausstattung Rech- Weltmarkt eh billiger zu bekommen sei. Diese Haltung nung zu tragen. Wir fordern, die Gemeinschaftsaufgabe hat sich grundlegend geändert. Denn die neue Botschaft „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- der Bundesregierung heißt: Wir sind stolz auf unsere zes“ in eine Gemeinschaftsaufgabe für die Entwicklung Landwirtschaft und wir brauchen sie. des ländlichen Raumes zu überführen. Wir fordern, dass der Bundestag zukünftig in die Entscheidungsfindung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- des PLANAK, also des Planungsausschusses für diese neten der SPD und der FDP) Gemeinschaftsaufgabe, einbezogen wird. Denn: Zum Ersten ist die Agrarwirtschaft ein bedeu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tender Wirtschaftsfaktor. Diese Branche, die in extrem hohem Maße mittelständisch geprägt ist und standort- Das ist unser Geld; darüber müssen wir doch zumindest gebundene Arbeitsplätze in ländlichen Regionen mitentscheiden können. Last, but not least muss die För- schafft, hat über 4 Millionen Beschäftigte und erwirt- derpolitik zugunsten des Ökolandbaus fortgesetzt wer- schaftet über 7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Zum den, damit auch die heimische Landwirtschaft am Zweiten – dieser Punkt wird vielfach vergessen – garan- Wachstumsmarkt der Biolebensmittel teilhaben kann. tiert die Landwirtschaft die Versorgung von 82 Millio- nen Bundesbürgern mit ihrem täglichen Brot. Auch das Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie haben es in der sollten wir deutlich machen. Hand, ob der Agraraufschwung bei den Bioenergien, bei den nachwachsenden Rohstoffen, bei der Qualitätspro- Es wird heutzutage Nahrung in nie bekannter Vielfalt duktion und beim Ökolandbau fortgesetzt oder aufs und in hervorragender Qualität produziert. Wir sollten Spiel gesetzt wird. Ich bitte Sie: Ziehen Sie aus dem stets beachten, dass Versorgungssicherheit nicht nur im Agrarbericht die richtigen Konsequenzen! Energiebereich, sondern erst recht im Nahrungsmittelbe- 5496 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Johannes Röring (A) reich wichtig ist. Wir haben daher allen Grund, auf unsere alle Potenziale bei Ertragssteigerungen und Effizienz- (C) Landwirtschaft stolz zu sein. verbesserung nutzt. Hierzu zähle ich ausdrücklich die Biotechnologie. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Landwirtschaft befindet sich im ständigen Wan- Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. del. Die Erzeugung von Nahrungsmitteln findet mittler- weile vor dem Hintergrund globaler Märkte und sich im- Johannes Röring (CDU/CSU): mer stärker öffnender Grenzen statt. Die Marktpreise für Ja, Frau Präsidentin. Getreide sind mittlerweile überall in der Welt gleich. Die Märkte für Fleisch und Milchprodukte sind hart um- Auch müssen wir uns dringend die Frage stellen, ob kämpft im internationalen Wettbewerb. Deswegen ist es Flächenstilllegungen noch zeitgemäß sind und ob guter so wichtig und unabdingbar, dass die Wettbewerbs- Ackerboden nicht genauso schützenswert ist wie ein fähigkeit unserer Agrarwirtschaft in Zukunft weiter ver- Feuchtbiotop. bessert wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hierfür sind folgende Aspekte von sehr großer Be- neten der SPD) deutung: Wir müssen alle bürokratischen Vorgaben und Für diese gigantischen Ziele und die Lösung der Auf- Regelungen auf ihre Effizienz und Notwendigkeit über- gaben, die vor uns liegen, brauchen wir die Unterstüt- prüfen. Hier schließe ich natürlich die europäischen zung der Bundesregierung in der Forschung. Hier sind Richtlinien und Verordnungen ein. Hiermit definieren richtige Schritte gemacht worden. Ich glaube, dass die wir am Ende nämlich, wie wir Nahrung produzieren Landwirtschaft auf einem guten Weg ist. Lassen Sie uns wollen, wie wir mit der Natur und der Umwelt umgehen, diesen Weg weiter positiv gestalten! wie wir Tiere halten und – auch das ist wichtig – unter welchen Bedingungen die Menschen in diesem Bereich Danke für das Zuhören. arbeiten und leben. Kurz gesagt: Wir setzen Standards. Aber was hilft es, wenn wir in unserem Land Standards (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- formulieren und sie unter hohen Produktionskosten neten der SPD) streng einhalten, aber beim Import alle Augen zuma- chen? Das hat nichts mit fairem Welthandel zu tun. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächstes spricht der Kollege Dr. Edmund Geisen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für die FDP-Fraktion. (B) neten der SPD) (D) (Beifall bei der FDP) An dieser Stelle gebührt unserem Minister Seehofer ein großes Lob, der im Gegensatz zu seiner Vorgängerin Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): deutsche und europäische Interessen bei den Verhand- lungen mit der WTO – zuletzt in Hongkong – stets im Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Auge hatte. Sehr geehrte Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Agrarbericht mag zwar (Beifall bei der CDU/CSU) realistisch sein; aber die Worte des Herrn Ministers heute Morgen wie auch die meines Kollegen Herrn Die weiteren Herausforderungen für die Landwirt- Röring stellen sich für mich als eine große Schönfärberei schaft zeichnen sich deutlich erkennbar ab: Aktuelle dar. Prognosen sagen uns eine Verdoppelung des weltweiten Fleischkonsums in wenigen Jahren voraus. Dadurch (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, so etwas ma- wird eine erhebliche Steigerung der Nachfrage an Ge- chen wir nicht!) treide, Mais und Sojaschrot verursacht, da die Erzeu- Denn die in den Bereichen Ernährung, Landwirtschaft gung von einem Kilogramm Fleisch mehrere Kilogramm und Verbraucherschutz bestehenden Probleme wurden Getreide erforderlich macht. Darüber hinaus – dieser nicht gelöst und die meisten noch nicht einmal in Angriff Punkt kommt hinzu – erwartet die Gesellschaft von der genommen. Landwirtschaft ein immer stärkeres Engagement bei er- neuerbaren Energien und Rohstoffen, die – das wird oft (Beifall bei der FDP) in der allgemeinen Diskussion vergessen – von den glei- Das Schlimmste, was man dem Herrn Minister vorzu- chen Flächen kommen. Denn die Flächen sind nicht ver- werfen hat, ist der andauernde Zickzackkurs seiner Poli- mehrbar. In der Summe wird dies dazu führen, dass sich tik in vielerlei Hinsicht, aber insbesondere in der Agrar- die weltweite landwirtschaftliche Produktion in absehba- sozialpolitik. Mit der Politik des Ministers ist unsere rer Zeit verdoppeln muss, und das auf kaum vermehrba- Landwirtschaft vom Regen in die Traufe gekommen. rer Fläche. (Beifall bei der FDP) Dies sind gewaltige Aufgaben. Hier ist die deutsche und europäische Landwirtschaft aufgrund der exzellen- Es gab zunehmende Kürzungen im agrarsozialen Be- ten Bedingungen bei Boden und Klima stark gefordert reich des Haushalts. Die versprochene Eins-zu-eins-Um- und in der Verantwortung. Zu schaffen ist das aber nur setzung der EU-Richtlinien wurde nicht eingehalten. Die durch eine moderne und intelligente Landwirtschaft, die Erntehelferregelung war ein Flop. Es gibt keine Lösun- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5497

Dr. Edmund Peter Geisen (A) gen für die Tierseuchenbekämpfung. Nein, die Land- sichts der aktuellen Situation aus unserer Sicht sehr (C) wirtschaft ist nicht, wie es der Herr Minister darstellt, wichtig sind. Unsere Fraktion hat im September eine auf Rosen gebettet. Sie hat noch nichts davon gemerkt, bundesweite Konferenz zur Zukunft ländlicher Räume dass Verbesserungen eingetreten sind. durchgeführt und von Akteuren aus dem ländlichen Raum eine Vielzahl von Anregungen erhalten. (Beifall bei der FDP) (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was der deutschen Landwirtschaft besonders zu Nicht besonders inhaltsschwanger!) schaffen macht, sind die ungleichen Wettbewerbs- bedingungen auf EU-Ebene, die überbordende Bürokra- Auf einige Aspekte möchte ich eingehen. tie, die wettbewerbsverzerrenden Dieselbesteuerungen Wir brauchen wesentlich stärker eine integrierte Sicht im Agrarbereich sowie die unterschiedlichen Produk- auf die Entwicklung in unserem ländlichen Raum. Wenn tionsvorschriften und Auflagen im Umweltbereich, in wir ehrlich sind, müssen wir Agrarpolitiker eingestehen der Tierhaltung und in der Produktionstechnik. Dazu – das betrifft uns alle –, dass wir zwar schon seit Jahr- kommen auf nationaler Ebene die enorm hohen finan- zehnten von einer integrierten Agrarpolitik sprechen, da- ziellen Anforderungen durch die alten Lasten. von aber doch noch ein ganzes Stück entfernt sind. Herr Das alles ist nicht so in Angriff genommen worden, Bundesminister, deswegen begrüßen wir das, was wir in dass unseren Landwirten eine Zukunftsperspektive ge- den letzten Monaten aus Ihrem Haus – von Ihnen, aber boten wird. Unsere Landwirte sind weiterhin vor allem auch von Ihren führenden Mitarbeitern – hören, nämlich dadurch verunsichert, dass sie keine mittelfristige Pla- dass es eine der wesentlichen politischen Zielstellungen nungssicherheit haben. ist, jetzt zu einer integrierten Politik für ländliche Räume zu kommen. Das bedeutet eine Abkehr von der (Beifall bei der FDP) bisher prägenden sektoralen Betrachtungsweise. Deswegen fordern wir von der FDP-Fraktion den Herrn (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Minister auf, diese genannten Probleme möglichst bald NEN]: Das hat ja wohl Renate Künast schon in Angriff zu nehmen. eingeleitet!) Wir fordern ebenfalls eine verstärkte verbraucher- Wir könnten uns vorstellen, auf Bundesebene so et- orientierte Politik, die den Verbrauchern und den Land- was wie einen Rat für die Entwicklung ländlicher Räume wirten gerecht wird. Dazu gehören die Harmonisierung einzurichten. Unser Ministerium sollte mit den anderen der Qualitätsstandards in Europa – und darüber hinaus –, Ministerien, die über fachliche Zuständigkeiten auf die- die Qualitätssicherung im Agrar- und Nahrungsmittelbe- sem Gebiet verfügen, zusammenarbeiten. Eine dement- reich, die Aufklärung über die Produktionswege der sprechende Einrichtung bräuchten wir auch auf der (B) (D) national und international erzeugten Produkte, die He- Ebene der Länder; denn es ist klar, dass eine Politik für rausstellung der heimischen Produkte durch deutliche ländliche Räume regional, das heißt hauptsächlich auf Kennzeichnung und die Aufklärung der Verbraucher der Landesebene, umgesetzt werden muss. Ich bin davon über Produktionsmethoden hierzulande und internatio- überzeugt, dass die Geschwindigkeit, mit der wir diese nal, damit ein Vergleich gewährleistet ist. Wir fordern Entwicklung angehen, erhöht werden muss. Sie, Herr Minister Seehofer, auf, endlich Maßnahmen zu Eine entscheidende Zielstellung in diesem Zusam- ergreifen, die unseren Landwirten und dem ländlichen menhang ist und bleibt, Arbeit und Wertschöpfung vor Raum Zukunftsperspektiven aufzeigen. Ort zu halten. Auch deshalb müssen wir regionale Wirt- (Beifall bei der FDP) schaftskreisläufe aktivieren, neue Marketingkonzepte entwickeln und Beschäftigung gezielt fördern. Wenn wir Zum Schluss möchte ich etwas zur deutschen EU- das wollen, brauchen wir mehr Mittel im Bereich der Präsidentschaft im kommenden Jahr sagen. Wir von der zweiten Säule, als wir zurzeit – leider – zur Verfügung FDP fordern Sie insbesondere auf, im Bereich der haben. Deshalb ist es aus meiner Sicht unverzichtbar, Cross-Compliance und darüber hinaus für einen drasti- Mittel aus dem Bereich der ersten Säule in den Bereich schen Bürokratieabbau zu sorgen. Hier stehen Sie, Herr der zweiten Säule umzuschichten. Minister, im Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Beifall Ich bedanke mich für das Zuhören. beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Natürlich müssen alternative Erwerbsmöglichkeiten für die betroffenen Bürger im ländlichen Raum ausgebaut Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werden. Eine Fülle erfolgreicher Leader-Projekte belegt, Als Nächstes spricht für die SPD-Fraktion dass das möglich ist. Auch das Instrument der Modula- Dr. Gerhard Botz. tion ist deshalb kein Generalangriff auf die Einkommen der heutigen Landwirte, sondern eher eine Maßnahme, mit deren Hilfe es uns gelingen kann, öffentliche Mittel Dr. Gerhard Botz (SPD): – solange wir sie noch haben – sukzessive für vernünf- Frau Präsidentin! Herr Bundesminister! Meine sehr tige und zukunftsfähige Projekte im ländlichen Raum geehrten Damen und Herren! Ich möchte in meinem einzusetzen. heutigen Beitrag auf nur einen Punkt im Agrarbericht eingehen, nämlich auf die Zukunft der ländlichen (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Räume, genauer gesagt: auf einige Aspekte, die ange- NEN]: Richtig!) 5498 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Gerhard Botz (A) Es gibt eine klare politische Zielstellung, der wir uns stellen. Herr Bundesminister, an dieser Stelle möchte ich (C) als Sozialdemokraten verpflichtet fühlen: Unsere ländli- Sie ausdrücklich bestärken, diesen Aspekt mit Blick auf chen Regionen, insbesondere die peripher gelegenen die Vorhaben im Bereich der Ressortforschung, die wir strukturschwachen Regionen müssen als eigenstän- alle tragen – natürlich muss im Detail noch darüber bera- dige Lebens- und Wirtschaftsräume erhalten und weiter- ten werden; aber wir unterstützen sie –, einzubeziehen. entwickelt werden. Eine einseitige Ausrichtung zukünf- Denn es werden Zeiten kommen, in denen wir froh und tiger staatlicher Förderstrategien auf Ballungsräume, die vielleicht auch etwas stolz darauf sein werden, dass wir ohnehin wachsen, kann deshalb nach meiner Auffassung Agrarforscher, Züchter und Verfahrenstechniker mit aus- nicht akzeptiert werden. reichender Kapazität Vorbereitungen haben treffen las- sen, damit die verbliebenen Landwirte, die in den kom- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ menden Jahrzehnten unsere Bevölkerung versorgen DIE GRÜNEN) sollen, über die entsprechenden Maßnahmen und Ver- Es gibt trotz der bekannten Probleme, die ich hier fahren verfügen. nicht im Einzelnen aufführen muss, in fast jeder dieser Regionen erhebliche Entwicklungspotenziale, die wir Ich glaube, dass wir alle – damit möchte ich zum fördern müssen. Wichtig ist es, dass wir dazu die Ak- Schluss kommen – uns darüber klar sind, dass ländliche teure vor Ort in die Entscheidung einbeziehen. Deshalb Räume, die Landwirtschaft und der Beruf des Landwirts – das möchte ich in Richtung unseres Bundesministe- nicht mehr den Stellenwert haben, den sie vor einigen riums sagen – war es richtig, das Programm „Regionen Jahrzehnten noch hatten. Aber wir sollten nicht müde Aktiv“ für zwei Jahre zu verlängern. werden, unseren Mitbürgern, den Medien und allen an- deren Interessenvertretern klar zu machen, dass sie Auch wenn wir weniger Geld haben und über neue In- wichtig sind. Das war immer so und es wird so bleiben. strumente nachdenken müssen, bleibt die grundlegende Wir hängen existenziell von dieser Branche, von den Entscheidung Deutschlands aus früheren Jahrzehnten ländlichen Räumen ab. Deshalb hoffe ich, dass wir trotz richtig, den Wegfall landwirtschaftlicher Beschäftigung aller Aktivitäten, die wir Parlamentarier auf diesen Ge- durch Erwerbschancen in Industrie, Gewerbe und bieten abwickeln, die Zukunft unseres Vaterlandes dem- Dienstleistung im ländlichen Raum rechtzeitig auszu- entsprechend gemeinsam gestalten. gleichen. Frankreich zum Beispiel hat diese strategische Entscheidung verschlafen und leidet bis heute unter den Vielen Dank. Folgen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Noch können wir in unseren ländlichen Räumen auf bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ein besonders hohes ehrenamtliches Engagement unse- GRÜNEN) (B) (D) rer Bürger zurückgreifen. Wir müssen versuchen, trotz knapper finanzieller Mittel dieses Kapital ehrenamtli- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: cher Tätigkeit an wichtigen Schaltstellen gezielt zu för- Bärbel Höhn spricht jetzt für Bündnis 90/Die Grünen. dern. Dabei geht es um Betreuungsangebote kultureller und sportlicher Art für Jungendliche. Diese können man- cherorts aufrechterhalten bleiben oder sogar verbessert Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werden. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dass das letzten Endes nichts anderes ist als eine vorsor- Ich möchte zunächst einmal unabhängig vom Thema gende Maßnahme gegen den wachsenden Einfluss dieser Debatte darauf hinweisen, dass in diesem Moment rechtsradikaler Organisationen insbesondere in länd- das Kuratorium „Baum des Jahres“ tagt. An dieser Sit- lichen Regionen, die benachteiligt sind. Dort unterbrei- zung können wir leider nicht teilnehmen, weil wir diese ten solche Organisationen Jugendlichen gezielt Freizeit- Debatte führen. Heute wird nämlich der Baum des Jah- angebote, um über diesen Weg ihr verhängnisvolles res ausgerufen: die Waldkiefer. Wir sollten diesem Baum Gedankengut in deren Köpfe zu bringen. und damit dem Naturschutz in unserem Land alles Gute wünschen! (Beifall bei der SPD) (Beifall im ganzen Hause) Wer über Perspektiven für ländliche Räume spricht und ohne Illusionen in die Zukunft schaut – das ist Jetzt komme ich auf den Agrarpolitischen Be- schließlich unsere Aufgabe in diesem Hohen Haus –, der richt 2006 der Bundesregierung zu sprechen. Herr darf nicht die Augen vor den mit hoher Sicherheit zu er- Seehofer, ich muss sagen, dass ich Ihre Rede enttäu- wartenden Klimaveränderungen verschließen. Nüch- schend fand. Denn die Diskussion über den Agrarbericht terne Einschätzungen deuten darauf hin, dass wir uns ist eine Grundsatzdebatte. Deshalb hätte ich schon er- von der bisherigen Erfahrung von jährlichen Ertragszu- wartet, dass Sie zum Beispiel auf das eingehen, was die wächsen in Höhe von etwa 3 Prozent verabschieden EU-Agrarkommissarin Fischer Boel im „Handelsblatt“ müssen, allein deshalb, weil sich die Temperatur- und vom 16. Oktober dieses Jahres gesagt hat. Dort heißt es: Niederschlagsverteilung in den kommenden Jahrzehnten Fischer Boel kündigte ferner an, dass sie das Bud- erheblich verändern wird. get für die Direktzahlungen an die Bauern stärker Wir sind also gut beraten, ohne Hast, aber konsequent senken wolle als in der EU-Finanzplanung bis 2013 und entschlossen unsere Forschung im Agrar- und Forst- vorgesehen. Das Geld solle stattdessen in den bereich auf diese Herausforderungen rechtzeitig einzu- Fonds für ländliche Entwicklung fließen. … So Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5499

Bärbel Höhn (A) würden Bauern mit zukunftsweisenden Geschäfts- Raps. Auch Soja kann in vielen Bereichen nicht mehr (C) ideen belohnt, sagte sie. gentechnikfrei geliefert werden. Was ist das Ersatzpro- dukt? Das Ersatzprodukt ist gentechnikfreier Raps. Das (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ bedeutet, der Rapspreis hat sich nicht nur aufgrund ge- DIE GRÜNEN) stiegener Energiekosten erhöht, sondern auch, weil Eu- Herr Seehofer, auf diese Ankündigung hätte ich von ropa bisher gentechnikfrei geblieben ist. Das hat darüber Ihnen eine Reaktion erwartet. Sie haben die Kürzungen hinaus eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit zur der zweiten Säule hingenommen und gesagt, diese Kür- Folge. Das muss so bleiben. zungen seien nicht schlimm, da es sich nur um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – 1 Milliarde Euro handele, was kein großer Betrag sei. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Raps kann Auf diese Weise haben Sie versucht, die Bedeutung die- Soja nicht völlig ersetzen, Frau Höhn! Das ser Kürzungen herunterzureden. Für viele Bereiche der wissen Sie!) deutschen Landwirtschaft und für viele Regionen unse- res Landes sind diese Kürzungen der zweiten Säule al- Sie, Frau Happach-Kasan, waren doch gerade erst in lerdings eine existenzielle Bedrohung. Das sollten wir Argentinien. Wissen Sie, wie in Argentinien das immer wieder betonen. schlimmste Schimpfwort lautet, das Bauern und Vertre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ter der Ernährungswirtschaft in den Mund nehmen? Es lautet Monsanto. Denn durch die Lizenzgebühren, die Einige Bauern, beispielsweise in bestimmten Land- dieses Unternehmen verlangt, sind viele Bauern in Ab- kreisen Bayerns, sind finanziell stärker von der zweiten hängigkeit geraten. Mittlerweile ist es so, dass Monsanto Säule als von der ersten Säule abhängig. Herr Goppel sowohl die Bauern als auch die Ernährungswirtschaft wird Ihnen das bestätigen, wenn Sie es noch nicht wis- knebelt. Einen solchen Zustand wollen wir in Deutsch- sen. Von den Kürzungen der zweiten Säule sind sowohl land nicht. die Bauern, die extensive Landwirtschaft betreiben, als auch die Bauern, die naturnahe Landwirtschaft betrei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – ben, betroffen. Sie haben dramatische Auswirkungen. Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist doch Un- Deshalb müssen wir etwas gegen diese Kürzungen un- sinn, was Sie hier erzählen! Völliger Unsinn!) ternehmen. Es gibt noch einen Bereich, den ich ansprechen will (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und für den Sie, Herr Seehofer, auch keine Worte gefun- den haben: den Tierschutz. Ich finde es gut – am heuti- Genau die Maßnahmen, die eingeleitet worden sind, gen Tage sollte man darauf hinweisen –, dass wir im (B) um diesen Kürzungen zu begegnen, haben Sie abge- Hinblick auf Robbenprodukte einen gemeinsamen An- (D) würgt, indem Sie nicht nur die Kürzungen der zweiten trag eingebracht haben. Wir wollen heute – allerdings zu Säule hingenommen haben, sondern auch noch die Mit- nachtschlafender Zeit; daher spreche ich dieses Thema tel für die Gemeinschaftsaufgabe gekürzt haben. Das Fa- schon jetzt an – für Deutschland die Einführung eines tale an dem, was Sie getan haben, ist, dass Sie die Mittel Stopps des Imports von Robbenprodukten beschließen. für die Bauern mit zukunftsweisenden Ideen gekürzt ha- Das ist richtig, weil wir dadurch der grausamen Robben- ben. Der Unterschied zwischen der Politik von Rot-Grün jagd in Kanada endlich etwas entgegensetzen und errei- und Ihrer Politik besteht darin, dass wir für zukunftswei- chen, dass sich in diesem Land im Tierschutz etwas ver- sende Konzepte Geld zur Verfügung gestellt haben, Sie ändert. Das ist gut. aber tun das Gegenteil. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ihnen ging es doch Vielen Dank an alle Fraktionen, übrigens auch an die nur um Ihre Klientel!) PDS, die dieses Vorhaben inhaltlich auch unterstützt. Ich möchte noch auf einen anderen wichtigen Bereich Darüber hinaus wurden die Haltungsbedingungen für eingehen, den Sie, Herr Seehofer, nicht angesprochen Pelztiere verbessert. Dieses Thema ist erst vor kurzem haben: die Gentechnik. Wir könnten in diesem Zusam- im Bundesrat behandelt worden. Aber das reicht uns menhang sehr lange über ethische und ökologische Ge- Grünen nicht. Denn beim Tierschutz geht es nicht nur sichtspunkte diskutieren. Ich will heute aber einzig und um Robben und Pelztiere. Ein Verbot von Robbenpro- allein über den wirtschaftlichen Vorteil reden, den Eu- dukten macht Ihnen, um es so zu sagen, wenig aus. Wir ropa hätte, wenn es gentechnikfrei bliebe. Das wäre auch wollen, dass die Einfuhr von Katzen- und Hundefellen ein wirtschaftlicher Vorteil für die Bauern in diesem verboten wird. Dem entsprechenden Antrag von uns ha- Land, nicht nur ein Vorteil für die Verbraucherinnen und ben Sie bisher nicht zugestimmt. Vor allen Dingen wol- Verbraucher. len wir eine Verbesserung für Nutztiere. Durch Ihre Ent- scheidung in der Frage der Hennenhaltung und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Schweinehaltung haben Sie dazu beigetragen, dass Mil- Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das ist lionen von Tieren unter schlechteren Bedingungen leben Unsinn!) müssen als vorher, als Rot-Grün regiert hat. Das große Land Kanada kann mittlerweile keinen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gentechnikfreien Raps mehr liefern. Doch was tut die Ernährungswirtschaft? Sie fragt nach gentechnikfreiem Wir müssen mehr für den Tierschutz tun in diesem Land. 5500 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Bärbel Höhn (A) Vielen Dank. halt gewählt hat. Sachsen-Anhalt hat mittlerweile eine (C) Spitzenposition in der ostdeutschen Ernährungsbranche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erreicht.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort die Kollegin Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]) Uda Heller. Marken wie Rotkäppchen, Hasseröder Bier und Hal- (Beifall bei der CDU/CSU) berstädter Würstchen sind weit über die Grenzen von Sachsen-Anhalt bekannt. Markenprodukte haben einen positiven Identitätswert für unsere Menschen, die stolz Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU): sind, wenn sie selbst in einem Supermarkt in Berlin oder Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Hamburg Produkte aus ihrer Heimat vorfinden. Mit ei- Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorlie- ner Umsatzsteigerung um über 300 Millionen Euro auf gende Agrarbericht zeigt deutlich die große Bedeutung, 5,8 Milliarden Euro im Jahr 2005 lag Sachsen-Anhalt welche die Bundesregierung einer starken und auf dem über dem Bundesdurchschnitt. Die Exportumsätze stie- internationalen Markt wettbewerbsfähigen Land- und gen in diesem Zeitraum um 12 Prozent. Als ein beson- Agrarwirtschaft beimisst. ders wichtiges Signal werte ich aber die leichte Zunahme der Zahl der im Ernährungsgewerbe in Sachsen-Anhalt Ich habe mir ein Kapitel aus diesem Bericht ausge- Beschäftigten. Dort waren 2005 knapp 21 000 Arbeit- wählt, und zwar die Mittel zum Leben, besser gesagt: die nehmer in dieser Branche tätig. Lebensmittel. Als nachgelagerter Wirtschaftsbereich spielt insbesondere die Ernährungswirtschaft eine ent- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) scheidende Rolle für die Sicherung der Versorgung unse- rer Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. 80 Prozent unse- Interessant ist: In Mecklenburg-Vorpommern liegt der res Nahrungsbedarfs werden mit heimischen Produkten Umsatz der Ernährungswirtschaft mit 4,8 Milliarden gedeckt und das ist gut so. Die Ernährungsbranche ist Euro noch deutlich vor dem der Tourismusbranche mit mit etwa 5 900 Betrieben, circa 1,3 Millionen Beschäf- 3,5 Milliarden Euro. Im Gegensatz zur Tourismusbran- tigten und einem Umsatz von rund 260 Milliarden Euro che, die weitgehend vom Saisongeschäft abhängig ist, im Jahr einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige in besitzt die Ernährungsbranche ein sehr viel höheres Deutschland. Die Branche boomt und wird von den Bür- Wachstumspotenzial. Dieses gilt es auszuschöpfen. gern in Deutschland, aber auch im Ausland angenom- Als umsatzstärkste Branche des verarbeitenden Ge- men und geschätzt. Wenn wir jetzt noch lernen, nicht nur werbes in Ostdeutschland hat sie zudem entscheidend (B) (D) auf den Preis, sondern auch auf die Qualität zu schauen, zum Wirtschaftswachstum von durchschnittlich 5,6 Pro- sind wir auf dem richtigen Wege. zent in den vergangenen fünf Jahren beigetragen. Dies (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ist ein erfreuliches Ergebnis, das zum großen Teil den mittelständischen Unternehmen zu verdanken ist. Die Vielfalt an Brot- und Biersorten in Deutschland – um nur zwei Beispiele zu nennen – ist einzigartig in Um in Zeiten der Globalisierung im internationalen der Welt. Allein im ersten Halbjahr 2006 wurden Nah- Konkurrenzkampf um Marktanteile in der Ernährungs- rungsgüter im Wert von 18,1 Milliarden Euro exportiert. branche erfolgreich zu sein, müssen wir auf unsere qua- Ich denke, damit sind wir auf einem sehr guten Weg. Die litativ hochwertigen Produkte bauen. Gleichzeitig gilt es, Landwirtschaft ist aber in hohem Maße von der Verar- die typisch deutschen Spezialitäten und kulinarischen beitung ihrer Produkte und vom Handel abhängig. Denn Besonderheiten einzelner Regionen intensiver und er- fast alle Agrarprodukte erreichen den Verbraucher in folgreicher zu vermarkten. verarbeitetem Zustand. Die positiven Synergieeffekte (Beifall bei der CDU/CSU) von Land- und Ernährungswirtschaft sind wichtig, weil beide Glieder eine Wertschöpfungskette bilden. Auf lange Sicht ist es auch für uns unverzichtbar, in noch viel höherem Maße neue ausländische Absatz- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) märkte zu erschließen. Dabei gilt es, eine möglichst hohe Wertschöpfung zu er- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sehr richtig!) zielen, weil diese für die wirtschaftliche Tragfähigkeit der Agrarwirtschaft von großer Bedeutung ist. Insbesondere geht es auch darum, Perspektiven auf den Weltagrarmärkten auszuloten und sich bietende Chancen In der vergangenen Woche fand in Magdeburg erst- beim Export in Drittländer zu nutzen. Ein hohes Nach- mals eine zweitägige „Zukunftskonferenz Ernährungs- fragepotenzial besitzen die neuen Mitgliedstaaten in der wirtschaft“ auf Initiative von Bundesminister Horst Europäischen Union, aber auch die aufstrebenden Län- Seehofer statt. Unter dem Motto „Neue Wege und neue der mit einer großen Wirtschaftskraft wie Brasilien, In- Chancen in der Agrar- und Ernährungswirtschaft“ konn- dien und China. ten sich Vertreter der Landwirtschaft und der deren Pro- dukte verarbeitenden Ernährungswirtschaft austau- schen. Besonders erfreut war ich darüber, dass das Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bundesministerium als Veranstaltungsort für diese Kon- Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom- ferenz Magdeburg in meinem Heimatland Sachsen-An- men. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5501

(A) Uda Carmen Freia Heller (CDU/CSU): Die stürmische Entwicklung bei den erneuerbaren Ener- (C) Ja. gien, in dessen Verlauf wir nicht nur die Nutzung für die Landwirte verbessert haben, sondern auch Weltmarkt- Meine Damen und Herren, als jemand, deren Vorfah- führer in den entsprechenden Technologien geworden ren in einer über hundertjährigen Geschichte Lebensmit- sind, ist also nichts Positives in diesem Agrarbericht für tel hergestellt haben und die selbst in der Obst- und Sie? Auch die steigende Bereitschaft der Verbraucherin- Gemüsebranche gelernt und später Lebensmitteltechno- nen und Verbraucher, für bestimmte Produkte mehr Geld logie studiert hat, sei es mir gestattet, auf eine große auszugeben – zum Beispiel für Produkte aus der ökolo- Chance für unsere Jugend hinzuweisen. Ein Blick in die- gischen Landwirtschaft –, ist also nichts Positives in die- sen Berufszweig ist interessant. Er ist vielseitig und hat sem Agrarbericht für Sie? Zukunft. Hochmoderne Anlagen und zum Teil kompli- zierte Technik verlangen gut qualifiziertes Personal nicht (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nur für die Herstellung selbst, sondern zum Beispiel NEN]: Sie wollen sie abschaffen!) auch für die Bereiche Lebensmittelüberwachung und Le- bensmittelkontrolle. Schwarz-Weiß-Malerei an dieser Stelle nützt nichts. Salopp gesagt: Gegessen und getrunken wird immer. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deshalb rufe ich alle jungen Leute dazu auf, sich in die- Von der Fraktion der Grünen haben sich Frau Behm ser Branche ausbilden zu lassen und hier die Chancen zu und Frau Höhn in ihren Reden mit dem Agrarbericht be- nutzen, die gegeben sind. schäftigt. Ich gehe auf die Punkte ländlicher Raum und Danke. Biosprit ein. Die Auseinandersetzung bezüglich des ländlichen Raumes hatten wir ja schon einmal. Frau (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Höhn und Frau Behm, ich würde mir wünschen, dass sie neten der SPD) nicht nur der jetzigen Regierung vorwerfen, dass sie Mittel für die ländlichen Räume kürzt, sondern auch er- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: klären, wo Sie denn gewesen sind, als die größten Kür- Uli Kelber spricht jetzt für die SPD-Fraktion. zungen bei den Gemeinschaftsaufgaben durch eine grüne Ministerin erfolgt sind. Das gehört zur Ehrlichkeit in dieser Debatte dazu. Ulrich Kelber (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Herren! Die Rednerin der FDP hat zu Beginn davon ge- des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP] – Bärbel (B) sprochen, sie könne keinen Politikwechsel feststellen. Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist (D) Sie können sich vorstellen, dass ich als Sprecher der absolut falsch!) Fraktion, die vor der letzten Bundestagswahl sieben Jahre lang in der Regierungskoalition war und die es Diese statistischen Daten sind wir beim letzten Mal ge- jetzt im Augenblick auch ist, das eher als Lob denn als meinsam durchgegangen und Sie haben sie an dieser Kritik verstehe. Stelle immerhin anerkannt. (Beifall bei der SPD – Dr. Christel Happach- (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kasan [FDP]: Das ist aber nicht gut!) NEN]: Nein!) – Frau Happach-Kasan, ich greife das auf, weil Sie als Nächstes gesagt haben, Sie könnten in diesem Agrarbe- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: richt nichts Positives entdecken. Ich mag eine solche Herr Kelber, möchten Sie eine Zwischenfrage von Schwarz-Weiß-Malerei nicht. Es gibt genügend Themen, Frau Happach-Kasan zulassen? über die man unterschiedlicher Meinung ist. Niemand in der Bevölkerung nimmt uns ab, wenn wir erklären, der Ulrich Kelber (SPD): eine habe in allem Recht, der andere habe nie Recht, al- Ich wollte eigentlich zuerst den Biosprit abhandeln, les sei schlecht oder alles sei gut. So funktioniert die aber da Sie gerade fragen, lasse ich sie selbstverständlich Welt nicht. jetzt zu und tue das danach, Frau Präsidentin. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Was ist denn schlecht?) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie sollten schon einmal in den Bericht hineinschauen. Frau Happach-Kasan. Auch der Unterschied in der Darstellung der Oppositi- onsfraktionen war sehr interessant. Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Es ist aus Ihrer Sicht also nichts Positives, dass es bei Herr Kelber, ich finde es ausgesprochen angenehm, den wirtschaftlichen Ergebnissen der landwirtschaftli- dass Sie hier das Thema Biosprit tatsächlich angespro- chen Betriebe seit mehreren Jahren einen Aufschwung chen haben. gibt? Das steht im Agrarbericht. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das steht Ulrich Kelber (SPD): nicht im Agrarbericht!) Nein, das wollte ich noch tun. 5502 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): fordern Sie eine Abkehr von der finanziellen Förderung (C) Langsam, Sie haben es hier angesprochen. Sie haben und eine Hinwendung zu einer Quote. kritisiert, dass ich die Politik der Bundesregierung hin- sichtlich Biosprit angegriffen habe. Wir sind – da Sie (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Nein, das auch einmal das Positive dargestellt haben wollten – in ist eine Fehlinterpretation!) einem Punkt durchaus einer Meinung: Als wir im Bun- Beim Biosprit wollen Sie weg von der Quote und hin zu destag gemeinsam die Steuerbefreiung für Biodiesel bis einer finanziellen Förderung. An dieser Stelle sollten Sie Ende 2008 beschlossen haben, waren wir auf einem ge- als Partei eine einheitliche Position beziehen. meinsamen Weg. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wenn Sie diese Entscheidung so positiv bewerten, wie Sie das jetzt gemacht haben, dann möchte ich Sie fragen, warum Sie dann im Koalitionsvertrag gemein- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sam mit der CDU und der CSU beschlossen haben, diese Herr Kelber, möchten Sie jetzt eine Frage von Frau Entscheidung, die eine hervorragende und privat initi- Höhn zulassen? ierte Entwicklung in Gang gesetzt hat, zu revidieren und die Steuerbefreiung durch die Biokraftstoffquote zu er- Ulrich Kelber (SPD): setzen. Das widerspricht der positiven Bewertung, die Selbstverständlich, gerne. Sie vorher abgegeben haben.

Ulrich Kelber (SPD): Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich danke Ihnen, dass Sie mir die Möglichkeit geben, Bitte schön. etwas zum Thema Biosprit zu sagen. Da Sie in Ihrer Frage nur den Biosprit angesprochen haben, gehe ich da- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): von aus, dass Sie die anderen Punkte wie wirtschaftli- Herr Kelber, ich habe darauf gewartet, dass Sie dieses cher Aufschwung, positive Entwicklung bei den erneu- Thema ansprechen. Wir haben darüber bereits diskutiert. erbaren Energien und steigende Bereitschaft zu höheren Deshalb habe ich mir vom Bundesministerium die Zah- Preisen anerkennen. len dazu besorgt, wie sich die Mittel für die Gemein- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Nein!) schaftsaufgabe entwickelt haben. Diese Zahlen wurden unserem Ausschuss zur Verfügung gestellt. Ich gehe da- Zum Biosprit selbst. Die Entwicklung mit mehreren von aus, dass Sie sie kennen. Millionen Tonnen Biosprit ist in der Tat sehr gut. (B) Erster Punkt. Können Sie bestätigen, dass die konser- (D) (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Die wür- vativen Landwirtschaftsminister in dem Zeitraum ab gen Sie ab!) 1992 bis heute die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe Jetzt schauen wir uns genau an: Was war bisher die Ge- pro Jahr doppelt so stark wie Rot-Grün gekürzt haben? setzeslage und was kommt jetzt? Ich persönlich könnte Zweiter Punkt. In der Tat hat Herr Funke die Mittel mir sogar noch mehr als das vorstellen, was jetzt noch für die Gemeinschaftsaufgabe weniger als Renate kommt, aber bleiben wir bei diesem Vergleich. Bisher Künast gekürzt. Aber können Sie ebenso bestätigen, dass war in dem Gesetz vorgesehen, bis zum Jahr 2009 Bio- dann, wenn man die vielen Programme von Renate kraftstoffe steuerlich zu fördern. Die Überkompensa- Künast aus dem Bereich der zweiten Säule einrechnet, tionsprüfung war in diesem Gesetz bereits enthalten. zum Beispiel „Regionen Aktiv“, Programme zur artge- Jetzt gilt folgende Regelung: Bei Ethanol bleibt diese rechten Tierhaltung und zur Förderung des Ökoland- steuerliche Förderung bis 2015 anstatt bis 2009, bei Bio- baus, die es neben der Gemeinschaftsaufgabe gegeben gas bis 2018 anstatt bis 2009 und bei Biodiesel bis 2011 hat, die Mittel im Bereich der zweiten Säule sogar noch bestehen. Zwar wird ab dem nächsten Jahr die Förde- erhöht anstatt gekürzt worden sind? rung abgebaut, aber gleichzeitig wird sie durch eine (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜND- Quote unterstützt, die beim Absatz eine Mindestmenge NIS 90/DIE GRÜNEN]) sicherstellt. Aus meiner Sicht sollten wir diese Quote so- gar noch höher setzen und die reinen Kraftstoffe einbe- ziehen. Ulrich Kelber (SPD): In dem Zeitraum von 1992 – man kann auch früher Das ist eine Ausweitung der bisherigen Beschlüsse. oder später ansetzen – bis 2006 gibt es eine klare Rei- Das ist eine Verstetigung und bedeutet eine Erhöhung henfolge: Am meisten haben die Minister der CDU/CSU der Absatzchancen. Zudem ist diese Regelung industrie- gekürzt, dahinter kommt die Ministerin der Grünen und freundlich. Wer zum Beispiel Ethanol herstellt, weiß erst an dritter Stelle folgt der rote Agrarminister. Das jetzt, was er nicht nur in den nächsten ein oder zwei Jah- können wir gerne gemeinsam festhalten. Genau diesen ren, sondern in den nächsten sieben Jahren, wenn seine Punkt habe ich angesprochen. Es gehört zur Bewertung Anlage fertig ist, für Möglichkeiten hat. Ich halte das für dazu, dass man nicht dann, wenn man zwischen Opposi- eine Verbesserung. tion und Regierung oder Regierung und Opposition Ich frage mich bei der Kritik der FDP immer Folgen- wechselt, auf einmal alles vergisst, was man vorher ge- des: Bei der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien sagt hat. Das nehmen die Menschen nicht mehr ernst. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5503

Ulrich Kelber (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie (C) der CDU/CSU und des Abg. Carl-Ludwig beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Thiele [FDP]) Die Wirtschaft ist der entscheidende Punkt. Wenn Man muss zu seiner Regierungsverantwortung, aber Deutschland keine gentechnikfreien Produkte garan- auch zu seiner Oppositionsverantwortung stehen. Ich tieren kann, dann entstehen daraus für unsere Landwirt- habe versucht, das zum Ausdruck zu bringen. schaft massive Probleme. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Problem ist in der Debatte bereits genannt wor- Aber nur versucht!) den. Dabei handelt es sich um die Exporte. In der Tat können wir feststellen, dass bei bestimmten Produkten Ich weiß, dass ich beim ersten und auch beim zweiten wie Mais und Raps andere Regionen der Welt keine Mal noch nicht alle in diesem Parlament davon überzeu- GVO-freien Produkte mehr garantieren können und des- gen kann. Aber ich werde dieses Thema beim nächsten wegen für deutsche Unternehmen neue Exportchancen Mal wieder ansprechen und ich hoffe, dass ich dann entstanden sind. Man kann sich nicht darauf verlassen, in mehr Erfolg haben werde. Amerika, Kanada und anderen Regionen der Welt gen- Dass ein Politikwechsel ausgeblieben ist – ich greife technikfreie Rohware zu bekommen. In Deutschland ist gerne Ihre Äußerung auf, Frau Kollegin Happach- das aber möglich. Das war die Grundlage für den Ab- Kasan –, schluss entsprechender Exportverträge. (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Sehr Wir alle erinnern uns an die Aussage von Hipp und gut!) anderen Unternehmen, die ihren Namen in der Öffent- lichkeit nicht mehr mit dem Begriff Gentechnik verbun- wird auch innerhalb der Koalition debattiert. Die ständi- den sehen wollten und deutlich gemacht haben, dass sie gen Wiederholungen, dass wieder mehr Vertrauen in die ihre Rohware aus dem Ausland beziehen müssten, wenn Politik notwendig ist und wir in Europa mit einer in Deutschland nicht mehr garantiert werden könnte, Stimme sprechen müssen, ermüden langsam. Wir spre- dass sie gentechnikfrei ist. Damit würde in Deutschland chen hier über Politik; es geht nicht um Werbereden auf Wertschöpfung wegfallen. Das sind ökonomische dem eigenen Parteitag, liebe Kollegen in der Koalition. Gründe, die auch Gentechnikenthusiasten zu einer ratio- Dass zum Beispiel der Boom bei den erneuerbaren nalen Betrachtung der Chancen und Risiken bringen Energien nicht nur Einnahmemöglichkeiten bietet, son- sollte. dern auch zur Stabilisierung der Rohstoffpreise und da- Deswegen haben Sie, Herr Minister Seehofer, die (B) mit der Erträge der landwirtschaftlichen Betriebe geführt volle Unterstützung der SPD bei Ihrer derzeitigen Linie, (D) hat, ist einem Gesetz zu verdanken, dass wir gegen den die Chancen und Risiken abzuwägen. Wir sollten uns in teilweise erbitterten Widerstand der damaligen Opposi- der Tat die Zeit nehmen, die wir brauchen, und dann eine tion durchsetzen mussten. Die gute wirtschaftliche Situa- Entscheidung treffen, die den Wünschen der Verbrau- tion und das große Vertrauen in die Wirtschaft sind nicht cherinnen und Verbraucher und den ökonomischen erst in den letzten elf Monaten entstanden; sie gehen Chancen der deutschen Landwirtschaft am besten ge- vielmehr auf dieses Gesetz zurück. recht wird. (Beifall bei der SPD) Es geht um nicht weniger als die echte Wahlfreiheit Wenn wir über die wirtschaftliche Situation der Land- zwischen Gentechnikfreiheit und Gentechnik. Ich glaube, wirtschaft sprechen, dann gehören auch die Grüne Gen- dass eine solche Wahlfreiheit in einer freien Gesellschaft technik und ihr Einsatz in Deutschland zu diesem selbstverständlich ist. Dazu gehört die klare Kennzeich- Thema. Den Skeptikern bzw. Gegnern hinsichtlich eines nung der Produkte, die aus meiner Sicht auch die Kenn- vermehrten Einsatzes von Grüner Gentechnik wird oft zeichnung von Produkten aus tierischer Produktion um- vorgeworfen, nur den Verbraucherschutz und den Um- fasst, die mit Gentechnik in Verbindung gekommen sind. weltschutz im Blick zu haben. Als jemand, der für Um- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Setzen weltpolitik und Verbraucherpolitik in meiner Fraktion Sie das durch!) mitverantwortlich zeichnet, halte ich das eher für ein Lob als für eine Kritik. Aber der entscheidende Punkt ist Ich würde mich freuen, wenn das Parlament diese Po- – davon sind meine Fraktion und ich fest überzeugt –, sition einheitlich vertritt, damit der Minister das in der dass auch handfeste, für die Landwirtschaft überlebens- EU entsprechend darstellen kann. notwendige ökonomische Gründe für eine restriktive Li- nie beim Einsatz von Grüner Gentechnik sprechen. (Beifall der Abg. Cornelia Behm [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Demnach müssten auch Milch und Fleisch gekennzeich- Denn wenn die Nutzung unter gegenwärtigen Bedin- net werden, wenn die Tiere mit Gentechnik in Verbin- gungen deutlich ausgeweitet oder wenn sie bei unzurei- dung gekommen sind. chenden Sicherheitsvorkehrungen auch nur minimal be- trieben würde, dann wären sehr viel mehr Arbeitsplätze (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Dann in der Landwirtschaft bedroht, als durch den Einsatz gibt es kein Fleisch von Schweinen und Geflü- Grüner Gentechnik je geschaffen werden könnten. gel mehr ohne Kennzeichnung!) 5504 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Ulrich Kelber (A) Wir wollen auch keinen schleichenden Einzug der Verbündete würden wir in den Staaten finden, in denen (C) Gentechnik. Das würde die Wahlfreiheit vernichten. schon heute vom EU-Recht abgewichen wird. Es würde Deswegen muss eine Grenze gezogen werden, die noch bei der regionalen Unterscheidbarkeit und der Vermark- unterhalb des Grenzwerts von 0,9 Prozent liegt. Dieser tung helfen, wenn man sagen könnte: Aus unserer Re- gesetzliche Grenzwert muss die Ausnahme sein; das gion garantiert gentechnikfrei! gentechnikfreie Produkt muss die Regel sein. Auf diesen Normalfall muss die Politik ausgerichtet sein. Die Siche- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das ist rung einer gentechnikfreien Landwirtschaft in Deutsch- gegen die Freiheit der Landwirte!) land ist im Interesse der Absatzprodukte und des klaren Damit kein Zweifel aufkommt: Meine Skepsis gilt der Wunsches von 80 Prozent der Verbraucherinnen und Anwendung, nicht der Forschung. Ich befürworte die Verbraucher nach gentechnikfreien Produkten notwen- Forschung zuallererst aus Sicherheitsgründen; denn wir dig. müssen wissen, womit wir umgehen. Wir müssen zudem Zur Wahlfreiheit gehört auch, dass die Landwirte, die erforschen, ob eine zweite oder dritte Generation gen- gentechnikfrei produzieren wollen – das ist die überwie- technisch veränderter Organismen weniger Risiken birgt gende Mehrzahl –, nicht auf den Kosten eines verstärk- und mehr gesellschaftliche Möglichkeiten eröffnet. Ich ten Einsatzes von Gentechnik in Deutschland sitzen blei- bin zwar skeptisch, möchte es aber erforschen. Deswe- ben. gen unterstütze ich eine Ausweitung der Forschung. Dann können wir gemeinsam erreichen, dass die Gen- (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- technik wirtschaftlich nicht negativ, sondern positiv von NEN]: Richtig!) der deutschen Landwirtschaft beurteilt wird sowie von den Verbraucherinnen und Verbrauchern akzeptiert wird. Ich versuche, das am Beispiel der Tests darzulegen. Das wünsche ich mir. Schon heute sind die Tests aufwendig und teuer, die ein Landwirt, wenn er zum Beispiel Mais anbaut, durchfüh- Vielen Dank. ren muss, um nachzuweisen, dass sein Mais gentechnik- (Beifall bei der SPD) frei ist bzw. der GVO-Anteil unter 0,9 Prozent liegt. Die Kosten der Tests können durchaus einen substanziellen Anteil am Ertrag pro Hektar ausmachen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächste hat das Wort die Kollegin Marlene (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das ist Mortler für die CDU/CSU-Fraktion. doch Unsinn! Mais gelangt in Biogasanlagen oder wird verfüttert! Dafür braucht man keine (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Tests!) (D) Wenn es in Zukunft nicht nur eine gentechnisch verän- Marlene Mortler (CDU/CSU): derte Maissorte gibt, sondern zwei Maissorten, wenn Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nicht nur Bt-Mais, sondern beispielsweise auch eine Kollegen! Herr Kelber, hinsichtlich der Grünen Gen- Maissorte mit besonders hohem Eiweißgehalt auf dem technik und der Wahlfreiheit betreffend Erzeuger, Verar- Markt ist und die Zahl der Tests demzufolge zunimmt, beiter und Konsument müssen wir wohl noch ein biss- ist der Kostenfaktor der Überprüfung auf Gentechnik- chen üben. freiheit möglicherweise höher als der Ertrag. Wir brau- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chen also eine klare Regelung, wer an dieser Stelle für neten der FDP) die Kosten der Landwirte aufkommt. Zur Sache: In meiner Heimat gibt es die Regionalbe- Wir haben zuletzt eine Debatte über ein Moratorium wegung „Alles“. Dieses Kürzel steht für „Artenreiches beim Einsatz der Grünen Gentechnik geführt. Diese Land – Liebenswerte Stadt“. Die Botschaft dieser Bewe- wurde von der Fraktion der Grünen und dem CSU-Gene- gung lautet: Wir setzen auf eine Partnerschaft von Stadt ralsekretär Söder angestoßen. und Land; Stadt und Land Hand in Hand. Übertragen auf (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Politik der Union bedeutet das: Wir setzen auf alle Von beiden Parteien!) Produktionsrichtungen und alle Betriebsformen, ob große oder kleine, ob ökologisch oder konventionell Beide wissen natürlich, dass ein solches Moratorium wirtschaftende Betriebe. nicht mit EU-Recht vereinbar ist. Die Grünen haben das – im Gegensatz zu Herrn Söder – in der Begründung ih- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Genau der richtige res Entschließungsantrags zumindest zugegeben. Aber Ansatz!) vielleicht können wir uns auf Folgendes einigen: Das Wir unterscheiden nicht zwischen Gut und Schlecht. deutsche Parlament fordert den Minister auf, eine Initia- Gott sei Dank gehört damit die grüne Symbolpolitik der tive in der EU zu starten mit dem Ziel, dass sich Gebiets- Vergangenheit an. körperschaften zu gentechnikfreien Regionen verbind- lich erklären können. Ich denke, darin könnten wir alle (Beifall bei der CDU/CSU) den Minister unterstützen. Es ist keine Schande, als deutscher Landwirtschafts- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie minister deutsche Interessen in Brüssel und den WTO- beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Verhandlungen zielgerichtet und glaubwürdig zu vertre- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5505

Marlene Mortler (A) ten. Danke, sehr geehrter Herr Bundesminister, für Ihren ist. Wir brauchen dringend eine Verbesserung der Eck- (C) Einsatz. punkteregelung für 2007. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie erleben sicherlich genauso wie ich, dass das Glo- Die Biokraftstoffe der ersten Generation haben viele bale in zunehmendem Maße bestimmt, was wir national Arbeitsplätze in unserem Land geschaffen. Wir dürfen noch machen dürfen. Unser Ziel muss aber eine umwelt- die Biokraftstoffe der ersten Generation nicht abwürgen. freundliche, multifunktionale und flächendeckende Land- Sie brauchen auch weiter eine faire Chance. wirtschaft bleiben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb halten wir uns die Zweiwegestrategie vor Au- Zum Haushalt: Es ist schon toll, wenn die, die noch gen; denn aus meiner Sicht ist die zweite Generation, vor kurzem auf der Regierungsbank saßen und bei der von der viele so wundervoll reden, noch lange nicht le- GAK 200 Millionen Euro gekürzt haben, jetzt von den bensfähig. Oppositionsstühlen aus die gleiche Summe wieder ein- fordern. Der Verbraucher spielt in unserem Tun eine wichtige Rolle. Ich möchte kurz das Thema Ökolebensmittel (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – aufgreifen. Für mich ist es nicht nachvollziehbar, dass Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ökolebensmittel ihre Reise um die halbe Welt antreten. Wie viel haben Sie gekürzt?) (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann stärken Sie mal die heimische Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Wirtschaft, statt ihr das Geld wegzunehmen!) Möchten Sie eine Zwischenfrage von Frau Höhn zu- lassen? Für mich ist das ein wirklich großer Widerspruch. Da- rum setze ich im Gegensatz zur Bundesregierung auch Marlene Mortler (CDU/CSU): weiterhin auf eine verpflichtende Herkunftskennzeich- Die kann man im Anschluss beantworten. nung. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie sich nicht trauen!) Aber erst das Geld wegnehmen!) – Nein, ich habe Herrn Trittin schon in ähnlicher Sache Der Verbraucher muss wählen können, woher sein Bio- (B) geantwortet. produkt kommt. (D) Fischer Boel ist aus meiner Sicht eine weise Frau. Sie Ich komme zum Schluss. Was die landwirtschaft- hat erstens von Gesundheitscheck gesprochen und Sie liche Unfallversicherung betrifft, so kann es nicht sein, hat davon gesprochen, dass die Bauern und Bäuerinnen dass die Beitragszahler von heute weiter die Versiche- Planungssicherheit bis 2013 haben werden und diese rungsfälle von vorgestern bezahlen müssen. Ich setze auf auch brauchen. So habe ich ihre Aussage interpretiert. eine schnelle und gemeinsame Lösung, die die Akzep- Ich finde, es ist eine Ohrfeige für unsere Bauern und tanz und vor allem die Finanzierbarkeit dauerhaft si- Bäuerinnen im Land, wenn Sie, liebe Frau Höhn, sagen, chert. gerade den zukunftsweisenden Bauern seien Mittel ge- kürzt worden. Auch normal wirtschaftende Betriebe sind Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zukunftsbetriebe. Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Mortler. (Beifall bei der CDU/CSU) Marlene Mortler (CDU/CSU): In Bayern werden wir diese Lücke, die wir bei der zwei- Begreifen wir Landwirtschaft als Zukunftsbranche. ten Säule haben, mit viel Fantasie wieder schließen. Die grünen Jobs sind Jobs mit Zukunftsperspektive. Die (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: noch freien Ausbildungsplätze zeigen es. Da bin ich mal gespannt!) Ich danke Ihnen. Wir sind auf gutem Weg. Passen Sie auf! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Die gute Stimmung und die hohe Investitionsbereit- neten der SPD) schaft der Bauern und Bäuerinnen bedeuten für uns in der Regierung bzw. für uns Parlamentarier auch, weiter Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: für Verlässlichkeit und für Planungssicherheit zu sorgen. Ich schließe die Aussprache. Ich denke, der Spruch von Frau Fischer Boel „Raus aus den Büros und rein in die Felder“ ist ein guter Slogan. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Nur, Anspruch und Wirklichkeit sind hier noch weit aus- Drucksachen 16/640, 15/5820 und 16/1442 an die in der einander. Auch auf Bundesebene haben wir noch Ver- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. besserungsbedarf. Ich merke auch kritisch an, dass im Der Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnis- Bereich der Saisonarbeitskräfte die Grenze der Lei- ses 90/Die Grünen auf der Drucksache 16/3010 soll an densfähigkeit vieler Betriebsleiter längst überschritten dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 5506 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) 16/640 überwiesen werden. – Damit sind Sie einverstan- f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) den. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Transparenzrichtlinie-Gesetzes Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 n und 30 p bis 30 t sowie die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf: – Drucksache 16/2952 – Überweisungsvorschlag: 30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Finanzausschuss kommen vom 6. Februar 2006 zwischen der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Bundesrepublik Deutschland und der Repu- g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- blik Kroatien zur Vermeidung der Doppelbe- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom rung des Eichgesetzes Einkommen und vom Vermögen – Drucksache 16/2920 – – Drucksache 16/2955 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Finanzausschuss h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- kung der Berufsaufsicht und zur Reform trag vom 2. März 2005 zwischen der Bundes- berufsrechtlicher Regelungen in der Wirt- republik Deutschland und der Republik schaftsprüferordnung (Berufsaufsichtsreform- Jemen über die Förderung und den gegenseiti- gesetz – BARefG) gen Schutz von Kapitalanlagen – Drucksache 16/2858 – – Drucksache 16/2861 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Technikfolgenabschätzung Auswärtiger Ausschuss i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Statistik der Verdienste und Arbeitskosten trag vom 16. Juni 2005 zwischen der Bundes- (Verdienststatistikgesetz – VerdStatG) republik Deutschland und der Arabischen (B) Republik Ägypten über die Förderung und – Drucksache 16/2918 – (D) den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) – Drucksache 16/2862 – Innenausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Auswärtiger Ausschuss j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Änderung des Versorgungsrücklagegesetzes trag vom 19. und 20. April 2005 zwischen der – Drucksache 16/2855 – Bundesrepublik Deutschland und der Islami- Überweisungsvorschlag: schen Republik Afghanistan über die Förde- Innenausschuss (f) rung und den gegenseitigen Schutz von Kapi- Finanzausschuss talanlagen Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss – Drucksache 16/2863 – Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Überweisungsvorschlag: k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Auswärtiger Ausschuss kommen vom 14. März 2006 zwischen der e) Erste Beratung des von der Bundesregierung Bundesrepublik Deutschland und der Franzö- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem sischen Republik über den Bau einer Eisen- Vertrag vom 10. August 2005 zwischen der bahnbrücke über den Rhein bei Kehl Bundesrepublik Deutschland und der Demo- – Drucksache 16/2860 – kratischen Republik Timor-Leste über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Überweisungsvorschlag: Kapitalanlagen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 16/2864 – gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Überweisungsvorschlag: Änderung von Verbrauchsteuergesetzen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 16/2951 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5507

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Überweisungsvorschlag: heitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demo- (C) Finanzausschuss (f) kratischen Republik – 2005 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und – Drucksache 15/5960 – Verbraucherschutz Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) m)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Innenausschuss Rechtsausschuss CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Siebten Ausschuss für Bildung, Forschung und Gesetzes zur Änderung des Stasi-Unterlagen- Technikfolgenabschätzung Gesetzes r) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- – Drucksache 16/2969 – gierung Überweisungsvorschlag: Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tä- Ausschuss für Kultur und Medien (f) tigkeit in den Jahren 2003/2004 sowie über die Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Lage und Entwicklung auf seinem Aufgaben- Geschäftsordnung gebiet Innenausschuss Sportausschuss und Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Stellungnahme der Bundesregierung Verteidigungsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und – Drucksache 15/5790 – Technikfolgenabschätzung Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss n) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Verbraucherschutz Änderung des Umwandlungsgesetzes Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus – Drucksache 16/2919 – Ausschuss für Kultur und Medien Überweisungsvorschlag: s) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rechtsausschuss (f) Hüseyin-Kenan Aydin, Ursula Lötzer, Barbara Finanzausschuss Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (B) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie LINKEN (D) Ausschuss für Arbeit und Soziales Keine Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Stau- p) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- dammprojekt gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Rahmenabkommen vom 22. Juli 2005 zwi- – Drucksache 16/2995 – schen der Regierung der Bundesrepublik Überweisungsvorschlag: Deutschland und der Regierung der Französi- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) schen Republik über die grenzüberschreitende Auswärtiger Ausschuss Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich und Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verwaltungsvereinbarung vom 9. März Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 2006 zwischen dem Bundesministerium für Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Gesundheit der Bundesrepublik Deutschland Entwicklung und dem Minister für Gesundheit und Solida- t) Beratung des Antrags der Abgeordneten rität der Französischen Republik über die Dr. Lothar Bisky, Dr. Lukrezia Jochimsen, Durchführungsmodalitäten des Rahmenab- Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der kommens vom 22. Juli 2005 über die grenz- Fraktion der LINKEN überschreitende Zusammenarbeit im Gesund- heitsbereich Moratorium für PC-Gebühren – Sofortige Neuverhandlung des Rundfunkgebühren- – Drucksache 16/2859 – staatsvertrages Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/3002 – Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) q) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesbe- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und auftragte für die Unterlagen des Staatssicherheits- Verbraucherschutz dienstes der ehemaligen Deutschen Demokrati- schen Republik ZP 3 a)Erste Beratung des von den Abgeordneten Jan Mücke, Horst Friedrich (Bayreuth), Patrick Siebenter Tätigkeitsbericht der Bundesbeauf- Döring, weiteren Abgeordneten und der Fraktion tragten für die Unterlagen des Staatssicher- der FDP eingebrachten Gesetzes 5508 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung und Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an (C) Beschleunigung von Zulassungsverfahren für die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Verkehrsprojekte überweisen. – Drucksache 16/3008 – Der von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und Überweisungsvorschlag: des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachte Gesetzent- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) wurf zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes auf Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 16/2969 – Tagesordnungspunkt 30 m – soll Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zur Federführung an den Ausschuss für Kultur und Me- Ausschuss für Tourismus dien und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wahl- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias prüfung, Immunität und Geschäftsordnung, den Innen- Berninger, Grietje Bettin und der Fraktion des ausschuss, den Sportausschuss, den Rechtsausschuss, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN den Ausschuss für Arbeit und Soziales, den Verteidi- gungsausschuss, den Ausschuss für Bildung, Forschung PC-Gebühren-Moratorium verlängern und Technikfolgenabschätzung sowie an den Haushalts- ausschuss überwiesen werden. – Drucksache 16/2793 – Überweisungsvorschlag: Der Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck- Ausschuss für Kultur und Medien (f) sache 16/3002 – Tagesordnungspunkt 30 t – mit dem ge- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie änderten Titel „Moratorium für PC-Gebühren – Sofor- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und tige Neuverhandlung des Rundfunkgebührenstaatsver- Verbraucherschutz trages“ soll an die in der Tagesordnung aufgeführten c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- Ausschüsse überwiesen werden. Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 s sowie Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um Beschlussfassun- Keine Rundfunkgebühr für Computer mit In- gen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- ternetanschluss – Die Gebührenfinanzierung hen ist. des öffentlich-rechtlichen Rundfunks grundle- gend reformieren Tagesordnungspunkt 31 a: – Drucksache 16/2970 – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (B) Überweisungsvorschlag: (D) Ausschuss für Kultur und Medien (f) zu dem Übereinkommen vom 23. Mai 1997 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie über die Vorrechte und Immunitäten des In- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ternationalen Seegerichtshofs und zu dem Ab- Verbraucherschutz kommen vom 14. Dezember 2004 zwischen der d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anja Bundesrepublik Deutschland und dem Inter- Hajduk, Alexander Bonde, Anna Lührmann, wei- nationalen Seegerichtshof über den Sitz des terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Gerichtshofs NISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/1288 – Haushaltskonsolidierung konsequent anpa- Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- cken – Haushaltsgesetzgebung reformieren gen Ausschusses (3. Ausschuss) – Drucksache 16/2998 – – Drucksache 16/2797 – Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: Haushaltsausschuss (f) Abgeordnete Eckart von Klaeden Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Harald Leibrecht Dr. e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin Dr. Volker Wissing, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Druck- und der Fraktion der FDP sache 16/2797, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- Mehrwertsteuersatz für apothekenpflichtige len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal- Arzneimittel tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera- – Drucksache 16/3013 – tung einstimmig angenommen. Überweisungsvorschlag: Dritte Beratung Finanzausschuss und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ten Verfahren ohne Debatte. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5509

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) ist damit mit dem einstimmigen Votum des ganzen Hau- Gesetzentwurf mit den Stimmen des ganzen Hauses an- (C) ses angenommen. genommen. Tagesordnungspunkt 31 b: Tagesordnungspunkt 31 d: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 27. März über die Weiterverwendung von Informatio- 1998 über die Vorrechte und Immunitäten der nen öffentlicher Stellen (Informationsweiter- Internationalen Meeresbodenbehörde verwendungsgesetz – IWG) – Drucksache 16/1289 – – Drucksache 16/2453 – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- gen Ausschusses (3. Ausschuss) ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- – Drucksache 16/2798 – schuss) Berichterstattung: – Drucksache 16/3003 – Abgeordnete Eckart von Klaeden Berichterstattung: Markus Meckel Abgeordneter Martin Dörmann Harald Leibrecht Dr. Norman Paech Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp- Jürgen Trittin fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/3003, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- Drucksache 16/2798, den Gesetzentwurf anzunehmen. entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Ent- gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ange- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist ebenfalls mit den nommen mit den Stimmen der Koalition und des Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Bündnisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der FDP und Tagesordnungspunkt 31 c: der Fraktion Die Linke. Gegenstimmen gab es keine. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Dritte Beratung gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (B) und Schlussabstimmung. Diejenigen mögen sich erhe- (D) zur Auflösung der Unabhängigen Kommission ben, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen. – Ge- zur Ermittlung des Vermögens der Parteien genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist und Massenorganisationen der DDR in dritter Beratung mit dem gleichen Ergebnis wie zuvor – Drucksache 16/2256 – angenommen worden. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- Tagesordnungspunkt 31 e: schusses (4. Ausschuss) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des – Drucksache 16/2808 – von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Berichterstattung: 30. September 2005 zwischen der Bundesrepu- Abgeordnete Günter Baumann blik Deutschland und der Republik Belarus Maik Reichel zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf Gisela Piltz dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen – Drucksache 16/2705 – Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/2808, den Gesetzent- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte schusses (7. Ausschuss) diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- – Drucksache 16/2992 – sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen- stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in Berichterstattung: zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses Abgeordnete Manfred Kolbe angenommen. Lothar Binding (Heidelberg) Wir kommen zur Der Finanzausschuss empfiehlt auf der Drucksache dritten Beratung 16/2992, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte die- jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zu erheben. – Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hau- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist auch dieser ses angenommen. 5510 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Tagesordnungspunkt 31 f: von Kriterien und Verfahren für die Annahme (C) von Abfällen auf Abfalldeponien Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs – Drucksachen 16/2580, 16/2680 Nr. 1.1, 16/2839 – eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Berichterstattung: 1. Dezember 2005 zwischen der Bundesrepu- Abgeordnete Michael Brand blik Deutschland und der Kirgisischen Repu- blik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung Angelika Brunkhorst und zur Verhinderung von Steuerhinterzie- Eva Bulling-Schröter hungen auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- Sylvia Kotting-Uhl kommen und vom Vermögen Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- – Drucksache 16/2706 – sicherheit empfiehlt auf der Drucksache 16/2839, der Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Verordnung zuzustimmen. Wer stimmt für diese Be- schusses (7. Ausschuss) schlussempfehlung? – Die Gegenprobe! – Stimmenthal- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- – Drucksache 16/2994 – men der Koalitionsfraktionen und der Linksfraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und bei Stimment- Berichterstattung: haltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen an- Abgeordnete Manfred Kolbe genommen. Lothar Binding (Heidelberg) Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- Der Finanzausschuss empfiehlt auf der Drucksache titionsausschusses. 16/2994, den Gesetzentwurf anzunehmen. Es mögen sich diejenigen erheben, die dem Gesetzentwurf zustim- Tagesordnungspunkt 31 i: men wollen. – Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hau- ausschusses (2. Ausschuss) ses angenommen. Sammelübersicht 92 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 31 g: – Drucksache 16/2763 – Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Wer stimmt der Sammelübersicht zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Sammel- (B) eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Mai (D) 2006 zwischen der Bundesrepublik Deutsch- übersicht ist gegen die Stimmen der Linksfraktion mit land und der Republik Slowenien zur Vermei- den Stimmen des übrigen Hauses angenommen. dung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet Tagesordnungspunkt 31 j: der Steuern vom Einkommen und vom Vermö- gen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/2707 – Sammelübersicht 98 zu Petitionen Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- – Drucksache 16/2764 – schusses (7. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Stimmenthal- – Drucksache 16/2993 – tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des Berichterstattung: gesamten Hauses angenommen. Abgeordnete Manfred Kolbe Tagesordnungspunkt 31 k: Lothar Binding (Heidelberg) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Der Finanzausschuss empfiehlt auf der Drucksache ausschusses (2. Ausschuss) 16/2993, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte wie- derum diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Sammelübersicht 99 zu Petitionen wollen, aufzustehen. – Gegenstimmen? – Stimmenthal- – Drucksache 16/2765 – tungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Stimmenthal- tungen? – Auch diese Sammelübersicht ist einstimmig Tagesordnungspunkt 31 h: angenommen worden. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 31 l: richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Verordnung der Bundesregierung ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 100 zu Petitionen Verordnung zur Umsetzung der Ratsentschei- dung vom 19. Dezember 2002 zur Festlegung – Drucksache 16/2766 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5511

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Stimmenthal- Tagesordnungspunkt 31 r: (C) tungen? – Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen der Linksfraktion bei Zustimmung des übrigen Hauses Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- angenommen worden. ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 31 m: Sammelübersicht 106 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 16/2772 – ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Sammelübersicht 101 zu Petitionen tungen? – Die Sammelübersicht 106 ist mit den Stim- men der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grünen – Drucksache 16/2767 – gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der FDP Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Stimmenthal- angenommen. tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des Tagesordnungspunkt 31 s: gesamten Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 107 zu Petitionen Sammelübersicht 102 zu Petitionen – Drucksache 16/2773 – – Drucksache 16/2768 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Stimmenthal- Koalition gegen die Stimmen der drei Oppositionsfrak- tungen? – Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen tionen angenommen. der Linksfraktion mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen worden. Zusatzpunkt 4: Tagesordnungspunkt 31 o: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- neten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlin- ausschusses (2. Ausschuss) burg), Hans-Josef Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Sammelübersicht 103 zu Petitionen GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten (B) (D) – Drucksache 16/2769 – Gesetzes zur Änderung des Bundesnatur- schutzgesetzes (Urwaldschutzgesetz) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Stimmenthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen – Drucksache 16/961 – der FDP-Fraktion mit den Stimmen des übrigen Hauses Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- angenommen worden. ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Tagesordnungspunkt 31 p: heit (16. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 16/2880 – ausschusses (2. Ausschuss) Berichterstattung: Sammelübersicht 104 zu Petitionen Abgeordnete Josef Göppel – Drucksache 16/2770 – Dirk Becker Angelika Brunkhorst Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Stimmenthal- Eva Bulling-Schröter tungen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Cornelia Behm Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion des Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Bündnisses 90/Die Grünen angenommen worden. sicherheit empfiehlt auf Drucksache 16/2880, den Ge- setzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Tagesordnungspunkt 31 q: Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- ausschusses (2. Ausschuss) setzentwurf ist abgelehnt bei Zustimmung von Bündnis 90/Die Grünen und Linksfraktion und bei Ge- Sammelübersicht 105 zu Petitionen genstimmen des Rests des Hauses. Damit entfällt nach – Drucksache 16/2771 – unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf: gen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Aktuelle Stunde Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP an- auf Verlangen der Fraktionen der LINKEN und genommen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 5512 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Neue Armut in Deutschland – Die aktuelle Dis- sein. Eine solche Ideologie verschleiert nur den Blick (C) kussion um so genannte Unterschichten auf die wirklichen, auf die strukturellen Ursachen von Verelendung und Massenarbeitslosigkeit. Als erste Rednerin rufe ich Katja Kipping für die Fraktion der Linken auf. Gestern im Ausschuss bekam ich von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP zu hören, Geld allein sei nicht alles. (Beifall bei der LINKEN) Ja, das stimmt, Geld allein ist nicht alles, aber ganz ohne Geld ist alles andere auch nichts. Katja Kipping (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die so- (Beifall bei der LINKEN) ziale Ausgrenzung, die wir alle bedauern, ist nicht ein- Spätestens dann, wenn man am Ende des Monats nicht fach so vom Himmel gefallen, sondern wurde von Wirt- einmal mehr Geld hat, um sich eine Fahrkarte zu leisten, schaft und herrschender politischer Klasse in den letzten um zum Erwerbslosentreff zu fahren, schlägt materielle Jahren massiv befördert. Armut in soziale Ausgrenzung um. Deswegen sind wir (Beifall bei der LINKEN) gefordert, mehr Geld in die Hand zu nehmen. Sie waren es doch, die mit der Erleichterung von Mini- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Also jobs die Ausweitung des Niedriglohnsektors massiv vo- doch mehr Geld!) rangetrieben haben! Sie waren es doch, die mit Steuerer- Deswegen brauchen wir endlich eine soziale Grundsi- leichterungen für Reiche und Unternehmen auf der einen cherung in diesem Land, die wirklich für alle Menschen Seite und mit Leistungskürzungen für die Armen auf der Teilhabe gewährleistet. Das, meine Damen und Herren, anderen Seite eine Umverteilung in großem Umfang vo- sind wir der Demokratie schuldig. rangetrieben haben! Nur war das leider eine Umvertei- lung von unten nach oben. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sagen immer, dass Armut vor allem ein Bildungsproblem ist. Da Wirtschaft und Politik die soziale Ausgrenzung sel- ber zu verantworten haben, sind sie jetzt auch in der (Zuruf von der SPD: Das ist es ja auch!) Pflicht, dagegen vorzugehen. Hier möchte ich Sie gern beim Wort nehmen. Deswegen (Beifall bei der LINKEN) schlage ich Ihnen vor: Kümmern wir uns um folgende drei Projekte! Nehmen wir folgende drei Projekte ge- Herr Müntefering äußerte im Rahmen der Debatte um meinsam in Angriff: (B) die so genannte Unterschicht, man müsse zu den Er- (D) werbslosen auch einmal sagen: Ihr müsst euch anstren- Erstens. Die Kommunen müssen immer stärker spa- gen! Ein solcher Satz erweckt den Eindruck, als ob der ren. Sie sparen unter anderem, indem sie Kindern von fehlende Antrieb bei den Erwerbslosen die Ursache für Erwerbslosen den Anspruch auf einen Kitaplatz verwei- die Massenarbeitslosigkeit sei. Als ob fünf Millionen of- gern. Was bedeutet das in der Praxis? In der Praxis heißt fene Stellen in diesem Land darauf warten, dass sich je- das, dass diese Kinder von klein an das Gefühl des Aus- mand bewirbt! Das Gegenteil ist doch leider der Fall. geschlossenseins erleben, dass sie von der Bildungsinsti- tution Kindertagesstätte abgeschnitten werden. Von da- Heute ist das Problem doch: Selbst die Bereitschaft, her sollten wir uns dafür einsetzen, dass es bundesweit alles, aber auch wirklich alles für einen Job zu tun, hilft für alle Kinder, gerade und besonders für die Kinder von nur noch in den seltensten Fällen weiter. Erwerbslosen, einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz (Zuruf von der SPD: Na, na, na!) gibt. Erst kürzlich kam ein Erwerbsloser zu mir in die Sprech- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Swen stunde, der wirklich bereit war, alles zu tun. Er war auch Schulz [Spandau] [SPD]) bereit, fünf Tage auf dem Bau mit Überstunden Probe zu Zweitens. Immer mehr Kinder gehen ohne ein voll- arbeiten – und das Ganze kostenlos. Das Ende vom Lied wertiges Frühstück in die Schule. Infolgedessen lässt war, dass er nach den fünf Tagen des kostenlosen Probe- ihre Lernfähigkeit tatsächlich nach. Mangelhafte Ernäh- arbeitens nach Hause geschickt wurde, damit sein Chef rung wirkt sich nämlich negativ auf die Konzentration den nächsten Erwerbslosen für fünf Tage kostenloses aus. Ein kostenloses Mittagessen in der Schule für alle, Probearbeiten anstellen kann. das wäre ein Ansatzpunkt, um nicht nur der Fehlernäh- (Zuruf von der LINKEN: Skandal!) rung, sondern auch der sozialen Spaltung in der Schule entgegenzuwirken. Die Bereitschaft, alles, aber auch wirklich alles für einen Job zu tun, führt in der Praxis leider dazu, dass die Leute (Beifall bei der LINKEN) immer mehr und immer stärker ausgebeutet werden. Ich Drittens. Die frühe Aufteilung in Haupt-, Realschule glaube, an diesem Punkt müssen wir etwas tun. und Gymnasium benachteiligt vor allem Kinder aus den (Beifall bei der LINKEN) armen Familien. Werben wir in den Ländern also für Ge- samtschulen! Denn Skandinavien zeigt: Längeres ge- Insofern sollten wir mit einer Ideologie nach dem meinsames Lernen kann gleichzeitig den Lernstarken Motto „Jeder ist seines Glückes Schmied“ vorsichtig und den Lernschwachen helfen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5513

Katja Kipping (A) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Swen stehe. Wahr ist, dass das ein Problem ist, das wir ge- (C) Schulz [Spandau] [SPD]) meinsam zu lösen haben. Nur, diejenigen, die 40 Jahre lang mit eiserner Knute Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie nur die Hälfte Ihrer Betroffenheit (Lachen bei der LINKEN) über soziale Ausgrenzung ernst meinen, dann müssen Sie zu einem grundlegenden Kurswechsel in der Bil- die Probleme, die jetzt hier kritisiert werden, herbeige- dungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik bereit sein. Wer führt haben und die zum Teil noch heute in den Ländern aber nicht bereit ist, über einen grundlegenden Kurs- regieren, sind die Brandstifter, die sich jetzt zur Feuer- wechsel auch in der Wirtschaftspolitik zu reden, der wehr aufspielen. Deshalb sind Sie mit Ihren Äußerungen sollte über die angebliche Antriebsschwäche bei der so völlig schief gewickelt. genannten Unterschicht lieber schweigen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Besten Dank. Jörg Vogelsänger [SPD]) (Beifall bei der LINKEN) Sie müssten sich für die Zahlen gerade in den neuen Ländern schämen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Widerspruch bei der LINKEN) Als Nächster hat das Wort der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/CSU-Fraktion. Lassen Sie mich auf die Diskussion über den Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht am 2. Juni 2005 hier in Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): diesem Hause zurückkommen. Der Kollege Kurth hat in Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dieser Debatte zu Recht festgestellt, dass es zwischen Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat – nach ihrer eigenen 1998 und 2003 zu einer Zunahme der Armutsquote ge- Veröffentlichung – versucht, herauszufinden, welche kommen ist. Das ist leider wahr, Herr Kollege Kurth. Wertepräferenzen in der Bevölkerung vorliegen und Wer in dieser Zeit regiert hat, ist uns genauso bekannt welche Zuordnungen zu politischen Typen diese Präfe- wie Ihnen. In dem Zusammenhang von „neuer Armut“ renzen erlauben, und hat dabei einen Typus ausgemacht, zu sprechen, ist pure Heuchelei. Wir haben es mit Pro- der von sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen blemen zu tun, die wir lösen müssen, deren Ursachen geprägt ist. Das ist das, worum es eigentlich ging. aber weit zurückliegen und lange bekannt sind. Das hat mit neuer Armut überhaupt nichts zu tun. Deswegen ist Bei den Problemen, die dabei beschrieben werden, es völlig unangebracht, dass Sie damit ein politisches haben wir es nicht nur und nicht in erster Linie mit zu Süppchen kochen wollen. (B) wenig finanziellen Leistungen des Staates zu tun, son- (D) dern mit kultureller Armut, mit einem Mangel an Bil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dung, an Perspektiven, an sozialer Anbindung, an eige- neten der SPD und des Abg. Dirk Niebel nem Antrieb und an Leistungsbereitschaft. Deswegen [FDP]) wird in dieser Studie auch von einem Prekariat und nicht Insbesondere ist es völlig unangebracht, hier jetzt ei- etwa von „Unterschicht“ gesprochen. nen Zusammenhang mit angeblichem sozialen Kahl- Ich glaube, dass der Bundesarbeitsminister Recht hat, schlag durch Hartz IV herzustellen. Die Hartz-IV- wenn er feststellt: Es gibt Menschen, die es schwerer ha- Reform ist ausdrücklich durchgeführt worden, um den ben, die schwächer sind. Das ist nicht neu. Das hat es früheren Sozialhilfeempfängern dieselben Arbeitsmarkt- schon immer gegeben. – Wahr ist jedoch, dass die Unter- instrumente und dieselbe professionelle Betreuung zu- schiede in den letzten Jahren in vielen Bereichen größer kommen zu lassen wie bis dahin nur den Empfängern geworden sind. Das muss uns zu denken geben. Deswe- von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. gen ist es richtig, dass wir in dieser großen Koalition da- ran arbeiten, die Probleme zu lösen. Wir sind dankbar (Iris Gleicke [SPD]: So ist es!) für alle Daten und Fakten, die wir in diesem Zusammen- Das war damals unsere gemeinsame Absicht. Da waren hang bekommen, um die Probleme auch angehen zu Sie als Grüne im Übrigen dabei; es ist schade, dass Sie können. das so schnell vergessen haben und sich von dem verab- Was wir allerdings heute hier mit dieser Aktuellen schiedet haben, was wir uns damals gemeinsam als För- Stunde erleben, in deren Titel von „neuer Armut“ und dern und Fordern vorgenommen haben. „so genannten Unterschichten“ die Rede ist, trägt nun (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- überhaupt nicht dazu bei, uns neue Fakten zu liefern. Im NEN) Gegenteil, es ist der Versuch, zu vernebeln, zu täuschen und Ursachen und Wirkungen durcheinander zu bringen. Angesichts der Entwicklung, dass wir nach der Zu- Das werden wir nicht mitmachen, liebe Kolleginnen und sammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Kollegen. Jahr 2005 5 Milliarden Euro mehr für die Menschen aus- geben und dass bei deutlich sinkender Arbeitslosigkeit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Ausgaben weiter steigen, und zwar nicht für irgend- neten der SPD) welche Verwaltungskosten, sondern direkt für die Men- Von den Linken wird hier groß herausgestellt, dass schen, ist es absolut polemisch, hier von sozialem Kahl- das Problem besonders in den neuen Bundesländern be- schlag zu reden. Das ist entschieden zurückzuweisen. 5514 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Wir sind mit dem, was wir in der Arbeitsmarkt- und So- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) zialpolitik machen, auf dem richtigen Weg. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich Sie so höre, Herr Brauksiepe, dann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- scheint Ihre Welt ja in Ordnung zu sein und es gibt keine neten der SPD – Zuruf von der LINKEN: Vor- Probleme. wärts, wir marschieren zurück!) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Nein, Sie Das ist genau das, was man machen muss, wenn man haben sie in Unordnung gebracht!) den Menschen helfen will. Wir dürfen nicht die Men- schen, um die es geht, abschieben. Es ist ein Teil unseres Aber es ist anders, wie man feststellt, wenn man genau christlichen Menschenbildes, unseres christlichen Ver- hinschaut. Wir wissen – das ist kein Phänomen, das der ständnisses vom Menschen, die Menschen, die Hilfe Herr Beck entdecken musste – seit den Armutsberichten brauchen, nicht abzuschieben, sondern anzunehmen. 2001 und 2005, dass die Armut in Deutschland zunimmt, Dieser Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen, geht nur (Zuruf von der CDU/CSU: In Ihrer Regie- über bessere Bildung und mehr Arbeitsplätze. rungszeit!) (Beifall bei der CDU/CSU) dass die Dauerarbeitslosigkeit in Deutschland zunimmt, Das ist das, was wir uns hier vorzunehmen haben. Die dass insbesondere der Prozess, dass Kinder ein spezifi- vielen Fehler, die in der Bildungspolitik gerade von den sches Armutsrisiko sind, nicht gestoppt ist. grünen Bildungsideologen gemacht worden sind, haben In Berlin, wo die PDS regiert, leben 37 Prozent der doch dazu beigetragen, dass wir in vielen Bundesländern Kinder laut Aussage des Deutschen Kinderschutzbundes die nun bestehenden Probleme haben. Schauen Sie sich in Armut. Ich sehe bei Ihnen auch nicht im Ansatz eine doch in der PISA-Studie die Ergebnisse der von Ihnen Sozial- und Wirtschaftspolitik, die diese Defizite aus- verantworteten Bildungspolitik an! gleichen könnte. (Dirk Niebel [FDP]: Die Grünen verantworten (Vorsitz: Vizepräsidentin ) keine Bildungspolitik, in keinem einzigen Bundesland!) Man muss verstehen – dieser Punkt ist genauso wich- tig –, dass die Armut heute mit unterschiedlichen Vertei- Bei der Bildungspolitik, bei der frühkindlichen Bil- lungsfragen verschränkt ist. Es geht also um Einkommen dung muss angesetzt werden. Außerdem geht es um und Zugangsmöglichkeiten. Armut besteht aus Bil- mehr Arbeit. Wir sind froh, dass wir in dieser Bundesre- dungsarmut und aus mangelnden Zugangsmöglichkeiten gierung heute feststellen können, dass es fast eine halbe und Chancen. In diesem Zusammenhang hilft die Klassi- (B) Million Arbeitslose weniger als vor einem Jahr gibt fizierung „Unterschicht“ nicht weiter; denn mit diesem (D) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diskriminierenden Begriff werden die Armen noch wei- NEN]: Was hat denn die Vorgängerregierung ter ausgegrenzt. Ich glaube, wir haben in der deutschen gemacht, Herr Brauksiepe?) Sprache mit dem Begriff der Armut eine deutliche Be- zeichnung. Auch der Begriff „Prekariat“ hilft nicht wirk- und dass ein Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger lich weiter. Denn die verwendeten Begriffe sollten von Beschäftigung zu verzeichnen ist. Mit unseren Arbeits- denen verstanden werden, um die es geht. marktreformen arbeiten wir daran, auf diesem Weg wei- terzugehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Ende kommen. Hartz IV ist nach meiner Überzeugung nicht die Ursa- che dieser neuen Armut. Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Aha!) Damit sind wir auf dem richtigen Weg und damit wer- Hartz IV ist vielmehr ein Versuch, auf diese neue Armut den wir den Menschen, um die es hier geht, helfen. Nicht zum Teil eine Antwort zu geben. mit Vernebelungsdebatten und irgendwelchen Unter- schichtsbegriffen, sondern mit konkreten Maßnahmen, (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Langsam wie wir sie schon durchgesetzt haben und weiterhin, zur wird es besser!) Not auch gegen den Widerstand der Opposition, durch- Dieser Versuch – das sage ich an die Adresse der PDS, setzen werden, werden wir helfen, die Probleme, die mit auch wenn es Ihnen nicht gefällt – ist zum Teil gelungen. dieser Studie aufgezeigt worden sind, zu beseitigen. Zum Beispiel hat gestern der Generalsekretär von Cari- Vielen Dank. tas, Georg Cremer, deutlich gesagt – das können Sie nachlesen –, dass mit Hartz IV die verdeckte Armut (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- deutlich reduziert werden konnte. neten der SPD) (Widerspruch bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es war ein wichtiger Punkt, dass das Einkommen von Das Wort hat der Kollege Fritz Kuhn, Bündnis 90/Die Sozialhilfeempfängern und von Menschen, die trotz Ar- Grünen. beit weniger Geld als das Sozialhilfeniveau hatten, durch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5515

Fritz Kuhn (A) die Hartz-IV-Gesetzgebung verbessert worden ist. Das los sind, und zwar mehr, als es diese Regierung derzeit (C) Gleiche gilt auch für ihre Möglichkeiten für den Zugang tut. zum Arbeitsmarkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Dirk Niebel [FDP]: Aber nicht mit Staats- bei der CDU/CSU und der SPD) knete, sondern mit richtiger Politik!) Ich halte überhaupt nichts davon, wenn man diesen Teil Ein letzter Punkt. Wenn wir diese Debatte über Armut der Wahrheit ausblendet, nur um – wie die Kolleginnen ernst nehmen wollen – wir müssen sie nun endlich füh- und Kollegen von der PDS – eine einfache Antwort zu ren –, dann müssen wir damit aufhören, die Menschen, finden. die in Armut und in Dauerarbeitslosigkeit leben oder die Probleme mit ihren Kindern haben, noch zusätzlich (Zurufe von der LINKEN) durch diese leidige Missbrauchsdebatte zu diskriminie- – Ganz ruhig! Durch Ihr Geschrei werden Ihre Argu- ren, die vor allem von der Union – aber auch die SPD mente nicht wahrer. Das ist einfach so. nimmt sie auf – immer wieder geführt wird. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Ich sage Ihnen klipp und klar: Solche Sprüche wie die Ein zweiter Punkt. Es gibt bei der Hartz-Gesetzge- von Herrn Müller von der CSU, der nachher noch reden bung ein Grundversprechen, zu dem sich alle vor Jahren, wird, die dem Muster folgen, man solle einen Zwangs- als dieses Thema im Vermittlungsausschuss behandelt dienst für Arbeitslose einrichten, und auch solche Sprü- wurde, bekannt haben. Damals hieß es, dass die Kürzun- che von Herrn Tiefensee über den Einsatz von Arbeitslo- gen bei Arbeitslosenhilfeempfängern, die gut verdient hat- sen in der S-Bahn und U-Bahn haben keine andere ten – in diesem Bereich gab es in der Tat Kürzungen –, Wirkung als die, dass man auf die Schwierigkeiten, die nur dann zu verantworten sind, wenn es bessere Mög- Dauerarbeitslose sowieso schon haben, noch eines lichkeiten für den Zugang zum Arbeitsmarkt gibt, wenn draufsetzt. Man sagt damit nämlich nichts anderes als: also das Fördern ein elementarer Bestandteil der gesam- Da ihr Missbrauch treibt, seid ihr eigentlich selber ten Hartz-Gesetzgebung ist. Das war die Basis, auf der schuld an dem Schicksal, das ihr jetzt beklagt. wir im Vermittlungsausschuss die Verhandlungen abge- schlossen haben. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) An die Adresse der Regierung, also an den anwesen- Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D) den Staatssekretär, und an die Kollegen Fraktionsvorsit- Die Vorschläge, die die Union jetzt gemacht hat, be- zenden von SPD und CDU/CSU, die lieber heute Abend deuten nichts anderes als: Die Leute wollen überhaupt im Fernsehen diskutieren als jetzt im Parlament, nicht arbeiten. Man muss ihnen jetzt durch Kürzungen (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auf die Sprünge helfen. – Wir halten das für grotten- NEN]: Typisch!) falsch. Das ist eine zusätzliche Diskriminierung. sage ich: Sie stehen auf der Bremse, wenn es um das Ich sage zum Abschluss: Wer den Armen durch Miss- Fördern geht. Sie haben das Fördern zur Sparkasse der brauchsdebatten auch noch ihre Würde nimmt, der Bundesagentur für Arbeit gemacht. Durch die Haus- macht aus Armut Elend. Dann wird es noch viel schlim- haltssperre sind die Eingliederungstitel um 900 Millio- mer. nen Euro gekürzt worden. Vor Ort fehlt dieses Geld für Vielen Dank. Qualifikationsmaßnahmen, für Eingliederungsmaßnah- men und für Maßnahmen, die für das Fördern wichtig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind. Sie sind beim Fordern stark gewesen, aber beim Fördern sind Sie abgestürzt. Auch das ist ein Grund da- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: für, dass sich die Lage jetzt verschlechtert. Für die Bundesregierung hat nun der Parlamentari- sche Staatssekretär Gerd Andres das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister für Arbeit und Soziales: Liebe Genossinnen und Genossen von der SPD, zwi- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und schen September 2005 und September 2006 ist zwar die Herren! Ich finde diese Diskussion sehr gut. Arbeitslosigkeit zurückgegangen, aber der Anteil der Menschen, die von Dauerarbeitslosigkeit betroffen sind, (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann ist von 37,4 Prozent auf 42,2 Prozent gestiegen. [SPD]) (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sprechen Ich kann die Feststellung, dass wir über gesellschaftliche Sie einmal von absoluten Zahlen!) Probleme diskutieren, die nicht neu sind, ausdrücklich unterstreichen. Es ist gut, darüber zu diskutieren und zu Das ist ein Grund, beim Fördern endlich von der Bremse versuchen, richtige Wege zu finden, um für die Men- zu gehen und den Menschen zu helfen, die dauerarbeits- schen Abhilfe zu schaffen. 5516 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat bei rund 3 000 Per- der jetzigen Legislaturperiode wahrgenommen. Es geht (C) sonen eine Untersuchung vorgenommen. Solche Unter- nämlich darum, etwas zu tun, um Menschen Teilhabe zu suchungen sind nicht neu. Mit ihnen wird versucht, poli- ermöglichen. Das heißt, wir müssen ihnen den Weg in tische Werte und Einstellungen herauszubekommen und den Arbeitsmarkt öffnen. Mir muss keiner erzählen sie zu klassifizieren. Ähnliche Untersuchungen gab es – auch nicht –, dass wir gegenwärtig Anfang der 90er-Jahre, zum Beispiel die Sinus-Studie. zu wenig Arbeitsplätze haben. Das weiß selbst die Bun- Jeder erinnert sich auch an die wunderbare Debatte über desregierung; Sie werden es nicht fassen. Man kann den Hedonismus in Deutschland und bestimmte Betei- Menschen aber nur in den Arbeitsmarkt bekommen, ligte, die besonders gern dem Hedonismus frönten. wenn auch Arbeitsplätze vorhanden sind. Dass es Unterschichten gibt, ist eine ganz alte Tatsa- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) che. In früheren Untersuchungen hießen sie anders, zum Beispiel Arbeitermilieu. Bei Karl Marx und anderen An dem Prinzip „Fördern und Fordern“ ändert das je- kann man etwas über das Lumpenproletariat lesen. Das doch überhaupt nichts. Das ist in einer solchen Situation eigentliche Problem besteht meines Erachtens darin, wie der jetzigen völlig richtig. dass man sich damit auseinander setzen muss, dass es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dirk diese Gruppe in unserer Gesellschaft gibt. Niebel [FDP]: Dann muss man eine bessere (Zuruf von der SPD: Ja!) Politik machen, damit Arbeitsplätze eine Chance haben!) Dass diese Gruppe wächst, ist überhaupt nicht zu be- streiten. Sie definiert sich nicht nur durch nicht so hohe Wenn man dieses Prinzip umsetzen will, muss man Einkommen, sondern auch durch eine Reihe anderer berücksichtigen, dass damit viele Faktoren zusammen- Positionen, mit denen man sich auseinander setzen muss hängen, die ich jetzt nicht im Einzelnen darlegen kann. und die bei einer politischen Konzeption eine Rolle spie- Aber im Gegensatz zu den Jahren 2001, 2002 und 2003 len müssen. Deswegen sind Kurzschlussargumentatio- werden wir in diesem Jahr voraussichtlich eine Wachs- nen – das sei wegen Hartz IV so, das läge an der Politik tumsrate von 2,3 Prozent haben. Für das nächste Jahr der Regierung Schröder oder an den beiden Armutsbe- wird eine Wachstumsrate von 1,4 Prozent prognostiziert. richten und der darin nachzulesenden Entwicklung der Dass damit ein Beschäftigungszuwachs einhergeht, Quote, an der man ja sehe, wer die Verantwortung dafür merkt wohl jeder. Selbst die PDS muss merken, dass es trage – ganz billige Debatten. mehr Beschäftigung gibt. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Die merken gar nichts!) (B) FDP) (D) Damit versucht jeder, sein eigenes Süppchen zu kochen. Dass die Zahl der offenen Stellen zunimmt, müssen auch Die Linke und die PDS merken. Was ist eigentlich die Aufgabe, vor der wir stehen? Es besteht die Chance, hier etwas zu bewegen. Im (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Februar 2006 waren mehr als 5 Millionen Menschen ar- NEN]: Wo ist denn Schreiner?) beitslos. Jetzt sind es 4,2 Millionen Menschen. Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist mit den Stichworten Man muss sich ferner über den Bereich der Langzeit- Teilhabe und Chancengerechtigkeit gekennzeichnet. arbeitslosigkeit Gedanken machen. (Zuruf von der Linken: Und was tun Sie?) (Iris Gleicke [SPD]: So ist es!) Es geht um die Frage: Wie realisiere ich Teilhabe und Es geht hier nicht um diejenigen, die ein Jahr arbeitslos wie organisiere ich Chancengerechtigkeit? sind. Es gibt Gruppen, die teilweise sehr viel länger ar- beitslos sind. (Dirk Niebel [FDP]: Mit einer besseren Politik!) (Iris Gleicke [SPD]: Gerade in Ostdeutschland!) Die Problemlage ist komplizierter und vielfältiger. Das ist eine Folge der lang anhaltenden Arbeitslosigkeit, und Diesen Menschen muss man spezielle Hilfen anbieten zwar nicht erst seit der Zeit der letzten Regierung. Wer und ihnen einen Weg aufzeigen, in den ersten Arbeits- ehrlich darüber diskutiert, weiß, dass uns das Problem markt zu kommen. Sie sollen nicht auf Dauer irgendwo schon seit den 70er-Jahren bewegt. Jeder kann sich je verwahrt werden, sondern Beschäftigung finden. Dieser nach Regierungsbeteiligung selbst ein Stückchen Schuld Ansatz hebt sich deutlich von Ihrer Forderung nach ei- zuschreiben. Denjenigen, die mit einfachen Rezepten da- nem flächendeckenden öffentlichen Beschäftigungs- herkommen und zum Beispiel sagen, man müsse das markt ab; das will ich Ihnen ganz klar sagen. ALG II doch nur um 20 Prozent erhöhen, sei gesagt: Das ist zwar schöner Populismus, aber das hilft nicht. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Sie folgen der Melodie: Wir machen ganz viele Pro- gramme. – Das haben wir schon probiert. Jetzt diskutie- Ich finde, wir als Regierung haben unsere Verantwor- ren wir darüber, wie wir mit speziellen Programmen tung sowohl in den letzten Legislaturperioden als auch in weiterhelfen können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5517

Parl. Staatssekretär Gerd Andres (A) Wir müssen Programme für Kinder und Jugendliche wir gestern im Ausschuss diskutiert. Man kann doch (C) auflegen. Dabei geht es in erster Linie um Bildungschan- nicht einfach sagen: Ihr müsst nur die Sozialtransfers er- cen. höhen, dann ist alles bestens. Legt beim ALG II etwas drauf und woanders auch noch. – Wir haben doch das (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kindergeld erhöht. Es geht um den Kindergartenbesuch. Es geht darum, die (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Kinder und Jugendlichen aus diesen Bevölkerungsgrup- Berlin hat die PDS die Kitagebühren erhöht!) pen so früh wie möglich anzusprechen, um eine Ein- mauerung in ein bestimmtes Milieu oder eine bestimmte Eine plumpe Diskussion darüber, dass die ALG-II- Situation zu verhindern. Sätze und die Sozialhilfesätze nicht ausreichen, hilft nicht weiter. Wir sind der Auffassung, dass die Sätze (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der ausreichend hoch sind und dass es nicht darum gehen FDP) kann, einfach zu fordern, dass sie erhöht werden. Für ge- Die Regierung stellt bis 2007 4 Milliarden Euro für nauso verfehlt halte ich allerdings die Vorstellung, man den Ausbau von Ganztagsschulen zur Verfügung. Wir könne dem Problem durch simple Kürzungen beikom- haben ein ganz neues Konzept für den Umgang mit Be- men. treuung. Durch Geschlechtergerechtigkeit muss Chan- cengleichheit geschaffen werden. Dass wir viel dafür tun (Beifall bei der SPD) müssen, dass Frauen Kinder haben können, ohne die Ich denke, hier muss es darum gehen, eine ganz kluge Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verlieren, gehört ge- Politik zu machen und den Versuch zu unternehmen, nauso dazu. sich den Problemen zu stellen. Für mich gehört auch dazu – wir brauchen nicht die Ich glaube nicht, dass man einfach antreten und sagen PDS, um das zu erkennen –, kann, man könne diese Probleme abschaffen. Ich bin (Zurufe von der LINKEN: Doch!) auch weit davon entfernt, zu sagen, jeder sei seines Glückes Schmied. Das wäre verrückt. Jedem bieten sich dass wir dafür sorgen müssen, dass Menschen vernünftig die gesellschaftlichen Möglichkeiten. Ein bisschen muss entlohnt werden. man sich aber selbst anstrengen und bewegen. Das zu (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie fördern und zu entwickeln, ist Kernphilosophie dessen, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE was wir als aktivierenden Sozialstaat bezeichnen. Jeder GRÜNEN) soll Hilfe erhalten, um seine Situation durch Erwerbsar- beit, durch Teilhabe an Bildung und durch entspre- (B) Ich weiß, dass das ein ganz schwieriges Thema ist. Es ist chende Maßnahmen selbst zu verbessern. Wer sich so an (D) nicht so einfach, wie es den Anschein macht, wenn Sie der Diskussion beteiligt, der hilft, für Deutschland einen es hier platt vortragen. Die Koalition setzt sich gegen- vernünftigen Weg zu finden. wärtig mit den Fragen auseinander, wie besonders schwer zu vermittelnde Gruppen gefördert werden kön- Schönen Dank. nen und wie Beschäftigungsmöglichkeiten für sie ge- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der schaffen werden können. Sie befasst sich ferner – das ist FDP) ein ganz wichtiges Thema, das mit dazugehört – mit der Beschäftigungssituation Älterer; hier will man fördernd Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: einwirken. Wir müssen auch in den Bereichen der Ju- gendarbeitslosigkeit und der Bildung und Berufsausbil- Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel für die FDP-Fraktion. dung junger Menschen etwas tun. All das gehört für mich dazu. (Beifall bei der FDP) (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Sie haben doch die Mehrheit, um das zu ändern!) Dirk Niebel (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Der Titel der Aktuellen Stunde, die Sie beantragt ha- Herren! Die hier benutzte Terminologie belegt, dass ein ben, lautete ursprünglich: Die Entdeckung der Unter- großer Teil der Debatte tatsächlich purer Populismus ist. schichten durch die politische Klasse. Donnerwetter! Liberale unterscheiden die Menschen nicht in Schichten Wie einfach die Welt doch sein kann, wie schön man sie oder Klassen. sich malen kann! (Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND- (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Das haben NIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, in Reich und wir ja gerade erlebt!) Arm!) Dazu fällt mir eigentlich überhaupt nichts mehr ein. Es Wir haben die Vorstellung von einer liberalen Bürgerge- geht um plumpen Populismus. sellschaft, in der jeder Bürger die gleichen Rechte hat (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der und die gleichen Startchancen bekommen muss. FDP) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie sagen einfach: Hartz ist schuld. Erhöht den Benefit, NEN]: Dann hätten Sie Herrn Schily gestern dann ist alles erledigt! – Frau Kipping, darüber haben hören sollen!) 5518 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dirk Niebel (A) In dieser Bürgergesellschaft gibt es Stärkere und Schwä- chen eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik, ein (C) chere. Das muss man auszugleichen versuchen, ohne in Steuersystem, das den Menschen und den Betrieben Gleichmacherei zu verfallen. mehr Geld vom Selbstverdienten übrig lässt, und ein Arbeitsrecht, das Beschäftigung ermöglicht und nicht (Beifall bei der FDP) verhindert. Genau das Gegenteil hat die rot-grüne Bun- Ich habe die Zwischenrufe vonseiten der PDS gehört. desregierung gemacht und die schwarz-rote Bundesre- Ich bin mit Sicherheit niemand, der Sippenhaft unter- gierung tut nichts, um diese Missstände zu beheben. stützt, und würde das Zitat auch nicht wiederholen, wenn Wenn bei dieser vermeintlich großen Koalition Stillstand es nicht von einem Mitglied eines Landesvorstandes Ih- herrscht, ist das vermutlich das Beste, was für die Bürger rer Partei – Ihrer Frau, Herr Lafontaine – stammen erreicht werden kann. würde. Frau Müller sprach von der „Reproduktion des (Beifall bei der FDP) asozialen Milieus“. Das zeigt Ihre wahre Wertschätzung derjenigen, für die Sie hier vermeintlich sprechen. Wir brauchen eine Veränderung der Schwerpunktset- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zung hinsichtlich dessen, was der Staat zu finanzieren der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE hat. Das heißt, wir müssen, wie es die Landesregierung GRÜNEN) in Baden-Württemberg macht, weit mehr für frühkindli- che Bildung tun. Es geht um Sprachförderung und nicht Dass die Grünen sich dieser Debatte anschließen, nur um die Frage, ob man die deutsche Sprache be- wirft ein bemerkenswertes Licht auf den Zustand Ihrer herrscht. Es geht auch um die rechtzeitige Erkennung Fraktion, Herr Kuhn. Aber sei es drum. von Sprachentwicklungsverzögerungen. Im Haushalt des Landes Baden-Württemberg haben wir Mittel zur Wir diskutieren hier im Kern über den Fluch der fal- Verfügung gestellt, die eingesetzt werden, um Sprachde- schen Tat: Armut in Deutschland ist das Ergebnis fal- fizite bereits im vierten Lebensjahr zu erkennen, sodass scher Politik. Der Armut in Deutschland liegt nicht nur die Kinder beim Eintritt in die Grundschule gleiche die Antriebsschwäche Einzelner zugrunde, sondern eine Startchancen haben. dauerhafte Massenarbeitslosigkeit, gegen die gesetzge- berisch weder von der letzten Regierung noch von dieser (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da ist ja Regierung das Richtige unternommen wurde. Das ist das auch eine gute Landesregierung! – Carl- Grundproblem. Ludwig Thiele [FDP]: Allerdings! Da hat Herr Brauksiepe Recht!) (Beifall bei der FDP) Die Bundesrepublik leistet sich ein Sozialbudget in – Das ist richtig. Die dortige Regierung, an der die FDP (B) Höhe von 696 Milliarden Euro. Je mehr Aufgaben der beteiligt ist, ist hervorragend. (D) Staat an sich zieht, desto mehr Menschen werden vom Jedes Jahr verlassen 80 000 Schülerinnen und Schüler Staat abhängig. Je mehr Menschen in die Abhängigkeit unser Bildungssystem ohne Abschluss. Selbst Arbeitge- des Staates geraten, desto mehr Menschen verlieren ihre ber, die in ihren Betrieben Ausbildungsplätze anbieten, Antriebsfähigkeit und versuchen oftmals gar nicht mehr, müssen oftmals feststellen, dass die Bewerber keine hin- sich aus ihrer depressiven Situation zu befreien. Walter reichende Ausbildungsfähigkeit vorweisen können. Die- Wüllenweber vom „Stern“ schreibt in dieser Woche: ses Problem können Sie nicht wegdiskutieren. Davon er- Mit mehr Sozialknete kann man die Benachteili- fahren Sie, wenn Sie Betriebe besuchen, egal in welcher gung nicht wirksam bekämpfen. Bekäme jede arme Region und Branche. Familie 200 oder 300 Euro mehr Stütze im Monat, Unser Ansatz muss also sein, einerseits die würden sich dadurch ihre Aussichten auf einen Job, 696 Milliarden Euro, die für Sozialleistungen zur Verfü- auf ein selbstbestimmtes Leben, auf bessere Auf- gung stehen, sinnvoller einzusetzen als nach dem Prinzip stiegschancen ihrer Kinder keinen Millimeter ver- Gießkanne, wie es bisher der Fall war. Wir müssen einen bessern. größeren Teil dieser Mittel in Bildung, insbesondere in (Zurufe von der LINKEN: Doch!) frühkindliche Bildung, investieren. Andererseits müssen wir diejenigen, die ihre Antriebskräfte verloren haben, Damit hat Walter Wüllenweber Recht. Es geht nicht um motivieren, sich wieder einzubringen. Es darf nicht sein, das weitere Verteilen von Staatsknete. Die Konzepte der dass sie sich in einer sozialen Hängematte ausruhen. vergangenen Jahrzehnte waren bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit offenkundig nicht erfolgreich. Es (Iris Gleicke [SPD]: Das heißt bei Ihnen also geht darum, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, der soziale Verantwortung! So ein Quatsch! Un- es den Menschen ermöglicht, durch eigene Arbeit Teil- glaublich!) habe an der Gesellschaft zu haben. Deswegen ist die Vielmehr sollte unser Sozialsystem als Netz fungieren, FDP die Partei der sozialen Verantwortung. das jeden, der hineinfällt, wie ein Trampolin zum Mit- (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der machen in unsere Gesellschaft katapultiert. SPD) (Iris Gleicke [SPD]: Das war klar! Erst die so- Wir wollen eine Politik gestalten, die es den Men- ziale Verantwortung ansprechen und dann die schen ermöglicht, durch ihrer eigenen Hände Arbeit wie- soziale Hängematte bemühen! Das ist doch der an dieser Gesellschaft teilhaben zu dürfen. Wir brau- wirklich unglaublich!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5519

Dirk Niebel (A) Die Anreize müssen anders gesetzt werden. Wir for- ich mich vorhin im Internet auf der Homepage Ihrer (C) dern ein Bürgergeldsystem, eine Kombination aus Fraktion umgesehen habe, Steuer- und Transfersystem: Diejenigen, die genug Geld (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: verdienen, sollen Steuern zahlen, und diejenigen, die Das ist immer gut!) nicht genug Geld verdienen, sollen im Rahmen einer ne- gativen Einkommensteuer die notwendige Unterstützung stellte ich fest, dass Sie dort über das Thema der heuti- erhalten. Das ist ein wegweisender Vorschlag, der über gen Debatte schreiben: all das, was hier bisher angesprochen worden ist, hinaus- Handeln statt Reden. Die Debatte über Armut und geht. soziale Ausgrenzung ist nicht neu. Vergessen Sie Ihren Populismus! So weit bin ich einverstanden. Gewundert habe ich mich (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: aber beim nächsten Satz: Diesen Satz sollten Sie sich patentieren las- Bereits in der letzten Wahlperiode haben wir ver- sen!) schiedene Maßnahmen zur Armutsbekämpfung ge- fordert. Legen Sie Ihre Rezepte von vorgestern in die Schublade zurück! Machen Sie eine Politik, die den Menschen in (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Gefordert! diesem Land Chancen eröffnet! Das wäre der richtige An wem sind sie denn gescheitert?) Weg. Manchmal erwecken Sie den Eindruck, als hätten Sie in Vielen herzlichen Dank. der letzten Wahlperiode nicht regiert. Aber ich denke, wir sind uns schon einig, dass Sie in der 15. Wahlperiode (Beifall bei der FDP) mitregiert haben. (Dirk Niebel [FDP]: Die haben sogar zwei Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wahlperioden regiert!) Das Wort hat nun der Kollege Stefan Müller für die CDU/CSU-Fraktion. Noch besser ist es, wenn man die grüne Sozialbilanz vom Juli 2005 liest. Darin haben Sie geschrieben: (Beifall bei der CDU/CSU) Im Mittelpunkt grüner Politik steht der Schutz vor sozialer Ausgrenzung. Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Das ist in Ordnung. Weiter heißt es allerdings: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) Die Debatte, die wir heute führen, ist sehr bemerkens- Nun steigt, wie der zweite Armuts- und Reichtums- (D) wert. Sie wurde durch eine Studie der Friedrich-Ebert- bericht der Regierung von 2005 zeigt, die Zahl je- Stiftung mit dem Titel „Gesellschaft im Reformprozess“ ner an, die in Armut leben oder von Armut bedroht ausgelöst, in der es eigentlich überhaupt nicht um das sind. … Es stimmt, dass 2003 mehr Menschen unter Thema Armut, sondern um die Reformbereitschaft der die Armutsgrenze fielen als 1998. Deutschen geht. In dieser Untersuchung wird versucht, Auch an dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, wer bestimmte Gesellschaftsgruppen daraufhin zu identifi- in den letzten zwei Wahlperioden regiert hat. zieren, ob sie in Zukunft SPD wählen oder nicht. So könnte man den Inhalt dieser Studie auf den Punkt brin- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gen. So sind wir eben! – Markus Kurth [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind ehrlich! – (Zuruf von der LINKEN: Das ist dumm gelau- Gegenruf des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ fen!) CSU]: Von wegen! Ihr braucht einen neuen In- Über den Inhalt dieser Studie kann man streiten. Letzt- ternetbeauftragten!) lich müssen ihn allerdings ihre Adressaten bewerten. – Wenn Sie sagen, Sie seien ehrlich, muss ich Ihnen ant- worten: Gebracht hat es nichts. Es ist ein Eingeständnis Der Begriff „neue Armut“, um den es in dieser Aktu- eigener Schwäche, wenn ausgerechnet Sie hier skandali- ellen Stunde geht, erweckt den Eindruck, als liege eine sieren. Das ist in höchstem Maße unanständig, liebe Kol- gänzlich neue Erkenntnis vor, als hätte man dieses leginnen und Kollegen von den Grünen; denn Sie haben Thema bzw. die soziale Frage insgesamt neu entdeckt. doch in den letzten sieben Jahren mitregiert. Ich möchte uns alle zunächst einmal auffordern, den Be- griff „Unterschichten“ nicht zu verwenden, und zwar (Beifall bei der CDU/CSU) ganz einfach deswegen, weil er die Betroffenen – wir Nun wird niemand bestreiten, auch die Union nicht, alle kennen sie und können sie identifizieren – stigmati- dass es Armut in Deutschland gibt, dass Armut und so- siert. ziale Ausgrenzung in diesem Land keine Randphäno- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mene sind. Das ist natürlich eine große Herausforderung neten der SPD und der Abg. Katja Kipping für die Politik. Gerade weil wir in einem nach wie vor [DIE LINKE]) reichen Land leben, müssen wir hier etwas tun; niemand darf sich mit dieser Situation abfinden. Es ist eine Tatsa- Immerhin, Herr Kuhn, haben Sie zugegeben, dass che, dass sich viele Menschen in unserem Land in unge- diese Debatte auch für die Grünen nicht ganz neu ist. Als sicherten Lebensverhältnissen befinden: Menschen, die 5520 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Stefan Müller (Erlangen) (A) keine Arbeit haben, aber auch Menschen, die zwar Ar- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) beit haben, aber nicht wissen, ob es ihren Arbeitsplatz in neten der SPD) Zukunft noch geben wird. Mich beschwert natürlich auch, was in Teilen der deutschen Wirtschaft los ist. Ich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: habe genauso wenig Verständnis dafür, dass die Folgen Nun hat das Wort der Kollege Dr. Gregor Gysi, Frak- diverser Kostensteigerungen oder Managementfehler al- tion Die Linke. lein den Arbeitnehmern aufgebürdet werden. Auch ich finde das unanständig. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Aus der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung wissen Brauksiepe, ich habe Ihnen genau zugehört. wir, dass es Menschen gibt, die keine Hoffnung haben, dass sich ihre Lage in Zukunft bessern wird. Das ist auch (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist schon viel einer der Gründe, warum der wirtschaftliche Auf- wert!) schwung bisher nicht in dem gewünschten Maße vorhan- Wissen Sie, manchmal gibt es auch in meiner Fraktion den ist. Wenn Unsicherheit verbreitet wird, wird natür- Meinungsverschiedenheiten. Doch Sie schaffen es im- lich nicht konsumiert und auch nicht investiert. Wir mer wieder, uns zusammenzuschweißen. wollen mit unserer Politik wieder für mehr Sicherheit und politische Verlässlichkeit sorgen. Daran, dass die (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – heutige Debatte dazu beiträgt, habe ich erhebliche Zwei- Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das gönne fel. Das ergibt sich jedenfalls aus der Art und Weise, wie ich Ihnen!) wir sie führen. Das finde ich auch ganz in Ordnung. Da hilft die CDU Es gibt etliche Studien und Gutachten, die zeigen, und da helfen auch Sie persönlich. dass es in Deutschland ein steigendes Armutsrisiko gibt. Herr Müller war ja heute auch völlig zahm. Herr Es gibt auch etliche Studien und Gutachten, in denen Müller, sonst stellen Sie lauter Forderungen, die Arbeits- festgestellt wird, dass die Zunahme des Armutsrisikos losen zu drangsalieren. Heute haben Sie hier einen ganz mit der Zunahme der Arbeitslosigkeit einhergeht. Nun anderen Typ abgegeben. brauchen wir heute nicht darüber zu reden, warum in der Vergangenheit so viele Arbeitsplätze verschwunden (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Purer sind; darüber sind wir uns, glaube ich, großenteils einig. Unsinn, was Sie sagen! Aber ich erkläre es Ih- (D) (B) Aber es bleibt doch die Feststellung, dass die Hauptursa- nen mal!) che für Armut und soziale Ausgrenzung die Arbeitslo- Herr Niebel, in einem Punkt möchte ich Ihnen Recht sigkeit ist. geben. Der Begriff „Unterschicht“ ist indiskutabel – er Die Verkürzung auf populistische Thesen, liebe Kol- stammt aber nicht von uns, sondern aus dieser Studie –, leginnen und Kollegen von der Linksfraktion, bringt uns (Dirk Niebel [FDP]: Nein, von Herrn Beck!) nicht weiter. Es ist doch Unsinn, zu behaupten, Hartz IV habe diese Armut verursacht. Hartz IV hat die Armut weil dieser die Leute diskriminiert. nicht verursacht, sondern nachgewiesenermaßen ver- (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE deckte Armut erst sichtbar gemacht. LINKE]) (Iris Gleicke [SPD]: Das ist richtig!) Eine „Armutsschicht“ gibt es. Wenn Sie behaupten, es Deswegen ist Ihre Schlussfolgerung letztendlich falsch. gebe keine Schichten in der Gesellschaft, (Dirk Niebel [FDP]: Wir definieren die Men- (Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) schen nicht so, habe ich gesagt!) Das wirksamste Mittel gegen das Risiko von Armut dann fragen Sie einmal eine Sozialhilfeempfängerin und und sozialer Ausgrenzung ist ein sicherer Arbeitsplatz. Herrn Ackermann, ob sie glauben, dass sie in einer Es sind eben nicht höhere Transferleistungen, wie Sie sie Schicht sind. Ich sehe da schon Unterschiede. fordern, auch wenn Sie das vorhin bestritten haben, Frau Kipping. Tatsächlich wollen Sie alle Probleme finanziell (Beifall bei der LINKEN) lösen. Doch durch mehr finanzielle Leistungen wird das Ich hätte mir gewünscht, dass sowohl Sozialdemokra- Problem nicht gelöst. Auch eine dauerhafte Abhängig- tinnen und Sozialdemokraten als auch Grüne in dieser keit von staatlicher Fürsorge bedeutet ein latentes Ar- Aktuellen Stunde einmal selbstkritisch sind. Doch davon mutsrisiko. Deswegen sind wir aufgerufen, die Rahmen- kann keine Rede sein. Hat es die Politik der letzten sie- bedingungen für mehr wirtschaftliches Wachstum und ben Jahre gegeben oder hat es sie nicht gegeben? Haben für mehr Arbeitsplätze zu schaffen; der Herr Staatssekre- Sie vergessen, was Sie alles beschlossen haben? Sie ha- tär hat dies schon angesprochen. Eine Politik für Ar- ben die Steuern für die Konzerne dramatisch gesenkt, beitsplätze ist immer noch die beste Sozialpolitik. Ich die Körperschaftsteuer um 15 Prozent. finde, die große Koalition ist hier auf dem richtigen Weg. (Dirk Niebel [FDP]: Oh!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5521

Dr. Gregor Gysi (A) Sie haben die Veräußerungserlössteuer für die Kapitalge- Hinzu kommen noch die Mini- und Midijobs. (C) sellschaften gestrichen, die muss keiner mehr bezahlen. Sie haben Parteitage abgehalten und von einer Vermö- Was macht die neue Regierung? Man konnte hoffen, gensteuer geredet, aber natürlich keine eingeführt, als dass es ein paar Korrekturen gibt. Eines haben Sie getan: Sie an der Regierung waren. Sie haben wenigstens das ALG II Ost an das Westniveau angeglichen; das stimmt. Bei den jüngeren Leuten haben Sie haben den Spitzensatz der Einkommensteuer um Sie das aber gekürzt und Sie haben den Druck auf die 11 Prozent gesenkt. Sie haben die Reichen in der Gesell- Arbeitslosen ständig erhöht. Jetzt haben Sie per Gesetz schaft gefördert. Das ist wahr. beschlossen, dass das Geld für die Leute, die irgendeinen Job ablehnen, bis auf null gestrichen wird. (Beifall bei der LINKEN) Herr Staatssekretär, in den letzten sieben Jahren sind Jeden Tag gibt es neue Missbrauchsdebatten. Es gibt die Einkommen in Deutschland um 0,9 Prozent gesun- immer irgendwo Einzelne, die etwas missbrauchen. Sie ken. In den USA sind sie um 20 Prozent gestiegen, sind aber nicht der Maßstab. Maßstab sind die Millionen Arbeitslosen, die eine Erwerbsarbeit wollen. (Dirk Niebel [FDP]: Die haben auch eine an- dere Arbeitsmarktpolitik als wir!) (Beifall bei der LINKEN – Fritz Kuhn [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ausatmen!) in Großbritannien sind sie um 25 Prozent gestiegen und in der EU sind sie im Schnitt um 9 Prozent gestiegen. Ich verstehe diese Drangsalierungsdebatten nicht. Hier sind sie gesunken. Das ist die Wahrheit. Und das Es gibt dabei noch einen Punkt, der hier bisher über- sind Ursachen für Armut in Deutschland. haupt nicht angesprochen worden ist. Laut der Studie (Beifall bei der LINKEN) gibt es einen großen Unterschied in der Anzahl der Ar- men zwischen West und Ost. Im Westen sind es 4 Pro- Hinzu kommt: Zur selben Zeit, als Sie die Steuerge- zent, im Osten sind es 20 Prozent. Wieso ist das kein schenke gemacht haben, haben Sie den Kranken gesagt, Thema mehr? sie müssten zuzahlen, weil Sie nicht mehr genug Geld hätten, und Sie haben den Rentnerinnen und Rentnern (Dirk Niebel [FDP]: Weil da vorher 40 Jahre gesagt, sie müssten zusätzliche Beiträge zahlen, sodass lang die SED war!) es ein Minus gab. Sie haben Nullrunde auf Nullrunde Wir haben zwei unterschiedliche Teilgesellschaften, die folgen lassen und nicht einmal die Preissteigerungen sich weiter auseinander entwickeln. Seit Jahren reden ausgeglichen. Auch das führt zu Armut in einer Gesell- bestimmte Leute davon, dass wir einen Fahrplan brau- schaft. chen, dass es irgendwann gleichen Lohn für gleiche Ar- (B) (D) (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Wie beit und gleiche Rente für gleiche Lebensleistung geben viele Chancen hatten Sie in Berlin, als Sie da muss und dass wir eine Investitionspauschale für die waren?) Kommunen brauchen, damit dadurch Wirtschaftskreis- läufe in Gang gesetzt werden und Arbeitsplätze entste- Schließlich haben Sie Hartz IV für die Arbeitslosen ein- hen können. Nichts dergleichen geschieht. Sie diskutie- geführt. ren nicht einmal mehr darüber. Es stimmt – das will ich einmal sagen –, dass es eini- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfän- NEN]: Sagen Sie einmal etwas zu Berlin, Herr gern entweder gleich gut oder sogar besser geht. Gysi!) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 49 Pro- Ich sage Ihnen: Das wird in einer Katastrophe enden. zent geht es besser! Das weiß man!) Zum Teil erreichen wir die Armen noch und zu einem Den meisten Arbeitslosen geht es aber schlechter. Ich kleinen Teil erreicht die SPD sie noch. Die meisten ge- nenne Ihnen wieder mein Beispiel: Ein Ingenieur, hen aber gar nicht mehr wählen und viele wählen rechts- 51 Jahre alt, wird arbeitslos. Aufgrund der altersrassisti- extrem. Wenn wir das nicht wollen, wenn wir keine schen Gesellschaft hat er mit 51 Jahren überhaupt keine Gesellschaftszerstörung wollen, dann müssen wir die Chance mehr auf eine Vermittlung. Das ist die Wahrheit. Armut in der Gesellschaft allein schon in unserem Inte- resse und erst recht im Interesse der Betroffenen über- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: winden. Dazu möchte ich einmal Vorschläge hören. Schon falsch!) (Beifall bei der LINKEN) Er erhält ein Jahr lang Arbeitslosengeld I. Nach einem Jahr sagt der Gesetzgeber: Wir akzeptieren den Lebens- Natürlich gibt es Mittel dafür. Natürlich brauchen wir standard, den er sich 25 Jahre lang als Ingenieur aufge- einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir müssen sagen, was baut hat, nicht mehr. Er muss die Werte seiner Wohnung, man in Deutschland mindestens mit einer Stunde Arbeit seines Auto und seines Sparguthabens auf das Niveau zu verdienen hat. Das ist keine abwegige Idee. senken, das man einem Sozialhilfeempfänger zubilligt. (Dirk Niebel [FDP]: Doch!) Wenn er das nicht tut, bekommt er gar nichts mehr. Das ist Armut per Gesetz und das haben Sie beschlossen. Viele Staaten haben sich dafür entschieden und wir könnten das auch. (Beifall bei der LINKEN – Gerd Andres, Parl. Staatssekretär: Das stimmt alles nicht!) (Beifall bei der LINKEN) 5522 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tistischen Dunkel hervorgeholt haben. Ihre Situation ha- (C) Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. ben wir auf die Tagesordnung gesetzt und organisieren jetzt für diesen Personenkreis ganz besondere Prozesse. Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): (Zurufe von der LINKEN: „Ganz besondere Pro- Wir brauchen auch mehr soziale Gerechtigkeit. Dafür zesse“! – So kann man es auch nennen!) brauchen wir gerechte Steuern. Davor drücken Sie sich. Ihnen fehlt der Mut dazu, weil Sie gegenüber den Kon- – Man kann es Prozesse nennen. Jedenfalls ist es so, dass zernen – genauso wie leider auch die Grünen und die wir für diesen Personenkreis endlich auch Förderange- SPD – immer nur einknicken. bote schaffen. Wenn Sie fordern „Hartz IV muss weg“, dann müssen Sie wissen, dass Sie damit insgesamt Danke schön. 36 Milliarden Euro, die diese Gesellschaft zur Finanzie- (Anhaltender Beifall bei der LINKEN) rung der Langzeitarbeitslosen ausgibt, einfach streichen wollen. Ihr monotoner Spruch „Hartz IV muss weg“ be- deutet Armut pur. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Klaus Brandner für (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie die SPD-Fraktion. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Wir müssen in dieser Situation aber auch erkennen, Klaus Brandner (SPD): dass fast die Hälfte der Arbeitslosengeld-II-Empfänger Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- besondere Probleme hat. Die Hälfte hat keine abge- ginnen und Kollegen! Gerade haben wir hier wieder ei- schlossene Berufsausbildung, nahezu ein Viertel hat kei- nen populistischen Vortrag zu einem Problem gehört, nen Schulabschluss und fast ein Viertel leidet unter gesundheitlichen Einschränkungen. Die Ursachen dafür (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ liegen weit in der Vergangenheit, in den 80er-Jahren; ich CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- habe das bereits angesprochen. Sie werfen ein Schlag- NEN – Zuruf von der LINKEN: Sind Sie nei- licht auf die Versäumnisse, die, wenn wir Hartz IV nicht disch?) entwickelt hätten, nicht angefasst worden wären. Auch das nicht neu ist, um das deutlich zu sagen. wenn die Situation nicht einfach ist: Wir haben das Rückgrat gehabt, das Thema transparent zu machen. Das Zumindest wir Sozialdemokraten begrüßen, dass die ist das Verdienst der jetzigen Politik. Friedrich-Ebert-Stiftung eine Studie auf den Weg ge- (B) (D) bracht hat, um ein bekanntes Problem noch einmal in Er- (Beifall bei der SPD) innerung zu rufen. Dabei haben auch viele Persönlich- Viele Populisten neigen dazu, Hartz IV in Bausch und keiten in diesem Land deutlich gemacht, wie es mit Bogen zu verdammen; das haben wir auch heute wieder Armut und Reichtum, Chancen und Chancenlosigkeit in gehört. Fakt ist jedoch, dass dieses Gesetz viele neue dieser Gesellschaft bestellt ist. Möglichkeiten eröffnet, den Menschen zu helfen. Klar Beispielsweise sagt der Bischof Reinhard Marx – ich ist – das will ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen –, selbst kenne ihn recht gut – noch einmal ganz deutlich, dass Arbeitsmarktpolitik kein Reparaturbetrieb der Na- dass das Problem, um das es sich hier handelt, seit min- tion sein kann, denn die Arbeitslosigkeit ist die Ursache destens 20 Jahren existiert. Die Sozialdemokraten ken- für die Armut, nicht das SGB II. nen die soziale Not. Genau deshalb haben wir damals (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der mit unserem Koalitionspartner den Armuts- und Reich- CDU/CSU) tumsbericht eingeführt. Die Ursachen für die Armut werden in unserem Land (Iris Gleicke [SPD]: So ist es!) früh gelegt. Die PISA-Studie hat gezeigt, wo die Pro- Wir wollten eine klare Ausgangsposition haben und wis- bleme liegen. Eine frühe Aussonderung Schwächerer sen, wo wir in diesem Land stehen. Wir wollten vor die- und fehlende Angebote am Nachmittag sind das Pro- sem Problem die Augen nicht verschließen, sondern öff- blem. In diesem Zusammenhang will ich ganz klar sa- nen und uns der Herausforderung stellen. Das ist die gen, dass das von Rot-Grün gemeinsam entwickelte Aufgabe der Sozialdemokraten. Ganztagsschulprogramm erstmals einen Weg in die rich- tige Richtung gewiesen hat. Ich denke, dass dies von den (Beifall bei der SPD) Ländern konsequent umgesetzt werden müsste. Wir wollen nicht, dass sich der Staat seiner Verant- (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann wortung entzieht, insbesondere seiner sozialen Verant- [SPD]) wortung. Deshalb stellen wir uns den Problemen. Durch das Sozialgesetzbuch II – vielen als Hartz IV bekannt – Die frühkindliche Betreuung in Deutschland ist unzu- wurden Arbeitssuchende – das ist ein großes Verdienst –, reichend; das wissen wir. Kinder aus bildungsfernen die in der Vergangenheit berechtigte Ansprüche nicht Schichten werden in der Schule schon früh abgehängt. geltend gemacht haben, aus dem statistischen Dunkel Ein zentrales Problem in diesem Zusammenhang ist nun hervorgeholt. Es handelt sich hier um eine Größenord- einmal die Bildungsarmut. Da sind die Länder gefordert. nung von über 400 000 Menschen, die wir aus dem sta- Sie können sich nicht mehr damit herausreden, dass wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5523

Klaus Brandner (A) sie im Stich lassen. Vielmehr haben wir die Mittel dafür Koalition und mit den Fakten auseinander setzen muss. (C) zur Verfügung gestellt. Ich will an dieser Stelle nicht über die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte, die gerade die (Beifall der Abg. [SPD]) Kaufkraft der unteren Einkommensgruppen weiter Wer glaubt, den Menschen durch höhere Transfers schwächen wird, und über die kleine Kopfpauschale von helfen zu können, der betätigt sich als Menschenfänger, 8 Euro sprechen, die offenkundig diejenigen überpropor- ohne tatsächlich zu helfen. Die Armut in unserem Land tional treffen wird, die monatlich weniger als 800 Euro ist nicht nur materielle Armut, sondern auch Armut an zur Verfügung haben. Bildung, an Kultur und auch Armut in Bezug auf ein ge- Ich möchte vielmehr ein Thema aufgreifen, das Sie sundes Leben. alle unisono angesprochen haben, nämlich die Forde- (Michael Leutert [DIE LINKE]: Das sehen wir rung nach mehr Bildung. Das ist durchaus richtig. Die- ja hier!) sen Punkt haben Herr Brauksiepe und Herr Staatssekre- tär Andres angesprochen. Sie haben das noch einmal Da sich die Linke – das haben wir heute gehört – in betont, Herr Brandner. In dem Bereich muss mehr getan Sprüchen wie „Hartz IV muss weg“ – zu dem Umfang werden. Herr Heil hat von einer neuen Philosophie in der der Ausgaben habe ich bereits etwas gesagt – oder Sozialpolitik gesprochen. Diese Äußerungen könnte „Ganz ohne Geld ist alles andere nichts“ ergötzt, muss man immerhin schon als Fortschritt in der politischen sie sich einfach vorhalten lassen, was diese Gesellschaft Debatte werten. Denn bisher wurde insbesondere auf ei- an Mitteln aufbringt. Ich habe die 36 Milliarden Euro ner Seite des Hauses statt über eine vernünftige Förde- bereits angesprochen. rung mit Leidenschaft darüber diskutiert, ob und wie In diesem Zusammenhang möchte ich noch einen man arbeitslose Ingenieure am besten in ein Spargelfeld Punkt ansprechen. Das ständige Rufen nach verschärften bringt. Das zeigt die ganze Armseligkeit der politischen Sanktionen oder dem Abbau von Arbeitnehmerrechten Debatte, mit der bislang über Ausgrenzung und Lang- ist nichts anderes als blanker Populismus. zeitarbeitslosigkeit gesprochen wurde. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bildung ist – darin sind wir uns offenbar einig – eine Schlüsselressource. Heute Abend könnte die große Denn wer den Menschen jede Sicherheit nimmt, der Koalition einen kleinen Schritt in Richtung Armutsbe- raubt ihnen auch die Fähigkeit zur Gestaltung des eige- kämpfung tun. Denn wir werden heute Abend Änderun- nen Lebens. Durch weniger Arbeitnehmerrechte werden gen im Sozialhilferecht beschließen. Dazu liegt ein die Arbeitsplätze nicht sicherer. Leistungskürzungen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vor, in dem wir Öff- motivieren nicht; sie demotivieren vielmehr. nungsklauseln vorschlagen. Die Jobcenter sollen Schüle- (B) (D) Deshalb sage ich unserem Koalitionspartner an dieser rinnen und Schüler gezielt mit Schulbüchern versorgen, Stelle ganz offen: Herr Söder von der CSU liegt völlig ihnen die Teilnahme am Schulessen ermöglichen und die falsch, wenn er meint, Rot-Grün trage die Schuld an der Vereinsbeiträge von Kindern und Jugendlichen direkt heutigen Armut. übernehmen können, sofern die Betroffenen selbst nicht dazu in der Lage sind. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: SES 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Das entspricht genau der neuen Philosophie, die Transferleistungen nicht mehr direkt zu erhöhen, son- Klaus Brandner (SPD): dern eine zielgerichtete Hilfe speziell für Kinder und Ju- Die Ursachen für die Armut sind alt. Wir gehen ihnen gendliche zu bieten. nach. Deshalb müssen wir mit einer offensiven Beschäf- (Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) tigungspolitik und einer verbesserten Bildungspolitik, bei der auch die Länder gefordert sind, weitermachen. – Frau Kipping, das braucht man gerade auch in Berlin, Das sind die besten Antworten auf die Armut. Wir wol- wo in Ihrer Verantwortung die Kitagebühren erhöht wur- len nicht nur über materielle Verteilungsspielräume re- den den, sondern wir wollen Chancen bieten. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber nicht die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von einkommensschwächeren Familien!) der CDU/CSU) und wo es kein kostenloses Kitaessen gibt. Sie stellen sich hier als selbstgenügsame Traditionalistin dar und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bejammern, dass die Kinder morgens ohne Frühstück in Nun hat das Wort der Kollege Markus Kurth für die die Schule gehen. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der SPD) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die Debatte ist an einem Punkt angekommen, Wir von Bündnis 90/Die Grünen haben in unserem an dem man sich mit den Worten und Taten der großen Antrag die Öffnungsmöglichkeiten gefordert. Ich sage 5524 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Markus Kurth (A) Ihnen voraus: Sie werden den Antrag von Bündnis 90/ chen“, während Sie gleichzeitig zugeben müssen, dass (C) Die Grünen heute Abend ebenso ablehnen, wie Sie es 900 Millionen Euro Eingliederungsmittel nicht ausgege- gestern im Ausschuss getan haben. Sie greifen ihn nicht ben werden, dann wird Ihnen sicherlich weh ums Herz. einmal in Form einer eigenen Initiative auf. Wenn Sie das wirklich ernst nehmen, dann werden Sie nicht mehr von mangelndem Aufstiegswillen bestimmter (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Gruppen sprechen. DIE GRÜNEN]: Das zeigt das wahre Ge- sicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das finde ich heuchlerisch. Es ist nicht in Ordnung, hier Ich bin sehr dafür, dass wir die Würde der betroffenen mehr Bildung zu fordern, aber entsprechende Ände- Menschen achten; denn sonst fehlen alle Voraussetzun- rungsmöglichkeiten nicht aufzugreifen und weiterzuent- gen für eine vernünftige Politik. wickeln. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. So geht Vielen Dank. es nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es ist bezeichnend, dass diese Debatte heute Abend Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zu einer Zeit stattfindet, wenn die Kameras abgeschaltet Das Wort hat nun der Kollege Andreas Steppuhn, und die Tribünen leer sind. Denn wie leider festzustellen SPD-Fraktion. ist, bewegt sich nicht nur die Armut im Dunkeln; auch die entsprechende Gesetzgebung scheint das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen, obwohl die Probleme riesen- Andreas Steppuhn (SPD): groß sind. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich halte es für richtig, dass wir in Deutschland Damit komme ich zu dem mangelnden Aufstiegswil- begonnen haben, eine grundsätzliche sozialpolitische len, den insbesondere Ihr Parteivorsitzender, Herr Beck, Debatte zu führen. Die zum Teil vorab veröffentlichte beklagt. Aufstiegswillen hat auch etwas mit Aufstiegs- Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu den Lebensbedin- chancen zu tun. gungen und beschäftigungspolitischen Perspektiven der uns anvertrauten Menschen ist hierbei eine sehr große Solange die Chancen durch aktive Förderung so ge- Hilfe. Wir alle im deutschen Parlament haben die Auf- ring sind, wie Herr Kuhn es beschrieben hat, ist es na- gabe, alles Erdenkliche zu tun, um die Schere zwischen hezu unverschämt, Arm und Reich nicht weiter auseinander klaffen zu las- (Ulla Burchardt [SPD]: Sie haben doch bei der sen, sondern, wenn irgend möglich, zu schließen. (B) Bildung blockiert!) (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Benachteiligten und Armen mangelnden Aufstiegswillen Eine Spaltung der Gesellschaft, wenn auch nur in der vorzuwerfen. Ich will Ihnen einmal aufzeigen, wo wir politischen Diskussion, ist wenig hilfreich. Sie ist kon- aufgrund der zuletzt betriebenen Politik im europäischen traproduktiv, weil wir sonst Gefahr laufen, hierdurch Vergleich stehen. In Dänemark sind 22 Prozent der Men- Menschen, die in Armut leben oder in prekären Beschäf- schen ohne Berufsausbildung in einer Weiterbildungs- tigungsverhältnissen tätig sind, den rechten Rattenfän- maßnahme oder in einem Kurs. In Deutschland sind es gern in die Arme zu treiben. gerade einmal 3 Prozent derjenigen ohne Berufsausbil- dung. Hier gilt es zu investieren. (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Unabhängig davon müssen wir diese wichtige sozialpoli- tische Debatte führen. Wir dürfen nicht die Augen ver- Der Vorwurf des mangelnden Aufstiegswillens hat schließen, sondern müssen die Situation ehrlich analysie- nichts mit der Realität zu tun. Eine aktuelle Studie der ren, um hieraus politischen Handlungsbedarf abzuleiten. Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass es 2 Millionen Gering- Hierfür stehen wir als Sozialdemokraten. verdiener gibt, die kein Arbeitslosengeld II beziehen, ob- wohl sie darauf Anspruch haben. Das sind Menschen, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auf eigenen Beinen stehen wollen. Das muss man aner- Wir sind für gleiche Bildungschancen und für bessere kennen. Ich empfehle insbesondere dem SPD-Vorsitzen- Perspektiven auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt. den Beck, sich einmal Einrichtungen der Jugendberufs- hilfe und der Beschäftigungsträger anzuschauen. Ich erinnere noch einmal daran, dass es eine SPD-ge- führte Bundesregierung war, die mit dem Armuts- und (Klaus Brandner [SPD]: Die kennt er sehr Reichtumsbericht dafür gesorgt hat, dass die soziale gut!) Lage in Deutschland offen gelegt wird. Hierdurch ist Wenn Sie einmal vor einem jungen Erwachsenen gestan- eine Analyse erst möglich geworden. den haben, dessen sechsmonatiger 1-Euro-Job ausgelau- (Beifall der Abg. Ulla Burchardt [SPD]) fen ist und der, teilweise mit Tränen in den Augen, fragt: „Können Sie mir eine Anschlussförderung vermitteln? Außerdem haben wir Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe Was kann ich jetzt machen, um nach oben zu kommen?“, zusammengelegt. Dadurch haben wir der statistisch ver- und ihm antworten müssen: „Ich kann leider nichts ma- deckten Arbeitslosigkeit ein Ende gemacht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5525

Andreas Steppuhn (A) (Iris Gleicke [SPD]: So ist es!) gesellschaftspolitischer Verantwortung werden. Deshalb (C) brauchen wir eine Fortentwicklung der Arbeitsmarktpo- Im Übrigen war diese Maßnahme seinerzeit unumstrit- litik, aber – das sage ich ganz deutlich – wir brauchen ten. Durch diese beiden Maßnahmen sind wir erst in die auch Mindestlöhne in Deutschland. Lage versetzt worden, zu Studien zu kommen, die die soziale Lage der Menschen, denen es alles andere als gut (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geht, in Gänze erfassen. Es muss für uns eine Herausfor- der LINKEN und des Abg. Markus Kurth derung sein, denjenigen Menschen, die auf der Schatten- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dirk Niebel seite des Wohlstandes leben, mehr Bildungschancen ein- [FDP]: Mindestlöhne vernichten Arbeits- zuräumen und berufliche Perspektiven zu bieten. Gerade plätze!) jungen Menschen und Kindern sind wir es schuldig, al- Wer die Lebenssituation von Menschen mit Begriff- les Erdenkliche zu tun, dass sie überhaupt eine Aussicht lichkeiten, die ich hier nicht wiederholen möchte, be- haben, eine Chance auf eine gute Zukunft zu bekommen. zeichnet und damit prägt, der versucht, Deutschland zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) spalten. Dies kann kein Akt von demokratischer Verant- wortung sein. Wir haben in Deutschland Probleme. Die Es ist sicherlich auch Selbstkritik angebracht. Diese können und die wollen wir als Sozialdemokraten nicht muss aber in einem zweiten Schritt dazu führen, Überle- verschweigen. Unsere Hausaufgabe lautet, dafür Sorge gungen anzustellen, was anders und besser gemacht wer- zu tragen, dass den Menschen, deren Lebensumstände den muss. Hierzu gehört nicht nur, dass wir über Armut aufgrund ihrer sozialen Situation schlecht sind, die sich in Deutschland debattieren und zeitweise schöne Be- von der Gesellschaft an den Rand gedrängt fühlen und de- kenntnisparolen herausposaunen, sondern auch, dass wir ren Bildungsstand niedrig ist, zukünftig eine echte Per- das Thema Reichtum in den Blickpunkt der Öffentlich- spektive gegeben wird. Hier denke ich in erster Linie an keit rücken. Familien mit Kindern und an junge Menschen. Lassen Sie (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) uns gemeinsam dieser Verantwortung gerecht werden. Nur so kann eine zusammenhängende Debatte geführt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden. Die zentrale Frage dabei lautet: Wie kann es zu der CDU/CSU) einer Umverteilung von oben nach unten kommen? Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist richtig!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Maria Michalk, CDU/CSU-Fraktion. Das allzu oft gebrauchte Wort der Verteilungsgerechtig- (B) keit darf nicht nur eine Worthülse sein, sondern muss (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (D) auch konsequent mit Leben erfüllt werden. Es muss aber Andrea Wicklein [SPD]) auch die Aufgabe von Politik sein, also unsere Aufgabe, meine Damen und Herren, die Menschen mitzunehmen Maria Michalk (CDU/CSU): und ihnen eine persönliche Perspektive zu geben. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn sich Frau Kipping und Herr Gysi hierher stellen Dies gilt vor allem für die Menschen in den neuen und feststellen, dass die Arbeitslosigkeit und damit auch Bundesländern; denn offensichtlich sind hier die Le- die proportionale Armut in den neuen Bundesländern be- bensunterschiede und die Perspektivlosigkeit besonders sonders hoch sind, höher jedenfalls als in den alten Bun- groß. Doch auch das ist nicht neu. Arbeit war für die desländern, ohne mit einem Wort darauf hinzuweisen, Menschen in Ostdeutschland nicht nur ein Muss, es war dass wir immer noch mit den Folgen von 40 Jahren auch eine Pflicht. Als Bundestagsabgeordneter für die SED-Misswirtschaft kämpfen, Harzregion erlebe ich genau das in vielen meiner Bür- gersprechstunden: Die Menschen in Ostdeutschland füh- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) len viel deutlicher, dass sie auf der Strecke geblieben die Sie verursacht haben und für die Sie als Partei immer sind, dass sie von sozialen, wirtschaftlichen und kultu- noch Verantwortung tragen, dann ist das unverschämt. rellen Entwicklungen abgekoppelt sind. Hier müssen wir etwas tun. Eine Spaltung, auch die zwischen Ost und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie West, dürfen wir nicht akzeptieren. bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Betroffen macht mich, dass diese Aktuelle Stunde der CDU/CSU) von den Linken und dem Bündnis 90/Die Grünen bean- tragt worden ist; denn wir wissen alle, dass ehrenwerte Vieles von dem, was wir heute hier diskutieren, ist Bürgerinnen und Bürger der Bürgerbewegung, die die doch nicht ganz neu, wenn wir ehrlich sind. Sicherlich friedliche Revolution mit auf den Weg gebracht haben, hat Politik und haben auch Sozialdemokraten in der Ver- in der Fraktion der Grünen aufgegangen sind. Diese Al- gangenheit Fehler gemacht. Jedoch muss man aus Feh- lianz macht mich betroffen. lern auch lernen und daraus ableiten, was man anders und besser machen kann. Dass die Stärkeren solidari- (Beifall bei der CDU/CSU – Fritz Kuhn scher mit den Schwächeren sein müssen, darf sich nicht [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist keine nur im politischen Handeln ausdrücken, sondern dieses Allianz! Das ist Geschäftsordnung, nichts an- Leitmotiv muss auch wieder ein Bestandteil von gesamt- deres!) 5526 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Maria Michalk (A) Nun zur Sache. Als vor fünf Jahren zum ersten Mal in Deutschland in Haushalten lebten, in denen kein ein- (C) der Armutsbericht der Bundesregierung vorgelegt ziges Mitglied einer Erwerbstätigkeit nachging, dann wurde, wurde wissenschaftlich bestätigt, was wir alle, müssen wir uns nicht wundern, dass diesen Kindern ein die wir uns den angeborenen Blick für das Normale in Weg vorgelebt wird, den sie nur mit großer Anstrengung diesem Leben bewahrt haben, schon wussten, nämlich verlassen können. dass es jeder zehnte Mitbürger unter uns – ungewollt und manchmal auch selbst verschuldet – im Leben etwas Ich erinnere mich an einen Lehrling meiner früheren schwerer hat, weil er wenig Einkommen hat. Man Arbeitsstätte, der als Einziger in der Familie täglich um spricht von der so genannten Einkommensarmut. Der halb sechs aufgestanden ist, um pünktlich zur Arbeit zu zweite Bericht im letzten Jahr hat allerdings gezeigt und kommen, um am Monatsende sein Lehrlingsgeld nach verdeutlicht, dass ziemlich viel Bewegung in diesem Hause zu bringen. Erahnen wir eigentlich, welche Kraft Prozess ist. Ein Drittel der Einkommensarmen kann und Motivation dieser junge Mann jeden Morgen nämlich nach einem Jahr und ein weiteres Drittel nach brauchte, um sich – vorbei an den schlafenden Eltern zwei Jahren die Armut hinter sich lassen. Auch das muss und Geschwistern – ohne Frühstück aus der Wohnung zu hier einmal gesagt werden. Die Bedingung dafür ist na- schleichen, damit er keine Abmahnung wegen Unpünkt- türlich – das haben wir immer festgestellt – eine ordent- lichkeit erhielt, die letztlich den Verlust seines Ausbil- liche Ausbildung und selbstverständlich ein Arbeits- dungsplatzes bedeutet hätte? Wie viel Kraft musste da- platz. Hier hapert es. hinterstecken? Wie viel Hilfe, die übrigens auch vom Staat bezahlt wird, war wohl nötig, damit er motiviert Fakt ist: Wir haben in Deutschland nicht zu wenig Ar- blieb, um diese Ausbildung durchzuhalten? beit – sie steht und liegt überall herum –; uns fehlt aus- Mit diesem Beispiel – das ist bestimmt kein Einzel- reichend bezahlbare Arbeit. Diese Diskrepanz ist in den fall – wird deutlich, wie differenziert die Frage Armut zu neuen Bundesländern in der Tat besonders groß. sehen ist. Man sieht, wie schnell man in Armut hinein- Leider gibt es aber auch dort Leute, die sich in unse- rutschen kann. Man sieht aber auch, dass unsere Gesell- rem Sozialsystem eingerichtet haben. Sie nehmen alles, schaft viele Möglichkeiten bietet, sich daraus zu be- was zu holen ist. Sie sind froh, den lieben Tag über ihre freien. Ich verweise nur auf §§ 240 ff. SGB III. Diese Ruhe zu haben, und schimpfen in aller Öffentlichkeit Paragrafen gibt es nicht erst seit wenigen Monaten, son- über den ach so schlechten Staat, der ihnen zu wenig dern seit vielen Jahren. Die dort enthaltenen Regelungen zum Leben gibt. Gewissenlose Gesellen, die es in unse- sollen sozial benachteiligten Jugendlichen den Weg in rer Gesellschaft auch gibt, machen sich diese Stimmung eine gute berufliche Zukunft ermöglichen. zunutze. Darauf sollten wir stärker achten. Ich will noch ein weiteres Thema ansprechen. Das (B) (D) Die meisten arbeitslosen Menschen in den neuen Suchen nach einem Arbeitsplatz und die damit verbun- Bundesländern sind jedoch motiviert und gewillt, jede dene Abwanderung führen zu Strukturveränderungen, Art von Arbeit anzunehmen. Es ärgert sie selbstver- die wir sehr ernst nehmen müssen. Mich hat zum Bei- ständlich, dass sie zum Beispiel als überqualifiziert gel- spiel eine 80-jährige rüstige Omi um halb sechs in der ten – Beispiele sind schon genannt worden – und deshalb Frühe angerufen und gesagt: Tun Sie etwas dafür, dass keine niedrig qualifizierte Arbeit erhalten, obwohl sie mein Enkel hier in der Nähe eine Arbeit findet, damit ich diese annehmen wollen – einfach nur, um Arbeit zu ha- nicht allein bin und jemanden habe, den ich anrufen ben. So wichtig der Lohn in der Lohntüte am Mo- kann, wenn ich Hilfe brauche. natsende ist, so wichtig sind für sie immer noch das Ge- fühl und die Gewissheit, nützlich zu sein und gebraucht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zu werden. Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit. (Beifall der Abg. Andrea Wicklein [SPD]) Maria Michalk (CDU/CSU): Ich weiß nicht, wie viele der öffentlich geförderten Ich will damit nur sagen: Unser Leben bedeutet An- Arbeitsprogramme schon gelaufen sind, mit gutem und strengung. Wir sind nicht für ein bequemes Leben gebo- weniger gutem Erfolg. Ich weiß nur, dass wir diese auch ren, sondern für Anstrengung. Dies gilt für alle: für die, in Zukunft brauchen werden, um Menschen Hoffnung zu die viel leisten können, und für die, die wenig leisten geben und sie nicht in die totale arbeitsmäßige Armut können. Auf diesem Weg sind wir. und Isolation fallen zu lassen. In den neuen Ländern sind nämlich einfach zu wenige Arbeitsplätze für die in den Ich danke Ihnen. Arbeitsprozess strebenden Menschen vorhanden. Die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Fritz Anzahl dieser Menschen ist größer, als man es sich vor Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Jahren vielleicht ausgemalt hat. Leben ist anstrengend, Zuhören auch!) Bezahlen tun das die Leute – auch das muss man im- mer wieder sagen –, die jeden Tag zur Arbeit gehen und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: am Monatsende unterm Strich mitunter auch nicht mehr Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Spanier für in der Lohntüte haben als die, die ihr Monatseinkommen die SPD-Fraktion. von der Bundesagentur für Arbeit überwiesen bekom- men. Wenn im Jahre 2005 etwa 11 Prozent aller Kinder (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5527

(A) Wolfgang Spanier (SPD): hatten und debattiert haben, übrigens – leider – mit einer (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! deutlich geringeren öffentlichen Resonanz, als wir sie Die Debatte über die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung jetzt, dieser Tage, erleben, und auch mit einer deutlich ist eine falsche Debatte. Gleichzeitig ist sie eine richtige geringeren Resonanz hier im Deutschen Bundestag. und wichtige Debatte. Auch über den nationalen Aktionsplan zur Vermei- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Genauso dung und Bekämpfung von Arbeitslosigkeit haben wir ist es!) hier im Bundestag fast unter Ausschluss der Öffentlich- keit gesprochen. Das war nicht etwa auf die Tageszeit Diese Debatte ist zum Beispiel deswegen eine falsche zurückzuführen, zu der wir darüber debattiert haben, Debatte, weil diese Studie überhaupt noch nicht kom- sondern darauf, dass es offensichtlich kein öffentliches plett veröffentlicht ist. Interesse an diesem Thema gegeben hat. Ich hoffe, dass Dennoch debattiert die Öffentlichkeit seit Wochen in- sich das jetzt ändert. tensiv darüber. Übrigens musste es in diesem Hause erst eine rot- (Zuruf von der SPD: Seit 14 Tagen!) grüne Mehrheit geben, damit die Vorlage eines Armuts- und Reichtumsberichtes durchgesetzt werden konnte. – Seit 14 Tagen. Es handelt sich um eine falsche De- batte, weil es in dieser Studie überhaupt nicht – das ist (Beifall bei der SPD) bereits mehrfach gesagt worden – um Armut und Armuts- Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass un- entwicklung in Deutschland geht. Vielmehr geht es um ser Antrag zu Zeiten Helmut Kohls mit dem Argument politische Einstellungen und um politische Wertvorstel- abgelehnt wurde, Armut gebe es in Deutschland nicht. lungen. Diese sind geordnet und in verschiedene Grup- Es gebe Sozialhilfe, das sei bekämpfte Armut. – Fertig, pen eingeteilt worden. Genannt werden hier unter ande- Schluss, Aus. rem die selbstgenügsamen Traditionalisten, Herr Kurth, und das so genannte Prekariat. Meine Damen und Herren, mehrfach ist heute von Bildung gesprochen worden. Es ist richtig: Wenn wir Es ist aber auch eine richtige und wichtige Debatte, wirksam etwas gegen Armut tun wollen, müssen wir die auch wenn sie aus falschem Anlass geführt wird. Wir Kinder im Blick haben, die in diesen Verhältnissen auf- sprechen jetzt nämlich endlich nicht nur hier im Deut- wachsen und leben, die nicht nur materiell arm sind, son- schen Bundestag, sondern auch in einer breiten Öffent- dern die ausgegrenzt, die zum Teil weitgehend von lichkeit über das Thema Armut und Armutsentwicklung. Bildung ausgeschlossen und auch gesundheitlich unter- Ich hielte es für richtig, wenn wir gleichzeitig in diesem versorgt sind usw. Ich empfehle wirklich, sich mit dem (B) Zusammenhang auch über Reichtum und Reichtumsent- Zwölften Kinder- und Jugendbericht auseinander zu set- (D) wicklung in Deutschland reden würden. zen. Ich glaube, dass wir Kinder- und Jugendpolitik als (Beifall bei der SPD) eine zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe auffassen müssen. Wir werden das Problem nicht mit Sozialpolitik Was an Schuldzuweisungen zu lesen und zu hören und auch nicht mit Transferleistungen lösen. war, bringt überhaupt nichts. Einen Zusammenhang zwi- schen der in der Tat wachsenden Armut in Deutschland Bildung von Anfang an als Prozess der Persönlich- und Hartz IV herzustellen, ist abwegig. Das hat sogar keitsentwicklung ist die einzige Chance, die wir haben. Michael Sommer öffentlich festgestellt. Hier liegt nicht (Beifall bei der SPD) die Ursache. Die Befragung – ein ganz einfaches Argu- ment – ist im Februar/März dieses Jahres durchgeführt Bei der Umsetzung werden wir, meine Damen und worden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Hartz IV ge- Herren, vor großen Problemen stehen. Das Ressortden- rade einmal ein Jahr wirksam war. Hier liegt also nicht ken, in dem wir selbst immer wieder verhaftet sind, aber die Ursache. Ursache ist vielmehr – das ist uns allen be- auch die unterschiedlichen Zuständigkeiten der verschie- wusst – die seit langem verfestigte Massenarbeitslosig- denen staatlichen Ebenen für das, was mit dem erweiter- keit. ten Bildungsbegriff gemeint ist, werden die Umsetzung sicherlich erschweren. Aber wie viele Hinweise wollen (Beifall bei der SPD) wir denn noch haben? PISA-Studie, Jugendbericht, Ar- Ihre wirtschaftlichen bzw. weltwirtschaftlichen Ursa- mutsbericht – seit Jahren wird uns die Situation vor Au- chen sind jedem in diesem Raum bekannt. gen geführt. Wir haben in Deutschland bisher nicht die Kraft gehabt, das Problem über die Grenzen der Ebenen Ich komme zu dem Begriff „Unterschicht“, der in der hinweg konsequent anzugehen und mit der Bildung für öffentlichen Debatte eine, wie ich finde, merkwürdige Kinder und Jugendliche, gerade für diejenigen, die in Rolle spielt. Als wissenschaftlicher Begriff ist er seit Armut leben, ernst zu machen, um ihnen die Chance zu langem in Gebrauch. Dagegen spricht auch überhaupt eröffnen, ein eigenständiges Leben zu führen und aus nichts. Als politischen Kampfbegriff muss man ihn je- der Armut herauszukommen. Diese Leiter müssen wir doch, so meine ich, ablehnen, da er in der Tat nur dazu bereitstellen und vielleicht müssen wir auch einmal hel- führt, diejenigen, die sich ohnehin bereits ausgegrenzt fen, damit sie die Leiter tatsächlich hochkommen. fühlen, zusätzlich auch noch sprachlich auszugrenzen. Das alles ist längst überfällig. Deshalb sollten wir uns Mehrfach ist darauf hingewiesen worden, dass wir darauf verständigen, Kinder- und Jugendpolitik als zen- schon zwei Armuts- und Reichtumsberichte vorliegen trale gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Wir sollten 5528 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Wolfgang Spanier (A) in den nächsten Wochen und Monaten zu einem konkre- Dieses Milieu, das durch eine gewisse Hoffnungslo- (C) ten Handeln kommen. sigkeit und soziale Schwäche geprägt ist, bricht von Zeit zu Zeit aus. Ich denke da an das Beispiel der Rütli- Herzlichen Dank. Schule. Dort sind Jugendliche ausgebrochen, weil sie in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bezug auf ihren schulischen Werdegang ohne Perspek- der CDU/CSU) tive waren und gemerkt haben, dass sie gesellschaftlich am Rande stehen. Das ging übrigens einher mit der Ab- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lehnung von staatlichen Autoritäten und mit der Ten- denz, den demokratischen Bereich zu verlassen. Nächster Redner ist der Kollege Marcus Weinberg, CDU/CSU-Fraktion. In der Diskussion muss, wie es schon von fast allen (Beifall bei der CDU/CSU) Vorrednern angesprochen wurde, unter anderem eine moderne Bildungspolitik im Mittelpunkt stehen. In Deutschland haben wir jetzt endlich erkannt, welche Be- Marcus Weinberg (CDU/CSU): deutung frühkindliche Bildung und Vorschulbildung ha- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine ben, und sind über die Phase hinaus, die Schule als Re- Rede mag jetzt einige Punkte wiederholen, aber ich paraturbetrieb betrachten zu müssen. Wir müssen in glaube, dass es für einige im Saal das richtige Mittel ist, diesen Bereich investieren und die Bildungspyramide gewisse Dinge durch Wiederholung zu vertiefen. auf den Kopf stellen. (Zurufe von der CDU/CSU: Da hilft nichts! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Beratungsresistent!) neten der SPD) Die Kollegen vor mir haben es schon angesprochen, Das ist bisher nicht gelungen. Dabei besteht gerade für dass es für die Menschen in dieser Stadt tragisch ist, dass die Kinder aus diesem Milieu das Problem, dass sie von Ihre Partei weiterregiert, Frau Kipping. Entlarvend ist Anfang an nicht die Möglichkeit haben, sich aus dem doch: Das, was Sie hier reden, hat mit den Handlungen Teufelskreis zu befreien. Ihrer Partei in Berlin nichts gemein. Der Kollege Kurth von den Grünen hat bereits nachgewiesen, dass Sie die Wir müssen zudem über die Fragen sprechen, wie Kitagebühren erhöht haben und dass die Kinder in die man Kindertagesbetreuung und Grundschule besser ver- Kitas kommen, ohne gefrühstückt zu haben. Ich rate Ih- netzen und sie in einer Zukunftsoption verzahnen kann, nen, Frau Kollegin Kipping: Gehen Sie nach der Debatte wie man Grundschule und Sekundarstufe koppeln kann in Ihr Büro und rufen Sie eine Mitarbeiterin der Allge- und wie man Möglichkeiten schafft, dass die Menschen (B) meinen Sozialen Dienste hier in Berlin an! Fragen Sie von sich aus – oder gegebenenfalls mit staatlicher Unter- (D) die Dame, wie viel Zeit Sie denn hat, um sich um ein stützung – ihren Berufsweg einschlagen. Kind zu kümmern, welches die Hilfe zur Erziehung be- Was die Bundesregierung in dieser Frage gemacht kommt! Dann erleben Sie die Realität in Berlin. hat, ist richtig. Sie hat gerade bei der Ausbildung ange- (Zuruf von der CDU/CSU: Da regiert setzt: Jobstarter und Ausbildungspakt. Es muss der Rot-Rot!) Grundsatz gelten, dass kein Jugendlicher eine Bildungs- institution ohne einen Anschluss verlässt; kein Ab- Aber Sie verkünden hier vollmundig, was Sie meinen, schluss ohne Anschluss. im Bereich der Familienpolitik bewegen zu können. Ich halte das für falsch. Der zweite Bereich – das hat auch mein Vorredner deutlich gemacht – ist die Familienpolitik, die Jugend- Ich glaube, wir müssen als Fazit der Debatte zwei politik und die Jugendhilfe. Ich komme aus Hamburg. Dinge konstatieren: Zum einen geht es um Begriffsklar- Da gab es den Fall der kleinen Jessica, die zu Tode ge- heit und zum anderen um die Frage von Ursache und kommen ist. Wer so etwas einmal erlebt hat und ertragen Wirkung. Zur Begriffsklarheit: Meinem Vorredner musste, der weiß, was auf unser Land zukommen kann. stimme ich nicht in der Einschätzung zu, dass es heute Fälle dieser Art sind Einzelfälle, sie hat es immer gege- eine Unterschicht gibt. Natürlich gab es, in der histori- ben und wird es tragischerweise wohl auch immer ge- schen Betrachtung, Klassen und Schichten in Deutsch- ben. Aber dahinter besteht die große Gefahr, dass mehr land. Mittlerweile sprechen wir über Milieus. Das Mi- und mehr Kinder und Jugendliche vernachlässigt wer- lieu, über das wir heute sprechen, hat nicht die den. Wir müssen darüber diskutieren, wie wir über eine Formation einer Schicht. Zur Frage von Ursache und Vernetzung der Einrichtungen, die mit Kindern und Ju- Wirkung: Materielle Armut gab es in der Historie der gendlichen arbeiten, also über eine Vernetzung von Bundesrepublik tragischerweise schon immer. Doch da- Kitas, Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen, zu einer raus zu schließen, dass Hartz IV die Ursache für die Ent- engeren Kooperation kommen. Auf der politischen wicklung des genannten Milieus sei, ist schlichtweg Ebene werden das in naher Zukunft die Themen sein. falsch. Über die ökonomischen Betrachtungen wurde hier Wer – das hat mein Vorredner gesagt – die Frage auf- schon das eine oder andere gesagt. werfen will, wie man dieses Milieu wieder in die Gesell- schaft zurückholt, kommt zu den Themen Bildungspoli- Unter dem Strich bleibt: Begriffliche Klarheit, Ursa- tik und Kultur-, Jugend- und Familienpolitik als den che und Wirkung klar definieren! Hartz IV ist nicht die zentralen Ansätzen für politisches Handeln. Ursache. Hartz IV ist die Folge einer falschen Politik. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5529

Marcus Weinberg (A) (Beifall bei der CDU/CSU) (Rainer Brüderle [FDP]: Das hängt zusam- (C) men! – Dirk Niebel [FDP]: So was kommt von so was! Das ist Ergebnis der falschen Politik!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Bei Ihnen ist nicht spürbar, ob Sie als Partei eigentlich Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD-Fraktion. merken, dass es ein Signal an die Gesellschaft und auch an die Menschen in Armut, ohne Ausbildung und ohne (Beifall bei der SPD) Arbeit sein könnte, wenn Sie sagen würden: Wir von der FDP wissen, wie viele Selbstständige wir vertreten, die auf uns ihre Hoffnung richten. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Dirk Niebel [FDP]: Sie übersehen, dass uns Eine Aktuelle Stunde darf gerade beim Thema Armut sehr viele Arbeitslose wählen! Das sind die keine einmalige Stunde bleiben. Ich habe die ausdrückli- Arbeitslosen, die von Ihrer falschen Politik che Hoffnung – ich darf hier ja zum Schluss reden –, frustriert sind!) dass sich dieses Parlament in Kontinuität und ernsthaft Wir sind Treuhänder dafür, dass wir in diese Gruppe der mit diesen Fragen beschäftigt, wie in der Vergangenheit, Selbstständigen hinein die Botschaft geben: Überlegt so auch in Zukunft. einmal, zweimal, dreimal, ob ihr als diejenigen, die viel- fach kleine Betriebe – eins bis 20 Beschäftigte – führen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten noch eine Lehrstelle mehr mobilisieren könnt! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich komme auf das zurück, was unser sozialdemokra- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tischer Urvater Lassalle gesagt hat – manche werden es Das wäre ein soziales Anliegen der FDP. Das könnte ein wissen –: Am Anfang muss stehen: Sagen, was ist. – Signal sein, das Sie aus dieser Debatte geben. Vielleicht kann man es so sehen: Von Kurt Beck ist ein Stein ins Wasser geworfen worden, das hat uns gemein- Ich lasse Sie jetzt gern allein, bitte aber trotzdem da- sam dazu gebracht zu sagen, was ist. rum, dass Sie das in einer Armutsdebatte, die in einer Gesellschaft etwas bewegen soll, aufnehmen; denn wir In Klassenanalysen, in Schichtenanalysen und in stehen doch auch für Parteien, an die die Menschen Er- Polaritäten kann man ausdrücken, dass es in dieser Ge- wartungen und Wünsche haben. sellschaft natürlich Arm und Reich gibt – darüber muss man sprechen können –, dass es natürlich Oben und Un- Kollege Gysi, Ihnen will ich sagen: Der Hinweis (B) ten gibt – darüber muss man sprechen können – und dass „20 Prozent in Ostdeutschland, 4 Prozent in West- (D) es Dabei-Sein und Außen-vor-Sein gibt. Aber es gibt deutschland“ ist richtig. Aber ist das eine rein materielle auch Resignation und Hoffnung. Wenn wir es einfacher Betrachtung oder geht es auch um die Mentalität und die aussprechen, fühlen sich vielleicht auch mehr Menschen Hoffnung? Das schwingt bei Ihnen durch; aber ich bin angesprochen. Sie können von ihrem Parlament erwar- mir nicht sicher, ob Sie, wenn Sie den Anspruch haben, ten, dass es diskutiert, wie sie etwas ausdrücken und wie Betriebsrat, Sprachorgan derjenigen, die sich dort abge- sie etwas erleben. hängt fühlen, zu sein, wirklich so handeln, wie es Be- triebsräte tun: Sie sagen auch Wahrheiten; Ich möchte es so wenden, dass mindestens ich mich (Dirk Niebel [FDP]: Sind Sie eigentlich der durch das, was durch die Studie der Friedrich-Ebert-Stif- Lehrer, der hier die Noten für alle anderen ver- tung aufgeworfen worden ist, nicht nur das Ökonomi- teilt, oder was? Der Lehrer hat doch vorhin ge- sche, sondern auch das Mentale, wie sich Menschen füh- sprochen!) len, angesprochen fühle. Das muss dann in einem Parlament Ausdruck finden. Es muss dort seinen Nieder- sie sagen zum Beispiel, was sich verändert und wie man schlag in den Parteien finden. Wir alle hoffen: in diesem sich auf diese Veränderungen einstellen muss. Sie sagen Spektrum der Parteien und nicht in einem erweiterten den Leuten nicht nur, dass sie den Status des Opfers ha- Spektrum, das uns – wir haben es in den Ländern gese- ben, hen – droht. Deshalb ist es vielleicht nicht gut, hier nur (Beifall bei der SPD) im Dissens zu reden. Es ist gut, auch im Konsens zu de- battieren und sich zu fragen: Was haben wir denn ge- sondern sie gehen in diese Kreise der Bevölkerung und meinsam? Wo brauchen wir Unterschiedlichkeit, die, sagen den Menschen, wie sie – bei allen Schwierigkei- auch wenn sie letztlich wieder integriert und zusammen- ten; da will ich jetzt nichts schönreden – aus der Opfer- führt, Menschen, die sich abgehängt, resigniert, außen rolle in eine mitgestaltende Rolle kommen können. vor gelassen, arm fühlen oder erleben oder dies auch Wir finden, diese Erwartung muss an eine solche De- sind, Stimme gibt? batte geknüpft werden können. An die Politik besteht die Erwartung, dass Wahrheiten ausgesprochen werden, und Ohne dass das schulmeisterlich sein soll, will ich zu- mit ihr werden Hoffnungen verknüpft. Damit muss sich nächst gern in zwei Richtungen fragen. Bei Ihnen von die Politik selbstkritisch befassen. der FDP ist mir aufgefallen, dass Sie zu Armut sprechen sollten, aber über Systempolitik der FDP räsoniert ha- Ich will, weil das von uns erwartet wird, sagen, dass ben. wir in Bezug auf das Grundprinzip des Förderns und 5530 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) Forderns bei Hartz IV sicherlich keine Abstriche zu ma- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) chen haben. Wir müssen als Sozialdemokratie allerdings der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE sehr wohl überlegen, ob wir in Bezug auf die Weiterbil- GRÜNEN) dung, die Qualifizierung, die Umschulung, das Geben von Chancen zusammen mit den Grünen zu weit gegan- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gen sind und ob wir dort selbstkritisch in eine Revision, Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. in neue Überlegungen eintreten müssen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 5 a bis 5 c: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, Winfried Weil wir merken, dass Armut ein weit gespanntes Hermann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Feld ist, will ich umgekehrt fragen, ob wir tatsächlich tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN wissen, wie wichtig es ist, eine Wohnung zu haben, die bezahlbar ist. Wir sollten überlegen, ob wir gemein- Gestaltung einer ergebnisoffenen transparen- schaftlich, als neues Zentrum, Wohnungsbestände nicht ten Endlagersuche mit großer Öffentlichkeits- so sehr als Kapitalverwertung, als attraktiv für interna- beteiligung tionale Fonds, sondern als für die betroffenen Menschen – Drucksachen 16/1605, 16/2690 – wichtig sehen sollten. Sonst geht es ganz schnell nur noch um Finanzprodukte und REITs. Die Frage ist: Ist b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- uns der Mieterbund oder die Deutsche Börse wichtig? Josef Fell, Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) NISSES 90/DIE GRÜNEN Man muss die CDU/CSU natürlich fragen – obwohl Umgehend Konzept für eine ergebnisoffene Herr Weinberg das, wie ich finde, schon sehr differen- Standortauswahl für ein nationales Atommüll- ziert angesprochen hat –, ob wir bestimmte gemeinsame endlager vorlegen Grundprinzipien nicht zusammen vertreten können, bei- spielsweise die Bildung in Kindertagesstätten und Krip- – Drucksache 16/2790 – pen, statt sie negativ zu werten, als Unterstützung für Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) frühkindlichen Aufwuchs zu sehen. Das gilt auch für Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Bildung, Ganztagsschulen und längeres gemeinsames Ausschuss für Gesundheit Lernen. Ausschuss für Bildung, Forschung und (B) Technikfolgenabschätzung (D) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Herr Kollege, ich darf Sie an die Redezeit erinnern. richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): , Horst Meierhofer, weiterer Ab- Dies kann das Ergebnis einer solchen Debatte wer- geordneter und der Fraktion der FDP den, weil wir dann anders sprechen, weil wir uns dann vielleicht auch einen Ruck geben müssten, mehr mit den Offene Fragen zur Entsorgung radioaktiver Betroffenen zu sprechen. Ich habe einen Wunsch: dass Abfälle klären – Verantwortung für nachfol- die Kanzlerin beispielhaft – gende Generationen übernehmen – Drucksachen 16/267, 16/1462 – Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Berichterstattung: Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Christoph Pries Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Angelika Brunkhorst – bei einer Tafel, einem sozialen Dienst ist und zeigt, Hans-Kurt Hill wie man sich dem zuwendet. Sylvia Kotting-Uhl Außerdem möchte ich, dass wir ein Klima haben, – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich sehe dazu kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, ich muss Sie noch einmal an die Rede- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der zeit erinnern! Kollegin Renate Künast von der Fraktion des Bündnis- ses 90/Die Grünen. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): – in dem auch diejenigen, um deren Anliegen es geht, Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den Ton der Debatte mitbestimmen können. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frage, die sich angesichts eines atomaren Endlagers Danke schön. stellt, ist keine geringe. Sie lautet: Ob und wie kann man Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5531

Renate Künast (A) hoch radioaktiven Müll für mehr als 1 Million Jahre von Basis und unter Beachtung der möglichen veränderten (C) der Biosphäre fernhalten und damit Sicherheit schaffen? Nutzung durch den Menschen muss man ein sicheres Das ist die Frage, die jeder Wissenschaftler über alles Endlager schaffen. setzt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – An dieser Stelle könnte man sagen, das sprengt ei- Michael Kauch [FDP]: Was haben Sie denn in gentlich unser aller Vorstellungskraft. sieben Jahren Regierung gemacht?) Ich will einmal einen Vergleich mit den Pyramiden – Was wir in sieben Jahren Regierung gemacht haben, anstellen, um zu verdeutlichen, worum es geht. Diese werde ich Ihnen gleich erzählen. Ich bitte Sie, diese Bauwerke wurden vor sehr langer Zeit errichtet. Wir be- Frage nachher auch den SPD-Rednern zu stellen. wundern, dass sie nur unter Zuhilfenahme des Hebel- (Otto Fricke [FDP]: Das machen wir gerne!) prinzips gebaut wurden und nach so vielen Jahren noch existieren. Der Vergleich eines Endlagers mit den Pyra- Wir wissen ja – die FDP vielleicht nicht –, dass zu einer miden hinkt aber. Warum? Die Pyramiden existieren seit Koalition immer zwei gehören. ungefähr 5 000 Jahren. Die Aufgabe, vor der wir jetzt aber stehen, nämlich ein atomares Endlager zu errichten, (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Michael ist damit nicht zu vergleichen. Denn bei einem Endlager Kauch [FDP]: Manchmal auch drei!) geht es nicht um einen Zeitraum von 5 000, 10 000 oder – Ich weiß, in Zukunft gehören drei dazu. Vielleicht wer- 20 000 Jahren, sondern um einen Zeitraum von mehr als den Sie eines schönen Tages dazu gehören. 1 Million Jahren, in dem die Bausubstanz erhalten wer- den muss, um den hoch radioaktiven Müll sicher zu la- Die Argumente der Gegner spiegeln nicht die ganze gern. Wahrheit wider. Sie behaupten erstens, man habe bereits eine Lösung, und zweitens, es gebe eine sichere Lösung. Ich wundere mich, dass an dieser Stelle vonseiten der Ich will darauf hinweisen, dass beide Behauptungen Regierung keinerlei Vorlage kommt, obwohl die Haus- falsch sind. Der Salzstock in Gorleben und der Schacht aufgaben eigentlich schon alle gemacht sein müssten. Konrad für den mittelradioaktiven Müll sind nicht aus Das Ganze droht offenbar schon wieder im Klein-Klein Sicherheitserwägungen vorgeschlagen worden. Außer- und Koalitionshickhack zwischen Gabriel und Glos un- dem sind beide bis heute noch nicht endgültig auf ihre terzugehen. Tauglichkeit geprüft worden. Ich war vor Ort und habe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mich informiert. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Ich war Wenn die vorherige Bundesregierung unter grüner auch da!) (B) Beteiligung nicht den Atomausstieg organisiert hätte, (D) wäre das Problem heute noch viel größer. Wegen des Es wurde mir gesagt, diese Standorte seien noch nicht Atomausstiegs ist die Masse an hoch radioaktivem Ma- endgültig geprüft und man habe noch nicht einmal rich- terial relativ begrenzt. Wir werden aber endgültig im tig mit der Prüfung angefangen. Jahr 2030 ein Lager für hoch radioaktiven Abfall brau- chen, weil dann die Zwischenlagerung nicht mehr funk- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Wer hat tioniert. Wir werden auf der Basis des Atomausstiegs zu denn das Moratorium gemacht?) diesem Zeitpunkt 24 000 Kubikmeter hoch radioaktiven Beide Standorte sind aus ökonomischen Interessen Müll und 256 000 Kubikmeter schwach- und mittelra- vorgeschlagen worden. Der Schacht Konrad war finan- dioaktiven Müll haben. Die Grundlage für eine sichere ziell nicht mehr lukrativ. Deswegen gab es den Vor- Lagerung muss aber heute gelegt werden. Deswegen schlag, ihn zum Endlager umzufunktionieren. Die Re- frage ich: Herr Glos und Frau Merkel, wo bleibt die ent- gion Wendland und der Landkreis Lüchow-Dannenberg sprechende Vorlage? sind, was Arbeitsplätze anbelangt, schwach aufgestellt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb wurde dieser Vorschlag gemacht. Wir setzen aber auf einen offenen Prozess bei der Endlagersuche. Das ist keine einfache Aufgabe, zumal weltweit gesehen Dabei dürfen keine Rücksichten genommen werden. bisher noch kein genehmigtes Endlager existiert. Warum? Meine Sorge, wenn ich auf die Industrie blicke, ist, dass hier wieder nur Preisdrückerei passiert oder Wir wissen: Ein Endlager muss maximale Anforde- nach dem Sankt-Florians-Prinzip verfahren wird. Leute rungen erfüllen. Für den Schutz von Mensch und Um- wie Herr Koch oder Herr Stoiber wollen zwar Atom- welt muss es mehr als 1 Million Jahre Bestand haben. Es kraftwerke betreiben, sogar länger als der Konsens vor- muss sich um ein bestmögliches Endlager in tiefen geo- sieht, wenn es aber um das Suchen von Lagern geht, hei- logischen Formationen handeln. Um sicherzustellen, ßen sie alle Sankt Florian. Das Sankt-Florians-Prinzip dass keine Radioaktivität in die Biosphäre gelangt und lautet: Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, dass die Menschen damit nicht in Berührung kommen, zünd’ andere an. Ich sage Ihnen, wer Atomkraft will und muss man auf die Beschaffung der Oberfläche achten. behauptet, das sei kein Problem, ist der Erste, der in sei- Außerdem muss man beachten, wie die Nutzung dieses nem Bundesland auch eine Suche zulassen muss. Bereichs in 100 000 oder 200 000 Jahren aussehen könnte, wie die Klimaveränderungen sein werden und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf welchen Stand das Wasser steigen könnte. Kurz ge- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- sagt: Man muss alle Szenarien durchdenken. Auf dieser KEN) 5532 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Renate Künast (A) Ich vermute an der Stelle eine Preisdrückerei. Wa- Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): (C) rum Preisdrückerei? – Weil man natürlich das Interesse Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und hat, für die unabhängige Suche keine weiteren Gelder Herren! Die Debatte um die Errichtung von Endlagern auszugeben. Deshalb möchte man es am liebsten gleich für atomaren Müll in Deutschland dauert schon Jahr- beim Salzstock in Gorleben oder beim Schacht Konrad zehnte. Es scheint mir, dass dabei die Fakten leicht belassen. durcheinander geraten. Deshalb möchte ich zunächst einmal den Status quo feststellen: Ich sage Ihnen ganz klar, die Vorarbeiten sind ge- macht. Die Vorgängerregierung hat über den AkEnd Derzeit stehen als potenzielle Endlager zwei Stand- – national und international viel beachtet – Auswahlkri- orte im Mittelpunkt der Diskussion: für schwach- und terien vorgelegt. Sie wurden von Atomkraftgegnern und mittelradioaktive Abfälle der Schacht Konrad und für Atombefürwortern zusammen erarbeitet. Da geht es da- hoch radioaktive Abfälle das Erkundungsbergwerk Gor- rum, bis 2030 den bestmöglichen Standort zu haben. leben. Aus physikalischen Gründen brauchen die beiden Was ist der bestmögliche Standort? Das ist einer, bei Sorten Abfälle nämlich unterschiedliche Lagerbedingun- dem Sicherheit wirklich vor Finanzfragen oder anderen gen. ökonomischen Fragen geht; bei dem man auf der höchs- Wie der Präsident des Bundesamtes für Strahlen- ten Ebene der geowissenschaftlichen Erkenntnisse ist; schutz noch gestern im Umweltausschuss ausführte, gibt bei dem man ein bundesweites Auswahlverfahren durch- es im Schacht Konrad seit 1975 Voruntersuchungen; führt; bei dem klar ist, dass es eine Verursacherverant- 1982 wurde bei der zuständigen Behörde, dem nieder- wortung gibt. Das heißt, die Betreiber, die den Abfall er- sächsischen Umweltministerium, der Antrag auf Plan- zeugt haben, müssen die Suche und den Betrieb des feststellung gestellt; 1992/93 fand ein nach Aussage von Standortes finanzieren. Präsident König sehr aufwendiger Erörterungstermin mit (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ großer Öffentlichkeitsbeteiligung statt; 2002 erfolgte der DIE GRÜNEN) Planfeststellungsbeschluss durch den damaligen nieder- sächsischen Umweltminister Jüttner der Regierung Ein weiterer Punkt ist: Wir brauchen ein echtes Bür- Gabriel und bis März 2006 wurden die gerichtlichen An- gerbeteiligungsverfahren und am Ende die abschlie- fechtungen dieses Beschlusses vor dem OVG Lüneburg ßende Entscheidung durch den Deutschen Bundestag. verhandelt. Dies bestätigte den Planfeststellungsbe- Wir reden hier nicht über einen Komposthaufen, den schluss in vollem Umfang und wies alle Klagen ab. man nach Wochen oder Monaten einmal umgräbt oder an eine andere Stelle versetzt. Wir reden hier über hoch (Zuruf von CDU/CSU: Hört! Hört!) (B) radioaktiven, lebensgefährlichen Müll, der über 1 Mil- Gegen die Nichtzulassung der Revision liegen derzeit (D) lion Jahre gelagert werden muss. noch Klagen beim Bundesverwaltungsgericht vor. Soll- ten diese abgewiesen werden, könnte die Umrüstung des Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Schachtes zum Endlager erfolgen. Frau Kollegin, ich muss Sie auf Ihre Redezeit hinwei- Bundesumweltminister Gabriel hat in seiner Presse- sen! erklärung zum Urteil des OVG unmissverständlich ge- sagt, dass das Urteil des OVG ein Endlager sehr wahr- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): scheinlich mache, zunächst aber die Entscheidung über Das ist mein letzter Satz. die Revisionsnichtzulassungsbeschwerde abzuwarten sei. Das Letztere ist aus Respekt vor den Klägern und Ich bitte in Richtung Regierungsfraktionen an der dem Gericht selbstverständlich. Ich gehe davon aus, dass Stelle um eines: Beantworten Sie unsere Fragen hier in die Bundesregierung nach Vorlage des Urteils zügig han- der Debatte nicht so, wie Sie das in der Beantwortung delt. unserer Großen Anfrage getan haben. Bei 31 Fragen ha- ben Sie elfmal plump auf die Antwort zu Frage zwei ver- Nun zum Erkundungsbergwerk Gorleben. 1977 be- wiesen. Dort steht: schloss die Bundesregierung Schmidt, Gorleben als End- lagerstandort zu erkunden. Vorausgegangen waren ein Nach dem Koalitionsvertrag beabsichtigt die Bun- Auswahlverfahren der Bundesregierung, die 26 ver- desregierung, die Lösung der sicheren Endlagerung schiedene Standorte in Betracht zog, und eine Untersu- radioaktiver Abfälle zügig und ergebnisorientiert chung von mehr als 140 Salzstöcken durch die nieder- anzugehen. sächsische Landesregierung, die schließlich Gorleben Meine Damen und Herren, wir brauchen nicht den Ver- zur intensiven Erkundung vorschlug. Seit 1979 wird der weis auf die Antwort zu Frage zwei, sondern wir brau- Salzstock oberirdisch und seit 1986 auch unterirdisch chen endlich einen Gesetzentwurf, damit ab 2030 eine untersucht. 1979 fand zudem unter der Regierung sichere Lagerung möglich ist. Albrecht in Niedersachsen das Gorleben-Hearing zur Standortentscheidung statt. Das war eine aufwendige, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine Woche dauernde öffentliche Anhörung, die auch vom Niedersächsischen Landtag begleitet wurde. Seit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: 2000 ist die Erkundung durch das Moratorium, das im Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth Rahmen des Atomausstiegs vereinbart wurde, unterbro- für die CDU/CSU-Fraktion. chen, um so genannte Zweifelsfragen abzuarbeiten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5533

Dr. Maria Flachsbarth (A) Angesichts dieser Fakten mutet die Endlagerdebatte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) in Deutschland manchmal etwas irreal an. So wird da- neten der FDP) rauf verwiesen, es habe eine willkürliche Standortaus- Die Bundesregierung hat immer wieder betont, dass wahl gegeben und der Untersuchung hätten keine nach- es bis 2030 ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle vollziehbaren Kriterien zugrunde gelegen. Tatsächlich geben werde. Das ist auch deshalb erforderlich, da die aber haben die Bundesrepublik Deutschland und das Zwischenlager und die Castorbehälter lediglich für Land Niedersachsen verschiedene Standorte in Betracht 40 Jahre genehmigt sind und niemand wollen kann, dass gezogen. An den Standorten Schacht Konrad und sie über diesen Zeitpunkt hinaus Bestand haben. Wenn Gorleben ist seit mehr als 20 Jahren für ein Gesamtkos- noch andere Standorte erkundet werden sollen, so ist der tenvolumen von mehr als 2 Milliarden Euro erkundet Zeitpunkt 2030 für ein funktionierendes Endlager uner- worden. Kein Mensch konnte mir bislang erklären, wie reichbar. man so lange für so viel Geld Dinge untersuchen kann, ohne zu wissen, was man eigentlich untersucht. Der Vorschlag der Union lautet deshalb: Das Ver- suchsbergwerk Gorleben muss zügig zu Ende erkundet (Beifall bei der CDU/CSU) werden. Das dauert noch circa zwei bis drei Jahre. Da- In jüngster Zeit wurde immer wieder gesagt – wir ha- nach ist eine Langzeitsicherheitsanalyse in Vorbereitung ben es gerade wieder gehört –, man suche nicht einen ge- des Planfeststellungsverfahrens erforderlich. Die erho- eigneten Standort, wie es im Atomgesetz steht, sondern benen Daten müssen bewertet werden. Dafür ist – wie- den bundesweit bestmöglichen Standort. Man könnte ja derum nach Angaben von Präsident König von gestern – an zwei oder drei anderen Standorten ober- oder unterir- ein Zeitraum von acht bis zehn Jahren erforderlich. dische Erkundungen durchführen. Wer wollte dem ange- Das BfS unterstreicht in seinem Synthesebericht sichts einer Technologie, die tatsächlich besondere „Wirtsgesteine im Vergleich“ vom November 2005 aus- Sicherheitsanforderungen stellt, denn nicht spontan zu- drücklich, dass ein Nachweiskonzept für die Langzeitsi- stimmen? cherheit verfügbar ist und die Sicherheit eines möglichen Ich frage aber: Versprechen wir den Menschen nicht Endlagers nur mit standort- und anlagenspezifischen Si- etwas, was wir letztendlich gar nicht halten können? Ich cherheitsanalysen ermittelt werden kann. habe bislang von niemandem gehört, dass Alternativ- Dabei könnte der am 3. September 2006 in der „Welt untersuchungen in dem gleichen Umfang wie an den am Sonntag“ gemachte Vorschlag des Umweltministers, Standorten Gorleben und Schacht Konrad durchgeführt durch internationale Gutachter internationale Sicher- werden sollen. Der Präsident des BfS nannte gestern im heitsstandards anlegen zu lassen, helfen, eine Analyse, Ausschuss einen erforderlichen Zeitraum von lediglich die Entscheidungsgrundlage für die Politik sein kann, zu (B) (D) fünf bis sechs Jahren. Wie können diese Daten dann aber erhalten. Machen wir uns nichts vor: Entscheiden und vergleichbar sein mit denen, die über 20 Jahre an den die politische Verantwortung für die Auswahl des Endla- beiden bislang intensiv untersuchten Standorten erhoben gers übernehmen muss der Deutsche Bundestag. Dazu worden sind? sind wir Abgeordnete der großen Koalition – ich ver- Und wenn doch intensiver untersucht werden soll: weise auf unseren Koalitionsvertrag – bereit. Wer soll das finanzieren? Das Atomgesetz sieht in § 21 b Sollte die Langzeitsicherheitsanalyse für Gorleben vor, dass der notwendige Aufwand zur Suche, zur Er- sprechen, dann sollten wir uns für Gorleben entscheiden. richtung und zum Betrieb von Endlagern von den Kraft- Spricht sie gegen diesen Standort, so muss selbstver- werksbetreibern zu leisten sei. Ist aber die Suche nach ständlich ein anderer Standort gesucht werden. einem alternativen Endlager notwendiger Aufwand? (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das OVG Lüneburg hat in seinem Urteil zum Schacht NEN]: Dann können wir gleich damit anfan- Konrad festgestellt, dass ein Mangel nicht darin bestehe, gen!) „dass alternative Standorte nicht umfassend und verglei- chend untersucht worden sind. Ein derartiges Standort- Erst danach beginnt das Planfeststellungsverfahren, das suchverfahren ist nach den geltenden atomrechtlichen im Fall von Schacht Konrad 20 Jahre gedauert hat und Bestimmungen nicht vorgesehen.“ bei dem selbstverständlich eine umfangreiche Beteili- gung der Öffentlichkeit vorgesehen ist. Dann wird der Wenn man nun dennoch verschiedene Standorte ein- Planfeststellungsbeschluss sicherlich noch einmal ge- gehend untersuchen würde – in Deutschland kommen richtlich überprüft werden. Das Zieldatum 2030 ist aus wohl nur Ton- und Salzbergwerke infrage –, käme man meiner Sicht ohnehin kaum noch zu erreichen. auch dann nicht zu einer eindeutigen Aussage. Für ei- Doch das soll uns nicht daran hindern, den vorge- nige Anforderungen der atomaren Endlagerung ist Ton schlagenen Weg zu gehen. Sorgfalt und Sicherheit gehen besser geeignet und für andere Salz. Selbst wenn man dabei vor Termindruck. Doch wir sollten jetzt zügig an zwei Salzstandorte miteinander vergliche: beim einen ist der Lösung der Probleme arbeiten, auch um der Bevöl- die Ausdehnung des Salzstocks besser, beim anderen kerung vor Ort endlich Sicherheit hinsichtlich der Pla- seine tiefe Lage unter der Oberfläche, beim dritten seine nungen der Politik zu geben. Abdeckung, also das so genannte Deckgebirge. Ange- sichts dessen kann man nicht sagen, der eine Standort ist Die Bevölkerung in Gorleben und der Samtgemeinde am besten geeignet. Man kann nur sagen, ob ein Standort Gartow trägt seit über 30 Jahren an ihrer Bereitschaft, geeignet ist oder nicht. möglicherweise ein nationales Endlager bereitzustellen. 5534 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Maria Flachsbarth (A) Bei jedem Castortransport führen großenteils angereiste Äußerst dringlich ist den Liberalen natürlich die Lö- (C) Demonstranten zu teilweise erheblichen Behinderungen sung des Problems der Endlagerung der hoch radio- des öffentlichen Lebens. Dennoch haben die Gemeinde aktiven Abfälle, auch wenn diese insgesamt gerade ein- Gorleben und die Samtgemeinde Gartow im Herbst 2005 mal 10 Prozent aller radioaktiven Abfälle ausmachen. in einem Brief an die Verhandlungsführer der großen Die Menge von etwa 25 000 Kubikmeter wurde genannt. Koalition gefordert, die Erkundung zügig fortzusetzen. Ich denke, trotz alledem stellt sich die Sachlage so dar, Die kommunalen Mehrheitsverhältnisse, die diesen dass die Untersuchungen im Erkundungsbergwerk Brief tragen, sind bei der Kommunalwahl vor drei Wo- Gorleben bereits weit fortgeschritten sind. Die Situation chen eindrucksvoll bestätigt worden. wurde ja so dargestellt, als wäre überhaupt noch nichts passiert. Wir sollten uns unserer nationalen Verantwortung für die sichere Endlagerung radioaktiver Abfälle stellen, die Deswegen möchte ich sie hier noch einmal darstellen. Lösung dieser Frage zügig und ergebnisorientiert ange- Das Erkundungsbergwerk Gorleben besteht seit 1977. hen und noch in dieser Legislaturperiode zu einem Er- Zwei Drittel aller anstehenden Arbeiten sind bereits erle- gebnis kommen, so, wie der Koalitionsvertrag es vor- digt. In Gorleben wird eine Konditionierungsanlage ge- sieht. prüft und dort wird zwischengelagert. Die finanziellen Aufwendungen sind von der Kollegin Flachsbarth be- Herzlichen Dank. reits genannt worden. Sie liegen mittlerweile bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 2 Milliarden Euro. Dort ist also schon einiges geleistet neten der SPD) worden, nicht nur wissenschaftlich, technisch und von der Expertise her, sondern auch finanziell. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Deswegen ist es für mich unerklärlich, dass Sie, Herr Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika Gabriel, am Moratorium festhalten. Denn wir haben die Brunkhorst, FDP-Fraktion. so genannten zwölf Zweifelsfragen, die vom damaligen Umweltminister Trittin in Auftrag gegeben wurden, ab- (Beifall bei der FDP) gearbeitet und 2005 als geklärt bewertet. (Beifall bei der FDP) Angelika Brunkhorst (FDP): Frau Präsidentin! Sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bündnis 90/ Ich muss mich wirklich wundern. Frau Künast, ich emp- Die Grünen, Sie reklamieren in Ihrem Antrag Transpa- fehle Ihnen dringend, die Chronologie zu lesen, die vom renz. Das finde ich gut, aber auch erstaunlich, weil Sie (B) BfS im Jahr 2005 in dem Bericht „Endlagerung radio- diejenigen sind, die im September 2005, als es darum (D) aktiver Abfälle als nationale Aufgabe“ erstellt wurde. ging, das Ergebnis der Klärung dieser zwölf Zweifelsfra- Dort werden Sie Antworten darauf finden, wonach Sie gen offen und transparent darzustellen, einen Workshop heute gefragt haben. Herr Trittin – dahinten sitzt er – hinter verschlossenen Türen gemacht haben. muss ja ständig zusammengezuckt sein; (Michael Kauch [FDP]: Aha! – Renate Künast (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollten Die Entscheidung trifft nicht das BfS!) Ihnen nicht das Wahlkampfargument geben! Was war denn noch im September 2005? Sie denn Sie haben hier die Hinterlassenschaft Ihrer Politik sind nur neidisch, dass Sie nie regieren dür- kritisiert. Das haben Sie gerade getan und nichts anderes. fen!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten – Aha, so war das. der CDU/CSU und der LINKEN) Als Stand der Dinge ist zu konstatieren: Die Bewer- Kommen wir zum Thema. Wir brauchen endlich eine tungen der Experten von GRS, DBE und BGR fallen so Lösung für das Problem der Lagerung der bereits in er- aus, wie es auch gestern von Herrn König, dem Präsi- heblichem Maße angefallenen radioaktiven Abfälle. Das denten des BfS, bestätigt wurde – das wiederhole ich na- ist allen im Hause klar. Ich denke, dass wir eine baldige türlich gerne –: dass die grundsätzliche Eignungshöffig- Endlagerung für die schwach- und mittelradioaktiven keit des Salzstockes Gorleben Abfälle in Sicht haben. Sie ist greifbar nahe. Denn wir (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die „grundsätz- haben bereits einen Planfeststellungsbeschluss für den liche“!) Schacht Konrad. Dieser Planfeststellungsbeschluss ist unter der Ministerpräsidentschaft von Herrn Gabriel in nicht infrage zu stellen ist und die fachliche Aussage der Niedersachsen entstanden. Es stehen natürlich noch ei- Experten weiterhin Bestand hat, dass es aus wissen- nige rechtliche Beschwerden aus. Aber ich habe die schaftlicher Sicht überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür Hoffnung, dass das Verfahren Ende des Jahres abge- gibt, eine der in Deutschland vorkommenden Wirtsge- schlossen sein wird. Dann können wir unter Umständen steinformationen – Granit, Ton und Salz – zu favorisie- Anfang nächsten Jahres mit dem Bau von Schacht ren. Konrad beginnen. Ich bin in dieser Hinsicht sehr zuver- sichtlich. (Ulrich Kelber [SPD]: Das vollständige Zitat! Alle Teile bitte! – Renate Künast [BÜND- (Beifall bei der FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja eine tolle Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5535

Angelika Brunkhorst (A) Nummer! Auf anderen immer herumhacken, setz in die Diskussion eingebracht. Damals ist das (C) aber selber nicht zu Ende lesen können! Wol- Endlagersuchgesetz auch am Widerstand aus den Reihen len Sie nicht oder können Sie nicht?) der SPD gescheitert. Ich möchte aus Sicht der Liberalen an Herrn Minister (Ulrich Kelber [SPD]: Was?) Gabriel appellieren: Das „Moratorium Gorleben“ muss Ich denke, dass uns diese Diskussion im Moment über- aufgehoben werden. Dieser Schritt ist längst überfällig. haupt nicht weiterbringt und sie eine reine Verzöge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rungstaktik ist. Den Gegenwind aus dem Koalitionsaus- der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Er hat schuss haben Sie bereits verspürt. auch gesagt, es spricht nichts für die Eignung von Gorleben!) Wir meinen, dass die Erkundung weiterer Standorte erst dann notwendig und sinnvoll ist, wenn sich nach der – Drei Mitglieder Ihrer Fraktion werden zu diesem Ta- Beendigung der Erkundungsarbeiten in Gorleben auch gesordnungspunkt sprechen. Sie können dann auf meine nur der geringste Zweifel an der Eignung dieses Stand- Ausführungen eingehen. orts ergibt. In diesem Fall – hier kann ich meiner Vorred- nerin nur zustimmen – werden wir mit der Suche nach (Ulrich Kelber [SPD]: Ja! Er hat aber auch ge- einem neuen Standort beginnen müssen. Herr Gabriel, sagt, dass nichts für den Standort Gorleben diese politisch hoch brisante Diskussion werden wir füh- spricht! Das muss doch als Zwischenruf er- ren müssen. Die Bürger jeder potenziellen Suchortge- laubt sein!) meinde werden natürlich mit Recht fordern: Macht erst – Wenn wir den Salzstock Gorleben weiter erkunden, einmal das zu Ende, was noch offen ist. Sie werden fra- werden wir sehen, ob er geeignet ist. Wir wollen ihn gen: Warum fangt ihr an anderen Standorten an, obwohl doch auch weiterhin erkunden, Herr Kelber. ihr den einen noch nicht einmal abschließend bewertet habt? (Dr. Uwe Küster [SPD]: Der Herrgott erhalte die Scheuklappen! Denn dann muss man nicht Schauen wir uns die geologische Landkarte von so viel sehen!) Deutschland an: 80 Prozent der potenziellen Wirtsge- steinformationen liegen in Niedersachsen. Einige we- Herr Gabriel hat in den letzten Stellungnahmen, die er nige liegen in Nordrhein-Westfalen, einige wenige in im Umweltausschuss abgegeben hat, formuliert, dass Baden-Württemberg und wenige in Bayern. Die Odyssee noch Handlungsbedarf besteht. Er hat einen weiteren bei der Suche nach einem alternativen Standort ist also Synthesebericht angefordert und gesagt, dass er weitere nicht zu rechtfertigen, solange die Untersuchung von Sicherheitskriterien aufstellen möchte. Gorleben nicht abgeschlossen ist. (B) (D) Diese Aussagen sind für uns nebulös. Daher hake ich (Beifall bei der FDP) jetzt an einer Stelle nach, an der Frau Flachsbarth bereits sehr weit in die Tiefe gegangen ist: Wir untersuchen das Ich wünsche mir für die Zukunft – ich denke, da bin seit 20 Jahren und haben auch wissenschaftlichen Sach- ich nicht alleine –, dass wir mehr wissenschaftlichen verstand einfließen lassen. Es wird doch wohl irgend- Nachwuchs für den kerntechnischen und sicherheitstech- welche Sicherheitskriterien gegeben haben. Es kann nischen Bereich ausbilden und ihm auch die Chance ge- doch nicht ohne jegliche Basis und ohne Anforderungen ben, sein Wissen anzuwenden. Das wird sicherlich zu geforscht worden sein. Es geht um Sicherheitsaspekte. mehr Sicherheit führen. Das gilt für die letzten 20 Jahre, für heute und natürlich auch für die Zukunft. Worum soll es denn sonst gehen? Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Gabriel, da Sie Ihre Rede gleich im Anschluss Frau Kollegin, ich muss Sie auf Ihre Redezeit auf- halten, möchte ich Sie ganz ernsthaft bitten – das ist merksam machen. keine Polemik –, deutlich zu machen, was ganz konkret noch fehlt Angelika Brunkhorst (FDP): (Rainer Brüderle [FDP]: Der Mut fehlt!) Ja, Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Die Entsorgungsfrage wurde in den letzten Jahren ver- und welche Erkenntnisse, über die wir heute noch nicht schleppt, zulasten nachfolgender Generationen. Herr Mi- verfügen, wir vielleicht daraus werden ziehen können. nister Gabriel, ich appelliere an Sie – wir werden das Ich bin gespannt. ständig wiederholen, das verspreche ich Ihnen –: Been- Manche Vorhaben, die Ihr Vorgänger, Herr Trittin, in den Sie das und zeigen Sie den Mut, konkrete Schritte Angriff genommen hat, sind noch nicht abgearbeitet. einzuleiten! Der AK-End-Bericht zum Beispiel ist unter Herrn (Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜND- Trittin und auch unter der jetzigen Regierung noch nicht NIS 90/DIE GRÜNEN]: Zeigen Sie doch ein- abschließend bewertet worden. Das muss nachgeholt mal Mut!) werden, um eine umfassende Bewertung vornehmen zu können. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Trittin konnte sich im Hinblick auf ein End- Bevor ich nun das Wort dem nächsten Redner erteile, lagersuchgesetz in der rot-grünen Koalition nicht durch- will ich darauf hinweisen, dass, wie ich gerade sehe, setzen. Sie, Herr Gabriel, haben nun ein Standortsuchge- zwei Kollegen aus der Fraktion Die Linke Embleme 5536 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) tragen, die diesem Saal, dieser Diskussion und diesem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) Haus nicht angemessen sind. DIE GRÜNEN) (Rainer Brüderle [FDP]: Hakenkreuze tragen Ich glaube, dass die Recht haben. Ich glaube, dass die die! Unglaublich!) Bürgerinnen und Bürger in Baden-Württemberg einen Anspruch darauf haben, dass wir uns dafür einsetzen. Ich Ich bitte Sie, Ihre Zeichnungen mit dem durchgestriche- habe gehört, die Schweizer wollen das auch so machen. nen Hakenkreuz abzunehmen. Doch warum soll das nur für die Baden-Württemberge- Nun erteile ich für die Bundesregierung das Wort dem rinnen und Baden-Württemberger gelten? Das muss Bundesminister Sigmar Gabriel. doch für alle Deutschen gelten. Man muss einen Stand- ort nach bestem Wissen und Gewissen wählen, es sei Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- denn, man hat einen Geheimplan, Frau Brunkhorst, der schutz und Reaktorsicherheit: lautet: Ich will nicht mit diesem Problem belastet wer- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das den. Denn natürlich ist es ganz schwierig, jemandem zu Thema, das uns heute beschäftigt, ist in der Tat ebenso erklären, dass bei ihm vor der Tür nach einem geeigne- schwierig zu lösen, wie es umstritten ist. Um bei Frau ten Standort gesucht wird. Das ist für jeden, der in der Brunkhorst anzufangen: Wissen Sie, es kommt immer Politik ist, für jeden Kommunalpolitiker ganz schwierig, darauf an, wie man fragt. Wenn man jemanden fragt: und zwar überall. „Bist du einverstanden damit, dass man bei dir zu Hause Wenn man dem entgehen und das Problem sozusagen nach einem Endlagerstandort sucht?“, sagen in der Regel loswerden will, dann kann man nach dem so genannten hundert Prozent der Betroffenen: Nein. Sankt-Florians-Prinzip handeln: Heiliger Sankt Florian, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verschon’ mein Haus, zünd’ andere an. Wenn das ausge- NEN]: Das ist schon einmal klar!) rechnet diejenigen tun, die sich für den Ausbau der Kernenergie einsetzen, dann wird es schwierig. Ich Wenn man dagegen fragt: „Bist du der Auffassung, dass glaube, deswegen müssen wir uns etwas redlicher mit man den geeignetsten Standort für ein Endlager suchen der Frage auseinander setzen. muss?“, sagen der letzten Umfrage zufolge mehr als zwei Drittel der Befragten: Ja, natürlich müsst ihr Alter- Frau Kollegin Künast, bei aller inhaltlichen Sympa- nativen vergleichen. thie für das, was Rot-Grün dort diskutiert hat: Ich fand es ein bisschen mutig, als Sie vorhin gesagt haben, dass wir Eigentlich sagt einem der gesunde Menschenver- immer noch kein Endlagerkonzept vorgelegt haben. stand, dass man sich nicht auf einen Standort verlassen 1998 haben Sie dem AK End einen Auftrag erteilt. 2002 (B) kann. wurde Ihnen der Bericht übergeben. Auch nach drei wei- (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ teren Jahren haben Sie sich noch nicht in der Lage gese- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hans-Kurt Hill hen, ein solches vorzulegen. Ich mache Ihnen das übri- [DIE LINKE]) gens nicht zum Vorwurf. In Ihrer Rede sagten Sie vorhin, dass das an der Koalition lag, weil es mit den Sozialde- Ich sage gleich etwas dazu, was die internationale Ge- mokraten so schwierig gewesen sei. meinschaft in dieser Frage denkt. Überlegen Sie einmal: Da wird in den 70er-Jahren angefangen, einen Standort (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: auf Eignung zu prüfen – mit Wissenschaft und Technik Das muss man einmal sagen dürfen!) auf dem Stand der 70er-Jahre –, einen Standort, an dem – Das darf man sagen. Wenn es aber in Ihrer Koalition hoch gefährliche Stoffe für 500 000 bis 1 Million Jahre, drei Jahre lang schwierig war, dann darf es in der Koali- jedenfalls für einen unvorstellbar langen Zeitraum, si- tion von SPD und CDU/CSU mindestens elf Monate cher abgeschlossen werden sollen. Gerade haben Sie ge- lang schwierig sein. Ich finde, Sie müssen die Elle bei sagt: Es gibt kein Wirtsgestein, das besonders gut geeig- allen gleich anlegen. net ist. Dann ist es doch nur logisch, verschiedene Wirtsgesteine zu prüfen, um sagen zu können, welches (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Renate nach menschlichem Ermessen der sicherste Ort ist, um Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber radioaktive Abfälle einzulagern. Das ist eine Frage der dann! Kommt es jetzt? Die SPD hatte jetzt vier Logik, mehr nicht. Jahre lang Zeit zum Überlegen!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie wissen, dass das ein schwieriges Thema ist. Wir DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der versuchen, das so schnell wie möglich inhaltlich zu klä- LINKEN) ren. Um nur einmal etwas zur Zeitdauer zu sagen: Ich hoffe, dass alle wissen, dass wir vor 2030 auch wegen Wissen Sie, wer das auch logisch findet? Die Vertre- der notwendigen Abklingphase von Brennelementen terinnen und Vertreter aller Parteien aus Baden- selbst dann nicht zur Einlagerung von hoch radioaktiven Württemberg – auch der FDP –, die uns, die Bundesre- Stoffen kommen könnten, wenn wir vorher ein Endlager gierung, auffordern, sich dafür einzusetzen, dass die hätten. Schweiz, die ein Endlager an der Grenze zu Baden- Württemberg plant, sich ja nicht auf den ins Auge ge- Frau Kollegin Flachsbarth, an Ihrer Argumentation ist fassten Standort festlegt, bevor sie alternative Standorte eine Sache nicht ganz logisch. Darüber müssten Sie noch daraufhin geprüft hat, ob sie nicht besser geeignet sind. einmal diskutieren. Sie sagen, dass Sie Gorleben zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5537

Bundesminister Sigmar Gabriel (A) Ende erkunden und dann zehn Jahre lang eine Langzeit- Zu Gorleben. Im Jahre 1974 wurde von der Bundes- (C) untersuchung durchführen wollen. Wenn Sie dann fest- regierung das Konzept eines nuklearen Entsorgungszen- stellen, dass Gorleben nicht geeignet ist, wollen Sie da- trums vorgestellt. An einem Ort sollten Wiederaufberei- mit beginnen, einen alternativen Standort zu suchen. tung, Brennelementefabrik, Konditionierungsanlagen und Hierdurch ist eines sichergestellt: Bis 2030 schaffen Sie Endlager konzentriert werden. In mehreren Auswahlver- das mit Ihrem Konzept niemals. Wir sind da auf der si- fahren wurden unter Zugrundelegung nach heutigen chereren Seite. Hier ist ein Bruch in der Logik. Maßstäben sehr einfacher Kriterien – das ist die Antwort auf Ihre Frage, Frau Brunkhorst – verschiedene Stand- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten orte geprüft. Die Standortauswahl bezog sich dabei des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – eben nicht auf ein Endlager, sondern auf ein Gelände für Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Nein, Sie das geplante nationale Entsorgungszentrum in der Größe sind nicht schneller!) von circa 12 Quadratkilometern. Wie weit sind wir? Im Jahre 1976 wurde vorgeschlagen, die Standorte Erstens, insbesondere an die Kollegin Künast gerich- Weesen-Lutterloh, Lichtenhorst und Wahn im Auftrag tet: Wie von mir angekündigt, hat das Bundesumwelt- des Bundes gleichzeitig und gleichrangig zu untersu- ministerium den Spitzen der Koalition in diesem Som- chen. Damals war man der Meinung, man müsse Stand- mer – jedenfalls dann, wenn man den September noch orte gleichzeitig gegeneinander abgleichen. zum Sommer zählt – ein Konzept zur Umsetzung eines (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- Endlagers in Deutschland zugeleitet. Die Tatsache, dass NIS 90/DIE GRÜNEN]) Sie das noch nicht haben, spricht für die Qualität der ver- trauensvollen Zusammenarbeit in der großen Koalition Das war die Position der Bundesregierung. Gorleben und nicht gegen sie. Das wollte ich vorsichtshalber nur war damals nicht dabei. Nachdem es an allen drei Stand- einmal anmerken. orten zu Protesten gegen die Erkundung kam, wurden noch 1976 die Arbeiten aufgrund von Bedenken der nie- Zweitens. Dieses Konzept wird jetzt durch die Koali- dersächsischen Landesregierung eingestellt. Niedersach- tionsspitzen beraten. sen benannte dann später Gorleben als Standort. Schon damals war Gorleben nicht erste Wahl. Drittens. Das Konzept wurde übrigens unabhängig von der aktuellen Laufzeitdebatte geschrieben, formu- Der Entscheidung für Gorleben liefen Entscheidun- liert und diskutiert. Sie werden Verständnis dafür haben, gen mit Standortalternativen voraus, die nicht transpa- dass ich darauf Wert lege. rent waren und sich nur, Frau Brunkhorst, auf ganz we- nige sicherheitsbezogene Kriterien stützten und nicht (B) Eine Randbemerkung zu Schacht Konrad, bevor ich (D) aufgrund von vorher systematisch festgelegten Auswahl- noch etwas zur Kontroverse um Gorleben sage. Sie wis- und Sicherheitskriterien erfolgten. Bei der Auswahl Gor- sen, dass ich auch aufgrund meiner Biografie nicht ge- lebens kommt hinzu, dass nicht allein ein Standort für rade der Vorsitzende des Fanclubs von Schacht Konrad ein Endlager gesucht wurde, sondern die Suche ging, bin. Ich finde es allerdings ein bisschen problematisch, wie gesagt, weit darüber hinaus. wenn sich ein Mitglied der früheren Regierung, der Re- gierung, die Schacht Konrad nach bestem Wissen und Ich sage Ihnen: Mit den damals angelegten Kriterien Gewissen über die zuständige Behörde vorangetrieben für die Auswahl von Gorleben wäre heute das Prozessri- und uns mit Weisungen dazu gebracht hat, dass wir den siko enorm hoch, wenn wir versuchen würden, Gorleben Planfeststellungsbeschluss am Ende gefasst haben, jetzt auf Teufel komm raus durchzusetzen. hier hinstellt und sagt, der Beschluss hinsichtlich (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- Schacht Konrad sei auf problematische Weise zustande NIS 90/DIE GRÜNEN]) gekommen. Das würde ich nicht tun. Wer 2030 ein Endlager haben will, der muss bereit sein, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Konsequenzen zu ziehen und – jetzt kommt es – in- Ich muss Schacht Konrad weniger verteidigen als Sie. ternationale Standards für die Auswahl eines Endlager- Jetzt gilt aber eines – darauf hat Frau Dr. Flachsbarth standorts zugrunde zu legen. Das ist mein Vorschlag. hingewiesen –: Es gibt einen Gerichtsbeschluss und eine Nichtzulassungsbeschwerde dagegen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Minister, Sie haben Ihre Redezeit zwar schon NEN]: Jetzt musst du aber auch einmal sagen, knapp überschritten. Gestatten Sie gleichwohl eine Zwi- wie es weitergeht!) schenfrage der Kollegin Brunkhorst?

Wenn darüber entschieden ist, dann wird sich die Bun- Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- desregierung ohne weitere Verzögerung exakt so verhal- schutz und Reaktorsicherheit: ten, wie uns das dann durch den Gerichtsbeschluss vor- Gerne. geschrieben wird. Das könnten Sie auch nicht anders tun. Angelika Brunkhorst (FDP): (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Herr Minister, es geht mir wirklich darum, diese FDP) Dinge zu verstehen. Deswegen möchte ich Sie einfach 5538 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Angelika Brunkhorst (A) bitten – das habe ich auch vorhin klar gemacht –: Sagen zwischen viel zu viele entweder auf ein Ja oder Nein zu (C) Sie mir doch einmal, welch tiefer gehendes Kriterium, Gorleben festgelegt. das Sie auf Anhieb benennen können, fehlt. Ich möchte das gerne nachvollziehen. Auch ich diskutiere mit Ex- Ich bin sogar dann bereit, Gorleben in Betrieb zu neh- perten. Diese sagen mir, sie könnten nicht erkennen, ob men, wenn es auch nur gleich gute Endlager an anderer wir heute bei einer Suche auf der Grundlage von be- Stelle gibt, weil in Gorleben das meiste Geld investiert stimmten Kriterien zu anderen Ergebnissen kämen. worden ist. Aber ich finde es fahrlässig, sich in einer Frage, bei der es um 1 Million Jahre geht, auf einen 1977 Ich möchte Sie auch etwas zur Standortsuche fragen, ausgewählten Standort zu beschränken. Das halte ich die damals im Vorlauf zu Gorleben stattgefunden hat. – das sage ich offen und von Herzen; es ist kein politi- Damals sind 140 Standorte untersucht worden. Zudem scher Trick – für unverantwortlich. Sie werden keinen erfolgte die Suche bundesweit und nicht nur in Nieder- niedersächsischen Sozialdemokraten finden, der sich in sachsen. Ich bitte Sie, das zu berücksichtigen. Der Be- der Vergangenheit bereit erklärt hätte, Gorleben selbst richt des Bundesamtes für Strahlenschutz ist wirklich dann, wenn andere Standorte nur gleich gut geeignet hochinteressant. All das, was ich gerade genannt habe, sind, in Betrieb zu nehmen. Bisher sind wir immer vom steht dort. Burden-Sharing ausgegangen oder wie der Bauer sagt: Der Mist gehört auf den Bauernhof, auf dem die Kühe (Ulrich Kelber [SPD]: Außer dem, was Sie stehen. Deswegen waren wir in der Vergangenheit dafür, nicht zitieren!) dass auch andernorts ein Endlagerprojekt betrieben wird.

Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- Wenn wir gleich geartete Standorte finden, wird schutz und Reaktorsicherheit: Gorleben ausgewählt. Aber wir müssen die Standorte Frau Brunkhorst, es geht darum, dass vor der Aus- untersuchen. Die Frage ist in der Koalition strittig. Frau wahl des Standortes die Auswahl- und Sicherheitskrite- Professor Dr. Flachsbarth hat die Lage völlig richtig ge- rien sowie das Verfahren, nach dem geprüft wird, festge- schildert. legt werden müssen. Auch die internationalen Standards, (Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Sie haben sie die heute gelten, müssen berücksichtigt werden. All das habilitiert!) ist damals nicht passiert. – Habe ich sie gerade habilitiert? Als Antwort auf Ihre Frage möchte ich auf die Auf- forderung der Internationalen Atomenergiebehörde zu (Zuruf der Abg. Dr. Maria Flachsbarth [CDU/ sprechen kommen. Deutschland hat die so genannten CSU]) „Safety Requirements: Geological Disposal of Radioac- – Ich finde, Sie haben es verdient. (D) (B) tive Waste“ unterschrieben. Im Mai des Jahres 2006 ha- ben wir von der IAEO einen Bericht bekommen, in dem (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) wir aufgefordert werden, entsprechend der Konvention, Ich habe aber leider nicht die Möglichkeit dazu. der wir beigetreten sind, in einem so genannten zweiten Überprüfungsbericht zu diesem Übereinkommen klare Ich weiß, dass die Frage strittig ist, Frau und transparente Kriterien für die Standortauswahl und Dr. Flachsbarth. Ich wollte versuchen zu erläutern, wa- ein Standortauswahlverfahren entsprechend der Praxis in rum wir glauben, dass wir so vorgehen müssen. anderen Ländern mit fortgeschrittenem Endlagerpro- gramm festzulegen. Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Kaum ein Land der Erde verzichtet bei der Suche nach einem ge- Dies interpretiere ich so: Die IAEO ist der Auffas- eigneten Endlagerstandort für radioaktive Abfälle auf sung, dass wir den internationalen Kriterien mit dem, ein Standortauswahlverfahren und einen Standortver- was wir 1976 für Gorleben getan und bis dahin entwi- gleich. Das ist internationaler Standard. Ich finde, dass ckelt haben, nicht gerecht geworden sind. Wir haben sich das Land, das technologisch auf dem höchsten aber dazu einen Vertrag unterschrieben. In dieser Situa- Stand ist und die entsprechende Verantwortung empfin- tion befinden wir uns und das ist meine Antwort auf Ihre det, dem internationalen Standard beugen sollte. Frage. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ LINKEN) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin bereit, im Umweltausschuss detailliert darzu- legen, was noch an Kriterien fehlt und wo wir die Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Schwierigkeiten sehen. Ich sage Ihnen noch etwas: Ich Nachdem die beiden Kollegen aus der Fraktion Die bin nicht dagegen, Gorleben nicht weiter zu erkunden. Linke meiner vorherigen Bitte nicht gefolgt sind, will Allerdings muss dies unter der Voraussetzung gesche- ich diese wiederholen und sie auch begründen. hen, dass wir zeitgleich die alternative Standortsuche nach gemeinsamen und internationalen Kriterien begin- Liebe Kollegen, dieser Raum ist ein Ort, an dem wir nen. Ich bin dafür, dass die weitere Erkundung von inter- uns mit Argumenten und Wortbeiträgen auseinander set- nationalen Experten durchgeführt wird. Ich sage Ihnen zen. Es ist kein Ort der Demonstration. Ich bitte, dies auch, warum. In Deutschland sind meines Erachtens in- auch zu berücksichtigen und zu beachten. Es ist ein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5539

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Übereinkommen aller Mitglieder dieses Hauses. Des- Statt Antworten zu bekommen, beobachten wir seit (C) halb bitte ich auch die Mitglieder der Fraktion Die Monaten ein eigenartiges Spiel. Zuerst erfolgt der Auf- Linke, sich dieser Bitte nicht zu verschließen. Ansonsten schlag von Minister Gabriel: Atomausstieg. Dann wird dies im dafür zuständigen Gremium, dem Ältesten- kommt die Rückhand von Minister Glos: Ausstieg vom rat, besprochen werden. Ausstieg. Zudem haben wir zahlreiche Zaungäste – zu- meist aus Hessen und Bayern –, die weitere Bälle aufs (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Spielfeld werfen. RWE und Co. wollen derweil neue bei Abgeordneten der FDP) Spielregeln. Aber eines übersehen Sie bei diesem Zirkus, Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Hans-Kurt meine Damen und Herren von der großen Koalition: Die Hill, Fraktion Die Linke. Menschen in Deutschland haben Anspruch auf eine Ant- wort auf die Frage, wie es denn nun mit dem Atomaus- (Beifall bei der LINKEN) stieg weitergehen soll. (Beifall bei der LINKEN) Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Zur Erinnerung: Die überwältigende Mehrheit in Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland lehnt die unbeherrschbare Atomenergie ab. Das Ergebnis der Großen Anfrage der Fraktion der Grü- nen kann man in einem Satz zusammenfassen: In Sachen (Horst Meierhofer [FDP]: Das hat nichts mit Atomendlager gibt es nichts Neues. Aber das kennen wir der Endlagerfrage zu tun!) auch aus eigener Erfahrung mit unseren Fragen an die Regierung, die wir im Interesse der besorgten Bürgerin- – Wieso hat das nichts mit der Endlagerfrage zu tun? Sie nen und Bürger stellen. Der beliebteste Antwortsatz lau- werden gleich verstehen, was es damit auf sich hat. tet – Frau Künast hat ihn eben zitiert –: „Die Bundes- Wie gesagt, die überwältigende Mehrheit der Men- regierung beabsichtigt, die Lösung der Endlagerung schen in der Bundesrepublik Deutschland lehnt die un- zügig und ergebnisorientiert anzugehen.“ beherrschbare Atomenergie ab. Daran ändert auch der Populismus der Atomstromlobby in diesem Hause und (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne außerhalb nichts. Die Menschen sind ja nicht dumm. Ein Kastner) Blick auf die Stromrechnung zeigt ihnen: Trotz abge- Wie lange sollen wir uns das noch anhören? Fangen Sie schriebener Kraftwerke ist Energie so teuer wie nie zu- endlich an! Ich hoffe, Herr Gabriel, dass Sie es nicht auf vor. Die Konzerne hingegen machen mit jedem Atom- die lange Bank schieben. meiler pro Jahr 300 Millionen Euro Gewinn. Mit den Atomkraftwerken sichern RWE, Vattenfall und Co. ihre (B) (Beifall bei der LINKEN) kartellartige Stellung ab. Tatsache ist: Atommeiler kön- (D) nen nur in monopolartigen Strukturen und mit Subven- Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, mit tionen betrieben werden. Unter diesen Bedingungen ist Ihrem Antrag arbeiten Sie zurzeit die Versäumnisse in Atomstrom aber teuer, wie jeder Stromkunde sieht. Ech- Ihrer eigenen Regierungszeit auf. Das sei kurz zur Erin- ter Wettbewerb ist Gift für die Atomlobby. nerung gesagt; es ist schon angesprochen worden. We- sentlich schöner wäre es gewesen, wenn wir heute ein Wer sich bei der Nutzung der Atomenergie auf den Suchkonzept für ein Endlager diskutieren könnten. Klimaschutz beruft, der hat in der Tat fachliche Pro- bleme mit diesem Thema. Im Emissionshandel gibt es Jetzt zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von festgelegte Obergrenzen für den Ausstoß von klima- der FDP. Sie gehen ganz anders an das Thema heran. Sie schädlichen Gasen. Laufzeitverlängerungen bringen also machen eine Reise in die Vergangenheit und wollen den im Hinblick auf den Klimaschutz gar nichts, weil die Atommüll in vorhandene Löcher kippen – mit Vorstel- Energieversorger eine festgelegte Menge CO2 ausstoßen lungen über Endlager, die 30 Jahre alt sind. Das hat der dürfen. Das werden sie – nebenbei gesagt – auch tun. Minister eben noch einmal sehr deutlich gemacht. Eine Der Ausstieg aus der Nutzung der Atomenergie ist der Vorfestlegung auf Gorleben und Schacht Konrad ist einzig gangbare Weg und grundlegende Voraussetzung, nicht nur unsachlich, sondern meiner Meinung nach in um das Endlagerproblem anzugehen. der Form auch völlig unverantwortlich. Wenn ich zu Hause meine Badewanne voll laufen (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE lasse, drehe ich den Wasserhahn zu, bevor die Wanne LINKE]) überläuft. Mit einem schlüssigen Endlagerkonzept wäre uns wo- (Otto Fricke [FDP]: Was machen Sie, wenn möglich Schacht Konrad erspart geblieben. Ich bin froh, die Wanne schon voll ist?) dass eben vollständig zitiert wurde, was das Bundesamt für Strahlenschutz wirklich gesagt hat: Man weiß nicht, – Dann drehe ich den Wasserhahn ebenfalls zu. Aber das ob Gorleben geeignet oder nicht geeignet ist. Was verstehen Sie leider nicht. Schacht Konrad betrifft, müssen die Anwohner zurzeit Wir können nicht weiter giftigen Strahlenmüll erzeu- alleine für ihr Recht kämpfen. Ich will aber nicht, dass gen, obwohl uns klar ist, dass es über Jahrtausende keine bei Gorleben das Gleiche passiert, weil keine Alternati- Sicherheitsgarantien für hoch radioaktiven Strahlenmüll ven vorgelegt werden. gibt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) 5540 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Hans-Kurt Hill (A) Kein Mensch weiß, wie sich die Bedingungen in einem Wir werden sonst keine ernsthafte und adäquate Antwort (C) Endlager über so lange Zeiträume verändern. Die Festle- auf die Frage des Endlagers finden. gung einer solchen Lagerstätte ist eine gewaltige gesell- Herr Trittin, ich habe Sie auf Ihren Zwischenruf hin schaftliche Aufgabe. Die Zeit bis 2030 wird bei der Um- angesprochen. Das Einendlagerkonzept, das die Vor- setzung schneller vergehen, als uns lieb ist. Deshalb gängerregierung vertreten hat und manche immer noch erfüllt es uns mit großer Sorge, dass sich die Bundesre- vertreten, halte ich für einen ganz großen Irrtum. Ich gierung noch immer nicht in der Lage sieht, grundsätzli- möchte Ihnen auch sagen, warum: Der Bundesrech- che Fragen das Endlager betreffend zu beantworten. Wir nungshof hat am 27. November 2003 in einem Prüfbe- sollten uns ernsthaft fragen, warum sich die Regierung richt die finanziellen Risiken des Einendlagerkonzepts vor der Beantwortung der Fragen nach Transparenz, Er- beanstandet. Spätestens da hätte die Vorgängerregierung gebnisoffenheit und Öffentlichkeitsbeteiligung drückt. umdenken und zur Sachdebatte zurückkehren müssen. Ich sage Ihnen: Es geht hier nicht um einen Geräte- Das Vorgehen Ihres Umweltministeriums sei – ich zi- schuppen, sondern um ein Endlager für hoch radio- tiere – „nicht zielgerichtet, unwirtschaftlich und wenig aktiven, giftigen und gefährlichen Atommüll. transparent“, schrieben die Prüfer damals. Recht haben sie damit. Zudem berge es finanzielle Risiken von meh- Danke schön. reren Milliarden Euro für den Bundeshaushalt. Ich (Beifall bei der LINKEN) möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, wie ver- schwenderisch mit Steuermitteln dort umgegangen wor- den ist, wie gravierend die finanziellen Folgen dieser Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Einendlagerstrategie für den Bundeshaushalt sind und Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder, dass dieses Konzept nicht trägt. Das Geld könnte weit- CDU/CSU-Fraktion. aus besser in die Forschung investiert werden. Dann würde man einen wirklichen Beitrag zur Sicherheit der (Beifall bei der CDU/CSU) Kernenergie insgesamt – auch weltweit – leisten.

Philipp Mißfelder (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/ CSU: Der Trittin hört nicht einmal zu!) Frau Präsidentin! Um der Debatte mehr Ernsthaftig- keit zu verleihen: Herr Kollege Hill, Sie sollten mit Ihren Warum die Einendlagerstrategie falsch ist, lieferten Vergleichen vorsichtiger sein. die Rechnungsprüfer in ihrer Begründung gleich mit. In den geprüften Unterlagen fanden sie keinen einzigen (Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ Hinweis auf eventuelle wissenschaftlich-technische Vor- (B) DIE GRÜNEN]) züge der Einendlagerkonzeption. Vielmehr sei Deutsch- (D) – Herr Trittin, zu Ihnen komme ich gleich noch. Ihre land das einzige Land, das dieses Konzept überhaupt Zwischenrufe habe ich schon eingeplant. verfolge. Eindeutiger kann man es gar nicht sagen. Weil dem Bundesumweltminister damals die Argumente aus- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gingen – ich muss mich mit den Grünen beschäftigen; Sie kennen sie doch noch gar nicht!) denn wir behandeln auch ihren Antrag –, haben Sie in Ihrer unnachahmlich polemischen Art dem Rechnungs- Ich freue mich, dass Sie die heutige Debatte mit Ihrer hof unterstellt, er wolle sich in politische Entscheidun- Anwesenheit bereichern. gen einmischen. Manchmal ist es besser, wenn man auf Herr Hill, Sie haben den Vergleich mit der Bade- unabhängige Gutachter hört oder sie zumindest zur wanne gewählt. Aber Sie müssen sich schon ernsthaft Kenntnis nimmt und sie nicht gleich polemisch abwertet. mit den Fragen beschäftigen. Unabhängig davon, ob Sie (Beifall bei der CDU/CSU) die Kernenergie fortführen wollen oder nicht, müssen Sie die Entscheidung über die Endlagerung treffen. Diese Einmischung haben Sie zurückgewiesen. Das Dazu haben Sie kein schlüssiges Konzept angeboten. Sie Problem ist aber immer noch auf der Tagesordnung der haben die Grünen mit genau diesem Vorwurf kritisiert. großen Koalition. Sie tragen mit Ihrem Antrag und dem, Ich glaube, dass Sie in Ihrer eigenen Partei überlegen was bisher von den Grünen hier vorgetragen worden ist, müssen, was Sie eigentlich dazu beitragen wollen, um nicht dazu bei, dass wir tatsächlich einer Lösung näher dieser Problematik gerecht zu werden. kommen. Man kann sich über die Konzeption der Zu- kunft streiten, aber ich glaube, es ist seit 1998 erneut (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie sehr viel Zeit verloren gegangen. Ein Beitrag der großen bei Abgeordneten der SPD) Koalition kann sein, dass wir diesen Zeitverlust zumin- Die Bundesregierung muss schließlich diese Fragen, die dest begrenzen und uns um eine ernsthafte Lösung be- zu Recht gestellt werden, beantworten. Der Bundes- mühen. Deshalb erneuere ich meine Forderung, das Mo- minister der großen Koalition hat viel von Logik und ratorium für Gorleben aufzuheben und sich glaubwürdig fast in philosophischer Manier von logischen Schlüssen um einen Standort für ein Endlager zu bemühen. Ich gesprochen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zwingend glaube, dass dies überfällig ist, unabhängig davon, wie logisch, dass das Moratorium in Gorleben aufgehoben sich die Zeitfenster der Zukunft entwickeln werden. Wir wird. werden bei der neuen Prüfung von Standorten den Zeit- rahmen von 2030 nicht einhalten, Höchstwahrscheinlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wird es dann 2050 sein. Die Bürgerinnen und Bürger in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5541

Philipp Mißfelder (A) unserem Land haben nach 35 Jahren Endlagersuche end- Sie offenbaren damit wieder einmal, dass Sie in zentra- (C) lich eine Antwort auf die Frage verdient, wie es in len Zukunftsfragen dieses Landes nichts Eigenständiges Deutschland mit den radioaktiven Abfällen weitergehen zu bieten haben. Selbst Ihnen dürfte nicht entgangen soll. sein, dass es inzwischen eine Bundestagswahl gegeben hat. Selbst Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass Union Vielen Dank. und SPD sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt ha- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ben. Es handelt sich um einen Koalitionsvertrag, in dem neten der FDP – Renate Künast [BÜND- wir uns verpflichtet haben, zügig und ergebnisorientiert NIS 90/DIE GRÜNEN]: Verwegene Zahlen- zu einer Lösung der Endlagerfrage zu kommen. Daran spiele!) arbeiten wir. Dabei gilt für die SPD-Bundestagsfraktion: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Christoph Pries, Erstens. Sicherheit hat oberste Priorität. Denn bei der SPD-Fraktion. Frage der Endlagerung treffen wir Entscheidungen nicht für menschliche, sondern für geologische Zeiträume. Wir suchen deshalb nicht ein geeignetes, sondern das ge- Christoph Pries (SPD): eignetste Endlager. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Gabriel! Seit nun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mehr 30 Jahren diskutieren wir die Frage der Endlage- rung radioaktiver Abfälle in Deutschland. Seither hat der Zweitens. Es muss eine ergebnisoffene, qualitativ Bundestag zahllose Debatten zum Thema Endlager er- hochwertige Endlagersuche geben. lebt. Dies waren immer besonders emotionale und kon- Drittens. Die Endlagersuche muss transparent sein. troverse Debatten. Es stellt sich die Frage: Wo stehen Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist für uns ein wesent- wir heute? Eine Lösung der Endlagerfrage, die von ei- liches Element – ein Element, das bei der bisherigen nem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird, Standortauswahl völlig vernachlässigt wurde. haben wir bisher nicht erreicht. Mit diesem mageren Er- gebnis befinden wir uns in guter Gesellschaft; denn welt- Viertens. Die Endlagersuche muss ergebnisorientiert weit existiert bis heute kein einziges Endlager für abge- sein. Sie muss für Bürger, Politik und Energiewirtschaft brannte Brennelemente. Planungs- und Rechtssicherheit schaffen. Das bedeutet: Transparenz und Bürgerbeteiligung dürfen die Ergebnis- Trotz aller Meinungsverschiedenheiten denke ich, orientierung nicht ad absurdum führen. (B) dass wir bereits in zwei Punkten Einigkeit erzielt haben: (D) Nun zu Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Erstens. Wir alle bekennen uns zur nationalen Verant- den Grünen. Auch auf Ihren Antrag möchte ich noch wortung für die sichere Endlagerung unserer radio- eingehen. Sie fordern die Bundesregierung auf, umge- aktiven Abfälle. hend ein Konzept für eine ergebnisoffene Standortaus- Zweitens. Es besteht Einigkeit über die nicht rückhol- wahl vorzulegen. „Umgehend“, Frau Künast: Man reibt bare Endlagerung in tiefen geologischen Formationen. sich verwundert die Augen; schließlich waren die Grü- nen doch sieben Jahre lang für das Umweltministerium Das ist eine Basis, auf der wir in den kommenden zuständig. In sieben Jahren, Frau Künast, haben die Grü- Monaten aufbauen können und müssen. nen es nicht weitergebracht als zu einem nicht abge- Uns liegen heute zwei Anträge der Opposition vor, stimmten Gesetzentwurf. Das hat der damalige Umwelt- auf die ich im Folgenden eingehen möchte. minister Jürgen Trittin in einem Namensartikel in der „Netzeitung“ vom 11. Mai 2006 selbst noch einmal her- Zuerst zum Antrag der FDP. Was Sie von der FDP vorgehoben – ich zitiere –: tun, finde ich nicht ganz korrekt; denn Ihr Antrag, Frau Brunkhorst, ist nicht wirklich neu: Ihre Forderungen Irrig ist auch die Auffassung, es handele sich bei stammen nicht von Ihnen; sie sind einem Antrag der dem Gesetzentwurf um einen antizipierten Kom- Union aus der letzten Legislaturperiode nahezu wort- promiss mit dem damaligen Koalitionspartner. Es wörtlich entnommen. handelt sich um den vom Bundesumweltministe- rium unter meiner Leitung im Dezember 2004 fer- (Angelika Brunkhorst [FDP]: Da sind wir tig gestellten Entwurf. Es handelt sich um einen einer Meinung!) grünen Entwurf. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, für Den nicht abgestimmten Gesetzentwurf haben Sie eine Partei mit einer Mitgliederkampagne unter dem dann kurz vor der vorgezogenen Bundestagswahl noch Motto „Selbstdenker gesucht“ ist das schon ein bisschen veröffentlicht, um nicht ganz mit leeren Händen dazuste- bedenklich. hen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Sehen Sie! Schröder ist wieder schuld!) Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der FDP zählt nur das Selbst und nicht das Ich weiß, dass Sie seither immer wieder in der Öffent- Denken!) lichkeit verbreiten – auch heute wieder –, die SPD sei 5542 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Christoph Pries (A) schuld an den Verzögerungen gewesen. Das ist in mei- war doch Ihre Merkel, die gesagt hat, Deutsch- (C) nen Augen, Frau Künast, unredlich. land sei ein Sanierungsfall!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Offenkundig geht es Ihnen darum, den Ausstieg aus der Kernenergie unumkehrbar zu machen. Um in einer Koalition über einen Gesetzentwurf zu beraten, muss zunächst einmal ein Gesetzentwurf vorlie- (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ gen. Das ist die Aufgabe des federführenden Ministe- DIE GRÜNEN]) riums. In diesem Fall war das Ihr Ministerium. Ich Deshalb wollen Sie die Endlagerdiskussion möglichst denke, es wäre fair, wenn Sie der neuen Bundesregie- breit, offen und langwierig führen. rung zumindest einen Bruchteil der Zeit einräumten, die Sie sich selbst genehmigt haben. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr Koalitionspartner doch auch!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Anderenfalls zöge der Vergleich nicht mehr, die Kern- Keine Sorge: Sieben Jahre werden wir dafür nicht be- energie sei wie ein Flugzeug ohne Landebahn. Sonst nötigen. müsste man Farbe bekennen und über die Probleme re- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den, die uns der Ausstieg aus der Kernenergie wirklich NEN]: So lange Zeit werden Sie auch nicht ha- bringt, nämlich über die Frage, wie wir unseren Strom- ben!) bedarf decken und die dafür notwendigen Kapazitäten schaffen sollen. Dann müsste man solche Kapazitäten Ich habe volles Vertrauen in den Bundesumweltminister, tatsächlich aufbauen. dass er schon bald ein Endlagerkonzept vorlegen wird. Wir haben gerade gehört, dass er den Spitzen der Regie- (Beifall bei der CDU/CSU) rungskoalition bereits ein Konzept hat zukommen las- Frau Künast, wenn Sie so heftig bestreiten, dass es Ih- sen. Ich bin also zuversichtlich, dass wir sehr, sehr nen um Verzögern geht, dann schauen Sie sich doch ein- schnell zu einer entsprechenden Aussage kommen wer- mal an, was Sie in den sieben Jahren Ihrer Regierungs- den. verantwortung getan haben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Zuruf von der CDU/CSU: Nichts!) (Beifall bei der SPD) Erreicht haben Sie das Moratorium für Gorleben 2000. Wer aber eine zügige Klärung dieser Fragen will, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: darf natürlich kein Moratorium erlassen, sondern muss (B) (D) Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein von der schauen, dass die Eignung Gorlebens geprüft wird. CDU/CSU-Fraktion. Parallel kann dann diskutiert werden, was man darüber hinaus noch tun will, um Vergleichsmöglichkeiten zu ha- (Beifall bei der CDU/CSU) ben. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Viel- Auch bei der Verstopfungsstrategie, die Sie mit dem leicht wundert es Sie, wenn ich einleitend sage, dass der Vorschlag betrieben haben, Zwischenlager an den Kern- Antrag der Fraktion der Grünen durchaus konsensfähige kraftwerksstandorten zu errichten, geht es doch nur um Teile enthält. Unabhängig davon, wie man zum Ausstieg Verzögern, Verärgern und Verunsichern. Das, was Sie aus der Kernenergie steht, muss man festhalten: Wir zuvor als Blechhütten abqualifiziert hatten, haben Sie brauchen ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle und plötzlich zwölffach kopiert. abgebrannte Brennelemente. Wir brauchen eine natio- Als ruchbar wurde, dass Schacht Konrad juristisch nale Endlagerung, wir brauchen das Endlager bis zum nicht zu verhindern ist, haben Sie plötzlich von der Jahre 2030. Die Verantwortung dafür trägt die jetzt han- Einendlagerstrategie gesprochen, um auch hier zu Ver- delnde Generation. zögerungen zu kommen. Diese Beschreibung der Ausgangslage ist eigentlich Aber es wird noch kurioser. Sie sagen, man müsse die eine Grundlage für schlüssiges Handeln. Meine Damen Verfahren aus den 70er-Jahren anzweifeln, als müsste und Herren von den Grünen, Sie sprechen von Verant- man Rechtsstaatlichkeit ausgerechnet von den Steine- wortung, meinen aber Verhindern, Verzögern, Verunsi- werfern der Vergangenheit lernen. chern und Verängstigen. (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: DIE GRÜNEN]) Herr Pries, was sagen Sie dazu?) – Dass Herr Trittin an dieser Stelle am heftigsten lacht, Das ist eine altbekannte Strategie der Grünen vom Wald- ist aus meiner Sicht spannend. sterben bis zur Kernenergie: Sie schüren Ängste, um sich ihren eigenen politischen Markt zu schaffen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der NEN]: Sie sind jenseits aller Sachkenntnis! Es Kollegin Künast? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5543

(A) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Laufe dieser Legislaturperiode. Das ist ein zentrales An- (C) Aber gerne. liegen der Union. Mit uns wird es jedenfalls kein Stand- ortsuchgesetz nach den Vorstellungen der Grünen zur Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verunsicherung der Menschen geben. Sie haben darüber gesprochen, ob Sie Rechtsstaatlich- Vielen Dank. keit von Steinewerfern lernen sollten. Da wir beide uns im Dialog befinden, möchte ich von Ihnen gern wissen, (Beifall bei der CDU/CSU) wo ich jemals einen Stein geworfen hätte. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Zuruf von der CDU/CSU: Oh!) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege – Das hat er behauptet. Marco Bülow, SPD-Fraktion. Sie halten hier einen putzigen Beitrag. Ich hoffe, dass (Beifall bei der SPD) Sie im Rahmen Ihrer fünfminütigen Redezeit, die ich Ih- nen mit meiner Frage gern um eine Minute verlängere, Marco Bülow (SPD): endlich zur Kernfrage kommen. Unabhängig davon, ob Frau Präsidentin! Herr Minister! Liebe Kolleginnen man den Ausstieg aus der Kernenergie will oder nicht und Kollegen! Ich glaube, dass wir versuchen müssen, – Sie wollen ihn nicht –, fällt Atommüll an. Mich inte- eine Balance zu finden: Auf der einen Seite dürfen wir ressiert brennend, ob Sie die erstbeste Möglichkeit für nichts verzögern, sondern müssen dieses Endlager auf die Endlagerung nutzen wollen oder ob Sie nicht viel- einem schnellen Wege finden. mehr auch der Idee anhängen, dass Sicherheit immer Vorrang hat und es deshalb darum gehen muss, die beste (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lagermöglichkeit in Deutschland zu finden. Sind Sie in Auf der anderen Seite dürfen wir aber nicht dem Prinzip der CDU/CSU bereit, sich auf diesen Weg zu machen „Aus den Augen, aus dem Sinn“ folgen. Darum geht es und nach der besten Endlagermöglichkeit zu suchen, bei der Debatte und darum haben sich die Wortmeldun- oder wollen Sie einfach das jetzt Getestete nehmen, um gen gerankt. Geld zu sparen? Eigentlich wollte ich es nicht, aber nun muss ich doch Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): auf einige Vorredner eingehen. Herr Nüßlein, der Atom- ausstieg ist unumkehrbar. Frau Künast, zunächst einmal habe ich Sie nicht di- rekt als Steinewerfer angesprochen. Ich bin überrascht, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) dass Sie sich an dieser Stelle so betroffen fühlen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (D) LINKEN) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben einen Vertrag geschlossen und wollen ihn Im Übrigen: Das Thema Sicherheit liegt uns natür- auch einlösen. Herr Mißfelder, bei vielen Punkten sind lich am Herzen. Wir wundern uns nur darüber, dass man- wir uns einig, aber wir sollten vielleicht noch einmal che jetzt plötzlich die Kriterien ändern und nicht einen darüber reden, dass Gorleben als Einendlager konzipiert geeigneten, sondern den bestgeeigneten Standort wollen. worden ist. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen – ob Wir wundern uns über Leute, die sagen, dass bis zum wir das wollen oder nicht. Das aber nur als kurze Berich- Jahr 2030 alles soweit sein müsse, die aber das Morato- tigung. rium nicht aufheben wollen und sich nicht länger mit dem Thema Gorleben beschäftigen wollen, sondern erst Frau Brunkhorst, Sie haben zum Schluss darüber ge- einmal – in der Hoffnung, dass es so etwas schneller sprochen, dass wir es den zukünftigen Generationen geht – andere mögliche Standorte prüfen wollen. Das er- schulden, ein Endlager zu finden. Das ist richtig; genau innert mich ein wenig an das Motto: Drum prüfe, wer deswegen suchen wir ja nach dem bestmöglichen Stand- sich ewig bindet, ob sich nicht was Bessres findet. In Ih- ort. Aber wie kann man es als Generationenfrage be- ren Reihen gibt es ja den einen oder anderen, der weiß, zeichnen, wenn es darum geht, in einigen Jahren – oder dass man auf diese Weise nicht einmal den richtigen Le- vielleicht auch in einigen Jahrzehnten – den bestmögli- benspartner findet, geschweige denn ein Endlager. chen Standort zu finden, um mit einem Material umzu- gehen, das wahrscheinlich 1 Million Jahre oder noch viel (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- länger strahlt? Man muss sich schon alle Mühe geben, NEN]: Reden Sie von Herrn Wulff oder von den bestmöglichen Standort zu finden, und muss die wem? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE Zeitspannen einmal im Verhältnis sehen. Da sollte man GRÜNEN]: Oder von sich selbst?) nicht von Generationen reden. Uns geht es darum, dass wir nicht alle 20 Jahre neue (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kriterien einführen und auf einer neuen Bewertungsba- sis über eine Frage reden, mit der wir uns schon 20 Jahre Das ist auch die Diskussion, die wir führen sollten. beschäftigt haben. Viele Bürgerinnen und Bürger fragen Wir sollten uns bewusst werden, über was wir hier re- sich, ob das denn immer so weitergehen soll. Im Koali- den. Es sind 24 000 Kubikmeter hoch belastendes Mate- tionsvertrag gibt es dazu ganz klare Regelungen. Wir rial. Das ist ungefähr – wir haben das einmal ausgerech- wollen keine ergebnisoffene, sondern eine ergebnis- net – das Fassungsvermögen dieses Plenarsaalgebäudes. orientierte Suche. Wir wollen eine Lösung noch im Davon ist schon 1 Kubikzentimeter ausreichend, um 5544 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Marco Bülow (A) große Flächen oder zum Beispiel große Mengen von auf Drucksache 16/1462 zum Antrag der Fraktion der (C) Wasser zu verseuchen. Darüber reden wir. FDP mit dem Titel „Offene Fragen zur Entsorgung radio- aktiver Abfälle klären – Verantwortung für nachfolgende Eine andere Umrechnung. Im Ruhrgebiet spricht man Generationen übernehmen“. Der Ausschuss empfiehlt, gern in der Fußballersprache. Man müsste 3,5 Fußball- den Antrag auf Drucksache 16/267 abzulehnen. Wer felder einen Meter hoch mit Wasser füllen, wenn man es stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt denn könnte. Bei dem schwach bis mittelstark radioakti- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ven Material wären das entsprechend 40 Fußballfelder. ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD, Das ist eine ganze Masse. Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Gegenstim- Diese Größenordnung gilt aber nur, wenn wir aus- men der FDP angenommen. steigen. Wir haben gerade vom Sankt-Florians-Prinzip Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b sowie gesprochen. Nur wenn wir aussteigen, macht es Sinn, Zusatzpunkt 6 auf: über diese Menge zu sprechen. Wenn wir nicht ausstei- gen, erhöht sich die Menge. Egal ob wir dann noch über 6 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- andere Risiken sprechen; diese Menge erhöht sich. Des- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- sen, denke ich, müsste man sich immer bewusst sein, trag vom 25. April 2005 über den Beitritt der wenn man über ein Endlager spricht. Republik Bulgarien und Rumäniens zur Euro- päischen Union Ich will noch einmal auf die 1 Million Jahre eingehen. Das ist auch nur eine Zahl, die vorgegeben ist. Die meis- – Drucksache 16/2293 – ten Experten sagen, es müsste eigentlich 10 Millionen Überweisungsvorschlag: Jahre sicher gelagert werden. Uran-238, auch in den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Brennelementen vorkommend, hat eine Halbwertszeit Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss von 4,4 Milliarden Jahren. Frau Künast hat einen Ver- Rechtsausschuss gleich mit den Pyramiden bemüht. Seit 8 000 Jahren gibt Finanzausschuss es menschliche Zivilisation. Ich weiß nicht, vor wie viel Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Millionen Jahren sich die Alpen hochgefaltet haben. Wer Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz kann eine Garantie über Millionen von Jahren abgeben? Ausschuss für Arbeit und Soziales Wer kann das wirklich? Nach menschlichem Ermessen Ausschuss für Gesundheit können wir das nicht. Deswegen können wir kein siche- Ausschuss für Tourismus res Endlager, sondern nur das am besten geeignete fin- Haushaltsausschuss gemäߧ 96 GO den. Aber zumindest genau dies sind wir den Menschen b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (B) und den Generationen, die da kommen, schuldig. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas- (D) Die SPD bekennt sich zu dieser Verantwortung. Wir sung von Rechtsvorschriften des Bundes in- müssen das im Dialog lösen – anders haben wir keine folge des Beitritts der Republik Bulgarien und Chance –, weil das Thema viel zu wichtig ist, als dass Rumäniens zur Europäischen Union man nur Streit darüber führen kann. Wir müssen zu Lö- – Drucksache 16/2954 – sungen kommen, die die Mehrheit der Menschen akzep- Überweisungsvorschlag: tiert und die die Mehrheit dieses Bundestages vorgeben Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) muss. Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Das sollten wir alle nicht vergessen – bei allen Streite- reien, die wir über Atomenergie und über Endlager ha- ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ ben. Wir haben eine Verantwortung gegenüber den Men- CSU und der SPD schen. In der Debatte heute habe ich zumindest bei EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens zum vielen herausgehört, dass wir uns dieser Verantwortung Erfolg führen stellen wollen. In diesem Sinne: Alles Gute, bis dann! – Drucksache 16/2997 – (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN Überweisungsvorschlag: und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Petitionsausschuss Auswärtiger Ausschuss Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Innenausschuss Ich schließe die Aussprache. Sportausschuss Rechtsausschuss Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Finanzausschuss Drucksache 16/2790 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Ausschuss für Arbeit und Soziales so beschlossen. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Ausschuss für Gesundheit schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5545

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit haben sie nicht erst seit Eröffnung der Beitrittsverhand- (C) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe lungen eingeladen, sich auf diesen Weg nach Europa zu Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung begeben, wohl wissend, dass dieser Weg für Bulgarien Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und und Rumänien wesentlich weiter sein würde als etwa für Entwicklung Polen, Tschechien und andere. Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Die historisch zu nennende Wiederherstellung der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Einheit Europas als großes, friedenssicherndes Projekt, Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen aber auch die Wiederherstellung der kulturellen Verbin- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. dungen und die Schaffung des größten einheitlichen Wirtschaftsraums der Welt hieß das große Ziel, das der Das Wort hat der Bundesaußenminister, Dr. Frank- Fall der Mauer in Berlin und alle daraus resultierenden Walter Steinmeier. Folgeereignisse erst möglich gemacht haben.

Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Auswärtigen: der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Diesen Prozess, meine Damen und Herren, haben alle Herren! In Stunden wie diesen erinnert man sich an die deutschen Bundesregierungen seit 1990 von Anfang an Vorbereitungen der letzten großen Erweiterungs- aktiv unterstützt, natürlich auch, weil wir als Deutsche runde 2004 – im Kern eine Osterweiterung der Europäi- aus eigener Erfahrung wussten, was Teilung bedeutet. schen Union und, wenn man so will, endlich eine sicht- Alle Regierungen haben deshalb zu ihrer Verantwortung bare Dividende aus der Liquidationsmasse des Kalten gestanden, zur Überwindung der Teilung auch in Europa Krieges. Die baltischen Staaten, Polen, Slowakei, Tsche- beizutragen. chien, Slowenien und Ungarn waren Dokument der wieder gefundenen Einheit Europas. Feuerwerke und Wenn wir über Bulgarien und Rumänien reden, dann Festveranstaltungen waren schon während der Ratifika- erinnern wir uns doch bitte daran: Skepsis war auch in tionsphase in Vorbereitung; wachsende Euphorie war der Erweiterungsrunde 2004 weit verbreitet. Aber mit Näherrücken des Beitrittsdatums 1. Mai 2004 nicht heute können wir sagen: Nicht nur die Erweiterungslän- nur in den Beitrittsstaaten – ich erinnere mich gut –, son- der haben und hatten Vorteile von diesem Beitritt. Bei al- dern durchaus auch in der alten Europäischen Union len gewachsenen Schwierigkeiten, die ich im letzten spürbar. Jahr wirklich kennen gelernt habe, in den internen Ab- (B) Wenig davon ist heute spürbar, wenn wir über den be- stimmungsprozessen der Europäischen Union – gerade (D) vorstehenden Beitritt Bulgariens und Rumäniens reden. deshalb brauchen wir die Verfassung – haben auch die Selbst die EU-Außenminister haben vergangenen Diens- alten Mitgliedsländer, auch Deutschland, von dieser Er- tag, am 17. Oktober, in, wie ich finde, ungewohnt tro- weiterung profitiert. ckener Sprache beschlossen: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Der Rat nimmt zur Kenntnis, dass der laufende Pro- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zess der Ratifizierung des Beitrittsvertrages weit gediehen ist ... Meine Damen und Herren, wenn ich das sage, meine ich das nicht nur außenpolitisch. Deutschland ist zwar Nun habe ich – meine Damen und Herren, Sie wissen jetzt in der historisch einmaligen Situation, nur von Staa- das – nichts gegen Nüchternheit. Aber diese Sprache ten umgeben zu sein, mit denen wir freundschaftlich ver- bettet sich ein in eine öffentliche Stimmung, die, wie bunden sind; aber auch handfeste politische und wirt- ich finde, weder den historischen Ausgangspunkt der schaftspolitische Vorteile sind sichtbar geworden. Wenn Beitritte Bulgariens und Rumäniens in Erinnerung noch wir uns am Jahresende hoffentlich wieder darüber freuen die Chancen einer solchen Erweiterung und erst recht dürfen, dass Deutschland Exportweltmeister ist, dann er- nicht die Nachteile des anderen Wegs, des Wegs der Zu- innern wir uns bitte auch daran, dass zwei Drittel der rückweisung, für Europa im Blick hat. deutschen Exporte nicht nach Indien, China und in die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten USA gehen, sondern in die Europäische Union und zu- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE nehmend auch in die neuen Mitgliedsländer der Europäi- GRÜNEN) schen Union. Schauen Sie sich die großen LKW-Schlan- gen in Richtung Polen und Tschechien an; da finden Sie Deshalb lassen Sie mich noch einmal ganz kurz in Er- einen täglichen Beleg für diese Entwicklung. innerung rufen: Bei dem großen Projekt der Wiederher- stellung der europäischen Einheit waren Bulgarien und Wenn Bulgarien und Rumänien beitreten, so ist das Rumänien nie außerhalb unseres europäischen Bemü- nicht nur ein weiterer Schritt zu mehr Sicherheit in der hens. Von Anfang an gehörten sie zu jenen zentral- und Region des östlichen Balkans und am Schwarzen Meer. osteuropäischen Ländern, die nicht nur – wie die ande- Auch hier sind deutsche Unternehmen seit längerem da- ren – durch den Eisernen Vorhang vom Rest Europas ge- bei, sich diese neuen Märkte zu erschließen. Nur durch trennt waren, nein, deren Orientierung wirtschaftlich und den Beitritt kann der rechtliche Rahmen geschaffen wer- kulturell auf Europa, auf die Europäische Union fest aus- den, der für die Entfaltung von wirtschaftlichen Aktivi- gerichtet war. Wir alle – auch daran erinnere ich mich – täten notwendig ist. 5546 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Bulgarien und Rumänien haben seit 1989/1990 große Die Fortschritte beider Länder werden weiterhin (C) Anstrengungen unternommen, um ihr politisches Sys- überwacht. Es war für die Kommission nicht einfach, tem, ihre Wirtschaft und ihr Rechtssystem an die Stan- das durchzubringen. Sie wird den Mitgliedstaaten darü- dards der Europäischen Union anzupassen. ber regelmäßig berichten. Das ist aber nicht das Ent- scheidende. Entscheidend ist, dass wir festgehalten ha- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben: Sollten trotz der Überwachungsmaßnahmen die der CDU/CSU und der FDP) vorgegebenen Fortschritte nicht erreicht werden, dann wird die Kommission entsprechende Schutzmaßnah- Seit sie 1995 ihre Anträge auf Beitritt gestellt haben, ha- men ergreifen. So kann die EU-weite Anerkennung von ben beide Länder einen weiten Weg zurückgelegt, der Haftbefehlen und Strafurteilen ausgesetzt werden. Die auch mit Entbehrungen für die Bevölkerung und manch- Auszahlung von Geldern aus den Agrar- und Struktur- mal mit Rückschlägen verbunden war. fonds kann dann gesperrt werden, wenn eine ordnungs- Ich habe genauso wie Sie mit Spannung den letzten gemäße Verwendung nicht nachgewiesen werden kann. Monitoringbericht der Europäischen Kommission und In anderen Bereichen können Ausfuhrverbote und Be- ihre Einschätzung erwartet, ob der Beitrittstermin zum schränkungen auf Grundlage der Binnenmarktregelun- 1. Januar 2007 aus Sicht der Kommission gehalten wer- gen getroffen werden. den kann. Aus meiner Sicht – ich habe es in diesem Ich halte diesen Weg, den die Europäische Kommis- Hause schon einmal gesagt – hat die Kommission eine sion aufgezeigt hat, für richtig. Deshalb möchte ich gern objektive und ehrliche Bestandsaufnahme vorgelegt. Ich empfehlen und gleichzeitig darum bitten, dass der An- teile die Einschätzung, dass es die Fortschritte, die beide trag im Ratifizierungsverfahren hier im Deutschen Bun- Länder bei ihren innerstaatlichen Reformen während der destag eine breite Mehrheit erhält. letzten 15 Jahre erreicht haben, rechtfertigen, ihnen so- wohl die Rechte als auch die Pflichten eines Mitglieds Sie wissen, dass von den 25 Mitgliedstaaten bereits der Europäischen Union zu übertragen. 23 ratifiziert haben. Neben uns befindet sich noch Däne- mark im Ratifizierungsverfahren. Dort hat die erste Le- Weil ich die Vorbehalte der Europäischen Kommis- sung am 10. Oktober 2006 stattgefunden und ich hoffe, sion, die in dem letzten Monitoringbericht zum Aus- dass wir bald ebenso weit sind. druck gekommen sind, und die öffentliche Diskussion kenne, sage ich, dass wir kein Geheimnis daraus machen Vielen Dank. dürfen, dass es in beiden Ländern Defizite gibt, über die (Beifall im ganzen Hause) man reden muss. In beiden Ländern ist der Aufbau einer (B) unabhängigen, effizienten und transparenten Justiz noch (D) nicht so gelungen, wie sich die Kommission und wir uns Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das vorstellen. Richtig ist auch, dass die Bekämpfung Der nächste Redner ist der Kollege Markus Löning der Korruption in beiden Ländern weitergeführt werden von der FDP-Fraktion. muss. Markus Löning (FDP): Es ist ebenfalls richtig, dass die Kommission mit Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich Blick auf Bulgarien der Meinung ist, dass die Verfol- glaube, es ist richtig und wichtig, dass wir uns daran er- gung und Ahndung von Geldwäsche und von organisier- innern, wie Europa vor gut 15 Jahren nach dem Fall des ter Kriminalität noch zu wenig vorzeigbare Ergebnisse Eisernen Vorhangs ausgesehen hat. Die Bilder von da- gebracht haben. Ich sage deshalb ausdrücklich: Wir müs- mals, die sich mir besonders ins Gehirn gebrannt haben, sen darüber reden – es hat keinen Sinn, die Defizite sind Bilder aus Rumänien, aus Kinderheimen, von der schönzureden –, worauf wir uns einlassen, und wir müs- Ceausescu-Exekution und andere. Das ist lange, lange sen die entsprechenden Vorkehrungen treffen. Deshalb vorbei. Wenn man jetzt in diese Länder reist, sieht man, begrüße ich ausdrücklich die von der Kommission ange- was für ein enormer Fortschritt – trotz allem, was man kündigten Maßnahmen, mit denen sichergestellt werden im Einzelnen noch sagen kann – von den Demokraten in soll, dass der Reformprozess auch nach dem Beitritt am diesen Ländern erreicht worden ist. 1. Januar 2007 weitergeht. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich glaube, wir als Deutsche sollten uns besonders SES 90/DIE GRÜNEN) klar machen – weil wir als Deutsche Debatten hatten und nach wie vor darüber haben –, wie schwierig es ist, die Das ist, wie Sie wissen, vor allen Dingen in den be- neuen Länder zu integrieren. Die DDR war das erste sonders sensiblen Bereichen Justiz und Inneres von Land aus dem ehemaligen Ostblock, das der EU beige- großer Bedeutung. Dort ist ein „Kooperations- und treten ist. Wir wissen, wie schwer es für uns ist, die DDR Überprüfungsmechanismus“ vereinbart worden, der zu integrieren, die neuen Länder zu integrieren. Ich Bulgarien und Rumänien auch nach dem 1. Januar 2007 glaube, es ist wichtig, dass wir an diesem Tag auch aner- konkrete Reformziele setzt. Damit sind Verfassungs- kennen, um wie viel unendlich schwerer es die neuen und Gesetzesänderungen und vor allen Dingen konkrete Länder in Osteuropa auf ihrem Weg zur Marktwirtschaft, Schritte bei der Verfolgung von Korruption und insbe- zur Demokratie und hin zu unseren europäischen Werten sondere Geldwäsche erfasst. gehabt haben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5547

Markus Löning (A) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD Basis begrüßen. Ich wünsche mir für die Beitritte eine (C) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) breite Mehrheit in diesem Haus. Das wäre ein wichtiges Signal nach innen, aber auch an die Adresse dieser bei- Insbesondere Bulgarien und Rumänien haben sich den Länder. sehr schwer getan. Aber sie haben aufgeholt. Ich muss mit einem gewissen Stolz sagen, dass sie in den letzten Vielen Dank. Jahren auch unter starker Beteiligung Liberaler in den (Beifall im ganzen Hause) Regierungen sehr stark aufgeholt haben, unter anderem beim Wirtschaftswachstum. Es gibt ein beeindrucken- des Wirtschaftswachstum, insbesondere in Rumänien, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: aber auch in Bulgarien. Das zeigt, dass in Zukunft Nächster Redner ist der Kollege Gunther Krichbaum, – nicht in naher Zukunft, aber in absehbarer Zukunft – CDU/CSU-Fraktion. die Einkommenslücke geschlossen werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir haben inzwischen mit beiden Ländern einen enormen Handelsaustausch. Ich möchte das Beispiel In- Gunther Krichbaum (CDU/CSU): dien noch einmal aufgreifen, weil der Außenminister Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! darauf Bezug genommen hat. Wir haben mit Bulgarien Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am und Rumänien gemeinsam soviel Handel wie mit In- 26. September hat die Europäische Kommission ihren dien. Wir haben mit beiden Ländern einen deutlichen Fortschrittsbericht vorgelegt. Beiden Ländern wurden Handelsüberschuss. Meine Damen und Herren, das zeigt enorme Fortschritte attestiert. die Wichtigkeit dieser Länder für uns. Ich denke, der 1. Januar 2007 wird für beide Länder Wir hatten neulich ein Gespräch mit dem Präsidium ein historisches Datum werden. Es ist viel geleistet wor- des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und den. Es ist aber auch ein historisches Datum für die Eu- haben gefragt: Was denkt ihr darüber? Sie sagten: Ja- ropäische Union. Schließlich findet dann die Erweite- wohl, das müssen wir machen; die beiden Länder müs- rung um zwölf Länder ihren Abschluss. Bei allen sen Mitglieder werden. Das ist ein großer Vorteil für Debatten über eine Verschiebung – sie wurden oft auch deutsche Firmen und für Arbeitsplätze in Deutschland, in Deutschland geführt –, dürfen wir nicht vergessen, die durch den Handel und die wechselseitigen Investitio- dass es bereits eine Verschiebung gab. 2004 wurde ge- nen in diesen Ländern erhalten, gesichert und auch ge- sagt: Die beiden Länder erfüllen die Kriterien zwar noch schaffen werden. nicht, wir können aber sicher sein, dass für beide Länder der Weg in die Europäische Union dann am 1. Januar (B) Dennoch gibt es Bereiche, die noch nicht so weit sind, 2007 frei sein wird. (D) wie wir sie uns wünschen. Es sind in allen Bereichen große Anstrengungen unternommen worden, es sind vor Die Ehrlichkeit gebietet es – das klang bereits an –, allem große Anstrengungen in den Bereichen Justiz und dass hier auch die defizitären Bereiche benannt werden, Inneres unternommen worden. Aber ich glaube, an die- also die Bereiche, in denen weitere Fortschritte dringend ser Stelle sollte man auch nicht verschweigen, dass es notwendig sind. Die Fortschritte sind zuvorderst im Inte- durchaus unterschiedlich ist, was erreicht worden ist. resse der Menschen, die in diesen Ländern leben. Die Das möchte ich hier auch ansprechen. Insbesondere in Reformen sind kein Selbstzweck. Die Länder machen Bulgarien müssen wir im Bereich der Bekämpfung der diese Reformen auch nicht, um der Europäischen Union organisierten Kriminalität, der Bekämpfung der Geld- oder uns zu gefallen. Die Menschen in den Ländern wäsche, heftigst weitere Fortschritte einfordern. Es kann müssen von den Reformen profitieren. nicht sein, dass die Standards hier nicht erreicht werden. In diesem Zusammenhang ist zunächst die Justiz zu Wir brauchen das Erreichen der Standards gerade auch nennen. Die Unabhängigkeit der Justiz ist weder in Bul- in diesen Bereichen. Bulgarien zeigt in anderen Berei- garien noch in Rumänien flächendeckend befriedigend chen und Ministerien, dass es dazu in der Lage ist, die gelöst. Wir brauchen, auch im Justizwesen, besser funk- europäischen Standards zu erreichen. Ich wünsche mir tionierende Behörden. insbesondere für den Bereich Inneres und Justiz, dass hier bald deutliche Fortschritte gemacht werden. Auch auf dem Gebiet der Korruptionsbekämpfung – das klang bereits an – ist noch sehr viel zu tun. In Ru- (Beifall im ganzen Hause) mänien funktioniert sie erfreulicherweise im Bereich der so genannten High-Level-Corruption; aber noch nicht im Deutschland lebt seit der Wiedervereinigung Europas Bereich der Alltagskorruption. Es wird wahrscheinlich in einer Zone von Frieden und Wohlstand. Das mag ab- noch sehr viele Jahre dauern, bis wir sagen können: gedroschen klingen, weil Europapolitiker das immer und Diese Probleme sind gelöst. immer wieder sagen. Ich bestehe darauf, dass wir das immer wieder wiederholen: Denn es ist keine Selbstver- Bei den Auszahlungsagenturen im Bereich der Land- ständlichkeit, dass wir auf einem Kontinent leben, auf wirtschaft ist auch noch einiges zu tun, damit die Gel- dem die Völker zivilisiert miteinander umgehen. Wir ha- der, die die Europäische Union hierfür zur Verfügung ben eine Struktur geschaffen, die den Frieden auf die- stellt, sach- und zweckgerichtet verwendet werden. Da- sem Kontinent erhält. Deswegen wünsche ich mir, dass für zu sorgen, sind wir auch den Menschen in Deutsch- wir die Wiedervereinigung Europas mit der Aufnahme land schuldig. Wenn wir den Rentnern hier sagen, dass von Bulgarien und Rumänien in diesem Haus auf breiter Nullrunden erforderlich sind, dann muss Gewähr dafür 5548 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Gunther Krichbaum (A) geleistet werden, dass das Geld, das in die Hand genom- Es ist aber kein Beitritt zweiter Klasse. Auch das sei (C) men wird, seine entsprechende Verwendung findet. in Richtung dieser Länder klar hervorgehoben. Beide Länder werden vollwertige Mitglieder der Europäischen Auch im Bereich der organisierten Kriminalität Union mit allen Rechten und Pflichten. Denn zum Bei- gibt es noch viel zu tun. 150 unaufgeklärte Auftrags- spiel auch wir in Deutschland – siehe das Maastrichtver- morde in Bulgarien – das muss so ehrlich gesagt fahren – sind bestimmten Reglements ausgesetzt. werden – sind genauso wenig akzeptabel wie das Vor- handensein der Geldwäsche im Bereich der organisierten Mir ist die Stimmung in den Fraktionen und auch in Kriminalität. der Bevölkerung hinsichtlich erneuter Erweiterungs- schritte sehr wohl bekannt. Aber ich mahne vor allem All diese Hausaufgaben sind noch zu machen. Es wä- uns dazu an, diese Diskussion nicht fatalistisch zu füh- ren aber keine Hausaufgaben, wenn sie von den Ländern ren. Die Europäische Union ist ein Erfolgsmodell. Das nicht zu Hause erledigt werden müssten. Beide Länder wurde von Ihnen, Herr Minister, aber auch vom Kolle- können sich hierbei unserer Unterstützung sicher sein. gen Löning zu Recht hervorgehoben. Friede, Freiheit und die Wahrung der Demokratie – dies mussten diese Es ist an der Zeit, den Regierungsberatern, die sei- Länder in ihrer Geschichte entbehren – sind keine tens der Bundesrepublik vor Ort tätig sind, zu danken. Selbstverständlichkeit und moderner denn je. Hier müs- Sie machen einen exzellenten Job. Insbesondere den sen wir, die politisch Verantwortlichen, vorangehen. Kommissionsmitarbeitern, die jeden Tag in den Ländern vertreten sind, danke ich. Auch die Stiftungen leisten (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP eine sehr wertvolle Arbeit. Parteiübergreifend leisten die und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Parlamentariergruppen, die Deutsch-Rumänische Parla- mentariergruppe unter dem Vorsitz von Frau Dr. Kastner Herr Außenminister Steinmeier, Sie haben zu Recht und die Deutsch-Bulgarische Parlamentariergruppe un- darauf hingewiesen, dass sich uns enorme Chancen er- ter dem Vorsitz von Michael Stübgen, hervorragende Ar- öffnen, zum Beispiel Absatzmärkte für unsere Wirt- beit. Hier werden wertvolle Kontakte geknüpft und in- schaft, auch für die mittelständische Wirtschaft. In die- tensiviert. sem Bereich geht Österreich sehr viel pragmatischer voran. Das nur einmal nebenbei gesagt. Auch für die (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der mittelständische Wirtschaft im Maschinenbau eröffnen FDP) sich Chancen. Alle reden von China und von Indien. Doch hier geht es um Absatzmärkte, die direkt vor unse- Die Länder können sich unserer Unterstützung sicher rer Haustür liegen. Immerhin gab es in den letzten fünf sein. Jahren allein in Rumänien ein kumuliertes Wirtschafts- (B) wachstum von über 40 Prozent. Das sollte an dieser (D) Es wurde vielfach gefragt, warum wir den Beitritt Stelle einmal erwähnt werden. nicht auf 2008 verschieben. Diese Option hat sich nie ernstlich gestellt. Denn es war von vornherein klar, dass Nicht unerwähnt bleiben sollte auch die Stabilität, die viele Länder eine Verschiebung gerade im Hinblick auf wir hinzugewinnen, insbesondere im Bereich des Bulgarien nicht mitmachen würden. Wenn Länder wie Schwarzen Meeres. Die Schwarzmeerpolitik gehört bei Polen, Großbritannien, aber auch Österreich sagen, sie uns in Deutschland ganz oben auf die politische Agenda. würden eine Verschiebung nicht mitmachen, dann ist sie Die Republik Moldau führt in unserer Diskussion bis- im Falle von Bulgarien von vornherein gestorben und lang fast ein Schattendasein, rückt aber durch den Erwei- auch im Falle von Rumänien nicht realistisch. Denn Ru- terungsschritt glücklicherweise näher an uns heran. Da mänien hat durch engagierte Reformschritte Bulgarien in tun sich Probleme auf, über die wir an anderer Stelle den Reformanstrengungen überholt. Aber das macht dringend reden sollten. auch nichts. Letztlich ist es so – damit möchte ich schließen –, Wir haben in den Verträgen alle Flexibilität. Wir ha- dass wir seitens der Politik immer nur die Rahmen- ben Sicherungsklauseln, mit denen wir reagieren kön- bedingungen setzen können. Das Bild, das in diesen nen. Herr Außenminister Steinmeier, es besteht, so Rahmen hineingesetzt wird, obliegt den Menschen. Ein denke ich, unter den Kollegen die Erwartung, dass die Europa von unten aufzubauen, ist deswegen dringender Sicherungsklauseln angewandt werden, und zwar mit denn je erforderlich. Ein steigender Tourismus, Städte- Beginn am 1. Januar 2007, wenn die Defizite noch vor- partnerschaften und Schüleraustausch – all das gehört handen sind. dazu. Ich denke, dann werden wir Europa sehr erfolg- reich in die Zukunft führen. Das ist ein wichtiger Punkt, und zwar vor allem des- wegen, weil wir Standards haben. Wir würden ein Erklä- Vielen Dank. rungsproblem gegenüber diesen beiden Ländern bekom- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie men, wenn wir sie nicht jetzt anwenden würden, sondern bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- erst später. Sie würden uns dann zu Recht sagen: Mo- NISSES 90/DIE GRÜNEN) ment einmal, das habt ihr doch schon vor einigen Mona- ten gewusst. Deswegen ist es wichtig, dass die Standards gewahrt bleiben und wir, wo eben möglich – ich nenne Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den Justizbereich und die Anerkennung von Strafurtei- Das Wort hat der Kollege Dr. Hakki Keskin, Fraktion len –, die entsprechenden Reaktionen bekommen. Die Linke. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5549

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) (Beifall bei der LINKEN) Sie nehmen mit großer Sorge zur Kenntnis, dass die Um- (C) verteilung von unten nach oben zur angeblich unver- Dr. Hakki Keskin (DIE LINKE): meidlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik wird. Darüber Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr haben wir heute bereits diskutiert. Bundesaußenminister! Meine Damen und Herren! Ich Ein aktuelles Beispiel: Nachdem die Stromnetze libe- freue mich, dass wir gemeinsam, also interfraktionell, ralisiert wurden, benutzen nun vier Konzerne ihre Oligo- mit Bulgarien und Rumänien zwei neue Mitglieder im polstellung auf dem Energiesektor, um willkürlich die Kreis der Europäischen Union begrüßen. Preise hochzutreiben. Unter den in Deutschland in astro- nomische Höhen gestiegenen Preisen für Strom und Gas Die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft hat beide leiden vor allem Arbeitslose, Alleinerziehende und kin- Länder zu enormen Reformleistungen beflügelt; das ist derreiche Familien. unbestreitbar. Die Menschen in Rumänien und Bulgarien profitieren schon heute von wirtschaftlichem Auf- (Beifall bei der LINKEN) schwung, sozialen Errungenschaften und Verwaltungs- Wie wehrt sich die Bundesregierung hiergegen? Was tut reformen. die EU? Bislang wenig oder nichts. Die Bürger erwarten Ebenso begrüße ich die Reformbemühungen im Be- von ihren Regierungen, dass diese den Sozialstaat und reich der Justiz, bei der Korruptionsbekämpfung und die sozialen Rechte zum unverzichtbaren Bestandteil er- beim Vorgehen gegen Kriminalität, die in beiden Län- heben und soziale Gerechtigkeit als Kompass und Tu- dern unternommen wurden. Allerdings darf die Umset- gend Europas verstehen. zung dieser Reformen mit dem EU-Beitritt keinesfalls Auch was den EU-Beitritt von Bulgarien und Rumä- erlahmen; vielmehr muss sie energisch fortgeführt wer- nien angeht, haben, wie wir alle wissen, viele Menschen den. Ängste und Sorgen. Sie fürchten Lohndumping und zu- Bei allen Meinungsverschiedenheiten, die es zwi- nehmenden Lohndruck. Das sind berechtigte Ängste der schen den Fraktionen dieses Hauses gibt, können wir Arbeitnehmer und der Arbeitslosen, die wir ebenfalls festhalten: In den EU-Mitgliedstaaten herrscht seit Jahr- ernst nehmen müssen. zehnten Frieden. Ich hoffe, dass unsere Kinder den Krieg (Beifall bei der LINKEN) nie am eigenen Leibe erfahren müssen. Die EU wäre durchaus in der Lage, durch gesetzliche (Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause) Rahmenbedingungen Lohndumping und Lohndruck ent- Diesen großen historischen Gewinn haben wir der euro- gegenzuwirken. Deshalb brauchen wir einheitliche Stan- dards in den EU-Ländern. Um es deutlicher zu sagen: (B) päischen Idee zu verdanken. (D) Die Mobilität der Arbeitnehmer darf nicht zur Senkung Dennoch dürfen wir über die aktuelle Krise der Euro- der Löhne in den alten EU-Ländern führen. päischen Union nicht hinwegsehen. Der vorgelegte Ver- fassungsvertrag ist, wenn auch noch nicht endgültig (Beifall bei der LINKEN) gescheitert, so doch auf absehbare Zeit von einer Umset- Deshalb fordert die Fraktion Die Linke ein Europa, in zung weit entfernt. Dies ist weder ein Vermittlungs- dem die sozialen Interessen der Menschen vor dem Inte- problem noch ein politisch-administratives Problem. Es resse der Großkonzerne daran, ungehemmt Gewinn zu ist so, dass die Menschen in Frankreich und in den machen, geschützt werden. Niederlanden gegen diesen Entwurf eines Verfassungs- vertrags votiert haben. Diese Signale müssen ernst ge- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) nommen werden. Daher ist es dringend geboten, als es- Die politische und wirtschaftliche Integration Europas senziellen Bestandteil des Verfassungsentwurfs eine muss eingebettet werden in eine Strategie der sozialen Sozialcharta zu verankern. Sicherung auf hohem Niveau. So steht für uns, Die (Beifall bei der LINKEN) Linke, der Mensch im Mittelpunkt und nicht das Kapital. Die Fraktion Die Linke hat zu Recht stets ein soziales Ich danke Ihnen. und demokratisches Europa eingefordert. Europa darf (Beifall bei der LINKEN) nicht als ein grenzenloser Wirtschaftsraum verstanden werden, in dem Großkonzerne ihre Profitinteressen zu- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lasten großer Teile der Bevölkerung durchsetzen kön- Das Wort hat der Kollege Rainder Steenblock, Bünd- nen. nis 90/Die Grünen. (Beifall bei der LINKEN) Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Bürger wollen ein soziales Europa. Dies ist eine NEN): große zivilisatorische Errungenschaft der Arbeitnehme- rinnen und Arbeitnehmer und ihrer Organisationen. Die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschen erleben und beobachten mit großer Beunruhi- Viele von uns haben sicherlich noch die Bilder im Ge- gung, wie ohnmächtig die Politik ist und dass sie sogar dächtnis von damals, als das Ceausescu-Regime in Ru- einseitig zugunsten der Wohlhabenden agiert. mänien zusammengebrochen ist, eine fürchterliche Dik- tatur, die die Menschen im wahrsten Sinne bis aufs Blut (Beifall bei der LINKEN) ausgepresst hat und ein Land über viele Hungerwinter an 5550 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Rainder Steenblock (A) den Rand seiner Existenz gebracht hat. Wenn man sich das nicht wiederholen muss. Wir wissen um die Pro- (C) diese kaum mehr als 15 Jahre zurückliegenden Bilder in bleme und wir haben das im Ausschuss auch mit dem dieser Stunde noch einmal vergegenwärtigt, dann er- Kommissar Olli Rehn sehr intensiv besprochen. kennt man, was diese beiden Länder, insbesondere Ru- mänien, geleistet haben. 15 Jahre später steht so ein Eines sollten wir aber nicht vergessen – ich finde, das Land an der Schwelle zu einem Beitritt zur Europäischen zeichnet die Debatte aus –: Die europäische Erweiterung Union. Hieran sieht man, wie die Kraft der Idee der erfolgte nie ohne Probleme. Insbesondere in den Nach- europäischen Integration, das Ziel, ein Teil dieses Euro- barländern – beispielsweise in Frankreich, als es um pas zu werden, Menschen befähigen kann, ihre Lebens- Spanien und Portugal ging – hat es immer große Pro- situation zu verbessern. Ich glaube, wir müssen uns in ei- bleme im Hinblick auf die Akzeptanz der Bevölkerung ner Stunde wie heute dieser historischen Dimension gegeben. Wir wissen: Die Geschichte hat jedes Mal ge- bewusst werden, um die Leistung dieser Länder würdi- zeigt, dass die Integration ein Erfolgsprojekt war, dass gen zu können. all die Befürchtungen, die vorher verständlicherweise geäußert wurden, in der Wirklichkeit nicht eingetreten (Beifall im ganzen Hause) sind und dass Europa mit diesen Problemen immer gut fertig geworden ist. Zu Recht sind Bedenken geäußert worden, dass beide Länder den Acquis communautaire so, wie wir ihn uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, vorstellen, noch nicht vollständig erfüllen. Das ist richtig bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- und das muss man auch deutlich sagen. Denn zu einer geordneten der FDP und des Abg. Dr. Hakki Europäischen Union, wie ich sie mir wünsche, gehören Keskin [DIE LINKE]) auch Ehrlichkeit und Offenheit zwischen den Partnerin- Das sollte uns Mut machen und das sollten wir auch nen und Partnern; gar keine Frage. Aber wir stehen in offensiv nach außen vertreten. Dieses Europa ist ein dieser Stunde, in der wir über die Ratifizierung entschei- Hoffnungsträger in der Welt. Es ist überhaupt nicht an- den, immer auch vor der Frage nach den Alternativen. gesagt, dass wir kleinmütig unter dem Teppich durch- Der Außenminister hat zu Recht auf sie hingewiesen. marschieren, wenn wir über Europa reden. Als Politiker Wir wollen solidarisch mit diesen Ländern in Europa zu- in Europa können wir auf diese Integrationsleistung stolz sammenleben. Wir wissen, dass ein Zurückweisen die sein. innenpolitische Situation in diesen Ländern katastrophal verändern würde. Daran können wir kein Interesse ha- Deshalb sage ich auch sehr deutlich: Die Erweite- ben, als Deutsche nicht und als Europäer auch nicht. rungsdebatte ist für uns Bündnisgrüne mit diesen Beitrit- Dies würde die ökonomische Situation destabilisieren ten nicht zu Ende. Es gibt viele europäische Länder, die (B) und die Standards, die wir mit Europa verbinden, eher diese Erweiterungsperspektive brauchen, weil sie sich (D) verschlechtern als verbessern. selbst nur in diesem erweiterten Europa politisch und ökonomisch entwickeln können. Das gilt ganz besonders Deshalb ist der Ratifizierungsprozess, mit dem wir für den Balkan, das gilt aber auch für den Südosten heute, wie ich hoffe, gemeinsam beginnen werden, alter- Europas. Über die Mechanismen, wie wir die Beitritte in nativlos. Wir verzichten dabei aber nicht auf Konsequen- Zukunft gestalten, müssen wir sicherlich noch reden. In zen. Ich glaube, das ist gerade in einer Situation wichtig, einer Situation, in der der Beitritt die einzige Chance für in der viel über die Handlungsfähigkeit Europas gespro- die entsprechenden Länder ist, Integration zu erreichen, chen wird. Sie wird Europa nämlich häufig abgespro- wäre es das Falscheste, was wir tun könnten, ihnen die chen. Tür vor der Nase zuzuschlagen. Man muss sich einmal anschauen, was wir aus den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Problemen bei den Erweiterungsverfahren gelernt ha- sowie bei Abgeordneten der SPD) ben. Wir haben bezüglich Bulgarien und Rumänien tat- sächlich einen Schutzmechanismus entwickelt, der, wie Gerade den Ländern auf dem Balkan und in Südost- ich glaube, greifen wird. Aus meiner Sicht verdient europa müssen wir sagen: Es gelten die Kopenhagener Europa das Vertrauen, dass es nicht blauäugig in Situa- Kriterien und auch die Kooperationskriterien, die in tionen hineinläuft, sondern dass es tatsächlich Schutz- Kopenhagen nicht entsprechend definiert worden sind. mechanismen entwickelt, die im Sinne des europäischen Mitglied einer Europäischen Union kann nur das Land Integrationsgedankens notwendig sind und durch die den werden, das aus tiefster Überzeugung bereit ist, mit all Ländern sowie den Menschen in diesen Ländern gehol- seinen Nachbarn in Frieden zu kooperieren. Europa ist fen wird. Von daher glaube ich auch, dass Europa in vie- nicht das ökonomische Erfolgsprojekt oder das Sozial- len Teilen der konkreten Politik handlungsfähiger ist, als modell für einige Leute, um sozusagen auch noch ein einige Leute in ihren Sonntagsreden oder noch viel häu- bisschen von dem Kuchen abzubekommen. Europa ist figer an den Stammtischen daherreden. Ich glaube, wir vor allem ein Friedensprojekt. brauchen uns nicht zu schämen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Deshalb geht es für den Balkan und für andere Staa- Auf die Einzelheiten des Beitrittsprozesses will ich ten genau darum. Europa ist ein Friedensprojekt und je- jetzt nicht eingehen. Die Kollegen Krichbaum, Löning der, der willkommen sein will – das wollen all diese und andere haben das schon detailliert getan, sodass ich Länder –, muss begreifen, dass er mit seinen Nachbarn Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5551

Rainder Steenblock (A) friedlich kooperieren muss. Ansonsten wird Europa in dafür, dass die EU auch in Zukunft Friedensmacht sein (C) diesem Bereich nicht die Zukunft haben, die wir uns kann. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass Bul- wünschen. garien und Rumänien schon in den letzten Jahren eine wichtige Funktion bei der Stabilisierung der gesamten Vielen Dank. Region hatten. (Beifall im ganzen Hause) Beide Länder haben seit Ende des Kalten Krieges nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Erhebliches geleistet. Sie haben eine enorme Transfor- Das Wort hat die Kollegin Dr. Lale Akgün, SPD- mationsleistung vollbracht. Sie haben den Übergang zu Fraktion. Demokratie und Marktwirtschaft vollzogen. Dabei wur- (Beifall bei der SPD) den das politische System, das Rechtssystem und die Gesellschaft einem grundlegenden Wandel unterzogen. Ich glaube, einige von uns, die in ihrem Leben noch nie Dr. Lale Akgün (SPD): von einer solchen tief greifenden Umwälzung betroffen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Bot- waren, können nicht ansatzweise nachvollziehen, was schafterin aus Bulgarien! Sehr geehrter Herr Botschafter die Transformation für ein Land, aber auch ganz persön- aus Rumänien! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bulga- lich für jeden seiner Bürger bedeutet. rien und Rumänien sollen am 1. Januar 2007 der Euro- päischen Union beitreten. Ich freue mich, dass darüber Bei aller Unterstützung durch die EU: Die Leistungen nun endlich Einigkeit herrscht. Dieses klare Ja ist über- haben die Menschen in Bulgarien und Rumänien er- fällig. Es ist überfällig, dass wir den Weg für den Beitritt bracht. Ich möchte als Beispiel Bulgarien anführen. frei machen. Kleine und mittelständische Unternehmen mussten Kre- dite aufnehmen, um ihre Betriebe umzustrukturieren und Für meine Fraktion möchte ich betonen: Wir mussten an die hohen EU-Standards anzupassen. Das war sehr uns dieses Ja zum Beitritt Bulgariens und Rumäniens schwierig, weil zur gleichen Zeit Banken zusammenge- nicht lange abringen. Das Ja kommt uns auch nicht halb- brochen waren. Das Gesundheitswesen und der Agrar- herzig über die Lippen. Nein, wir begrüßen den Beitritt sektor mussten total umstrukturiert werden. Der Agrar- Bulgariens und Rumäniens nachdrücklich und uneinge- sektor musste sich nun nach den hohen hygienischen schränkt. Wir freuen uns, dass beide Länder ab dem Anforderungen der EU richten. Auch dies bedurfte einer 1. Januar 2007 Mitglieder der Europäischen Union sind. enormen Anstrengung und finanzieller Opfer. Die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schwächsten der Gesellschaft haben am meisten gelit- ten. Rentner mussten mit 60 Euro im Monat wirtschaf- (B) der CDU/CSU) (D) ten. Erst in den letzten zwei Jahren, in denen die Wirt- Getrübt wird diese Freude allein dadurch, dass sich schaft in Bulgarien boomte, wurden die Renten um 5 bis die Debatte um den heute vorliegenden Antrag so lange 8 Prozent angehoben. hinausgezögert hat. Ich weiß nicht genau, ob es einige Kollegen besonders spannend machen wollten. Ich bin Auch im Bereich der Demokratie sind beachtliche zwar ein Krimifan, aber in diesem Fall hätte ich gern auf Fortschritte erzielt worden. Der Minderheitenschutz die Spannung verzichtet. Es wäre mir lieber gewesen, wurde ausgebaut. Heute hat Bulgarien ein gut funk- wenn wir nicht die Letzten in der Europäischen Union tionierendes multiethnisches System. In Bulgarien sagt gewesen wären, die mit dem Ratifikationsverfahren be- man: Demokratie ist kein Lift, sondern eine steile ginnen. Treppe, die man hochgehen muss. Alle Bürger Bulgari- ens haben gespürt, was es heißt, diese Treppe hochgehen Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass wir heute im zu müssen. Diese Transformationsleistungen würdigen Bundestag endlich das parlamentarische Verfahren zur wir heute mit unserem Antrag. Für uns ist es heute eine Ratifikation beginnen, mit dem wir – wie es richtig im Debatte im Plenum; für Bulgarien und Rumänien ist es Titel unseres Antrags heißt – den „EU-Beitritt Bulgari- ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem historischen ens und Rumäniens zum Erfolg führen“ wollen. Der Bei- Datum. tritt beider Länder wird ein großer Erfolg sein, auf den wir alle zusammen werden stolz sein können. Wir freuen uns, dass die Kommission Bulgarien und Rumänien in ihrem letzten Fortschrittsbericht die Bei- Ich möchte hier noch einmal nachdrücklich betonen: trittsreife bescheinigt hat, auch wenn in einigen Berei- Erweiterung steht nicht im Gegensatz zur Vertiefung. Ich chen noch Mängel bestehen. sehe eine hohe Korrelation zwischen Erweiterung und Vertiefung. Ich möchte noch einmal betonen, dass es sich um eine Mitgliedschaft mit gleichen Rechten und Pflichten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) handelt. Ich finde es deshalb richtig, dass wir in dem Der Beitritt Bulgariens und Rumäniens ist der not- gemeinsamen Antrag festgehalten haben, dass die wendige Abschluss der Osterweiterung, die 2004 mit Fortschritte Bulgariens und Rumäniens im Heranfüh- dem Beitritt der mittelosteuropäischen Staaten sowie rungsprozess auch das Ergebnis der Perspektive einer Maltas und Zyperns begonnen hat. Die Osterweiterung gleichberechtigten Teilhabe an den Rechten und Pflich- ist die selbstverständliche Fortführung einer Friedenspo- ten eines Mitglieds der Europäischen Union sind. litik. Sie war die Antwort auf die weltpolitische Situa- „Gleichberechtigt“ ist das Schlüsselwort, obwohl es ei- tion nach dem Ende des Kalten Krieges und ein Garant gentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. 5552 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Lale Akgün (A) Es ist auch eine Selbstverständlichkeit, dass der Bei- lität und Sicherheit im gesamten südeuropäischen Raum (C) tritt nach den zwischen Bulgarien und Rumänien auf der bis in den westlichen Balkan. einen Seite und der Europäischen Union auf der anderen Ich jedenfalls freue mich, dass wir Bulgarien und Ru- Seite vereinbarten Spielregeln erfolgen wird. Diese mänien zum 1. Januar 2007 als Mitglieder der Europäi- Spielregeln besagen, dass der Beitritt Bulgariens und schen Union und damit als Partner mit gleichen Rechten Rumäniens erfolgt, wenn beide Länder ausreichende und Pflichten und unter Anwendung der gemeinsam ver- Fortschritte in der Angleichung ihres politischen und einbarten Spielregeln begrüßen können. rechtlichen Systems gemacht haben. (Beifall im ganzen Hause) Erweiterungskommissar Olli Rehn hat uns gestern im Europaausschuss noch einmal bestätigt, dass die Fort- schritte Bulgariens und Rumäniens für den Beitritt aus- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: reichen. Aber auch die bestehenden Mängel werden von Das Wort hat Christian Ahrendt, FDP-Fraktion. der Kommission nicht verschwiegen, sondern klar be- nannt. Über diese Mängel können und wollen wir nicht Christian Ahrendt (FDP): hinwegsehen. Wir fordern Bulgarien und Rumänien auf, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und in ihren Bemühungen nicht nachzulassen und die beste- Herren! Ich glaube, die bisherige Debatte hat eines ge- henden Probleme bis zum Ende dieses Jahres zu behe- zeigt: Keiner bestreitet die Fortschritte Rumäniens und ben. Auch das haben wir vereinbart. Bulgariens. Dort ist ein enormer Reformprozess geleistet worden. Aber was passiert nach dem 1. Januar 2007? Am hef- tigsten wird derzeit über die Schutzklauseln diskutiert. Dass wir in der Lage sind, detailliert über den Re- Dabei ist mir allerdings nicht klar, worüber wir streiten. formprozess zu debattieren, haben wir der Europäischen Für den Fall, dass die Mängel im Justizsystem und in der Kommission zu verdanken. Es ist das erste Beitrittsver- Landwirtschaft auch nach dem Beitritt fortbestehen soll- fahren, in dem sehr detailliert beobachtet worden ist, wie ten, können die vereinbarten Übergangsmaßnahmen und sich die Beitrittsländer entwickeln. Dieses Verfahren ha- Schutzklauseln in Kraft treten. Ich betone: Die Schutz- ben wir in erster Linie – auch in der Genauigkeit – dem klauseln können in Kraft treten, sie müssen es aber nicht. EU-Kommissar Olli Rehn zu verdanken. Ob die Schutzklauseln auf Antrag der Kommission (Beifall bei der FDP) oder eines Mitgliedstaates in Kraft gesetzt werden, wird Bei einem solch genauen Verfahren rücken nicht nur in einem zweistufigen Verfahren entschieden. Bulgarien die Erfolge in den Vordergrund. Vielmehr sieht man und Rumänien müssen drei Monate nach dem Beitritt (B) auch die vorhandenen Schattenbereiche; diese wurden (D) – also bis Ende März 2007 – einen Bericht vorlegen, in bereits angesprochen. Ein wesentlicher Schattenbereich dem sie die Fortschritte darlegen, die sie erreicht haben. ist die Justiz. Hierzu habe ich eine andere Meinung als Diese Fortschritte wird die Kommission überprüfen und diejenige, die bislang geäußert worden ist. Wenn mit in einem eigenen Bericht niederlegen, der im Juni 2007 dem 1. Januar 2007 der Beitritt wirksam wird, werden erscheinen und die Entscheidungsgrundlage für die die Justizakte in den Bereichen des Strafrechts und des Schutzklauseln sein wird. Die Kommission hat dafür Zivilrechts im Wege der Anerkennung für andere euro- Benchmarks bzw. Richtgrößen entwickelt. Anhand die- päische Staaten und damit für andere Staatsangehörige ser Richtgrößen können wir entscheiden, ob die Schutz- automatisch Geltung beanspruchen. Wenn wir aber in klauseln zur Anwendung kommen oder nicht. den Berichten lesen müssen – das ist gerade für das Strafrecht relevant –, dass es noch keine unumkehrbare An diesem Verfahren gibt es, glaube ich, nichts zu Unabhängigkeit der Justiz und insbesondere der Richter deuteln. Insofern reichen nicht nur die Fortschritte der gibt, dass es den Gerichtsverfahren nach wie vor an beiden Länder für den Beitritt zum 1. Januar 2007, son- Transparenz fehlt und dass die Ausbildung der Staatsan- dern auch die zur Verfügung stehenden Schutzmaßnah- wälte und der Richter nicht ausreicht, um ein genaues men aus. Verfahren durchzuführen, dann müssen wir uns darüber Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen wir unvor- Gedanken machen, wie wir mit der Situation umgehen. eingenommen und rational auf Bulgarien und Rumänien. Der Beitrittsvertrag eröffnet verschiedene Möglich- Es ist nämlich auch richtig, dass die Beitrittskriterien bei keiten. Die Kommission favorisiert die Möglichkeit, beiden Ländern viel schärfer gehandhabt wurden als bei nach einer weiteren Beobachtungsphase eine Entschei- den vorangegangenen Erweiterungsrunden. Es ist nur dung zu treffen. Ich glaube, dieser Weg ist falsch, weil er redlich, auch das einmal anzusprechen. keine Rechtsfolgen zeitigt und wir in dem Zeitraum, in (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Markus dem die Entscheidung vakant ist, mit Justizakten umge- Löning [FDP]) hen müssen. Wenn man sich den Beitrittsvertrag und ins- besondere Art. 38 genau anschaut, stellt man fest, dass Es stünde uns auch gut an, endlich die Perspektive zu die Schutzklausel im Justizbereich bereits am 1. Januar wechseln. Der Beitritt Bulgariens und Rumäniens ist 2007 greifen kann. Hierfür bedarf es lediglich der Forde- keine Gefahr für die EU und schon gar nicht für die ein- rung eines Landes. Es kommt also nicht auf eine Kom- zelnen Länder. Der Beitritt ist eine Chance für die Euro- missions- oder eine Ratsentscheidung an. Dann würden päische Union als Ganzes und auch für Deutschland. Strafurteile und Haftbefehle nicht automatisch aner- Bulgarien und Rumänien bringen der EU mehr an Stabi- kannt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5553

Christian Ahrendt (A) Das wäre kein Beitritt zweiter Klasse, aber wir hätten von, dass wir uns hier langfristig gesehen in einer – neu- (C) die Möglichkeit, die beigetretenen Länder aufzufordern, deutsch ausgedrückt – Win-win-Situation befinden. Wa- in den kommenden Monaten in diesem sehr wichtigen rum? Weil der Exportweltmeister Deutschland und alle Bereich, in dem es unter anderem um unmittelbare Ein- anderen europäischen Staaten satte wirtschaftliche griffe in Persönlichkeitsrechte durch Strafrechtsakte Gewinne zu erwarten haben. Schauen Sie sich den geht, das zu leisten, was in den Berichten vorgeschrieben Kommissionsbericht zu den wirtschaftlichen Auswir- ist, beispielsweise die Strafverfahren besser zu organi- kungen der EU-Erweiterung an und Sie werden mir zu- sieren und die rechtsstaatlichen Ansprüche zu gewähr- stimmen. leisten. Ich glaube, an dieser Stelle wird man wesentlich Die Europäische Union wird durch diesen wirtschaft- strikter vorgehen müssen, als es die Kommission vorge- lichen Erfolg ihre Rolle als Stabilitätsanker Europas schlagen hat. In diesem Sinne wird die Diskussion über weiter ausbauen können. Wir werden durch die Auf- den Ratifizierungsprozess in den nächsten Tagen und nahme Bulgariens und Rumäniens in die Europäische Wochen zu führen sein. Union ganz Europa und den Balkan im Speziellen stabi- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ler, sicherer und friedlicher machen. Wie genau soll das geschehen? Der Handel zwischen Deutschland und Ru- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mänien sowie zwischen Deutschland und Bulgarien ist der CDU/CSU) im vergangenen Jahr kräftig gewachsen. Im Vergleich zum Vorjahr nahmen die deutschen Exporte nach Rumä- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nien im ersten Halbjahr 2006 um 21 Prozent und die Im- Nächster Redner ist der Kollege Carl-Eduard von porte von dort um 25 Prozent zu. Nach Bulgarien haben Bismarck, CDU/CSU-Fraktion. wir im gleichen Zeitraum 10 Prozent mehr exportiert und sage und schreibe 36 Prozent mehr importiert als im (Beifall bei der CDU/CSU) Vorjahr. Das ist eine überaus erfreuliche Entwicklung. Wir können davon ausgehen, dass sie sich mit Rumänien Carl-Eduard von Bismarck (CDU/CSU): und Bulgarien als neuen EU-Mitgliedern unvermindert Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- fortsetzen wird. nen und Kollegen! Wir diskutieren heute über ein für Europa sehr erfreuliches Ereignis. Zum 1. Januar 2007 Doch damit nicht genug; denn steigende Im- und Ex- treten Rumänien und Bulgarien der Europäischen Union porte bedeuten nicht nur Wohlstand, sondern auch Sta- bei. Dieser Erweiterungsschritt unterstreicht einmal bilität und Sicherheit. Rumänien und Bulgarien profi- mehr die Attraktivität der Europäischen Union als politi- tieren davon in erster Linie. Mittel- und langfristig wird die neu gewonnene Stabilität auf politischer, sozialer (B) sches Projekt. (D) und wirtschaftlicher Ebene aber auch auf die übrigen Gleichzeitig ist dieser Erweiterungsschritt mit einigen Balkanstaaten abfärben. Stolpersteinen verbunden. Die Kommission hat in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht vor drei Wochen klar ge- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der macht, dass zwar die beiden Länder bereits große politi- FDP) sche, soziale und wirtschaftliche Reformanstrengungen Auch dies ist für Europa ein Gewinn; denn ein stabiler, unternommen haben, dass aber die Veränderungen drin- befriedeter Balkan ist für uns als Deutsche und Europäer gend mit unverminderter Kraft fortgeführt werden von vitalem Interesse. Da, so denke ich, sind wir uns alle müssen. Nur wenn Rumänien und Bulgarien ihren Re- einig. formkurs konsequent fortsetzen, kann sich unser Zusam- menleben in der Europäischen Union erfolgreich entwi- Lassen Sie mich zum Thema Erweiterung aber noch ckeln. einen anderen Punkt ansprechen. Die negativen Ergeb- nisse der Referenden zum Verfassungsvertrag und Bür- Ein Beispiel: Bulgarien hat im August dieses Jahres gerumfragen sind ein klares Zeichen: Sowohl in der verstärkt Maßnahmen gegen den Menschenhandel er- deutschen als auch in vielen anderen Bevölkerungen griffen. Von nun an verbietet ein Gesetz den Handel mit schwindet das Vertrauen in die Europäische Union Schwangeren, deren Babys nach der Geburt verkauft und ihre Erweiterungsschritte zusehends. Die Menschen werden sollen. Das zeigt, dass sich beide Länder ihren haben Angst vor einer Invasion von Billiglohnarbeitern Problemen stellen und sie beherzt angehen. Dieses Bei- aus den neuen Mitgliedsländern. Sie befürchten außer- spiel deutet aber auch auf bestehende schwerwiegende dem, ihre EU würde durch die mutmaßliche Grenzenlo- Defizite hin. Wir wissen heute, dass wir gut daran getan sigkeit unkontrollierbar, und sie sorgen sich um die An- hätten, abzuwarten, bis die Früchte der Reform geerntet erkennung regionaler Besonderheiten. Sie sehen sich worden wären. durch die Erweiterung schon an der Grenze zum Nahen Es war sicher ein Fehler, im Beitrittsvertrag feste Ter- Osten und wollen sich damit nicht mehr identifizieren. mine für die europäische Mitgliedschaft zu nennen. Die- Diese Befürchtungen und Ängste verdecken leider häu- sen Fehler sollte die EU künftig vermeiden. fig die Erfolge der europäischen Einigung. Wir haben hier ein ernstes Kommunikationsproblem, das drin- Aber trotz aller Skepsis und trotz der Befürchtung, gend behoben werden muss; denn mangelnde Unterstüt- dass die essenziell wichtigen Schutzklauseln des Bei- zung durch die Bevölkerung kann auch noch so sinnvol- trittsvertrages nicht rechtzeitig, nämlich erst nach dem len Projekten und Unternehmungen den Garaus machen. Beitritt der beiden Länder greifen, bin ich überzeugt da- Das wissen wir alle. 5554 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Carl-Eduard von Bismarck (A) Das Problem können wir nur lösen, indem wir allen Beitrag zur Akzeptanz der Europäischen Union und (C) EU-Bürgern klar machen, dass sie Teil einer modernen, der Erweiterungspolitik, wenn wir die offenen Fragen bürgerfreundlichen Union sind, in der sie sich beruflich sehr ernst nehmen. frei entfalten können und in der Innovationen gefördert werden. Zugleich müssen wir ihnen klar machen, dass Der Kommissionsbericht nimmt eine, wie ich finde, sie in der Europäischen Union auf der sicheren Seite kritische Analyse vor. Es ist zu begrüßen, dass die Defi- sind. Schließlich bekämpfen wir den internationalen Ter- zite klar benannt werden. Ich bin nur der Meinung, dass rorismus und Kriminalität unnachgiebig. Darüber hinaus die Kommission unzureichende Schlussfolgerungen aus muss die Europäische Union dringend darauf achten, ihrer eigenen Analyse zieht. Offenbar hat der Mut ge- Kernbeschlüsse wie den Stabilitätspakt der Wirtschafts- fehlt, zu Konsequenzen zu greifen. Ich meine, dass es und Währungsunion einzuhalten und den Beitrittskandi- Not tut, bereits zum 1. Januar 2007, also von Beginn des daten die strikte Erfüllung des Acquis communautaire Beitritts an, die in der Beitrittsakte zur Verfügung ste- abzuverlangen. henden Schutzmechanismen zu aktivieren, um die offe- nen Fragen zu beantworten. Zu guter Letzt lassen Sie mich anmerken, dass wir dringend grundlegend und nachhaltig über die Aufnah- Natürlich liegt es zunächst in der Hand Bulgariens mefähigkeit der Europäischen Union debattieren müs- und Rumäniens selbst, weitere Fortschritte zu erzielen. sen. Wir müssen uns unserer Kapazitäten bewusst sein. Das betrifft die Unabhängigkeit und Effizienz des Justiz- In all diesen Punkten müssen wir an Klarheit gewinnen, wesens, die Bekämpfung von Korruption und organisier- dementsprechend handeln und dies den Bürgern deutlich ter Kriminalität, die Lebensmittelsicherheit in den Berei- vermitteln. Nur so können wir unseren Weg erfolgreich chen Tierkörperbeseitigung und Schweinefieber, aber gehen und unsere Glaubwürdigkeit wahren. auch die Landwirtschaft, das integrierte Verwaltungs- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. und Kontrollsystem, die Auszahlung von Direktbeihil- fen. Sicher mit Differenzen zwischen Bulgarien und Ru- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie mänien; aber insgesamt sind beide aufgefordert, ihre An- bei Abgeordneten der FDP) strengungen zu verstärken. Ich glaube, alles, was jetzt, bis zum 31. Dezember dieses Jahres, noch erledigt wer- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den kann, erleichtert auch die Zustimmung der Bevölke- Das Wort hat der Kollege Thomas Silberhorn, CDU/ rung zu dieser Erweiterung zu diesem Zeitpunkt. CSU-Fraktion. Wir, die Europäische Union und auch der Deutsche Bundestag, müssen uns an den Kriterien, die wir selbst (B) Thomas Silberhorn (CDU/CSU): aufgestellt haben, messen lassen. Wir müssen diese (D) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Frage gerade in dem sensiblen Bereich „Justiz und Inne- Herren! Über den Beitritt Bulgariens und Rumäniens zur res“ sehr aufmerksam diskutieren. Aus meiner Sicht ist Europäischen Union haben wir in diesem Haus bereits gerade dieser Bereich, der mit Rechtssicherheit zu tun öfter debattiert. Gestatten Sie mir deshalb, dass ich hat, ganz unabdingbar, nicht nur für die Bevölkerung in gleich zu den kritischen Tönen komme, bevor ich versu- Bulgarien und Rumänien, sondern auch für alle, die nach chen werde, auch einige versöhnliche zu finden. der Erweiterung in engeren Kontakt mit diesen Ländern Wir haben in unseren Debatten stets versucht, darauf kommen wollen, insbesondere für Investoren, die hinzuwirken, dass die Situation, die jetzt eingetreten ist, Rechtssicherheit brauchen, wenn sie sich in diesen Län- möglichst vermieden wird. Ja, es gibt bemerkenswerte dern engagieren wollen. Fortschritte in Bulgarien und Rumänien. Das ist aus- Die Kommission hat in ihrem Bericht angekündigt, drücklich anzuerkennen. Ja, wir wollen auch den Bei- zunächst weitere Stellungnahmen von Bulgarien und tritt. Aber es bestehen in einer Reihe von Fragen schwer- wiegende Defizite. Die Kommission – so verstehe ich Rumänien einzuholen und dann im Juni nächsten Jahres ihre Analyse – kann beiden Ländern bis jetzt noch nicht einen weiteren Fortschrittsbericht vorzulegen. Sie die vollständige Beitrittsreife bescheinigen. Das ist ein schreibt in ihrem jetzigen Bericht vom 26. September, Thema nicht nur für Bulgarien und Rumänien, sondern dass es dann, im Juni nächsten Jahres, erforderlich wer- auch für uns und die Europäische Union; denn wir kom- den könnte, zu Schutzmaßnahmen zu greifen, bei- men in Erklärungsnot, wenn wir nach Ratifizierung und spielsweise die Mitgliedstaaten von der Verpflichtung zu Anwendung des Vertrages den Beitritt zum 1. Januar entbinden, Urteile gegenseitig anzuerkennen. 2007 verwirklichen wollen, obwohl Fragen offen blei- Ich meine, das ist keine schlüssige Argumentation. ben. Denn wenn die Kommission nach eigener Auffassung Ich plädiere deswegen nachhaltig dafür, dass wir die im Sommer nächsten Jahres gehalten sein könnte, Defizite und die Fragen, die die Kommission selbst auf- Schutzklauseln zu aktivieren, dann ist es doch offenkun- geworfen hat, nicht ignorieren und mit einem Achselzu- dig, dass die zugrunde liegende Problematik nicht erst cken abtun. Vielmehr sollten wir auf die offenen Fragen dann eintreten wird, sondern bereits jetzt besteht. Des- überzeugende Antworten finden. Ich meine, das schul- wegen ist es notwendig, dass wir Schutzmaßnahmen mit den wir der Glaubwürdigkeit unserer Erweiterungs- Beginn des Beitritts zum 1. Januar 2007 ergreifen. Ich politik und das erfordert auch die Situation in der Euro- glaube, allein das kann eine überzeugende Antwort auf päischen Union und ihren Bevölkerungen. Es ist ein die inkriminierten Defizite im Kommissionsbericht sein. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5555

Thomas Silberhorn (A) Ich glaube, das ist auch aus deutscher Sicht ein bri- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 sowie die Zusatz- (C) santes Thema; denn es geht um die Fragestellung, wie punkte 7 und 8 auf: die Bundesregierung mit eigenen Staatsangehörigen um- 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- geht, die in Kontakt mit dem Justizwesen in Bulgarien richts des Ausschusses für Menschenrechte und und Rumänien kommen können. Mit dieser Frage be- Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) schäftigt sich unter anderem – ich darf darauf hinweisen – auch ein Untersuchungsausschuss in diesem Hause. Ich – zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- plädiere dafür, genau hinzuschauen und die Thematik rung ernst zu nehmen. Das, was ich fordere, nämlich Urteile vorerst gegenseitig nicht anzuerkennen, eine Ausliefe- Siebter Bericht der Bundesregierung über rung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls vorerst ihre Menschenrechtspolitik in den auswärti- nicht vorzunehmen, vorsichtig zu sein beim Zugang zu gen Beziehungen und in anderen Politikbe- den Datenbanken von Europol und Eurojust, wäre kei- reichen nerlei Einschränkung gegenüber Bulgarien und Rumä- – zu dem Antrag der Abgeordneten Burkhardt nien im Vergleich zum Status quo, sondern lediglich eine Müller-Sönksen, Florian Toncar, Dr. Karl Aufrechterhaltung des Status quo in diesen begrenzten Addicks, weiterer Abgeordneter und der Frak- Bereichen für einen begrenzten Zeitraum nach dem Bei- tion der FDP tritt. Das sollten wir uns wert sein. Ich appelliere an die Bundesregierung, hierzu eine Initiative gegenüber der 7. Bericht der Bundesregierung über ihre Europäischen Kommission zu ergreifen. Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikberei- Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich chen noch Folgendes sagen: In der Abwägung bin ich ein Be- fürworter des Beitritts, auch zum 1. Januar 2007, weil – Drucksachen 15/5800, 16/1999, 16/3004 – der Eiserne Vorhang erst dann vollständig beseitigt sein Berichterstattung: wird, wenn Bulgarien und Rumänien Mitglieder der Eu- Abgeordnete Holger Haibach ropäischen Union sind. Es ist ein Beitrag zur Demokra- Christoph Strässer tisierung und zur Stabilisierung der gesamten Region Florian Toncar in Südosteuropa, wenn Bulgarien und Rumänien Mit- Michael Leutert glieder der Europäischen Union werden. Volker Beck (Köln) ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) Haibach, Erika Steinbach, Carl-Eduard von (D) Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Bismarck, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Thomas Silberhorn (CDU/CSU): Dr. Herta Däubler-Gmelin, Christoph Strässer, Es gibt eine hoffnungsvolle wirtschaftliche Dyna- Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der mik. Erwähnen möchte ich auch – damit komme ich Fraktion der SPD zum Schluss, Frau Präsidentin –, dass es in Bulgarien Der Menschenrechtsrat der Vereinten Natio- wie in Rumänien Gesellschaften gibt, die proeuropäisch nen – Wirksamkeit sichern und Glaubwürdig- eingestellt sind und die auch für unser Land einige Sym- keit schaffen pathie hegen. Das sollten wir erwidern. Uns verbinden mit Rumänien und Bulgarien enge historische und kul- – Drucksache 16/3001 – turelle Beziehungen. Das kann eine Basis für eine er- ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker folgreiche Integration beider Länder in die Europäische Beck (Köln), Birgitt Bender, Dr. Uschi Eid, wei- Union sein. terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Vielen Dank. NISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Menschenrechte in Zentralasien stärken FDP) – Drucksache 16/2976 – Überweisungsvorschlag: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Entwicklung auf den Drucksachen 16/2293, 16/2954 sowie 16/2997 Der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Hilfe hat in seine Beschlussempfehlung auf der vorgeschlagen. Die Vorlage auf der Drucksache 16/2293 Drucksache 16/3004 den Antrag der Fraktion der FDP – Tagesordnungspunkt 6 a – soll zusätzlich an den Aus- auf der Drucksache 16/1999 mit dem Titel „7. Bericht schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in schutz überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan- den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikbe- den? – Das ist der Fall. Die Überweisungen sind so reichen“ mit einbezogen. Über diesen Antrag soll eben- beschlossen. falls abschließend beraten werden. Sind Sie damit 5556 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) einverstanden? – Ich sehe, dass dies der Fall ist. Es ist Möglichkeit zur Evaluierung nicht nur eröffnet, sondern (C) also so beschlossen. sogar vorsieht. Wir werden darüber in den nächsten Jah- ren sicherlich noch an der einen oder anderen Stelle dis- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die kutieren. Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Das ist so beschlossen. Im Aktionsplan wird an zentraler Stelle die weltweite Ächtung der Todesstrafe als eines der Leitprinzipien Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege deutscher Menschenrechtspolitik hervorgehoben. Und Christoph Strässer von der SPD-Fraktion. dies zu Recht! Das menschliche Leben, die Würde des Menschen sind unantastbar, und zwar auch gegenüber Christoph Strässer (SPD): solchen Menschen, die sich ihrerseits nicht an solche Re- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- geln halten. legen! Der Siebte Bericht der Bundesregierung über ihre Staatliche Verantwortung bietet niemals und nir- Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen gendwo einen rechtlich legalen oder moralisch legiti- und in anderen Politikbereichen, über den wir heute de- mierten Ansatz zur Vernichtung menschlichen Lebens. battieren, ist wie bereits sein Vorgänger ein umfangrei- Dieser Grundsatz gilt und – das sage ich ganz deutlich – ches, hochinteressantes Kompendium geworden, ein muss gelten, unabhängig vom Stand der Entwicklung Kompendium, das man zur Pflichtlektüre zum Beispiel der jeweiligen Gesellschaft. Die meisten Hinrichtungen im Politik- oder Gemeinschaftskundeunterricht an unse- finden nach wie vor in China statt, gefolgt vom Iran, von ren weiterführenden Schulen machen sollte. Gerade an- Saudi-Arabien und – das muss man sagen – von den Ver- gesichts vieler Ereignisse in unserem Lande wäre das einigten Staaten von Amerika. nicht wirklich verkehrt. Wir werden weiterhin in den Rechtsstaats- und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Menschenrechtsdialogen mit China und mit dem Iran Denn es ist nach wie vor erschreckend, meine Damen die Todesstrafe kritisch zur Diskussion stellen. Das und Herren, wie wenig im Bewusstsein gerade junger macht auch Sinn, wenn man sich vor Augen hält, meine Menschen die Idee der Grund- und Menschenrechte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, verankert ist, wie wenig wir uns selbst immer wieder dass in diesen Ländern auch Minderjährige und geistig klar machen, dass Menschenrechte keine Selbstverständ- Behinderte öffentlich hingerichtet werden. Solche Bilder lichkeit sind. Sie müssen auch bei uns immer wieder gehören nicht zu einer humanen Gestaltung der Welt. aufs Neue verteidigt werden. Das erleben wir beinahe Dagegen müssen wir an allen Stellen protestieren. tagtäglich. Ihre universale Wirksamkeit, die unmittelba- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (B) rer Ausfluss der Würde des Menschen, eines jeden (D) bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Menschen auf dieser einen Erde ist, ist noch nicht über- NISSES 90/DIE GRÜNEN) all erkämpft worden. Nachrichten über schlimmste Men- schenrechtsverletzungen in vielen Teilen der Welt füllen Eine weitere große Herausforderung, der sich die deshalb immer wieder die Schlagzeilen. deutsche Menschenrechtspolitik in der derzeitigen schwierigen weltpolitischen Lage stellen muss, ist die Der Siebte Menschenrechtsbericht dient der kriti- Verteidigung der Menschenrechte gerade auch in Zeiten schen Analyse der Aktivitäten der Bundesregierung zur des globalen Terrorismus. Der Siebte Menschenrechts- Durchsetzung der Menschenrechte auf globaler Ebene, bericht widmet dieser Frage verdienstvollerweise viel aber auch in unserem Land selbst. Ich bedanke mich des- Raum. Die Terrorismusbekämpfung, die nötig ist, darf halb im Namen der SPD-Fraktion ganz ausdrücklich nur unter Berücksichtigung des nationalen Rechts wie beim Auswärtigen Amt und seinen Mitarbeiterinnen und des Völkerrechts stattfinden. Sonst vergibt sie ihre recht- Mitarbeitern, die dieser Aufgabe mit großem Verantwor- liche und ethische Legitimation. tungsbewusstsein und, wie ich finde, mit einem nicht nur vorzeigbaren, sondern guten Ergebnis gerecht geworden Gerade in dieser Auseinandersetzung besteht die exis- sind. tenzielle Gefahr der Aufweichung rechtsstaatlicher Grundprinzipien. Einen solchen „Erfolg“ dürfen wir ter- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) roristischen Gruppen nicht gönnen. Erstmals enthält der Bericht als integralen Bestandteil (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) einen nationalen Aktionsplan für Menschenrechte, wie dies der Deutsche Bundestag in der vergangenen Le- In diesem Zusammenhang ist auch die national wie gislaturperiode gefordert hat. Dieser nationale Aktions- international geführte Debatte über das Folterverbot plan stellt eindeutig einen Fortschritt für die Menschen- von großer Bedeutung. Wir begrüßen in diesem Zusam- rechtsarbeit in Deutschland dar. Denn er dokumentiert menhang ausdrücklich die endlich erfolgte Zeichnung den politischen Willen, menschenrechtliche Themen an des Zusatzprotokolls zur VN-Anti-Folter-Konvention herausragender Stelle in der Regierungspolitik zu veran- durch Außenminister Steinmeier im September zu Be- kern. Darüber hinaus stellt auch dieser nationale Ak- ginn der Generalversammlung der Vereinten Nationen. tionsplan ein öffentliches Dokument mit hohem Bil- Dies ist ein ganz, ganz wichtiger Schritt im Interesse der dungswert dar, das den allgemeinen Diskurs über Glaubwürdigkeit unserer eigenen Menschenrechtspolitik menschenrechtliche Themen fördert und zur Bewusst- nach innen wie nach außen. Wir werden – das ist ein seinsschärfung beiträgt und – last, but not least – die Versprechen, keine Drohung – die Einrichtung der ent- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5557

Christoph Strässer (A) sprechenden Präventionsmechanismen sehr sorgfältig Ich sehe es als einen großen Fortschritt an, dass es in (C) begleiten und dafür sorgen, dass sie im Sinne der Verein- Teilen Afrikas, insbesondere in Norduganda, offensicht- barungen der Vereinten Nationen wirken können. lich gelingt, diesen Zustand langsam, aber sicher, wenn auch zu langsam, zu überwinden. Das haben wir zu mei- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ner großen Freude gerade heute von Mitgliedern der Or- bei Abgeordneten der FDP) ganisation „Ärzte ohne Grenzen“ erfahren. Daran sollten Allerdings muss uns in diesem Zusammenhang die wir weiter arbeiten. Verabschiedung des US-amerikanischen Gesetzesvorha- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bens zur Behandlung mutmaßlicher Terroristen – ich bei Abgeordneten der FDP) sage das ganz deutlich – zutiefst beunruhigen. Trotz eini- ger Fortschritte, die wir sehen, bleibt es demnach der Aber ich benenne an dieser Stelle auch einen inner- CIA erlaubt, Gefangene in unterkühlten Zellen mit kal- staatlichen Mechanismus, über den wir uns sehr schnell tem Wasser zu überschütten oder so lange mit Dauerste- verständigen müssen. Die Kinderrechtskonvention der hen und Schlafentzug zu zermürben, bis sie schließlich Vereinten Nationen ist auch im Sinne des Schutzes der zu Aussagen bereit sind. Obwohl der Wahrheitsgehalt Kinder weltweit ein Zeichen von Achtung und Verant- solcher unter Druck gemachten Aussagen zweifelhaft ist wortlichkeit der internationalen Staatengemeinschaft ge- – das wissen wir alle –, können Ankläger sie verwenden genüber diesen Kindern. Insofern ist es wichtig – wir ha- und damit Unschuldige zur Verurteilung bringen. Alle ben das im Rahmen der Berichterstattung diskutiert, seit Informationen, auch solche vom Hörensagen – alle Ju- ich diesem Deutschen Bundestag angehöre –, dass risten wissen, wie schwierig das ist –, gelten als verwert- bar, sind jedoch von der Verteidigung nicht überprüfbar. (Zuruf von der SPD: Auch schon davor!) Die internationale Rechtslage an dieser Stelle ist ein- – ja, aber mehr kann ich nicht sagen – die noch bestehen- deutig. Die Anwendung oder Androhung von Gewalt zur den Vorbehalte Deutschlands zur Wirksamkeit der Kin- Abgabe einer Erklärung eines gefangenen Menschen un- derrechtskonvention endlich und ohne Einschränkung terliegt einem absoluten Verbot, und zwar ohne ir- zurückgenommen werden. gendeine Ausnahme. Besonders deutlich ist Art. 2 (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Abs. 2 der VN-Konvention gegen Folter. Dieser be- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stimmt, dass auch außergewöhnliche Umstände, gleich welcher Art, seien es Krieg oder Kriegsgefahr, innenpo- Ich sage das ganz deutlich. In den letzten Jahren gab es litische Instabilität oder ein sonstiger öffentlicher Not- ja immer wieder die eine oder andere Fechterei zwischen stand, nicht als Argument für Folter geltend gemacht den Fraktionen. Aber im Bereich der Menschenrechtsar- (B) werden dürfen. Das ist gut. Das ist richtig. In diesem Zu- beit bietet die große Koalition keine Legitimation mehr (D) sammenhang bleibt für mich die Feststellung, dass in dafür, die Nichtrücknahme der Vorbehalte zu erklären. Guantanamo nach Berichten vieler internationaler Or- Auf die einschränkungslose Rücknahme dieser Vorbe- ganisationen bereits seit 2002 Grundrechte durch grau- halte, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, same und entwürdigende Maßnahmen außer Kraft ge- sollten wir uns schnellstens verständigen. Alles andere setzt werden. wäre nicht gut für das Image Deutschlands in der Welt. Der Schutz der Menschenrechte ist immer und ganz (Beifall bei der SPD und der FDP) wesentlich der Schutz vor der Willkür durch den Staat. Es kann nur eine Schlussfolgerung geben und die Meine Damen und Herren, der Siebte Bericht ist, wie lautet: Guantanamo – das hat glücklicherweise auch die gesagt, aus unserer Sicht ein gelungenes Dokument. Wir Bundeskanzlerin gefordert – muss so schnell wie mög- müssen seine Schlussfolgerungen umsetzen. Seneca, der lich geschlossen werden. Die dort Einsitzenden müssen römische Philosoph, hat bereits gesagt: „Nicht der Wis- rechtsstaatlichen Verfahren zugeführt werden. Darüber sende ist glücklich, sondern der Handelnde.“ Es gäbe sollte sich der Deutsche Bundestag sehr einig sein. keine Fortschritte bei der Durchsetzung menschenrecht- licher Standards ohne die verdienstvolle Arbeit vieler (Beifall im ganzen Hause) Nichtregierungsorganisationen. Deshalb gilt mein aus- Zum Schluss zu einem anderen Bereich. Ein besonde- drücklicher Dank gerade den vielen ehrenamtlich Täti- res Anliegen der Menschenrechtsarbeit der SPD-Bun- gen, die in allen Teilen der Welt unter oftmals schwie- destagsfraktion war und ist seit jeher, die Rechte der rigsten Bedingungen aktiv sind und einen wesentlichen, Kinder weltweit, aber auch national einzufordern und einen unverzichtbaren Beitrag für die Menschen leisten, durchzusetzen. Der Siebte Menschenrechtsbericht gibt die in existenzieller Not sind. Ich hoffe und wünsche, diesem Thema einen dementsprechenden Stellenwert. Es dass es gelingt, die Zusammenarbeit zwischen Parlament muss unsere Aufgabe sein, die Chancen von Kindern auf und den Nichtregierungsorganisationen, insbesondere ein Leben in Würde und Selbstbestimmung zu verbes- den im Forum Menschenrechte zusammengeschlosse- sern. Ihre Ausbeutung in vielen Regionen dieser Erde, nen, zu vertiefen – im Interesse der Menschen, die un- ihre Ausbeutung als Arbeitssklaven oder zu sexuellen sere Unterstützung weiterhin benötigen. Dienstleistungen sowie ihr Missbrauch als Soldaten und Herzlichen Dank. Soldatinnen in gewalttätigen Auseinandersetzungen sind verabscheuungswürdige Menschenrechtsverletzungen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie gegen die wir stets vehement gekämpft haben und weiter bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ kämpfen werden. DIE GRÜNEN) 5558 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: inneren Bereich einhergegangen. Das sollte uns in (C) Das Wort hat der Kollege Florian Toncar, FDP-Frak- Deutschland eine Lehre sein. tion. Natürlich sind wir in Deutschland immer noch auf ei- nem sehr hohen Stand, was die Verwirklichung der Men- Florian Toncar (FDP): schenrechte angeht. Aber wir hatten beispielsweise im Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Berichtszeitraum auch eine Diskussion über das Folter- Zu Beginn unserer heutigen großen Menschenrechtsde- verbot. Es gab auch in Intellektuellenzirkeln und in dem batte möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich bei den einen oder anderen Feuilleton durchaus Menschen, die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss, beim Auswär- vorgeschlagen haben, Folter unter eine Art Abwägung tigen Amt und beim Menschenrechtsbeauftragten der zu stellen, das heißt, dass man zum Beispiel foltern darf, Bundesregierung für die Zusammenarbeit zu bedanken. wenn besonders schlimme Schäden oder Ähnliches dro- Sie ist in der Regel sachorientiert und wenig von den ty- hen. Ich glaube, dass es Aufgabe unseres Ausschusses pischen Reflexen gekennzeichnet, die man in anderen und dieses Hauses ist, darauf zu achten, dass jede Form Ausschüssen erlebt. Das empfinde ich als sehr ange- von Relativierung des Folterverbots bei uns im Inland nehm. keine Chance bekommt. Wir diskutieren heute den Menschenrechtsbericht der (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Bundesregierung. Die erste Frage, die sich stellt, lautet: Abgeordneten der CDU/CSU und der LIN- Was muss ein solcher Bericht leisten? Ich erkenne zwei KEN) Hauptaufgaben. Es geht zum einen um die Information der Öffentlichkeit, um Menschenrechtsbildung und um Die Glaubwürdigkeit, die dadurch entsteht, dass wir Sammlung von Informationen über Menschenrechte. uns im Inneren an unsere Werte halten, hilft uns natür- Das leistet der Bericht zweifelsohne. Ich glaube aber, lich auch im Äußeren. Das ist unbestreitbar. Wenn wir dass das die weniger wichtige der beiden Aufgaben ist, uns im Inneren Dinge zuschulden kommen lassen, wird die der Bericht erfüllen muss, denn es gibt viele Quellen, das bei Gesprächen im Ausland sofort aufgegriffen. Das in denen man etwas über die Menschenrechtssituation zerstört die Basis, auf der wir argumentieren. nachlesen kann. Wir können die Berichte der Nichtregie- Deswegen hat es mich schon geärgert, als vor einiger rungsorganisationen zu Rate ziehen oder den Jahresbe- Zeit bekannt wurde, dass deutsche Beamte in Guanta- richt von Amnesty International. Das Auswärtige Amt namo und auch in Damaskus in Gefängnissen Verhöre stellt Informationen über verschiedene Länder bereit und vorgenommen oder sich an solchen Verhören beteiligt wir haben das Deutsche Institut für Menschenrechte. Es haben; denn das führt dazu, dass uns, wenn wir in den gibt eine Vielzahl von Quellen, die ähnliche Inhalte und (B) entsprechenden Ländern unterwegs sind, diese Ge- (D) Aufgaben vorweisen. schichte vorgehalten wird und wir dem Vorwurf der Aber es gibt eine zweite Aufgabe. Das ist die Auf- Doppelmoral entgegentreten müssen. gabe, die diesen Bericht legitimiert und ihn besonders (Zuruf von der FDP: So ist es!) wichtig macht. Es geht um die Frage: Was tut die Bun- desregierung im Bereich Menschenrechtspolitik? Ich Aus diesem Grunde halte ich es auch für ausgespro- glaube, ein solcher Bericht muss noch sehr viel klarer, chen bedenklich, dass der Kontakt von deutschen Solda- als das bisher der Fall war, benennen, wo unsere Ziele ten bei der Bewachung eines Gefängnisses in Kanda- und unsere Schwerpunkte sind, was wir gemacht haben, har dem Verteidigungsausschuss fünf Jahre lang nicht welcher Instrumente wir uns bedient haben und wie am bekannt geworden ist. Ende der Erfolg aussah. Mit dem nationalen Aktions- (Beifall bei der FDP und der LINKEN) plan, den es jetzt erstmals gibt, ist ein Anfang gemacht. Dieser Aktionsplan stellt das Herz und die eigentliche Jetzt stehen Vorwürfe im Raum, die aufgeklärt werden Begründung für die Existenz eines solchen Menschen- müssen. Es stellt sich natürlich die Frage, warum das rechtsberichts dar. Aus diesem Grund muss er im Zen- bisher nicht geschehen ist. Die „Frankfurter Allgemeine trum stehen und darf aus meiner Sicht nicht durch ein Zeitung“ schreibt heute völlig zu Recht: Übermaß an Fakten und sonstigen Zusatzinformationen Was wäre daran verwerflich gewesen – wenn sonst verwässert werden. Der Leser muss klar erkennen kön- nichts war? nen, was die Bundesregierung am Ende getan und er- reicht hat. Das Leidige an solchen Vorkommnissen ist immer, dass das Verteidigungsministerium sich einem Verdacht aus- (Beifall bei der FDP) setzt. Noch leidiger ist es, wenn an den Vorwürfen am Natürlich sind in dem Bericht eine Vielzahl von The- Ende überhaupt nichts dran ist. Deswegen kann ich nur men angesprochen. Aber ein Gedanke zieht sich durch, ausgesprochen bedauern und mein Missfallen ausdrü- der mir persönlich besonders wichtig ist, nämlich der cken, dass es wieder einmal so gelaufen und das Parla- Gedanke des Zusammenhangs von Menschenrechts- ment nicht angemessen informiert worden ist. politik im Inneren und im Äußeren. Es ist ein Zusam- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten menhang, den man eindeutig sehen kann. Bei manchen der LINKEN) Fehlentwicklungen kann man erkennen, dass er nicht beachtet wird, etwa in den USA. Da sind Fehlentwick- Es ist nämlich so, dass man mit wenigen Handstri- lungen im äußeren Bereich mit Fehlentwicklungen im chen und durch wenige Einzelpersonen manches einrei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5559

Florian Toncar (A) ßen kann, was viele andere an unterschiedlichsten Stel- um den Einfluss Europas auf die Menschenrechtspoli- (C) len im Bereich der Menschenrechtspolitik jahrelang tik. Durch neue starke Spieler, die auf die Bühne treten aufgebaut haben. Wir haben in Deutschland durchaus ei- – ich nenne beispielsweise China, das in Afrika sehr prä- nen Ruf zu verlieren. Ich möchte nicht, dass sich solche sent ist –, wird es für uns Europäer zunehmend schwieri- Vorgänge und auch solche Informationsverläufe wieder- ger, in Gesprächen mit Vertretern anderer Länder men- holen. Es kann auch nicht dabei bleiben, dass man diese schenrechtspolitische Positionen zu vertreten; denn es Vorgänge allein aufgrund von dienstlichen Erklärungen gibt für diese Länder alternative Gesprächspartner, die von Soldaten aufklärt. Da wird schon etwas mehr Auf- keine lästigen Fragen nach den Menschenrechten stellen. wand erforderlich sein. Wir müssen die Diskussion über unsere Möglichkei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt einen zwei- ten in der internationalen Menschenrechtspolitik etwas ten Antrag, über den wir heute beschließen. Das ist ein offener führen. Wir müssen aber auch klar sagen, dass es Antrag zum Menschenrechtsrat, der auf den ersten Er- nicht angehen kann, dass sich ein Land wie China, das fahrungen mit diesem neuen Gremium beruht. Es gibt immerhin ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Ver- gute Erfahrungen; das weiß ich. Ich möchte trotz allem einten Nationen ist – die Vereinten Nationen haben ja die sagen, dass ich persönlich von den Entwicklungen, die Sicherung des Weltfriedens als Aufgabe –, auf Dauer bei sich in Genf ergeben haben, insgesamt enttäuscht bin. allen menschenrechtspolitisch bedeutsamen Entschei- Ich glaube, dass es einige ernüchternde Entwicklungen dungen eine Zustimmung für selbstverständliche Maß- gegeben hat. Es droht die Entwicklung, dass wir Sit- nahmen – beispielsweise für das Vorgehen gegen den zungsperiode für Sitzungsperiode immer mehr dazu Massenmord in Darfur – politisch vergolden lässt, indem übergehen, in diesem Rat Schadensbegrenzung zu be- ihm an anderer Stelle Zugeständnisse gemacht werden. treiben und Schlimmeres zu verhindern. Das kann nicht Wenn alle so handeln würden, wäre keine internationale Sinn eines solchen Gremiums sein. Organisation mehr handlungsfähig. Aus diesem Grund müssen wir dieser Tendenz entgegentreten. Der Antrag bringt in sehr klarer Sprache zum Aus- druck, dass es Defizite gibt. Schon in der Überschrift (Beifall bei der FDP) heißt es: „Wirksamkeit sichern und Glaubwürdigkeit Ich hoffe, dass die Bundesregierung dieses Thema schaffen“. Wirksamkeit scheint noch nicht gegeben zu zum Schwerpunkt ihrer Ratspräsidentschaft macht. Da sein; Glaubwürdigkeit muss erst noch geschaffen wer- diese Forderung auch im Antrag enthalten ist, gehe ich den. Da haben die Antragsteller Recht. Es ist durchaus davon aus, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regie- bemerkenswert, dass das auch in der Klarheit der For- rungserklärung zur Ratspräsidentschaft auf das Men- mulierung zum Ausdruck kommt. schenrechtsthema ausführlich eingehen wird. (B) In dem Antrag der Koalition wird zu Recht von der (D) Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. großen Gefahr der Blockbildung gesprochen. Die For- mulierung, dass die Mehrheit der Staaten des Südens die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Handlungsfähigkeit der Minderheit in unerträglicher der SPD) Weise einschränken würde, spiegelt durchaus wider, was im Menschenrechtsrat abgelaufen ist. Da haben wir ei- Vizepräsident Dr. h. c. : nige bedauerliche Fehlentwicklungen zu verzeichnen. Ich erteile das Wort Kollegen Holger Haibach, CDU/ (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang CSU-Fraktion. Thierse) (Beifall bei der CDU/CSU) Für mich persönlich ist ganz wichtig, dass wir beim Universal Periodic Review, also der regelmäßigen Holger Haibach (CDU/CSU): Überprüfung aller Mitgliedstaaten durch den Menschen- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- rechtsrat, weiterkommen. Eine Voraussetzung für die ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will im Hin- Zustimmung zu diesem Kompromiss war, dass sich die blick auf das, was der Kollege Toncar über das Verhalten Mitgliedstaaten dieses Rates diesem Review als Erste von deutschen Soldaten und deutschen Beamten gesagt und zuvorderst stellen. Damit ist sichergestellt, dass ein hat, gerne wiederholen, was ich im letzten Jahr an dieser Land, das mitentscheiden kann, selbst überprüft worden Stelle dazu gesagt habe: Wenn sich deutsche Soldaten ist. Mit dieser Regelung habe ich die Hoffnung verbun- und deutsche Beamte – an welcher Stelle auch immer – den, dass die menschenrechtspolitisch problematischen nicht ordnungsgemäß verhalten haben, dann gehört das Staaten, die zwar Mitglied dieses Rates sind, die aber auf den Tisch des Hauses und dann müssen diese Vor- nicht immer die konstruktivste Arbeit leisten, vielleicht fälle aufgeklärt werden. Aber bevor das der Fall ist, rate zu der einen oder anderen Verbesserung veranlasst wer- ich, dass wir sehr vorsichtig mit Vorwürfen sind und den können. Wenn dieses Instrument nachher nicht Vorurteile vermeiden; denn das kann ganz schnell zum greift, dann wäre ein Kernelement des neuen Menschen- Bumerang werden. rechtsrats gescheitert. Das darf nicht passieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Was Herr Toncar gesagt hat und was der Kollege der CDU/CSU und der SPD) Strässer angemerkt hat, zeigt: Es ist die Hauptaufgabe Ich möchte mit einem wichtigen Gedanken schließen, eines Menschenrechtspolitikers, unangenehme Themen der auch in diesem Antrag angesprochen wird. Es geht deutlich, wenn auch diplomatisch allerorts und zu jeder 5560 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Holger Haibach (A) Zeit anzusprechen. Das gilt für das Ausland wie auch für werden, wird nur wirksam sein, wenn wir es schaffen, (C) das Inland. Deshalb ist der Bericht der Bundesregierung dass diese Überprüfung von unabhängigen Experten über die Menschenrechtspolitik, über den wir heute dis- durchgeführt wird, und zwar auf der Grundlage ausrei- kutieren, ein wichtiger Beitrag für eine Standortbestim- chenden Datenmaterials. Das bedeutet, dass nicht nur mung. Er gibt einen Überblick und ist zugleich eine Regierungsdokumente der jeweiligen Länder, sondern Bewertung nationaler und internationaler Menschen- auch Dokumente von unabhängigen internationalen Gre- rechtspolitik. mien, Nichtregierungsorganisationen und Oppositions- gruppen Berücksichtigung finden müssen. Wir alle wissen, dass die Erstellung eines solchen Werkes ein hartes Stück Arbeit darstellt und großer Ko- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem ordinationsarbeit innerhalb der Bundesregierung bedarf. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen möchte ich dem Auswärtigen Amt und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für die Erstellung Ich glaube, diese Punkte werden entscheidend dafür dieses Berichtes verantwortlich sind, ganz herzlich dan- sein, ob der Menschenrechtsrat Erfolg haben wird. Es ken. gibt keine Alternative. Entweder wir sind erfolgreich oder wir werden scheitern. Ich weiß nicht, wie ein neuer (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Weg aussehen könnte. Daran wird sich entscheiden, ob und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Rat eine Chance für die Menschenrechte ist oder so- gar hinter die alte Menschenrechtskommission zurück- Ich will jetzt nicht auf Einzelheiten eingehen; das fällt, was eine Katastrophe wäre. wird nachher mein Kollege von Bismarck tun. Ich will hingegen kurz auf die Erwartungen für die künftigen Der Deutsche Bundestag sollte hier seine Stimme er- Jahre, die wir in einer interfraktionellen Beschlussemp- heben. Der Antrag der Koalition bietet eine gute Grund- fehlung niedergelegt haben, zu sprechen kommen. Nach- lage hierfür. Deshalb kann ich ihn wärmstens zur Zu- dem der nächste Bericht etwas außerhalb des sonstigen stimmung empfehlen. Rhythmus im Jahr 2008 vorgelegt wird, wollen wir zur In diesem Zusammenhang möchte ich nicht uner- zweijährigen Periode zurückkehren. Wir wollen weiter- wähnt lassen, dass bei dem Besuch, den die Vorsitzende hin, dass die Menschenrechtspolitik als Querschnittsauf- und ich in Genf gemacht haben, die konstruktive Rolle gabe verstanden wird und dass auswärtige und innenpo- der Bundesrepublik bei den schwierigen Verhandlungen litische Themenbereiche kohärent beleuchtet werden. immer wieder erwähnt worden ist. Auch dafür möchte Wir wollen, dass Themen weniger deskriptiv und noch ich der Bundesregierung, dem Auswärtigen Amt und mehr auf die Handlungen und Handlungsabsichten der den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Genf recht Bundesregierung ausgerichtet werden, dass der Natio- herzlich danken. (B) nale Aktionsplan als Bestandteil des Berichtes erhalten (D) bleibt und dass die Tätigkeiten Deutschlands im Rahmen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der der internationalen Menschenrechtspolitik dargestellt FDP) werden. Auch das ist schon angesprochen worden: Es wird Spätestens mit der internationalen Menschrechtspoli- noch mehr Verantwortung auf Deutschland zukommen. tik bin ich wieder bei den unangenehmen Dingen, die Wir haben nicht nur die Ratspräsidentschaft bei der Eu- man ab und zu als Menschenrechtspolitiker sagen muss. ropäischen Union, wir haben noch dazu den Vorsitz bei „Chance für die Menschenrechte“, das war eine der der G 8. Das ist eine außergewöhnliche Situation, die es Überschriften, mit der eine Zeitung den damals neu ge- uns einerseits ermöglicht, innerhalb des Rates EU-Posi- gründeten Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen tionen im Sinne deutscher Menschenrechtspolitik noch begrüßt hat. stärker zu beeinflussen. Andererseits haben wir viel- leicht auch die Möglichkeit, durch entsprechende Dis- Heute, nachdem zwei von drei der für dieses Jahr vor- kussionen in der G 8 dafür zu sorgen, dass die von mir gesehenen Sitzungsperioden vorübergegangen sind, bie- eben angesprochene Blockbildung ein bisschen aufge- tet sich ein Bild mit Licht und Schatten. brochen wird und Menschenrechte einen höheren Stel- Auf der einen Seite gibt es positive Aspekte: die ver- lenwert bekommen. stärkte Beteiligung der Nichtregierungsorganisationen Menschenrechten einen höheren Stellenwert zu geben am interaktiven Dialog, die erhöhte Tagungsfrequenz ist offensichtlich per se die sehr löbliche Absicht, die die und -dauer sowie die Bereitschaft, sich neben wichtigen Fraktion der Grünen mit ihrem Antrag zu Zentralasien Verfahrensfragen mit mindestens ebenso wichtigen in- verfolgt. Er ist vermutlich vor dem Hintergrund unserer haltlichen Fragen zeitnah zu beschäftigen. – Auf der an- kürzlich beendeten Usbekistanreise entstanden. Der An- deren Seite haben wir sehr viel Anlass zur Sorge: Die trag enthält sicherlich viele richtige Feststellungen. Über aus der Menschenrechtskommission bekannte Blockbil- die eine oder andere Schlussfolgerung wird man jedoch dung scheint sich bisher eher zu verstärken. Der Erhalt im Laufe des Verfahrens noch diskutieren müssen, vor bewährter Mechanismen, etwa der Sonderberichterstat- allen Dingen darüber, wie realistisch und inwiefern sie ter, scheint zumindest fraglich. Der Universal Periodic umsetzbar sein wird. Review, der, wie der Kollege Toncar richtig angemerkt hat, integraler Bestandteil der gesamten Reform ist und Zusammenfassend habe ich, meinen Aussagen zu An- dafür sorgen soll, dass alle Mitgliedstaaten der UN min- fang folgend, viel Unangenehmes sagen müssen. Lassen destens alle fünf Jahre einer Überprüfung unterworfen Sie uns mit der heutigen Debatte helfen, dass eines Ta- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5561

Holger Haibach (A) ges eine Situation eintritt, in der Menschenrechtspoliti- kürlich verhaftet worden sind und unter unmenschlichen (C) ker mehr Angenehmes als Unangenehmes über Men- Bedingungen eingesperrt und geschlagen wurden. Ei- schenrechte sagen können. nige wurden so schwer geschlagen, dass sie noch heute unter den Folgen leiden. Für die Verantwortlichen hatte Vielen Dank. das bisher keinerlei Konsequenzen. Auch das wird in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie dem Bericht nicht erwähnt. bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Was die Querschnittsaufgabe betrifft, möchte ich auf NISSES 90/DIE GRÜNEN) Folgendes hinweisen: Wie wir alle wissen, gibt es nicht bloß bürgerliche, sondern auch soziale Menschenrechte. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Soziale und bürgerliche Rechte gehören untrennbar zu- Ich erteile Kollegen Michael Leutert für die Fraktion einander; ich glaube, darüber sind wir uns einig. Die Linke das Wort. Wir hatten heute das Vergnügen, einer Debatte über (Beifall bei der LINKEN) die insbesondere von der SPD neu entdeckte so genannte Unterschicht in Deutschland beizuwohnen. Wie steht es Michael Leutert (DIE LINKE): denn um die sozialen Rechte in Deutschland? Ich erin- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle nere an Art. 22 der Menschenrechtserklärung, das Recht Fraktionen im Bundestag begrüßen, dass es den Men- auf soziale Sicherheit. Wie steht es in Deutschland da- schenrechtsbericht gibt und dass er in den nächsten Jah- rum? In der Unterschichtendebatte geht es um 11 Millio- ren fortgeschrieben werden soll. Entscheidend ist aber nen Menschen. Es geht nicht um einige Wenige, die ir- nicht, was darin steht – das ist meistens gut und bietet zu- gendwo in ihrem Zimmerchen sitzen. Wie steht es bei meist einen Handlungsfaden für die nächsten Jahre –, diesen Menschen um die Einhaltung des Art. 23 der sondern das, was nicht darin steht. Menschenrechtserklärung, um das Recht auf Arbeit? Wie steht es um das Recht auf – das sage ich an die Die Beschlussempfehlung des Ausschusses gibt mei- Adresse der FDP – befriedigende Entlohnung, wie es in nes Erachtens zwei wichtige Impulse, wie man diese der Menschenrechtserklärung heißt? Wie steht es um Mängel beheben könnte: Der erste Aspekt ist – das Art. 24, Recht auf regelmäßigen – im Übrigen bezahlten – wurde schon angesprochen –, dass Menschenrechtspoli- Urlaub? – Das alles ist Inhalt der Menschenrechtserklä- tik als Querschnittsaufgabe zu betrachten ist; sie bezieht rung, die nicht wir erstellt haben. Es sind Rechte, denen sich nicht nur auf die Außenpolitik. In der Beschluss- wir immer wieder beipflichten und die wir gerne hoch- empfehlung werden insbesondere Frauen- und Kinder- halten. Aber wie kann ein Hartz-IV-Empfänger, der von rechte angesprochen. Zweitens soll auch mit Blick auf (B) der Willkür seines so genannten Fallmanagers abhängig (D) die Prozesse in der Europäischen Union mehr Gewicht ist, wenn er in den Urlaub fahren möchte, von seinem auf die Einhaltung der Menschenrechte gelegt werden. Recht auf Urlaub Gebrauch machen? An dieser Stelle möchte ich meine Kritik anbringen Wie steht es um Art. 26, Recht auf Bildung? Im und sagen, was ich mir für den nächsten Menschen- Haushaltsausschuss haben wir heute über den Einzel- rechtsbericht wünsche. Herr Haibach, Sie haben darauf plan 30 – Bildungs-/Forschungsministerium – debattiert. hingewiesen, dass es auch Aufgabe von Menschen- In diesem Zusammenhang wurde deutlich gemacht, dass rechtspolitikern ist, unbequeme Dinge zu sagen. in Deutschland nur noch 11 Prozent der Kinder aus (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Guter Schichten mit niedrigem Einkommen ein Studium auf- Mann, der Haibach!) nehmen können, aber ein Drittel der Kinder aus der Schicht mit mittlerem, zwei Drittel aus der Schicht mit Das möchte ich tun, indem ich auf ein paar Defizite des gehobenem und über 80 Prozent aus der Schicht mit ho- Berichts hinweise. hem Einkommen. Wie wird angesichts dessen das Recht Ich wünsche mir, dass im nächsten Menschenrechts- auf Bildung verwirklicht? bericht steht, dass Menschenrechtsverletzungen leider Wie steht es um Art. 27, Recht auf Teilnahme am auch in der Europäischen Union an der Tagesordnung kulturellen Leben? Sie fragen sich vielleicht, was ich sind. Ich spreche die Problematik um das Baskenland damit meine. Gehen Sie zum Beispiel einmal mit Ihren an. Amnesty International berichtet immer wieder da- Kindern in den Zoo. Dort zahlen Sie 12 Euro Eintritt. von, dass im Baskenland willkürliche Verhaftungen Das sind ungefähr 4 Prozent des Regelsatzes eines ALG- stattfinden, dass dabei Menschen verachtende Methoden II-Empfängers. Wie steht es darum? angewandt werden, die in den Bereich der Folter fallen, unter anderem die Bolsa-Methode, bei der dem Betroffe- Wie gehen wir mit Art. 12 um, Recht auf Nichtbe- nen eine Plastiktüte über den Kopf gezogen wird und er einträchtigung seiner Ehre und seines Rufes? Dieses einem Erstickungstod nahe gebracht wird, dass Zeitun- Recht hat jeder Mensch. Doch diese Menschen hören gen verboten werden, dass das Recht auf Meinungsfrei- immer wieder, sie ruhten sich in der sozialen Hänge- heit eingeschränkt wird usw. Davon steht in diesem Be- matte aus – dieses Argument ist heute wieder gefallen – richt nichts. oder seien antriebslos. Weiter möchte ich darauf hinweisen, dass im Jahr Letztendlich frage ich – auch das wurde schon von al- 2001 während des G-8-Gipfels in Genua bei dem Über- len Rednern angesprochen –, wie es um Art. 9, den fall auf die Diaz-Schule mehr als 100 Menschen will- Schutz vor willkürlichen Verhaftungen, und Art. 5, das 5562 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Michael Leutert (A) Folterverbot, steht. Wir müssen uns fragen – die Zei- Das hätte gut zum Ausdruck gebracht, dass wir die Men- (C) tungen sind heute wieder voll mit diesem Thema –, wel- schenrechtspolitik nicht nur als Kritik gegen andere Län- che Rolle das KSK tatsächlich im Ausland spielt. War der wenden, sondern dass sie ein Maßstab ist, den wir das BKA zum Beispiel in syrischen Folterknästen und auch an uns anlegen lassen und für dessen Nichteinhal- hat dort Gefangene verhört? tung wir uns kritisieren lassen. Wenn wir die Menschen- rechte international als wesentliches Leitmotiv dafür, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE wie Staaten mit ihren Bürgerinnen und Bürgern umge- GRÜNEN]: Die waren da!) hen sollen, durchsetzen wollen, müssen wir deutlich ma- Nutzen wir Informationen, die unter Folter erlangt wur- chen, dass Menschenrechte kein Kulturprojekt des Wes- den, oder nutzen wir sie nicht? Diese Fragen interessie- tens sind, sondern dass Menschenrechte universell sind ren mich. Ich denke, dass sie im nächsten Menschen- und überall gelten. Menschenrechte beinhalten auch das rechtsbericht mehr Gewicht finden sollten. Recht auf Nahrung, das Recht auf Bildung und das Recht auf Arbeit. Das ist richtig. Aber es darf vor allem Ich komme zurück zur Querschnittsaufgabe. Ich habe nicht sein, dass die Kinder, weil die Eltern eine „falsche“ skizziert, was ich darunter verstehe. Eine Konsequenz politische Gesinnung haben oder einer falschen NGO für das Parlament sollte sein, dass der Menschenrechts- angehören, nicht mehr zur Schule gehen dürfen. Das bericht in Zukunft in allen Ausschüssen beraten wird, sind im Kern die Fragen, über die wir im Zusammen- insbesondere im Sozialausschuss. Wenn wir die Men- hang mit der Menschenrechtspolitik diskutieren. schenrechte im eigenen Land vernachlässigen – das ist für mich ein ernsthaftes Problem –, dann verwirken wir In vielen Ländern, die wir als Ausschuss besuchen, auch das Recht, auf internationaler Ebene für die Einhal- würde Hartz IV für die Menschen ohne Einkommen und tung der Menschenrechte einzutreten. ohne Arbeit schon eine erhebliche Verbesserung der so- zialen Lage bedeuten. Danke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]) SPD und der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Was soll denn das heißen?) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Volker Beck, Fraktion Das sollte man einmal festhalten, bevor wir hier eine De- der Grünen. batte führen, als läge Deutschland mitten in Usbekistan. Ich finde es sehr gut, dass sich die Koalition zum (B) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit mit der Arbeit des (D) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerade Menschenrechtsrates beschäftigt. Das ist in der Tat nach dieser Rede muss ich sagen: Man darf nicht alles wichtig; denn wir hatten höhere Erwartungen an diese mit allem vermengen und die Kriterien für die Bewer- Reform geknüpft. Wir müssen die Arbeit des Rates auf- tung der Situation in verschiedenen Ländern nicht durch- merksam verfolgen. Deshalb werden wir den Antrag der einander bringen. Das scheint Ihrem Redebeitrag leider Koalition unterstützen. nicht ganz gelungen zu sein. Obwohl vieles im Zusammenhang mit dem Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, schenrechtsrat unzureichend ist und wir deshalb genau bei der CDU/CSU und der FDP – Michael hinschauen und die Bundesregierung bei ihren Initiati- Leutert [DIE LINKE]: Sie müssen auch zuhö- ven unterstützen müssen, dürfen wir die anderen Mecha- ren!) nismen, die uns zur Verfügung stehen, die OSZE, die Europäische Union und auch den Europarat, nicht hint- Ich finde es ganz entscheidend – dieser Bericht steht anstellen. Deshalb sind wir hier insbesondere in Bezug exemplarisch dafür –, dass man Menschenrechtspolitik auf Zentralasien initiativ geworden. Dort müssen die immer innenpolitisch und außenpolitisch sehen und be- Mechanismen der OSZE wirkungsmächtiger ausgestaltet achten muss. Wir müssen immer darauf achten, dass wir werden. die Menschenrechte auch in allen Bereichen gewährleis- ten und nicht Standards bestimmter menschenrechtspoli- Im Rahmen unserer Reise nach Usbekistan haben tischer Konventionen verletzen. In diesem Bericht fin- wir, beispielhaft für die gesamte Region, erfahren, wie es den sich zum Beispiel Maßnahmen zum Folterverbot, dort um Demokratie und Menschenrechte steht. Usbe- Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Frauen und kistan ist das Land mit den meisten Menschenrechtsin- für Kinderrechte, und zwar national wie international. stitutionen. Zumindest gibt es dort die meisten Verwal- Deswegen halte ich den Ansatz des Berichts, das zusam- tungen, die das Wort „Menschenrechte“ im Namen men zu sehen, für richtig. führen. Das steht allerdings im umgekehrten Verhältnis Ich bedauere sehr, Herr Gloser, dass Ihre Kollegen dazu, in welchem Umfang den Bürgerinnen und Bürger aus dem Bundesinnenministerium dieser Debatte nicht in diesem Land Menschenrechte gewährt werden. Das muss man offen aussprechen, damit die Verantwortli- beiwohnen. chen in den betreffenden Ländern merken, dass wir uns (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als westliche Politikerinnen und Politiker von solcher und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Nomenklatura und solchem Windowdressing nicht an CDU/CSU und der FDP) der Nase herumführen lassen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5563

Volker Beck (Köln) (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN scheidender Punkt ist. Diese Konvention müssen wir (C) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der endlich vorbehaltlos umsetzen. Deshalb verstehe ich CDU/CSU) nicht, warum die große Koalition gestern wieder ganz groß gekniffen hat. Als wir unseren Antrag zur Abstim- In Usbekistan kann man sehr gut beobachten, dass mung gestellt haben, haben Sie seine Behandlung mit ei- man Menschenrechtsdialoge – auch mit Usbekistan ner fadenscheinigen Ausrede vertagt. führen wir einen solchen Dialog – auf Dauer nicht ohne Zielvorgaben führen darf. Andernfalls entwickeln sie (Abg. Holger Haibach [CDU/CSU] meldet sich zu Veranstaltungen, auf die sich diese Regierungen sich zu einer Zwischenfrage) berufen können nach dem Motto: Diese Probleme wer- – Bitte schön, Herr Haibach. den angesprochen und gelöst. Es gibt keine Probleme, die nicht zu lösen sind. – Mit solchen Sprachformeln wird allerdings überdeckt, dass in puncto Einhaltung der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Menschenrechte nichts, aber auch gar nichts geschieht Einen Moment. Es ist immer noch so, dass ich das bzw. dass sich die Situation sogar noch verschlechtert. Wort erteile. In Usbekistan können wir, ähnlich wie in Russland Ihre Redezeit, lieber Kollege Beck, ist abgelaufen. – zwar auf einem anderen Niveau, aber mit derselben ne- Deswegen ist auch keine Zwischenfrage mehr möglich. gativen Tendenz –, ebenfalls beobachten, dass die NGOs neu registriert werden und am Ende dieses Prozesses Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hunderte oder sogar Tausende von ihnen unter den Tisch Doch, Herr Präsident. gefallen oder in die Illegalität gerutscht sind. Solche Ent- wicklungen sind in den postkommunistischen Staaten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: leider häufiger zu beobachten, insbesondere im Raum Handeln Sie nicht mit mir! Ich habe die Uhr vor mir. der GUS. Ihre Redezeit ist überschritten. Wir müssen deutlich machen: Wir lassen Menschen- rechtsdialoge von diesen Regimen nicht instrumentali- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sieren, um sich dadurch zu legitimieren. Diese Dialoge Seien Sie doch gnädig! werden von uns nur dann fortgeführt, wenn sich dadurch eine schrittweise Verbesserung der Situation der Men- schen in den jeweiligen Ländern erzielen lässt. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Bitte kommen Sie zum Ende Ihrer Rede. Die Zwi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) schenfrage wird nicht mehr zugelassen. (D) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch muss ganz klar sein, dass wir die Sanktionen Kollege Haibach darf seine Frage also nicht stellen. gegen Usbekistan nicht aufheben, solange man dort Ich stelle fest: Sie hätten das gestern auf den Weg nicht bereit ist, der OSZE wieder ein volles Mandat für bringen können. Das haben Sie aber nicht getan. Sie ha- die Arbeit in diesem Land zu erteilen ben sich herausgeredet, indem Sie angekündigt haben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Anhörung zur Verankerung der Kinderrechte in der sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Verfassung durchführen zu wollen. Dieses Thema hat der SPD) mit der UN-Kinderschutzkonvention aber nichts zu tun. Bei der Kinderschutzkonvention geht es um den und dem Internationalen Roten Kreuz freien Zugang zu Schutz von unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen, allen Gefängnissen und allen Gefangenen zu gewähren. nicht um die Verankerung der Kinderrechte im Grundge- Wir müssen deutlich machen, dass wir, was bestimmte setz. Sie hätten beides auf den Weg bringen können: das Standards angeht, nicht mit uns spaßen lassen. eine mit Ihrer Anhörung, das andere durch Zustimmung Ich war sehr beeindruckt – das will ich kritisch an- zu unserem Antrag. Schade, dass daraus nichts gewor- merken –, als uns die Vertreter der NGOs gesagt haben: den ist. Aber vielleicht bekommen wir das noch hin. Deutschland ist in Europa das Land, das den Menschen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rechten in seinen auswärtigen Beziehungen zu Usbe- kistan den geringsten Stellenwert einräumt. – Das soll- ten wir uns hinter die Ohren schreiben und deutlich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: machen, dass dem nicht so ist. Die Usbeken fühlen sich Der Kollege Haibach bekommt nun Gelegenheit zu sicher, weil unser Militärstandort in Termes ist. Er ist einer Kurzintervention. wichtig für unseren Einsatz in Afghanistan. Aber wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) müssen auch einen Plan B in der Tasche haben. Wir dür- fen durch Termes in unseren auswärtigen Beziehungen Holger Haibach (CDU/CSU): zu diesem Land unter menschenrechtspolitischen Ge- Herr Präsident! Herr Kollege Beck, als Parlamentari- sichtspunkten nicht erpressbar sein. scher Geschäftsführer sind Sie jemand, der mit Verfah- Christoph Strässer, Sie hatten vorhin darauf hingewie- rensfragen vertraut ist und, wie ich weiß, auch großen sen, dass die UN-Kinderschutzkonvention ein ganz ent- Wert darauf legt, zumindest wenn es gewisse Verfah- 5564 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Holger Haibach (A) rensfragen betrifft. Deshalb möchte ich mir schon die nicht stattgefunden hat. Deshalb macht es überhaupt kei- (C) Bemerkung erlauben, dass wir gestern nicht in der Sache nen Sinn, in dieser wichtigen Frage ein Schaugefecht zu über den Antrag abgestimmt haben. Wir haben, weil der veranstalten. Wir wollen und schaffen das in dieser Le- federführende Ausschuss – wir sind nicht der federfüh- gislaturperiode mit dieser Koalition. rende Ausschuss – die Befassung mit diesem Antrag ver- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tagt hat, dies ebenfalls getan. Darüber haben wir gestern abgestimmt. Wir haben nicht in der Sache abgestimmt. Ich finde, das hätten Sie der Redlichkeit halber sagen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: können. Kollege Beck, in aller notwendigen Kürze. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Heiterkeit)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kollege Beck, bitte schön. Die Geschäftsordnung, Herr Präsident, gesteht mir hierfür drei Minuten zu. Sie wären sicher besser wegge- (Zuruf von der CDU/CSU: „Sie haben Recht“, kommen, hätten Sie vorhin die Zwischenfrage zugelas- heißt die Antwort!) sen. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): NEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU Die Antwort heißt: Die Koalition hat in allen Aus- und der SPD) schüssen das Gleiche getan. Sie hat unsere Fraktion und die anderen Oppositionsfraktionen daran gehindert, die- sen Antrag zu beschließen, in dem es um die Rücknahme Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der Vorbehalte geht. Da sind die Mitglieder der Koali- Ich muss mich auch an die Geschäftsordnung halten. tion im Menschenrechtsausschuss nicht besser und nicht schlechter als die Mitglieder im Familienausschuss. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bloß, die Argumente sind überall gleich schwach. Das will ich, ohne den Präsidenten zu kritisieren, an- merken. – Ich will trotzdem in aller Kürze sprechen und Es geht letztlich darum, dass diese Vorbehalte zurück- mein Rededeputat nicht ausschöpfen. genommen werden. Man kann nicht darauf verweisen, dass es in einem anderen Gremium, in der Kinderkom- Lieber Herr Strässer, die alte Koalition hat im Bun- mission, eine Anhörung über die Aufnahme der Kinder- destag immerhin beschlossen, diese Vorbehalte zurück- (B) rechte in die Verfassung gebe. Das eine hat mit dem an- zunehmen. Wir haben uns nicht gescheut, zu sagen, wel- (D) deren nichts zu tun, außer dass das Wort „Kinder“ in che Auffassung wir haben, obwohl es schwierig war und beiden Titeln vorkommt. Deshalb ist es eine faule Aus- beinahe aus dem Fenster gesprungen wäre. rede dafür, dass Sie als Koalition nicht in der Lage sind, (Heiterkeit) sich in dieser Frage abschließend zu positionieren. Im federführenden Ausschuss hat man zudem gesagt, man Dass das nachher von der Administration nicht vollzo- müsse einmal abwarten, was bei dieser Anhörung he- gen wurde, steht auf einem anderen Blatt. rauskommt. Vertreten Sie die Position, wie Christoph Strässer sie hier deutlich gemacht hat, dass die Vorbe- Sie hätten unseren Antrag gestern beschließen und halte zurückgenommen werden können? Oder wollen dann dafür sorgen können, dass er von der Regierung Sie abwarten und zu neuen Erkenntnissen gelangen, was endlich vollzogen wird; denn Otto ist ja nicht mehr da. am Ende bedeuten könnte, dass Sie an den Vorbehalten (Heiterkeit) festhalten wollen? Was ist denn nun die Position der gro- ßen Koalition in der Frage der Vorbehalte bei der Kin- – Nicht in der Regierung. derschutzkonvention? Die Antwort darauf sind Sie mit Ihrer Kurzintervention leider schuldig geblieben. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Eduard von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bismarck, CDU/CSU-Fraktion.

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU) Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Kollegen Christoph Strässer. Carl-Eduard von Bismarck (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Ich hätte fast gesagt: Jetzt ist Otto Christoph Strässer (SPD): wieder da. So hieß mein Ur-Ur-Großvater. Herr Kollege Beck, es ist schön, mit welcher Elo- quenz Sie hier das Versagen Ihrer eigenen Leute in den Wir beraten heute die Beschlussempfehlung zum letzten beiden Legislaturperioden zum Ausdruck brin- Menschenrechtsbericht der Bundesregierung. Papier ist gen. Sie wissen genau, dass wir im Deutschen Bundestag bekanntlich geduldig. So könnte man geneigt sein, den die alte Bundesregierung mindestens zweimal aufgefor- immerhin 370 Seiten starken Bericht der Bundesregie- dert haben, diese Vorbehalte aufzuheben. Sie wissen rung auf den Lesestapel für die nächste Sommerpause zu auch genau, dass das unter Ihrer Regierungsbeteiligung legen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5565

Carl-Eduard von Bismarck (A) Dies wäre allerdings ein fataler Fehler; denn der Russland ist zwar nur ein Land von vielen auf der (C) Menschenrechtsbericht der Bundesregierung ist das Welt, in denen wir Verstöße gegen das Menschenrecht zu wichtigste amtliche Dokument zum Zustand der Men- beklagen haben. Aber die Vielzahl an Besorgnis erregen- schenrechte weltweit und in Deutschland. Der Men- den Nachrichten in diesen Tagen rechtfertigt meiner schenrechtsbericht der Bundesregierung legt Zeugnis ab Meinung nach die besondere Aufmerksamkeit, die wir über Art und Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen gerade diesem politischen Partner widmen müssen. in aller Welt. Gleichzeitig stellt er dar, wie die Bundesre- gierung auf bi- und multilateraler Ebene aktiv wird, um (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem grundlegende Menschenrechte in der Welt zu fördern. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) An dieser Stelle möchte ich der Bundesregierung und Meine Damen und Herren, der Fall Politkowskaja insbesondere dem Menschenrechtsbeauftragten der Bun- reiht sich in eine Serie von Morden an Journalisten in desregierung, Günter Nooke, sowie seinem Vorgänger Russland ein. In den Jahren 1996 bis 2005 sind in Russ- Tom Koenigs meinen herzlichen Dank für ihr Engage- land 24 Journalisten von Auftragskillern umgebracht ment aussprechen. worden. Was ist in diesem Land los, welches Mitglied der UN und des Europarates ist und eine Vielzahl von (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Menschenrechtskonventionen unterschrieben hat? Wir und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ute dürfen nicht zulassen, dass Menschenrechtskonventio- Kumpf [SPD]: Wo ist der Nooke? – Gegenruf nen zu Lippenbekenntnissen degradiert werden! der CDU/CSU: Sie wissen doch ganz genau, wo er ist!) Lassen Sie mich an dieser Stelle nur ganz kurz auf das Schicksal des in Russland inhaftierten Michail Deutschland hat in Fragen der Förderung von Men- Chodorkowski eingehen; denn ich weiß, dass wir uns schenrechten international einen ausgezeichneten Ruf. keinesfalls nur auf prominente Opfer von Menschen- Dies darf für uns jedoch kein Ruhekissen sein. Ein Blick rechtsverletzungen konzentrieren dürfen. Die Vielzahl in die Tagespresse lässt erahnen, dass der Menschen- der Missetaten auf dieser Welt findet im Verborgenen rechtsbericht der Bundesregierung 2008 kaum dünner statt. Dies geschieht leider in viel zu vielen Ländern. Op- ausfallen wird. Eine Vielzahl von Ereignissen, bei denen fer sind zu Tausenden meistens namenlose und entrech- Menschen um ihre grundlegenden Rechte gebracht wer- tete Menschen ohne Fürsprecher und Unterstützung. Wir den, dürfen dies leider nicht zulassen. wissen, dass das leider so ist. Wir müssen das Schicksal Der Mord an der russischen Journalistin und Men- dieses Michail Chodorkowski dennoch verfolgen; denn schenrechtsverteidigerin Anna Politkowskaja vor zwei sollte Russland, welches derart mit der westlichen Staa- (B) Wochen hat international große Bestürzung ausgelöst. Es tengemeinschaft verbunden ist, in seinem eigenen Land (D) kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass es sich hier- selbst das Menschenrecht eines so prominenten Opfers bei um einen politischen Mord gehandelt hat. Wie kaum missachten, dann wissen wir ungefähr, wie es um den eine andere Journalistin war Anna Politkowskaja für Rest der Welt steht, um das einmal ganz banal auszudrü- ihren Mut bekannt, Missstände wie Korruption und cken. Menschenrechtsverletzungen im russischen Militär, ins- Diese Vorfälle zeigen, wie wichtig es ist, dass sich der besondere in der Krisenregion Tschetschenien, anzu- Westen mit geschlossener Stimme gegen Akte der Will- prangern. Auch wenn Präsident Putin eine Aufklärung kür und Unmenschlichkeit und für die Einhaltung von des Mordes angekündigt hat, bleibt ein fader Beige- Menschenrechten und rechtsstaatlichen Verfahren ein- schmack. setzt. Diese Aussage ist keine Banalität, sondern sie ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- springt der Erkenntnis, dass der Westen massiv an au- neten der FDP) ßenpolitischem Einfluss verlieren wird, wenn wir unsere Interessen und Wertvorstellungen nicht klar und ge- Die Äußerung Putins, die Ermordung Politkowskajas schlossen artikulieren und konsequent vertreten. schade Russland und den Behörden in Tschetschenien mehr, als ihre Artikel es vermocht haben, verdeutlicht (Beifall bei der CDU/CSU) zum wiederholten Male den Zynismus und die Hybris des russischen Präsidenten. Und so verdient es unsere Folgendes – damit komme ich zur zweiten Vorlage, Aufmerksamkeit, wenn einer der führenden Menschen- die wir heute zu beraten haben – treibt mich außerdem rechtsberater von Präsident Putin, Oleg Orlow, aus die- um: Im neu gegründeten UN-Menschenrechtsrat sind sen Äußerungen die Konsequenzen gezogen und sein die menschenrechtsfreundlichen Staaten mittlerweile in Amt niedergelegt hat. der Minderheit. Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, hat es Anfang der Wo- Gleichzeitig muss es uns mit äußerster Besorgnis er- che auf einer Veranstaltung der CDU/CSU-Bundestags- füllen, dass die russische Polizei laut Agenturberichten fraktion klar ausgeführt. Im UN-Menschenrechtsrat ist vor einigen Tagen in der südrussischen Stadt Nasran eine mittlerweile Pakistan als Sprecher der Länder der Islami- Sympathiekundgebung für Anna Politkowskaja gewalt- schen Konferenz zum Hauptakteur geworden. Die sam aufgelöst und fünf Demonstranten festgenommen 45 Außenminister der Organization of the Islamic Con- hat. Dabei hatten die Teilnehmer der Kundgebung nur ference, OIC, haben 1990 in Kairo eine Erklärung unter- dazu aufgefordert, die Mörder der Journalistin unverzüg- schrieben, die sich letztlich von der Allgemeinen Erklä- lich ausfindig zu machen. rung der Menschenrechte verabschiedet, weil die 5566 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Carl-Eduard von Bismarck (A) Einhaltung der Menschenrechte unter den Vorbehalt der einmal eine Menschenrechtsdebatte führen könnten, in (C) Scharia gestellt wurde. der wir auf die Details eingehen und uns nicht mit einem großen Strauß von Fragen beschäftigen. Es tut nämlich Viele dieser Staaten sind jetzt Wortführer im Men- der Seriosität der Menschenrechtsarbeit nicht unbedingt schenrechtsrat. Sie bilden einen starken Block, der mit gut, wenn man immer Zentralasien, die Vereinten Natio- unseren Vorstellungen von Demokratie und Menschen- nen, den Menschenrechtsrat, die Menschenrechtspolitik rechten nicht viel gemein hat. China vertritt als ebenfalls der Bundesregierung – sei sie noch so gut – und andere gewähltes Mitglied die Position, dass Staaten wegen ih- Fragen in nur einer Stunde abhandeln muss. Das deutet rer kulturellen Hintergründe unterschiedliche Ansichten nicht unbedingt darauf hin, dass man den Menschen- zu Menschenrechten haben könnten. Meine sehr verehr- rechten eine zentrale Stellung einräumt. Wir alle glau- ten Kolleginnen und Kollegen, wie soll es dann zu einer ben jedoch, dass die Menschrechte eine zentrale Stellung universellen Gültigkeit und Unteilbarkeit der Menschen- einnehmen sollten. rechte in der Welt kommen? (Beifall im ganzen Hause) Hier darf die westliche Staatengemeinschaft nicht wegsehen. An dieser Stelle müssen wir in Zukunft auch Ich darf noch einmal sagen: Es geht hier nicht um bereit sein, Konflikte einzugehen, die wir jetzt noch zu Gutmenschen, es geht auch nicht allein um individuelle vermeiden versuchen. Wir sind es den Opfern von Men- Ansprüche. Die Fragen der Pressefreiheit, der Versamm- schenrechtsverletzungen schuldig. Wir sind es unter an- lungsfreiheit und aller anderen Freiheiten, übrigens nicht derem Anna Politkowskaja schuldig. nur in einem Land, sondern in Ost und West, in Europa, in Russland und in anderen – auch westlichen – Ländern, Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. spielen hierbei eine große Rolle. Es geht auch um die (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Frage der Rechtsordnung in Deutschland, in Europa, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- aber auch um die globale Rechtsordnung. Die Men- geordneten der SPD) schenrechte sind als Element der globalen Rechtsord- nung unverzichtbar. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sie wissen, dass der Hochkommissar für Menschen- Ich erteile das Wort Kollegin Herta Däubler-Gmelin, rechte des Europarates anwesend ist. Ich weiß, dass Kol- SPD-Fraktion. lege Lintner speziell dazu noch Stellung nehmen wird. Es geht hier um einen der Bereiche, über die wir in aller (Beifall bei der SPD) Ausführlichkeit reden müssen. Viele von uns sind Mitglieder in der Parlamentari- (B) Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): (D) schen Versammlung des Europarats und haben deswegen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In ein vitales Interesse daran, dass wir die Verzahnung der der Tat beraten wir heute wieder einmal eine ganze nationalen und globalen Ebene nicht nur über die Euro- Schublade voll außerordentlich wichtiger Fragen. Auf päische Union, sondern auch über den Europarat gut hin- der einen Seite befassen wir uns mit dem Siebten Men- bekommen, dass die Institutionen des Europarates gesi- schenrechtsbericht, über den wir uns schon vor einigen chert werden und dass die Menschenrechtspolitik in Monaten in erster Lesung unterhalten haben. Auch ich Europa nicht durch das Aufsplitten in unterschiedliche bin der Meinung, dass es ein sehr guter Bericht ist. Ich Verantwortungsbereiche geschwächt wird. schließe mich also dem Dank ausdrücklich an. Lieber Herr Kollege von Bismarck, Sie gestatten, dass ich auch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie noch Herrn Rothen, Leiter des Arbeitsstabs Menschen- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ rechte im Auswärtigen Amt, und Tom Koenigs erwähne. DIE GRÜNEN) Der Bericht bezieht sich nämlich aufs letzte Jahr; Tom Koenigs ist jetzt UN-Sonderbeauftragter für Menschen- Ich möchte noch auf den Menschenrechtsrat einge- rechte in Afghanistan. Das schließt überhaupt nicht aus, hen. Der Antrag, den wir heute mit großer Mehrheit be- dass wir große Erwartungen an den jetzigen Menschen- schließen wollen, ist eine Art Bestandsaufnahme. Es ist rechtsbeauftragten, Herrn Nooke, haben. richtig – das ist schon erwähnt worden –, dass die Erwar- tungen sehr hoch sind. Die Resolution zur Schaffung ei- Ich hätte mich gefreut, wenn er heute bei der Debatte nes Menschenrechtsrats, die die Generalversammlung anwesend wäre. Wir alle stimmen darin überein, dass der Vereinten Nationen beschlossen hat, ist gut und gibt wir eine Menge zusätzlicher Erwartungen an den nächs- Anlass zu hohen Erwartungen. Aber nach zwei Verhand- ten, also den Achten Menschenrechtsbericht haben. Er- lungssitzungen wird deutlich, dass es neben den erfreuli- wartungen richten wir auch an die Bundesregierung, die chen Punkten – über die in der Regel weniger geredet die Präsidentschaft in der Europäischen Union und in der wird – auch Gefahren gibt. Das ist keine Frage. Diese G 8 im Jahre 2007 innehat. Wir beraten auch über die Gefahren sind schon mehrfach angesprochen worden; Menschenrechte in Zentralasien. Darüber werden wir ich glaube, das muss nicht wiederholt werden. uns noch häufiger unterhalten. Außerdem geht es um den Zustand des Menschenrechtsrates der Vereinten Na- Wir sind in Genf durch Botschafter Steiner und seine tionen. Er bekümmert uns außerordentlich. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Tat hervorra- gend vertreten. Auch hier arbeitet die Menschenrechts- Verehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kol- abteilung des Auswärtigen Amtes in vorzüglicher Weise. legen, liebe Geschäftsführer, ich fände es gut, wenn wir Aber um deutlicher zu machen, was wir im Bundestag Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5567

Dr. Herta Däubler-Gmelin (A) wollen, ist es, glaube ich, nötig, nicht nur die Gefahren Deutschen Bundestag über Menschenrechtspolitik re- (C) aufzuzeigen oder – wie Herr Toncar – mit leicht resig- den. Wir können nämlich selber das eine oder andere nierendem Unterton festzustellen, dass sowieso nichts tun. daraus wird. Das kann man heute noch nicht sagen. Vor allem liegt es nicht in unserem Interesse – weder im Lassen Sie mich nach diesem Ausflug auf die globale deutschen Interesse noch im Interesse des Deutschen Ebene zum Inland zurückkehren. Ich teile die Auffas- Bundestages –, so zu argumentieren. Unser Ansatzpunkt sung derjenigen – ich weiß, dass sie in allen Fraktionen muss vielmehr darin bestehen, was wir bzw. die Bundes- dieses Hauses vertreten sind –, die sagen: Wir haben republik Deutschland tun können, um dem Menschen- auch bei uns die eine oder andere sehr gravierende Men- rechtsrat zum Erfolg zu verhelfen. Diese Frage ist in der schenrechtsverletzung bzw. Gefährdung von Menschen- Tat noch nicht beantwortet. Ich denke, die Kolleginnen rechten zu beseitigen. Ich will einen Punkt aufgreifen, und Kollegen aus allen Parteien, die sich mit diesen Fra- den uns die Kirchen, die karitativen Organisationen und gen beschäftigen, verfügen über beträchtliche Möglich- insbesondere die Menschenrechtsorganisationen ständig keiten und haben eine große Kreativität eingebracht. vortragen, denen wir in der Diskussion über den Siebten Menschenrechtsbericht und in der Frage, was im Einige Anregungen will ich an dieser Stelle erwäh- nächsten Menschenrechtsbericht stehen soll, so vieles nen. Die Blockbildung ist schon angesprochen worden. verdanken. Das ist die Tatsache, dass es eine große Zahl Mich wundert das nicht, weil einer der Vorwürfe an die illegal in der Bundesrepublik Deutschland lebender Menschenrechtskommission in der Tat lautete, ihre Zu- Menschen gibt, die keinen Zugang zur Gesundheitsver- sammensetzung habe sich nach den Blöcken gerichtet; sorgung und zum Rechtsschutz haben und deren Kinder, dadurch seien einzelne Regionen der Welt nicht ausrei- wenn überhaupt, nur einen eingeschränkten Zugang zu chend berücksichtigt worden. Das ist korrigiert worden. den Bildungsmöglichkeiten haben. Zugang zu diesen Wenn aber die Blockbildung in das neue System über- Bereichen zu haben, gehört aber zu den grundlegenden nommen wird, dann kann sich an der bisherigen Situa- Menschenrechten. tion nichts ändern. Deshalb müssen wir – das ist die erste (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Forderung an die Bundesregierung – Verfahren und Stra- bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und tegien finden, damit sich die Blockbildung nicht verfes- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tigt. Meine Bitte ist, dass wir uns zusammen mit all denjeni- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gen, die das aufgreifen wollen – das sind fraktionsüber- CDU/CSU) greifend sehr viele –, damit vor der Veröffentlichung des Der Europabeauftragte der Bundesregierung, Herr nächsten Menschenrechtsberichts befassen und den ei- (B) Gloser, ist anwesend. Ich glaube, dass die Europäische nen oder anderen Schritt hin zu einer Verbesserung der (D) Union vergleichbare Möglichkeiten hat, weil sie in Men- Menschenrechtslage dieser Menschen gehen. schenrechtsfragen immer noch die Koordinierung bis Herzlichen Dank. zum letzten Semikolon vorantreiben muss, und eine ganze Menge tun kann. Man wird innerhalb der EU im (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nächsten halben Jahr in Menschenrechtsfragen nicht nur bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- über Verfahren, sondern auch sehr viel über Grundsatz- NISSES 90/DIE GRÜNEN) fragen reden müssen. Denn sonst kann man nicht mit den „like-minded“ Staaten aus anderen Regionen der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Welt reden. Ich erteile das Wort Kollegen Eduard Lintner, CDU/ Aber dabei soll es nicht bleiben. Ich denke, dass die CSU-Fraktion. Hochkommissarin für Menschenrechte, Louise Arbour, (Beifall bei der CDU/CSU) auch die Unterstützung der Bundesregierung und des Bundestages benötigt, die wir ihr sicherlich auch gewäh- ren werden. Wir können das in den verschiedenen Gre- Eduard Lintner (CDU/CSU): mien, in denen wir arbeiten, deutlich zum Ausdruck Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- bringen. ren! Es wurde schon darauf hingewiesen, dass der bloße Umfang des Siebten Menschenrechtsberichts der Bun- Zudem hat jeder von uns sehr viele Kontakte in den desregierung – es sind immerhin 208 eng bedruckte Sei- Parteien, den Parlamentariergruppen und zu den ver- ten – ein handfester und sehr konkreter Beleg dafür ist, schiedenen Fachpolitikern und Fachpolitikerinnen. dass die Bundesregierung die Durchsetzung, die Geltung Wenn wir es schaffen, unseren Partnern in Afrika, La- und die Achtung der Menschenrechte als eine echte teinamerika und auch in Asien, wo es durchaus Staaten Querschnittsaufgabe ihrer gesamten Politik begreift. gibt, denen die Menschenrechte in immer stärkerem Diese Einschätzung wird durch den Inhalt bestätigt. In Maße am Herzen liegen, zu vermitteln, dass sich dies dem Bericht wird sehr detailliert und geradezu akribisch auch im Menschenrechtsrat ausdrücken muss, dann hat Bilanz gezogen und es werden Aktionsfelder für die der Bundestag einen Beitrag dazu geleistet, die Blockbil- konkrete Politik aufgezeigt. dung zu überwinden. Lassen Sie mich genau an diesem Punkt ansetzen und Das alles meine ich, wenn ich sage, dass es nicht ge- aufgrund meiner Erfahrungen als Vorsitzender des Moni- nügt, das eine oder andere zu beklagen, wenn wir im toringausschusses der Parlamentarischen Versammlung 5568 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Eduard Lintner (A) des Europarats zwei konkrete Anliegen ansprechen, die Was der Europarat, was der Kommissar für Menschen- (C) viel mit der praktischen Wirksamkeit und der Durchset- rechte, was das Monitoringverfahren und der Europäi- zung von Menschen- und Grundrechten im Alltag von sche Gerichtshof für Menschenrechte seit Jahrzehnten sage und schreibe 800 Millionen Menschen zu tun ha- erfolgreich praktizieren und was diesen Institutionen zu ben, die in den Mitgliedstaaten des Europarats leben. Anerkennung und Achtung in aller Welt verholfen hat, Laut Aktionsplan hat sich die Bundesregierung die Stär- droht nun durch eine Art Konkurrenzeinrichtung für den kung der Zivilgesellschaft in aller Welt vorgenommen, Bereich der EU in den Hintergrund gedrängt zu werden. um, wie es heißt, einen unverzichtbaren Beitrag zum Dabei sind doch alle EU-Mitgliedsländer auch Mitglie- Menschenrechtsschutz zu leisten. Genau in diese Rich- der des Europarats und damit ohnehin den Kontrollein- tung gehen meine Anregungen. Die Bundesregierung richtungen und den Rechtsbehelfen des Europarats un- könnte beispielsweise mehr als bislang tun, um die Ar- terworfen. Es bedarf also überhaupt keiner zusätzlichen beit des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- EU-Grundrechteagentur. Die EU will dafür jährlich üp- rechte in Straßburg zu unterstützen. Er ist – ich habe es pige 21 Millionen Euro ausgeben und die Einrichtung bereits erwähnt – für die 800 Millionen Bürgerinnen und mit sage und schreibe mehr als 60 neuen Planstellen aus- Bürger in den 46 Mitgliedstaaten des Europarats in vie- statten. Das alles könnte eingespart werden und nur ein len Fällen der einzige verlässliche Hoffnungsträger im Bruchteil des dafür vorgesehenen Aufwands, abgezweigt Kampf um die Achtung der Menschenrechte und die für die Arbeit des Gerichts in Straßburg, würde dieses letzte Instanz, wenn es darum geht, sich gegen den Staat Gericht für alle Zukunft sichern und in seiner Arbeit un- oder dem Staat zuzurechnende Übergriffe wirksam zu terstützen. Ich appelliere daher an die Bundesregierung, wehren. 80 000 Klagen haben sich dort mittlerweile an- sich trotz der bei der EU – – gesammelt. Damit steht das Gericht, das, wie ich vor kurzem in der „Süddeutschen Zeitung“ gelesen habe, ei- (Ein Handy klingelt – Heiterkeit) gentlich Europas Trumpf in der Auseinandersetzung über die Menschenrechte weltweit sein könnte, in Wirk- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lichkeit vor dem Kollaps. Das ist ja doch eine ganz schöne Melodie, nicht wahr? In ihrem Bericht findet die Bundesregierung durchaus lobende Worte für die Menschenrechtsarbeit des Europa- Eduard Lintner (CDU/CSU): rats und seines Gerichtshofs. Aber im Aktionsplan sucht Das ist die Tücke der Technik. Es tut mir Leid. man vergebens das konkrete Versprechen, sich dafür ein- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zusetzen, die chronische Misere des Gerichts durch eine NEN]: Wieso ist das nicht der bayerische Defi- deutlich bessere sachliche und personelle Ausstattung liermarsch, Herr Kollege?) (B) endlich zu beenden. (D) Ich appelliere daher an die Bundesregierung, sich (Beifall bei der CDU/CSU) trotz der Beschlusslage, die sich mittlerweile bei der EU Die Bundesregierung sollte meines Erachtens die sich ergeben hat, nachdrücklich für diese Lösung einzuset- hier bietende Chance, sich international in Sachen Men- zen. Im Übrigen käme sie dabei entsprechenden Wün- schenrechte positiv zu profilieren, entschlossen nutzen, schen – darauf habe ich hingewiesen – von Mitgliedern zumal sich – – aller Fraktionen dieses Hohen Hauses nach, die – das ist ja ein durchaus seltener Fall – bei der Beratung dieses (Ein Handy klingelt) Punktes im zuständigen Ausschuss fast einhellig zum – Ist das mein Handy? Ausdruck gekommen sind. (Heiterkeit) Ich nehme an, die Bundesregierung hat sich durch den technischen Zwischenfall nicht ablenken lassen. – So kann es gehen. Ich war überzeugt, dass es ausge- schaltet ist. (Dr. , Bundesminister: Nein! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundesregierung sollte meines Erachtens die sich Gucken Sie den Jung an! Der hat Sie angeru- hier bietende Chance, sich international in Sachen Men- fen!) schenrechte positiv zu profilieren, entschlossen nutzen, zumal sich der dafür erforderliche zusätzliche finanzielle Wir hoffen, Herr Staatssekretär, dass Sie diesen Ge- Aufwand in einem vergleichsweise sehr bescheidenen richtshof unterstützen; denn wir wissen, dass er ein ganz Rahmen bewegt. wirksames Instrument ist, um zumindest für den Bereich des Europarats, dessen Mitglied unter anderem auch (Unruhe) Russland ist, für einen wirksamen Schutz der Menschen- – Meine Damen und Herren, wieder zurück zum nötigen rechte zu sorgen. Ernst. – Es gäbe sogar eine Möglichkeit, die dafür benö- tigten Mittel anderweitig aufzubringen. Ich meine die Vielen Dank. von uns allen für völlig überflüssig angesehene Einrich- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der tung einer eigenen Grundrechteagentur der Europäi- FDP) schen Union. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: bei Abgeordneten der FDP) Ich schließe die Aussprache. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5569

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- destag, über dieses Weißbuch überhaupt einmal zu spre- (C) schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu chen. dem Siebten Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen (Beifall bei der FDP) und in anderen Politikbereichen. Das sind die Drucksa- Bisher hat die Bundesregierung über alle Weißbücher chen 15/5800 und 16/3004. Der Ausschuss empfiehlt un- entschieden. Deswegen will sie nächste Woche im Kabi- ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, in Kennt- nett auch über das neue Weißbuch entscheiden, ohne den nis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Deutschen Bundestag damit vorher befasst zu haben. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- Dazu sage ich: Ja, in der Vergangenheit war das so. Aber probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist die alten Weißbücher waren im Wesentlichen Fortschrei- einstimmig angenommen. bungen bestehender Weißbücher. Wir haben es jetzt mit Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf einer ganz neuen Situation zu tun. Das Einsatzspektrum Drucksache 16/3004 empfiehlt der Ausschuss, den An- der Bundeswehr ist deutlich erweitert. Wir haben mehr- trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1999 mit fach Veränderungen in der Struktur der Bundeswehr er- dem Titel „7. Bericht der Bundesregierung über ihre lebt. Das letzte Weißbuch stammt aus dem Jahr 1994. Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen Das Weißbuch muss auf der Basis einer grundlegend an- und in anderen Politikbereichen“ für erledigt zu erklä- deren sicherheitspolitischen Lage Antworten auf Fragen ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- geben, die komplexe und weit über den bisherigen Rah- genprobe! – Enthaltungen? – Auch diese Beschlussemp- men hinausgehende neue Herausforderungen betreffen. fehlung ist einstimmig angenommen. Wenn man diesem Anspruch gerecht werden will, Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der dann brauchen wir eine intensive Debatte. Eine solche Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache Debatte hat der Bundespräsident in seiner Rede über Au- 16/3001 mit dem Titel „Der Menschenrechtsrat der Ver- ßen- und Sicherheitspolitik auf der Kommandeurstagung einten Nationen – Wirksamkeit sichern und Glaubwür- vor gut einem Jahr gefordert. Auch Sie, Herr Minister, digkeit schaffen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer haben mehrfach gesagt, dass es dringend notwendig sei, stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch dieser Antrag in Parlament und Gesellschaft eine breite Debatte zu ist einstimmig angenommen. führen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- Drucksache 16/2976 an die in der Tagesordnung aufge- NIS 90/DIE GRÜNEN]) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Nur, wenn Sie das wollen, dann dürfen Sie jetzt nicht (B) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung einfach einen Kabinettsbeschluss fassen, der dem Deut- (D) so beschlossen. schen Bundestag vorgelegt wird. Wer eine lebendige De- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: batte will, wer erreichen will, dass die Gesellschaft sich mit der Bundeswehr beschäftigt, sich hinter die Bundes- Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit wehr stellt, der muss eine Diskussion zulassen, und zwar Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weite- im Vorfeld, der muss Möglichkeiten eröffnen, dass man rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sich an der Formulierung beteiligen und Gedanken ein- Kein Weißbuch ohne vorherige Parlamentsde- bringen kann. Das schaffen Sie nicht. batte (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ – Drucksache 16/2082 – DIE GRÜNEN) Überweisungsvorschlag: Seit gestern gerät dieses Vorgehen gänzlich zur Farce. Verteidigungsausschuss (f) Das Weißbuch wurde zwischenzeitlich öffentlich be- Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe kannt; es ist über die Homepage einer Zeitung zugäng- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und lich. Herr Minister, ich hätte erwartet, dass Sie wenigs- Entwicklung tens jetzt endlich in die Offensive gehen und den Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Entwurf den Mitgliedern des Ausschusses von sich aus Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die zusenden, sodass eine öffentliche Diskussion ermöglicht FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- wird. derspruch. Dann ist so beschlossen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Birgit habe heute schon daraus zitiert!) Homburger, FDP-Fraktion, das Wort. Ich verstehe Ihre Mauschelei nicht. Mit Ihrem wieder- (Beifall bei der FDP) holt misslungenen Versuch der Geheimhaltung haben Sie dem Ziel, das Weißbuch insgesamt zu diskutieren und eine unstrittige Grundlage für die Außen- und Si- Birgit Homburger (FDP): cherheitspolitik der nächsten Jahre zu schaffen, einen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Bärendienst erwiesen. diskutieren heute über einen Antrag der FDP-Fraktion zum Weißbuch. Ich bin froh, dass wir aufgrund dieses (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Antrags die Gelegenheit haben, hier, im Deutschen Bun- DIE GRÜNEN) 5570 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Birgit Homburger (A) Dieser Vorgang ist wieder einmal bezeichnend für den rer Export- und Rohstoffabhängigkeit sowie daran orien- (C) Zustand der Koalition. Herr Minister, Sie haben in der tiert, dass wir den Zugang zu kritischen Rohstoffen und letzten Woche angekündigt, es sei ein Konsens über den Energieträgern sichern müssen. Die Vorstellung einer Bundeswehreinsatz im Inneren erzielt worden. Sofort rohstoff- und energieorientierten Außen- und Sicher- hat die SPD widersprochen. heitspolitik wurde durch die simple Tatsachenbeschrei- bung abgelöst, dass wirtschaftlicher Wohlstand unter an- Die CDU/CSU hat schon vor dem Hintergrund der derem auch vom Zugang zu Rohstoffen und freien Fußballweltmeisterschaft versucht, alte ideologische Transportwegen abhängt. Natürlich ist das richtig. Aber Forderungen, wie den generellen Einsatz der Bundes- welche Konsequenzen ziehen Sie daraus? Wir müssen wehr im Inneren, durchzusetzen. Das ist damals nicht diskutieren, welche Konsequenzen wir daraus für zu- gelungen. Jetzt versucht man das im Zusammenhang mit künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr ziehen. dem Entwurf des Weißbuchs wieder. Wäre es nach der Auch hier ist Fehlanzeige, meine Damen und Herren! CDU/CSU gegangen, dann wären terroristische Bedro- Ich prophezeie Ihnen, diese Frage wird künftig zu weite- hungen mit äußerer Bedrohung gleichgesetzt worden, rem Streit in der Koalition führen, da Sie die weitere mit der Folge, dass in einem solchen Fall grundsätzlich Diskussion auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschie- der Verteidigungsfall ausgerufen würde. Das wäre, ers- ben. Eigentlich sollte das Weißbuch doch die Grundlage tens, eine Missachtung des Bundesverfassungsgerichts- für künftige Einsatzentscheidungen schaffen, ohne dass urteils zum Luftsicherheitsgesetz und, zweitens, der Ver- es Streit darüber gibt. Hieran scheitern Sie. such, die Bundeswehr im Inneren durch die Hintertür einzusetzen. Das hat die CDU/CSU versucht. Das ist Eine letzte Bemerkung, liebe Kolleginnen und Kolle- jetzt offensichtlich verhindert worden; der neue Entwurf gen. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Das sieht Derartiges nicht vor. soll sie meines Erachtens auch bleiben. Deswegen kann ich Sie, Herr Minister, nur sehr herzlich bitten und an Sie Sie haben dafür allerdings einen hohen Preis bezahlt: appellieren, einen Halbsatz aus diesem Dokument zu dass die Debatte in der Öffentlichkeit wieder einmal nur streichen. Sie schreiben: als eine Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr im Inneren wahrgenommen wurde. Damit werden Sie den Die Entscheidung über Bundeswehreinsätze im in- Herausforderungen, vor denen wir stehen, überhaupt ternationalen Rahmen liegt in erster Linie im Kom- nicht gerecht. petenz- und Verantwortungsbereich der Bundesre- gierung. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Erst dann sagen Sie, dass der Bundestag zustimmen In der Tat weigern Sie sich erneut, über Kriterien muss. Herr Minister, Sie hätten sich diesen Halbsatz spa- (B) und Grundsätze zu reden, obwohl wir sie brauchen. Die ren können. Das Bundesverfassungsgericht hat klar ge- (D) Bundesregierung sagt schlicht, dass sie zukünftig jeden sagt, dass die Bundeswehr eine Parlamentsarmee ist. Vor Einzelfall prüfen wird. Natürlich werden wir nicht um- dem Hintergrund der Diskussionen der vergangenen Wo- hinkommen, jeden Einzelfall eines Auslandseinsatzes zu chen, in denen wir debattiert haben, ob das Parlament diskutieren. Aber wir brauchen doch einmal Leitlinien. ausreichend über die Einsätze informiert ist, macht mich Auch die NATO-Partner haben Grundsätze wie den, dass dieser Satz nachdenklich. Liebe Kolleginnen und Kolle- solche Einsätze Frieden, Freiheit und Wohlstand dienen gen von den Koalitionsfraktionen, Sie sollten sich diese und im Einklang mit außenpolitischen Zielen stehen sol- Missachtung des Deutschen Bundestages nicht gefallen len. lassen und dafür sorgen, dass, bevor eine Beschlussfas- sung im Kabinett erfolgt, eine intensive Auseinanderset- Es besteht ein UN-Mandat und internationale Unter- zung hier im Deutschen Bundestag stattfindet. stützung. Es gibt ein klares Ziel und vor allem auch ein Konzept, wie das Ziel erreicht werden kann, damit man Vielen Dank. irgendwann einmal feststellen kann, wann die militäri- (Beifall bei der FDP) schen Einheiten wieder abgezogen werden können, also eine so genannte Exit-Strategie. Außerdem muss der Einsatz finanziell, personell und materiell leistbar sein. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Kollegen Hans Raidel von der Alle diese Grundsätze hätte man doch einmal auf- CDU/CSU-Fraktion. schreiben können. Natürlich kann ich sie nicht einfach nur abhaken, sondern muss sie in jedem Einzelfall beur- (Beifall bei der CDU/CSU) teilen. Das ist aber etwas, was Leitlinien ausmacht. Es geht um ein nachvollziehbares Korsett für Entscheidun- Hans Raidel (CDU/CSU): gen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Das, was andere NATO-Partner haben, sollten auch Herren! Wir führen hier eine Art Geisterdebatte, nämlich wir haben. Das erwarten wir von diesem Weißbuch. eine Diskussion über etwas, das im Raum steht, aber noch nicht existent ist. Dieses Weißbuch ist doch über- (Beifall bei der FDP) haupt noch nicht auf dem Markt, Ferner muss geklärt werden, welche Bedeutung (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich nationale Interessen spielen sollen. Auch hier gibt es hatte es heute Morgen hier!) eine Veränderung vom ersten Weißbuchentwurf zum jet- zigen Entwurf. Der erste Entwurf war sehr klar an unse- zumindest nicht offiziell. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5571

Hans Raidel (A) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Ich will gar nicht darauf hinweisen, dass die Weißbü- (C) Internet gibt es das auch schon!) cher in der Vergangenheit genau nach diesen Spielregeln und damit nicht im Parlament verabschiedet worden Die Bundesregierung muss dieses Dokument erst noch sind. Wir sind uns allerdings auch darüber einig, dass es verabschieden. ungut ist, wenn das Weißbuch vorab in der Presse und Beachten Sie doch bitte die Spielregeln, verehrte sonst wo zu lesen ist und wir hier nicht darüber gespro- Frau Kollegin! Dieses Parlament hat eine Geschäftsord- chen haben. Insofern habe ich die Bitte, Herr Minister, dass Sie da auskehren, damit diese Dinge so nicht mehr nung, und auch die Bundesregierung hat eine Geschäfts- vorkommen. ordnung. Wir als Parlament haben für unsere Arbeit Spielregeln verabschiedet, in denen genau steht, wer wo- (Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ für zuständig ist. Wenn wir diese Spielregeln so nicht DIE GRÜNEN]) mehr einhalten wollen, bleibt es uns doch unbenommen, Natürlich haben wir alle Wünsche bezüglich des In- sie zu ändern. Solange die Spielregeln aber so gelten, ist halts des Weißbuchs. Es soll objektiv und realistisch die klar, dass die Bundesregierung dieses Weißbuch in eige- Sicherheitslage in unserer Republik feststellen, nichts ner Verantwortung verabschiedet, ihre Meinung darlegt weglassen und nichts verschweigen, sodass die Bevölke- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung endlich wieder das Gefühl für das Sicherheitsthema NEN]: Das bestreitet auch keiner!) insgesamt bekommt. Das scheint mir in der Vergangen- heit ein bisschen vernachlässigt worden zu sein, denn und wir dann darüber diskutieren können. Als Parlament sonst würde die Bevölkerung ganz anders über die Si- können wir unsere eigenen Vorschläge jederzeit einbrin- cherheitsfragen diskutieren. gen; das ist uns unbenommen. Natürlich wissen wir, dass letztlich alles auch am (Birgit Homburger [FDP]: Was nützt das denn Geld hängt. Aber wir dürfen doch nicht so tun, als wenn hinterher?) es für die Sicherheit kein Geld gäbe. Ich sage Ihnen: Die Bevölkerung hat den Anspruch auf diesen Schutzschild – Wir können jederzeit – das ist das Wünschenswerte – in nach innen und nach außen. Die Bundeswehr hat den einen Wettbewerb guter Ideen eintreten und festlegen, Anspruch, dass wir bei Ausrüstung und Ausbildung alles wie wir das haben möchten. Das Parlament ist in seinen tun, damit sie immer das Notwendige, also das, was auf Rechten – anders als Sie versuchten auszuführen – über- dem Markt verfügbar ist, bekommt. Wenn wir das der haupt nicht beschnitten. Bundeswehr nicht geben und uns hinter mangelndem Geld verstecken, wenn wir die Leute in einen Einsatz (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (B) schicken, bei dem sie zu Schaden oder sogar zu Tode (D) Zu den Inhalten. In unserer Koalitionsvereinbarung kommen können, nur weil wir die notwendige Ausrüs- haben wir gemeinsam festgelegt, wie wir die Richtung tung nicht zur Verfügung gestellt haben, dann handeln der künftigen deutschen Sicherheitspolitik darlegen dieses Parlament, der Verteidigungsausschuss und der wollen. Ein Instrument dafür war das Weißbuch. Sie, Haushaltsausschuss, dann handeln also wir insgesamt Herr Minister, haben diese Idee sehr schnell aufgegriffen unmoralisch. Das dürfen wir nicht tun. Aber darüber re- und dieses Weißbuch erarbeitet. Auch wir wünschen uns det keiner! Wir streiten uns über die Verfahrensfragen, eine breite Debatte in der Öffentlichkeit über den Inhalt lassen dabei aber die wirklich wichtigen Themen außer der künftigen deutschen Sicherheitspolitik. Auch wir Acht. sind der Auffassung, wir sollten uns intensiver – das gilt (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Darauf kommen für den Ausschuss genauso wie für das Parlament – mit wir in der Debatte gern zurück!) den Fragen der Sicherheit beschäftigen: mit Ausrüstung, mit Ausbildung und mit dem Umfang dieser Armee. Wir Wo waren Sie denn? Wo haben Sie die notwendigen An- sollten begleiten, was in unseren Bündnissen passiert, träge durchgesetzt, also in der NATO, in der OSZE, in Europa und woan- (Lachen der Abg. Birgit Homburger [FDP]) ders. als es darum ging, bei Entwicklung, bei Forschung, bei Wir müssen prüfen, ob wir dieser Aufgabe immer ge- neuer Bestimmung der Standorte für die Rüstungsindus- recht werden. Spätestens, wenn es um die Finanzen geht, trie entsprechend zu handeln? doch wohl eher nicht! Dann aber gestalten Sie hier Ihren (Birgit Homburger [FDP]: Haben Sie jetzt die Redebeitrag mit den Worten: Man sollte! Man könnte! Mehrheit oder wir?) Man müsste! Man dürfte! Man dürfte nicht! Ja, sagen Sie doch ganz konkret, wie Sie es haben wollen! Dann Was haben Sie gemacht, als es konkret um die finan- kann sich die Regierung damit auseinander setzen und zielle Absicherung ging? wir uns damit befassen. Möglicherweise würde dann am (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schluss eine gemeinsame Richtung vorgegeben. Sie werden dem Anspruch, den Sie versucht haben darzu- Was Sie möchten, ist etwas ganz anderes. Sie führen stellen, in keiner Weise gerecht. sich hier als Sicherheitspartei auf, die die deutschen Si- cherheitsinteressen vertritt. Dieses Thema ist längst von (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) anderen, von CDU/CSU und SPD, besetzt. Das ist ein großes Problem. (Birgit Homburger [FDP]: Aber wie!) 5572 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Hans Raidel (A) Jeder landauf, landab weiß das und akzeptiert das. Sie (Hans Raidel [CDU/CSU]: Das habe ich ja (C) können sich noch so sehr aufs Podest stellen wollen: Das nicht gesagt!) nimmt Ihnen als kleiner 9-Prozent-Partei in Wirklichkeit niemand ab. – Es wird aber leider so kommen, fürchte ich. Die Regie- rung wird verkünden, wir dürfen nächste Woche disku- Auch ich könnte mir etwas Neues vorstellen: Wenn tieren und nach einiger Zeit steht das Werk im Regal. das Weißbuch herauskommt, könnten wir einen Einstieg wagen in der Weise, dass wir einmal im Jahr eine Si- Es kommt doch gerade darauf an, eine Rückkopp- cherheitsdebatte führen, in der wirklich alle Fragen für lung zu erreichen, eine Rückkopplung zwischen Regie- diese Nation auf den Tisch gelegt werden, uns einmal rung, Parlament, gesellschaftlichen Akteuren und kriti- mindestens einen ganzen Tag mit diesen Themen befas- scher Öffentlichkeit. Darum geht es. sen – so ähnlich haben wir damals die Berlindebatte ge- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und führt –, daraus entsprechende Beschlüsse ableiten und so des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dieses Thema in die Bevölkerung hineintragen, damit In- teresse geweckt wird, ein breiter Konsens entsteht und Deshalb, denke ich, müssen wir auch über die Regeln wir der Bevölkerung aus dem Parlament heraus bewei- reden, lieber Kollege Raidel; völlig richtig. Wir müssen sen können, wie ernst es uns mit der Sicherheit in diesem über die Regeln reden und sie ändern. Das heißt, dass es Land ist und wie wir zu unserer Bundeswehr stehen. einen Entwurf geben sollte, der durch die kritische De- batte noch verändert werden kann. In der praktischen Ausformung bedeutete das, dass wir vielleicht auch einmal zu anderen Formen kommen, Ich weiß, dem steht die Auffassung entgegen, die sich zum Beispiel dazu, ein Bundeswehraufgabengesetz zu in konservativen Kreisen hartnäckig hält: Außen- und verabschieden, in dem alle Einzelfragen seriös und ge- Sicherheitspolitik ist eine Sache der Exekutive. setzestechnisch richtig behandelt werden. Von daher (Hans Raidel [CDU/CSU]: Ändert die Spielre- wäre dann auch das notwendige Rüstzeug bereitgestellt. geln und dann kann man es machen!) Diese Debatte ist möglicherweise ein Einstieg; das Aber das ist Vergangenheit. Das ist 19. Jahrhundert. Wir will ich überhaupt nicht bestreiten. Die Herausgabe des sind im 21. Jahrhundert. Es gibt heute Weltsozialforen, Weißbuchs ist mit Sicherheit eine gute Gelegenheit, auch bei denen hunderttausend Menschen zusammenkom- zu neuem Denken zu kommen. Wir alle spüren, dass men, die über internationale Politik reden. Das ist die wir mit den alten Denkstrukturen – da treffen wir uns Realität von heute. wieder – nicht mehr weiterkommen und dass wir unse- rem eigentlichen Auftrag, der Bevölkerung das Gefühl (Hans Raidel [CDU/CSU]: Und was ändert (B) von Sicherheit zu geben und damit auch die Legitima- sich?) (D) tion für die Finanzierung unserer Bundeswehr zu erhal- Wir wollen eine solche Demokratisierung von ten, nicht mehr gerecht werden. Vielleicht ist die Debatte Außenpolitik, was heißt: Die Menschen sollen mitre- über dieses Weißbuch ein Einstieg in ein neues Denken. den, mitentscheiden können. Das reicht von öffentlichen Dann hätte sich das tatsächlich gelohnt. Wenn das nicht Debatten bis hin zur Möglichkeit von Volksabstimmun- gelingt, dann sind es nur Worthülsen und Sprechblasen. gen über außen- und sicherheitspolitische Entscheidun- Die sollten wir uns im Interesse unserer Bundeswehr ei- gen. gentlich sparen. Warum nicht? In der Schweiz wird darüber entschie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den, ob die Wehrpflicht abgeschafft wird, welche Aus- landseinsätze man macht, ob das Land der EU beitritt. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Warum sollte die Bevölkerung nicht auch hierzulande Ich erteile das Wort Kollegen Paul Schäfer, Fraktion über Fragen wie NATO-Mitgliedschaft oder Atomwaf- Die Linke. fen auf deutschem Boden entscheiden? Ich finde, da- (Beifall bei der LINKEN) rüber muss hier gesprochen werden. Wir sind für eine solche Demokratisierung der Außenpolitik. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Der FDP-Antrag enthält eine weitere vernünftige beraten einen FDP-Antrag, der unseres Erachtens einige Grundüberlegung. Es heißt dort, wir müssten vor allem vernünftige Grundgedanken enthält. Ein Weißbuch, das diplomatische, wirtschaftliche, ökologische, soziale und die Eckpfeiler unserer Sicherheits- und Verteidigungspo- entwicklungspolitische Ansätze beachten und zum Aus- litik für eine längere Zeit festlegen soll, ist zu wichtig, druck bringen. Es stellt sich aber die Frage, ob es dann als dass es von oben herab verkündet werden dürfte. ausreicht, die Federführung beim Ministerium der Auch unsere Auffassung ist, dass es darüber eine breite Verteidigung zu belassen und die Herausgabe dem Debatte in diesem Haus, aber auch in der Öffentlichkeit Kanzleramt zu übertragen. Ich glaube, dass die Federfüh- geben sollte. So weit, so gut; das sagen alle. rung beim Ministerium der Verteidigung es mit sich Es kann aber nicht nur darum gehen, dass wir jetzt bringt, dass sicherheitspolitische Herausforderungen pri- diskutieren nach dem Motto, lieber Kollege Raidel: Gut, mär militärisch beantwortet werden, und genau das führt dass wir mal darüber gesprochen haben. – Das kann es in die Sackgasse. Deshalb muss man sich sehr wohl Ge- nicht sein. danken machen, wie man künftig einen ressortübergrei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5573

Paul Schäfer (Köln) (A) fenden Ansatz – über den alle sprechen, der dann aber ten kommt, ist inzwischen Bestandteil einer umfassend (C) auch institutionell umgesetzt werden muss – finden kann, verstandenen Sicherheitspolitik. Ich bin froh, dass wir der die Chance erhöht, dass zivile Konzepte und Kapazi- das hier im Hause breit tragen. täten der Sicherheitsvorsorge und Konfliktprävention ein Wir bekennen uns gemeinsam zu einem aktiven Mul- viel entscheidenderes Gewicht bekommen. Der sicher- tilateralismus. Wir wollen, dass viele daran teilnehmen, lich ausbaufähige Aktionsplan „Zivile Konfliktpräven- unsere Welt sicherer zu machen. Wir haben eine europäi- tion“ sollte den Handlungsrahmen zumindest – ich drü- sche Sicherheitsstrategie, die so genannte Solana-Strate- cke mich vorsichtig aus – mitprägen und nicht Anhängsel gie von 2003, die ein bisschen etwas anderes formuliert von militärisch definierten Krisenlösungen sein. als die amerikanische Sicherheitsstrategie, diese aber (Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜND- auch ergänzt und in einer Welt, die Gestaltung braucht, NIS 90/DIE GRÜNEN]) für ein selbstbewusstes Europa wirbt. Deutschland ist ein Teil davon. Was in der Solana-Strategie formuliert Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Weißbuchent- ist, wird hier breit getragen und ist Bestandteil unseres wurf sind zentrale Fragen angesprochen, die einer sicherheitspolitischen Selbstverständnisses. grundlegenden Erörterung bedürfen – darüber werden wir ja nächste Woche sprechen –: Soll die Bundeswehr Wir wollen die kollektiven Sicherheitssysteme stär- auch im Inneren neue Aufgaben wahrnehmen oder bleibt ken: die OSZE, die NATO, die UNO. Es ist eben nicht es dabei, dass für die innere Sicherheit die Polizei zu- mehr nur die NATO; das hat sich verändert. Ich glaube, ständig ist? Sollen den Streitkräften neue Aufgaben bei auch das wird in diesem Hause breit getragen. Wir ste- der Sicherung unserer Rohstoff- und Energieversorgung hen also nicht am Anfang der Debatte über eine neue Si- zufallen oder ist das eine Angelegenheit der internatio- cherheitspolitik und das Weißbuch wird sie auch nicht nalen Wirtschafts- und Handelspolitik? Soll die deutsche abschließen. Das Weißbuch ist ein Meilenstein, eine Teilhabe an Atomwaffen fortgesetzt oder – besser – un- Etappe in diesem Diskussionsprozess, der aus gegebe- widerruflich beendet werden? Über diese Fragen – da nem Anlass nun schon einige Jahre läuft. hat Kollegin Homburger völlig Recht – muss neu und gründlich nachgedacht werden. Deshalb muss man beim Wir tragen gemeinsam die Verantwortung für Aus- Weißbuch ein neues Verfahren finden. Sonst hätte man landseinsätze. Ob es sich um eine kleine oder um eine sich die Mühe sparen können. große Koalition handelt: Wir bemühen uns, dass der Rückhalt für unsere Soldaten im Einsatz in diesem Wir wollen jedenfalls eine sicherheitspolitische De- Hause so breit wie möglich ist. Das ist inzwischen eine batte, die neue Erkenntnisse und neue Schlussfolgerun- Tradition geworden. gen bringt und aus der Sackgasse militärischer Krisenlö- Wenn ich das Wirken der Verteidigungspolitiker be- (B) sungsversuche führt. (D) trachte, dann komme ich zu dem Schluss, dass wir ein Danke. gemeinsames Interesse an einer deutschen wehrtechni- schen Industrie in einem selbstbewussten Europa haben. (Beifall bei der LINKEN – Hans Raidel Dieses Ziel hat die vergangene Regierung verfolgt. [CDU/CSU]: Dann bring es halt raus bei den Diese Regierung setzt die dazugehörige Politik fort. Da- neuen Ideen! Du redest nur darüber! Sag halt, bei wird sie von diesem Parlament unterstützt. wie du es willst, aber nicht „man könnte“ und „man müsste“!) Unser Weg in eine Europäisierung der Sicherheits- politik wird in diesem Haus ebenso breit unterstützt. Es Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: geht nicht mehr darum, nur national zu denken und sich Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Peter Bartels, zu überlegen, was wir für unsere eigene Sicherheit tun SPD-Fraktion. können. Es geht vielmehr darum, was wir für ein zusam- menwachsendes Europa tun können, wie wir Kosten sparen und Verantwortung teilen können. Das sind die Dr. Hans-Peter Bartels (SPD): Erfahrungen aus den vielen Jahren, die seit dem Erschei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe nen des letzten Weißbuchs vergangen sind. Kollegen von den Liberalen, wir stehen ja nicht am An- fang der Debatte, sondern wir haben bereits eine Praxis, Es gibt auch ein paar Unterschiede in diesem Haus. hier im Parlament mit der sich verändernden Welt umzu- Gelegentlich wird die Wehrpflicht thematisiert. Die gehen. Ich stelle fest, dass es einen relativ breiten Kon- Mehrheit ist relativ groß, dass wir sie beibehalten. Aber sens hier in diesem Hause gibt, mindestens getragen von die Unterschiede in dieser Frage kann man anhand einer vier Fraktionen, zu denen Ihre Fraktion gehört. Festlegung im Weißbuch diskutieren. Es gibt auch Un- terschiede in Fragen der nuklearen Teilhabe. Auch da- Wir sind uns darin einig, dass sich in der sich verän- rüber muss man weiter diskutieren. dernden Welt neue Gefahren entwickeln. Wir sind uns darin einig, dass wir einen umfassenden Sicherheitsbe- Außerdem gibt es Unterschiede in der Auffassung, an griff vertreten wollen. Wir behaupten nicht, Sicherheit welchen Begriffen man sich sozusagen entlangarbeiten sei allein Verteidigung oder Militär. Selbst in den Ein- will. Der Begriff vom nationalen Interesse hört sich für satzgebieten, wo das Militär eine große Rolle spielt, gibt mich so an, als handele es sich um einen Begriff aus dem es inzwischen eine vernetzte Sicherheitsarchitektur. Ich 19. Jahrhundert. Er suggeriert, unser Interesse sei gegen erinnere an die PRTs in Afghanistan. Aber auch all das, die Interessen Frankreichs und Großbritanniens gerich- was wir tun, bevor es überhaupt zu bewaffneten Konflik- tet. Diese Art von konkurrierenden Interessen gibt es 5574 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Hans-Peter Bartels (A) – Gott sei Dank! – nicht mehr. Wir haben gemeinsame Darum geht es also nicht. Wenn wir darüber diskutie- (C) Interessen und teilen die gemeinsamen Werte mit unse- ren, dass das Grundgesetz an der einen oder anderen ren Freunden und Partnern. Stelle eine Veränderung, eine Präzisierung, eine Veran- kerung neuer gesetzlicher Regelungen braucht, dann Wir versuchen beispielsweise nicht, auf Kosten ande- geht es um die Luft- und die Seesicherheit und um Si- rer Rohstoffe zu sichern. Manchmal wird mit großem cherheit für die politisch Verantwortlichen, Entscheidun- Pathos behauptet, man solle einmal ehrlich sein und zu- gen auf verfassungsrechtlich vernünftiger Grundlage zu geben, dass es doch um Rohstoffe gehe. Nein, es geht treffen. Da sind wir für Änderungen offen. Ich glaube, nicht um Rohstoffe: nicht auf dem Balkan, nicht in Af- diese Debatte fängt nicht erst jetzt an und wird mit dem ghanistan und auch nicht dann, wenn wir im Bundestag Weißbuch auch nicht abgeschlossen sein. Sie wird aber über den Einsatz der Bundeswehr im Rahmen von Bünd- im Weißbuch einen vernünftigen Niederschlag finden. nissen, in denen wir Mitglied sind, entscheiden. Roh- stoffe sind für alle Länder eine lebenswichtige Res- Was an Land nötig und möglich ist, das ist mit Art. 35 source. Wir wollen eine offene Welt und Zugang von Grundgesetz, Amtshilfe, und natürlich mit der Reserve- möglichst vielen zu den Wohlstandsquellen. Darin ste- regel, die das Grundgesetz inzwischen seit fast 40 Jahren hen wir nicht in Konkurrenz zu anderen. hat, geregelt. Damals war sie stark umkämpft, es wurde um sie hart gerungen, aber jetzt steht sie seit Jahrzehnten Mir ist also der Begriff vom nationalen Interesse im Grundgesetz: die Notstandsverfassung. Sie gilt und manchmal zu anachronistisch am 19. Jahrhundert ausge- kann im äußersten Notfall greifen. Gott sei Dank ist das richtet. Ich würde ihn lieber durch den Begriff „politische bisher nie der Fall gewesen. Wir hoffen, dass das so Maximen“ ersetzen. Deutschlands sicherheitspolitisches bleibt. Aber diesen letzten Rettungsanker, den haben wir Handeln unterliegt politischen Maximen. In diesem Zu- jetzt schon im Grundgesetz stehen. sammenhang kann man auf das verweisen, was gemein- sam getragen wird: der Multilateralismus, der umfas- Ich glaube, wir brauchen nicht künstlich einen Streit sende Sicherheitsbegriff und unsere Vorstellungen von zu suchen, da der Konsens in diesem Haus und in der der Weiterentwicklung kollektiver Sicherheitssysteme. großen Koalition relativ groß ist. Vermutlich wird durch das Weißbuch auch deutlich werden, wie groß er ist. Die Zum Bereich der politischen Maximen gehört die Debatte dazu führen wir nächste Woche Donnerstag, Schaffung einer offenen Welt, von Demokratie und aber heute haben wir darüber geredet, dass es gut ist, Rechtsstaatlichkeit. Dabei wollen wir Demokratie nicht diese Debatte über das Weißbuch anzufangen und sie exportieren, sondern wir wollen uns gemäß unseren ei- über die Sicherheitspolitik fortzusetzen, die Deutschland genen Maßstäben im Ausland verhalten. Wir erwarten in einer zusammenwachsenden Welt gestalten will. übrigens von unseren Verbündeten, dass sie dies genauso (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) tun.

Es gibt nicht nur politische Maximen deutschen Han- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: delns mit Blick auf eine zusammenwachsende Welt. Es Ich erteile dem Kollegen Winfried Nachtwei von der gibt auch eine besondere deutsche Verantwortung. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort. Das haben wir in der Debatte über den Libanon-Einsatz gespürt. Es war nicht leicht, den deutschen Beitrag so zu Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): formulieren, dass er der deutschen Verantwortung in al- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Au- len Richtungen gerecht wurde. Es ist uns gut gelungen. ßen- und Sicherheitspolitik gilt traditionell als Domäne Der Grund für unser Handeln war nicht das deutsche In- der Exekutive. Hans Raidel hat darauf hingewiesen. Zu- teresse an Rohstoffen im Nahen Osten, sondern die be- gleich aber gibt es in der Bundesrepublik eine gewach- sondere deutsche Verantwortung, die wir übernommen sene rechtsstaatliche Tradition der Parlamentsarmee. haben. Ich denke, das wird sich auch im Weißbuch nie- Diese Tradition ist so zeitgemäß wie nichts anderes. derschlagen. Darin wird es nicht den anachronistischen Interessenbegriff des 19. Jahrhunderts geben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Noch ein Wort zur strittigen Frage des Bundeswehr- Denn heutzutage ist der Einsatz bewaffneter Streit- einsatzes im Innern. In der Frage der Bundeswehr als kräfte so sehr auf die Akzeptanz der Gesellschaft ange- Ersatzpolizei liegen wir nicht weit auseinander. Nie- wiesen wie wohl nie zuvor. Deshalb ist es ausdrücklich mand der verantwortlichen Sicherheitspolitiker will, eine Fortsetzung alten Denkens, wenn ein konzeptionel- dass die Bundeswehr an den Stellen Polizeiaufgaben ler Meilenstein deutscher Sicherheitspolitik abgeschottet übernimmt, an denen die Polizei zu wenig Personal hat. in den Ministerien entwickelt und dem Parlament und Das kann nicht die Richtung unserer gemeinsamen Poli- der Öffentlichkeit dann sozusagen zum Nachvollzug tik sein. Es geht nicht um die Absicherung von Veran- vorgesetzt wird. staltungen, bei denen der Veranstalter selbst nicht genug (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Personal für Ordner stellen kann, bei denen die Landes- und bei der FDP) polizei nicht ausreicht oder bei denen die hinzugezogene Bundespolizei nicht ausreicht. Wenn dann die Bundes- Eine echte, breite sicherheitspolitische Debatte, die eben wehr gebraucht würde, würde ich sagen: Sagen wir lie- auch immer etwas Offenheit benötigt, wird damit behin- ber das Fernsehgucken im Freien ab. Das kann man auch dert. Herr Minister, dass Sie das so abgewickelt haben, tun. ist wohl – schaut man sich das Vorgehen der Vorgänger- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5575

Winfried Nachtwei (A) minister an – nicht unüblich, aber trotzdem kein Beweis a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (C) von Stärke. gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsrentenge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN setzes und bei der FDP) – Drucksache 16/1936 – Dass die Koalitionsfraktionen das so mitmachen, ob- wohl zwischendurch alle möglichen anderen Zeichen da Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- waren, ist ein Beispiel – ich bedauere das sehr – von par- ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) lamentarischer Selbstentmündigung. – Drucksache 16/3007 – (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Berichterstattung: CSU) Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm Zweck eines Weißbuches kann nicht nur die innerkoa- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- litionäre Verständigung sein und sein Adressat ist auch richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales längst nicht nur die sicherheitspolitische Community. (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Gerade heute muss ein Weißbuch vor allem Antworten Kersten Naumann, Dr. Martina Bunge, auf brennende Fragen geben, die in der Bevölkerung, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und sehr stark unter den Soldaten und auch in der Politik ge- der Fraktion der LINKEN stellt werden: Was haben denn die Auslandseinsätze und Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von Krisenengagements bisher überhaupt gebracht? Warum DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlän- dauern die meisten so endlos? Warum ist der Übergang gern zu selbsttragender Sicherheit und Friedensprozessen so enorm schwierig? Gegenüber welchen Risiken und Be- – Drucksachen 16/2746, 16/3007 – drohungen können Streitkräfte überhaupt etwas ausrich- Berichterstattung: ten? Wofür werden sie angesichts der jetzigen und künf- Abgeordnete Gabriele Hiller-Ohm tigen Risiken und Bedrohungen vor allem gebraucht und wofür eigentlich gar nicht? Da gibt es den geflügelten Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hat in seiner Begriff – das ist inzwischen ein Baukastensatz –, Streit- Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/3007 den An- kräfte heute zur Krisenverhütung und Konfliktbewälti- trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2746 mit gung, einschließlich Bekämpfung des Terrorismus, ein- dem Titel „Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von zusetzen. – Das ist auf der ganz allgemeinen Ebene so DDR-Betrieben bis 31. Dezember 2012 verlängern“ mit (B) richtig wie aussagelos. einbezogen. Über diesen Antrag soll jetzt ebenfalls ab- (D) schließend beraten werden. – Ich sehe, Sie sind damit Wie wird schließlich der Anspruch auf umfassende einverstanden. Dann ist das so beschlossen. und Gewalt vorbeugende Sicherheitspolitik überhaupt in Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die die Tat umgesetzt? Wie ist das Verhältnis zwischen zivi- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre len und militärischen Mitteln der Sicherheitspolitik? Wie keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. wird der offenkundige Rückstand der zivilen Fähigkei- ten aufgeholt? Wie kann – daran sollten wir bei der Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen- bevorstehenden Debatte vor allem denken – dem wach- tarischen Staatssekretär Franz Thönnes das Wort. senden sicherheitspolitischen Desinteresse in der Bevöl- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kerung entgegengewirkt werden? Ich befürchte, dass das demnächst vorliegende Weißbuch auf diese Fragen nur unzureichende Antworten gibt. Umso mehr stehen wir Franz Thönnes, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Parlamentarierinnen und Parlamentarier in der Pflicht, minister für Arbeit und Soziales: diese Fragen bei der bevorstehenden Debatte über das Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Weißbuch zu stellen und verständlich zu beantworten. Das nun zu debattierende so genannte Betriebsrentenän- derungsgesetz zur Umstellung der Finanzierung des Pen- Ich danke Ihnen. sions-Sicherungs-Vereins ist im Laufe der Beratung im Ausschuss des Bundestages um einige sehr sinnvolle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und im Kern unstrittige Punkte ergänzt worden, weil wir und bei der FDP) wollen, dass diese wichtigen sozialpolitischen Regelun- gen noch in diesem Jahr in Kraft treten. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Ich schließe die Aussprache. DIE GRÜNEN]: Sinnvoll?) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Der Kern des Gesetzes ist die Umstellung der Finan- Drucksache 16/2082 an die in der Tagesordnung aufge- zierung des Pensions-Sicherungs-Vereins von der teil- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- weisen Umlagefinanzierung auf die Kapitalfinanzie- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung rung. Diese Umstellung stößt bei allen Beteiligten auf so beschlossen. ungeteilte Zustimmung; denn dadurch wird die Insolvenz- sicherung zukunftsfester. Das ist gut für die Arbeitneh- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: merinnen und Arbeitnehmer, weil ihre Rentenansprüche 5576 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Parl. Staatssekretär Franz Thönnes (A) dadurch besser abgesichert sind. Das ist auch für die Ar- hat, nicht ins Schwimmbad oder nicht ins Theater dürfe (C) beitgeberinnen und Arbeitgeber gut; denn sie können auf oder nicht mit dem öffentlichen Verkehrsmittel fahren ein verlässliches Altersversorgungssystem hinweisen. könne. Die Regelung wird dabei sozusagen umgedreht. Im Kern ist es auch für die Alterssicherung gut; denn da- Das darf in Zukunft nicht mehr passieren. Diese Diskri- durch wird die Gesamtversorgung aus gesetzlicher Rente minierung wollen wir verhindern. Deswegen stellen wir sowie privater und betrieblicher Altersvorsorge gestärkt. eindeutig klar: Der Schwerbehinderte ist berechtigt, eine (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Begleitung mitzunehmen, aber nicht dazu verpflichtet. Das gibt mehr Sicherheit im Alltag und mehr Teilhabe Von den weiteren Vorhaben, die im Gesetz enthalten am gesellschaftlichen Leben. sind, spreche ich aus Zeitgründen nur einige an: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie In der gesetzlichen Rentenversicherung werden die bei Abgeordneten der LINKEN und des Zusatzjobs nach dem SGB II bei der Berechnung der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Höhe der Rentenanpassungen und der Bestimmung der Sozialversicherungsrechengrößen künftig herausgenom- Schließlich noch eine Anmerkung zum Sozialgesetz- men. Eine Verzerrung wird somit verhindert. Dadurch buch II. Wir stellen klar, dass die Träger der Grundsi- ergibt sich eine klarere Grundlage für die Ermittlung der cherung für Arbeitsuchende bereits in der Zeit bis zur Beiträge und der Leistungen in den Sicherungssystemen. Entscheidung der gemeinsamen Einigungsstelle über die Erwerbsfähigkeit bzw. die Hilfebedürftigkeit Leistungen Mit der Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für der Grundsicherung für Arbeitsuchende zu erbringen ha- Lohnunterlagen aus der ehemaligen DDR bei den Ar- ben. Das verhindert ungeklärte Situationen für die An- beitgebern in den neuen Bundesländern bis zum tragsteller und bedeutet Sicherheit und Verlässlichkeit. 31. Dezember 2011 sichern wir den Zugriff auf die Lohndaten. Das gibt den Menschen ausreichend Mög- Alles zusammengefasst bedeutet das im Kern mehr lichkeit zur Klärung ihrer persönlichen Rentenkonten. Klarheit, mehr Sicherheit und mehr Verlässlichkeit. Dis- kriminierungen sollen verhindert werden. Ich glaube, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der dass mit dem Betriebsrentenänderungsgesetz und den LINKEN – Klaus Brandner [SPD]: Das bedeu- weiteren sozialpolitischen Entscheidungen, die damit tet Sicherheit!) verbunden sind, die Möglichkeit besteht, diese Regelun- Durch die Änderung beim Insolvenzgeld stellen wir gen noch bis Ende des Jahres in Kraft zu setzen. Deswe- sicher, dass Arbeitnehmer, die mit ihrem Arbeitgeber gen bitte ich um Zustimmung in diesem Haus. eine Vereinbarung über Entgeltumwandlung getroffen Danke. haben, im Insolvenzfall nicht benachteiligt werden. Das (B) (D) umgewandelte Entgelt fließt künftig in die Berechnung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) des Insolvenzgeldes ein. Auch das bringt mehr Sicher- heit. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ebenso sinnvoll ist, die Regelungen zum Vermitt- Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDP- lungsgutschein, mit dem arbeitslose Menschen einen Fraktion. privaten Arbeitsvermittler beauftragen können, um ein (Beifall bei der FDP) Jahr zu verlängern; denn erst nach der für 2007 vorgese- henen Evaluation werden wir wissen, wie nutzbringend Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): der Beitrag der privaten Vermittler sein kann. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mit der Einbeziehung des Dachdeckerhandwerks in Anhörung und die Beratungen im Ausschuss haben ge- das neue Leistungssystem Saisonkurzarbeitergeld kön- zeigt, dass die geplante Umstellung auf Kapitaldeckung nen nun auch die Beschäftigten dieses Wirtschafts- beim Pensions-Sicherungs-Verein allgemeine Zustim- zweiges die verbesserten Förderbedingungen ab Dezem- mung findet. Dieser Punkt wird von der FDP-Bundes- ber 2006 nutzen. Das heißt Verringerung des Risikos tagsfraktion mitgetragen. Allerdings – Sie, Herr Staats- Arbeitslosigkeit, das heißt Einkommenssicherung und sekretär, haben es gesagt – sind im Laufe des Verfahrens dass die Beschäftigten mit ihren Kompetenzen dem Be- noch einige Punkte hinzugekommen, die mit dem ur- trieb erhalten bleiben. sprünglichen Inhalt des Entwurfes nicht zusammenhän- gen und von denen einzelne – ich möchte drei nennen – Wir nehmen eine ganz wichtige Klarstellung im Be- aus unserer Sicht nicht unproblematisch sind. hindertenrecht vor, die helfen wird, Diskriminierung zu vermeiden. Man wundert sich ja manchmal, welche All- Aber eins nach dem anderen. Zunächst noch ein Wort tagspossen die Realität bietet. Zum Schutz der Men- zur Umstellung der Finanzierungsgrundlage. Wir den- schen gibt es das Merkzeichen „B“ im Schwerbehin- ken, dass die Umstellung auf Kapitaldeckung sinnvoll dertenausweis, mit dem die Notwendigkeit ständiger ist und dass sie hoffentlich noch zur rechten Zeit erfolgt. Begleitung unterstrichen wird. Damit ist das Recht ge- Denn infolge der Zunahme der externen Durchführungs- meint, eine ständige Begleitung zu haben, wenn man wege in der betrieblichen Altersvorsorge ist vorauszuse- zum Beispiel ins Theater oder ins Schwimmbad geht hen, dass in Zukunft beim Pensions-Sicherungs-Verein oder ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen möchte. die Beitragsbemessungsgrundlage zurückgeht. Dann Man wundert sich, wenn dann auf einmal derjenige hin- würde der Pensions-Sicherungs-Verein zunehmend mit term Schalter sagt, dass man, weil man keine Begleitung der Ausfinanzierung von Anwartschaften aus Insolven- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5577

Dr. Heinrich L. Kolb (A) zen vergangener Jahre belastet. Es käme zu Beitragssatz- (Anton Schaaf [SPD], zu Abg. Irmingard (C) steigerungen. Dem wird durch die Umstellung vorge- Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beugt. NEN] gewandt: Ich hoffe, dazu sagst du gleich noch etwas!) Ich darf noch anmerken, Herr Staatssekretär, dass ich es schade finde, dass die Koalition das Instrument der Es ist nicht absehbar, dass sich daran künftig etwas än- Kapitaldeckung nur beschränkt auf diesen Fall, Pensi- dern wird. Die Versicherten erhalten jährliche Rentenin- ons-Sicherungs-Verein, zum Einsatz bringt. Die Kapital- formationen. Außerdem bekamen sie Briefe, in denen sie deckung wäre auch ein geeignetes Instrument, um über die Notwendigkeit der Kontenklärung und über den drohenden Beitragssteigerungen in der Krankenver- Fristablauf aufgeklärt wurden. sicherung entgegenzuwirken. Aber man muss leider (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das alles feststellen: Die Koalition hat – das kann man bei den können Sie nur fordern, weil die Ablehnung Verhandlungen zur Reform des Gesundheitswesens an- gesichert ist!) schaulich verfolgen – leider nicht die Kraft, ein als rich- tig erkanntes Prinzip auf die Finanzierung des Gesund- Vor diesem Hintergrund halten wir es für nicht rich- heitsbereiches zu übertragen. tig, dass die Unternehmen, die die Aufbewahrung der Lohnunterlagen gegen Entgelt übernommen haben, nun (Beifall bei der FDP) die Kosten dafür tragen sollen, dass viele Menschen Die Herausnahme der so genannten 1-Euro-Jobs aus nicht bereit waren, ein Mindestmaß an Eigenverantwor- der Berechnungsgrundlage für die Rentenanpassung ist tung zu übernehmen. Ohnehin können die Betroffenen zwar richtig, aber noch besser wäre es, wenn die Berech- ihre Rentenansprüche auch nach Fristablauf und ohne nung der Rentenanpassung endlich – wie bereits von der ihre Lohnunterlagen vorzulegen glaubhaft machen. Rürup-Kommission gefordert und im ursprünglichen (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Referentenentwurf zum Rentenversicherungs-Nachhal- DIE GRÜNEN]: Dann kriegen sie aber ein tigkeitsgesetz vorgesehen – auf die beitragspflichtigen Sechstel weniger! Dann werden von der klei- Löhne und Gehälter gestützt würde. In der Anhörung nen Rente 16 Prozent abgezogen!) wurden durch die Rentenversicherung die Bedenken vorgebracht, bis zur Mitte des Jahres seien die beitrags- Dann erhalten sie zwar nur fünf Sechstel ihrer Ansprü- pflichtigen Löhne und Gehälter des Vorjahres nicht zu che. Aber ich denke, dass unter diesen Umständen keine ermitteln. Ich muss sagen, dass ich nicht bereit bin, die- Fristverlängerung notwendig ist. ses Argument zu akzeptieren. Die Arbeitgeber melden Die vorzeitige Übertragung des Saisonkurzarbeiter- nach der neuen Fälligkeitsregelung am Ende eines jeden (B) geldes auf das Dachdeckerhandwerk wird von uns abge- (D) Monats ihre beitragspflichtigen Entgelte an die Sozial- lehnt. versicherungsträger, genauer gesagt, an die Krankenkas- sen. Dass diese Daten dann auf ihrem weiteren Weg Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: durch die Institutionen irgendwo versickern, jedenfalls nicht zeitnah zur Verfügung stehen, darf meines Erach- Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des tens nicht sein. Kollegen Steppuhn von der SPD-Fraktion?

(Beifall bei der FDP) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Aus meiner Sicht hat die Deutsche Rentenversicherung Ja, gerne. hier ein organisatorisches Problem, das durchaus gelöst werden kann und auch gelöst werden muss. Andreas Steppuhn (SPD): Herr Kolb, ich möchte Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, (Beifall bei der FDP – Birgit Homburger dass es noch mindestens 1,3 Millionen ungeklärte Ren- [FDP]: Durch einfache Addition! – Dr. Ralf tenkonten gibt und dass in dieser Zahl die Konten der Brauksiepe [CDU/CSU]: Ja, ja!) Personen, die in den Westen verzogen sind, noch gar – Ja, beispielsweise durch einfache Addition. nicht mit berücksichtigt sind?

Eine Verlängerung der Frist zur Aufbewahrung der Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Lohnunterlagen von ehemals in der DDR Beschäftigten Diese Zahl ist mir durchaus bekannt. Aber wie ich be- ist nach unserer Auffassung nicht nötig. In den 16 Jahren reits sagte – Sie haben mir wohl nicht zugehört, Herr seit der Wiedervereinigung wurden die Betroffenen Kollege Steppuhn –, hat der Vertreter der Rentenversi- mehrfach aufgefordert, ihre Rentenkonten zu klären. cherung darauf aufmerksam gemacht, dass es aufgrund (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ der Vielzahl von Fällen offensichtlich an der Bereit- DIE GRÜNEN]: Das betrifft noch 1,3 Millio- schaft der Betroffenen mangelt, bei der Klärung ihrer nen Menschen!) Rentendaten mitzuwirken. (Anton Schaaf [SPD]: Ach, Herr Kolb, bei Die ungeklärten Konten sind, wie der Vertreter der Deut- 1,3 Millionen!) schen Rentenversicherung in der Anhörung ausführte, auf die fehlende Mitwirkung der Betroffenen zurückzu- Die Frage ist: Wenn 16 Jahre zur Klärung der Renten- führen. konten nicht ausgereicht haben, was berechtigt dann zu 5578 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Heinrich L. Kolb (A) der Annahme, dass die nächsten fünf Jahre eine wesent- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) liche Veränderung dieses Sachverhalts mit sich bringen Ich erteile das Wort Kollegen Peter Weiß, CDU/CSU- werden? Möglicherweise ist es doch so, dass sich einige Fraktion. der Betroffenen sogar besser stellen, wenn sie den Weg der Glaubhaftmachung wählen. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt er schon wieder Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! damit! Das ist unglaublich! – Anton Schaaf Eigentlich müsste morgen früh auf den Titelseiten der [SPD]: Es geht um 1,3 Millionen Fälle, Herr Zeitungen erwähnt werden, dass wir heute Abend diese Kolb!) Debatte führen. – Es kann sich sogar um eine noch größere Zahl von Be- (Anton Schaaf [SPD]: Los, Peter! Dazu kannst troffenen handeln, Herr Kollege. Vielleicht ist das aller- du jetzt beitragen! – Dr. Heinrich L. Kolb dings ein bewusst gewähltes Verhalten. Ich sage Ihnen: [FDP]: Genau! Denn die Koalition entschließt Durch die Verlängerung der Frist um fünf weitere Jahre sich in einem Einzelfall für die Kapitalde- gewinnen Sie nach meinem Dafürhalten nichts. Es ent- ckung!) stehen zwar zusätzliche Kosten, die getragen werden müssen. Aber man gewinnt dadurch im Hinblick auf die Denn so viele ausgesprochen gute Dinge, Rentendaten nicht mehr Sicherheit. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Heißt das, die Koalition entscheidet sich für das System der Ich will unsere Ablehnung der vorzeitigen Übertra- Kapitaldeckung?) gung des Saisonkurzarbeitergeldes auf das Dachdecker- handwerk begründen: Wir haben bereits bei der Einfüh- wie mit diesem Gesetz beschlossen werden, gibt es ei- rung des Saisonkurzarbeitergeldes erklärt, dass wir vor gentlich selten auf einmal. Das zeigt: Die große Koali- einer Ausdehnung auf andere Branchen zunächst einmal tion ist gut für gute Nachrichten. die Evaluation und die durch das Saisonkurzarbeitergeld (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – entstehende Kostenbelastung abwarten wollen. Daran Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In der Presse ste- halten wir weiterhin fest. hen schon so viele schlechte Nachrichten, die Zudem ist zu erwarten – das kam auch in der Anhö- haben gar keinen Platz mehr! – Volker rung zum Ausdruck –, dass, nachdem das Dachdecker- Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Eine handwerk berücksichtigt wurde, relativ zügig weitere echte Happyhour!) (B) (D) Branchen in diese Regelung aufgenommen werden wol- Gute Nachricht Nummer eins: Wir tun Gutes für die len. Mit welchem Argument wollen Sie anderen Bran- betriebliche Altersvorsorge. Das Finanzierungsverfah- chen die Aufnahme versagen, wenn Sie dem Dachde- ren der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersver- ckerhandwerk dieses Recht eingeräumt haben? Nein, ich sorgung wird auf vollständige Kapitaldeckung umge- denke, ohne Kenntnis der Folgen und der entstehenden stellt und damit zukunftssicherer gestaltet. Kosten ist eine Ausweitung auf weitere Branchen nicht verantwortbar und nicht zustimmungsfähig. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber das gilt nur in dem Bereich!) (Beifall bei der FDP) Zudem wird auch das Geld, das im Wege der Entgeltum- Insbesondere aus den letzten beiden Gründen, unserer wandlung für die Altersvorsorge angespart wird, in den Ablehnung der Verlängerung der Frist zur Aufbewah- Insolvenzschutz einbezogen. rung von Lohnunterlagen und unserer Ablehnung der vorzeitigen Übertragung des Saisonkurzarbeitergeldes (Gudrun Kopp [FDP]: Mehr ist nicht drin?) auf das Dachdeckerhandwerk, können wir dem Entwurf Wir schaffen damit zusätzliche Anreize für den weiteren eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebsren- Ausbau der betrieblichen Altersvorsorge und dafür, dass tengesetzes nicht zustimmen. Da wir allerdings die Ein- Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland führung der vollständigen Kapitaldeckung beim Pen- die Entgeltumwandlung nutzen, um fürs Alter vorzusor- sions-Sicherungs-Verein positiv bewerten, werden wir gen. uns bei der Abstimmung über diesen Gesetzentwurf ent- halten. Das zentrale Thema bei der Debatte über die Alters- vorsorge ist eigentlich nicht die gesetzliche Rente, son- (Anton Schaaf [SPD]: Jawohl! Konsequent dern wie wir die zweite und dritte Säule der Altersver- enthalten!) sorgung – die betriebliche Altersversorgung und die private, kapitalgedeckte Altersversorgung – so aus- Den Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel bauen, dass die Menschen im Alter von Altersarmut ver- „Aufbewahrungsfrist der Lohnunterlagen von DDR-Be- schont bleiben und einen ausreichenden Lebensstandard trieben bis 31. Dezember 2012 verlängern“ lehnen wir durch die drei Standbeine der Altersversorgung haben. aus den vorgetragenen Gründen ab. Deshalb ist der heutige Tag ein guter Anlass, alle Be- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. triebe, alle Arbeitgeber, aber auch alle Arbeitnehmerin- nen und Arbeitnehmer aufzufordern: Nutzen Sie die (Beifall bei der FDP) Möglichkeiten der betrieblichen Altersvorsorge! Nutzen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5579

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Sie die Entgeltumwandlung, bei der Ihnen der Staat ba- ist, nach Hause geschickt worden ist, weil er keinen Be- (C) res Geld schenkt! Dann steht Ihre Altersversorgung auch gleiter dabei hatte. Da hat jemand etwas falsch verstan- in Zukunft auf sicheren Beinen. Das ist die Hauptbot- den! Deshalb müssen wir im Gesetz jetzt leider aus- schaft. drücklich klarstellen, dass das Merkzeichen „B“ im Schwerbehindertenausweis zwar zur Mitnahme einer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Begleitperson berechtigt, aber nicht verpflichtet, in je- Die gute Nachricht Nummer zwei ist: Die große Ko- dem Fall und unbedingt eine Begleitperson dabeizuha- alition sorgt für Klarheit und Verlässlichkeit bei der ben. Rente. (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Hat die Union (Lachen bei der FDP) damals auch so gewollt!) Es gibt genügend publizistische und politische Strategen Deswegen ist diese Klarstellung im Gesetz, die wir heute – einer ist der Kollege Dr. Kolb, der gerade geredet vornehmen, auch ein Stück Kampf gegen die Diskrimi- hat –, die mit Begriffen wie „Schrumpfrente“ die Rent- nierung behinderter Menschen in unserem Land. Ich nerinnen und Rentner verunsichern wollen. Mit dem Ge- finde, auch das ist eine gute Nachricht für die Behinder- setz, das wir heute verabschieden, stellen wir klar, dass ten in Deutschland. so genannte Zusatzjobs oder 1-Euro-Jobs – wie immer man sie nennen will – das Lohnniveau, das für die Ren- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tenberechnung maßgeblich ist, nicht nach unten ziehen Wir entsprechen daneben dem ausdrücklichen Wunsch dürfen. Wir machen gleich Nägel mit Köpfen, indem wir der Deutschen Rentenversicherung und mehrerer Bun- schon heute die Sozialversicherungsrechengrößen für desländer, die Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen das Jahr 2007 festlegen. der früheren DDR bis 2011 zu verlängern. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann müssen (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE Sie noch einmal daran herumfummeln, wenn LINKE]: Und unserem Antrag!) der Rentenbericht veröffentlicht ist!) Verehrter Herr Kollege Dr. Kolb, ich finde, wenn dieje- Also schaffen wir Klarheit bei der Rentenberechnung. nige, die zuständig ist, nämlich die Deutsche Rentenver- Herr Dr. Kolb, Sie haben etwas zur Rente gesagt. sicherung, und die Bundesländer fordern, das zu tun, dann sollten wir uns als Fachpolitiker im Bundestag (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe heute nicht gescheiter machen als die Deutsche Rentenversi- gar nichts zur Rente gesagt!) (B) cherung und die davon betroffenen Bundesländer, son- (D) – Doch. – Unabhängig davon, dass dieses Jahr ein drei- dern diesem berechtigen Wunsch entgegenkommen. zehnter Sozialversicherungsbeitrag eingezogen wird, sa- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ gen uns alle Indikatoren: Es läuft bei der Rente ausge- DIE GRÜNEN]: Die FDP ist immer so einsei- sprochen gut, sowohl was die Rentenfinanzierung des tig!) Jahres 2006 betrifft als auch was die Rentenfinanzierung des Jahres 2007 anbelangt. Deswegen muss endlich Die Kollegin Maria Michalk, die aus Sachsen kommt, Schluss sein mit der ständigen Verunsicherung der Rent- hat mir erzählt, dass sie heute eine ganze Reihe von An- nerinnen und Rentner! Mit Blick auf dieses Gesetz, aber rufen und E-Mails von Leuten bekommen hat, die gehört auch auf das, was uns an Daten, Zahlen und Fakten vor- haben, dass wir das heute regeln, und die sagen: Gott sei liegt, können wir eines sagen: Die Rente 2006 und die Dank verlängert ihr die Frist. – Ich finde, es ist eine gute Rente 2007 sind gut finanziert. Das ist eine gute Bot- Nachricht für die Menschen in den neuen Bundeslän- schaft für die Rentnerinnen und Rentner in unserem dern, dass wir ihrem Wunsch nachkommen und die Ver- Land. längerung der Aufbewahrungsfrist für Lohnunterlagen heute beschließen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Beziehen Sie sich (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem jetzt auf die „Handelsblatt“-Vorabmeldung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) oder auf den Schätzerkreis?) Auch das, was Sie zum Dachdeckerhandwerk ge- Gute Nachricht Nummer drei. Es wird dem Gesetzge- sagt haben, kann ich nicht nachvollziehen. Das Dachde- ber, also uns, oftmals vorgeworfen, wir würden mit bü- ckerhandwerk hat die tarifvertraglichen Voraussetzun- rokratischen Regelungen das Leben der Menschen er- gen selbst geschaffen – dort sitzen ja Arbeitgeber und schweren. Es ist gerade umgekehrt: Menschen machen Arbeitnehmer zusammen, die frei etwas vereinbaren –, sich gegenseitig das Leben schwer. Ein Beispiel dafür ist um das neue System zur Förderung der ganzjährigen Be- der Umgang mit dem Merkzeichen „B“ im Schwerbe- schäftigung nutzen zu können. Wir als Bundestag kön- hindertenausweis. Dieses Merkzeichen besagt, dass ein nen jetzt doch nicht sagen: Weil ihr das freiwillig mitei- Anspruch auf ständige Begleitung besteht. Herr Staatsse- nander vereinbart habt, lehnen wir als Gesetzgeber es ab, kretär Thönnes hat schon geschildert, dass es vorgekom- euch in diese Förderung mit einzubeziehen. men ist, dass ein Mensch mit Behinderung, in dessen Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen „B“ stand, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wissen Sie denn, im Schwimmbad oder in einer Disco abgewiesen worden was das kostet?) 5580 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Ich finde es richtig, dass wir sie noch vor dem Winter Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) und nicht erst nach dem Winter mit einbeziehen. Das ist Ich erteile Kollegen Volker Schneider, Fraktion Die ja wohl auch logisch. Linke, das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rohde? Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Thönnes hat es ja schon ausgeführt: Am Anfang dieses Omnibusgesetzes stand zunächst ein- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): mal allein und ausschließlich das Zweite Gesetz zur Än- Bitte schön. derung des Betriebsrentengesetzes. In diesem Gesetz wird geregelt – auch das ist ja schon angesprochen wor- Jörg Rohde (FDP): den –, dass die Finanzierung der Insolvenzsicherung von Herr Kollege Weiß, ich habe wirklich eine Wissens- Betriebsrenten – und nur der Insolvenzsicherung und frage. Ich kenne die Antwort selbst nicht. Wie sieht der nicht der Betriebsrenten – über den Pensions-Siche- Tarifvertrag im Dachdeckerhandwerk, der jetzt gerade rungs-Verein auf volle Kapitaldeckung umgestellt wird. beschlossen wurde, denn aus? Im Verlaufe des Jahres Es hat sich erwiesen, dass alle Beteiligten davon profi- – zu Beginn haben wir das Saisonkurzarbeitergeld im tieren: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben Baugewerbe eingeführt – haben wir festgestellt, dass die durch diese Umstellung den Vorteil eines stärkeren Tarifverträge vonseiten der Tarifpartner nachgebessert Schutzes ihrer Betriebsrente vor dem Risiko einer Insol- wurden und dass jetzt Vorleistungen durch das Einbrin- venz des Arbeitgebers. Die Arbeitgeber zahlen zwar für gen von Stunden für dieses Saisonkurzarbeitergeld ent- einen überschaubaren Zeitraum von 15 Jahren zunächst fallen sind. Wie sieht das jetzt aus? höhere, danach aber wegen der Zinseffekte niedrigere Beiträge, sodass auch sie die Änderung begrüßt haben. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da ist gar nichts nachgebessert worden! Das stimmt (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das funktioniert nicht!) auch bei den Arbeitsrenten, das klappt auch bei der Krankenversicherung! Die Frage ist, Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): warum man das nicht auch dort macht!) Herr Kollege Rohde, es kann nicht nachgebessert – Herr Kolb, darüber haben wir heute Abend nicht zu (B) worden sein, weil das Dachdeckerhandwerk erst jetzt die (D) tariflichen Voraussetzungen geschaffen hat, um die Re- diskutieren. gelung überhaupt in Anspruch nehmen zu können. Wir (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber man kann als Gesetzgeber regeln, dass sie diese auch in Anspruch ja einmal darauf hinweisen!) nehmen können. Von daher muss ich sagen, dass Ihre Frage etwas ins Leere geht. Wo es nur Gewinner und keine Verlierer gibt, herrscht natürlich beste Stimmung. Wenn die Stimmung so gut (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ist, kann man sie natürlich nutzen: Man stellt dann einen der SPD) Omnibus auf und packt all das hinein, was man in der Wir regeln in diesem Gesetz noch weitere Gegen- Sozialgesetzgebung schon längst erledigt haben wollte, stände, die ich nicht alle aufführen will. Wir verlängern wozu man aber bislang keine Zeit oder keine Gelegen- die Geltungsdauer der Regelungen bezüglich des Ver- heit gefunden hat. Weil die Aussage der Kanzlerin, in mittlungsgutscheines, weil wir erst dann, wenn die Eva- dieser Koalition gehe Sorgfalt immer vor Schnelligkeit, luierungsergebnisse der Wissenschaftler vorliegen, defi- nicht immer ganz richtig ist, hat man noch ein paar Ge- nitiv darüber entscheiden, ob es ihn so oder in anderer setze hineingepackt, mit denen handwerkliche Fehler be- Form auch in Zukunft geben soll. Zusammengefasst seitigt werden. finde ich, dass das alles gute Nachrichten sind. Sie haben, wenn auch schamhaft, auch zwei rote Ro- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie sen aus dem Garten der Linken in den bunten Strauß ein- alle persönlich fragen, ob Sie schon einmal einen Bus gebunden. verpasst haben. Wenn man einen Omnibus verpasst, dann steht man nämlich in der Regel ziemlich dumm da. (Zuruf von der CDU/CSU: Stiefmütterchen!) Wir beschließen heute ein so genanntes Omnibusgesetz, – Sie können sie als Stiefmütterchen bezeichnen. Stief- durch das eine Vielzahl unterschiedlicher Gesetzesmate- mütterchen sind aber, wenn ich das richtig sehe, nicht rien geregelt wird. Ich finde, Sie sollten es alle nicht ver- rot. – Nachdem Sie gemäß Ihrem Grundsatz „Guter An- passen, in diesen Omnibus voll guter Nachrichten einzu- trag, falscher Antragsteller“ noch im März den Antrag steigen und dem Gesetzentwurf zuzustimmen. der Fraktion Die Linke, die 1-Euro-Jobs aus der Berech- Vielen Dank. nung der Werte der Rentenversicherung herauszuneh- men, als überflüssig abgelehnt haben, bringen Sie ihn (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – nun selbst ein. Besser spät als nie! Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sehr meta- phorisch!) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5581

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Kollege Brauksiepe, Sie behaupten immer wieder, da- lehnen wir zwar nicht ab, denn sie bringt eine Verbesse- (C) mals – das hört sich bei Ihnen so an, als sei es Ewigkei- rung für die Betroffenen; wir können ihr aber auch nicht ten her; es war im März – sei diese Änderung noch nicht zustimmen. notwendig gewesen, fragten dann in der Anhörung aber selbst den Gutachter der Rentenversicherung, ob es In unserer ablehnenden Haltung gegenüber den Ände- angesichts des Zeitpunkts nicht sinnvoll sei, die Rechen- rungen im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, die größen statt über Rechtsverordnungen direkt im Gesetz- von Ihnen als nur redaktionell bezeichnet wurden, sehen gebungsverfahren zu regeln. Was ist das: Ahnungslosig- wir uns durch die Anhörung bestätigt. Diesen Teil des keit, Ignoranz oder Schizophrenie? Antrags lehnen wir ab. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sie werden Man muss nicht jede Blume mögen, um einen Strauß das nicht verstehen!) ansehnlich zu finden. Deshalb werden wir dem Gesetz- entwurf insgesamt zustimmen. Wären Sie damals unserem Antrag gefolgt, bestünde jetzt nicht die Notwendigkeit, sich als Gesetzgeber in Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: den Tätigkeitsbereich der Exekutive einzumischen. Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen. Sie ha- (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- ben schon deutlich überzogen. mendingen] [CDU/CSU]: Das hängt jetzt nicht miteinander zusammen!) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Damit Sie die zweite Rose besser im Strauß verste- Sie wissen vielleicht, warum Sie unserem Antrag cken können, haben Sie vom Stiel ein Sechstel abge- zwar gefolgt sind und die gewünschte Gesetzesänderung schnitten. Ob Sie die Frist für die Aufbewahrung von bereits eingebracht haben, aber unserem Antrag nicht Lohnunterlagen aus der früheren DDR nur um fünf folgen. Wir verstehen es nicht. oder, wie von uns gewünscht, um sechs Jahre verlän- Vielen Dank. gern, ist nun wirklich nicht der Punkt. (Beifall bei der LINKEN) Es ist wichtiger – da muss ich im Ansatz dem Kolle- gen Kolb Recht geben –, zu überlegen, wie es uns in der zusätzlich gewonnen Zeit gelingen wird, die Betroffenen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: in den mindestens 1,3 Millionen Fällen ungeklärter Ren- Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard Schewe- tenkonten dazu zu bewegen, die erforderliche Klärung Gerigk, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. vorzunehmen. Aufgrund unserer Erfahrungen sind wir (B) der Meinung, dass in vielen Fällen ein Mangel an Ver- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE (D) trauen in die Rente die Ursache der Zurückhaltung ist. GRÜNEN): Die Betroffenen stellen sich die Frage: Warum viel Zeit Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die und Aufwand in eine solche Angelegenheit investieren, vorgeschlagene Änderung des Betriebsrentengesetzes wenn dabei unterm Strich doch nichts oder wenig he- findet unsere volle Zustimmung. rauskommt? Auch durch noch so viele Erinnerungen der Deutschen Rentenversicherung wird sich diese Skepsis (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht aufbrechen lassen. SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Habt ihr das ge- hört?) Durch eine bessere Insolvenzsicherung der unverfallba- ren Anwartschaften wird die betriebliche Alterssiche- Hier sind wir besonders gefordert. rung der Beschäftigten zukunftssicherer. Immerhin geht Kurz noch etwas zu den anderen Blumen in diesem es dabei um 8,5 Millionen Menschen. Strauß: Die Fraktion Die Linke begrüßt ausdrücklich die (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Damit soll- Einbeziehung der Dachdecker in die Förderung der ten Sie Ihre Rede beenden! – Weiterer Zuruf ganzjährigen Beschäftigung sowie die Klarstellung hin- von der CDU/CSU: Es kann nicht mehr besser sichtlich des Merkzeichens „B“ im Behindertenausweis. werden!) Hinsichtlich der Verlängerung des Instruments der – Warten Sie ab! Vermittlungsgutscheine haben wir im bisherigen Ver- fahren deutlich gemacht, dass wir Zweifel an den positi- Die betriebliche und private Vorsorge wird – darin ven Wirkungen dieses Instruments haben, Mitnahmeef- sind wir uns einig – zunehmend wichtiger. fekte aber real beobachtbar sind. Daran ändern aus (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn die gesetz- unserer Sicht auch die vorgenommenen gesetzlichen Än- liche Rente ruiniert ist!) derungen nichts. Wenn sich die Bundesregierung in die- sem Zusammenhang durch eine Evaluation weitere Si- Wir hätten uns allerdings in diesem Zusammenhang ge- cherheit verschaffen will, stehen wir diesem Ansinnen wünscht, dass auch die Möglichkeit, Betriebsrentenan- nicht im Wege, unterstützen es aber auch nicht. sprüche beim Wechsel des Arbeitsplatzes mitzunehmen, verbessert worden wäre. Die Einbeziehung der unter 25-Jährigen in die Be- darfsgemeinschaft der Eltern lehnen wir grundsätzlich (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne ab. Die hier vorgenommene weitergehende Veränderung Kastner) 5582 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Herr Weiß, Sie führen immer wieder an, dass Sie so viel rück, sondern werfen auch noch die letzten verbliebenen (C) Gutes tun. An dieser Stelle hätten Sie eine gute Chance Altersregelungen hinaus. dazu gehabt, aber die große Koalition ist eben ein biss- Staatssekretär Andres hat im Ausschuss gesagt, das chen träge. seien alles nur redaktionelle Änderungen. Aber ich frage (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie, Herr Thönnes: Halten Sie es gerade vor dem Hinter- grund der geplanten Rente mit 67 für gerechtfertigt, äl- Wir unterstützen auch die Verlängerung der Aufbe- tere Beschäftigte beim Kündigungsschutz schlechter zu wahrungsfrist für Lohnunterlagen aus früheren DDR- stellen? Die Anhörung im Ausschuss hat klipp und klar Betrieben bis zum Jahre 2011, damit 1,3 Millionen Men- gezeigt – übrigens waren keine Sachverständigen zu die- schen, deren Renten noch nicht geklärt sind, keine Kür- sem Thema eingeladen; auch das macht etwas deutlich –, zung aufgrund fehlender Nachweise erfahren müssen, dass Sie sehenden Auges richtlinienwidriges Recht be- wie es bei einer Glaubhaftmachung der Fall wäre. schließen. Sie schaffen damit – bewusst oder unbewusst – rechtliche Grauzonen. Herr Kolb, ich finde es geradezu zynisch, dass Sie sa- gen, einige stellten sich mit der Glaubhaftmachung bes- Das Antidiskriminierungsgesetz als solches ist nicht ser. Wenn Sie die kleine Rente einer Ostrentnerin hätten, das Problem. Dabei handelt es sich um ein gutes Gesetz. die noch um 16 Prozent gekürzt würde, dann würden Sie Problematisch sind vielmehr Ihre Verschlimmbesserun- anders reden. gen. Sie schaffen mit den beabsichtigten Änderungen ein Beschäftigungsprogramm für die Gerichte. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben dem Kollegen Schneider gar nicht zugehört, scheint Ich denke, der Koalitionsfrieden hat für Sie Vorrang mir!) vor der Rechtssicherheit der Bürgerinnen und Bürger. Was Sie hier machen, ist kein Nachbessern, sondern ein So weit, so gut. Bis zu diesem Punkt haben Sie unsere Nachmurksen. Zustimmung. Nun komme ich zum kritikwürdigen Teil Ihres Vorhabens. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben so gut Im Ausschuss haben wir getrennt über die einzelnen angefangen!) Punkte abgestimmt, sodass wir die AGG-Regelungen ablehnen konnten. Allen anderen Punkten haben wir zu- In einer Nacht-und-Nebel-Aktion hat die große Koali- gestimmt. Heute wird über den gesamten Entwurf abge- tion Änderungen am Allgemeinen Gleichbehandlungs- stimmt. Daher enthalten wir uns der Stimme. gesetz im Ausschuss einfach angehängt. Damit haben Ich danke Ihnen. (B) Union und SPD verhindert, dass sich der Bundestag ord- (D) nungsgemäß in einer ersten Beratung mit den Korrektu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ren am AGG beschäftigen kann. Das zeigt, wie peinlich Ihnen der ganze Vorgang ist, und zwar zu Recht. Mit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hektischen Last-Minute-Änderungen am vormals rot- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus grünen Entwurf haben Sie schon im Sommer zahlreiche Brandner, SPD-Fraktion. Unstimmigkeiten geschaffen. Seitdem ist im AGG der Wurm drin. Aber statt eine Wurmkur zu machen, vergrö- ßern Sie heute mit den drei Änderungen noch die Lö- Klaus Brandner (SPD): cher. Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn so viele Fraktionen dem Gesetzentwurf zustimmen oder zumin- Ich nenne ein Beispiel aus dem Zivilrecht. Seit jeher dest in Teilen zustimmen, dann haben wir ein gutes Ge- stehen in unserem Grundgesetz Religion und Weltan- setz für die Menschen in diesem Land gemacht. schauung gleichberechtigt nebeneinander. Völlig will- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der kürlich beharrt Schwarz-Rot darauf, im Zivilrecht die CDU/CSU) Weltanschauung aus dem Diskriminierungsschutz aus- zugrenzen. Das ist eine Diskriminierung von Freiden- Insofern hat Peter Weiß Recht: Heute ist ein guter Tag kern, Atheisten und Anthroposophen. Das gilt selbstver- für das Parlament. ständlich jeweils auch für die weibliche Form. Die Kollegin Schewe-Gerigk hat die heutige Debatte Das nächste Beispiel betrifft die Verbändebeteiligung. zum Anlass genommen, um auf das AGG einzugehen Ohne jeden sachlichen Grund beschneiden Sie nun auch und die Frage nach dem besonderen Kündigungsschutz die Beteiligungsmöglichkeiten von Verbänden in Ar- für Ältere in Tarifverträgen aufzuwerfen. Ich weise in beits- und Sozialgerichtsverfahren. Diese Beschränkung diesem Zusammenhang darauf hin, dass das, was wir in ist mit den EU-Richtlinien unvereinbar. Sie fordern näm- einem Änderungsantrag als Klarstellung zu dem Gesetz- lich starke Verfahrensrechte. entwurf vorgesehen haben, bewirkt, dass sowohl der all- gemeine als auch der besondere Kündigungsschutz Das dritte Beispiel ist das Arbeitsrecht. Alle Fach- durch das AGG nicht berührt werden. Es ist wichtig, leute sagen, den Bereich Kündigung aus dem AGG he- dass die Menschen in diesem Land wissen, dass wir rauszunehmen, verstoße gegen die EU-Richtlinien zu nicht für eine Verschlechterung sorgen, sondern eine Beschäftigung und Beruf. Aber was machen Sie? Sie Klarstellung herbeiführen. Sowohl der allgemeine als nehmen Ihren richtlinienwidrigen Eingriff nicht etwa zu- auch der besondere Kündigungsschutz bleiben wirksam. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5583

Klaus Brandner (A) Die Streichung der Regelbeispiele in § 10 Nr. 6 und Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (C) Nr. 7 AGG ist rein redaktioneller Art und hat keine Rechtswirkung. Das möchte ich ausdrücklich feststellen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich bin davon überzeugt, dass wir nicht nur mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Betriebsrentengeset- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zes etwas Gutes bewirken. Vielmehr zeigen die Koali- Ich schließe die Aussprache. tionsfraktionen auch, dass sie flexibel und schnell Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich be- handeln können, wenn es den Menschen dient. Die Win- kannt, dass uns eine persönliche Erklärung der Kollegin terbauförderung für das Dachdeckergewerbe führt Silvia Schmidt nach § 31 der Geschäftsordnung vor- dazu, dass die Menschen nicht in die Arbeitslosigkeit ge- liegt.1) drängt werden. Wir wollen das Dachdeckergewerbe in eine gesetzliche Regelung einbeziehen. Schließlich sind Dann kommen wir zur Abstimmung über den von der die dort tätigen Menschen aufgrund witterungsbedingter Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än- Schwankungen einer besonderen Beschäftigungssitua- derung des Betriebsrentengesetzes, Drucksache 16/1936. tion ausgesetzt. Diese Regelung ist ein wichtiger Schritt Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter hin zu stabilen Beschäftigungsbedingungen und ein Bei- Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- trag gegen die Verunsicherung in diesem Lande. Das che 16/3007, den Gesetzentwurf in der Ausschussfas- nimmt den Menschen Zukunftsängste. sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – der CDU/CSU) Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Diese Regelung, die Arbeitnehmern und Arbeitgebern Stimmen der Fraktionen der Linken, der SPD und der Planungssicherheit gibt, ist ein gutes Beispiel für die CDU/CSU bei Enthaltungen der Fraktionen der Grünen funktionierende Tarifautonomie in diesem Land. Denn und der FDP angenommen. es zeugt von großer gemeinsamer Verantwortung der Ta- rifvertragsparteien, dass sie den notwendigen tarifpoliti- Dritte Beratung schen Rahmen geschaffen haben, der uns als Gesetzge- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem ber in die Lage versetzt, eine wirksame Regelung für die Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Menschen zu beschließen, die der Winterarbeitslosigkeit Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist im Baugewerbe sonst ausgesetzt wären. Damit erhalten damit in dritter Lesung mit demselben Ergebnis wie in die betroffenen Menschen in der Schlechtwetterzeit eine zweiter Lesung angenommen. Arbeitsplatz- und Beschäftigungssicherung. (B) (D) Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Ein weiterer Bereich, den wir regeln, betrifft den Ver- Drucksache 16/3007 empfiehlt der Ausschuss die Ableh- mittlungsgutschein. Hier geht es darum, Menschen bes- nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksa- sere Beschäftigungschancen zu eröffnen und schneller in che 16/2746 mit dem Titel „Aufbewahrungsfrist der Arbeit zu bringen. Die Koalitionsfraktionen von CDU/ Lohnunterlagen von DDR-Betrieben bis 31. Dezember CSU und SPD haben sich darauf geeinigt, die Geltungs- 2012 verlängern“. Wer stimmt für die Beschlussempfeh- dauer des bestehenden Vermittlungsgutscheins um ein lung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschluss- Jahr zu verlängern. Das gibt den Beschäftigten in diesem empfehlung ist mit den Stimmen der SPD, der CDU/ Gewerbe Planungssicherheit, eröffnet aber auch den CSU und der FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Die Menschen Chancen, die auf eine bessere Vermittlung in Linke und Enthaltung der Fraktion der Grünen ange- Arbeit angewiesen sind. Für uns sind die privaten Ar- nommen. beitsvermittler eine ausgesprochen belebende Ergänzung der öffentlichen Vermittlung. Hierfür spricht, dass die Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: Bundesagentur für Arbeit die privaten Vermittler zuneh- mend als Kooperationspartner annimmt. Das haben wir a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- zumindest der Stellungnahme zu der Anhörung zu die- Kurt Hill, Eva Bulling-Schröter, Lutz Heilmann, sem Gesetzentwurf entnehmen können. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- KEN Wir haben das Instrument der Vermittlungsgutscheine weiterentwickelt und sehen uns in der Evaluation bestä- Strom- und Gasnetze in die öffentliche Hand tigt. Danach haben Vermittlungsgutscheinbesitzer deut- lich bessere Integrationsaussichten; das haben wir beab- – Drucksache 16/2678 – sichtigt. Wir haben uns vorgenommen, auf der Basis der Überweisungsvorschlag: Evaluation den Instrumentenkasten insgesamt auszuwer- Ausschuss für Wirtschaft und ten und zu ermitteln, wie dieses Instrument wirkt, wenn Technologie (f) Innenausschuss es qualitativ weiterentwickelt wird. Solange die Vermitt- Rechtsausschuss lungsgutscheine dazu beitragen, mehr nachhaltige sozi- Finanzausschuss alversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zu Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und schaffen, werden wir die Geltungsdauer dieses Instru- Verbraucherschutz ments verlängern. Wenn dem nicht so ist, werden wir das Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in den Evaluationsprozess einbeziehen und entscheiden, ob wir das Instrument weiter einsetzen werden. 1) Anlage 2 5584 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Das Ergebnis heißt dann Lastenmanagement. Auf (C) Dr. Herbert Schui, Hans-Kurt Hill, Dr. Barbara Deutsch, Windkraftanlagen werden schlicht abgeschal- Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der tet, wenn bei guten Windverhältnissen viel CO2-freier LINKEN Strom erzeugt wird. Der Netzausbau richtet sich also nicht nach der Zukunftsfähigkeit der Energieversorgung, Regelmäßige technische Überprüfung der sondern nach Eigeninteressen und Profit. Stromnetze Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Die – Drucksache 16/1447 – Bundesnetzagentur ist unverzichtbar, um die jetzige Si- Überweisungsvorschlag: tuation einigermaßen in den Griff zu bekommen. Wir Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) unterstützen die Fachleute nach Kräften; denn die Auf- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit gaben sind enorm. Die Linke fordert deshalb eine Anhe- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die bung des Etats der Behörde um 5 Millionen Euro, auch Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die damit sie die technische Sicherheit der Netze neutral und Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich kompetent überwachen kann. Das ist übrigens unabhän- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. gig von der Eigentumsfrage notwendig. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Mit Blick auf die Marktmacht der großen Vier wird Hans-Kurt Hill, Fraktion Die Linke. aber der Erfolg der Bundesnetzagentur begrenzt bleiben. Sie kann naturgemäß keine Entscheidungen darüber tref- (Beifall bei der LINKEN) fen, wie die Energieversorgung und damit die Netzstruk- tur zukünftig aussehen soll. Die Kontrolle der Netzbe- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): treiber stößt aber auch schnell an Grenzen, wenn es um Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Betriebsgeheimnisse geht. Beispiel: Das Gutachten Was wir zurzeit auf dem Energiemarkt beobachten, ist zum katastrophalen Stromausfall im Münsterland konnte doch ein Stück aus dem Tollhaus. nur teilweise veröffentlicht werden, weil – ich zitiere – „es Bezug nimmt auf interne Unterlagen der RWE, die (Beifall bei der LINKEN) als Geschäftsgeheimnisse deklariert sind“. Die Energiekonzerne glauben, sie können tun und las- Was am Ende herauskommt, erleben die Strom- und sen, was sie wollen, und die Regierung sieht tatenlos zu. Gaskunden dieser Tage: Die Netzagentur senkt die Die Strom- und Gasnetze sind nahezu vollständig in Netzentgelte. Die Energieversorger erhöhen die Kosten der Hand von RWE, Eon, Vattenfall und EnBW. bei der Erzeugung. Unterm Strich kann man froh sein, (B) 80 Prozent der Kraftwerkskapazitäten werden von den dass die Preiserhöhung geringer ausfällt. Von sinkenden (D) großen Vier kontrolliert. Wird erwogen, in das Kartell Strom- und Gaspreisen kann also keine Rede sein. einzugreifen, drohen die Konzerne schon einmal indirekt mit Stromausfall. Man wolle den Neubau von Kraftwer- Fazit: Die Netze sind gewissermaßen die Achilles- ken zurückhalten, wenn mehr reguliert werde. Eine Dro- ferse der Energieversorgung. Sie gehören deshalb in die hung nach der anderen. Die 13,5 Milliarden Euro Profit öffentliche Hand, um dem Versorgungsanspruch gerecht letztes Jahr waren wohl nicht genug. Irgendjemand zu werden, Missbrauch zu verhindern, die Energiever- kriegt den Hals wohl nicht voll. sorgung zukunftsgerecht zu gestalten und für die Kom- munen eine umfassende Mitgestaltung zu gewährleisten. Nun gibt es neben RWE und Co. neue Energieanbie- ter auf dem Markt. Tatsächlich ist gut die Hälfte der ge- (Beifall bei der LINKEN) planten Kraftwerksprojekte von anderen Unternehmen geplant. Doch von Wettbewerb keine Spur. Da wird Deshalb liegen Ihnen heute zwei Anträge zur Entschei- schlicht der Zugang verweigert, Bürokratie vorgescho- dung vor. Stellen Sie sich auf die Seite der Verbrauche- ben oder es werden unerfüllbare Auflagen gemacht. Ein rinnen und Verbraucher! Stimmen Sie den Anträgen zu! Beispiel: Im Fall von Engpässen sollen die Kraftwerke Vielen Dank. der großen Vier Vorrang vor Anlagen anderer Anbieter haben. Mit anderen Worten: RWE und Co. können die (Beifall bei der LINKEN) Konkurrenz ausschalten. Ein anderes Beispiel: RWE verlangt von einem Energieanbieter, der ein neues Kraft- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werk plant, er soll doch bitte 600 Millionen Euro für Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/ 150 Kilometer Netzausbau selber zahlen. Das ist fak- CSU-Fraktion. tisch das Aus für solch ein Projekt. RWE kann so das Energieangebot weiter knapp halten und die Börsen- preise für Strom manipulieren. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Aus meiner Sicht ist das Missbrauch. So kann es nicht Herren! In der Analyse können wir uns in diesem Hause weitergehen. über einiges verständigen; in der einen oder anderen (Beifall bei der LINKEN) Frage sind wir einigermaßen gleicher Meinung. Aber in der Bewertung und vor allem in den Schlussfolgerungen Die Netzeigner weigern sich auch, die Netze auf den – ich werde gleich darauf eingehen – sind wir es mit Si- wachsenden Anfall erneuerbarer Energien auszurichten. cherheit nicht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5585

Dr. Joachim Pfeiffer (A) In der Tat ist festzustellen, dass der Wettbewerb im dann fordern Sie mit einem Griff in die sozialistische (C) Energiebereich – dazu zählen nicht nur der Strombe- Mottenkiste – dazu fällt mir nichts mehr ein –, als wären reich, sondern selbstverständlich auch die Wärme und 40 Jahre DDR-Sozialismus mit „Ruinen schaffen ohne das Gas – und auch auf anderen Feldern – ich erinnere Waffen“ spurlos an Ihnen und uns vorübergegangen, die nur an den Transport und an den Verkehr – noch nicht Enteignung bzw. Vergesellschaftung der Strom- und richtig funktioniert. Gerade beim Strom – man muss da Gasnetze. unterscheiden und sollte nicht alles über einen Kamm scheren – haben wir 1998 bewusst den Weg in die Libe- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ralisierung beschritten. Die Liberalisierung und der Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hill? Wettbewerb im Strombereich funktionieren bisher aber nur eingeschränkt. Insoweit sind wir in der Analyse noch einig. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): Selbstverständlich. Ich habe heute Abend keinen Ter- Im Erzeugungsbereich gab es anfänglich wesentliche min mehr. Insofern habe ich viel Zeit. Zumindest habe Fortschritte bei der Liberalisierung: Rationalisierungs- ich meinen nächsten Termin erst um 8 Uhr. und Liberalisierungseffekte in einer Größenordnung von 8,5 Milliarden Euro. Das kam den Stromverbrauchern di- (Heiterkeit) rekt zugute: Ende der 90er-Jahre und in den Jahren 2000 bis 2001 hatten wir sinkende Strompreise zu verzeich- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): nen. Wir haben noch einen Termin. Auf der anderen Seite gibt es Bereiche wie das natür- Herr Kollege Pfeiffer, Sie haben gerade von der SED- liche Monopol Netz, in denen wir in Deutschland erst ei- Vergangenheit gesprochen, die Sie wieder aus der Mot- nen Sonderweg beschritten haben, nämlich den des ver- tenkiste ausgegraben haben. handelten Netzzugangs. Dieser Weg hat sich nicht als erfolgreich erwiesen. Aus Einsicht und weil in der EU Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): mit den Beschleunigungsrichtlinien ein anderer Weg be- Ich habe aus Ihrem Antrag zitiert. schritten wird, haben wir letztes Jahr mit der Novellie- rung des Energiewirtschaftsgesetzes die Grundlage ge- legt, im Bereich des natürlichen Monopols Netz einen Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Wettbewerb zu implementieren, der ebenfalls dafür In zwei Ländern, nämlich in Dänemark und in den sorgt, dass es zu sinkenden Preisen und Entgelten Niederlanden, sind die Netze verstaatlicht worden. Beide (B) kommt. Länder haben meines Erachtens relativ konservative Re- (D) gierungen. Meinen Sie, dass der Weg, der dort beschrit- Im Energiewirtschaftsgesetz ist für eine Übergangs- ten worden ist, falsch ist? phase bis einschließlich 2007 – das Gesetz ist im Juli letzten Jahres in Kraft getreten – eine Ex-ante-Kostenre- gulierung vorgesehen. Dafür brauchen wir die Bundes- Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): netzagentur, die in der Tat der Kostenkalkulation auf den Auch in diesem Fall gilt, Herr Kollege Hill, dass man Grund geht und in diesem Jahr wirklich erfolgreich ar- sich zunächst einmal mit dem Sachverhalt auseinander beitet. Im Grunde stündlich gehen die Bescheide ein, setzen und dass man prüfen sollte, wie sich die Lage was Gas- und Stromentgelte anbelangt. Insofern ist hier wirklich darstellt. Die Situation unterscheidet sich in al- mit Sicherheit eine preisdämpfende Wirkung festzustel- len anderen europäischen Ländern mit Ausnahme Öster- len. Die Monopolrenditen werden dadurch reduziert. reichs von der in Deutschland. Traditionell haben sich in den anderen europäischen Ländern die Netze bereits in Wir haben uns aber auch darauf verständigt, für die einer Hand, vormals zumeist in staatlicher Hand, befun- Zeit vom 1. Januar 2008 an in diesem Bereich eine An- den. Das gilt zum Beispiel für England und auch für reizregulierung zu implementieren, die Vergleichs- Frankreich. Dort gibt es eine ganz andere Tradition: Die märkte in den Blick nimmt und gerade erst im Entstehen Dinge haben sich seit 100 Jahren, seit Entstehen der ist. Sie wird am 1. Januar 2008 in Kraft treten und soll Netze, ganz anders entwickelt als in Deutschland. dann ihre Wirkung entfalten, was sie, gut angelegt, mit Sicherheit auch tun wird. Ich glaube nicht, dass eine Lösung für Deutschland in der Errichtung dezentraler Netze bestehen würde. Sie Das Folgende sage ich nicht nur zu Ihrem Antrag, haben Recht, dass es nur vier Übertragungsnetzbetreiber sondern auch zu der Diskussion auf europäischer Ebene, gibt. Das gesamte deutsche Stromnetz und die Vertei- die aktuell geführt wird und für die, wenn ich das richtig lungsebene befinden sich aber in den Händen mehrerer sehe, Teile des Koalitionspartners gewisse Sympathien Hundert Betreiber, etwa von Stadtwerken. Ich habe nur hegen. Ein eigentumsrechtliches Unbundling wäre maxi- Ihren Antrag zitiert. Sie wollen, dass der Deutsche Bun- mal ein weiterer Schritt, der zu prüfen wäre, wenn die destag die Bundesregierung auffordert, einen Gesetzent- anderen Instrumente nicht funktionieren würden. wurf einzubringen – ich wiederhole das –, der eine Ent- eignung bzw. Vergesellschaftung der Strom- und Mit Verlaub, Herr Kollege Hill: Sie haben das Ganze Gasnetze zum Gegenstand hat. zwar differenziert dargestellt und gesagt, dass die Bun- desnetzagentur benötigt und eigentlich auch gestärkt (Abg. Hans-Kurt Hill [DIE LINKE] nimmt werden müsse, aber wenn ich Ihren Antrag richtig sehe, wieder Platz) 5586 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Joachim Pfeiffer (A) – Ich bin noch bei der Beantwortung der Frage von (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der (C) Herrn Hill. Vielleicht können Sie die Uhr anhalten, Frau SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Präsidentin. DIE GRÜNEN) Sie fordern eine Verstaatlichung. Das ist mit Sicher- heit der falsche Weg, Herr Hill. Er ist wirklich nur mit Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): dem Griff in die sozialistische Mottenkiste zu begrün- Vielen Dank für die Hilfestellung in der Interpretation den. der Geschäftsordnung. (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Da müssen Sie Mehr Wettbewerb gibt es nur mit mehr Erzeugung. einmal hören, was der Herr Kurth dazu sagt!) Wir brauchen dezentrale Erzeugung, die jetzt ja auch wieder attraktiv wird. Deshalb müssen wir die Netzzu- – Herr Kurth fordert mit Sicherheit nicht die Verstaatli- gangsbedingungen verbessern. Die Bundesnetzagentur chung der Netze. Das wäre mir ganz neu. Das hat er we- und das Bundesministerium für Wirtschaft sind gefor- der bei seiner Berichterstattung in der letzten Beiratssit- dert, den Netzzugang so zu konzipieren, dass neue Wett- zung, in der Sie wohl nicht anwesend sein konnten, noch bewerber die Möglichkeit haben, einzuspeisen. Das gilt sonst wo gefordert. sowohl für die Wettbewerber aus dem Bereich der erneu- Nichtsdestotrotz ist Tatsache, dass der Wettbewerb in erbaren Energien, von denen es viele Klagen gibt, dass dem Erzeugungsbereich nicht richtig funktioniert. Doch sie nicht richtig einspeisen können, als auch für neue inzwischen haben wir im Netzbereich die Instrumente Wettbewerber aus dem Bereich der fossilen Energien, dafür angelegt. Nun müssen wir noch dafür sorgen, dass die in Deutschland an den Markt kommen wollen. sie entsprechend wirkungsvoll werden. Unterstützen Sie Wir werden nur mit mehr Liquidität im Markt errei- uns deshalb bei der Umsetzung einer Anreizregulierung, chen, den Wettbewerb zu stärken. Deshalb werbe ich da- die preisdämpfend wirkt! für, dass wir nicht das zarte Pflänzchen des Wettbewer- Insgesamt kann ich nur davor warnen, dass die Politik bes, das gerade im Begriff ist, sich zu entwickeln, kaputt falsche Hoffnungen weckt. Sie vermitteln den Eindruck, treten und durch staatliche Reglementierungen ersetzen. es müsse nur alles in staatliche Hand überführt werden, Es ist nämlich nicht so, dass der Staat alles besser weiß dann würden die Preise stabil bleiben oder sogar sinken. und deshalb Preise festsetzen kann. Vielmehr müssen Das wird mit Sicherheit nicht der Fall sein. Wenn wir wir den Wettbewerb so stärken, dass er auch wirklich uns für den Weg der Liberalisierung und der Markt- greift. Das geht eben nur mit marktkonformen Instru- wirtschaft entschlossen haben, müssen wir diesen Weg menten. Damit stärken wir zugleich die Wahlfreiheit der auch konsequent gehen. Das fordere ich ein. Bislang ge- Kunden. Wie in anderen Bereichen soll der Kunde aus- (B) hen wir ihn nämlich nicht konsequent. Wir haben im Be- wählen können, woher er seinen Strom und seine Ener- (D) reich der Erzeugung heute noch keinen richtigen Wettbe- gie bezieht. Im Ergebnis setzt dann, in marktkonformer werb. Deswegen haben wir beispielsweise gesagt, dass Weise, der Kunde die Höchstpreise fest. Das ist heute die Tarifpreisgenehmigung im nächsten Jahr auslaufen nicht der Fall. soll. Nur wenn wir unseren Weg konsequent weitergehen, Es gibt aber auch Leute, die fordern, die Tarifpreisge- dann werden wir – das wird allerdings noch eine gewisse nehmigung zu verlängern. Dann würden wir ein staatli- Zeit dauern – die Früchte unserer Bemühungen ernten ches Siegel für die gesamten Stromkosten behalten, wel- können, nicht aber bei einer Verstaatlichung und Verge- ches den Preis, bei dem durchaus Spielraum besteht sellschaftung der Netze. Das hat schon in der DDR nicht – weil dieser Spielraum besteht, ist doch das Kartellamt funktioniert; daran leiden wir noch heute. Sie aber for- mit seinen Bemühungen gescheitert –, legitimiert. Der dern das heute wieder ein! Das ist der falsche Weg. Der marktkonforme Weg muss und wird deshalb sein, das marktkonforme Weg ist der richtige. Diesen wird die Kartellamt entsprechend zu stärken. Nicht wir sollten die Koalition – hoffentlich mit Unterstützung der FDP und Tarifkontrolle ausüben, sondern das Kartellamt. Dafür vielleicht auch der Grünen – beschreiten. müssen wir die Vorschriften über die Missbrauchsauf- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Und der Ver- sicht anpassen und dem Kartellamt zeitlich begrenzt braucher zahlt es!) – bis es auch im Erzeugungsbereich im notwendigen Umfang funktioniert – die entsprechenden Möglichkei- Vielen Dank. ten einräumen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Zuruf des Abg. Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Sie können ja gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich habe, wie gesagt, ja noch Zeit. Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Frak- tion. (Rolf Hempelmann [SPD]: Wir aber nicht! Keine Einladungen!) Gudrun Kopp (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Damen! Wir stehen im Deutschen Bundestag vor der Herr Kollege, die Zwischenfragen lässt die Präsiden- Frage, worauf wir setzen: auf Verstaatlichung von Net- tin zu. zen oder auf eine konsequente Regulierung der Netze, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5587

Gudrun Kopp (A) um einen diskriminierungsfreien Netzzugang zu gewähr- ber nutzen, um zur Herstellung von Wettbewerb die (C) leisten. Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben uns dafür richtigen Instrumente einzusetzen. Dafür haben wir die entschieden, hier auf konsequente Regulierung zu set- Bundesnetzagentur. Sie soll wirken. Wir haben dane- zen, weil wir anders leider nicht zu mehr Wettbewerb auf ben das Bundeskartellamt, das als Missbrauchsauf- dem Energiemarkt kommen; da gebe ich dem Kollegen sichtsbehörde sehr wertvolle Dienste leistet und das man Pfeiffer ausdrücklich Recht. Die Stärkung des Wettbe- personell noch verstärken sollte; das wäre sinnvoll. werbs ist aber notwendig und Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt die Chance zur Kostensenkung erhalten. Nun braucht man bei einer solchen Regulierung na- türlich das Instrument der Geduld. Wir müssen Geduld (Beifall bei der FDP) aufbringen, damit sich die Wirkung dessen, was wir mit dem Energiewirtschaftsgesetz beschlossen haben, auch Herr Kollege Hill, Sie setzen in einer Reflexbewe- entfalten kann. Ich sage es noch einmal: Der diskrimi- gung, die aus jahrzehntelang geübter politischer Über- nierungsfreie Netzzugang ist das Allerwichtigste, damit zeugung in die Neuzeit übertragen wurde, wiederum auf weitere Erzeuger und neue Anbieter hier Fuß fassen kön- den Staat und sagen tatsächlich, hier müsse eine Ver- nen und damit die Verbraucher in die Lage versetzt wer- staatlichung der Netze erfolgen; die führe automatisch den, zum jetzigen Zeitpunkt ihre Anbieter zu wechseln zu niedrigeren Preisen. Das ist eine Logik, über die ich – beim Gas vermehrt erst in Zukunft –, damit es hier nicht einmal mehr lachen kann. hoffentlich zu Preissenkungen kommt. (Dr. [SPD]: Doch, kann ich!) (Beifall bei der FDP) Gerade das Beispiel Airbus zeigt doch: In dem Mo- Das kann man nicht versprechen. Aber das ist natür- ment, wo sich Politik in dem Sinne einmischt, lich auch unser Ziel, denn es kann nicht sein, dass Politik ( [SPD]: Ohne Politik gäbe es hilflos zusieht, wie hier Monopolstrukturen – darum keinen Airbus!) geht es – weiter bestehen können, ohne dass wir versu- chen, in besserer Weise einzuwirken. dass sie versucht, wirklich ins Management einzugrei- fen, in dem Moment, wo nicht Unternehmer einen Be- Das heißt also, liebe Kollegen und Kolleginnen, wir trieb führen, sondern sich der Staat direkt einmischen sind uns einig – die meisten jedenfalls, glaube ich –, dass soll, geht meist vieles schief. Wir haben erlebt, dass dort, eine Verstaatlichung auf gar keinen Fall der richtige Weg wo das Regime vom Staat übernommen wird, mehr Bü- ist. Vielmehr müssen wir den Wettbewerb durch konse- rokratie, mehr Ineffizienz und viel mehr Kosten entste- quente Regulierung stärken. Wir sollten alles daranset- hen. Diese Lektion können wir lernen. zen, gemeinsam die Bundesnetzagentur in ihren Bemü- (B) hungen zu unterstützen. Wir sollten nicht ständig neue (D) (Beifall bei der FDP) Instrumente erfinden und jetzt zum Beispiel eine Preis- Sie fordern in Ihrem Antrag ein eigentumsrechtliches aufsicht aus dem Hut ziehen, statt abzuwarten, ob sich Unbundling, also eine Entflechtung von Netzen und Er- die Wirkungen dessen, was wir bereits beschlossen ha- zeugung, zum jetzigen Zeitpunkt. Ich glaube, dass dies ben, jetzt entwickeln. Also: keine Verstaatlichung, son- der falsche Weg ist. Wir haben das auch in der FDP- dern konsequent an der Herstellung von mehr Wettbe- Bundestagsfraktion diskutiert und sind zu der Ansicht werb arbeiten. gekommen, dass es wichtig ist, die Wirksamkeit aller In- Vielen Dank. strumente, die hier zu einer Entflechtung führen sollen – organisatorische, buchhalterische und ab dem nächsten (Beifall bei der FDP) Jahr auch rechtliche –, zu prüfen und dann abzuwarten, ob mit der Anreizregulierung die von uns allen ange- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: strebte Entflechtung und damit auch Wettbewerbsstär- Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann, SPD- kung erfolgen. Die eigentumsrechtliche Entflechtung Fraktion. kann nach unserer Überzeugung allenfalls ein allerletz- tes Instrument sein, wenn denn gar nichts anderes mehr geht. Rolf Hempelmann (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Also doch!) gen! Einer der beiden Anträge, die die Linke zur heuti- Zur Historie – der Kollege Pfeiffer hat das ganz rich- gen Debatte gestellt hat, ist fast untergegangen. In die- tig dargestellt –: In den anderen EU-Staaten haben und sem Antrag geht es um die regelmäßige technische hatten wir es zumeist mit einem großen Staatsunterneh- Überprüfung der Stromnetze. Allein die Antragstellung men zu tun, während wir in Deutschland immerhin bis suggeriert natürlich schon, in dieser Beziehung sei in zu 1 700 Netzbetreiber haben. den letzten Jahren nichts geschehen. Das ist falsch. Wir haben im letzten Jahr – das ist mehrfach erwähnt wor- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: 80 Prozent der den – ein neues Energiewirtschaftsgesetz auf den Weg Netze sind in Händen der vier, nicht von gebracht. Da heißt es in § 13 Abs. 7: 1 700!) Zur Vermeidung schwerwiegender Versorgungsstö- Sie müssen bedenken, dass bei einer solchen Ent- rungen haben Betreiber von Übertragungsnetzen flechtung zum jetzigen Zeitpunkt auch mit großen Ge- jährlich eine Schwachstellenanalyse zu erarbeiten richtsverfahren zu rechnen wäre. Die Zeit sollten wir lie- und auf dieser Grundlage notwendige Maßnahmen 5588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Rolf Hempelmann (A) zu treffen. Das Personal in den Steuerstellen ist ent- wir beliebig viele Möglichkeiten, die Energiepreise nach (C) sprechend zu unterweisen. Über das Ergebnis der unten zu regulieren. Wir müssen immer einen Kompro- Schwachstellenanalyse und die notwendigen Maß- miss zwischen Preiswürdigkeit auf der einen Seite und nahmen hat der Übertragungsnetzbetreiber jährlich Versorgungssicherheit, Qualität und Investitionen auf bis zum 31. August der Regulierungsbehörde zu be- der anderen Seite finden. richten. Der zweite Antrag, mit dem wir uns hier beschäfti- Im Übrigen ist in § 14 genau die gleiche Regelung für gen, befasst sich mit der Verstaatlichung der Strom- die Betreiber von Elektrizitätsverteilungsnetzen vorgese- und Gasnetze. Wir haben zu diesem Thema schon mehr- hen. fach Anträge der Linken gehabt, die in eine ähnliche Richtung gingen. Das ist für uns nichts Neues, für die Die Regelungen im Energiewirtschaftsgesetz sind Linken selber auch nicht. Das hat ein wenig mit ihrer aber nicht nur vorbeugend, sondern auch nachsorgend. Historie zu tun. Ich will diesen Antrag nicht weiter kom- Wenn es etwa um bereits stattgefundene Versorgungsstö- mentieren. Ich sage nur: Wir haben begonnen, einen an- rungen geht, sieht das Energiewirtschaftsgesetz in § 52 deren Weg zu gehen. Wir haben im letzten Jahr die Bun- entsprechende Meldepflichten vor. Ich könnte auch das desnetzagentur eingerichtet. Sie hat darüber zu wachen, im Einzelnen zitieren, will es Ihnen aber ersparen. dass die organisatorische Entflechtung, die wir beschlos- Es wird jedenfalls ganz klar deutlich, dass wir bereits sen haben, erfolgreich umgesetzt wird. Sie soll einen dis- im letzten Jahr, als wir das Energiewirtschaftsgesetz auf kriminierungsfreien Netzzugang durchsetzen und sie soll den Weg gebracht haben, auch an den Aspekt der Quali- letztlich auch sinkende Netzentgelte bewirken. tät gedacht haben und selbstverständlich auch im Ein- Die Bundesnetzagentur ist diesen Weg bereits ein zelnen dafür gesorgt haben, dass die Bundesnetzagentur kleines Stück gegangen. Wir können schon zu diesem über die notwendigen Instrumente verfügt, um diese sehr frühen Zeitpunkt feststellen: Die Netzentgelte sin- Qualität auch durchzusetzen. ken in der Tat, in Teilen auch die Endverbraucherpreise. (Beifall bei der SPD) Es ist nicht ganz verwunderlich, dass sinkende Netzent- gelte nicht jedes Mal und sofort auf die Endpreise durch- Der zweite Punkt, den ich nannte, also die nachsor- schlagen. Wer die Berichte der Bundesnetzagentur gende Beschäftigung mit Versorgungsunterbrechungen, kennt, weiß, dass Geschichte nicht stehen bleibt und dass die stattgefunden haben, hat gerade im letzten Jahr eine zwischenzeitlich neue Sachverhalte eingetreten sind, die besondere Rolle gespielt. Sie haben es eben indirekt er- zu bestimmten Verrechnungsmechanismen geführt ha- wähnt: Es gab die Stromausfälle im RWE-Netz im ben, die aber wiederum von der Bundesnetzagentur ent- Münsterland. Es hat sich gezeigt, dass hier in der Tat der sprechend überwacht worden sind. (B) genannte Mechanismus gegriffen hat. Es gab ein um- (D) fängliches Gutachten der Bundesnetzagentur. Dabei Wir haben im Übrigen – auch dies ist schon mehrfach wurde durchaus auch bestätigt, dass das galt, was der im Plenum angesprochen worden – verschiedene andere Netzbetreiber für sich in Anspruch genommen hat, dass Instrumente in Vorbereitung, um die Wirksamkeit der nämlich vor allen Dingen äußere Faktoren zu diesem Tätigkeit der Netzagentur weiter zu verstärken. Dazu ge- Unglück geführt haben. Gleichzeitig hat die Bundesnetz- hört zum einen die Kraftwerksanschlussverordnung. agentur das Unternehmen aber angewiesen, das beste- Es geht darum, neuen Anbietern eine möglichst faire hende Sanierungskonzept zu beschleunigen. Chance zu geben, mit ihren neuen Kraftwerken ans Netz zu gehen und am Netz zu bleiben. Es ist also beileibe Ich denke, all das sind nicht nur Nachweise, dass wir nicht so, als sei die Benachteiligung der kleinen oder gesetzgeberisch gehandelt haben, sondern dass dieses neuen Anbieter vorprogrammiert. Bei der neuen Kraft- Handeln tatsächlich auch entsprechende Wirkung zeitigt. werksanschlussverordnung geht es darum, Wettbewerb Übrigens gilt das Gleiche – auch das will ich jetzt nicht im Bereich der Erzeugung zu fördern und einen Preis- im Einzelnen zitieren – für die Gasnetze. druck zu bewirken. Dieser Verordnung kommt sozusa- Auch im Zusammenhang mit dem Thema Anreizre- gen eine Scharnierfunktion zwischen dem Bereich der gulierung haben wir uns mit diesem Qualitätsaspekt, Netze und der Kraftwerke zu. den Sie hier anbringen, beschäftigt. Insofern – ich will Im Übrigen ist es so, dass die Bundesnetzagentur auch das jetzt nicht vertiefen – ist klar, dass auch das An- durchaus Instrumente hat, um zum Beispiel Engpass- reizregulierungskonzept, das jetzt vorgelegt worden ist, management zu organisieren und in einem weiteren und die Verordnung, die jetzt erarbeitet wird, neben dem Schritt beispielsweise über die Festlegung von Investi- kosteneffizienten Netzbetrieb auch ein Augenmerk auf tionsbudgets und Ähnlichem dafür zu sorgen, dass auch Qualität und auf Investitionen legen. Im Übrigen würde ein Netzausbau stattfindet. All die Punkte, die eingefor- ich mir wünschen, dass die Zusammenhänge häufiger dert worden sind, sind bereits umgesetzt oder werden ge- beachtet würden; in der Energieversorgung geht es näm- rade durch entsprechende gesetzliche Initiativen vorbe- lich immer um mehrere Ziele. Wir wollen immer eine reitet. umweltverträgliche und zugleich preisgünstige Energie- versorgung. Dabei soll es auch eine langfristige Versor- Anstatt auf den Staat zu setzen, der Netze übernimmt gungssicherheit geben. Dass dies Zielkonflikte sind, – am Ende vielleicht noch die Kraftwerke selbst und den dürfte jedem klar sein. Dass die hohe Qualität auch et- Vertrieb –, anstatt also auf die Schaffung eines Staatsmo- was kostet, muss man den Menschen im Lande gelegent- nopols in Deutschland zu setzen, sollten wir, wie es Herr lich sagen. Man darf ihnen nicht suggerieren, als hätten Dr. Pfeiffer gerade gefordert hat, eher auf den Wettbe- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5589

Rolf Hempelmann (A) werb setzen. Weil es in den Medien eine sehr missver- schaffung. Der Anschluss neuer Kraftwerke – zum Bei- (C) ständliche Berichterstattung in den letzten zwei Tagen spiel auf der Basis von Biogas und anderen erneuerbaren gegeben hat, sage ich sehr deutlich: Ich persönlich, aber Energien – muss erleichtert werden. Ambitionierte Ver- auch die SPD begrüßt die Initiative zu einer Novelle des ordnungen könnten hier schon einiges erreichen. Sicher- GWB, um zu einer Stärkung der Missbrauchsaufsicht lich wäre auch eine stärkere Entflechtung hilfreich. beim Kartellamt zu kommen. Aber bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen von den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Linken, schütten Sie nicht das Kind mit dem Bade aus. der CDU/CSU) Eine Verstaatlichung aller Netze geht einfach zu weit. Man wird aber darüber streiten dürfen, wie das im Fragen Sie doch einmal die Stadtwerke auf der Verteil- Einzelnen ausgestaltet wird. Es ist opportun – es gehört netzebene, wo es auf der einen Seite kaum Missbrauch sich auch so –, dass man sich darüber unterhält, ob denn gibt, aber auf der anderen Seite gravierende wirtschaftli- die Wirkungen, die wir uns wünschen, eintreten werden che Einbrüche geben würde, wenn die Stadtwerkenetze oder ob möglicherweise ungewünschte Nebenwirkungen verstaatlicht werden sollten. Um ihre Entflechtung küm- überwiegen. Das wird Inhalt der Debatte zwischen Par- mert sich auf der Basis des Energiewirtschaftsgesetzes lament und Regierung und innerhalb der Koalitionsfrak- doch bereits die Netzagentur. tionen sein. Ich denke aber, das ist nichts Anrüchiges; Bei den Transportnetzen ist es in der Tat deutlich denn es gehört zum parlamentarischen Alltag. spannender. Hier würde eine eigentumsrechtliche Ent- Einen weiteren Punkt, den Herr Dr. Pfeiffer angespro- flechtung tatsächlich einiges bewirken. Sie würde posi- chen hat, unterschreibe ich ebenfalls: Wir wollen keine tive Wettbewerbseffekte haben und sie würde den gro- Verlängerung der Preisaufsicht. Ich spitze zu: Ich will ßen Energieversorgungsunternehmen ein Instrument der auch keine Verlagerung der Preisaufsicht auf das Bun- Blockadehaltung gegen die erneuerbaren Energien aus deskartellamt. Das ist nicht zielführend. der Hand schlagen. Das hat Kollege Dr. Pfeiffer gerade auch als Problem betont. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zielführend ist alles, was wir gerade im Einzelnen an In- Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE strumenten und zur Beförderung von Wettbewerb darge- GRÜNEN]: Zu Recht!) stellt haben. Meine Damen und Herren, es ist spät, deswegen Spannender als den Antrag von den Linken finde ich danke ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. die Vorschläge von Bundesminister Glos und Herrn Rhiel. Warum nicht an der Erzeugerseite selbst anpa- (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) cken? So falsch können die Ansätze doch nicht sein, der (D) Aufschrei der großen Energieversorgungsunternehmen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ist ja kaum zu überhören. Aber der Ruf der Linken nach Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege der Allmacht des Staates ist wohl Teil eines inneren Auf- Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen. trages, den Sie immer spüren. Zu diesem Urteil muss man kommen, wenn man Ihren zweiten Antrag liest. Es kann doch nicht Aufgabe des Staates sein, alle Netze zu Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): überprüfen. Wer soll denn das bezahlen? Der Steuerzah- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ler oder der Energiekunde? – Egal, in jedem Fall der Herren! In der Analyse der Probleme des Energie- Bürger. Haben Sie denn schon einmal die sozialen Aus- marktes sehe ich in diesem Haus viel Übereinstim- wirkungen solcher Strompreissteigerungen ausgerech- mung. Der Wettbewerb des Strom- und Gasmarktes hat net? eine deutliche Schieflage. Die Endkundenpreise für Strom und Gas steigen seit Monaten kontinuierlich an. Nein, es gibt hier wesentlich effizientere Methoden, Fast im Gleichschritt entwickeln sich die Gewinne der zum Beispiel eine Festschreibung von Mindeststandards großen Energiekonzerne – ich sage hier ausdrücklich für die Netzsicherheit und bei Verletzung Strafzahlun- nicht, die der Energiebranche. Betrachtet man die Ener- gen oder gar den Verlust der Konzession. Dazu gehört giewirtschaft genauer, läuft es auf der Gewinnerseite dann natürlich auch eine Anrechung der Netzinvestitio- derzeit nur auf eine handvoll marktbeherrschender Un- nen bei den Energiepreisen. ternehmen hinaus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Natürlich kann die Politik diese Entwicklung nicht gutheißen und tatenlos zusehen. Mit dem Energiewirt- Meine Damen und Herren, Teile der SPD halten wei- schaftsgesetz hat die rot-grüne Koalition schon eine ter an der Strategie fest, wenige Unternehmen zu euro- wichtige Rahmenbedingung verändert. Die Bundesnetz- päischen Champions hochzupäppeln. Den Preis zahlen agentur ist mittlerweile ein nicht mehr wegzudenkender die deutschen Strom- und Gaskunden sowie der Wettbe- Akteur. Die Kostenkontrolle bei den Netzentgelten ist werb. Damit knickt die SPD zugleich als erste vor der auf einem guten Weg. Wenn die Bundesregierung ihre Drohung der Energiekonzerne Eon, RWE, Vattenfall und im Gesetz zugewiesene Aufgabe der Anreizregulierung EnBW ein, zukünftig keine Kraftwerke mehr zu bauen, gewissenhaft angeht, dann haben wir einiges erreicht. wenn ihre exorbitanten Gewinne nicht langfristig gesi- Was wir nun brauchen, sind Initiativen für mehr Wettbe- chert werden. Es scheint die SPD nicht zu interessieren, werb in der Stromerzeugung und auch bei der Gasbe- dass es sich dabei zugleich um die Atomstromkonzerne 5590 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Hans-Josef Fell (A) handelt, die den Atomkonsens faktisch aufgekündigt ha- Dr. Frank Schmidt (C) ben. Otto Fricke (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Anna Lührmann GRÜNEN]: Unerhört!) Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Politik ist gefordert, die Rahmenbedingungen so der FDP und der Fraktion Die Linke vor. Nach einer in- zu verändern, dass wirtschaftliche Energiepreise ge- terfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine währleistet werden. Das kann selbst die SPD nicht be- halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Wider- streiten. Die Energiepreise aber steigen seit Monaten spruch. Dann ist das so beschlossen. kontinuierlich an, fast im Gleichschritt mit der Gewinn- entwicklung der vier großen Energieversorger. Die von Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Rot-Grün eingeführte staatliche Aufsicht über die Netze gin Elisabeth Winkelmeier-Becker, CDU/CSU-Fraktion. konnte diese Entwicklung bisher nur bremsen, aber nicht (Beifall bei der CDU/CSU) völlig stoppen. Wir brauchen dringend effektive Hand- lungen der Regierung, um diese Preistreiberei zu stop- pen. Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollegen! Es geht heute in zweiter Lesung um die An- Zum Schluss: Unverständlich bleibt uns auch, warum spruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, die Emissionshandelszertifikate nach 2008 weiter an Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss. die Energiekonzerne verschenkt werden, die sie dem Die bisherigen Regelungen besonderer Anspruchs- Endkunden teuer in Rechnung stellen. Wir brauchen voraussetzungen für ausländische Staatsangehörige hat jetzt einen Wettbewerb um die besten Ideen und Kon- das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 6. Juli zepte, damit uns die Energiepreise für Kleinkunden und 2004 für verfassungswidrig erklärt, sodass wir uns nun Energieverbraucher nicht weiter davongaloppieren. erneut darüber Gedanken machen müssen, wie wir auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ausländische Kinder und ihre Eltern an diesen staatli- chen Leistungen beteiligen wollen. Wir haben eine Re- gelung vorgelegt – das ist eine gute Nachricht für auslän- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dische Familien –, die den Kreis der Berechtigten Ich schließe die Aussprache. maßvoll ausweitet. Deshalb ist mit überschaubaren Leis- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf tungssteigerungen beim Kindergeld, beim Bundeserzie- (B) den Drucksachen 16/2678 und 16/1447 an die in der Ta- hungsgeld und beim Unterhaltsvorschuss sowie mit (D) gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Mindereinnahmen beim Einkommensteuergesetz zu Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann rechnen. sind die Überweisungen so beschlossen. Wir können es uns aber nicht leisten, dass alle Aus- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: länder, die derzeit in Deutschland leben, an diesen Fami- lienleistungen gleichermaßen beteiligt werden. Wir hal- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- ten es für richtig – an diesem Leitmotiv orientiert sich gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes der Gesetzentwurf – danach zu unterscheiden, ob von ei- zur Anspruchsberechtigung von Ausländern nem dauerhaften Aufenthalt der ausländischen Familie wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unter- in Deutschland auszugehen ist oder nicht. haltsvorschuss (Beifall bei der CDU/CSU) – Drucksache 16/1368 – In Anbetracht der Haushaltslage halten wir es für be- – Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- rechtigt, bei dieser Leistungsausweitung zurückhaltend schusses für Familie, Senioren, Frauen und Ju- vorzugehen, das heißt, nicht unbedingt über das hinaus- gend (13. Ausschuss) zugehen, was von Verfassungs wegen gefordert wird. – Drucksache 16/2940 – Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Exis- Berichterstattung: tenzsicherung natürlich nötigenfalls durch Leistungen Abgeordnete Ingrid Fischbach der Sozialhilfe für jeden Ausländer und für jedes auslän- Helga Lopez dische Kind, unabhängig vom aufenthaltsrechtlichen Status, von Anfang an garantiert ist. Heute geht es wirk- Diana Golze lich nur darum, zusätzliche Bonusleistungen für Fami- Ekin Deligöz lien in sinnvoller Weise zu konzentrieren. Für den unter finanziellen Gesichtspunkten wohl interessantesten Re- – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- gelungsbereich des Kindergeldes – das ist schließlich schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung das Kernstück des familienpolitischen Leistungsaus- – Drucksache 16/2941 – gleichs des Staates – heißt das, dass die heutige Diskus- sion für all diejenigen bedeutungslos ist, die im Sozial- Berichterstattung: hilfebezug stehen; denn für diese werden die Leistungen Abgeordnete Dr. Ole Schröder für die Kinder nach Sozialhilfesätzen – der Satz beträgt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5591

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) immerhin 207 Euro pro Kind und Monat – unter Anrech- während die Kinder, die in ihre Heimatländer zurück- (C) nung des Kindergeldes gezahlt. kehren, sich nicht daran beteiligen. Ich möchte zunächst auf den Grundsatz unserer Ge- Das Bundesverfassungsgericht hat in dem zitierten setzesänderung zurückkommen. Wir wollen Menschen, Beschluss den Grundsatz unangefochten gelassen, dass die sich im Einklang mit den Voraussetzungen des Auf- sich die Gewährung von Kindergeld danach richten enthaltsgesetzes dazu entschließen, ihren Lebensmittel- kann, ob eine Familie dauerhaft hier bleibt oder nicht. punkt und den ihrer Kinder dauerhaft nach Deutschland Wir stehen also nun vor der Aufgabe, geeignete Krite- zu verlegen, fördern und ihre Integration unterstützen. rien zu finden und Anspruchsvoraussetzungen zu for- Damit man sich die Dimension dieser Aufgabe klar ma- mulieren, die die Prognose zulassen, dass es sich um ei- chen kann, nenne ich ein paar Zahlen: In Deutschland le- nen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland handelt. Das ben etwa 15 Millionen Menschen mit Migrationshin- ist bei einer Niederlassungserlaubnis natürlich völlig un- tergrund, die als ausländische Staatsangehörige oder als problematisch. Auch bei anerkannten Asylberechtigten Spätaussiedler zu uns gekommen sind. Das ist fast ein und Flüchtlingen ist die Situation klar. Fünftel der Bevölkerung in unserem Land. Aber wenn nur eine Aufenthaltserlaubnis vorliegt, Hinter dem Begriff Migration verbergen sich sehr un- müssen weitere Kriterien hinzukommen. Der Gesetzent- terschiedliche Lebensschicksale und Lebenswirklichkei- wurf knüpft für den Regelfall daran an, ob diese Erlaub- ten. Manche kommen freiwillig und manche eben nicht. nis zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt. Entscheidend für eine Politik, die die Integration und die Dann ist von einem dauerhaften Aufenthalt auszugehen. Förderung ausländischer Familien vorantreibt, ist im- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE mer, ob diese Menschen ihr Leben dauerhaft in unserer GRÜNEN]: Das hat das Verfassungsgericht so Gesellschaft führen wollen und können. Dabei bedeutet nicht gesagt!) erfolgreiche Integration Identifikation, Teilhabe und Verantwortung. Dafür sind Anstrengungen auf beiden Ausnahmen sind dann vorgesehen, wenn die Aufent- Seiten erforderlich: auf der einen Seite des Staates und haltserlaubnis nur erteilt wurde, um einen von vornher- der bürgerlichen Gesellschaft und auf der anderen Seite ein nicht auf Dauer angelegten Aufenthalt abzusichern. der Migranten und Migrantinnen selbst, die bereit sein Es wäre nicht richtig, wenn wir zum Beispiel auch den- müssen, sich auf ein Leben in unserer Gesellschaft ein- jenigen Kindergeld gewähren, die sich nur als Studenten zulassen, das Grundgesetz und die gesamte Rechtsord- oder für die Dauer einer Ausbildung vorübergehend in nung vorbehaltlos zu akzeptieren und insbesondere das Deutschland aufhalten. Erlernen der deutschen Sprache als ein sichtbares – oder (B) besser gesagt: hörbares – Zeichen der Zugehörigkeit zu (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip (D) Deutschland zu setzen. Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat hier keiner gefordert! Das ist nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Thema!) neten der SPD – Josef Philip Winkler [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Rot-Grün be- Hier und heute streiten wir noch darüber, ob das auch schlossen!) für eine Aufenthaltserlaubnis gilt, die in Härtefällen nach § 23 a Aufenthaltsgesetz oder nach § 25 Abs. 3 bis Aufseiten der deutschen Gesellschaft und des Staates be- 5 Aufenthaltsgesetz, also aus humanitären oder politi- deutet das gleichzeitig, diejenigen, die nun dauerhaft schen Gründen, erteilt wurde. Die Koalitionsfraktionen hier leben, zu unterstützen nach dem Motto: Wer fordert, gehen davon aus, dass in diesen Fällen nicht ohne weite- muss auch fördern. res mit einem dauerhaften Verbleib zu rechnen ist. In diesen Fällen, in denen es zum Beispiel um vorüberge- Es gibt noch einen anderen Zusammenhang, der es hende private Gründe gehen kann, aber natürlich auch meiner Auffassung nach gebietet, die Leistungen auf um politische Verhältnisse im Herkunftsland, die einer diejenigen zu beschränken, die dauerhaft hier bleiben. Rückkehr entgegenstehen, ist der Aufenthalt in Deutsch- Wir müssen uns angesichts unserer Haushalts- und land eindeutig nicht auf Dauer angelegt, unbeschadet der Schuldenlage darüber klar sein, dass jede zusätzliche Tatsache, dass sich der Aufenthalt länger hinziehen kann Sozialleistung nur auf Kredit, also als Wechsel auf die als ursprünglich geplant. Zukunft, möglich ist. Im Prinzip muss man diese Situationen so beschrei- Investitionen in Kinder und Jugendliche sind sicher ben, dass der betroffene Ausländer jederzeit bereit ist, in eine gute Entscheidung, aber wir müssen sehen: Für seine Heimat zurückzukehren, sobald sich dort die Ver- Deutschland zahlt sich diese Investition nur aus, wenn hältnisse geändert haben und Reisehindernisse entfallen die Kinder hier heranwachsen und sich als Leistungsträ- sind. In so einer Situation generell von dauerhaften Hin- ger in unsere Gesellschaft, aber auch in unseren Arbeits- dernissen auszugehen oder jede politische Veränderung markt integrieren. Es werden dann diese Kinder sein, die zum Positiven im Heimatland der betroffenen Ausländer gemeinsam mit den deutschstämmigen Kindern das aus Erfahrung für unwahrscheinlich zu halten, wäre eine Bruttosozialprodukt erwirtschaften, von dem diese pessimistische Betrachtungsweise, der sich die Unions- Schulden zurückgezahlt werden, fraktion nicht anschließen möchte. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) 5592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Elisabeth Winkelmeier-Becker (A) Deshalb halten wir es im Gegensatz zu dem, was in Ina Lenke (FDP): (C) den Anträgen von FDP und Linken steht, für angebracht, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem bei rechtmäßigem Aufenthalt – gestattet oder geduldet – vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen als zusätzliche Voraussetzung eine dreijährige Warte- zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts frist oder die Berechtigung zur Erwerbstätigkeit zu ver- umgesetzt werden. Ziel ist, nur solchen Ausländerinnen langen, bevor – wie gesagt, zusätzlich zur jederzeit und Ausländern Kindergeld, Erziehungsgeld und Unter- garantierten Existenzsicherung – weitere Familienleis- haltsvorschuss zu gewähren, von denen zu erwarten ist, tungen gezahlt werden. dass sie auf Dauer in Deutschland bleiben werden. ( [CDU/CSU]: Richtig!) Die FDP hätte es sehr begrüßt, wenn dieses Ziel kon- sequent verwirklicht worden wäre. Stattdessen hat die Wenn der Aufenthalt aus diesen Gründen bereits drei große Koalition in letzter Minute – sogar ohne ein einzi- Jahre andauert, ist das sicherlich ein Indiz dafür, dass ges Wort der Begründung – einen Änderungsantrag vor- sich die Situation tatsächlich verfestigt hat. Dann kann gelegt, der zum Inhalt hat, dass weitere Gruppen hier man den Sachverhalt anders beurteilen. lebender Ausländerinnen und Ausländer von einer An- (Ina Lenke [FDP]: Und was passiert dann?) spruchsberechtigung ausgeschlossen werden. Daran wird wieder einmal deutlich, wie schwierig es für Union – Dann wird die Leistungsberechtigung auf Grundlage und SPD ist, sich beim Thema Migration und Integration des Gesetzes angenommen. auf eine einheitliche Linie zu einigen. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Josef DIE GRÜNEN]: Das ist doch eine völlig will- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kürliche Frist! Warum sind es drei Jahre? Wa- NEN]) rum nicht vier? Warum nicht fünf?) Die FDP kritisiert, dass durch die vorliegende Rege- Ich möchte kurz zusammenfassen: Der Gesetzentwurf lung nun auch diejenigen vom Bezug von Familienleis- der Bundesregierung erfüllt in seiner vorliegenden Fas- tungen ausgeschlossen werden sollen, die sich voraus- sung die verfassungsmäßigen Vorgaben. Das haben die sichtlich dauerhaft in Deutschland aufhalten. Dabei beteiligten Ministerien eingehend geprüft. In ihm wer- handelt es sich insbesondere um Personen, die sich auf- den richtige politische Entscheidungen getroffen. Insbe- grund einer Entscheidung der Härtefallkommission in sondere wird eine wichtige Unterscheidung getroffen: Deutschland befinden. Auch sie sollen jetzt vom Bezug zwischen den Personen, die dauerhaft hier bleiben, und von Kindergeld und Erziehungsgeld ausgeschlossen denjenigen, die nur für eine überschaubare Zeit bei uns werden. (B) leben, die zum Teil Zuflucht bei uns suchen, die wir ih- (D) nen auch gerne gewähren, die dann aber in ihr Her- Den Menschen, deren Aufenthalt aufgrund einer Ein- kunftsland zurückkehren oder in ein anderes Land gehen zelfallprüfung sowohl eine Kommission als auch die und sich in die dortige Wirtschaft und Gesellschaft inte- oberste Landesbehörde befürwortet haben – dasselbe gilt grieren. auch für diejenigen, die sich aus humanitären Gründen in Deutschland aufhalten, wenn ihre Rückkehr unmög- lich ist –, wird durch die Blume gesagt: Wir wollen euch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht; ihr bekommt kein Kindergeld, kein Erziehungs- Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. geld, kein Elterngeld und keinen Unterhaltsvorschuss. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja, ja! Und Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): morgen sagt Herr Solms wieder, wir sollen Ich komme zum Ende. sparen!) Wir müssen die zusätzlichen finanziellen Mittel, die Das ist keine ehrliche Politik. Aber das ist für diese Re- wir zur Verfügung stellen, auf die Familien konzentrie- gierung typisch. ren, die sich für ein Leben in unserer Gesellschaft ent- schieden haben. Diese Familien zu unterstützen, begrei- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wir sollen fen wir als Investition in unsere gemeinsame Zukunft. doch sparen! Das sagt Herr Solms doch im- Das tun wir gern. mer!) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Herr Grindel, Sie haben kein stimmiges und kein stringentes Konzept zur Zuwanderung und Integration. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN] – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ist doch gar nicht wahr!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Ina Lenke, FDP- Fraktion. Einerseits wird pressewirksam ein Integrationsgipfel einberufen, andererseits werden im Bundesinnenminis- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Josef terium Vorschläge für Maßnahmen zur Einschränkung Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Integration erarbeitet. Darüber hinaus geht es der NEN]) großen Koalition immer wieder um die Notwendigkeit, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5593

Ina Lenke (A) Integration und Zuwanderung zu fördern, um bestimm- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) ten Problemen wie der demografischen Entwicklung zu Nächste Rednerin ist die Kollegin Helga Lopez, SPD- begegnen. Fraktion. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das gilt aber (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE doch nicht für Geduldete, Frau Lenke! – Josef GRÜNEN]: Das wird schwer werden!) Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN], zu Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU] Helga Lopez (SPD): gewandt: Warum denn eigentlich nicht?) Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Das Wir als FDP meinen, dass hiervon wenig zu spüren ist. Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2004 mit zwei Wir fordern daher die Bundesregierung mit unserem Entscheidungen – einer zum Erziehungsgeld und einer Entschließungsantrag auf, schnellstmöglich eine Novel- zum Kindergeld – die bereits dargestellte Verfassungs- lierung des Zuwanderungsgesetzes vorzulegen. Die widrigkeit des ursprünglichen Gesetzes vorgestellt. Uns Bundesregierung muss nach ihren vielen Ankündigun- wurde aufgegeben, den verfassungswidrigen Zustand zu gen endlich handeln und eine Regelung für ein Bleibe- beseitigen. recht langjährig geduldeter Flüchtlinge vorlegen. Die Bundesregierung hat am 3. Mai 2006 einen Ge- (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem setzentwurf vorgelegt, mit dem die in den beiden Ent- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) scheidungen genannten Grundrechtsverletzungen besei- tigt werden sollen. Denn wir wissen doch alle: Viele der Flüchtlinge sind sozial und wirtschaftlich hervorragend integriert. Viele (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ihrer Kinder sind in Deutschland geboren. Es scheint mir NEN]: Gelingt aber nicht!) keine besonders kluge Politik zu sein, Menschen, die er- Ziel dieses Gesetzes – das haben wir bereits gehört; ich folgreich unser Bildungssystem durchlaufen, wieder kann auf eine Wiederholung verzichten – ist im Wesent- fortzuschicken. Ich habe da einige Fälle vor Augen, in lichen, dass jetzt folgender Personenkreis als anspruchs- denen ich die Betroffenen persönlich kenne; viele von berechtigt berücksichtigt wird: Ausländer mit Niederlas- Ihnen kennen sicher auch solche Fälle. sungserlaubnis und Ausländer, die zwar noch nicht über Wir Liberale wollen, dass sich Menschen, die dauer- einen verfestigten Aufenthaltsstatus verfügen, bei denen haft zu uns nach Deutschland kommen, ihren Lebensun- aber ein weiterer Anhaltspunkt hinzukommt, der mit ei- terhalt – das finde ich sehr wichtig – selbst verdienen nem voraussichtlich dauerhaften Aufenthalt regelmäßig können. Das passiert nicht. Wir reden über die Belastung einhergeht: dass sie erwerbstätig sind. Ausgeschlossen (D) (B) der Sozialversicherungssysteme – wie es meine Vorred- von Familienleistungen bleiben ausländische Staatsan- nerin getan hat –, über Hartz IV und darüber, dass die gehörige, deren Aufenthalt befristet ist oder bei denen Haushaltsmittel knapp sind. Doch wir geben Menschen, ein dauerhafter Aufenthalt nicht absehbar ist. Hierbei die sich hier aufhalten, nicht die Möglichkeit, ihren Le- geht es zum Beispiel um Studierende oder Saisonarbeits- bensunterhalt selbst zu bestreiten, sich Arbeit zu suchen. kräfte. Das muss geändert werden. (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Nicht (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ nur!) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der – Nicht nur, aber eindeutig. LINKEN) Leider – auch das haben wir bereits gehört – hat es Wir erneuern unsere Forderung aus der letzten Legis- eine Ausweitung des Kreises der Nichtberechtigten ge- laturperiode, dass Ausländerinnen und Ausländer, die geben, zum Beispiel Ausländer, deren Abschiebung aus- rechtmäßig in Deutschland leben, die Genehmigung er- gesetzt ist. Sie können die Anspruchsberechtigung nun halten, für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien auch erst nach einer Wartefrist erreichen. Dafür wurde selbst zu sorgen. Bislang ist der Zugang zum Arbeits- diese Frist aber von den vorgesehenen fünf Jahren auf markt für diese Menschen zu restriktiv geregelt. Derzeit nunmehr drei Jahre verkürzt. Zumindest das ist gut so. wird nur Sozialneid auf diese Empfänger staatlicher Transferleistung gefördert. Das wollen wir nicht. Wie Sie wissen, hat es vonseiten des Bundesrates Be- strebungen gegeben, den Ausschluss von Leistungsbe- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ rechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz aus- DIE GRÜNEN) zuweiten. Dies hat die Bundesregierung aus gutem Wir fordern Sie auf: Überarbeiten Sie Ihren Gesetz- Grund abgelehnt, weil dieser Personenkreis eine dauer- entwurf und nehmen Sie bitte auch unsere Vorschläge hafte Bleibeperspektive hat. Diese Zurückweisung be- auf! grüßen wir ausdrücklich. Die FDP-Bundestagsfraktion wird Ihren Gesetzent- Ebenso begrüßen wir die Aufnahme eines neuen Pa- wurf, über den heute Abend abgestimmt wird, in der vor- ragrafen in das Einkommensteuergesetz, nämlich des liegenden Form ablehnen. § 76 a. Durch ihn wird erstmals sichergestellt, dass das überwiesene Kindergeld für die Dauer von sieben Tagen (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ seit der Gutschrift unpfändbar bleibt. Zuvor war die DIE GRÜNEN) Pfändbarkeit sofort gegeben. 5594 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Helga Lopez (A) Bei dem Ausschluss von der Anspruchsberechtigung Diana Golze (DIE LINKE): (C) auf Zahlung von Kindergeld stellen sich im Gegensatz Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen zu den Regelungen zum Erziehungsgeld und Unterhalts- und Kollegen! Erst vor drei Wochen hat die Bundes- vorschuss aber noch weitere Fragen. Ich habe die zum regierung mit einem Gesetz deutlich gemacht, dass sie Kindergeld ergangene Entscheidung des Bundesverfas- auch beim Thema Familienförderung mit zweierlei Maß sungsgerichts so verstanden, dass über die konkretere misst: Das „1 : 0 für die Familien“ – so pries Ministerin Bestimmung des nicht berechtigten ausländischen Perso- von der Leyen das Elterngeld an – ist für circa nenkreises hinaus Sorge dafür getragen werden muss, 340 000 Familien in der Bundesrepublik wohl eher so et- dass es innerhalb der Gruppe der Nichtberechtigten was wie ein Eigentor. Es sind die Familien, die nicht im nicht zu Ungleichbehandlungen kommt. Dies scheint Fokus der Bundesregierung stehen: die Familien, die nur mir nicht gewährleistet zu sein. ein geringes oder gar kein Erwerbseinkommen haben. Des Weiteren hat das Bundesverfassungsgericht in Mit dem heutigen Gesetzentwurf wird die Gruppe dieser Entscheidung ausgeführt, dass alle Menschen, die dieser Menschen noch etwas größer. Wieder geht es um legal in Deutschland leben, in gleicher Weise durch die Kinder und darum, wie sich ihr Stellenwert in unserem persönlichen und finanziellen Aufwendungen bei der Land bemisst. Die Familienministerin spricht oft und Kindererziehung belastet sind. Das Gericht führte weiter gern von der Unterstützung, die sie Kindern gewähren aus – ich zitiere jetzt wörtlich –: möchte, die auf der Schattenseite stehen. Mit der heuti- Für eine solche Durchbrechung eines in der Erfül- gen Gesetzesänderung hätte sie dazu eine Chance ge- lung seines sozialstaatlichen Schutzauftrages aus habt. Art. 6 Abs. 1 GG vom Gesetzgeber geschaffenen Eigentlich ist die Ungleichbehandlung von Migran- Systems bedürfte es besonders gewichtiger Gründe. tinnen und Migranten bei den kindbezogenen Leistungen Damals konnte das Gericht – so die weiteren Ausführun- schon für sich genommen ein Skandal. Dies hat das Bun- gen – keine besonders gewichtigen Gründe erkennen. desverfassungsgericht bestätigt. Dass seit dem Urteil vom 6. Juli 2004 über zwei Jahre ins Land gehen muss- Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes hat ten, bis heute eine Bundesregierung mit einer Gesetzes- in den Beratungen im Ausschuss bereits eine Rolle ge- änderung darauf reagiert, ist der nächste Skandal. Der spielt. Ich habe aufgrund der Zweifel, die mir nach der richtig große Skandal beginnt aber erst jetzt, da das Ge- Lektüre des Urteils zum Kindergeld gekommen sind, setz vorliegt, das dank eines in letzter Sekunde einge- noch einmal nachgehakt. Ich danke Herrn Staatssekretär brachten Änderungsantrags der großen Koalition nichts, Dr. Kues für die prompte Antwort. aber auch gar nichts an der Verfassungswidrigkeit än- dern wird. (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (D) Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef DIE GRÜNEN]: Ist doch selbstverständlich! Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Er ist meistens noch zu langsam!) NEN]) Aus der Antwort geht hervor, dass meine Bedenken In den letzten Tagen wurde aus einem sehr tragischen nicht geteilt werden, folglich unbegründet sind. Wir, die Grund wieder vollmundig davon gesprochen, dass Kin- SPD-Fraktion, verlassen uns auf diese Auskunft. derrechte in das Grundgesetz aufgenommen werden soll- ten. Dies wäre eine Maßnahme, bei der Sie sicher sofort (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr gut!) Zustimmung von der Linken fänden, aber nur, wenn die – Ja, ich bin keine Verfassungsrechtlerin und noch nicht Rechte aller Kinder dabei berücksichtigt werden und einmal Juristin. Ich muss mich darauf verlassen. man sich nicht nur die aussucht, die gerade ins aktuelle politische Kalkül passen. Mit der Abstimmung über den hier vorliegenden Ge- setzentwurf erfüllen wir die durch das Bundesverfas- Im Familienausschuss haben SPD und CDU/CSU sungsgericht angemahnten Erfordernisse und erledigen gestern beschlossen, dass ein Antrag der Grünen von der den inzwischen drängenden Arbeitsauftrag. Das Thema Tagesordnung abgesetzt wird, der auf die Rücknahme selbst, nämlich die erfolgreiche Eingliederung von Mi- der Vorbehalte gegen die UN-Kinderrechtskonvention grantinnen und Migranten, wird uns sicherlich weiterhin zielt. Die Rücknahme der Vorbehalte würde nämlich be- beschäftigen. Ich bin mir sehr sicher, dass wir uns in die- deuten, dass Sie alle Kinder und Jugendlichen gleich be- sem Kontext sicherlich bald auch wieder über die finan- handeln müssten. Wie Sie dazu stehen, machen Sie mit zielle Ausstattung hier lebender ausländischer Familien Ihrem Gesetzentwurf deutlich. Es bleibt bei der repressi- unterhalten müssen, und zwar unabhängig vom Aufent- ven Politik gegenüber Migrantinnen und Migranten, die haltsstatus. das Ziel hat, „Zuwanderungsanreize abzubauen“. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Unser Antrag macht unsere Vorstellungen von einem Gesetz deutlich, welches der Situation der betroffenen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Menschen entspräche und zudem die Verfassungskon- Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze, Frak- formität gewährleisten könnte: die voraussichtliche Auf- tion Die Linke. enthaltsperspektive als maßgebliches Kriterium, die Rücknahme des Ausschlusses von Personen mit einer (Beifall bei der LINKEN) humanitären oder menschenrechtlichen Aufenthaltser- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5595

Diana Golze (A) laubnis und eine genauere Bestimmung der Anspruchs- ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregierung ein (C) berechtigung, die auch Geduldete und Asylbewerber Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2004 durch eine Öffnungsklausel einschließen würde. umgesetzt werden, in dem die Bundesregierung aufge- fordert wurde, bis zum 1. Januar dieses Jahres den gegen (Beifall bei der LINKEN) den Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 des Grundgesetzes Ich komme zu einer zweiten Ungleichbehandlung aus verstoßenden und damit verfassungswidrigen Aus- politischem Kalkül. Es ist eine parlamentarische Unge- schluss erwerbstätiger Ausländer mit rechtmäßigem hörigkeit, in das Gesetz zur Anspruchsberechtigung von Aufenthalt vom Kinder- und Erziehungsgeld aufzuhe- Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Un- ben. terhaltsvorschuss eine allgemein gültige Änderung des Das Bundesverfassungsgericht hat mit deutlichen Kinderzuschlags nach Bundeskindergeldgesetz einzu- Worten festgestellt, dass die bestehenden Kindergeldre- bauen. Im Familienausschuss stellte ein Mitglied einer gelungen ausländische Familien mit humanitärem Blei- die Regierung tragenden Fraktion sogar die Frage, ob berecht in nicht zu rechtfertigender Weise benachteili- diese Regelung dann nur für Ausländer gelten würde. gen. Es beanstandete insbesondere, dass Ausländern mit Selbst wenn es so wäre, meine Damen und Herren von einer Aufenthaltsbefugnis nach dem alten Ausländerge- SPD, CDU und CSU, wäre es dann weniger schlimm? setz grundsätzlich keine Familienleistungen gewährt (Beifall bei der LINKEN) wurden. Dazu haben die Richter festgestellt – das ist auch logisch –, dass dieser Aufenthaltstitel nicht zwin- Sie verstoßen damit auch gegen den im Koalitionsver- gend nur vorübergehender Art sei. trag beschlossenen und durchaus lobenswerten Vorsatz, den Kinderzuschlag zu einem Instrument zu machen, das Das Urteil wird aber – das muss man an dieser Stelle wirklich zur Bekämpfung von Kinderarmut beiträgt. festhalten – von der Koalition nicht nur gnadenlos miss- achtet, sondern in geradezu obszöner Art und Weise im Das komplizierte Regelwerk des Gesetzes führt bis- Sinn verdreht. Das ist skandalös. lang dazu, dass neun von zehn Anträgen abgelehnt wer- den. Wir können deshalb erst recht nicht nachvollziehen, (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Oh!) warum die Antragsfrist von sechs Monaten auf nur einen – Wenn das Ihres Erachtens falsch ist, warum gehen Sie Monat verkürzt werden soll. Ich frage deshalb: Was dann in Ihrer Begründung zum Gesetzentwurf mit kei- nutzt ein Kindergeldzuschlag, der den Betroffenen den nem Wort darauf ein, dass Sie den Gesetzentwurf in letz- Bezug von ALG II ersparen soll, aber unter denselben ter Minute geändert haben? Also stimmt es doch wohl entwürdigenden Bedingungen bewilligt oder eher abge- und Sie verstoßen tatsächlich gegen die Entscheidung lehnt wird? des Bundesverfassungsgerichts. (B) (D) Die Bundeskanzlerin hat erst gestern gesagt, dass sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit der Gesundheitsreform Politik für die Versicherten und bei der LINKEN) machen möchte. Das ist längst überfällig. Genauso wich- tig wäre es aber, Familienpolitik für Familien und Kin- Von den Gesetzesänderungen werden nämlich genau derpolitik für Kinder zu machen. Mit dem vorliegenden diejenigen betroffen sein, auf die sich das Verfassungs- Gesetz hat sich die Bundesregierung wiederholt davon gerichtsurteil bezogen hat, nämlich Ausländer mit Auf- entfernt. enthaltserlaubnis nach § 23 a des Aufenthaltsgesetzes – das wurde schon erwähnt – aufgrund einer positiven Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Entscheidung der Härtefallkommission. In diesen Fäl- (Beifall bei der LINKEN) len kann man wohl davon ausgehen, dass nicht erst nach drei Jahren, sondern von vornherein ein dauerhafter Auf- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: enthalt angestrebt wird. Es ist völlig willkürlich und wi- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Josef dersinnig, dass der Aufenthalt als vorübergehend be- Winkler, Bündnis 90/Die Grünen. trachtet wird, wenn die Härtefallkommission nach langwierigen Entscheidungsprozessen die Aufenthaltser- laubnis nach § 23 a erteilt hat. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten bei der FDP und der LINKEN) Damen und Herren! Die Bevölkerung beschwert sich Des Weiteren sind Kriegsflüchtlinge nach § 24 betrof- sehr oft über die große Koalition. Es wird gesagt, es fen sowie Personen mit menschenrechtlichem Abschie- gehe in diesem Lande sehr langsam voran. Manchmal beschutz nach der Europäischen Menschenrechtskon- geht es aber sehr schnell voran, zum Beispiel wenn es vention nach § 25 Abs. 3, Personen mit humanitärem darum geht, ausländische Familien in Deutschland Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 4 und Personen, denen schlechter zu stellen. Denn wie wir schon gehört haben, die Rückkehr rechtlich oder tatsächlich dauerhaft un- sieht eine in letzter Minute von den beiden die Regie- möglich ist, nach Art. 25 Abs. 5 des Aufenthaltsgeset- rung tragenden Fraktionen eingebrachte Änderung an zes. Das ganze Gesetz macht insofern im Prinzip keinen dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vor, dass aus Sinn mehr. Das halten wir für skandalös. humanitären Gründen dauerhaft in Deutschland blei- beberechtigte Ausländer nur noch sehr eingeschränkt Wir meinen – da teilen wir die Auffassung der Links- Familienleistungen erhalten sollen. Dabei sollte mit dem fraktion und der FDP-Fraktion –, dass Flüchtlinge mit 5596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Josef Philip Winkler (A) humanitärem Abschiebeschutz genauso einen Anspruch Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- (C) auf Familienleistungen haben wie andere Ausländer mit tion Die Linke auf Drucksache 16/3030? – Gegenprobe! – Arbeitsgenehmigung. Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktio- bei der FDP und der LINKEN) nen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP abgelehnt. Wir halten den weitgehenden Ausschluss dieser Auslän- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: dergruppen von Familienleistungen für kinder-, fami- lien- und insbesondere flüchtlingsfeindlich. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Ich muss noch einen Aspekt ansprechen, weil die sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) große Koalition ständig über die Verbesserung der Leis- zu dem Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, tungen für Familien und über Integration diskutiert. Der Jürgen Trittin, Undine Kurth (Quedlinburg), wei- angeblichen politischen Maßgabe der Koalition, Fami- terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- lien zu stärken und ihre Integrationsleistungen anzuer- NISSES 90/DIE GRÜNEN kennen und sie darin zu unterstützen, widerspricht der Gesetzentwurf eklatant. Aus diesem Grund stimmen wir Schaden von der Reputation der Osteuropa- ihm keinesfalls zu. bank abwenden – Das Öl- und Gasprojekt Sachalin II als Lackmustest für die Einhaltung Wir stimmen allerdings dem Entschließungsantrag internationaler Umwelt- und Sozialstandards der FDP-Fraktion zu. Bei dem Entschließungsantrag der Linksfraktion enthalten wir uns der Stimme, weil uns ei- – Drucksachen 16/1668, 16/2925 – nige Details nicht passen. Berichterstattung: Den Gesetzentwurf der Bundesregierung halten wir Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein für schlecht. Deshalb werden wir ihn ablehnen. Gabriele Groneberg Dr. Karl Addicks (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hüseyin-Kenan Aydin und bei der FDP) Ute Koczy Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Ich schließe die Aussprache. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (B) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (D) Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur An- gin Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion. spruchsberechtigung von Ausländern wegen Kinder- geld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss, Druck- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sache 16/1368. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussemp- Gabriele Groneberg (SPD): fehlung auf Drucksache 16/2940, den Gesetzentwurf in Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über das Thema der die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Einhaltung von Umweltstandards auf internationaler men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- Ebene haben wir hier schon etliche Male diskutiert. Es gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in ist unbestritten ein wichtiges Thema. Umweltprobleme zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Ge- bleiben nicht nur auf das betreffende Land beschränkt, genstimmen der Opposition angenommen. sondern wirken weit über die von Menschen gesetzten Dritte Beratung Grenzen hinaus. Deshalb reden wir heute wieder über ein solches Thema. Das Projekt „Sachalin II“ stand und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem schon mehrfach auf der Tagesordnung. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Das Ölförderprojekt „Sachalin I“ im Ochotskischen damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition Meer ist bereits seit 1999 in Förderbetrieb. Zur besseren bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Ausbeutung der Öl- und Gasvorkommen sind durch die internationalen Investoren drei weitere Offshorebohr- Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- plattformen, Offshore- und Onshorepipelines, Verlade- ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag einrichtungen und Terminals geplant. In der vorgesehe- der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/3029? – Wer nen 800 Kilometer langen Pipeline sollen Öl und Gas in stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- Zukunft vom Norden in den Süden der Insel transportiert antrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei und in die Anivabucht, die fast das ganze Jahr eisfrei ist, Gegenstimmen der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grü- verschifft werden. Bislang ist eine Ölförderung nur in nen und FDP und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke den Sommermonaten möglich. Das wird sich durch die abgelehnt. Pipelines ändern. (Ina Lenke [FDP]: Das ist aber sehr Die für das Projekt mit einem Gesamtvolumen von bedauerlich!) 21,3 Milliarden US-Dollar notwendige Finanzierung soll Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5597

Gabriele Groneberg (A) über verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten sicher- Schädigungen der akut bedrohten Grauwalpopulation (C) gestellt werden, unter anderem möglicherweise durch ei- und damit selbstverständlich auch der anderen Arten in nen Kredit in Höhe von 400 Millionen US-Dollar von diesem Gebiet, so weit wie irgend möglich zu vermei- der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwick- den. Gleichzeitig haben wir hier die Bundesregierung lung, EBWE. Ich wiederhole, um die Dimensionen zu aufgefordert, sich gegen eine Bewilligung des Finanzie- verdeutlichen: Bei einem Gesamtvolumen von 21,3 Mil- rungsantrags durch die EBWE auszusprechen, falls diese liarden US-Dollar geht es um 400 Millionen US-Dollar Anforderungen nicht erfüllt werden. Seit August 2006 Kredite von der EBWE. Es ist bekannt, dass die Europäi- prüft die russische Umweltbehörde, ob die Lizenz für sche Bank für Wiederaufbau und Entwicklung am sorg- das Sachalinprojekt zurückgezogen werden soll. So fältigsten die umweltpolitischen Risiken des Projekts lange sieht die Europäische Bank für Wiederaufbau und prüft. Die Überprüfung wird auch von anderen Banken Entwicklung grundsätzlich von einer Förderung des Pro- sowie selbstverständlich von Nichtregierungsorganisa- jekts ab. tionen aufmerksam verfolgt. Unabhängig von der zu er- wartenden Entscheidung ist von den Investoren bereits Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor allen Dingen mit dem Bau eines ersten Sockels der neuen Ölplattform liebe Frau Koczy, wir fallen nicht hinter die Position der begonnen worden. russischen Regierung zurück, wie Sie in Ihrer Erklärung zu dem Antrag am 7. September im Plenum behauptet Das Problem dieses Projekts besteht in den gravieren- haben. Das ist wirklich barer Unsinn. den Auswirkungen auf die natürlichen Lebensräume und die Artenvielfalt. Durch die Erschließung der Öl- und (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Das stimmt! – Gasvorkommen ist eine Verunreinigung des Meeresbo- Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dens mit Kohlenwasserstoff möglich, ja zu erwarten. Der Das sehe ich anders!) durch die Kälte bedingte langsame Abbau führt insbe- Ihr Vorwurf, wir hätten die Dramatik der Lage nicht er- sondere für die letzten westpazifischen Grauwale zu ei- kannt, läuft ebenso ins Leere. Hätten wir die Dramatik ner Bedrohung ihres Lebensraumes. Immer wieder ha- nicht erkannt, hätten wir uns nicht darum gekümmert. ben Forscher und Nichtregierungsorganisationen auf die Bedrohung der Grauwale durch die Öl- und Gasförde- (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rung hingewiesen, und zwar durchaus erfolgreich. Die Wale werden aussterben!) 2004 hat der Wissenschaftsausschuss der Interna- Wäre dieses so, hätten wir gar keinen Antrag stellen tionalen Walfangkommission auf der 56. Tagung der müssen. Es ist wichtig, dass wir darauf Einfluss nehmen, IWC durch den maßgeblichen Einsatz der damaligen so weit wie möglich Schäden für die Umwelt zu vermei- Bundesregierung – Frau Koczy, damals waren Sie noch den. Wir sind in der Pflicht, dieses zu tun, wohl wahr. (B) nicht hier, aber es ist so gewesen – im Konsens eine Wir halten uns aber an die international gültigen Sozial- (D) Resolution verabschiedet, die alle Staaten auffordert, und Umweltstandards. Dafür haben wir die Bedingun- sich für den Schutz der westpazifischen Grauwale ein- gen der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Ent- zusetzen. Ebendiese Resolution wurde im letzten Jahr wicklung, und diese sind auch unsere Messlatte. Wenn auf der 57. Tagung noch einmal von allen Staaten, also diese Standards nicht eingehalten werden, wird dieses im Konsens, bekräftigt. Projekt nicht durch diese Bank finanziert. Das ist klar Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Ent- und deutlich unser Auftrag an die Bundesregierung ge- wicklung ist ihren eigenen Regeln zufolge verpflichtet, wesen. der Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, vor einer Deshalb hat unser Antrag nach wie vor seine Berech- Projektbeteiligung das Projekt zu kommentieren. Das ist tigung und ich sehe nicht ein, dass wir gerade einmal auch geschehen. Die Anhörung ist erst am sechs Wochen später wieder einen Antrag zu dem 21. April 2006 beendet worden. Nur dadurch – ich finde Thema verabschieden sollen. Sie hätten vor sechs Wo- es sehr wichtig, dass die EBWE überhaupt eingebunden chen die Möglichkeit gehabt, sich anzuschließen. Sie ha- wurde – haben wir die Möglichkeit bekommen, auf die ben die Möglichkeit nicht wahrgenommen. Im Übrigen: umweltpolitischen Rahmenbedingungen positiv Einfluss Alle paar Wochen die Messlatte ein kleines bisschen zu nehmen, und eine umfangreiche Beteiligung der Öf- höher zu legen, spricht nicht für die Sache, sondern fentlichkeit in Form einer Anhörung erreicht. Wir haben zeugt eher von dem Versuch, in bestimmten Gruppierun- uns also in der vorherigen Regierung unter Rot-Grün, gen mehr Aufmerksamkeit zu erregen. aber auch in dieser Koalition deutlich für die Einhaltung der Standards für eine umweltgerechte Durchführung Ich halte fest: Die Forderungen eins und drei, die Sie des Projekts ausgesprochen. in Ihrem Antrag stellen, entsprechen vollkommen der Haltung der Bundesregierung. Die Forderung vier hat Mit unserem Antrag „Die weltweit letzten 100 westpazi- sich mit Verabschiedung der neuen Energiepolitik der fischen Grauwale schützen“, den damals Frau Kollegin Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Rawert eingebracht hat und der am 7. September 2006, am 11. Juli 2006 erledigt. Das ist auch Ihnen bekannt. also gerade einmal vor sechs Wochen, hier im Plenum Der Forderung zwei können wir nicht entsprechen. Das verabschiedet worden ist, haben wir uns ebenso deutlich liegt für uns in der Logik. Fazit: Wir lehnen Ihren heuti- dafür ausgesprochen, dass sich die Bundesregierung, die gen Antrag ab. im Direktorium der EBWE vertreten ist, für die umwelt- gerechte Durchführung des Projekts „Sachalin II“ mit (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: dem Ziel einzusetzen hat, Umweltschäden, insbesondere Schade!) 5598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Gabriele Groneberg (A) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Frau Groneberg, Sie haben gerade von einem Gesamt- (C) volumen von 400 Millionen Euro gesprochen. Mir liegt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die Zahl 300 Millionen Euro vor. Nach Adam Riese entspricht dies ganzen 1,5 Prozent. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Addicks, FDP- Aber wenn es Ihnen um die Bevölkerung von Sacha- Fraktion. lin und den Umweltschutz auf dieser Insel geht, dann muss ich Ihnen sagen: Dazu stehen in Ihrem Antrag lei- (Beifall bei der FDP) der keine harten Fakten. Ich zitiere:

Dr. Karl Addicks (FDP): … die bereits erfolgten und kaum noch revidierba- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! ren Verstöße von Shell, Mitsui und Mitsubishi ge- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen wollen gen russische und internationale Umwelt- und So- also mit diesem Antrag hier einen Lackmustest durchfüh- zialnormen … ren. Sehr schön. Soll es denn blaues oder rotes Lackmus- Wovon sprechen Sie hier eigentlich genau? Warum nen- papier sein? Ich vermute mal rotes, weil dann die Farbe nen Sie nicht die Umweltkatastrophen, die dort statt- so schön zu tiefdunkelgrün wechselt. gefunden haben sollen, beim Namen? Hat es wirklich so (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gravierende Auswirkungen gegeben oder sind das nur Da spricht der Mediziner!) Ordnungswidrigkeiten? Ich finde Ihre Argumentation dort ein bisschen schwach. Aber es geht hier nicht so Sprich: Grün wäre also jetzt die Farbe des Widerstandes sehr um den Umweltaspekt, sondern mehr um die Repu- gegen dieses Projekt? Das hätte Ihnen natürlich auch ein tation der EBWE. bisschen früher einfallen können; denn nach meinen In- formationen hat sich die EBWE noch in der rot-grünen Nach der Lektüre Ihres Antrags habe ich den Ein- Ägide mit 170 Millionen Dollar an der ersten Phase des druck bekommen, dass Sie das ganze Projekt am Ende Projekts beteiligt. Das grüne Gewissen kommt hier also wirklich stoppen wollen. Mittlerweile ist dieser Fall bei- leider ein bisschen spät –, nahe eingetreten: Die Russen haben dem Konsortium die Lizenz entzogen. Sie begründen ihren Einspruch mit (Beifall bei der FDP – Ute Koczy [BÜND- Verstößen gegen russische Umweltauflagen. Man höre NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber immerhin! und staune und werfe auch einmal einen Blick auf die Wenn es bei Ihnen auch so wäre, wäre es ja derzeitigen russischen Produktionsanlagen und deren gut!) Umweltschutz – ein Schelm, wer dabei Böses denkt. Mir (B) aber besser spät als nie. drängen sich da wirklich Assoziationen in Richtung (D) Gasprom auf. Der Ölpreis ist inzwischen ein wenig ge- (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Ge- stiegen und daher möchte Gasprom natürlich gern einen nau!) Fuß in die Tür setzen. Da die Gespräche nicht zu dem – Genau. gewünschten Erfolg geführt haben, haben die Russen einfach andere Wege gewählt. Aber das will ich Ihnen Wenn ich Ihren Antrag durchlese, wird mir nicht so nicht vorwerfen. Das ginge jetzt zu weit. ganz klar, was Sie eigentlich beabsichtigen: Wollen Sie den Ruf der EBWE retten? Das fänden wir sehr gut; dem Wollen Sie wirklich, dass dieses Projekt gestoppt würden wir uns glatt anschließen. Wollen Sie die Bevöl- wird? Es ist mittlerweile zu 70 Prozent fertig gestellt. Ich kerung und die Umwelt der Insel Sachalin retten? Prima, weiß nicht, ob es für die Umwelt so gut ist, wenn in dem würden wir uns ebenfalls anschließen. Wollen Sie Sachalin eine Investitionsruine steht. Gerade in diesen vielleicht das ganze Projekt „Sachalin II“ stoppen? Zeiten wird das Erdöl sehr dringend gebraucht. Das Erd- ölvorkommen dort ist eines der größten, die in jüngster (Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Am Zeit weltweit entdeckt worden sind. Wir steuern auf eine besten!) internationale Energieknappheit zu. Wir könnten diese Dem würden wir uns nicht so ganz anschließen. Wenn es Energie eigentlich ganz gut gebrauchen. Ich weiß wirklich Ihnen um die Osteuropabank geht: Vielen Dank, dass Sie nicht, ob die Welt es sich leisten kann, auf diese Vorräte um die Reputation dieser Bank so besorgt sind. einfach so zu verzichten. Das sind zwar wieder fossile Energien – richtig! – mit Auswirkungen auf das Klima; Sie fordern in Ihrem Antrag, dass die EBWE sich an aber über eine vernünftige Nutzung der Atomkraft können ihre eigenen Regeln hält – sehr richtig! Das unterstützen wir mit Ihnen ja leider nicht reden. wir von ganzem Herzen, auch wenn Sie damit ein biss- chen Ihre Klientel bedienen wollen. Wenn die Bank sich ( [SPD]: Gott sei Dank! – nicht an die von ihr selbst gesetzten Umwelt- und Sozial- Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: standards hält, dann soll sie sich auch nicht mit Kredit- Zum Glück!) vergaben in dieses Projekt einmischen – völlig richtig! Das gilt vor allen Dingen, wenn das ganze Kreditvolumen Natürlich muss dieses Projekt mit Rücksicht auf die Um- nur 1,5 Prozent des Gesamtvolumens beträgt. welt gefördert werden. Aber man sollte bitte nicht gleich alles stoppen. (Gabriele Groneberg [SPD]: Schönen Dank, dass Sie die Prozentzahl ausgerechnet haben!) (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5599

Dr. Karl Addicks (A) Zurück zu Ihrem Antrag. Ihre letzten Forderungen sondern um die Motive Macht und Geld geht, liegt aus (C) haben mit Sachalin II im Grunde überhaupt nichts mehr meiner Sicht relativ nahe. zu tun. Da propagieren Sie eigentlich nur Ihren Öko- kolonialismus. Da ist die Rede von Energieeffizienz und Nun kann man sich die Frage stellen, warum die Rus- von der Förderung erneuerbarer Energien. Prima, das sen erst jetzt, drei Jahre nachdem die Unbedenklichkeits- finden wir ebenfalls alles gut. Aber warum soll das jetzt erklärung erteilt worden ist, darauf kommen, diese wie- auf einmal wieder mit einem Verzicht auf die Wasser- der zurückzuziehen. Ich behaupte, das Vorgehen liegt im kraft einhergehen? Für mich ist Wasserkraft nach wie Kontext der neuen russischen Rohstoffpolitik oder vor eine der saubersten Energien. Leider ist Ihr Antrag – vielleicht besser – Machtpolitik. Schauen Sie sich das nicht so schlüssig, wie wir uns das wünschen. Es scheint an: Liquidierung des Yukos-Konzerns, Gaskrieg mit der mir im Grunde ein Gefälligkeitsantrag für Ihre Klientel Ukraine, und jetzt scheinen die Konzerne Shell, Mitsui zu sein. Das können wir leider nicht mitmachen. Deshalb und Mitsubishi als derzeit maßgebliche Träger des werden wir uns hier enthalten. „Sachalin II“-Projektes an der Reihe zu sein. Vielen Dank. Dafür gibt es verschiedene Belege, zum einen den Zeitpunkt. Kurz bevor die Verhandlungen über die Be- (Beifall bei der FDP) teiligung von Gasprom an Sachalin II gescheitert sind, wird die Unbedenklichkeitserklärung kassiert. Zum an- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: deren gibt es Belege wie Aussagen des russischen Roh- Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/ stoffministers, der unverhohlen sagt, Sachalin II sei für CSU-Fraktion. Russland zu wenig vorteilhaft. (Beifall bei der CDU/CSU – Schaut man sich die Verträge an, so merkt man in der [CDU/CSU]: Jetzt kommt Stimmung in die Tat, dass sie in den 90er-Jahren, als Russland sich noch Bude!) in einer anderen wirtschaftlichen Situation und einer an- deren politischen Verfassung befunden hat, so gestrickt Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): worden sind, dass die Konzerne im Prä sind und Russ- land erst dann an dem beteiligt wird, was aus dem Boden Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und gefördert wird, wenn die Konzerne ihre Investitionen zu- Herren! Das Öl- und Gasprojekt „Sachalin II“ befindet rückverdient haben. Ein Berater Putins soll sogar gesagt sich zweifellos in einem ökologisch besonders empfind- haben, es sei wünschenswert, dass das Projekt „Sacha- lichen subarktischen Gebiet. Aufgrund der Größen- lin“ in nationale Projekte umgewandelt wird. ordnung des Projektes sind die Auswirkungen auf die (B) Umwelt besonders nachhaltig zu prüfen. Dies war Grund Nun werden Sie sich wahrscheinlich fragen, warum (D) für die CDU/CSU und die SPD, den Antrag vom ich das im Zusammenhang mit dem Antrag der Grünen 5. September dieses Jahres zu formulieren, den Sie ken- erzähle. Meine Damen und Herren von den Grünen, nen. Er steht unter der Überschrift „Die weltweit letzten glauben Sie ernsthaft, dass dann, wenn sich die Ost- 100 westpazifischen Grauwale schützen“. Das ist im europabank nicht mit 300 oder 400 Millionen Euro an Grunde nichts anderes als ein Pars pro Toto; denn diesem Projekt beteiligt, das, was dort auf Sachalin in „Schutz der Grauwale“ bedeutet auch Schutz von Fauna Grund und Boden steckt, nicht ausgebeutet wird? und Flora in der Anivabucht, Schutz der Lachse und der Fischerei sowie Schutz der Menschen. 30 Prozent der (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Menschen dort leben vom Lachsfang; das ist also auch Sie haben es nicht begriffen!) entwicklungspolitisch relevant. Angesichts des Energiehungers dieser Welt, angesichts Wir wollen die umwelt- und entwicklungspolitischen des Bedarfs, der sich in den Schwellenländern plötzlich Fragen nicht vernachlässigen. Deshalb haben wir den entwickelt, ist es völlig unwahrscheinlich, dass die Roh- vorliegenden Antrag formuliert. Wir meinen, dass damit stoffe ohne Zutun dieser Bank nicht ausgebeutet würden. aber das Notwendige gesagt ist. Wir müssen uns doch auch fragen, wie wir damit um- Meine Damen und Herren, vorhin wurde ange- gehen sollen. Ist es nicht sinnvoller, dass wir uns – natür- sprochen, dass die Russen dem Projekt „Sachalin II“ die lich unter Einhaltung von Umweltstandards, natürlich Unbedenklichkeitserklärung in Bezug auf die Umwelt unter Einhaltung von Auflagen – an diesem Projekt entzogen haben. Wir könnten uns eigentlich zurück- beteiligen, auf die von Ihnen angesprochene Signal- lehnen und sagen: Endlich haben es die Russen er- wirkung hoffen und darauf setzen, dass sich dort tatsäch- kannt. – Aber, meine Damen und Herren, man muss sich lich etwas bewegt und wir beides, nämlich die Gewin- schon fragen, ob dies ein Zeichen für eine neue umwelt- nung von Rohstoffen auf der einen Seite und den Schutz politische Sensibilität in der russischen Politik ist. Wenn der Umwelt in dieser Region auf der anderen Seite, in man sich zum Beispiel anschaut, wie marode das Pipe- Einklang bringen können? Den Russen muss man natür- linenetz ist, das die Russen betreiben, wenn man sich vor lich auch sagen, dass sie sich bei dem, was sie politisch Augen führt, dass sie Geld nur in Neubauten stecken, die tun, schon überlegen müssen, ob sie nicht anfangen soll- alten Leitungen aber nur notdürftig repariert werden und ten, ihre Vertrauenswürdigkeit Investoren gegenüber un- große Mengen Rohöl im Boden versickern, dann kom- ter Beweis zu stellen und ihr Verhältnis zu Japan zu hin- men einem schon Zweifel, wie sie der Kollege Addicks terfragen, mit dem es noch immer keinen vorhin formuliert hat. Dass es nicht um Umweltmotive, Friedensvertrag gibt. Das sind Dinge, die man in diesem 5600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dr. Georg Nüßlein (A) Zusammenhang vielleicht einmal ganz offen ansprechen Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): (C) sollte. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sachalin II ist eines der größten Öl- und Gasförderpro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie jekte der Welt. Das haben meine Vorredner bereits er- bei Abgeordneten der SPD) wähnt. Am Anfang des Jahres verkündete das Konsor- Allerdings muss sich auch Shell vorhalten lassen, das tium Sakhalin Energy, dass sich die Umsetzung des Projekt ohne Umweltverträglichkeitsanalyse begonnen Projektes in die Länge ziehen würde. Die Kosten würden zu haben. von 12 Milliarden auf 20 Milliarden US-Dollar steigen. Nun soll die Osteuropabank einspringen und Kredite in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Höhe von bis zu 400 Millionen Euro gewähren. Hüseyin-Kenan Aydin [DIE LINKE]: Rich- Wir fordern die Bundesregierung auf – und da sind tig!) wir uns mit den Antragstellern einig –: Lehnen Sie die- Von einem internationalen Konzern wie Shell muss man sen Kreditantrag im Direktorium der Bank ab! in diesem Punkt etwas mehr Sensibilität verlangen kön- Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Das Projekt nen. hat bereits vor seiner Fertigstellung die Anivabucht auf der Insel Sachalin buchstäblich verseucht. Die Pipeline (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) quer über die Insel hat ebenfalls schwere Umweltschä- Der Maßstab für die Beurteilung von Sachalin II muss den verursacht. Sie wurde unter Verstoß gegen russische ein materieller und darf eben kein formaler sein. Deshalb und auch internationale Umwelt- und Sozialnormen ver- sagen wir ganz offen: Die Bundesregierung und die legt. Das Betreiberkonsortium hat es nicht einmal für nö- EBWE können zum derzeitigen Zeitpunkt noch nicht tig erachtet, eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzu- entscheiden, wie man mit dem Projekt umgeht. legen. Durch eine Zustimmung zur Kreditvergabe würde sich die Bundesregierung direkt mitschuldig machen, Lassen Sie mich abschließend noch eine Bemerkung (Beifall bei der LINKEN) zu Nummer vier Ihrer Forderungen machen, und zwar unabhängig von der Tatsache, dass sich das aufgrund des mitschuldig an der kriminellen Umweltzerstörung in ei- Zeitablaufs schon erledigt hat. Wir reden über die Frage, ner der verbliebenen urwüchsigen Naturlandschaften der wie es energiepolitisch mit der Ausbeutung von fossilen Welt. Rohstoffen weitergeht. Sie wollen weg von der Kernen- Hauptaktionär des Projektes „Sachalin II“ ist der ergie. Sie wollen auch in den Entwicklungs- und Energiekonzern Shell. Der Konzern gebärdet sich wie Schwellenländern CO -schonend Energie produzieren. (B) 2 ein Wiederholungstäter. In der Anivabucht vor Sachalin (D) Wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass Entwick- wiederholt sich eine Umweltkatastrophe, wie wir sie be- lungs- und Schwellenländer Zugang zu Energie haben; reits aus dem Nigerdelta kennen. Auch dort vergiftet die denn das ist ein ganz besonderes entwicklungspoliti- Ölförderung unter Verantwortung von Shell die Lebens- sches Thema. Wenn man das so sieht, dann darf man grundlagen von Mensch und Natur. aber nicht Vorschriften machen, die sich widersprechen. Was machen Sie? Sie fordern die Nutzung von erneuer- Nun traf sich der Shell-Vorstand am vergangenen Wo- baren Energien, nehmen aber die Große Wasserkraft aus, chenende mit dem russischen Minister für Boden- weil Sie den Entwicklungs- und Schwellenländern nicht schätze, Juri Trutnev. Nach dem Treffen erklärte nicht das zugestehen wollen, was andere schon lange tun. nur Shell vor der Presse, alle Umweltprobleme seien be- Aber irgendwie, meine Damen und Herren, müssen wir seitigt; nein, auch Herr Trutnev schlug plötzlich ver- doch den Energiebedarf decken! Wenn nicht über die söhnliche Töne an. Es hieß, der von der russischen Re- Große Wasserkraft, nicht über die Kernenergie und na- gierung erwogene Stopp von Sachalin II sei hinfällig, türlich – denn im Kern wollen Sie ja letztlich das wenn Shell einen neuen Plan vorlege. „Sachalin II“-Projekt stoppen – auch nicht über die fos- silen Brennstoffe, wie denn dann? Diese Frage müssen Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Ein neues Sie beantworten. Papier wird die Vernichtung der unschätzbaren Natur auf Sachalin nicht rückgängig machen. Es drängt sich Der Zugang zu Energie ist – ich glaube, meine Damen der Verdacht auf, dass sich die russische Regierung mit und Herren, da sind wir uns einig – Voraussetzung für dem Shell-Vorstand weniger über Grauwale und Wieder- den Wohlstand, den wir nicht nur bei uns, sondern auch aufforstung als vielmehr über die Konditionen bei der in anderen Ländern schaffen wollen. Ausbeutung des Öl- und Gasfeldes unterhalten hat. Vielen Dank. (Dr. Karl Addicks [FDP]: So ist es!) Eine bloße Neuverteilung der zu erwartenden Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) winne aus der Ölförderung zwischen Staat und Konsor- tium kann kein Kriterium für eine positive Neubewer- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tung des Projekts sein. Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin, (Beifall bei der LINKEN) Fraktion Die Linke. Ich bin mir sicher, dass Sie, meine Kolleginnen und Kol- (Beifall bei der LINKEN) legen von den Regierungsparteien, das genauso sehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5601

Hüseyin-Kenan Aydin (A) Warum wollen Sie diesem Antrag dann aber nicht zu- Wir stehen aktuell vor einer Entscheidung der Osteu- (C) stimmen? ropabank. Auch in Russland wird darüber diskutiert. Der aktuelle Anlass ist also gegeben. Die deutsche Öffentlichkeit hat noch gut in Erinne- rung, wie Gerhard Schröder direkt aus dem Kanzleramt Wir kennen natürlich die Position der Regierungs- in den Aufsichtsrat des Betreiberkonsortiums für die fraktionen und auch den Antrag, der da heißt „Die welt- Ostseepipeline wechselte. weit letzten 100 westpazifischen Grauwale schützen“, den die Koalitionsfraktionen am 5. September einge- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Reden Sie mal bracht haben, aber leider nicht diskutierten; es gab keine mit Ihren Genossen in Russland!) Aussprache dazu. Wie weit wollen Sie, liebe SPD-Kolleginnen und Kolle- (Mechthild Rawert [SPD]: Sie müssten sich gen, diesen Weg der unkritischen Begleitung der russi- aber noch erinnern, weshalb! Wir hätten ja schen Regierungspolitik noch mitgehen? Man mag ja gern darüber geredet!) kaum seinen Ohren trauen, wenn Altkanzler Schröder den russischen Präsidenten Putin dafür lobt, dass er Wir wissen, dass der Antrag vor der Sommerpause zu- Russland – ich zitiere – „auf den demokratischen Weg rückgezogen wurde. Deshalb ist es wichtig, diesen Punkt führt“. Das war am 6. Oktober. Einen Tag später wurde hier zu benennen und zu diskutieren. in diesem Land die kremlkritische Journalistin Anna (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Politkowskaja erschossen, Frau Groneberg, es ist tatsächlich so: Die Umwelt- (Mechthild Rawert [SPD]: Das sind aber Zu- schäden vor Ort sind enorm. Sie haben in Ihrem Antrag sammenhänge, die unlauter sind!) diese Situation und auch die sozialen Folgen für die Menschen dort ausgeblendet. jene Journalistin, die von Putin im Fernsehen unver- blümt als Feindin des Volkes bezeichnet wurde. Ein Zu- (Gabriele Groneberg [SPD]: Das stimmt fall? nicht!) Die Regierungsparteien ziehen sich darauf zurück, Deswegen konnten wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. dass bereits ein Antrag zum Schutz der Grauwale vor der Dieser Antrag, der zu Recht die weltweit letzten leben- Insel verabschiedet worden sei. Ich frage mich: Warum den Grauwale schützen will, verweigert sich damit der spricht das gegen den vorliegenden Antrag? Erkenntnis, in welchem Zusammenhang die Ausbeu- tung der Rohstoffe steht. Ich finde, Sie haben eine (Gabriele Groneberg [SPD]: Weil das bereits große Chance vertan. (B) erledigt ist!) (D) Die Osteuropabank, die jetzt über einen Kredit für Hier geht es um die Kreditvergabepolitik der Osteuropa- Sachalin II entscheidet, ist eine angesehene internatio- bank. nale Entwicklungsbank. Deutschlands Stimme in ihrem Direktorengremium hat beträchtlichen Einfluss auf die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vergabeentscheidungen der Bank. Deutschland hat da- mit die besondere Verantwortung, dass zum einen der Herr Kollege, schauen Sie bitte auf Ihre Redezeit. Ruf der Osteuropabank, zum anderen aber auch interna- tionale Standards nicht beschädigt werden. Beides ris- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): kieren wir, wenn dieses Haus unserem Antrag nicht zu- Ich komme zum Schluss. – Jetzt, wo ein Antrag eine stimmt. konkrete Bedeutung zum Schutz der Natur vor der russi- Sakhalin Energy als Förderkonsortium bei schen Ostküste hat, ziehen Sie sich feige zurück. Ich Sachalin II hat eine unglaubliche Liste von Verstößen glaube, hier sollten Sie Mut aufbringen und dem Antrag gegen internationale Umwelt- und Sozialstandards pro- zustimmen. duziert. Wenn die Osteuropabank ihre eigenen Standards (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ernst nimmt, dann darf das Konsortium diesen Kredit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht bekommen. Frau Groneberg und Herr Addicks, Sie haben hier abgewiegelt und gesagt, es gehe um die 400 Millionen Euro im Vergleich zu der Gesamtsumme. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es geht aber nicht um das Geld, sondern darum, ob die Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Ute Osteuropabank ein Gütesiegel für die Ausbeutung auf Koczy, Bündnis 90/Die Grünen. Sachalin – unter den katastrophalen Umweltbedingun- gen, die dort herrschen – gibt. Dieses Gütesiegel verwei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gern wir.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser grüner Antrag will dafür sorgen, dass Es gibt Proteste vor Ort und eine breite Bewegung ge- das Unterlaufen von Standards in der Öl- und Gaspro- gen das Projekt und gegen die finanzielle Unterstützung duktion durch den Konzern Shell in Russland nicht noch des Projekts durch die Osteuropabank. Die Bank muss durch deutsche Politik unterstützt wird. wissen: Mit einer Kreditvergabe würde ein starkes 5602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Ute Koczy (A) Signal der Aufweichung internationaler Standards an Koalition bei Gegenstimmen der Grünen und der Frak- (C) andere Banken und Ressourcenprojekte ausgesendet. tion der Linken sowie Enthaltung der FDP angenom- men. (Gabriele Groneberg [SPD]: Und das wird auch nicht verhindert, Frau Koczy!) Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- nung um die Beratung der Beschlussempfehlung des Dabei ist es eigentlich Aufgabe der Bank, ehrgeizige Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- Umwelt- und Sozialstandards nach Osteuropa zu vermit- schäftsordnung zu einem Antrag auf Genehmigung zur teln. Durchführung eines Strafverfahrens zu erweitern und Die Bank muss jetzt umsteuern und sich auf die För- diese jetzt sofort als Zusatzpunkt 15 ohne Aussprache derung von regenerativen Energien und Energieeffizienz aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der konzentrieren. Welchen Sinn macht es, die knappen Mit- Fall. Dann ist so beschlossen. tel der Entwicklungsbank in Zeiten akuten Klimawan- Ich rufe daher den Zusatzpunkt 15 auf: dels in riesige Ölprojekte zu stecken, für die es ohnehin ausreichend Kreditfinanzierung gibt? Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- (Gabriele Groneberg [SPD]: Jetzt widerspre- schäftsordnung (1. Ausschuss) chen Sie sich selbst!) Antrag auf Genehmigung zur Durchführung Die Osteuropabank braucht das Geld nicht; sie muss die- eines Strafverfahrens ses Gütesiegel nicht geben. – Drucksache 16/3043 – (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Dass sie das Geld nicht braucht, ist ja das Problem, Frau Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss Koczy!) für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Was wir brauchen, ist ein klares Nein zur Kreditvergabe che 16/3043, die Genehmigung zur Durchführung eines durch die Osteuropabank an Sachalin II. Strafverfahrens zu erteilen. Wer stimmt für diese Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an- Derzeit geht die russische Regierung gegen Sakhalin genommen. Energy wegen seiner Umweltvergehen vor; das wurde auch schon erwähnt. Ich meine, man muss auch darauf Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: hinweisen, dass es dabei nicht nur darum geht, die Öko- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- logie zu schützen. Machtpolitische Motive sind mindes- (B) gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (D) tens genauso wichtig. zur Änderung des Zwölften Buches Sozialge- Ich will Sie zum Abschluss meiner Rede auch noch setzbuch und anderer Gesetze darüber informieren, dass es die mutige russische Um- – Drucksachen 16/2711, 16/2753 – weltaufsicht sehr schwer hat. Gestern haben Einheiten der russischen Kriminalpolizei im Auftrag der Staatsan- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- waltschaft die Büros der Behörde durchsucht. Dabei ha- ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) ben sie Dokumente über das von der Umweltaufsicht – Drucksache 16/3005 – eingeleitete Umweltaufsichtsverfahren gegen Sakhalin Energy und andere Ölunternehmungen konfisziert. Da Berichterstattung: findet gerade ein Machtkampf statt. Ich bin der Mei- Abgeordneter Markus Kurth nung, wir sollten uns daran nicht beteiligen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Stimmen Sie unserem Antrag zu; sagen Sie Nein zur richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Kreditvergabe an Sachalin II. (11. Ausschuss) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja und bei der LINKEN) Kipping, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Für ein menschenwürdiges Existenzmini- Ich schließe die Aussprache. mum Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck wicklung auf Drucksache 16/2925 zu dem Antrag der (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN „Schaden von der Reputation der Osteuropabank abwen- Das Existenzminimum sichern – Sozialhil- den – Das Öl- und Gasprojekt Sachalin II als Lackmus- feregelsätze neu berechnen und Sofortmaß- test für die Einhaltung internationaler Umwelt- und So- nahmen für Kinder und Jugendliche einlei- zialstandards“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf ten Drucksache 16/1668 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Kurth, Brigitte Pothmer, Irmingard Schewe- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5603

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Gerigk, Elisabeth Scharfenberg und der Frak- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Aus unse- (C) tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN rer Sicht auch! Darum machen wir es ja!) Die Eingliederungshilfe für Menschen mit um Menschen mit Behinderungen finanzielle Leistungen Behinderungen weiterentwickeln – Das aus einer Hand anzubieten. Wir freuen uns als FDP heute Bruttoprinzip in der Sozialhilfe beibehalten also über die Einsicht der Bundesregierung und der Ko- und Leistungen aus einer Hand für Men- alition in diesem wichtigen Punkt. schen mit Behinderungen ermöglichen (Beifall bei der FDP) – Drucksachen 16/2743, 16/2750, 16/2751, 16/3005 – Bei der anstehenden Weiterentwicklung der Eingliede- rungshilfe in Zusammenarbeit mit den Kommunen und Berichterstattung: den Ländern wollen einige Abgeordnete der Koalition Abgeordneter Markus Kurth aber schon in naher Zukunft wieder über die Einführung des Nettoprinzips diskutieren. Aus Sicht der Sozialver- Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein bände kann hier also noch keine endgültige Entwarnung Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. erfolgen. Aber die Liberalen stehen hier klar an der Seite Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Verbände und der Betroffenen. Wir werden hier Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre wachsam bleiben. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Elke Ferner [SPD]: Oh weh! Ist das eine Dro- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege hung?) Jörg Rohde, FDP-Fraktion. Nun komme ich zu einigen Punkten im vorliegenden (Beifall bei der FDP) Gesetzentwurf, welche die Liberalen gemeinsam mit den Bundesländern gerne verbessert hätten. Zum Beispiel Jörg Rohde (FDP): haben wir im Ausschuss gefordert, dass EU-Bürger, die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nach Deutschland ziehen, frühestens nach Ablauf von Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt wieder einmal, drei Monaten leistungsberechtigt sind. Gerade als Be- dass hinter den Kulissen der Koalition mit heißer Nadel triebsrat bin ich für Freizügigkeit der Arbeitnehmer in Gesetzesänderungen gestrickt werden, die wir im Parla- Europa und für die soziale Absicherung dieser Freizü- ment nach kurzer Diskussion verabschieden sollen. gigkeit. Aber einem Zuzug in unsere Sozialsysteme müssen wir entgegenwirken. (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der (B) CDU/CSU) (Beifall bei der FDP – Markus Kurth [BÜND- (D) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Bauen Sie doch kei- Immerhin wurden auch drei Punkte, die die FDP in die nen Popanz auf!) Beratung zu den Gesetzesänderungen eingebracht hat, von der Koalition übernommen. Auch hätten wir uns eine gesetzliche Klarstellung ge- wünscht, um die Zuständigkeit für Wohnungsbeschaf- Wir begrüßen als FDP den Bürokratieabbau bei der fungskosten, Umzugskosten und Kautionen eindeutig Frage der bisher jährlichen Festlegung der Höhe der mo- festzulegen. Beim SGB II hatten wir erst im Sommer natlichen Regelsätze durch Verordnung der Landesregie- eine entsprechende Klarstellung beschlossen. Warum rungen. wollen Sie dies nicht auch im SGB XII regeln? (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Können Sie Als Drittes möchte ich an dieser Stelle die Aufhebung noch einmal Ihr Abstimmungsverhalten ges- der Verortung der Schiedsstellen bei den Landesbehör- tern im Ausschuss erläutern?) den kritisieren. Im Zuge der zunehmenden Kommunali- sierung könnte die Änderung des § 80 SGB XII von den Zukünftig müssen die Landesregierungen nur noch eine Bundesländern dazu genutzt werden, die Schiedsstellen neue Verordnung erlassen, wenn sich die Regelsätze bei den Landkreisen zu verorten. Damit könnte der öf- auch wirklich ändern. fentliche Rechtsträger zum einen potenzielle Partei eines (Vorsitz: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt) Schiedsstellenverfahrens sein und zum anderen für den Aufbau und die Organisation der Schiedsstelle zuständig Auch die Erweiterung der Gewährung von Darle- sein. Selbst wenn die Schiedsstellen bei den in einigen hen an Leistungsberechtigte bei der Grundsicherung im Bundesländern bestehenden Landeswohlfahrtsverbän- Alter und bei Erwerbsminderung halten wir für richtig. den angesiedelt würden, entstünden ähnliche Verwerfun- Besonders hervorzuheben ist die Beibehaltung des gen, wenn die Landeswohlfahrtsverbände von den Land- Bruttoprinzips in § 92 SGB XII. Noch am 22. Septem- kreisen getragen werden. Der Nutzen für die Menschen ber 2006 hatte die Bundesregierung, Herr Staatssekretär in Einrichtungen erschließt sich mir nicht. Wir hätten die Thönnes, auf meine Frage hin bestätigt, dass sie die Be- Schiedsstellen lieber weiter bei den Landesbehörden ge- fürchtungen der Sozialverbände bei der Einführung des sehen und fordern daher, den § 80 nicht zu ändern. Nettoprinzips bei der Eingliederungshilfe für Menschen (Beifall bei der FDP) mit Behinderungen nicht teilt. Die Anhörung am Montag in Berlin hat aber aus meiner Sicht ganz klar ergeben, Leider haben Union und SPD alle diese weitergehen- dass es notwendig ist, beim Bruttoprinzip zu bleiben, den Vorschläge im Ausschuss abgelehnt. 5604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Jörg Rohde (A) Des Weiteren kritisieren wir, dass wir mittlerweile Für heute ist nach unserer Bewertung die ursprüngli- (C) eine Regelsatzbemessung nach Kassenlage haben. che Gesetzesvorlage durch die Änderungsanträge der Koalition zwar verbessert worden, aber unter dem Strich (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das können wir als FDP-Fraktion aus den zuletzt genannten stimmt nicht!) Gründen dem SGB-XII-Änderungsgesetz nicht zustim- Wir haben weiterhin die starke Vermutung, dass bei der men und lehnen es daher ab. Für unseren Entschlie- Veränderung der Parameter für die EVS 2003, also die ßungsantrag bitten wir dagegen um Ihre Zustimmung. Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, so lange an Vielen Dank. den Parametern gedreht wurde, bis das gewünschte Er- gebnis von circa 345 Euro errechnet werden konnte. (Beifall bei der FDP) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: – Das ist eine Vermutung, meine Damen und Herren. Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun Hier fordern wir künftig mehr Nachvollziehbarkeit dem Kollegen Peter Weiß. und eine Ausrichtung des Regelsatzes an objektiven Kri- terien wie dem Preisniveau. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Kollege Rohde! Verehrte Kolleginnen und Kol- (Abg. Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU] legen! Ich befürchte, dass die ungeheuerliche Behaup- meldet sich zu einer Zwischenfrage) tung, die Sie zum Regelsatz in der Sozialhilfe nach dem – Heute keine Zwischenfragen! SGB XII aufgestellt haben, nachher von einer anderen Fraktion wiederholt wird, mit der Sie sonst nicht so gern Zudem sollten die Anrechnungsregeln für den Hin- koalieren. zuverdienst für SGB-XII-Empfänger nicht gegenüber dem heute geltenden Recht verschlechtert werden. Der Es war 1989 ein großer Fortschritt, der damals von Anreiz zu Aktivität und Arbeit bei den Leistungsemp- der gesamten Fachwelt und auch den Wohlfahrtsverbän- fängern würde vermindert. Hier widersprechen die Libe- den begrüßt worden ist, dass wir den Warenkorb abge- ralen mit Nachdruck. schafft haben und dazu übergegangen sind, die Einkom- mens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Alles in allem frage ich mich, warum Sie ausgerech- Bundesamtes bei den unteren 20 Prozent der in Deutsch- net jetzt den Vorstoß zu einer so weit gehenden Ände- land erhobenen Einkommen zur Grundlage des Regel- rung des SGB XII gemacht haben. Sie flicken und dok- satzes in der Sozialhilfe zu machen, und damit zu einem tern an der Eingliederungshilfe herum, obwohl Sie doch (B) Verfahren gekommen sind, das auf statistisch einwand- (D) andere Pläne hatten. Ich darf Sie, liebe Kolleginnen und freien Daten basiert und auf das die Politik und andere Kollegen der Regierungsfraktionen, an Ihren Koalitions- keinen Einfluss nehmen können. vertrag erinnern. Ich möchte es noch einmal betonen: Es ist richtig, dass sich die Bundesregierung bei der Regelsatzverord- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nung an diese Einkommens- und Verbrauchsstichprobe Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des hält; denn dadurch wird das tatsächlich ermittelte Ver- Kollegen Peter Weiß von der CDU/CSU-Fraktion? brauchsverhalten der Schicht der unteren 20 Prozent der Einkommen in Deutschland zur Grundlage des Regelsat- Jörg Rohde(FDP): zes. Heute nicht, Herr Kollege. Wer dieses Verfahren in der Art und Weise verdäch- (Zurufe von CDU/CSU und der SPD: Oh!) tigt, wie Sie es getan haben, betreibt nicht Sozialpolitik, sondern macht eine Rückwärtsrolle in Sachen Sozialpo- Im Koalitionsvertrag heißt es wörtlich: litik. Dagegen sollten wir uns entschieden wehren. Ich Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und den behaupte: Das Statistische Bundesamt lügt nicht. Wenn Verbänden behinderter Menschen werden wir die Sie hier eine solche Behauptung aufstellen, dann bewei- Leistungsstrukturen der Eingliederungshilfe so wei- sen Sie auch auf Punkt und Komma, wo Sie meinen, terentwickeln, dass auch künftig ein effizientes und dass unsere Statistiker lügen und eine falsche Berech- leistungsfähiges System zur Verfügung steht. Dabei nung vorgenommen haben. Ich behaupte: Die EVS ist haben der Grundsatz „ambulant vor stationär“, die richtig. Sie sollte auch in Zukunft angewandt werden. Verzahnung ambulanter und stationärer Dienste, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Leistungserbringung „aus einer Hand“ sowie die Umsetzung der Einführung des Persönlichen Bud- gets einen zentralen Stellenwert. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Zur Erwiderung Herr Rohde, bitte. Beinahe hätten Sie die finanzielle Leistungserbringung aus einer Hand gekippt. Jetzt wird es endlich Zeit, Ihre Jörg Rohde (FDP): Pläne mit den Betroffenen zu diskutieren. Herr Kollege Weiß, wir hatten vor zwei Wochen zum (Zuruf von der CDU/CSU: Das tun wir schon, gleichen Thema und fast zur gleichen Stunde genau die keine Angst!) gleiche Auseinandersetzung. Ich habe damals gesagt: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5605

Jörg Rohde (A) Ich vermute es. Das ist keine Behauptung, sondern das darf steht ihnen aber lediglich ein Barbetrag von knapp (C) ist eine Vermutung von mir persönlich. Aber die Nach- 90 Euro im Monat zur Verfügung. Das ist wenig. Wenn vollziehbarkeit ist insofern gegeben, weil 1998 bei der dann noch die Weihnachtsbeihilfe in Höhe von 36 Euro letzten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ein Satz wegfällt, dann ist das viel. errechnet wurde, von dem dann aus politischen Gründen abgewichen wurde. Den Leuten wurde etwas mehr gege- Im Rahmen der Föderalismusreform haben wir hef- ben. tig über die Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Kommunen diskutiert. Der Umgang mit der Weihnachts- (Elke Ferner [SPD]: Ach so! Sie wollen weni- beihilfe ist für mich ein deutliches Beispiel dafür, dass ger!) wir die soziale Sicherung der Menschen in unserem Diesmal kam bei der Berechnung exakt der Betrag he- Land nicht aus der Zuständigkeit des Bundes entlassen raus, der bisher gezahlt wurde. Das nährt meine Vermu- dürfen. tung, dass aus politischen Gründen ein bisschen an den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Parametern gedreht wird. Das ist nur eine Vermutung. Es der CDU/CSU) ist völlig richtig: Ich habe keine Beweise dafür. Aber ich bleibe bei meiner Vermutung. Deshalb lehnen wir die im FDP-Antrag vorgeschlagene Regionalisierung der Sozialhilferegelsätze entschieden (Elke Ferner [SPD]: Die Erde ist eine ab. Scheibe!) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Bleiben wir bei der FDP. Zugegeben, ich war über- Das Wort hat nun die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, rascht, als ich in Ihren Änderungsvorschlägen die Forde- SPD-Fraktion. rung nach einer Heraufsetzung des Barbetrages für (Beifall bei der SPD) Heimbewohner um gleich 2 Prozentpunkte gefunden habe. Wir haben uns mit der Union im Hinblick auf die schwierige Verhandlungssituation mit den Ländern, die Gabriele Hiller-Ohm (SPD): dem Gesetz ja auch zustimmen müssen, auf 1 Prozent- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! punkt geeinigt. Ich habe mich gefragt: Seit wann hat die Es ist eine ganz interessante Erfahrung, wenn man sieht, FDP ein so ausgeprägtes soziales Gewissen, dass sie dass sich FDP und CDU/CSU hier einmal streiten. gleich 2 Prozentpunkte mehr fordert? In der letzten Aus- Wir haben heute Mittag über Armut in Deutschland schusssitzung haben Sie die Welt dann aber wieder ge- rade gerückt, Herr Kollege Rohde, als Sie sagten, dass (B) diskutiert. Jetzt handeln wir. Wir erhöhen nicht nur die (D) Sozialhilfe in Ostdeutschland, sondern schaffen auch die natürlich die von Ihnen gewünschte Heraufsetzung des gesetzliche Grundlage zur Verbesserung der finanziellen Barbetrages an die Unterstützung der Kompensations- Situation von Menschen in stationären Einrichtungen. forderungen der Länder geknüpft sei. Diese Forderungen Ich spreche von der Anhebung des Barbetrages und der haben es in sich. Die Länder bieten rund 30 Millio- damit verbundenen bundesweiten Wiedereinführung der nen Euro und wollen den Heimbewohnern durch Strei- Weihnachtsbeihilfe. Fast ein Jahr lang hing sie in der chung anderer Leistungen im Gegenzug mehr als Luft. Jetzt machen wir den Weg für die Weihnachtsbei- 150 Millionen Euro entziehen. Das ist ein schlechtes Ge- hilfe frei, und zwar rückwirkend für dieses Jahr. schäft. Herr Kollege Rohde, wir werden ein solches Ge- schäft zulasten der Heimbewohner auf keinen Fall mit- Im Zuge der Reform des Bundessozialhilfegesetzes machen. und der damit verbundenen Umstellung auf Pauschalie- rung der Sozialhilfe in 2003 ist die gesetzliche Verpflich- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tung der Länder zur Zahlung von Einmalleistungen zu Man ist in der Politik vor Überraschungen nicht si- besonderen Anlässen – ehemals § 21 BSHG – weggefal- cher. Während sich die FDP auf den ersten Blick für eine len. Das hatte zur Folge, dass im letzten Jahr nur noch Besserstellung der Sozialhilfe beziehenden Menschen in sieben Bundesländer die Weihnachtsbeihilfe als freiwil- Heimen einsetzt, schweigt die Linkspartei zu diesem lige Leistung gezahlt haben. Nun muss man natürlich die wichtigen Thema. Kein Änderungsantrag weit und breit. schwierige Finanzsituation der Länder vor Augen haben. Sie setzt sich allerdings für eine Aufstockung des Ich bin mir jedoch sicher, dass die Streichung der Weih- Regelsatzes auf 420 Euro ein. Diese Maßnahme würde nachtsbeihilfe von gerade einmal 36 Euro pro Leistungs- rund 10 Milliarden Euro kosten; denn der Regelsatz ist bezieher und Jahr kein echter Sanierungsbeitrag für die auch Grundlage für das Arbeitslosengeld II und für die Länderhaushalte sein kann. Berechnung des steuerlichen Existenzminimums. Die (Elke Ferner [SPD]: Wohl wahr! – Dr. Ilja zusätzliche Belastung wäre aber nicht ausschließlich Seifert [DIE LINKE]: Das war es voriges Jahr vom Bund, sondern insbesondere von den Ländern und auch nicht!) Kommunen zu tragen. Wie Ihre Forderung bei der ange- spannten Lage der öffentlichen Kassen umgesetzt wer- Aus meiner Sicht haben diese Einsparungen aber zu ei- den soll, bleibt im Nebel. ner nicht zu vertretenden sozialen Härte geführt. Wer im Heim und von Sozialhilfe lebt, gehört zu den bedürftigs- Es ist auch fraglich, ob die Aufstockung von Trans- ten Menschen in unserer Gesellschaft. Sie sind natürlich ferleistungen für alle Betroffenen der richtige Weg ist. mit dem Nötigsten versorgt; für ihren persönlichen Be- Ich denke an die rund 1 Million Menschen, die trotz 5606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Gabriele Hiller-Ohm (A) Arbeit Grundsicherung beziehen. Eine neue Studie der Sie haben leider nicht gesagt, dass Sie sich für eine (C) Hans-Böckler-Stiftung kommt zu dem Schluss, dass die Anhebung des Barbetrages um 2 Prozentpunkte einset- tatsächliche Zahl der Leistungsberechtigten weit höher zen und auf eine Kompensation verzichten. Wenn Sie liegt. Es wäre ein falscher Weg, den Niedriglohnsektor dies gesagt hätten, hätten Sie meine volle Unterstützung. durch eine Aufstockung der Grundsicherung noch stär- Das aber haben Sie nicht getan. Sie haben Ihr wahres ker zu subventionieren. Diese Menschen brauchen keine Gesicht gezeigt, und das ist nicht sozial. Das ist wieder höheren Transferleistungen, sondern Arbeit, von der sie einmal deutlich geworden. leben können. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dazu gehören ordentliche Lohnabschlüsse und ein Min- Nun hat das Wort die Kollegin Elke Reinke, Fraktion destlohn, der den freien Fall nach unten begrenzt. Hö- Die Linke. here Transferleistungen, liebe Kolleginnen und Kollegen (Beifall bei der LINKEN) von der Linkspartei, sind nicht immer das Allheilmittel. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Elke Reinke (DIE LINKE): bei Abgeordneten der FDP) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- legen! Nach Vorliegen der Einkommens- und Ver- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: brauchsstichprobe ist die Bundesregierung verpflichtet, Das Wort zu einer Kurzintervention hat nun erneut die Regelsätze des Sozialgesetzbuches XII zu prüfen der Kollege Rohde. und gegebenenfalls anzupassen. Im Unterschied zu an- deren Gesetzesvorhaben waren die Regierungsfraktio- nen nach der Anhörung nicht so beratungsresistent wie Jörg Rohde (FDP): bei der Föderalismusreform und aktuell bei der Gesund- Liebe Frau Kollegin Hiller-Ohm, ich möchte Sie nur heitsreform. Eine Mehrheit der Expertinnen und Exper- leicht korrigieren. Sie haben Recht: Wir haben den Än- ten hat sich für das Bruttoprinzip bei der Eingliederungs- derungsantrag, in dem wir eine Erhöhung von 26 auf hilfe für Menschen mit Behinderungen ausgesprochen 28 Prozentpunkte fordern, eingebracht. Im Ausschuss und die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU und haben wir gefordert, die Mittel in genau diesem Umfang der SPD haben sich belehren lassen. zu kompensieren. Aufgrund der Ergebnisse der Diskus- sion im Ausschuss würde ich diesen Betrag mit circa Leider wurden andere Bedenken, die in der Anhörung (B) 26 Millionen Euro beziffern. Wir haben im Ausschuss geäußert wurden, nicht ernst genommen. Der Sachver- (D) nicht erklärt, wie wir dies kompensieren wollen. ständige Hesse von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege hat angemerkt, dass sich die (Elke Ferner [SPD]: So kennen wir Sie!) Preise in den Aldi-Filialen nicht unterscheiden, dass Die Diskussion darüber haben wir noch nicht abge- Menschen überall im Land 10 Euro Praxisgebühr beim schlossen. Wir wünschen uns eine Kompensation. Zu Arzt zahlen müssen und dass alle von der Mehrwertsteu- den Länderforderungen haben wir uns nicht geäußert. ererhöhung betroffen sind. Weil es keine relevanten Un- terschiede bei den Lebenshaltungskosten gibt, sieht unsere Fraktion keine Grundlage für regionale Abwei- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: chungen bei den Regelsätzen in den verschiedenen Bun- Bitte sehr, Frau Kollegin, zur Erwiderung. desländern.

Gabriele Hiller-Ohm (SPD): (Beifall bei der LINKEN) Herr Kollege Rohde, danke für Ihre Darstellung. Sie Wir fordern in unserem Antrag „Für ein menschen- bringt uns allerdings nicht viel weiter. Es ist eigentlich würdiges Existenzminimum“ die Einführung einer be- egal, für welche Kompensationsforderung Sie sich ein- darfsdeckenden Grundsicherung von 420 Euro. In den setzen. Ausschussberatungen wurde uns mehrfach Wunschden- Sie haben im Ausschuss und auch jetzt betont, dass ken unterstellt. Ich würde gerne einmal hören, wie Sie zu Sie eine Aufstockung des Barbetrages in Höhe von den Berechnungen des Paritätischen Wohlfahrtsverban- 2 Prozentpunkten nicht ohne Kompensation wollen. des stehen, der schon im Mai dieses Jahres als Notmaß- Also unterstützen Sie die Länder in ihrer – ich würde nahme forderte, die Leistung auf 415 Euro zu erhöhen. einmal sagen – etwas unsozialen Herangehensweise im Wenn Sie einen Eindruck von der Stimmung der Leidtra- Umgang mit der Heraufsetzung des Barbetrages. Die genden Ihrer Politik bekommen wollen, dann sollten Sie Länder fordern im Gegenzug Einsparungen in Höhe von die Demos gegen Sozialabbau besuchen, die am kom- 150 Millionen Euro. menden Samstag stattfinden. (Jörg Rohde [FDP]: Das sind die Länder!) (Zuruf von der SPD: Wir gehen selbst in die Ein- richtungen und nicht nur auf die Straße!) Dieser Betrag würde den Menschen in den Heimen feh- len. Das ist also ein schlechtes Geschäft. Die Regierungsfraktionen haben auch auf ein anderes drängendes Problem nicht reagiert. Dr. Ulrich Schneider (Beifall bei der SPD) vom Paritätischen Wohlfahrtsverband forderte ebenso Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5607

Elke Reinke (A) wie wir, kindgerechte Bedarfe anders zu berechnen. dieser Koalition, dass sie ihrer sozialen Verantwortung (C) Selbst in den Reihen der SPD gab es zu diesem Vor- trotz der sehr schwierigen Haushaltslage und knapper schlag zustimmendes Kopfnicken. Finanzmittel gerecht wird. Deshalb ist dieser Gesetzent- wurf ausdrücklich zu loben. Im Regelsatz für Kinder sind anteilig 12 Euro für Zigaretten vorgesehen. Windeln, Spielsachen, Bücher (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und Buntstifte tauchen hier gar nicht auf. Nur ein Bei- Von vielen Seiten wurde kritisiert, es sei nicht richtig spiel für die lebensfremde Berechnungsweise dieses Re- gewesen, die Einkommens- und Verbrauchsstich- gelsatzes: Für ein Kind, dessen Eltern Sozialhilfe bezie- probe zur Grundlage des Regelsatzes zu machen. All hen, werden pro Jahr 52,80 Euro für den Kauf von diejenigen, die dies kritisiert haben, sind allerdings die Schuhen zur Verfügung gestellt. Liebe Mütter und Väter Antwort auf die Frage schuldig geblieben, auf welcher hier im Hause, wann waren Sie das letzte Mal mit Ihren Grundlage sie den Betrag ermittelt hätten, der für ein Le- Kindern Schuhe kaufen? Erklären Sie mir einmal, wie ben in hinreichend gesicherten Verhältnissen anzusetzen Sie von diesem Betrag Halbschuhe, Winterstiefel, San- ist. Ich bin der Meinung, der gewählte Ansatz, von dem dalen und Turnschuhe bezahlen wollen! Verbrauchsverhalten derer auszugehen, die die untersten (Beifall bei der LINKEN) 20 Prozent der Einkommensskala bilden, ist eine ver- nünftige Grundlage für die Festlegung des Regelsatzes. Hinzu kommt, dass Kinder auch noch die unangenehme Angewohnheit haben, zu wachsen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Zum Weltkindertag hat die Linke der Öffentlichkeit Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des die Eckpunkte einer Kindergrundsicherung vorge- Kollegen Kurth? stellt. Wir wollen den schrittweisen Einstieg in eine be- darfsorientierte und individuelle Kindergrundsicherung. Max Straubinger (CDU/CSU): Wo bleiben Ihre Antworten auf das drängende Problem der Kinderarmut in unserem reichen Land? Selbstverständlich.

(Beifall bei der LINKEN) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Angesichts der Ergebnisse der Studie der Friedrich- Vielen Dank, Herr Straubinger. Dass die Einkom- Ebert-Stiftung und aufgrund der aufgeregten Debatte mens- und Verbrauchsstichprobe, also das Verhalten der über zunehmende Armut und abgehängte Unterschichten untersten 20 Prozent der Einkommensskala, die Grund- empfehle ich Ihnen, diesen Antrag an die Ausschüsse lage des Verfahrens für die Berechnung des Regelsatzes zurückzuverweisen. Dort könnten wir nicht nur debattie- ist, wie es Herr Weiß betont hat, wird von niemandem in (B) (D) ren, sondern auch sofort gemeinsam handeln. Wer keine Zweifel gezogen. Aber Sie wissen auch, dass es bei die- Schulbücher finanziert und wer für 2,5 Millionen betrof- sen Werten Abschläge gibt, je nach Warengruppe. Was fene Kinder und Jugendliche keine armutsfeste Grund- kritisiert wird, ist, dass das Berechnungsverfahren nicht sicherung einführt, der sollte sich seine Empörung über transparent ist. Es wird nicht klar, warum zum Beispiel Motivationsprobleme und die so genannte Bildungsferne für Strom pauschal 85 Prozent des ermittelten Wertes ge- sparen. zahlt werden. Der Herr Staatsekretär hat im Ausschuss versucht, zu erklären, dass die Heizung anteilig berück- Danke schön. sichtigt wird. Es haben aber nicht alle eine elektrische (Beifall bei der LINKEN) Heizung. Wie will man das trennen? Die Begründung für die Abschläge ist nicht deutlich. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Würden Sie also bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir Nächster Redner ist der Kollege Max Straubinger, nicht die Grundlage kritisieren, sondern die Abschläge, CDU/CSU-Fraktion. die vorgenommen werden? Darauf gründet sich die Kri- tik. (Beifall bei der CDU/CSU)

Max Straubinger (CDU/CSU): Max Straubinger (CDU/CSU): Herr Kollege Kurth, ich glaube, dass die Bundes- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! regierung mit diesem transparenten und für jemanden, Wir verabschieden heute ein Gesetz, das für die Men- der sich damit beschäftigt hat, durchaus nachvollziehba- schen in Deutschland mehr soziale Sicherheit bedeutet. ren Verfahren letztlich eine gute Lösung gefunden hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Natürlich spielt der alte Warenkorb hier noch eine Rolle. Das ist beim Verbrauchsverhalten der Menschen sicher- Diese gute Botschaft richtet sich vor allem an die Men- lich feststellbar; das liegt auf der Hand. Aber ich bin schen, die sich nicht selbst helfen können, an diejenigen, überzeugt, dass die Grundlage vernünftig ist, Herr die nicht erwerbsfähig sind und deshalb unbedingt sozia- Kurth. ler Unterstützung bedürfen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Mit diesem Gesetzentwurf trägt die große Koalition dazu bei, den Unterschied zwischen Ost und West aufzu- Es ist wichtig, darzustellen, dass wir wegen unserer lösen; denn in Zukunft wird in ganz Deutschland ein ein- begrenzten Mittel keine zusätzlichen Leistungen erbrin- heitlicher Regelsatz gelten. Es ist eine große Leistung gen können, wie es die Oppositionsfraktionen – die 5608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Max Straubinger (A) Fraktion der Linken, aber auch, wenn auch nicht in Zah- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): (C) len dargelegt, die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Da heute offensicht- nen – gefordert haben. lich weder der Minister noch der Staatssekretär reden wollen und da weder Frau Hiller-Ohm noch Sie, Herr Ich möchte mich mit den Forderungen der Fraktion Straubinger, sich zu dem Brutto-Netto-Prinzip geäußert der Linken auseinander setzen. Sie fordern eine Anhe- haben, würde ich gerne die Frage an Sie richten – diese bung des Regelsatzes auf 420 Euro im Monat. Das muss ja jemand von der Koalition beantworten –, ob die würde den Bundeshaushalt jährlich mit zusätzlichen Rücknahme des Nettoprinzips, also dessen, dass behin- 10 Milliarden Euro belasten. Ich glaube, dass dies nicht derte Menschen in Zukunft erst einmal selbst bezahlen leistbar ist und eine starke Überforderung derer bedeu- müssen und anschließend beim Sozialamt fragen dürfen, tete, die die Leistungen zu erbringen haben. ob sie das Geld wiederbekommen, endgültig ist oder ob (Beifall des Abg. Wolfgang Meckelburg das eine taktische Maßnahme ist, die Sie in zwei, drei [CDU/CSU]) Monaten oder vielleicht in einem halben Jahr doch wie- der zurücknehmen. Bemerkenswert ist die Begründung der Linken, wa- rum der Regelsatz auf diesen Betrag angehoben werden Für die Menschen, die das betrifft, wäre es sehr wich- muss. Sie berufen sich in Ihrem Antrag auf den Paritäti- tig, zu wissen, dass es dabei bleibt und dass die Sachkos- schen Wohlfahrtsverband. ten aus einer Hand voll übernommen werden. Wenn es tatsächlich jemanden gibt, der etwas zuzahlen kann, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dann wird das zurückgefordert. Es kann aber nicht sein, Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des dass diejenigen, die ohnehin nichts haben – wir hören Kollegen Seifert? hier von Menschen, die nur 90 Euro im Monat haben und jetzt gnädigerweise wieder Weihnachtsgeld bekom- men; da kann man ja fast das Heulen kriegen –, in Vor- Max Straubinger (CDU/CSU): leistung gehen sollen. Nein, danke. – Demnach sollen zusätzliche Ausgaben für Mobilfunk und weitere Privat-PKW sowie Gesund- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wenn ei- heitsausgaben von Privatpatienten eingerechnet werden, nem nichts mehr zu kritisieren einfällt, dann aber auch wesentlich höhere Ausgaben für Tabakwaren stellt man eine solche Frage!) und Verpflegungsdienstleistungen sollen berücksichtigt Bleibt die Regelung so, wie sie jetzt ist, oder wird das, werden. Ich glaube, für eine gesunde Lebensführung ist was Sie vorhatten und zurückgezogen haben, weil der es eigentlich entscheidend, nicht zu rauchen. Dieser An- Protest aus dem Kreis der Betroffenen zu stark war, nach (B) satz des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ist meines kurzer Zeit wieder hervorgeholt? (D) Erachtens nicht gerechtfertigt. Vor allen Dingen ist diese Erhöhung nicht von der Allgemeinheit zu erbringen. Diese wichtige Frage für die Betroffenen hätte ich von Ihnen gerne beantwortet. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Vielen Dank, Frau Präsidentin. Der Kollege Hüppe wird noch auf die Veränderungen eingehen, die sich im Fortgang der Beratungen ergeben Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: haben, auf das Brutto- bzw. Nettoprinzip und die Weih- Herr Kollege Straubinger, zur Erwiderung, bitte. nachtsbeihilfe. Entscheidend ist, dass wir zum Bürokra- tieabbau beigetragen haben; das ist auch für die Länder Max Straubinger (CDU/CSU): wichtig. Der Kollege Rohde hat das hier bereits gewür- Frau Präsidentin! Herr Seifert, bei der CDU/CSU- digt. und bei der SPD-Bundesfraktion, die die Regierung un- terstützen, ist die Politik nicht auf Taktik angelegt, wie Für mich ist es auch sehr wichtig, dass wir die Darle- bei der Fraktion der Grünen. hensgewährung für Leistungsberechtigte durch den Ver- weis auf § 91 im SGB XII ausgeweitet haben. Das be- (Heiterkeit bei der SPD – Lachen beim deutet, dass den Menschen, die in Not geraten sind bzw. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sich in einer Notlage befinden und der sozialen Unter- – Entschuldigung, der Linken. – Wir betreiben eine be- stützung bedürfen, sehr schnell und sehr sachgerecht von ständige Politik. staatlicher Seite geholfen werden kann. Weil nachfolgend der Kollege Hüppe hier eine Rede In diesem Sinne kann ich Sie alle nur dazu aufrufen: hält und sich in seinen Ausführungen ausdrücklich mit Stimmen Sie diesem Gesetz heute in zweiter und dritter dem Brutto-Netto-Prinzip befassen wird, verweise ich Lesung zu. diesbezüglich auf den Kollegen Hüppe. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) neten der SPD)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Nun erteile ich dem Kollegen Markus Kurth, Fraktion Kollegen Seifert. des Bündnisses 90/Die Grünen, das Wort. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5609

(A) Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): stationär“ und „Hilfe aus einer Hand“ wirklich zum (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Durchbruch zu verhelfen. Herr Straubinger, die Fraktion des Bündnisses 90/Die (Jörg Rohde [FDP]: Das steht im Koalitions- Grünen fühlt sich sowohl taktisch als auch strategisch vertrag!) leistungsfähig. Das kann ich Ihnen versichern. Ich biete Ihnen dabei die Hilfe meiner Fraktion an. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist jetzt nicht nur rein taktisch, wenn ich die Rede (Zuruf des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ damit eröffne, dass ich sage, dass das vorliegende Gesetz CSU]) zur Änderung des Sozialhilferechts ein Gesetz ist, das im – Herr Brauksiepe, Sie brauchen gar nicht so abschätzig Laufe der Ausschussberatungen stark verbessert worden zu rufen. Es ist eine gute Tradition in diesem Hause ist. – auch deshalb habe ich Lob ausgesprochen –, dass in (Zuruf von der SPD: Ja, wunderbar! Das ist die Fragen der Politik für Menschen mit Behinderung über Aufgabe der Parlamentarier!) die Fraktionsgrenzen hinweg zusammengearbeitet wird. Das ist durchaus nicht selbstverständlich und das kann (Beifall der Abg. Silvia Schmidt [Eisleben] man ruhig einmal sagen. Das freut uns umso mehr, als [SPD] – Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Das Sie als Koalitionsfraktionen auch auf Bedenken einge- bleibt auch so!) gangen sind, die wir bereits bei der Einbringung des Ge- Es gibt hier keinen Grund zur Häme bei Zwischenrufen. setzes in einem begleitenden Antrag zum Ausdruck ge- bracht haben. Auch Sie wissen, dass die Bundesländer nicht lange mit neuen Vorstößen auf sich warten lassen werden, um Änderungen, wodurch der Gesetzentwurf besser ge- mit Salamitaktik zu Einschnitten bei der Eingliederungs- worden ist, sind die angesprochene Darlehensregelung hilfe zu kommen. Wir haben gesehen, welche Vor- für Personen, die nicht sofort zum Beispiel ihr Immobi- schläge von den Bundesländern im Rahmen dieses Ge- lienvermögen einsetzen können, sodass sie trotzdem in setzgebungsverfahren gemacht wurden. Weniger als den Genuss von Leistungen kommen, die Regelung zur jeder einzelne Kürzungsvorschlag der Länder – darüber Weihnachtsbeihilfe und natürlich – das ist ganz entschei- kann man reden; ich erkenne das Interesse der Kommu- dend und dazu möchte ich auch noch einige Sätze sagen – nen an, den Kostenanstieg bei der Eingliederungshilfe in die Beibehaltung des Bruttoprinzips in der Eingliede- Grenzen zu halten – verärgern mich bei den Vorschlägen rungshilfe. der Länder die Kurzsichtigkeit, der vordergründige Weiterhin ist nun die zügige Hilfegewährung in stati- Sparzwang und die mangelnde Bereitschaft, hier endlich (B) (D) onären und teilstationären Einrichtungen möglich. Die einmal nach einer grundlegend anderen Leistungsstruk- auf solche Hilfen angewiesenen Menschen werden nun tur zu suchen und andere Anreizstrukturen zu schaffen. nicht, wie ursprünglich geplant, mit der aufwendigen Ar- (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) beit belastet, ihre Einkommen und ihre Unterhaltsan- sprüche zusammenzustellen und diese Ansprüche vor al- Ich würde mir wünschen, dass wir die Diskussion, die len Dingen auch geltend zu machen. Diese Arbeit wir hier über dieses Gesetz führen, weiterhin führen und erledigen nun weiterhin die Sozialhilfeträger, die über wir zu einer anderen Reform bei der Eingliederungshilfe das nötige Fachpersonal verfügen. Wie aufwendig diese kommen. Arbeit ist, zeigt sich daran, dass allein im Bereich des Ich komme zum Schluss. Meine Fraktion und ich Landschaftsverbands Rheinland, dem größten überörtli- können wegen der bereits vielfach – auch heute Mittag – chen Sozialhilfeträger, mehr als 100 Mitarbeiterinnen erwähnten Fragen der Regelsatzbemessung und der Öff- und Mitarbeiter damit beschäftigt sind, dies zusammen- nungsklauseln im Bereich des Sozialhilferechtes dem zutragen. Es wäre also durchaus eine große Belastung, Gesetz nicht zustimmen. Abgesehen davon ist es ein wenn all das auf Menschen mit Behinderung übertragen ganz passables Gesetz. Ich hoffe, dass wir im Bereich worden wäre. der Behindertenpolitik später einen Schritt vorankom- Gleichwohl ist von Vertretern der großen Koalition men. auch im Ausschuss verkündet worden – wir haben es be- Danke schön. reits mehrfach gehört –, dass das Bruttoprinzip erneut zur Disposition steht. Angesichts dieser Ankündigung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN möchte ich die Kolleginnen und Kollegen von SPD und sowie des Abg. Jörg Rohde [FDP]) CDU/CSU nachdrücklich auffordern und ermuntern, sich endlich einmal grundsätzlich mit dem Recht der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Eingliederungshilfe auseinander zu setzen. Das Wort hat nun die Kollegin Silvia Schmidt, SPD- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das machen wir Fraktion. doch!) (Beifall bei der SPD) – Nein, das machen Sie bislang nicht. – Besser noch wäre, wenn Sie eine Reform der Eingliederungshilfe mit Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): einer Strukturreform beim Rehabilitationsrecht verbin- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen den würden, um endlich den Prinzipien „ambulant vor und Kollegen! Ich möchte nicht auf die Änderungsan- 5610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Silvia Schmidt (Eisleben) (A) träge der Opposition eingehen. Ich denke, mit diesem Aber wir können nicht die Augen davor verschließen, (C) Änderungsgesetz zum SGB XII haben wir etwas Her- dass das Nettoprinzip schon lange in der Altenhilfe und vorragendes geschaffen. Ich möchte wiederholen – Kol- in der Pflege Anwendung findet. Die behinderten Men- lege Straubinger hat es bereits gesagt –, was es Gutes mit schen, die außerhalb der Einrichtungen in den Gemein- sich bringt. Ich habe nämlich das Gefühl, durch die den in betreuten Wohnformen bzw. in eigenen Wohnun- Streitdiskussion gehen die guten Seiten unter. gen leben, kennen das Verfahren des Nettoprinzips genau. Das Nettoprinzip fördert die Selbstständigkeit. Die Menschen können sich freuen, besonders die Das wird niemand leugnen. Die Menschen haben ein Menschen in den neuen Bundesländern. Der einheitli- Recht auf Kostentransparenz. Auch das wird niemand che Sozialhilferegelsatz führt ja dazu, dass sich die Ein- leugnen. kommenssituation der betreffenden Personen in den neuen Bundesländern deutlich verbessert. Das ist ein- Ich kann aber auch die bereits erwähnten Befürchtun- fach gut. Man hört davon nur wenig. Vielleicht kommt gen der Einrichtungsbetreiber verstehen. Sie haben zum es in der einen oder anderen Partei nicht an. Beispiel nicht die Möglichkeit, Rentenansprüche zu pfänden. Aber wir werden alle Beteiligten in die Reform Wer bisher die Grundsicherung im Alter oder bei Er- mit einbeziehen. Denn wir alle wollen ein leistungsfähi- werbsminderung bezogen hat, musste Kürzungen in ges System der Eingliederungshilfe. Das steht im Koali- Kauf nehmen, wenn der Partner Zuschläge nach den Re- tionsvertrag und wird unsere Aufgabe für 2007 sein. gelungen des Arbeitslosengeldes II erhielt. Hierzu wird es nun nicht mehr kommen. Das heißt, diese Zuschläge Wir wollen verstärkt das Prinzip „ambulant vor statio- werden bei der Sozialhilfe nicht angerechnet. Es gibt när“ umsetzen. Auch das steht im Koalitionsvertrag. also deutlich mehr Geld für die Menschen. Das sollte Deshalb wird dieses Prinzip bei der Reform der Einglie- endlich einmal ankommen. derungshilfe maßgeblich sein. Das ist nicht nur der Standpunkt der Bundesregierung; es wird auch auf euro- Wir haben einige Anträge des Bundesrates gestoppt. päischer Ebene schon lange gefordert. Art. 26 der Charta Der Bundesrat wollte, dass nur die Eltern Kindergeld er- der Grundrechte der Europäischen Union fordert aus- halten, die mit ihren volljährigen behinderten Kindern drücklich die Integration behinderter Menschen. In zusammenwohnen. Das entspricht nicht dem steuerli- Art. 19 der UN-Konvention für die Rechte behinderter chen Familienlastenausgleich. Mit einem anderen An- Menschen vom 25. August wird gefordert, dass behin- trag wollte der Bundesrat bereits 2004 den Zusatzbarbe- derte Menschen leben sollen wie alle anderen Menschen trag für Heimbewohner abschaffen. Wir erinnern uns auch. Das ist ein Menschenrecht. noch an die Demos vor dem Brandenburger Tor; wir wa- Wir wollen die Bundesinitiative „Daheim statt ren dabei. Gemeinsam – auch daran möchte ich erinnern – (B) Heim!“ ins Leben rufen. Ich rufe Sie alle auf, mitzuma- (D) haben wir den Bestandsschutz durchgesetzt. chen. Denn wir wollen, dass behinderte Menschen auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) außerhalb von Einrichtungen leben können. Ich danke Ihnen. Auch der zweite Versuch des Bundesrates scheitert heute in diesem Haus. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ein weiterer Antrag des Bundesrates betraf die Erhö- hung des Barbetrags, allerdings nur als Pauschale. Das Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: hört sich zunächst gut an, aber bei der Pauschalierung Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kol- wird übersehen, dass die Kosten für Sehhilfen und die lege Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Zuzahlungen für nicht verschreibungspflichtige Medika- (Beifall bei der CDU/CSU) mente nicht mit einbezogen sind. Wir wollen den Barbetrag auf 27 Prozent erhöhen. Hubert Hüppe (CDU/CSU): Darin ist die Weihnachtsbeihilfe mit enthalten. Mein Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlau- Dank gilt in diesem Zusammenhang Gabriele Hiller- ben Sie mir eine Bemerkung vorweg, lieber Kollege Ohm, die besonders dafür gestritten hat. Kurth. Wenn Sie feststellen, dass wir möglicherweise Kürzungen vorhätten, dann darf ich daran erinnern, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Grünen in der letzten Legislaturperiode – übrigens der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE gegen die Stimmen der Union – der Abschaffung des GRÜNEN) Zusatzbarbetrags in Einrichtungen zugestimmt haben. Die Erhöhung des Barbetrags ist auch gut für die (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Heimbewohner in den neuen Bundesländern. Denn da- Ohne diese Maßnahme hätten die Betroffenen in den durch erhalten sie 27 Prozent von 345 Euro statt Einrichtungen heute einige Probleme weniger. 26 Prozent von 331 Euro. (Beifall bei der CDU/CSU) Das Bruttoprinzip, über das sehr viel gestritten wor- den ist, wird erhalten bleiben. Ich möchte als Behindertenbeauftragter meiner Frak- tion die beiden Punkte ansprechen, die Max Straubinger (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das wird Angst schon für meine Rede angekündigt hat. Das ist zum ei- verbreiten!) nen das Bruttoprinzip. Ich freue mich ausdrücklich da- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5611

Hubert Hüppe (A) rüber, dass dieses Prinzip in den Einrichtungen beibehal- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) ten wird. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Tagesordnungspunkt 13 a. Wir kommen zur Abstim- bei Abgeordneten der SPD) mung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zwölften Bu- Dies bedeutet – wir gehen immer davon aus, dass die ches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, Drucksa- Zuhörer wissen, wovon wir reden, aber vielleicht sollte chen 16/2711 und 16/2753. Der Ausschuss für Arbeit man das doch deutlich machen –, dass bei behinderten und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- Menschen, die in Einrichtungen leben, weiterhin zu- schlussempfehlung auf Drucksache 16/3005, den Ge- nächst der Sozialhilfeträger in Vorleistung tritt und er setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich erst zu einem späteren Zeitpunkt den Eigenanteil dieser bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- Menschen einfordert. schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ich begrüße zum anderen, dass wir uns auf die Erhö- Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist hung der Weihnachtsbeihilfe für die Heimbewohner ge- damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koaliti- einigt haben. onsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak- tionen angenommen. Bislang wurde sie freiwillig gezahlt, aber nicht von allen. In diesem Jahr haben wir einen einheitlichen Stan- Dritte Beratung dard von mindestens 36 Euro erreicht; das ist eine ganze und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Menge. Im nächsten Jahr wird es mehr sein, weil wir Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – diese Beihilfe zusätzlich zum monatlichen Barbetrag ge- Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf währen. Zukünftig wird es als Barbetrag statt 26 Prozent ist damit mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenom- vom allgemeinen Regelsatz in Höhe von 345 Euro men. 27 Prozent geben. Das ist ein Fortschritt. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache Wir sind für das Bruttoprinzip, weil damit der Grund- 16/3006. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? – satz der Leistungserbringung aus einer Hand bestehen Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- bleibt. Manche Befürworter des Nettoprinzips argu- antrag ist mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/ mentieren, man könne damit das Selbstbestimmungs- CSU und SPD sowie der Fraktion des Bündnisses 90/Die recht der Menschen mit Behinderung stärken und zudem Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und (B) gelte der Grundsatz „ambulant vor stationär“. Des Wei- Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. (D) teren wurde behauptet, dass der Eigenanteil mit dem per- sönlichen Budget der Menschen mit Behinderung ver- Tagesordnungspunkt 13 b. Wir setzen die Abstim- gleichbar sei. Das ist aber nicht der Fall; denn das mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses persönliche Budget bedeutet, dass ein Mensch mit Be- für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/3005 fort. hinderung einen Betrag bekommt, den er so ausgeben Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner kann, wie er es möchte; das wollen wir und die Regie- Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der rung. Das ist aber mit dem Nettoprinzip nicht vergleich- Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2743 mit dem Ti- bar; denn hier haben die Menschen mit Behinderung kei- tel „Für ein menschenwürdiges Existenzminimum“. Wer nen Einfluss auf die Höhe ihrer Einnahmen. Diese stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage- werden vielmehr von den Trägern der Sozialhilfe festge- gen? – Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfeh- legt. Wenn die Träger der Sozialhilfe und die kommuna- lung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der len Spitzenverbände in der Anhörung sagen, dass die FDP-Fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Einsparungen nicht so groß seien, und wenn wir sehen, Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange- dass die Bürokratie so zunimmt, dass Menschen mit Be- nommen. hinderung, insbesondere denjenigen mit so genannter geistiger Behinderung, die Teilhabe an der Gesellschaft Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab- eher unmöglich gemacht wird, dann glaube ich nicht, lehnung des Antrags der Fraktion des Bündnisses 90/Die dass dies in Zukunft angetastet wird. Ich jedenfalls hielte Grünen auf Drucksache 16/2750 mit dem Titel „Das es für nicht richtig. Existenzminimum sichern – Sozialhilferegelsätze neu berechnen und Sofortmaßnahmen für Kinder und Ju- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gendliche einleiten“. Wer stimmt für diese Beschluss- neten der SPD) empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Wir werden über die Eingliederungshilfe zu reden ha- Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen ben. Aber es bleibt dabei: Wir werden mit den Verbän- der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP ge- den und den Menschen mit Behinderung sprechen. Wir gen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die halten an dem im Jahr der Menschen mit Behinderung Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. entwickelten Grundsatz „Nichts über uns ohne uns“ fest. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Vielen Dank. Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Drucksache 16/2751 mit dem Titel „Die Eingliederungs- 5612 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) hilfe für Menschen mit Behinderungen weiterentwickeln Ich rufe Zusatzpunkt 10 auf: (C) – Das Bruttoprinzip in der Sozialhilfe beibehalten und Leistungen aus einer Hand für Menschen mit Behinde- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- rungen ermöglichen“. Wer stimmt für diese Beschluss- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – zu dem Protokoll vom 1. Juni 2006 zur Ände- Dann ist diese Beschlussempfehlung ebenfalls mit den rung des am 29. August 1989 unterzeichneten Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Abkommens zwischen der Bundesrepublik der Oppositionsfraktionen angenommen. Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteue- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 sowie den rung und zur Verhinderung der Steuerverkür- Zusatzpunkt 9 auf: zung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- kommen und vom Vermögen und einiger 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten anderer Steuern Christoph Waitz, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der – Drucksachen 16/2708, 16/2956 – Fraktion der FDP – Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Für einen zukunftsfähigen europäischen ausschusses (7. Ausschuss) Rechtsrahmen audiovisueller Mediendienste – Den Beratungsprozess der EU-Fernsehrichtli- – Drucksache 16/3012 – nie aktiv begleiten Berichterstattung: – Drucksache 16/2675 – Abgeordnete Manfred Kolbe Lothar Binding (Heidelberg) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Rechtsausschuss schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – Drucksache 16/3031 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje Berichterstattung: Bettin, Dr. Uschi Eid, Ekin Deligöz, weiterer Ab- Abgeordnete Otto Fricke geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Jochen-Konrad Fromme SES 90/DIE GRÜNEN Carsten Schneider (Erfurt) Michael Leutert (B) Für eine verbraucherfreundliche und Qualität Anja Hajduk (D) sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Me- diendienste Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe – Drucksache 16/2977 – dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Rechtsausschuss Lothar Binding von der SPD-Fraktion das Wort. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (Beifall bei der SPD) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Grindel, Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Wolfgang Börnsen, Christoph Pries, Jörg Tauss, Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! Christoph Waitz, Lothar Bisky und Grietje Bettin haben Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Eigent- ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Damit erübrigt sich lich müssten wir heute Abend gar nicht reden, weil das eine Aussprache. Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA vollstän- dig ausgehandelt ist und wir heute keine Möglichkeit ha- (Jörg Tauss [SPD]: Es sei denn, ihr wollt es ben, etwas zu ändern. Und doch wollen wir reden und hören! – Heiterkeit) seit ich heute in die „Frankfurter Rundschau“ geschaut – Ich höre dazu nichts, Herr Kollege Tauss. habe, Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen ( [CDU/CSU]: Mein Gott, was auf den Drucksachen 16/2675 und 16/2977 an die in der der alles liest!) Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. denke ich auch, dass es notwendig ist, zu reden; denn Die Vorlage auf der Drucksache 16/2675 zu Tages- mich hat etwas ziemlich geärgert. Es funktioniert nach ordnungspunkt 14 soll zusätzlich an den Ausschuss für folgendem Prinzip. Denken Sie an ein Kochrezept. Ich Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz über- gebe Ihnen jetzt einige Elemente: Steuerprivileg, wiesen werden. Sind Sie mit diesen Überweisungsvor- Schlupflöcher, USA, Vereinigte Arabische Emirate, Bun- schlägen einverstanden? – Das ist der Fall. Damit sind desregierung, Steueroase und Steinbrück. Der darf nicht die Überweisungen so beschlossen. fehlen. Dann kommt etwa Folgendes heraus: Steinbrück hat eine Aktiengesellschaft in Dubai mit einer Tochter in 1) Anlage 3 den USA und einem Enkelunternehmen in Deutschland Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5613

Lothar Binding (Heidelberg) (A) und nutzt ein Steuerprivileg, um 25 Millionen der Bun- (Beifall des Abg. [CDU/ (C) desregierung von der Lufthansa steuerfrei in Steueroasen CSU]) der Vereinigten Arabischen Emirate bringen zu lassen. Ungefähr so lautet die Botschaft, mit der wir es heute zu Aber diese Sonderstellung ist gar nicht so ausgeprägt. tun hatten. Wir befinden uns mit vielen anderen Ländern in einem Konkurrenzverhältnis und deshalb müssen wir uns an- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) strengen, unsere Steuerpolitik so auszugestalten, dass unsere Unternehmen mit Unternehmen anderer Länder, Der Kollege Schick meint dazu – das ist jetzt die Quint- in denen sie sich ansiedeln wollen, konkurrieren können. essenz –: Es könnte aber auch ein bisschen mehr sein. Dazu sage ich: Das ist nicht schick. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Ich verweise auf Folgendes: Japan, Großbritannien, CDU/CSU und der FDP) Holland, Mexiko, die skandinavischen Staaten und Aus- Ich will in diesem Zusammenhang noch eine Ablei- tralien haben die gleiche Regelung wie die USA, näm- tung darstellen. Diese Botschaft enthält etwas, wie ich lich den Verzicht auf eine zusätzliche Steuerbelastung im finde, sehr Falsches: Man kümmerte sich bei uns nicht internationalen Austauschverkehr. Von Steueroase ist um Steuerschlupflöcher; vielmehr – umgekehrt – eröff- also weit und breit keine Spur. Darum geht es heute auch nete man den Unternehmen einen Weg, ihre Gewinne in überhaupt nicht. Wir müssen sehen, dass der Anlass für Steueroasen zu transferieren. Das halte ich für grund- diese Reform, für dieses Doppelbesteuerungsabkom- falsch. Ich will selbst einige Beispiele nennen, die der men, eine in der EU seit 1992 geltende Regelung ist, Kollege Schick vielleicht nicht mehr so im Kopf hat, nämlich, keine Kapitalertragsteuern auf Ausschüttungen weil es vor seiner Zeit im Bundestag war. an Muttergesellschaften mehr zu erheben. Wir haben mit einer hohen Sensibilität versucht, Ver- Für die, die jetzt vielleicht nicht wissen, was ich lustzuweisungsmodelle zu vermeiden, und waren in meine – Gäste in diesem Saal könnte dies ebenfalls inte- vielen Fällen erfolgreich. ressieren –, will ich wenigstens kurz die Mechanik, um die es geht, erläutern. Wenn eine Muttergesellschaft in (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Deutschland einen Gewinn erzielt, dann zahlt sie darauf Ich will einfach einmal eine Liste anführen. Medien- Steuern, nämlich Körperschaftsteuern in Höhe von fonds: Der alte Weg ist verschlossen. Mehrkontenmo- 25 Prozent. Wenn sie durch ein Tochterunternehmen in dell: abgeschafft. Mehrmütterorganschaft: abgeschafft. den USA einen zusätzlichen Gewinn erzielt, dann muss das Tochterunternehmen in den USA ebenfalls Körper- (B) Wir haben einen Mindesthebesatz eingeführt. Wir haben (D) eine Mindestgewinnbesteuerung. Wir haben die Pflicht schaftsteuern zahlen, im Zweifelsfall 35 Prozent. So zur Bildung von Bewertungseinheiten in der Steuerbi- kommen nur 65 Prozent des in den USA erzielten Ge- lanz. Wir haben Aufzeichnungspflichten bei Verrech- winns in Deutschland an. Die Frage ist, ob man auf diese nungspreisen deutlich verbessert. Wir haben Sonderaus- 65 Prozent in Deutschland ebenfalls eine Kapitalertrag- gabenabzüge, zum Beispiel für die Steuerberatung, steuer oder eine Körperschaftsteuer erhebt. Unsere Ant- abgeschafft. Wir haben Beschränkungen bei der Verlust- wort lautet: Wir wollen das nicht; denn das wäre eine verrechnung eingeführt. All das zwingt die Unterneh- echte Doppelbelastung, die wir ausschließen wollen. Ich men, korrekt zu versteuern. könnte noch die Feinmechanik erklären. (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Gerne!) Die Botschaft, wir würden einen Weg in die falsche Meine Erläuterung war sehr grobschlächtig; aber immer- Richtung freimachen, ist wirklich sehr unehrlich. Die hin ist klar, dass wir eine Doppelbesteuerung vermeiden heutige Pressemitteilung hat mich daher sehr geärgert. wollen. Wir glauben, dass die Belastung durch eine zu- sätzliche Körperschaftsteuer nicht in Ordnung ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Uns alle! – Gegenruf von der Dieses Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA LINKEN: Nicht uns alle!) ist sehr gut, insbesondere weil es symmetrisch ist. Dieses Abkommen gilt nämlich nicht nur für Tochterfirmen Dass wir mit den USA eine ganz besondere Beziehung deutscher Unternehmen in den USA, sondern auch um- haben und dass sie mit der mit den Vereinigten Arabi- gekehrt. Aus Symmetriegründen glauben wir, dass es schen Emiraten, mit Dubai und mit vielen anderen nicht mit Blick auf die Konkurrenzfähigkeit unserer deutschen zu vergleichen ist, mögen nur ganz wenige Zahlen bele- Unternehmen klug ist, dieses Abkommen zu schließen. gen. Unser Export in die USA hat eine Größenordnung Wir versprechen uns davon auch eine deutliche Verbes- von etwa 70 Milliarden Euro, der Import aus den USA serung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen den USA hat eine Größenordnung von etwa 40 Milliarden Euro. und Deutschland. Ich glaube, dass wir damit auf dem Was die Direktinvestitionen angeht, investieren die richtigen Weg sind. Ich bitte Sie, diesem Abkommen zu- US-amerikanischen Unternehmen in Deutschland etwa zustimmen, mit dem Wissen, dass es vollständig und se- 80 Milliarden Euro, während deutsche Unternehmen in riös ausgehandelt wurde. den USA etwa 140 Milliarden Euro investieren. Ich glaube, jeder erkennt unschwer, dass das eine Sonderstel- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der lung ausmacht. FDP) 5614 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der FDP) (C) Das Wort hat nun der Kollege Carl-Ludwig Thiele für Zunächst wird übersehen, dass Steuern erst dann ent- die FDP-Fraktion. stehen können, wenn Investitionen getätigt werden und (Beifall bei der FDP) aufgrund der Investitionen Gewinne erzielt werden. (Beifall bei der FDP) Carl-Ludwig Thiele (FDP): Das musste einmal gesagt werden. Ich bedanke mich Liebe Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen sehr für den Beifall seitens der FDP-Fraktion. und Kollegen! Es macht immer Freude, im Bundestag vor einem fachkundigen Publikum zu diesem Thema (Beifall bei der FDP) sprechen zu dürfen. Da die Reihen nicht ganz gefüllt sind, sind im Wesentlichen Fachkundige anwesend. Deutschland hat ein originäres Interesse daran, dass deutsche Firmen auch in den Vereinigten Staaten inves- Die FDP-Fraktion begrüßt, dass heute das Doppelbe- tieren. Denn die dort anfallenden Erträge stehen den steuerungsabkommen zwischen der Bundesrepublik deutschen Firmen nach Steuern zur Verfügung und stär- Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika ken den Ertrag sowie die Wettbewerbsfähigkeit dieser vom Deutschen Bundestag die erforderliche Zustim- Firmen. mung erhalten wird. Insofern, Herr Kollege Binding, Im Gegenzug hat Deutschland ein großes Interesse stimme ich Ihren Ausführungen zu. daran, dass aus den Vereinigten Staaten in Deutschland (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) investiert wird. Jede Investition schafft Arbeitsplätze, jede Investition schafft Beschäftigung. Insofern freue ich Das derzeit gültige Doppelbesteuerungsabkommen mich, dass die Mehrheit im Deutschen Bundestag mit stammt noch aus der Zeit vor der deutschen Einheit. Es der Zustimmung zu diesem Doppelbesteuerungsabkom- ist nämlich am 29. August 1989 geschlossen worden. men der Aufforderung des Bundespräsidenten Horst Zwischenzeitlich sind viele Rechtsänderungen eingetre- Köhler nachkommt: Mit diesem Besteuerungsabkom- ten, die eine Änderung dieses Doppelbesteuerungsab- men schaffen wir weitere Voraussetzungen dafür, dass kommens erforderlich machen. Insbesondere in der zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland entstehen Frage der Besteuerung von Alterseinkünften wurden in können und die bestehenden Arbeitsplätze in Deutsch- den letzten Jahren Eingaben von deutschen Bürgern, die land sicherer sein werden. in Amerika leben, an den Deutschen Bundestag gerich- tet. Es ist gut, dass auch diese Probleme mit dem Dop- (Beifall bei der FDP) (B) pelbesteuerungsabkommen nicht nur angesprochen, son- Zu einem Punkt, nämlich zur Absenkung der Quel- (D) dern überwiegend auch gelöst werden. lensteuer in Höhe von 5 Prozent auf Null, muss man (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der feststellen, dass sich einiges geändert hat. Die Vereinig- SPD) ten Staaten haben inzwischen mit wichtigen Handels- partnern, mit Großbritannien, mit den Niederlanden, den Die Vereinigten Staaten sind für Deutschland der skandinavischen Staaten, aber auch mit Mexiko, Japan wichtigste Handelspartner außerhalb der Europäi- und Australien, Nullsätze vereinbart. Innerhalb der schen Union. Sie sind Hauptanlageland für deutsche In- Europäischen Union gilt das ohnehin. Wenn Deutsch- vestitionen. Umgekehrt sind die Vereinigten Staaten der land an dieser Stelle nicht ebenso handelt, läuft Deutsch- bedeutendste ausländische Investor in Deutschland. Die land Gefahr, dass Investitionen amerikanischer Unter- Direktinvestitionen der USA betrugen Ende 2003 rund nehmen nicht in Deutschland, sondern in anderen 80 Milliarden Euro, die Direktinvestitionen Deutsch- Ländern getätigt werden. Das wäre zum Schaden lands in den USA betrugen zu dieser Zeit 140 Milliarden Deutschlands. Diesen Schaden wollen wir auch als FDP- Euro. Fraktion vermeiden. Bezüglich des Handels ist festzustellen, dass Deutsch- (Beifall bei der FDP) land aus den USA in einer Größenordnung von Wir wollen, dass die Amerikaner in Deutschland inves- 40 Milliarden Euro pro Jahr importiert. Vor allem aber ist wichtig, dass Deutschland in die USA in einer Grö- tieren. ßenordnung von 70 Milliarden Euro exportiert, und das Als FDP haben wir uns immer zu einer kritisch-kon- Jahr für Jahr. Dies schafft und sichert Arbeitsplätze in struktiven Oppositionsrolle bekannt. Bei der Ablehnung Deutschland. Wir wollen, dass weiterhin Arbeitsplätze dieses Doppelbesteuerungsabkommens durch die Links- in Deutschland entstehen und gesichert werden. partei und die Grünen kann der Eindruck einer latenten amerikafeindlichen Handlung entstehen. Das wollen wir (Beifall bei der FDP) nicht. Wir bekennen uns zu der Partnerschaft mit Ame- Insofern – erlauben Sie mir, dies zu sagen, da Herr rika und deshalb stimmen wir als FDP dem Doppelbe- Schick von den Grünen noch sprechen wird – habe ich steuerungsabkommen auch zu. überhaupt kein Verständnis dafür, dass seitens der Links- Herzlichen Dank. partei und der Grünen ausschließlich verkürzt fiskalisch argumentiert wird. Eine solche Sichtweise greift wirk- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der lich viel zu kurz. SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5615

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wirklich geben wird und dass sie nicht zwischen die (C) Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gerhard Schick von Mühlen zweier Staaten geraten. Ich finde auch die Rege- der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. lung über die Alterseinkünfte richtig; es wurde auf neue Entwicklungen Bezug genommen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir haben aber auch drei Kritikpunkte. Der erste NEN): Kritikpunkt ist, dass es tatsächlich zu Steuerausfällen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kommt. In einer Situation, in der wir die Mehrwertsteuer möchte als Erstes die Suppe, die Herr Binding gerührt anheben und den Bürgern andere Belastungen zumuten, hat, aufklaren. Es geht um drei unterschiedliche Abkom- müssen wir Steuerausfälle immer besonders genau be- men, die ich immer klar getrennt habe. Sie zusammenzu- leuchten. Ich finde, das ist berechtigt und kann nicht als rühren, ergibt keinen Sinn. „verkürzt fiskalisch“ abgetan werden. Es ging zum einen um die Verlängerung des Doppel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) besteuerungsabkommens mit den Vereinigten Arabi- schen Emiraten. Dieses Abkommen stellt insofern eine Der zweite Kritikpunkt ist ein wirtschaftspolitischer. Ausnahme dar, als aufgrund der Kombination der Tatsa- Wenn wir auf die Quellenbesteuerung bei der Kapitaler- che, dass es in den Vereinigten Arabischen Emiraten mit tragsbesteuerung verzichten, dann hat das eine Auswir- der Ausnahme der Besteuerung bei Öl- und Gasförde- kung auf das Ausschüttungsverhalten von Unternehmen. rungen keine Einkommen- und Körperschaftsteuer gibt, Außerdem geht es – insofern muss man der Analyse von mit der Anwendung der Freistellungsmethode Gewinne Herrn Binding noch etwas hinzufügen – nicht nur um aus Dubai und anderen Orten der Emirate praktisch steu- das, was US-Töchter in Deutschland tun. Sie wissen ja, erfrei nach Deutschland transferiert werden können. wie das Netz aus Doppelbesteuerungsabkommen wirkt. Dieses Abkommen zu verlängern, halten wir für falsch. Es wirkt als Netz, in dem das, was in Deutschland statt- Denn das Abkommen stellt einen wichtigen Baustein ei- findet, häufig genutzt wird, um über andere Länder Ge- nes schiefen und unfairen Steuerwettbewerbs dar, den winne günstig in die USA zu transferieren. wir beklagen. Ich glaube daher, dass man die Existenz Der zentrale Punkt, der uns dazu gebracht hat, es ab- eines solchen Abkommens durchaus kritisieren kann. zulehnen, ist folgender: Wir sollten bei dem multilate- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ralen Ansatz auf Basis des OECD-Musterabkommens bleiben. Die bilateralen Verhandlungen, die die USA in Bei dem Abkommen mit dem Jemen geht es um et- den letzten Jahren geführt haben – ich komme damit was anderes. Es bezog sich nur auf Luftfahrtgesellschaf- zum Schluss –, halten wir nicht für den richtigen Ansatz, ten und es hatte anders als sonstige Abkommen keine (B) weil es gerade in diesem Netz von Doppelbesteuerungs- (D) kurze Rückwirkung von zwei oder drei Jahren, sondern abkommen extrem wichtig ist, dass die OECD-Staaten eine 24-jährige Rückwirkung. Von der Bundesregierung zusammenhalten, um das Treaty-Shopping, das von eini- ist uns gesagt worden, dass das spezifisch für deutsche gen Steueroasen ganz gezielt genutzt wird, gemeinsam im Jemen tätige Luftfahrtunternehmen gilt. Dass diese unterbinden zu können. Die OECD hat dazu vieles vor- extreme Form der Rückwirkung eine Sonderbehandlung geschlagen. Es wäre falsch, dies nun durch bilaterale und damit ein Privileg ist, werden auch Sie, Herr Abkommen zu unterlaufen. Die multilateralen Abkom- Binding, nicht abstreiten wollen. Das und nichts anderes men sind unseres Erachtens die einzig sinnvolle Vorge- habe ich angesprochen. hensweise gegen das, was wir als unfairen, schiefen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Steuerwettbewerb bezeichnen würden. Kommen wir nun zu dem Abkommen, um das es Danke schön. heute geht, zum Abkommen mit den Vereinigten Staa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten von Amerika. Ich stimme Ihnen zu: Das ist das wichtigste Abkommen für Deutschland; denn die USA sind unser wichtigster Handelspartner. Gerade weil das Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Abkommen so wichtig ist, schauen wir es uns ganz ge- Der Kollege Dr. Axel Troost von der Fraktion Die 1) nau an; das hat nichts mit Amerikafeindlichkeit zu tun. Linke hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Wir argumentieren auch nicht nur „verkürzt fiska- Damit hat als nächster Redner das Wort der Kollege lisch“. Ich möchte Ihnen sagen, was aus unserer Sicht Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion. die Plus- und Minuspunkte sind. Ich finde es insofern (Beifall bei der CDU/CSU) ein gutes Abkommen, als mit der Switch-Over-Klausel die Möglichkeit zum Übergang zum Anrechnungsver- Manfred Kolbe (CDU/CSU): fahren offen gehalten ist. Das ist sinnvoll und das begrü- ßen wir ausdrücklich. Wir begrüßen auch ausdrücklich Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren das obligatorische Schiedsverfahren, das behandelt wor- Kollegen! Es ist gut, dass wir dieses Doppelbesteue- den ist. Das ist eine gute Klausel, weil sie Rechtssicher- rungsabkommen mit den USA heute einmal im Plenum heit auch dann ermöglicht, wenn bei Anpassungen von des Deutschen Bundestages debattieren. Dabei ist schon Transfer-Pricing-Verfahren ein Abgleich notwendig ist. der Begriff Doppelbesteuerungsabkommen irreführend. Für die Unternehmen ist es wichtig, dass sie sich darauf verlassen können, dass es das Schiedsverfahren auch 1) Anlage 4 5616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Manfred Kolbe (A) Es geht ja nicht um eine doppelte Besteuerung; es geht Zweitens. Wenn die deutschen Unternehmen im (C) um die Vermeidung der Doppelbesteuerung. Wir in Schnitt stärker entlastet werden als die amerikanischen, Deutschland sind Exportweltmeister. Wir müssen ein dann spiegelt sich das auch beim Fiskus wider. Ich ver- besonderes Interesse daran haben, dass bei internationa- mute einmal, dass der amerikanische Fiskus durch die ler Wirtschaftstätigkeit eine Doppelbesteuerung entfällt, Nullbesteuerung höhere Einbußen hat als der deutsche Herr Schick, und zwar im Hinblick auf unsere Arbeits- Fiskus. Das ist dann zumindest kein Schritt zum Nach- plätze. Deshalb haben wir immer ein prinzipielles Inte- teil der Bundesrepublik Deutschland. resse an Doppelbesteuerungsabkommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Drittens. Ihre Argumentation ist auch falsch, was das Anrechnungsverfahren betrifft. Sie sagen, das deutsche Das Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA ist Steuersubstrat werde dadurch geschädigt, dass es beim wahrscheinlich das wichtigste, das wir als Bundesrepu- Doppelbesteuerungsverfahren einen unterschiedlichen blik Deutschland schließen, da die USA – das ist schon verschiedentlich gesagt worden – unser wichtigster Han- Mechanismus gibt: Wir haben das Freistellungsverfah- delspartner außerhalb der EU sind und wir für die USA ren, die USA haben das Anrechnungsverfahren. Das ist der wichtigste Handelspartner in Europa sind. Die ame- schlicht und ergreifend in diesem Fall nicht zutreffend. rikanischen Direktinvestitionen in Deutschland betrugen Es ist zwar richtig, die USA benutzen das Anrechnungs- bis Ende 2003 81 Milliarden Euro, unsere Direktinvesti- verfahren dafür, das irgendwo erzielte Welteinkommen tionen in den USA 140 Milliarden Euro. von US-Gesellschaften eventuell auf amerikanisches Niveau hochzuschleusen. Nur, in diesem Fall gibt es Unmittelbarer Anlass für die Änderung des Doppel- überhaupt nichts mehr hochzuschleusen. Die deutsche besteuerungsabkommens war die von Ihnen kritisierte Körperschaftsteuer liegt bei 25 Prozent, die deutsche Dividendenbesteuerung, Herr Kollege Schick. Auf Divi- Gewerbesteuer bei 14 Prozent, das sind zusammen denden, die Tochtergesellschaften an Muttergesellschaf- schon 39 Prozent; hinzu kommen noch 3,75 Prozent ten ausschütten, wird beiderseits des Atlantiks nach dem durch die Dividendenbesteuerung. Das liegt über dem alten Doppelbesteuerungsabkommen eine Kapitalertrag- höchsten Körperschaftsteuerniveau von 35 Prozent in steuer in Höhe von 5 Prozent gezahlt. Dazu kommt noch den USA. Das deutsche Steuersubstrat ist also nicht ge- die Körperschaftsteuer in den USA – bis zu 34 Prozent schädigt. Ihre Argumentation geht da wirklich völlig in für die deutsche Tochter dort – oder für die amerikani- die Irre. Wir von der CDU/CSU können nicht nachvoll- sche Tochter hier Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer ziehen, dass Sie aus diesem Grunde das Doppelbesteue- in Höhe von bis zu 39 Prozent. Dies führt zu Mehrbelas- rungsabkommen ablehnen. (B) tungen dieser Tochtergesellschaften etwa gegenüber in- (D) ländischen Gesellschaften. Das ist mir auch deshalb unbegreiflich, weil dieses Doppelbesteuerungsabkommen natürlich noch eine Diesen Wettbewerbsnachteil deutscher Tochterge- ganze Reihe weiterer Maßnahmen enthält, die im Inte- sellschaften in den USA und amerikanischer Tochterge- resse des gegenseitigen Austauschs und im Interesse der sellschaften in Deutschland wollen wir abbauen. Das ist gegenseitigen Wirtschaftsbeziehungen dringend notwen- nicht amerikanischer Unilateralismus, den Sie hier ir- dig sind. Ich nenne hierzu abschließend drei Punkte. gendwie wahrzunehmen scheinen; das ist seit 1992 in- nerhalb der EU Usus. So verfahren wir mit allen unseren Erstens. Durch die zunehmende internationale Ver- europäischen Nachbarländern. So verfahren auch die flechtung – die wir begrüßen – kommt es zu einer ver- USA mit einer Reihe ausgewählter Handelspartner. Es mehrten Entsendung deutscher Arbeitnehmer. Wir wis- ist gut, dass wir als Bundesrepublik Deutschland es ge- sen, dass heute die Altersversorgung nicht mehr allein schafft haben, in diesen Kreis zu kommen. staatlicherseits geleistet werden kann; wir setzen auch (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ auf eine betriebliche Altersversorgung. Diese betriebli- CSU]) che Altersversorgung wird in Deutschland steuerlich un- terstützt und gefördert. Das war bisher aber nicht im Dieser Nullsatz für deutsche Töchter in den USA Ausland möglich. Ein deutscher Arbeitnehmer, der fünf liegt gerade im deutschen Interesse, Herr Schick. Sie ha- Jahre in den USA verbringt, kann den Aufbau seiner ben sich das vielleicht genau angeschaut, aber dann eben deutschen Altersversorgung dort nicht steuerlich geltend nicht genau genug. Ich sage Ihnen jetzt einmal drei machen. Das wird jetzt anders. Ich halte das für einen Gründe, die dafür sprechen, dass Sie es sich nicht genau ganz großen Erfolg im Interesse des wechselseitigen genug angeschaut haben: Austauschs. Erstens. Die deutschen Direktinvestitionen in den (Beifall bei der CDU/CSU) USA – rund 140 Milliarden Euro – sind fast doppelt so hoch wie die amerikanischen Direktinvestitionen in Zweitens: Das obligatorische Schiedsverfahren. Die Deutschland. Wir haben dort mehr Töchter, als die Ame- USA tun sich manchmal ein bisschen schwer, sich obli- rikaner hier haben. Die Nullbesteuerung liegt also eher gatorischen Schiedsverfahren zu unterwerfen. Hier ist im Interesse Deutschlands als im Interesse der USA. So das gelungen. haben wir als Bundesrepublik Deutschland mit vielen ausländischen Direktinvestitionen generell ein Interesse (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- an der Nullbesteuerung. NEN]: Das habe ich auch begrüßt!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5617

Manfred Kolbe (A) – Sie haben das auch gewürdigt, aber ich verstehe dann Ich habe aber nicht verstanden, warum Sie das (C) nicht, wie Sie das Doppelbesteuerungsverfahren ableh- Schiedsverfahren kritisiert haben. nen können. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE Drittens nenne ich einen Punkt, der uns in den nächs- GRÜNEN]: Ich habe es gelobt!) ten Jahren hin und wieder Sorge machen wird: Das ist die Besteuerung der Alterseinkünfte. Nach dem ge- – Kritik ist immer Lob und Tadel. In diesem Falle haben genwärtigen DBA besteuert – abgesehen von den Pen- Sie das Schiedsverfahren gelobt. sionen des öffentlichen Dienstes – der Wohnsitzstaat die Sie haben den Nullsatz für Altersvorsorgeeinrichtun- Alterseinkünfte. Das ist ein Problem für Länder wie die gen bei den Vertragsstaaten und für Kapitalanlagen in Bundesrepublik Deutschland, da zahlreiche deutsche dem jeweils anderen Staat gelobt. Sie haben außerdem Ruheständler die Vorschriften zur Bekämpfung des Abkommensmiss- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Mallorca lässt brauchs gelobt. Gleichwohl sagen Sie, Sie lehnen das grüßen!) Abkommen mit den USA ab. Das habe ich nicht verstan- den. Ich glaube, die wenigstens von uns können dies – Mallorca lässt grüßen, Florida auch – ihren Lebens- nachvollziehen. Herr Kolbe hat es vorhin versucht. Das abend woanders verbringen. Es gibt 130 000 deutsche muss sicherlich im Nachgang noch einmal erläutert wer- Rentenempfänger, die ihren Lebensabend in den USA den. verbringen. Umgekehrt tun das nur 30 000 US-Amerika- ner in Deutschland. Wir haben also ein Interesse an einer (Beifall bei der SPD) anderen Regelung. Die USA haben jetzt akzeptiert, dass in gewissen Grenzen das Besteuerungsrecht bei Alters- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: einkünften auf den Quellenstaat übergeht, der ja wäh- Ich schließe nun die Aussprache. rend des Erwerbslebens dies steuerlich gefördert hat. Das ist in einer gemeinsamen Erklärung zum Doppelbe- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- steuerungsabkommen festgehalten worden. Wegen der desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung langen Übergangsfristen im Alterseinkünftegesetz wird des Abkommens mit den Vereinigten Staaten von Ame- hier eine Regelung nicht vor 2015 in Kraft treten; das rika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Ver- muss sie aber auch nicht. 2013 treten wir dazu in Ver- hinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der handlung. Ich glaube, auch das ist ein großer Erfolg. Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und einiger anderer Steuern. Das sind die Drucksachen 16/2708 und Alles in allem, Frau Staatssekretärin Hendricks, kann 16/2956. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache man den Verhandlungsführern zu diesem Ergebnis gratu- (B) 16/3012, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte dieje- (D) lieren. Es verbessert die Wettbewerbssituation deutscher nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Tochterunternehmen in den USA und verschlechtert kei- Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Damit nesfalls die Lage des deutschen Fiskus. Die Ausführun- ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen gen, in denen dies behauptet wurde, habe ich nicht nach- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP- vollziehen können. Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnis- Die CDU/CSU begrüßt deshalb das Doppelbesteue- ses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die rungsabkommen mit den USA und wird ihm hier zustim- Linke. men. Dritte Beratung Danke schön. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – bei Abgeordneten der FDP) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- wurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis an- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: genommen. Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun das Wort Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf: der Kollege Lothar Binding. Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Er war doch Hirsch, Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saar- schon der erste Redner!) brücken), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der LINKEN Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Ich wollte noch eine kurze Bemerkung machen. Die Neuregelung des Hochschulzugangs und der Rede des Kollegen Schick klang schon sehr viel fairer Hochschulabschlüsse als Impuls zur Hoch- als die Botschaften, die in dem entsprechenden Artikel schulöffnung und Qualitätsentwicklung nut- in einer ganz speziellen Weise zusammengemixt wur- zen den. In der Rede wurde eine getrennte Betrachtung vor- – Drucksache 16/2796 – genommen. Denn das DBA mit den Vereinigten Arabi- schen Emiraten und das DBA mit dem Jemen, über die Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und man sicher reden kann, sind etwas ganz anderes als das Technikfolgenabschätzung (f) DBA mit den USA. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 5618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 16/2509 an die in der Tagesordnung aufge- (C) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe dazu kei- Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Ernst Dieter nen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so be- Rossmann, Anette Hübinger, Uwe Barth, Cornelia schlossen. Hirsch und Kai Gehring haben ihre Reden zu Protokoll Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 19: gegeben.1) Damit entfällt die Aussprache. Interfraktio- nell wird die Überweisung der Vorlage auf Druck- Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ sache 16/2796 an die in der Tagesordnung aufgeführten CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- SES 90/DIE GRÜNEN den? – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die Über- Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenpro- weisung so beschlossen. dukte Wir kommen damit zum Tagesordnungspunkt 17: – Drucksache 16/2755 – Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Peter Jahr, zung der Regelungen über die Mitbestimmung Dr. Wilhelm Priesmeier, Hans-Michael Goldmann, Eva der Arbeitnehmer bei einer Verschmelzung Bulling-Schröter und Cornelia Behm haben ihre Reden 4) von Kapitalgesellschaften aus verschiedenen zu Protokoll gegeben. Damit gibt es keine Aussprache. Mitgliedstaaten Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des – Drucksache 16/2922 – Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2755 mit Überweisungsvorschlag: dem Titel „Einfuhr- und Handelsverbot für Robbenpro- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) dukte“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt da- Rechtsausschuss gegen? – Enthaltungen? – Dann ist dieser Antrag mit den Finanzausschuss Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Die Kolleginnen und Kollegen Michael Hennrich, Anette Kramme, Heinz-Peter Haustein, Werner Dreibus, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie den Matthias Berninger und der Parlamentarische Zusatzpunkt 11 auf: Staatssekretär Gerd Andres haben ihre Reden zu Pro- 20 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst tokoll gegeben.2) Damit können wir auf die Aussprache Friedrich (Bayreuth), Jan Mücke, Patrick Döring, verzichten. Interfraktionell wird die Überweisung des weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/2922 an die in der (B) Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Umfassenden Feldversuch über die Vor- und (D) Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Nachteile von 60-Tonnen-Lkw starten Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. – Drucksache 16/2683 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Pothmer, Priska Hinz (Herborn), Markus Kurth, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit für Hettlich, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Ausbildung, Qualifizierung und Progressiv- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Modell verwenden BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/2509 – Keine 60-Tonnen-Lkw auf deutschen Straßen Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/2990 – Ausschuss fürArbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die Kolleginnen und Kollegen Peter Rauen, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Wolfgang Grotthaus, Dirk Niebel, Kornelia Möller, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Brigitte Pothmer und der Parlamentarische FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre dazu keinen Staatssekretär Gerd Andres haben ihre Reden zu Pro- Widerspruch, dann ist das so beschlossen. tokoll gegeben.3) Damit findet keine Aussprache statt. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Patrick Döring von der FDP-Fraktion das Wort. (Beifall bei der FDP) 1) Anlage 5 2) Anlage 6 3) Anlage 7 4) Anlage 8 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5619

(A) Patrick Döring (FDP): von anderen europäischen Nachbarn, die diese LKW (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! längst einsetzen und auch über deutsche Straßen fahren. Zu dieser späten Stunde reden wir heute das Plenum leer. Ich persönlich kann überhaupt nicht begreifen – und (Jörg Tauss [SPD]: Das war eine Drohung!) ich bin dankbar, dass der Kollege Beckmeyer da ist, denn er hat sich dazu mehrfach öffentlich geäußert –, – Ja, Herr Tauss, das war eine Drohung. Sie können sich aber auch, wie die meisten Ihrer Kollegen, anderen Din- ( [SPD]: Ja, Gott sei Dank!) gen widmen. wie man dagegen sein kann, dass wir jetzt erst einmal er- (Zuruf von der FDP: Das wollen wir aber mitteln, wo man diese Art von LKW einsetzen kann und nicht!) ob es tatsächlich zu Schäden kommt oder nicht. In den letzten Tagen haben wir in Deutschland eine (Jörg Tauss [SPD]: Wir wissen doch, dass das interessante Diskussion zum Thema 60-Tonner erlebt. Unfug ist!) Da gibt es zum einen die Bundesregierung, die dem Land Niedersachsen bezüglich des laufenden Feldver- – Nein, Sie wissen das eben auch nicht, Herr Tauss! suches vorwirft, dieser Feldversuch sei rechtswidrig. Im Wir erleben, dass diese Verkehre seit vielen Wochen Gegenzug teilt uns der Wissenschaftliche Dienst des auf den drei Strecken in Niedersachsen und in Nord- Deutschen Bundestages mit, dass die Rechtsauffassung rhein-Westfalen hervorragend funktionieren, dass es we- des Bundesverkehrsministeriums nicht zutreffend sei der zu Schäden baulicher Art und nicht der Rechtslage entspreche. (Jörg Tauss [SPD]: In drei Wochen!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist sehr be- achtlich!) noch zu Verkehrsunfällen mit diesen Fahrzeugen kommt, sondern dass schlicht und einfach die Anzahl Zum anderen wird jetzt auch in Baden-Württemberg ein von Fahrten und der CO2-Ausstoß verringert wird, weil Feldversuch zu diesem Thema durchgeführt. diese Fahrzeuge mehr Ladung mitnehmen können. (Zuruf von der FDP: Man kann es doch einmal (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Das versuchen! – Winfried Hermann [BÜND- macht die Autobahnen kaputt!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider!) Das ist doch der Zweck der Übung. – Ja, Herr Hermann, das ist auch eine ordentliche Regie- rung! (Zuruf von der FDP: Genau!) (B) Gleichzeitig schreibt aber das Bundesverkehrsminis- Wir alle wissen, dass der Güterverkehr in unserem Land (D) terium in seiner Begründung, der Feldversuch in Nieder- insgesamt zunehmen wird. sachsen sei deshalb nicht zu befürworten, weil die teil- nehmenden drei Speditionen, unter anderem die Firma Ich bin überhaupt nicht dagegen, dass diejenigen, die Boll aus Meppen, und die drei Referenzstrecken, auf de- hier gleich wieder streng schienengläubig argumentieren nen das stattfindet, nicht repräsentativ seien. Zwei Fra- werden, sagen: Es müssen mehr Güter auf die Schiene. gen später wird uns dann mitgeteilt, einen umfassenden Das wird mit Sicherheit passieren. Dafür kämpfen wir an Feldversuch, wie ihn die FDP einfordert, soll es auch anderer Stelle gemeinsam. Güter werden aber auch ver- nicht geben, weil die Bundesregierung schon weiß, was mehrt auf der Straße transportiert werden. Wenn wir es dabei rauskommt. schaffen können, auf bestimmten Strecken mit bestimm- ten Fahrzeugen mehr Güter mit weniger CO2-Ausstoß (Jörg Tauss [SPD]: Ihr wollt die Autobahnen von A nach B zu transportieren, dann ist das – so glaube kaputtmachen!) ich – der Mühe eines Feldversuchs wert. Eins von beiden kann nur stimmen, liebe Kolleginnen (Beifall bei der FDP – Uwe Beckmeyer [SPD]: und Kollegen. Wir sind dafür, dass wir uns erst einmal Wie viele Anhänger wollen Sie denn? Zwei eine Meinung bilden. oder drei? Können es auch vier sein?) (Beifall bei der FDP) Vonseiten des Deutschen Städtetages gab es zahlrei- Die Grünen haben dankenswerterweise und erwar- che Bemerkungen, warum das alles nicht geht. Dazu tungsgemäß ihren Antrag eingebracht und kann ich als jemand, der lange Jahre kommunalpolitisch tätig war, sagen: Die lehnen etwas ab, was keiner fordert. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Niemand will, dass diese Fahrzeuge in Innenstädte fah- NEN]: Klartext gesprochen!) ren. Niemand will, dass diese Fahrzeuge an irgendwel- gesagt: Das darf es auf deutschen Straßen niemals ge- chen Stadteinfall- oder Stadtausfallstraßen stehen und ben, das ist alles des Teufels. weder wenden noch nach links oder rechts abbiegen können. Auch die beteiligten Speditionen wollen das (Zuruf von der FDP: Alles auf die Schiene! – nicht. Die Firma Boll teilt das ausdrücklich mit. Jörg Tauss [SPD]: Da haben sie auch wieder Recht!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das findet allerdings jeden Tag statt, und zwar nicht Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der von deutschen Spediteuren, sondern – wie Sie wissen – Kollegin Bulling-Schröter? 5620 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Patrick Döring (FDP): (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: (C) Ja. Wenn ich dicker werde, ist das auch noch keine Innovation!) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Danke schön. – Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: habe ich eine ganz kurze Frage: Wären Sie bereit, die Der Kollege Hubert Deittert von der CDU/CSU-Frak- 1) Straße, in der Sie wohnen, als Teststrecke einzubezie- tion hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Damit hat als hen? nächste Rednerin die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, SPD-Fraktion, das Wort. Patrick Döring (FDP): (Beifall bei der SPD) Verehrte Frau Kollegin Bulling-Schröter, niemand will – das sagte ich gerade bereits –, dass Innenstadt- Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): straßen von diesen Fahrzeugen befahren werden. Es Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen geht um den Transport von Logistikzentrum zu Logistik- und Herren! Wir reden heute über extra lange und extra zentrum, von Industriegebiet zu Industriegebiet. Wenn schwere LKWs. Die Bezeichnungen für diese Art neuer Sie sich zum Beispiel die Strecke von Emden zum VW- Nutzfahrzeuge reichen von „Monstertrucks“ bis zu Werk in Hannover, das in meinem Wahlkreis liegt, an- „Eco-Kombis“. schauen, dann stellen Sie fest, dass der Transport aus- schließlich auf der Autobahn stattfindet. Da ich nicht an (Jörg Tauss [SPD]: Guidos Funmobil!) einer Autobahn wohne, stellt sich diese Frage für mich Diese beiden Namen verdeutlichen die Bandbreite der nicht. Befürchtungen und Verheißungen, die mit dem Einsatz (Iris Gleicke [SPD]: Bei Ihnen geht die Auto- von 60-Tonnen-LKWs verbunden sind. Auf der einen bahn von einer Garage direkt zur nächsten!) Seite stehen die Risiken für die Verkehrssicherheit und die Verkehrsinfrastruktur, auf der anderen Seite Aspekte Selbst diejenigen, die diese LKWs wollen, sagen: des Umweltschutzes. Dieser Verkehr findet auf Bundesstraßen und Autobah- (Patrick Döring [FDP]: Der Bundeshaushalt ist nen und nicht in Innenstädten statt. Darüber sind sich ein größeres Risiko für die Verkehrsinfrastruk- diejenigen, die diesen Feldversuch fordern, einig. Ich tur!) kann nicht begreifen, dass man sich dagegen wehrt, zu- sätzliche Erkenntnisse zu gewinnen. Wenn ein PKW-Fahrer auf der Autobahn einen (B) 60-Tonner überholt, muss er an 25,25 Meter vorbei. Der (D) (Iris Gleicke [SPD]: Dieser Feldversuch sucht Überholvorgang dauert entsprechend länger. Unsicher uns alle Jahre wieder heim!) und langsam fahrende Fahrer würde die unerwartet lange Einige Mitglieder des Verkehrsausschusses hatten die Dauer irritieren. große Freude, ein Land, das zugegebenermaßen weniger (Lachen bei der FDP – Patrick Döring [FDP]: dicht besiedelt ist als die Bundesrepublik Deutschland, Das glauben Sie doch selbst nicht!) zu besichtigen. – Herr Döring, nicht alle fahren Porsche. – Was passiert, (Jörg Tauss [SPD]: Australien?) wenn 60 Tonnen auf andere Autos auffahren, kann man Dort haben sie sich auch Informationen über 50 Meter sich lebhaft vorstellen. Ob Leitplanken ein derartiges lange LKW, die 166 Tonnen schwer sind, geben lassen. Gewicht auffangen könnten, ist ungewiss. Welche Aus- wirkungen das Befahren von Brücken mit so genannten (Jörg Tauss [SPD]: Wo war das denn?) Gigalinern auf Zustand und Stabilität hat, ist noch lange nicht untersucht. Keines dieser Modelle wird in Deutschland jemals ein- geführt. Darüber sind wir uns völlig einig, lieber Kollege (Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Beckmeyer. Deswegen wollen wir einen Feldversuch ma- chen!) (Beifall bei der FDP – Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wehret den Dass die Autobahnauffahrten und Kreisverkehre umge- Anfängen!) baut werden müssten, damit die XXL-Trucks überhaupt um die Kurve kommen, ist sehr wahrscheinlich. Dass man aber versucht, eine technische Innovation, eine Antwort auf die vermehrten Gütertransporte in un- (Jörg Tauss [SPD]: Baustellen!) serem Land von vornherein abzuwürgen, indem man flä- Im Bereich Verkehrssicherheit hat man gerade erst chendeckende Feldversuche ablehnt, ist aus meiner Sicht versucht, die große Zahl an Opfern unter den Radfahrern völlig unbegreiflich. Deshalb werben wir, auch in der durch den toten Winkel der LKWs – wir haben diese Ausschussberatung, dafür, dass wir zumindest auf den Woche im Ausschuss darüber gesprochen – durch eine dafür infrage kommenden Strecken einen Feldversuch verbesserte Spiegeltechnik zu verringern. durchführen.

Herzlichen Dank. 1) Anlage 9 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5621

Rita Schwarzelühr-Sutter (A) (Patrick Döring [FDP]: Wie viele Radfahrer alle Verkehrsträger zusammen ein leistungsfähiges und (C) fahren auf der Autobahn?) modernes Gesamtverkehrssystem bilden. Mit noch größerer Abmessung der Fahrzeuge droht die- (Jan Mücke [FDP]: Schön wäre es!) ser Sicherheitsgewinn wieder verloren zu gehen. Investitionen im Schienenverkehr sind bedroht, wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ aus der Branche berichtet wird. Schon heute führt das DIE GRÜNEN) Vorpreschen der niedersächsischen Landesregierung zur Verschiebung von Investitionsentscheidungen beim Viele Fragen zum Einsatz von 60-Tonnen-LKWs sind kombinierten Verkehr, weil bei einer Nutzungsdauer der offen. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Eisenbahnwaggons von mindestens 15 Jahren durch die Stadtentwicklung hat mehrere Untersuchungsaufträge jetzt entstandene Planungsunsicherheit keine verläss- zu diesem Thema an die Bundesanstalt für Straßenwesen lichen Geschäftsprognosen mehr möglich sind. Der Aus- erteilt. bau der LKW-Verladung auf die Schiene kommt also ins In einem ersten Schritt wurden bislang die straßen- Stocken. Da aber Einigkeit in der Verkehrspolitik be- und fahrzeugseitigen Auswirkungen dieser Fahrzeug- steht, das deutsche Straßennetz nicht noch weiter mit konzepte, welche durch die neue Geometrie in sicher- LKWs zu belasten, muss dieser Irrweg beendet werden. heits- und verkehrstechnischer Hinsicht zu erwarten sind, (Patrick Döring [FDP]: Deshalb ist es sinnvoll, aufgezeigt und analysiert. Ebenso werden die Auswir- mehr Ladung auf den LKW zu bringen!) kungen einer möglichen Erhöhung des Gesamtgewichts auf 60 Tonnen geprüft. Ein Argument, das für die Einführung der Gigaliner an- geführt wird, ist die Wachstumsprognose für den Güter- In einem zweiten Schritt werden die möglichen Verän- verkehr. Der Güter- und übrigens auch der Personenver- derungen bei der Verteilung der Güterverkehre – hören kehr sollen in den nächsten 15 Jahren um 45 bis Sie gut zu, Herr Döring – sowie die möglichen Auswir- 60 Prozent zunehmen. Um diese Perspektive zu bewäl- kungen auf den kombinierten Verkehr ermittelt. tigen, bedarf es kreativer Lösungen, Dass bei der Zulassung neuer Fahrzeugtypen das ver- (Jörg Tauss [SPD]: 120-Tonner würde die FDP kehrspolitische Ziel „Mehr Güter auf die Schiene“ – ich sagen!) habe immer gedacht, dass wir uns da einig sind – die die Effizienz jedes Verkehrsträgers stärken. (Patrick Döring [FDP]: Sind wir uns auch!) Aber eine grundsätzliche Offenheit für Innovationen nicht aus den Augen gelassen werden darf, ist wohl (B) im Nutzfahrzeugbereich bedeutet nicht, dass die Prüfung (D) selbstverständlich. der Auswirkungen und Risiken nicht in gebotener (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gründlichkeit durchgeführt wird. Das Bundesverkehrs- ministerium hat diesen Prüfauftrag angenommen und Der Einsatz von Gigalinern führt aber genau zum Ge- wird die Ergebnisse, sobald sie vorliegen, an den Bun- genteil, nämlich zu mehr Gütern auf der Straße. destag weiterleiten. (Patrick Döring [FDP]: Eben nicht!) Nach Ansicht des Bundesverbandes des Deutschen Die Firma Kombiverkehr hat ein Gutachten in Auftrag Groß- und Außenhandels ist es falsch, dass der Bund den gegeben, das die Auswirkungen des Fahrzeugkonzepts bundesweiten Test nur aufgrund haltloser Ängste ablehnt. von Gigaliner-LKWs auf den kombinierten Verkehr Der Euro-Kombi sei in den Niederlanden, Schweden und untersuchen sollte. Finnland sicher. Der Praxistest werde zeigen, dass er auch in Deutschland sicher sei, meint Gerhard Riemann, Vorsitzender des BGA-Verkehrsausschusses. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des (Patrick Döring [FDP]: Recht hat er!) Kollegen Döring? – Hören Sie gut zu. Erfahrungen mit Gigalinern gibt es in Schweden und Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Finnland. Nein, es ist schon so spät. (Patrick Döring [FDP]: Und in den Niederlan- Die Gutachter kommen zu dem Ergebnis, dass 56 Pro- den!) zent des derzeitigen Transportaufkommens in Höhe von etwa 50 Millionen Tonnen im kombinierten Verkehr in In diesen beiden skandinavischen Ländern dürfen Nutz- Deutschland durch einen Gigalinereinsatz gefährdet wä- fahrzeugkombinationen, welche mit 16,50 Metern bei ren. Dies bedeutet ein Rückverlagerungspotenzial von Sattelschleppern und 18,75 Metern bei Gliederzügen die 1,3 Millionen LKW-Fahrten auf das Fernstraßennetz. europäischen Längenbegrenzungen überschreiten, bereits Der kombinierte Verkehr Schiene/Straße hätte mit La- seit längerem ohne Sondergenehmigungen auf öffent- dungsrückgängen von über einem Drittel zu rechnen. lichen Straßen bewegt werden. Das zulässige Zuggesamt- Moderne Verkehrspolitik umfasst alle Arten von Ver- gewicht darf nicht höher als 60 Tonnen sein. Bedingung kehrsträgern: Straßen, Schienenwege, Wasserwege und ist, dass diese Fahrzeugkombinationen mit speziellen Si- den Luftverkehr. Ziel der Bundesregierung ist es, dass cherheitstechniken wie ABS ausgerüstet sind. 5622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Rita Schwarzelühr-Sutter (A) Der Deutsche Städtetag vertritt meiner Meinung nach Dass die Länder Baden-Württemberg und Nieder- (C) zu Recht die Ansicht, dass die in diesen Ländern ge- sachsen unter dem Druck der Wirtschaft Sondergeneh- machten Erfahrungen allein aufgrund der geografischen migungen erteilt haben, halte ich für verantwortungslos. Gegebenheiten überhaupt nicht auf Deutschland über- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tragbar sind. Ebenso teile ich seine Auffassung, dass deutsche Städte völlig anders als US-amerikanische DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Auf Basis Städte, in denen auch Riesentrucks Durchfahrt finden, gängiger Rechtslage!) aufgebaut und strukturiert sind. (Jörg Tauss [SPD]: Alaska Highway!) Das Bundesverkehrsministerium hat die Länder aufge- fordert, bereits erteilte rechtswidrige Ausnahmegeneh- – Genau. migungen zurückzunehmen. (Jan Mücke [FDP]: Was ist denn mit den hol- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ländischen Städten?) DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Sie Die Spitze der Längengigantomiebewegung sitzt sind eben nicht rechtswidrig!) wohl in Australien. Die gemeinsame Konferenz der Leiter der Abteilun- (Patrick Döring [FDP]: Aber es will doch nie- gen für Straßenbau und Verkehr sowie die Verkehrs- mand mit diesen Fahrzeugen in der Stadt fah- ministerkonferenz haben beschlossen, dass, bevor diese ren! – Jörg Tauss [SPD]: Herr Döring würde Fahrzeugkombinationen zugelassen werden, die gegen- bei seiner Begeisterung damit doch sogar zur wärtig laufenden Untersuchungen abgewartet werden. Disco fahren!) Die nächste Verkehrsministerkonferenz findet im No- vember dieses Jahres statt. Dass auch in den Niederlanden im Rahmen eines Groß- versuchs mit 300 Fahrzeugen Gigaliner getestet werden, Die FDP-Fraktion hat die sofortige Durchführung eines bundesweiten Feldversuchs über die Vor- und Nachteile (Patrick Döring [FDP]: Genau! Dort findet das von 60-Tonnen-LKWs gefordert. Allerdings ist schon nämlich schon statt!) bald mit einem neuen Antrag von Ihnen zu rechnen. sieht die Europäische Kommission mit Skepsis. Nachdem Sie sich für ein Sonderprogramm „Kommunale Brückenbauwerke“ eingesetzt haben, werden Sie sicher- (Patrick Döring [FDP]: Sie waren wohl lange lich auch noch ein Bundesprogramm mit folgendem Titel nicht mehr im Emsland, Frau Kollegin! Dort fordern: „Alle Brücken Deutschlands umbauen, damit fahren sie nämlich auch herum!) der Gigaliner darüber brettern kann.“ Die Frage, wie ein (B) (D) Auch die EU-Kommission hat erkennen lassen, dass sie Vorhaben finanziert werden kann, stellt sich die FDP- dem niederländischen Wunsch nach einer Öffnung des Fraktion sowieso nicht. grenzüberschreitenden Verkehrs für Fahrzeuge mit ei- Der Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen wiederum nem zulässigen Gesamtgewicht von bis zu 60 Tonnen trieft vor lauter Innovationsskeptizismus. nicht nachkommen will. (Lachen des Abg. Winfried Hermann [BÜND- (Patrick Döring [FDP]: Die Holländer fahren doch NIS 90/DIE GRÜNEN]) in Deutschland mit diesen Autos herum!) Wieso warten wir nicht die Ergebnisse der in Auftrag ge- Angeblich freut sich die Transportwirtschaft schon, gebenen Gutachten ab durch die Umstellung auf 60-Tonnen-LKWs Mautkosten zu sparen. Es wäre ja wohl der totale Hohn, wenn sich die (Jan Mücke [FDP]: Aber Sie wissen doch Transportunternehmen durch den Einsatz von Fahrzeu- schon alles! – Patrick Döring [FDP]: Wieso? gen, die unsere Infrastruktur in stärkerem Maße belasten, Sie wissen doch schon, dass Sie dagegen teilweise vor der Nutzerfinanzierung der Autobahnen drü- sind!) cken könnten. und wägen dann auf wissenschaftlicher Basis die Vor- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem und Nachteile ab, bevor wir eine totale Nichtzulassung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beschließen oder gleich eine deutschlandweite Versuchs- phase einläuten? Die entsprechende gesetzliche Regelung wäre in logi- scher Konsequenz schnell zu ändern. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Mit einem Nutzfahrzeug mit einer Länge von Frau Kollegin, ich muss Sie auf Ihre Redezeit auf- 25,25 Metern und einem Gewicht von 60 Tonnen würde merksam machen. man gegenüber einem 40-Tonnen-Nutzfahrzeug 15 Pro- zent Kraftstoff und Emissionen pro Tonnenkilometer Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): sparen – so die Berechnungen. Ich bin sofort fertig. (Patrick Döring [FDP]: Sehr richtig!) Meine Damen und Herren von der Opposition, ich Dieser erfreuliche Umweltaspekt wäre allerdings dem sage nur eines: Sie haben schnell geschossen, aber nicht vom Kombiverkehr prognostizierten Rückverlagerungs- getroffen. Wenn ich die Ergebnisse der BASt-Studien in potenzial von der Schiene auf die Straße gegenzurechnen. den Händen halte, diskutiere ich gerne mit Ihnen weiter. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5623

Rita Schwarzelühr-Sutter (A) Danke. sen-Anhalt gilt jede fünfte Brücke als zu schwach für (C) diese 60-Tonner. (Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Sie mögen die Theorie, wir die Praxis!) Auch mir ist bekannt, dass diese langen Lastzüge in Finnland und Schweden mit Erfolg verkehren. Wir ken- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nen auch die Roadtrains aus Australien. Aber diese dünn Das Wort hat nun die Kollegin Dorothée Menzner für besiedelten Länder kann man nicht mit dem dicht besie- die Fraktion Die Linke. delten Mitteleuropa vergleichen. (Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: (Patrick Döring [FDP]: Die Niederlande sind Oh! Jetzt wird es ja noch schlimmer!) nicht dicht besiedelt?) Wir haben keine endlosen, einsamen Landstraßen in Dorothée Menzner (DIE LINKE): wüstenhaften Gegenden, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle- (Patrick Döring [FDP]: Wie viele Wüsten gibt ginnen und Kollegen! Mit dem Einsatz von 60-Tonnen- es in den Niederlanden?) Gigalinern soll der Wahnsinn wohl endgültig Vorfahrt erhalten. in denen kaum eine Menschenseele wohnt. (Beifall bei der LINKEN) (Patrick Döring [FDP]: Abenteuerlich!) Gleich zu Beginn sage ich: Die Linke im Bundestag Uns fehlt es auch nicht an Schienensträngen. Im Gegen- lehnt den Vorschlag der FDP, einen Feldversuch mit sol- teil, wir haben ein engmaschiges Eisenbahnnetz. Und chen LKWs durchzuführen, ab. das Ziel der Bahnreform, für die wir alle uns immer wie- (Zuruf von der CDU/CSU: Das überrascht uns der ausgesprochen haben, war es, mehr Güter auf die aber!) Schiene zu verlagern. Mit Ihrem Vorschlag verfolgen Sie nicht etwa das (Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Ziel, überlastete Bundesfernstraßen zu entlasten. Es geht Das eine tun, das andere nicht lassen!) darum, Tulpen aus Amsterdam oder Zitronen aus Spa- Im letzten Jahr schafften es die Bahnen, nien zu transportieren. Diese Transporte, die auf unseren 95 Milliarden Tonnenkilometer auf die Schiene zu brin- Autobahnen schon heute für endlose LKW-Schlangen gen. Die Straße erreichte kaum mehr das Dreifache: verantwortlich sind, sollen billiger werden. 310 Milliarden Tonnenkilometer. Wollen wir diese ers- ten, zaghaften Erfolge jetzt konterkarieren? (B) (Patrick Döring [FDP]: Nein! Dann wären (D) doch weniger Fahrzeuge unterwegs!) Nicht umsonst wird erwähnt, dass die 60-Tonner we- Es ist ziemlich egal, ob man 120 Tonnen in drei LKWs à niger Sprit verbrauchen. Doch dies rechtfertigt keine 40 Tonnen oder in zwei LKWs à 60 Tonnen verteilt. schön klingenden Namen wie „Eco-Kombi“ oder „Öko- laster“. Denn ökologisch sind diese Monster-LKWs (Jan Mücke [FDP]: Doch! Das macht einen nicht. Sie passen nämlich nicht auf unsere Straßen. Diese Unterschied!) 60-Tonner sind große Sattelschlepper mit Anhänger; das Summa summarum ist kaum ein Meter weniger Fahr- muss man sich bildlich vorstellen. zeug auf dem Asphalt. (Patrick Döring [FDP]: Ich habe sie schon live Aber diese Monster von 25 Metern Länge werfen eine gesehen!) Menge Probleme auf: Sie schlagen vor, dass diese Lastzüge nur bis an die (Patrick Döring [FDP]: 15 Prozent weniger Stadtgrenzen fahren und die Anhänger separat in die Stadt gebracht werden. Ein zweiter Fahrer wird also nur CO2 pro Fahrzeug! Ihr seid einfach technik- feindliche Dickschädel!) in der Stadt gebraucht, während auf der Autobahn ein Fahrer genügt. Wie fühlen Sie sich als Autofahrer, wenn Sie sich in ei- ner Ausfahrt zwischen zwei solche LKWs quetschen (Patrick Döring [FDP]: Woraus schließen Sie müssen? Wie wollen Sie so ein langes Gefährt gefahrlos das?) überholen, erst recht, wenn Sie ein nicht ganz so schnel- Die 60-Tonner sollen also die Personalkosten senken. les Auto fahren? Was passiert, wenn ein solcher LKW in Ich sage: Sie sollen Arbeitsplätze vernichten. enge Stadtstraßen abbiegen muss, um vielleicht zu dem Gewerbegebiet zu gelangen, wo er hin muss? (Lachen bei Abgeordneten der FDP) (Patrick Döring [FDP]: Das will doch keiner!) Die Nutzfahrzeugindustrie ist im Übrigen auch nicht begeistert: Sie befürchtet, weniger Zugmaschinen abzu- Wie will der Lenker Radfahrer oder Kinder im Blick be- setzen, sie befürchtet, sehr viel differenziertere Fahr- halten, wenn schon ein Erwachsener im Rückspiegel ei- zeuge anbieten zu müssen, und, nicht zuletzt, Arbeits- nes normalen LKW kaum auszumachen ist? Nicht zu- plätze abbauen zu müssen. letzt sind die Parkplätze auf unseren Raststätten nicht auf 25-Meter-Gespanne ausgelegt; gar nicht zu reden von Kolleginnen und Kollegen, unsere Entscheidungen den 37 000 Brücken in unserem Land. Allein in Sach- müssen nachhaltig sein, nicht nur ökologisch, sondern 5624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

Dorothée Menzner (A) auch sozial. Deswegen sagen wir klar Nein zu diesen (Patrick Döring [FDP]: Argumentieren Sie (C) LKWs. doch einmal ökologisch!) Danke. dass als Folge davon deutlich mehr Verkehr auf die Straße kam, wodurch der Schienenverkehr, der in der (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Summe deutlich ökologischer ist, geschwächt wurde. Patrick Döring [FDP]: Sie haben Ihren Text- Nun sagen Sie, dass das doch ein ökologisches Argu- baustein „Hartz IV muss weg!“ vergessen!) ment ist. Dem will ich mich gerne stellen. Es ist schon interessant – das will ich Ihnen jetzt nicht unterstellen –, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wenn ausgerechnet Leute aus der Automobilindustrie, Nun hat das Wort der Kollege Winfried Hermann, denen die Ökologie gemeinhin sozusagen irgendwo vor- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. beigeht, plötzlich ökologisch argumentieren. Dann wer- den wir natürlich hellhörig. Es ist einfach eine Rosstäu- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ scherei, zu behaupten, durch die Umstellung auf größere DIE GRÜNEN) Trucks würde die Belastung um 50 Prozent verringert. Auf dieses Ergebnis kommt man nur, wenn man ganz Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): einfach rechnet. Wenn am Schluss in der Summe aber Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich be- mehr LKWs fahren und weniger Verkehr auf die Schiene danke mich dafür, dass ich heute das Schlusswort be- geleitet wird, dann ist die gesamtökologische Bilanz na- komme. türlich erheblich schlechter. Ich freue mich, dass es heute eine neue Allianz gibt, (Patrick Döring [FDP]: Sie werden doch so- eine Allianz wieso fahren! Schauen Sie sich die Statistik an!) (Patrick Döring [FDP]: Gegen den Turbokapi- talismus!) Das wird durch Ihre einfache und billige Ökologierech- nung nicht deutlich und damit blenden Sie sich selber. gegen die Gigaliner, gegen die Monstertrucks auf der Straße. Die FDP sagt: Lasst uns einen umfassenden (Patrick Döring [FDP]: Die Zuwächse finden Feldversuch machen! Denen, die sagen, das brauchen doch statt!) wir nicht, hält sie vor, nicht offen zu sein. Aber eigent- lich sind auch Sie schon festgelegt; das haben Sie deut- Sie merken nicht, dass dies eigentlich ein neues Pro- (B) lich gemacht. Nichts gegen Versuche, aber wenn die Fol- dukt ist, um die Fahrt zur nächsten Fabrik zu verbilligen. (D) gen bestimmter Maßnahmen schon offenkundig sind, Das bedeutet im Wesentlichen kein Einsparen von CO2- dann kann man sich den Versuch sparen. Emissionen, sondern nur von Kosten, was zu einer Bes- serstellung des LKW-Verkehrs im Vergleich zum Schie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nenverkehr führt. Wir befürchten, dass es letztendlich Einige Folgen dieser Monstertrucks liegen so offenkun- darum geht. Das ist der große Schaden. dig auf der Hand, Die anderen Probleme, die angesprochen worden (Zurufe von der FDP: Umweltschutz! – Weni- sind, will ich nur noch einmal kurz erwähnen, weil die ger CO2-Emissionen!) Rednerinnen und Redner vor mir das auch schon deut- lich gesagt haben. Man kann jetzt natürlich sagen, dass dass man keine langen Versuche machen muss. Interes- man mit den langen LKWs gar nicht in die Städte und sant ist ferner, wer solche Versuche machen will und wo Zentren hinein will. Dahin werden sie auch nie kommen. sie gemacht werden: Daimler hat in Stuttgart sein neues Natürlich werden sie aber auch nicht nur auf wenigen Produkt Gigaliner einführt für den Verkehr zwischen Autobahnen fahren, sondern man wird die Industriege- zwei Werken, auf einer Strecke, die mit Schienen be- biete einschließen. So kommen dann nach und nach dient werden kann, zum Transport von Material, das sich mehr Städte, die diese LKWs auch zulassen wollen. originär für den Schienentransport eignet. Da wird doch klar, worum es geht: Dieser Versuch ist kein offener Ver- Schließlich wird der Effekt erzielt, dass der Nutzen such, sondern es geht darum, den ersten Schritt zu unter- weniger Transporteure, die mit größeren LKWs kosten- nehmen, ein neues Produkt am Markt anzubringen. günstiger transportieren können, von der Allgemeinheit zu bezahlen ist, indem anschließend die Brücken nach- (Widerspruch bei der FDP) gebaut, die Kreisverkehre vergrößert und die Straßen Das ist der Grund, weshalb wir sagen: Nein, wir wollen deutlich häufiger saniert werden müssen. Ich sage: Hier keine Monstertrucks auf deutschen Autobahnen. wird privater Nutzen am Schluss durch die Allgemein- heit bezahlt. Es gibt inzwischen auch längst Versuche dazu. Bei der Einführung des 40-Tonners gab es in der Schweiz Ich komme zum Schluss, weil die Lampe am Pult eine sehr genaue Untersuchung, in der nachgewiesen leuchtet: Wir sind klar und eindeutig gegen die Einfüh- wurde – auch hier hätte man übrigens sehr ökologisch rung dieser Monstertrucks. Das wird zulasten der argumentieren und sagen können, dass man durch die Schiene und letztlich auch zulasten der Umwelt gehen. Erhöhung von 28 auf 40 Tonnen einige LKWs einspart –, Die Argumente, die Sie bringen, sind pseudoökologisch. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5625

Winfried Hermann (A) (Patrick Döring [FDP]: Die Versuche in Ba- Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsge- (C) den-Württemberg und Niedersachsen werden setzes das Gegenteil beweisen!) – Drucksache 16/1171 – Ich sage Ihnen eines: Wir Grüne sind für deutlich mehr Überweisungsvorschlag: und längere Lastzüge, aber bitte schön auf der Schiene. Rechtsausschuss (f) Ausschuss fürFamilie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Gesundheit sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe KEN – Patrick Döring [FDP]: Am besten per Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Jürgen Gehb, Gesetz!) Dr. Carl-Christian Dressel, Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, Ulla Jelpke und Volker Beck haben Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Damit verzichten wir Ich schließe die Aussprache. auf die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/1171 an die in der Tages- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind auf den Drucksachen 16/2683 und 16/2990 an die in der Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Dann ist auch diese Überweisung so beschlossen. Die Vorlage auf Drucksache 16/2683 zu Tagesordnungs- punkt 20 soll zusätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Aus- Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Kopp, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann, überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sehe, das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Doha-Runde wieder beleben – WTO-General- Wir kommen damit zum Zusatzpunkt 12: direktor als Schlichter einsetzen Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 16/2658 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Überweisungsvorschlag: Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) bei innergemeinschaftlichen Verstößen Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und – Drucksache 16/2930 – Verbraucherschutz Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (B) Überweisungsvorschlag: Entwicklung (D) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Verbraucherschutz (f) Innenausschuss Die Kolleginnen und Kollegen Erich Fritz, Dr. Ditmar Rechtsausschuss Staffelt, Gudrun Kopp, Ulla Lötzer und Margareta Wolf haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) Interfrak- Die Kolleginnen und Kollegen Julia Klöckner, Elvira tionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksa- Drobinski-Weiß, Hans-Michael Goldmann, Dr. Kirsten che 16/2658 an die in der Tagesordnung aufgeführten Tackmann und Ulrike Höfken haben ihre Reden zu Pro- Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- tokoll gegeben.1) Damit erübrigt sich eine Aussprache. den? – Ich sehe, das ist der Fall. Damit sind die Über- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- weisungen so beschlossen. wurfs auf Drucksache 16/2930 an die in der Tagesord- Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Fall. Dann ist das so beschlossen. destages auf morgen, Freitag, den 20. Oktober 2006, 9 Uhr, ein. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21 auf: Ich wünsche Ihnen einen schönen restlichen Abend. Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Markus Kurth, Britta Haßelmann, Die Sitzung ist geschlossen. weiterer Abgeordneter und der Fraktion des (Schluss: 22.56 Uhr) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN

2) Anlage 11 1) Anlage 10 3) Anlage 12

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5627

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 klarstellen. Die anders lautende Regelung des AGG ist gegenüber den EU-Richtlinien nachrangig. Verstößt eine Liste der entschuldigten Abgeordneten Regelung des Kündigungsschutzgesetzes beispielsweise gegen die Richtlinien, ist sie unanwendbar. Mit dem Ur- teil vom 11. Juli 2006 hat der EuGH festgestellt, dass die entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Antidiskriminierungsvorschriften zwingend auf nationa- les Kündigungsrecht anzuwenden sind. Bierwirth, Petra SPD 19.10.2006 Zweitens. Der vorliegende Gesetzentwurf befasst sich nicht mit der Fristenregelung. Die bestehende Fristen- Fischbach, Ingrid CDU/CSU 19.10.2006 regelung muss dringend geändert werden. Nach dem Wortlaut des AGG muss der Beschäftigte seine Ansprü- Friedhoff, Paul K. FDP 19.10.2006 che auf Schadensersatz innerhalb von zwei Monaten nach Zugang der Ablehnung der Bewerbung bzw. nach Gröhe, Hermann CDU/CSU 19.10.2006 Kenntnis von der Diskriminierung schriftlich geltend machen (§ 15 Abs. 4 AGG). Tarifliche Ausschlussfristen Dr. Kofler, Bärbel SPD 19.10.2006 sind einzuhalten (§ 15 Abs. 4 Satz l AGG). Anschlie- ßend hat der Benachteiligte drei Monate Zeit bis zur Kla- Müller-Sönksen, FDP 19.10.2006 geerhebung (§ 61 b ArbGG). Burkhardt Die Zweimonatsfrist verstößt gegen EU-Vorgaben, da Nitzsche, Henry CDU/CSU 19.10.2006 sie die bisherige Regelung bei Diskriminierung wegen des Geschlechts, § 611 a Abs. 4 BGB, verschlechtert. Dr. Reimann, Carola SPD 19.10.2006 Dies verstößt gegen das EU-Verbot, den bislang bereits erreichten Schutzstandard vor Diskriminierung durch die Rupprecht SPD * 19.10.2006 Neuregelung abzusenken („Absenkungsverbot“). Zudem (Tuchenbach), verstößt es gegen die Forderung der EU-Richtlinien nach Marlene einem effektiven Schutz vor Diskriminierung. Mit hoher Schily, Otto SPD 19.10.2006 Wahrscheinlichkeit wird diese Regelung vom Europäi- schen Gerichtshof aufgehoben. (B) (D) Dr. Schwall-Düren, SPD 19.10.2006 Gegen die Anwendung der tarifvertraglichen Aus- Angelica schlussfristen bestehen insbesondere – bei Bewerbungen – erhebliche europarechtliche Bedenken. Bewerber wer- Stiegler, Ludwig SPD 19.10.2006 den diese sehr kurzen Ausschlussfristen nur schwer ein- halten können, da sie zunächst nachforschen müssen, Stöckel, Rolf SPD 19.10.2006 welcher Tarifvertrag anwendbar ist. Eine klare und ein- deutig wirksame Fristenregelung bringt Rechtsklarheit * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- für Arbeitgeber und Beschäftigte und verhindert über- sammlung des Europarates flüssige Prozesse. Anzustreben ist die eine Regelung, die eine Frist zur schriftlichen Geltendmachung von sechs bis zwölf Monaten vorsieht. Anlage 2

Erklärung nach § 31 GO Anlage 3 der Abgeordneten Silvia Schmidt (Eisleben) Zu Protokoll gegebene Reden (SPD) zur Abstimmung über den Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Betriebs- zur Beratung der Anträge: rentengesetzes (Tagesordnungspunkt 9 a) – Für einen zukunftsfähigen europäischen Ich stimme dem vorliegenden Gesetzentwurf zu. Rechtsrahmen audiovisueller Medien- Trotzdem weise ich auf zwei Punkte in Art. 8 (Änderung dienste – Den Beratungsprozess der EU- von Vorschriften im Allgemeinen Gleichbehandlungsge- Fernsehrichtlinie aktiv begleiten setz und in anderen Gesetzen) des Gesetzentwurfes hin, die meiner Meinung nach europarechtswidrig sind. – Für eine verbraucherfreundliche und Quali- tät sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Erstens. Die Änderungsvorschläge sehen vor, in § 10 Mediendienste AGG Regelungen zu streichen, die festlegen, wie das AGG bei betriebsbedingten Kündigungen anzuwenden (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord- ist. Wenn das AGG auf Kündigungen nicht anzuwenden nungspunkt 9) ist, braucht man diese Vorschriften nicht. Hier geht es um ein grundsätzliches Problem. Das AGG gilt zwin- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Im gend auch für Kündigungen, wie die EU-Richtlinien Mittelalter waren öffentliche Hinrichtungen ein 5628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Schauspiel der Belustigung und der Faszination für die Für unser eigenes Fernsehen wünschen wir uns in- (C) Menschen. Im 19. Jahrhundert wurden sie endlich abge- haltlich, dass über Europa und die Mitgliedstaaten brei- schafft und wir betrachten es als eine bahnbrechende ter berichtet wird. Als Kulturpolitiker sind wir natürlich kulturelle Errungenschaft, reale Tötungen nicht mehr öf- vor allem daran interessiert, dass die Beiträge zu kultu- fentlich darzustellen. Doch jetzt kommen diese Bilder rellen Themen einen größeren Raum einnehmen als bis- wieder zurück: al-Sarkawi ließ die Enthauptung seiner her. Sie gehören in das Abendprogramm, nicht ins Ab- Opfer filmen. Hier in Deutschland wurden die Filme seits gestellt. Österreich macht es uns vor. Dort ist die nicht gezeigt, wohl aber in anderen europäischen Län- Kultur ein Kernthema im Fernsehen. dern. Moralische Kriterien, Menschenwürde und Ju- gendschutz haben für uns einen eigenen Wert und daran Verständigen müssen wir uns auch darüber, welche ist festzuhalten. Folgen die rasante technische Entwicklung für unser na- tionales Gebührensystem hat. Die geplante Einführung Wohin fuhren solche Darstellungen? Sie sind der Be- von GEZ-Gebühren für Computer und Handys jedenfalls ginn von Tabubrüchen. Die Gewöhnung an extreme For- lehnen wir ab und befürworten nachdrücklich, dass das men von Gewalt droht, Welt- und Menschenbilder lang- bis zum 31. Dezember 2006 geltende Moratorium für fristig unmenschlich, würdelos und wertlos werden zu neuartige Rundfunkgeräte verlängert wird. Dann kann lassen. Wehret den Anfangen! Wim Wenders hat einmal die Zeit für eine zielführende Debatte genutzt werden, gesagt: „Die Bewusstseinsindustrie hat eine gefährli- wie unter neuen Bedingungen die Erfassung von Rund- chere Sprengwirkung als jeder Atommeiler.“ funkgebühren gerecht und angemessen gestaltet werden Weil das so ist, müssen wir einen Rahmen setzen für sollte. die Medien, die audiovisuelle Inhalte transportieren, und das betrifft nicht nur das klassische Fernsehen, sondern Reinhard Grindel (CDU/CSU): Der Antrag der FDP eben auch die entsprechenden neuen digitalen Dienste. zeigt deutlich: Für Sie ist Fernsehen ein Wirtschaftsgut Als Konsequenz der rasanten Entwicklung der neuen In- wie Persil oder Chappi. Ziel des Fernsehens ist für sie, formations- und Kommunikationstechnologien ist die damit Geld zu machen, frei nach dem bekannten Motto Revision der EU-Fernsehrichtlinie unumgänglich. des früheren RTL-Chefs Helmut Thoma: „Der Wurm Wir können es nicht zulassen, dass die neu zu bestim- muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler.“ Der menden Regeln, denen Fernsehdienste unterliegen, rein Medienmacher als Menschenfischer interessiert sich für wirtschaftliche sind. Fernsehen ist in erster Linie ein den Menschen als Quote, aber nur für den Menschen bis Kulturgut, es hat eine besondere Bedeutung für Demo- 49, weil dann die werberelevante Zielgruppe endet. kratie und Informationsfreiheit. Durch die Dominanz der Wir verstehen Fernsehen in erster Linie als Kulturgut, Bilder transportiert es – das belegen Untersuchungen – (B) als Medium für den öffentlichen Diskurs, als – wie es in (D) in erster Linie Meinungen. Es ist das wichtigste Medium der EU-Fernsehrichtlinie heißt – Dienstleistung für In- der privaten und öffentlichen Meinungsbildung. Es formation, Bildung und Unterhaltung. Ein Rundfunk für spielt eine zentrale Rolle dabei, wie wir unsere Werte alle, bei dem der Mensch nicht zum Objekt des Fernseh- formen, bewahren oder verändern. Deshalb können machers herabgewürdigt wird – das soll unsere medien- Fernsehdienste nicht vollständig den Marktkräften über- politische Richtschnur für die Richtlinie sein. lassen bleiben. Es gilt, die Balance zwischen Kultur- und Wirtschaftsrecht einzuhalten und den Rahmen dafür zu Wir sind für eine weiter gehende Flexibilisierung der setzen! quantitativen Werberegulierungen. Wir wollen zwei Für uns gelten bei der Revision der Fernsehrichtlinie starke Säulen des dualen Fernsehsystems in Deutschland. folgende Orientierungspunkte: Wir wollen die neuen Aber wir sollten nicht die eine Säule zulasten der anderen Dienste in die bisherige EU-Fernsehrichtlinie eingebun- stärken. Es ist kurzsichtig, Werbeeinnahmen und Gebüh- den wissen. Wir wollen nicht zweierlei Recht in der TV- renaufkommen gegeneinander auszuspielen, wie die FDP und Kommunikationstechnologie. Wir wollen unsere das tut. Sie verkennen den öffentlich-rechtlichen Auftrag Standards der Menschenwürde, des Jugend- und Ver- zur Grundversorgung. Ein weltweites Korrespondenten- braucherschutzes berücksichtigt sehen. Wir wollen keine netz, Regionalprogramme, Ratgebersendungen, viele Ei- Beiträge, die zu Hass oder Verletzung der Menschen- genproduktionen – alles das kostet viel Geld, aber es ist würde aufrufen, weder bei uns noch im EU-Europa. Wir unverzichtbar, wenn sie das erreichen wollen, was Ziel wollen das Herkunftslandprinzip gesichert wissen und des Massenmediums Fernsehen sein muss: Quote und damit einen Zugriff zur Beibehaltung unserer Standards. Qualität. Wir wollen aber auch eine Wettbewerbsgerechtigkeit der Qualitätssicherung heißt Verzicht auf Product Place- europäischen Dienste gegenüber den US-amerikani- ment, weil wir künftig nicht Drehbücher wollen, die nur schen und asiatischen durch eine erweiterte und auch fle- noch Rahmenhandlung für Werbung sind. Rundfunk für xiblere Werbemöglichkeit. Wir erwarten weiter die Tren- alle heißt, ein EU-einheitliches Recht auf Kurzbericht- nung von Werbung und Programm, um mögliche erstattung bei Ereignissen von großem öffentlichen Inte- Manipulationen auszuschalten. Was wir nicht für vertret- resse. bar halten, sind Beiträge, wie sie aus unserem Nachbar- land Dänemark berichtet werden. Hier kann rechtsradi- Fernsehen mit Würde, bei dem der Mensch nicht zum kale Propaganda nahezu ungefiltert an die Bevölkerung Objekt verkommt, heißt ein fair ausgestaltetes Recht auf weitergegeben werden. Neonazismus darf auch nicht Gegendarstellung, was wir jetzt erstmals mit der Fernseh- durch die Hintertür bei uns Einzug halten! richtlinie auf EU-Ebene bekommen. Und es heißt umfas- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5629

(A) sender Jugendschutz, unabhängig vom Übertragungsweg Das Einbeziehen der nichtlinearen Dienste in die Re- (C) und von der Frage, ob es sich um einen linearen oder gulierung und damit deren Ausweitung auf alle audio- nichtlinearen Dienst handelt. Die Aufweichungstenden- visuellen Dienste ist Konsens. Wie Sie wissen, hat zen im FDP-Antrag dazu will die Koalition nicht. Deutschland im ersten Halbjahr 2007 die EU-Ratsprä- sidentschaft inne. In diesen Zeitraum fällt die erste und Ich sage Ihnen, liebe Kollegen von der FDP, Sie tun zweite Lesung im EU-Parlament sowie die Befassung den Privaten keinen Gefallen, wenn Sie bei erfolgrei- des Rates. Der Zeitplan bis zur angestrebten Verabschie- chen Programmen nur an die Höhe der Gewinne denken, dung der Richtlinie im zweiten Halbjahr 2007 ist sehr die man mit Fernsehen machen kann. Die Klugen bei ehrgeizig, zumal die Differenzen zwischen den einzel- den Privaten führen längst die Qualitätsdebatte, weil sie nen Mitgliedstaaten – dies zeigt die große Zahl der ein- wissen, dass sich gerade ausländische Investoren nur für gegangenen Änderungsanträge – nicht unerheblich sind. die Quote interessieren. Wegen der überragenden Bedeutung der Richtlinie für Für mich besteht kein Zweifel, dass es unter Qualitäts- einen kohärenten europäischen Rechtsrahmen kommt gesichtspunkten zu begrüßen gewesen wäre, wenn dem der deutschen Ratspräsidentschaft eine besondere Be- Springer-Verlag der Einstieg bei ProSiebenSAT.1 mög- deutung zu. Wir sollten daher auf nationaler Ebene eine lich gewesen wäre. möglichst allen Interessen gerecht werdende Klärung of- fener Fragen anstreben. Wenn wir über die EU-Fernsehrichtlinie diskutieren, dann mag das in einer globalisierten Welt vielleicht pro- Die heute zur Debatte stehenden Anträge zeigen je- vinziell klingen: aber ich wünsche mir, dass deutsche doch, dass die Liberalen ihrem Ruf als Verteidiger von Fernsehprogramme auch in Zukunft aus Berlin oder Partikularinteressen gerecht werden wollen. Dies offen- Köln kommen und nicht von London oder Los Angeles bart sich bereits am ersten Satz des Forderungskatalogs: aus gesteuert werden. Ob Fernsehen noch Qualität lie- Es geht nicht darum, die Revision „Zur Knebelung der fert, muss für uns als Politiker eine zentrale Frage sein. neuen Medien zu missbrauchen“. Wir brauchen doch qualitativ gute Programme als Ver- Dass die nichtlinearen Dienste einer geringeren Regu- mittler zu unseren Wählern, wenn es um komplizierte lierung zu unterziehen sind, wird doch weder von der Reformen geht. Wer auf Populismus setzt, dem reicht es, Bundesregierung noch von der Kommission angezwei- wenn über Politik nur noch im Big-Brother-Container felt. Die immer wieder von Teilen der Industrie vorgetra- gesprochen wird. Der Union ist das zu wenig. genen Bedenken, die Richtlinie würde die Entwicklung der Neuen Medien behindern, sind daher auch unbegrün- Natürlich hat Fernsehen nicht nur eine wirtschaftliche det. Bedeutung, sondern eine prägende Kraft für gesellschaft- (B) liche Entwicklungen. Welches Bild von Familie vermit- Ich stimme den Antragstellern der FDP zu, dass sich (D) teln die Daily Soaps und Serien, übrigens bei privaten hierzulande das duale System aus öffentlich-rechtlichen wie öffentlich-rechtlichen Sendern? Es gibt nur noch eine Fernsehanstalten auf der einen und kommerziellen An- Serie mit einer normalen Kernfamilie: Das ist die Zei- bietern auf der anderen Seite bewährt hat. Sie schreiben chentrickserie „Die Simpsons“. Die haben zwar blaue zu Recht, dass sich das duale System „durch eine Ba- Haare und einen rüden Umgangston, aber sie haben auch lance der Kräfte“ auszeichnet. Im nächsten Satz Ihres das, was wir angesichts der demografischen Entwicklung Antrages sehen Sie dieses Gleichgewicht allerdings in unserem Land dringend brauchen: Eltern und drei Kin- schon gefährdet. Noch einen Satz später diagnostizieren der. Kann es uns egal sein, dass im Fernsehen das gesell- Sie, dieses Gleichgewicht sei gestört und müsse durch schaftliche Idealbild nur noch als Karikatur daherkommt? eine Liberalisierung der Werberegelungen wiederherge- An alles das müssen wir auch denken, wenn wir jetzt im stellt werden. Über eine, das bisher geplante Maß über- Ausschuss über die EU-Fernsehrichtlinie beraten. steigende Flexibilisierung der Werberegelungen lasse ich durchaus mit mir reden. Auch ich denke, dass es Ich freue mich, dass mit Ruth Hieronymi eine erfah- Sinn macht, dass Blockwerbegebot im Hinblick auf die rene deutsche Medienpolitikerin die zuständige Bericht- Möglichkeit, Einzelspots senden zu dürfen, zu lockern. erstatterin im Europaparlament ist. Sie hat einen sehr gu- Anders als Sie möchte ich jedoch, dass alle Sendeanstal- ten ersten Berichtsentwurf vorgelegt. Wir sollten ihr im ten und nicht nur die kommerziellen von einer potenziel- Parlament und unserem Kulturstaatsminister Bernd len Lockerung profitieren. Neumann im Ministerrat den Rücken stärken. Dazu wer- den CDU und CSU hier im Bundestag ihren Beitrag leis- Dass die Damen und Herren von der FDP eine recht ten. eigenwillige Vorstellung von einer „Balance der Kräfte“ haben, zeigt sich auch daran, dass sie den öffentlich- rechtlichen Rundfunkanstalten zusätzliche Einnahmen Christoph Pries (SPD): Die rasante Entwicklung durch Produktplatzierungen verbieten wollen. Den Pri- der so genannten Neuen Medien und die zunehmende vaten wollen Sie dieses Recht aber selbstverständlich technische Konvergenz erfordern dringend eine Anpas- zugestehen. Na, was denn nun: Hat sich unser duales sung der grenzüberschreitenden Regelungen. Ich freue System nun bewährt oder nicht? Gibt es eine Balance mich daher, dass auf politischer Ebene bei der Frage der der Kräfte oder nicht? Ihr Antrag ist in dieser Frage ein Notwendigkeit einer Revision der EU-Richtlinie weit- wenig undeutlich. gehend Einigkeit herrscht. Dies machen auch die heute zur Debatte stehenden Anträge der Fraktionen von FDP Auch wenn die EU-Kommission dies derzeit noch und Bündnis 90/Die Grünen in weiten Teilen deutlich. anders sieht: In meinen Augen ist Produktpräsentation 5630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) gegen Entgelt gleich Werbung. Wenn Unternehmen mit eller Mediendienste“ und den Antrag der Fraktion Bünd- (C) dem Platzieren ihrer Produkte Einfluss nehmen auf die nis 90/Die Grünen „Für eine verbraucherfreundliche und Programmgestaltung der Sender, zwingt es diese, kom- Qualität sichernde EU-Richtlinie für audiovisuelle Me- merzielle vor publizistische Kriterien bei der Gestaltung diendienste“. Hintergrund ist die anstehende Revision des Programms anzulegen. Dies gilt auch dann, wenn der aus dem Jahr 1989 stammenden Richtlinie „Fernse- dies nur in fiktionalen Sendungen erlaubt sein soll. hen ohne Grenzen“, für deren Neufassung die Europäi- sche Kommission am 13. Dezember 2005 den Vorschlag Es liegt doch auf der Hand, dass Sender Programme, in denen Produktplatzierung erlaubt ist, verstärkt in ihr für eine Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste Programmbouquet aufnehmen würden, da sie damit hö- vorgelegt hat. Seit dem 21. August 2006 liegt der Ent- here Erlöse erzielen könnten. Publizistische Arbeit wird wurf eines Berichtes des Ausschusses für Kultur und dadurch insgesamt kommerzialisiert und verliert an Bildung des Europäischen Parlamentes mit zahlreichen Glaubwürdigkeit. Änderungsvorschlägen vor. Das Europäische Parlament wird im Dezember oder im Januar 2007 die erste Lesung Ich für meinen Teil will nicht, dass die Programm- abschließen. Mit der Verabschiedung der Richtlinie ist gestaltung sich maßgeblich an den Wünschen der zah- – nach der Befassung des Rates der Europäischen Union lungskräftigen Kundschaft orientiert. Bis zu meinem und der zweiten Lesung im Europäischen Parlament – Einzug in den Deutschen Bundestag vor circa einem Jahr vermutlich im zweiten Halbjahr 2007 zu rechnen. Wie war ich als Redakteur tätig. Ich weiß daher sehr genau, das Europäische Parlament hat auch der Ausschuss für dass gerade die kleineren Zeitungen in einer sich wan- Kultur und Medien im Mai dieses Jahres ein sehr um- delnden Medienwelt mehr denn je um ihr Überleben fangreiches Expertengespräch zum Richtlinienentwurf kämpfen müssen. Der Kuchen in Form der für Werbung durchgeführt. eingesetzten Mittel wird durch die Konvergenz der Medien und durch die neuen Werbeportale nicht größer; Das Kernstück des Kommissionsvorschlages – und er wird lediglich anders verteilt. Dies wird bei den tradi- hier herrscht ja weitgehende Einigkeit, wird dies doch tionellen Werbeträgern, so auch bei den Zeitungen, zu sowohl seitens der Fraktion der FDP wie auch seitens Verlusten führen. der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen begrüßt – ist die Erweiterung des Geltungsbereiches auf alle audiovisuel- Ich lehne Product-Placement nicht nur aus sachlichen len Mediendienste. Hierzu führt die Kommission eine Gründen ab und weil es meinen Vorstellungen von jour- neue Unterscheidung ein, nämlich die Unterscheidung in nalistischer Arbeit widerspricht. Nein, ich lehne es auch ab, weil die vonseiten der FDP angestrebte Umvertei- lineare und nichtlineare Dienste. Zu den linearen audio- lung von Werbemitteln in die Taschen der privaten visuellen Diensten gehören alle Dienste, die nach einem (B) Rundfunkanbieter für viele Redaktionen das Aus bedeu- festgelegten Programmplan verbreitet werden, wie das (D) ten würde. herkömmliche Fernsehen, Internetfernsehen oder Live- Streaming. Zu den nichtlinearen Diensten zählen alle Ein Wort noch zum Recht auf Kurzberichterstattung, audiovisuellen Dienste, die auf Abruf angeboten wer- welches in der Richtlinie der EU ausdrücklich vorgese- den. Entsprechend dem neuen Geltungsbereich soll die hen ist, im Europäischen Parlament mehrheitlich befür- Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ daher auch in wortet wird und in den Augen der Liberalen nur denen „Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste“ umbe- zukommen soll, die sich leisten können, die Urheber an- nannt werden. Es ist zu begrüßen, dass die jeweilige Re- gemessen zu bezahlen: Auch wenn die Einzelheiten des gelungsdichte von der Bedeutung für die Meinungsre- Kurzberichterstatterrechts noch ausgestaltet werden levanz abhängig sein soll. Mit diesem abgestuften müssen: Ich halte es angesichts der fortschreitenden Regelungsrahmen soll ein Mindeststandard in allen Kommerzialisierung von Ereignissen und Veranstaltun- audiovisuellen Mediendiensten sichergestellt werden, gen und der damit einhergehenden Exklusivität für unab- beispielsweise zum Jugend- und Verbraucherschutz, dingbar, dass die Öffentlichkeit an gesellschaftlich rele- zum Schutz der Menschenwürde und der Sicherung der vanten Ereignissen teilhaben kann. Ich möchte Sie daran kulturellen Vielfalt. erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht bereits An- fang 1998 entschieden hat, dass die grundgesetzlich de- Aus unserer Sicht ist eine Revision der Fernsehricht- finierte Rundfunkfreiheit beschnitten wird, wenn ein linie dringend geboten. Die Rahmenbedingungen für das einzelner Sender alle anderen von der Berichterstattung Fernsehen und die neuen audiovisuellen Dienste haben ausschließen kann. Mit anderen Worten: Unser Verfas- sich seit dem In-Kraft-Treten der Fernsehrichtlinie sungsrecht sieht vor, dass Urheber- und Leistungsrechte grundlegend verändert. Die technische Konvergenz der beschränkt werden dürfen, wenn dadurch das Recht auf Kommunikationsnetze und -geräte wie auch der Medien- Zugang zu gesellschaftlich relevanten Informationen ge- inhalte und die deutlichen Veränderungen der Medien- sichert wird. Dass diese Rechtsprechung nun auf EU- nutzung machen eine Neufassung der Richtlinie und eine Ebene übertragen werden soll, macht deutlich, dass auch Ausweitung des Geltungsbereiches dringend erforder- die Kommission die Zukunftsfähigkeit dieser Entschei- lich. Der Vorschlag der Kommission für eine Richtlinie dung des Bundesverfassungsgerichtes richtig einordnet. über audiovisuelle Dienste bietet eine gute Beratungs- grundlage, wenngleich es bei einigen Punkten aus unse- Jörg Tauss (SPD): Wir beraten heute in erster rer Sicht noch erheblichen Diskussionsbedarf gibt. Dies Lesung den Antrag der Fraktion der FDP „Für einen gilt insbesondere für den Komplex Produktplatzierun- zukunftsfähigen europäischen Rechtsrahmen audiovisu- gen, welche die Kommission in Zukunft ermöglichen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5631

(A) möchte. Auf diesen Punkt ist mein Kollege Christoph Große Bedeutung hat nach unserer Auffassung – und (C) Pries ja bereits eingegangen. hier sind wir uns ja wieder weitgehend einig – das vorge- sehene Recht auf Kurzberichterstattung. Die immer Mit der Revision der Richtlinie sollen auch die Werbe- stärker werdende Kommerzialisierung öffentlicher Ver- beschränkungen flexibilisiert werden. Gegen die von der anstaltungen und die zunehmende Vergabe von Exklu- EU-Kommission vorgeschlagenen Flexibilisierungen bei sivrechten gefährden die Möglichkeiten, über Ereignisse den quantitativen Werberegulierungen – zum Beispiel mit hohem Nachrichtenwert für die Allgemeinheit und was die Abstände zwischen den Werbeblöcken anbe- großem öffentlichen Interesse angemessen zu berichten. langt – gibt es keine Einwände zu erheben. An den quali- Wir setzen uns dafür ein, dass die Richtlinie das Zutritts- tativen Werbebeschränkungen und insbesondere an dem recht des jeweiligen Fernsehveranstalters zum Ereignis Gebot der Trennung von Werbung und Programm gilt es sicherstellen muss und darüber hinaus einen unmittelba- jedoch festzuhalten. Für die FDP-Fraktion greifen diese ren Zugriff auf das Sendesignal einräumen kann. Auch Liberalisierungsvorschläge zu kurz, sie plädiert für die bei dem vorgesehenen europaeinheitlichen Recht auf vollständige Aufgabe des Blockwerbegebotes und der Gegendarstellung gibt es zwischen den Koalitionsfrak- starren Werbeunterbrechungsregelungen. Angeblich sei tionen und der FDP-Fraktion sowie der Fraktion Bünd- dies notwendig, damit die privaten Veranstalter im Wett- nis 90/Die Grünen keine unüberwindbaren Differenzen. bewerb mit dem gebührenfinanzierten öffentlich-recht- Gleiches wird sicherlich für die Frage des Jugendschut- lichen Rundfunk bestehen können. Sie verkennt damit zes in den audiovisuellen Medien gelten und die Frage aber, dass sie mit dem Wegfall jeglicher Werbevorschrif- der Anerkennung der Koregulierung als Umsetzungs- ten nicht nur die Akzeptanz der Zuschauer und Nutzer instrument. verlieren wird, sondern dass sie damit das bewährte duale Rundfunksystem in Deutschland grundsätzlich in- Entscheidend ist, dass mit der Richtlinie ein kohä- frage stellt. Die Feststellung im Antrag der FDP, dass renter europäischer Rechtsrahmen geschaffen wird, der sich das deutsche duale Rundfunksystem durch die Ba- sicherstellt, dass für gleiche Arten von audiovisuellen lance der Kräfte auszeichnet, erweist sich einmal mehr Diensten unabhängig vom Übertragungsweg auch die als Lippenbekenntnis. Die Koalitionsfraktionen werden gleichen Grundregeln gelten. Damit werden für diese sich in ihrem Antrag im Unterschied dafür aussprechen, Dienste im gesamten europäischen Binnenmarkt Rechts- dass das Zweisäulenprinzip von öffentlich-rechtlichen sicherheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen ge- Fernsehanstalten und kommerziellen Anbietern, welches währleistet. Die weitere Beratung und möglicherweise sich in Deutschland bewährt hat, nicht dadurch infrage auch der Abschluss der Revision der EU-Fernsehricht- gestellt werden darf, dass die eine Säule des privaten linie werden in die deutsche Ratspräsidentschaft fallen. Rundfunks auf Kosten der anderen Säule des öffentlich- Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung, diese Be- (B) rechtlichen Rundfunks gestärkt wird. ratung der Richtlinie zu einem Schwerpunkt der deut- (D) schen Ratspräsidentschaft und der deutschen Medien- Anders als die FDP-Fraktion, die Produktplatzierung und Kommunikationspolitik auf europäischer Ebene bei fiktionalen Inhalten in Form von Spielfilmen und macht. Fernsehfilmen ermöglichen will, sehen wir noch erhebli- Auch die Koalitionsfraktionen stimmen derzeit einen chen Diskussionsbedarf hinsichtlich des Komplexes der Antragsentwurf in den Arbeitsgruppen ab, sodass hier Produktplatzierungen. Die im Richtlinienentwurf vorge- die Möglichkeit besteht, in den Ausschussberatungen sehenen Regelungen hinsichtlich der Kennzeichnung zeitgleich die entsprechenden Anträge zu beraten. Nicht reichen bei weitem nicht aus, die Zuschauer vor Irrefüh- in allen Fragen liegen die Fraktionen ja so weit auseinan- rungen zu schützen. Auch wird mit den vorgeschlagenen der wie bei den Fragen der Werbung und der Produkt- Regelungen die Programmgestaltungsfreiheit nicht hin- platzierung. Vielleicht gelingt es uns als Ausschuss für reichend gesichert. Sichergestellt werden muss bei den Kultur und Medien – ähnlich wie beim Programm „Kul- weiteren Beratungen des Richtlinienentwurfes, dass die tur 2007“ im Juni 2006 –, uns bei den Beratungen der Programmgestaltung allein an publizistischen Kriterien vorliegenden Anträge auf eine gemeinsame Entschlie- orientiert ist und nicht davon beeinflusst wird, dass Un- ßung zu verständigen und so die Erwartungen und For- ternehmen ihre Produkte in einem positiven Umfeld dar- derungen des Deutschen Bundestages parallel zu den gestellt sehen wollen. Die Programmgestaltungsfreiheit Beratungen zur Revision der Fernsehrichtlinie im Euro- gilt für alle Formate, auch für die unterhaltenden For- päischen Parlament und im Europäischen Rat zu formu- mate. Ein Verbot von Produktplatzierungen nur für Kin- lieren. Wenn wir dies als interfraktionelle Entschließung dersendungen, Dokumentationen und Nachrichtensen- auf den Weg bringen wollen, müsste sich die Fraktion dungen sowie Sendungen zum aktuellen Zeitgeschehen der FDP allerdings bei einigen zentralen Fragen ein gan- trägt daher dem Grundsatz der Programmgestaltungs- zes Stück weit bewegen. Mit dieser Hoffnung freue ich freiheit nicht hinreichend Rechnung. mich auf eine spannende Debatte in den mitberatenden Insgesamt begrüßen wir also den Vorschlag einer Ausschüssen und im federführenden Ausschuss für Kul- plattformunabhängigen Regelung für alle audiovisuellen tur und Medien. Dienste. Nur ein Rechtsrahmen, der sicherstellt, dass gleiche Sachverhalte überall im europäischen Binnen- Christoph Waitz (FDP): Fernsehen macht vor Gren- markt auch gleich bewertet werden, schafft Rechts- zen nicht Halt. Satelliten, wachsende Kabelnetze, der sicherheit für Marktakteure und Verbraucher sowie faire mittlerweile selbstverständliche Zugang ins Internet und Wettbewerbsbedingungen. Überreichweiten von Fernsehsignalen machen es 5632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) möglich, ein vielfältiges internationales Fernsehangebot genheit angehört. Eine Knebelung der neuen Medien (C) abzurufen. Wir freuen uns deshalb, dass sich der Deut- wäre jetzt das falsche Signal und würde die Lissa- sche Bundestag parallel zu den Beratungen im Europäi- bonstrategie der europäischen Kommission, mit der wir schen Parlament mit der Fernsehrichtlinie befasst. Schon die Wachstumskräfte in Europa mobilisieren wollen, ad in diesem frühen Stadium können die Interessen absurdum führen. Deutschlands formuliert und sowohl in das Europäische Parlament als auch in den Ministerrat eingespeist wer- Schon seit einigen Monaten läuft in Deutschland die den. Diskussion zu der Frage, ob Produktplatzierungen in Fernsehsendungen künftig erlaubt sein sollen. In unserer Fast 20 Jahre ist die europäische Fernsehrichtlinie alt, Tradition ist Produktplatzierung als Schleichwerbung zu eine Richtlinie, die aus einer Zeit stammt, in der die qualifizieren. Wir Liberale wollen, dass Produktplatzie- Digitalisierung der Medienlandschaft noch in den Kin- rung nur bei fiktionalen Sendungen und nur für private derschuhen steckte, 20 Jahre, in denen uns der techni- Fernsehsender möglich sein soll. Zusätzlich muss die sche Fortschritt die Konvergenz der Medien gebracht Tatsache einer Produktplatzierung für den Zuschauer hat; 20 Jahre Fortschritt, die eine Anpassung der Fern- deutlich wahrnehmbar sein, ohne dass die Werbewir- sehrichtlinie dringend notwendig machen. Heute kennen kung zusätzlich noch gesteigert wird. Produktplatzie- wir unterschiedlichste Übertragungswege, die zur Prä- rung in diesen engen Grenzen und nur für den privaten sentation gleicher Inhalte genutzt werden. Fernsehen un- Rundfunk zu legalisieren bedeutet, diese aus der abhängig vom Übertragungsweg rechtlich gleich zu be- Schmuddelecke der Schleichwerbung herauszuholen. handeln, ist in unseren Augen sinnvoll. Ich erwähne ausdrücklich den privaten Rundfunk, Wir Liberale begrüßen die Neuordnung der Fernseh- denn der öffentlich-rechtliche Rundfunk verfügt über ge- regelungen auf europäischer Ebene und wollen dazu bei- nügend Einnahmen aus Rundfunkgebühren und kann auf tragen, den Markt der audiovisuellen Medien auf die Extraeinnahmen aus Produktplatzierung verzichten. künftigen Herausforderungen vorzubereiten. Oberstes Ziel ist es, Rechtssicherheit und gleiche Wettbewerbs- Unsere Forderung, Produktplatzierung in den betref- bedingungen für audiovisuelle Mediendienste im euro- fenden Sendungen kenntlich zu machen, dient der Trans- päischen Binnenmarkt zu schaffen. Darüber hinaus muss parenz und hilft so dem Bürger, zu erkennen, wann und aber auch Ziel sein, nur dort regulierend einzugreifen, wo er Produktplatzierung ausgesetzt ist. Eine unbe- wo dies sinnvoll ist. wusste Beeinflussung durch Schleichwerbung scheidet Deutschland wird ab dem 1. Januar 2007 die Ratsprä- in Zukunft aus. Natürlich gilt weiterhin ein Verbot von sidentschaft der Europäischen Union übernehmen. Diese Produktplatzierung in Kinder-, Ratgeber- oder Nachrich- (B) besondere Rolle müssen wir nutzen, um eine Fernseh- tensendungen. Betroffen wären allein Fernseh- und (D) richtlinie zu verabschieden, die dem technischen Fort- Spielfilme sowie Sportveranstaltungen. Dies sind die schritt gerecht wird. Dies ist keine leichte Aufgabe. Die Sendeformate, bei denen ein internationaler Wettbewerb FDP hat aus diesem Grund einen Antrag eingebracht, herrscht. der Ihnen heute zur Beratung vorliegt. Aus der Vielzahl Produktplatzierung ist in den USA auf dem Vor- der Fragen möchte ich drei Themen besonders beleuch- marsch. Eine Studie belegt: Einnahmen durch Produkt- ten. platzierung im US-amerikanischen Fernsehen werden al- Die Fernsehrichtlinie reguliert erstmalig auch so ge- lein 2006 von 1,4 Milliarden auf 2,1 Milliarden Dollar nannte nicht lineare Dienste. Dabei handelt es sich um steigen. Das ist eine Steigerung um 47,8 Prozent. Dies Dienste, die zum Beispiel über das Internet empfangen will ich besonders den Grünen sagen, die die Bedeutung werden, Dienste wie dem Video-on-Demand. Nun wer- von Produktplatzierungen in ihrem Antrag zu Unrecht den im Internet gerade von Zeitungsverlagen Platt- herunterspielen. formen angeboten, die auch audiovisuelle Inhalte bein- halten. Aus verständlichen Gründen hat dies zu einer Es wird sie nicht wunden, wenn ich sage, wir Libe- erheblichen Verunsicherung geführt. Es ist daher richtig, rale treten für die Aufgabe von Werbezeitbeschränkun- den Anwendungsbereich der Fernsehrichtlinie weiter zu gen in der Fernsehrichtlinie ein. Werbung ist die Haupt- konkretisieren. Elektronische Printmedien unterfallen einnahmequelle für den privaten Rundfunk. Um die zwar nach jetzigem Arbeitsstand nicht der Fernsehricht- Qualität des privaten Programms zu erhalten, müssen linie, sondern sind sogar ausdrücklich ausgenommen. wir Möglichkeiten schaffen, die die Attraktivität der Wir teilen allerdings die Sorge der Zeitungsverleger. Fernsehwerbung für Werbekunden steigern. Der Ein- Elektronische Printmedien könnten wegen zusätzlich zelspot gehört genauso dazu wie die Aufhebung der zum Text eingesetzter audiovisueller Begleitangebote Werbezeitbeschränkung. Der mündige Verbraucher kann plötzlich den nicht linearen Medien zugerechnet werden. und wird mit der Fernbedienung entscheiden, ob er ein Angebot mit veränderter Werbestruktur annimmt. Darüber hinaus besteht die Gefahr, das Entwick- lungspotenzial der neuen Medien durch Überregu- Wir Liberale freuen uns, dass sich nun auch Kultur- lierung zu hemmen. Die E-Commerce-Richtlinie gilt staatsminister Neumann unserer Auffassung in puncto auch für neue Medien. Eine Doppelregulierung durch Werbezeiten angeschlossen hat. Ich weiß, Herr Fernseh- und E-Commerce-Richtlinie gilt es zu verhin- Neumann kann heute nicht unter uns sein. Aber ich freue dern. Ansonsten riskieren wir, dass die Erfolgs- mich, als Oppositionspolitiker einmal sagen zu dürfen: geschichte der neuen Medien in Europa bald der Vergan- Herr Neumann, wo sie Recht haben, haben sie Recht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5633

(A) Ich freue mich auf die weitere Diskussion und bitte lungen zu Eigen machen sollte, genauso übrigens wie (C) um Ihre Unterstützung für den Antrag der FDP-Fraktion, den Vorschlag des Direktors des Hans-Bredow-Instituts, damit wir mithilfe der Bundesregierung frühzeitig die Herrn Dr. Wolfgang Schulz, zur Produktplatzierung. Er deutschen Interessen bei der Gestaltung der Fernseh- hat in der Sachverständigenanhörung angeregt, das Re- richtlinie wahren. gel-Ausnahme-Verhältnis in der Richtlinie umzudrehen. Product Placement wäre dann grundsätzlich verboten Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Mit Blick auf die und nur in bestimmten Programmformaten wie Fernseh- neuen Entwicklungen im Medienbereich ist es notwen- filmen und TV-Serien erlaubt, wenn die Zuschauer und dig, die EU-Fernsehrichtlinie zu revidieren. Das wird Zuschauerinnen dies erkennen können. Das halte ich für wohl kaum jemand in diesem Hause infrage stellen. Die- eine ausgewogene Lösung. Die gibt es beim Themen- sem Anliegen dient auch der Antrag der FDP. placement nicht. Das sollten wir alle miteinander prinzi- piell ablehnen. Wenn bestimmte Themen nur noch gegen Eine andere Frage ist: Was wollen bzw. was können Bezahlung aufgegriffen werden, dann ist es aus mit der wir in diesen Beratungsprozess einbringen und was Autonomie journalistisch-redaktioneller Arbeit. nicht? Im Übrigen werden sich durch neue technische Mög- Aus meiner Sicht sollte es nicht darum gehen, alte Re- lichkeiten wie auch durch veränderte Marketingformen geln in ein neues Medienzeitalter zu übertragen. Dabei die Programmstrukturen ebenfalls weiterentwickeln. Am würde die Regulierung immer einer rasanten Entwick- Ende entscheiden die Zuschauerinnen und Zuschauer, ob lung hinterher hinken. Darum sollten wir davon die Fin- sie das Angebot akzeptieren oder nicht. Damit die mün- ger lassen. digen Zuschauer und Zuschauerinnen auch mündig blei- Eine entscheidende Frage, die uns an den europäi- ben, brauchen wir ein vielfältiges kulturelles und öffent- schen Harmonisierungsprozessen im Medienbereich in- lich-rechtliches Medienangebot, das durch Werbung teressieren muss, ist doch: Wie geht es weiter mit dem angemessen begleitet werden kann, aber nicht durch sie öffentlich-rechtlichen Rundfunk? erstickt werden darf. Für uns als Linke steht vor allem die Frage im Zen- trum, wie öffentlich-rechtliche Angebote organisiert und Grietje Bettin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die finanziert sein müssen, damit sie in guter kultureller Europäische Kommission hat Ende letzten Jahres einen Qualität ihren demokratischen Auftrag erfüllen können, Vorschlag zur Novellierung der Fernsehrichtlinie vorge- ohne ständig Gegenstand von Untersuchungen der Euro- legt. Dieses Vorhaben ist notwendig und richtig. Wir päischen Kommission zu sein. Lassen Sie uns also vor- müssen die Fernsehrichtlinie an die Veränderungen der rangig erörtern, wie trotz europäischer Regulierung und Medienwelt anpassen. (B) Harmonisierung die Mitgliedstaaten weiterhin ihren (D) 1989 wurden erstmals einheitliche Mindeststandards Rundfunk selbstbestimmt regulieren können; und zwar im Fernsehen festgelegt. Seitdem regeln die Mitglied- nach ihren Verfassungen, ihren kulturellen Traditionen staaten Werbung, Jugendschutz und Gegendarstellungs- und ihren medienpolitischen Konzepten. Das halte ich recht einheitlich. Die Medienlandschaft hat sich jedoch für wichtig! verändert: Die Digitalisierung führt mehr und mehr zu Doch nun zum kommerziellen Bereich. Die Fernseh- der Frage, was überhaupt alles Fernsehen ist und wie richtlinie harmonisiert in erster Linie Regelungen für sich etwa Internetangebote einheitlich regeln lassen. Die grenzüberschreitende Dienstleistungen. Europäische Kommission hat darauf reagiert. Die neue Richtlinie wird auf alle audiovisuellen Dienste, ob linear Es geht um Rechtssicherheit und gleiche Wettbe- oder non-linear, ausgeweitet. Das ist sinnvoll, wird doch werbsbedingungen für Anbieter auf dem europäischen ohnehin in naher Zukunft Praxis sein, dass sich jeder Binnenmarkt. Bei kommerziellen Anbietern geht es nun sein individuelles Fernsehangebot frei nach Zeitplan und mal vor allem ums Geldverdienen und um entsprechende Wünschen per Download zusammenstellen kann. Die Probleme kreist ja auch die Diskussion: Werberegeln, FDP hält diese Anpassung an die digitale Realität für Produktplatzierung, Zugriff auf Sendesignale usw. eine Knebelung der neuen Medien. Doch davon kann Politische Verantwortung bedeutet in diesem Zusam- aus unserer Sicht keine Rede sein. Im Gegenteil, wir fin- menhang vor allem den Schutz von Verbraucherrechten, den es richtig, dass die wichtigen Punkte Werbung und wie zum Beispiel auch den Jugendschutz. Im September Jugendschutz endlich in allen Medien in Europa – auch erklärten die Verbraucherzentrale und mehrere Interes- in den inzwischen gar nicht mehr so neuen Medien – senverbände – unter anderem der Familienverband, der gleich behandelt werden. Unterschiede zwischen den Verband für Bildung und Erziehung –, dass sie aufgrund verschiedenen Medien sind in der Richtlinie berücksich- des aktuellen Änderungsvorschlags der Europäischen tigt, weil nicht mehr pauschal, sondern abgestuft regu- Kommission einen massiven Eingriff in das Verfas- liert wird. Auch das ist positiv. sungsziel des Jugendschutzes befürchten. Sie fordern, den Jugend- und Verbraucherschutz aus dem Herkunfts- Das Europaparlament und der Rat müssen sich jetzt landprinzip herauszunehmen und sie setzen sich dafür vor allem auf praktikable Lösungen konzentrieren – be- ein, dass die nationalen Schutzbestimmungen auch für sonders für nichtlineare Dienste wie Video-on-Demand. ausländische Anbieter gelten mögen. Wenn man sich stattdessen aber in Brüssel nur darum bemüht, alle Lobbyinteressen zu berücksichtigen, wer- Ich unterstütze diese Forderungen und meine, dass die den wir am Ende ein Stückwerk in Händen halten, mit Bundesregierung sie sich in den anstehenden Verhand- dem keiner was anfangen kann. 5634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Diese Richtlinie ist von immenser Bedeutung auch Wir bleiben also dabei: Wir wollen keine Aufhebung (C) für die deutsche Medienpolitik, setzt sie doch Maßstäbe, des Grundsatzes der Trennung von Werbung und Inhalt! die unsere bisherigen hohen Standards zumindest teil- weise infrage stellen. Wir fordern die Bundesregierung Es gibt aber auch positive Punkte im Richtlinienent- deshalb auf, sich aktiv in den Diskussionsprozess einzu- wurf: wie etwa das Recht auf Kurzberichterstattung über bringen und faule Kompromisse zu verhindern. Die EU- Ereignisse von öffentlicher Bedeutung. Wir kennen die- Ratspräsidentschaft ab kommendem Januar bietet dazu ses Recht in Deutschland und es hat sich bewährt. Alle eine gute Gelegenheit. Bürger in Europa sollen sich über wichtige Ereignisse gleichermaßen informieren können und das nicht nur Nun zu den Kernpunkten unseres grünen Antrags: über die Veranstalter, die für teures Geld die Exklusiv- rechte erworben haben. Die Richtlinie muss jedoch noch Wir wollen – im Gegensatz zur FDP und im Gegen- klare Bedingungen für die Ausübung dieses Rechtes satz zum derzeitigen Trend im Europaparlament keine festlegen. Die derzeitige Formulierung lässt dazu noch Produktplatzierung und auch keine Produktionsbeihilfen Fragen offen. So muss beispielsweise klar sein, ob es europaweit zulassen. Beides stellt aus unserer Sicht eine Beschränkung des zeitlichen Umfangs geben soll Schleichwerbung dar und täuscht somit Zuschauerinnen und wie die Quelle angegeben wird. Ebenso müssen sich und Zuschauer. Versteckte Werbung hat in Programm- die Mitgliedstaaten darüber abstimmen, zu welchen Er- inhalten nichts zu suchen. Die Glaubwürdigkeit der In- eignissen Zugang zu gewähren ist. halte und die Unabhängigkeit von Produktionen und Re- daktionen stehen dabei auf dem Spiel. Wir brauchen nur Im Gegensatz zur FDP lehnen wir eine Quote für eu- einen Blick auf die USA zu werfen, wo Produktplatzie- ropäische Produktionen nicht gänzlich ab. Eine Quote rungen erlaubt sind. Drehbuchautoren beklagen sich dort, bei europäischen Werken macht aus unserer Sicht insbe- sie müssten Programminhalte um die Werbung herum sondere für die linearen Dienste Sinn. Wir wollen damit platzieren und seien in ihrer redaktionellen Entscheidung europäische Produktionen im Rundfunk und – damit eng alles andere als frei. Das wollen wir in Europa nicht. Wir verbunden – insbesondere unabhängige Produzenten för- wollen nicht, dass das Zustandekommen von Produktio- dern. nen in Zukunft noch stärker vom Gutdünken der Werbe- Die FDP behauptet, die europäische Quote würde treibenden abhängt und etwa Filme nur zustande kom- nicht zur Qualitätssteigerung beitragen – das ist Unsinn. men, wenn teure Requisiten dafür lange im Bild gezeigt Niemand kann behaupten, Sender wie Arte, die eine fest- werden. gelegte Anzahl an Koproduktionen zeigen, hätten ein Auch Spielfilme und Unterhaltungsserien – für die Qualitätsproblem. Auch glaubt die FDP, Quoten würden die Platzierungen erlaubt sein sollen – sind aus unserer zum Schutz nicht wettbewerbsfähiger Anbieter beitra- Sicht trend- und meinungsbildend. Was mit Ratgeber- gen. Das macht eines mehr als deutlich klar: Die FDP (B) (D) sendungen ist, dazu schweigt sich der Richtlinienvor- versteht unser Fernsehprogramm nicht als Kulturgut – schlag bislang aus. Von der Pharmaindustrie gesponserte sondern als reines Wirtschaftsgut. Uns geht es hier nicht Ratgebersendungen möchte ich jedenfalls nicht sehen. um Wettbewerb – sondern darum, den europäischen Ge- Eine Beschränkung von Produktplatzierungen auf Filme danken auf unterschiedlichen Ebenen umzusetzen. und Serien, wie sie die FDP vorsieht, genügt uns daher Durch Koproduktion können sich sowohl die an der Pro- nicht. duktion Beteiligten als auch die Zuschauer ein Bild von anderen Ländern machen. Vorurteile werden abgebaut. Es genügt uns auch nicht, die Produktplatzierung vor und nach der Sendung anzukündigen: Zu oft schal- Bei nichtlinearen Diensten muss allerdings ein ande- ten Zuschauer erst im Laufe einer Sendung ein. Zappen rer Maßstab angesetzt werden: Hier sind aber Mindest- gehört heute einfach zur Fernsehgewohnheit der Ver- investitionsverpflichtungen denkbar. Auch eine Gewähr- braucherinnen und Verbraucher. Der FDP-Vorschlag, die leistung, dass europäische Inhalte in den Katalogen Platzierung auch während der Sendung kenntlich zu ma- – zum Beispiel bei Video-on-Demand-Angeboten – an chen, ändert nichts am eigentlichen Problem und wird in prominenter Stelle zu finden sind, wäre ein Ansatz. der Praxis nicht lange vorhalten: Wer will denn ständig Ich hoffe, die Bundesregierung nutzt in ihrer Rats- Werbeeinblendungen vor der Nase haben? Ich kann mir präsidentschaft die Zeit, um verbraucherfreundliche kaum vorstellen, dass die Zuschauer sich nicht genervt Aspekte in den Beratungsprozess einzubringen. Die be- fühlen, wenn ständig ein Insert eingeblendet wird oder stehende Medienlandschaft in Deutschland ist in ihrer permanent ein Hinweis am Bildrand erscheint. Das Vielfalt einzigartig. Es muss unser aller Ziel sein, dies schreckt Zuschauer ab. Gewinne bringt das der Werbe- beizubehalten. Wir hoffen daher auf Ihre Unterstützung industrie dann keineswegs. unseres Antrags. Ohnehin ist fraglich, wie die Werbeeinnahmen durch Produktplatzierungen mehr werden sollen. Ich vermute – und das bestätigen Experten, dass der Werbekuchen Anlage 4 nicht größer wird – die Stücke werden nur anders ver- Zu Protokoll gegebene Rede teilt. Werbeausgaben werden lediglich umgeschichtet. Die FDP glaubt, mit einer Liberalisierung der Werbe- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu regelung die Stellung von privaten Anbietern gegenüber dem Protokoll vom 1. Juni 2006 zur Änderung den öffentlich-rechtlichen zu stärken. Wenn aber gar des am 29. August 1989 unterzeichneten Ab- nicht mehr Geld ausgegeben wird, kann es dazu auch kommens zwischen der Bundesrepublik nicht kommen. Deutschland und den Vereinigten Staaten von Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5635

(A) Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteue- Lassen Sie mich abschließend noch auf eine grund- (C) rung und zur Verhinderung der Steuerverkür- sätzliche Frage eingehen. Die zunehmende Internationa- zung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkom- lisierung bei gleichzeitigem Steuersenkungswettbewerb men und vom Vermögen und einiger anderer zwingt zum Nachdenken über Methoden zur Verhinde- Steuern (Zusatztagesordnungspunkt 10) rung der Doppelbesteuerung. Das Doppelbesteuerungs- abkommen mit den USA – das wissen die Fachleute un- Dr. Axel Troost (Die Linke): Ich möchte Sie an De- ter Ihnen – unterscheidet sich von anderen Abkommen batten erinnern, die wir hier vor einigen Monaten geführt dadurch, dass die USA bei der Besteuerung von Ein- haben: Vor einigen Monaten haben wir hier Maßnahmen künften auf dem Anrechnungsprinzip beharren und nicht diskutiert, die Möglichkeiten zur Steuerumgehung redu- auf dem Freistellungsprinzip. Das wäre auch für die zieren sollten; die dazu führen sollten, dass diejenigen Bundesrepublik sinnvoll. Denn damit wären die Divi- wieder mehr Steuern zahlen, die es können; die dazu denden ausländischer Töchter grundsätzlich Teil des zu versteuernden Einkommens des Konzerns. Beim Frei- führen sollten, dass man sich nicht arm rechnen kann, stellungsprinzip dagegen werden die Ausschüttungen wenn man nur einen cleveren Steuer- und Unterneh- der ausländischen Töchter, die im Ausland bereits be- mensberater engagiert. Schon damals haben wir gesagt: steuert wurden, völlig steuerfrei gestellt. Das geht uns nicht weit genug. Aber es gab einen breiten Konsens darüber, dass Möglichkeiten der Steuerumge- In den meisten anderen Doppelbesteuerungsabkom- hung reduziert werden sollen. men wird nun aber eben nicht das Anrechnungsprinzip, sondern das Freistellungsprinzip gewählt. Das Problem Was uns jetzt aber zur Abstimmung vorliegt, ist genau daran: In zahlreichen Ländern werden inzwischen auf- das Gegenteil davon. Kern des Vorschlages für ein neues grund des Drucks der Wirtschaft Quellensteuern auf Ein- Doppelbesteuerungsabkommen mit den USA ist: Die künfte, die Steuerausländer- und ausländerinnen erzie- Quellensteuer auf Dividenden in Höhe von 5 Prozent len, erhoben. Oder es werden grundsätzlich bestimmte wird gestrichen. Einkünfte nicht mehr oder nur noch beschränkt besteu- Ich will an einem Beispiel deutlich machen, was das ert, zum Beispiel Kapitaleinkünfte. Wenn diese aufgrund heißt: Nehmen wir mal ein deutsches Unternehmen, zum von Doppelbesteuerungsabkommen in der Bundesrepub- Beispiel die Deutsche Bank, das eine Tochter in den lik ebenfalls freigestellt werden, kommt es zur absurden USA hat. Heute gilt: Schüttet die US-Tochter Gewinne Situation einer gänzlichen Nichtbesteuerung. Damit an die deutsche Mutter aus, wird das heute mit 5 Prozent werden aber Doppelbesteuerungsabkommen auf den in den USA besteuert. Und was schlägt die Bundesregie- Kopf gestellt! rung nun vor? In ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Das zwingt die Bundesrepublik, über komplizierte Doppelbesteuerungsabkommens steht: Die Quellen- steuerliche Regelungen auf nationaler Ebene dafür zu (B) steuer von 5 Prozent soll zukünftig wegfallen. Im Klar- sorgen, dass die weltweit erwirtschafteten Einkommen (D) text: Die ausgeschütteten Gewinne sollen weder in der Steuerpflichtigen – seien es Personen oder Unterneh- Deutschland noch in den USA besteuert werden! Das men – wenigstens einmal besteuert werden. Aktuelles widerspricht gänzlich dem Ansatz von Doppelbesteue- Beispiel dafür: Das Jahressteuergesetz 2007, Änderung rungsabkommen – die Verhinderung der mehrmaligen des § 50 d Einkommensteuergesetz: Hier soll verhindert Besteuerung ein und derselben Einkünfte. werden, dass Unternehmen durch Gestaltungen Freistel- Die Sache ist eigentlich ganz einfach. Darüber sind lungen ihrer Einkünfte aufgrund von Doppelbesteue- wir uns hier im Parlament ziemlich einig: International rungsabkommen in Anspruch nehmen dürfen. Derart tätige Unternehmen und Privatpersonen müssen ihre komplizierte Regelungen wären jedoch nicht notwendig, Einkommen versteuern – sei es in dem Land, in dem der würde die Bundesregierung zur Verhinderung von Dop- Hauptsitz des Unternehmens ist; sei es in dem Land, in pelbesteuerung von der Freistellung von Einkünften hin dem die Tochter Einkommen erzielt. Das sollte eigent- zur Anrechnung der im Ausland gezahlten Steuern über- lich selbstverständlich sein, wenn man sich das Ziel der gehen. Dies – nur ganz nebenbei – wurde auch durch den „Steuergerechtigkeit“ auf die Fahne geschrieben hat. Mit diesbezüglich befragten Sachverständigen bestätigt. dem vorliegenden Gesetzentwurf aber stellt die Bundes- Wir fordern daher die Bundesregierung auf, in den regierung das Prinzip der „Steuergerechtigkeit“ auf den Diskussionen, die im Finanzausschuss anstehen, diese Kopf! Anregung aufzunehmen! Nicht nur das: Der Hintergrund für dieses Doppelbe- steuerungsabkommen ist: Seit kurzem gibt es ein ver- gleichbares Abkommen zwischen den USA und Groß- Anlage 5 britannien. Für britische Unternehmen sind also bereits Zu Protokoll gegebene Reden heute die Gewinne ihrer US-Töchter steuerfrei. Nun kommen natürlich die deutschen Unternehmen und sa- zur Beratung des Antrags: Neuregelung des gen: Das wollen wir auch, sonst haben wir in Deutsch- Hochschulzugangs und der Hochschulab- land einen Standortnachteil. Was macht nun die Bundes- schlüsse als Impuls zur Hochschulöffnung und regierung? Statt zum Beispiel im Rahmen der EU darauf Qualitätsentwicklung nutzen (Tagesordnungs- zu drängen, dass der Vorteil für britische Unternehmen punkt 16) zurückgenommen wird, schafft sie neue Steuerschlupflö- cher! Damit heizt die Bundesregierung den internationa- Anette Hübinger (CDU/CSU): In den nächsten len Steuersenkungswettlauf weiter an! Es ist doch klar, Jahren stehen die deutschen Hochschulen vor großen dass die anderen Staaten hier nachziehen werden! Herausforderungen. Laut einer Prognose der Kultus- 5636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) ministerkonferenz wird die Zahl der Studierenden von solvieren, sowie die Möglichkeit, unterschiedliche Qua- (C) heute fast 2 Millionen auf über 2,6 Millionen in den Jah- lifikationen flexibel miteinander zu kombinieren. Die ren 2014/2015 ansteigen. Auch die fortschreitende wich- CDU/CSU-Fraktion bekennt sich im Koalitionsvertrag tige Internationalisierung von Forschung und Lehre ist ausdrücklich zum Bolognaprozess und begrüßt die eine große Herausforderung für die Hochschullandschaft Schaffung eines Europäischen Hochschulraums. Das Ba- in unserem Land. Ihr Antrag – Kolleginnen und Kolle- chelor/Master-System bietet den Studenten den Vorteil, gen der Fraktion Die Linke – zu Hochschulzugang und dass die Abschlüsse international kompatibel sind und Hochschulabschlüssen bietet jedoch keine Antwort auf somit die Mobilität der Studenten gefördert wird. Da- diese Herausforderungen. Deshalb lehnt die CDU/CSU- Fraktion Ihren Antrag ab. rüber hinaus kann durch die Einführung des Bachelors als ersten berufsqualifizierten Abschluss die Studienzei- In Ihrem Antrag fordern Sie die Rücknahme der Mög- ten deutlich verkürzt werden. Im internationalen Ver- lichkeiten zum Ausbau individueller Auswahlverfahren gleich ist die durchschnittliche Studiendauer in Deutsch- an den Hochschulen. Der zunehmenden Autonomie der land immer noch zu lang. Nicht jeder Student plant eine Hochschulen bei der Auswahl der Studierenden wollen wissenschaftliche Karriere, sondern will nach einem Sie ein zentral gelenktes Vergabeverfahren entgegenset- breit angelegten, aber zugleich straffen Studium ins Ar- zen. Den Herausforderungen von heute und morgen wol- beitsleben einsteigen. Für diesen Personenkreis bieten len Sie mit einem Instrument der Vergangenheit begeg- die Bachelorstudiengänge durch ihre Strukturierung und nen. durch ihren Praxisbezug eine ideale akademische Aus- Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt ausdrücklich die bildung. Die Personalvorstände von führenden deut- wachsende Autonomie der Hochschulen bei der Aus- schen Unternehmen haben wiederholt öffentlich die Ein- wahl der Studierenden. Die Hochschulen sollen die führung von Bachelor und Master begrüßt. Damit die Möglichkeit haben, den passenden Studenten für den je- Qualität und die Gleichwertigkeit der neuen Abschlüsse weiligen Studiengang auswählen zu können. Dies trägt sichergestellt wird, muss dafür Sorge getragen werden, zur weiteren Profilierung der Hochschulen bei. dass diese ohne Ausnahme durch die Akkreditierungs- agenturen akkreditiert werden. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt dieses Verfahren aber auch, da es dazu beiträgt, dass der passende Student Die notwendige Kapazitätsausweitung an den Hoch- das für ihn geeignete Studium beginnt. Die Zahl der jun- schulen ist derzeit auch Gegenstand der Verhandlungen gen Menschen, die in unserem Land ihr Studium abbre- zwischen dem Bund und den Ländern zum Hochschul- chen, ist nach wie vor zu hoch: Jährlich brechen mehr als pakt 2020. Die CDU/CSU-Fraktion fordert in diesem 80 000 Studenten ihr Studium ohne Abschluss ab. Das Zusammenhang die Verankerung der Förderung von (B) heißt, dass jeder vierte Student die Hochschule ohne Ab- Frauen in der Wissenschaft. Hierzu gehört auch der Aus- (D) schluss verlässt – dies oft erst nach mehreren Semestern. bau der Kinderbetreuung an den Hochschulen. Wie im Nur zu oft bedeutet dies auch das Ende einer beruflichen Koalitionsvertrag festgelegt, fordern wir die Öffnung der Ausbildung. Individuelle Auswahlverfahren wie fachspe- Hochschulen für beruflich Qualifizierte. Das Bildungs- zifische Studierfähigkeitstests und Auswahlgespräche, system soll durchlässiger werden. Menschen mit abge- aber auch das Heranziehen von anderen Qualifikationen schlossener Berufsausbildung soll der Weg an die Hoch- können dazu beitragen, die Zahl der Studienabbrecher zu schulen offen stehen. Die Kompetenz hierfür liegt senken. jedoch nach wie vor bei den Ländern. Kriterien, die beim Auswahlverfahren Anwendung Die CDU/CSU-Fraktion sieht in der anwachsenden finden können, wie die Durchschnittsnote im Abitur, aber auch die Ergebnisse von fachspezifischen Studier- Zahl der Studierenden eine sehr positive Entwicklung. fähigkeitstests sind – wie Sie bereits in der Antwort der Die damit zusammenhängenden Herausforderungen für Bundesregierung vom 11. August diesen Jahres auf Ihre die deutsche Hochschullandschaft sowie die fortschrei- Kleine Anfrage erfahren haben – frei von den von Ihnen tende Internationalisierung von Forschung und Lehre se- vorgebrachten Einflüssen. Diese werden deshalb nicht hen wir als große Chance. Unser Land braucht gut aus- zu einer Diskriminierung aufgrund sozialer und kulturel- gebildete junge Menschen. Unserer Verpflichtung, ihnen ler Herkunft oder aufgrund des Geschlechts führen. Die den Weg zur besten Ausbildung zu bereiten, kommen in der 7. Novelle des Hochschulrahmengesetzes festge- wir nach. legten Regelungen zum Ausbau der individuellen Aus- wahlmöglichkeiten der Hochschulen sind gerade erst in Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Mit ihrem An- den Länderhochschulgesetzen umgesetzt worden. Sie trag zur Neuregelung des Hochschulzugangs und der müssen zunächst ihre Wirkung entfalten. Durch regel- Hochschulabschlüsse formuliert die Fraktion Die Linke mäßige Evaluierungen muss in der Zukunft überprüft eine Reihe von Kritikpunkten an Reformschritten, die im und Sorge dafür getragen werden, dass auch die Aus- breiten Konsens vor wenigen Jahren im Bundestag ein- wahlgespräche nach objektiven Maßstäben erfolgen. geleitet worden sind. Zugleich formuliert sie einen Die Einführung des zweistufigen Studienmodells im Strauß von Anforderungen und Vorschlägen, wie nach Rahmen des Bolognaprozesses bedeutet nicht, wie Sie in ihrer Auffassung diese Reformschritte nicht nur zurück- Ihrem Antrag darstellen, eine Einschränkung der Stu- genommen, sondern auch neu gestaltet werden sollen. dienmöglichkeiten. Vielmehr bietet sie den Studenten Hierauf soll in einer grundsätzlichen Bemerkung und die Chance, ein qualitativ hochwertiges Studium zu ab- dann in vier einzelnen Punkten eingegangen werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5637

(A) Zunächst das Grundsätzliche: Durchaus richtig ist, hier in der Analyse auf bedenkenswerte kritische As- (C) dass die Fraktion Die Linke Bezug nimmt auf die Not- pekte eingegangen wird. Nur, kritische Analyse macht wendigkeit und die Ausgestaltung des geplanten Hoch- noch kein besseres politisches Konzept, wenn die vorge- schulpaktes. Wir haben dazu erst gestern im Ausschuss schlagenen Regelungen gar nicht garantieren können, eine erste Information bekommen, welchen Stand die dass die kritisch angesprochenen Fragen tatsächlich zum Verhandlungen zwischen dem Bund und den 16 Län- Besseren gelöst werden. dern, die jeweils mit einem eigenen Vetorecht in Bezug auf das Gesamtprojekt nach den Ergebnissen der Födera- Erstens. So beklagt die Fraktion Die Linke, dass mit lismusreform ausgestattet sind, erreicht haben. Um es der Neuordnung des Auswahlverfahrens an den Hoch- hier noch einmal klar und deutlich zu sagen: Nur durch schulen angeblich vor allen Dingen ein schichtspezifi- scher Bildungshintergrund abgeprüft würde, der Stu- das beharrliche und engagierte Kämpfen insbesondere dienbewerber(innen) aus entsprechenden Familien und der SPD-Bildungspolitiker und der gesamten SPD-Frak- aus finanzschwachen Elternhäusern deutlich benachteili- tion für eine erweiterte Hochschulkompetenz des Bun- gen würde. Nur, wie ist es denn nach dem bisherigen des auch in der Förderung von Lehre an den Hochschu- Verfahren gewesen? Und hat die Fraktion Die Linke in len kommen wir jetzt überhaupt in die Gelegenheit, ihrer Freude an der Analyse vollkommen ignoriert, wie einen qualitativ anspruchsvollen und quantitativ expan- ernst die Stimmen zu vernehmen sind, die gerade bei siven Hochschulpakt für mehr Studienkapazitäten und dem Kriterium der reinen Abiturnoten im Gefolge der bessere Lehre und Forschung an den Hochschulen auf- Mittel- und Oberschichten-Institution Gymnasium eine zulegen. Der neu gestaltete § 91 b hat zwar den Schön- entsprechende schichtenspezifische Diskriminierung heitsfehler, dass er Einstimmigkeit bei allen im Land vo- nachweisen könnten? Nein, der Weg zurück in eine Ver- raussetzt, nur bietet das zugleich auch die Chance, dass gabe von Studienplätzen über eine Zentralstelle würde alle Länder gleichermaßen in die Pflicht genommen wer- sicherlich die soziale Öffnung der Hochschule nicht be- den. Dieses wird beim aktuellen Hochschulpakt von ent- schleunigen können. Hier geht es tatsächlich vielmehr scheidender Bedeutung werden, denn niemand darf sich darum, soziale Benachteiligung im Bildungsverlauf verabschieden aus der gemeinsamen Zielsetzung, die schon sehr grundständig von der frühkindlichen Bildung Studienkapazitäten an den Hochschulen deutlich zu er- über die Schule bis hin zur Hochschule systematisch an- weitern und damit auch eine bessere Lehr- und Studien- zugehen, Chancengleichheit von Anfang an zu fördern qualität zu verbinden. und auch die soziale Zugänglichkeit zur Hochschule Der Parlamentarische Staatssekretär Andreas Storm durch entsprechende Fördersysteme wie das BAföG hat gestern im Ausschuss noch einmal darauf hingewie- konsequent zu erhalten und möglichst auch auszubauen. sen, dass die Bundesregierung sich im Rahmen dieses Im idealen Fall könnten die qualifizierten Auswahl- (B) (D) Paktes nachdrücklich dafür einsetzen wird, dass nicht verfahren an den Hochschulen selbst auch noch die nur die Stärkung der Naturwissenschaften und der Aus- Chance bieten, mit tatsächlich auf das Individuum abge- bau der Fachhochschulen, sondern auch die Förderung stimmten Bewerbungsgesprächen, Motivationsschrei- von Frauen für und im Studium im Zentrum der Verein- ben, Eignungstests und Auswahlverfahren allgemein die barungen zu stehen hat. Wir von der SPD möchten aus- Chancen zu erweitern, die mit einem reinen Notendurch- drücklich auch noch die Nachwuchsförderung im wis- schnitt „wegformalisiert“ werden könnten. Der Hinweis senschaftlichen Bereich über die Einbeziehung der der Fraktion Die Linke, dass es in Bezug auf die Testge- Juniorprofessuren verhandelt und positiv entschieden bühren nicht einen weiteren finanziellen Vorbehalt und wissen. Sieht man sich allerdings den Forderungskatalog ernsthaften Grund für eine diskriminierende und belas- der Fraktion Die Linke an, so wird dieser Pakt ange- tende Mitfinanzierung des Studiums geben darf, ist aller- sichts der Anforderungen, die hier von Ihnen geltend ge- dings aufzunehmen, zu beobachten und gegebenenfalls macht werden, wohl schwerlich zustande kommen kön- auch zu unterbinden. nen. Damit wäre aber niemandem gedient, schon gar nicht den jetzigen und zukünftig zum Glück anwachsen- Zweitens. In einem weiteren Punkt der Kritik wendet den Zahlen von Studierenden. Schließlich soll bei der sich die Fraktion Die Linke gegen den in Bologna ange- ersten Paktvereinbarung, für die ja seitens des Bundes stoßenen Prozess einer zweistufigen Studienstruktur und die nicht unerhebliche Summe von über 1 Milliarde Euro möchte erreichen, dass nicht der Bachelor, sondern der und damit ein Gesamtbetrag von über 1,2 Milliarden Master der Regelabschluss an den Hochschulen werden Euro von Bund und Ländern speziell zum Ausbau der soll. Dies ist allerdings eine Fundamentalkritik am Bo- Lehrkapazitäten zur Verfügung gestellt werden sollen, lognakonzept, der wir uns nicht anschließen können. nicht bleiben. Denn aus einem ersten positiven Schritt Denn natürlich hatte die Einführung der doppelten Stu- zum Hochschulpakt muss schließlich die Bereitschaft dienstruktur von Bachelor und einem aufbauenden Mas- zwischen Bund und Ländern erwachsen, später für die ter nicht nur zum Ziel, einen einheitlichen europäischen entscheidenden Jahre ab 2010 bis 2015 einen erfolgrei- Hochschulraum zu schaffen, sondern auch das Studium chen zweiten Pakt aus den guten Erfahrungen des ersten stärker zu strukturieren und einen ersten berufsbefähi- Schrittes fortzuführen. Mit ihren Anforderungen würde genden Abschluss auf dem Niveau des Bachelor nach ei- die Fraktion Die Linke hier allerdings schon den ersten ner kürzeren Studienzeit zu ermöglichen, als es früher Schritt unmöglich machen und verstolpern. für einen Studienabschluss mit Berufschancen notwen- dig war. Dieses nun dadurch auszuhebeln, dass der Mas- An der Realität vorbei gehen auch die Vorschläge der ter zum Regelabschluss werden soll, würde den Bache- Linken-Fraktion in den übrigen Punkten, selbst wenn lor wiederum zur reinen Zwischenprüfung herabstufen. 5638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Genau dieses ist im Bolognaprozess allerdings nicht be- der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes fällt und (C) absichtigt. durch die Bestimmungen des Grundgesetzes nach der Föderalismuskommission gerade ausgeschlossen ist, se- Dass dennoch sehr sorgfältig die Ausbau- und Auf- hen wir noch in der rechtlichen Prüfung. Die Regelungs- baumöglichkeiten des Studiums vom Bachelor zum kompetenz für Hochschulabschlüsse und Hochschulzu- Master auch in den Kapazitäten zu beobachten sind und lassung muss auch nach unserer Auffassung keineswegs dass es auch im Spannungsfeld von BAföG-Förderung ausschließen, dass bei der Zulassung auch der Zugang im Masterstudium wie der Belastung durch Studienge- mit eingeschlossen ist, zumal wenn er sich nicht auf die bühren keine Diskriminierung und Behinderung für ein in der Länderkompetenz liegende Zugänglichkeit über Masterstudium geben darf, ist genauso richtig. Diese das Abitur, sondern gerade auf die in der Bundeskompe- Fragen werden insbesondere auch vor dem Hintergrund tenz liegende berufliche Ausbildung nach Berufsbil- der erwarteten deutlich wachsenden Studierendenzahlen dungsgesetz etc. bezieht. Allerdings müssen wir zum jet- und der Erfordernis, den Anteil der Studenten in zigen Stand zugeben, dass es hierzu noch verschiedene Deutschland, die einen akademischen Abschluss auch juristische und insgesamt wohl eher gegenteilige Auffas- wirklich erfolgreich erreichen, deutlich anzuheben, sehr sungen gibt. Umso stärker würde es wirken, wenn die genau weiter zu beobachten und zu gestalten sein. Auch Länder hier jenseits einer solchen Kompetenzauseinan- deshalb legt die SPD-Fraktion sehr großen Wert darauf, dersetzung zwischen Bund und Ländern einen Weg zu die Sicherung und die Ausgestaltung des BAföG im einer bundesweit einheitlichen Regelung zur Öffnung Zentrum unserer Hochschulförderung für die Zukunft zu der Hochschulen nach einer beruflichen Ausbildung fin- halten. den könnten. Denn das Problem ist offenbar: Wir haben Drittens. Die Linke problematisiert auch das von Kul- viel zu wenig qualifizierte junge Menschen, die aus einer tusministerkonferenz und Hochschulrektorenkonferenz beruflichen Ausbildung heraus die weitere Qualifizie- gemeinsam getragene Akkreditierungssystem. Aller- rung in einem Studium suchen und denen dieser Weg er- dings scheint uns diese Fundamentalkritik in vielen möglicht wird. Selbst die Bundesländer, die hier die Punkten ebenso ansprüchlich wie abgehoben, wider- größten Anstrengungen unternehmen, wie zum Beispiel sprüchlich wie bürokratieverdächtig. Auch kann man Hamburg, schöpfen immer noch nur einen kleinen Teil den Eindruck gewinnen, dass das Akkreditierungssys- der Bildungskapazitäten in diesem Bereich aus. Andere tem zur Zauberbüchse für alles das werden soll, was in Bundesländer wie Bayern beginnen aktuell überhaupt einem noch so vernünftig gestalteten Studiengang ange- erst, den Hochschulbesuch nach einer erfolgreichen be- strebt, aber nicht in jeder Hinsicht 100-prozentig reali- ruflichen Ausbildung zu ermöglichen. Umso erfreulicher siert und garantiert werden kann. Im Zuge der Gesamt- ist, dass auch in der Koalitionsvereinbarung zwischen evaluation von Studienreformen, mit der sich auch der SPD und CDU/CSU dieses von uns Sozialdemokraten (B) (D) Bundestag in Form des Bildungsausschusses in der seit langem verfolgte Ziel zu einem gemeinsamen Anlie- Fachdiskussion befassen sollte, wird es sicherlich Gele- gen erklärt worden ist. Wenn dieses dann von den Frak- genheit geben, die Einzelheiten des Akkreditierungssys- tionen aus dem ganzen Haus nicht nur hier im Bundes- tems noch einmal einer kritischen Überprüfung zu unter- tag, sondern auch in den jeweiligen Länderregionen mit ziehen. Immerhin sind es ja schwere Vorwürfe, die von aufgegriffen und vorangetrieben werden könnte, haben der Fraktion Die Linke gegen das gegenwärtige Akkre- wir ja vielleicht die Chance, für einen weiteren Baustein ditierungsverfahren erhoben werden. Letztlich münden für mehr Öffnung und Zugänglichkeit verschiedener Bil- sie in dem Vorwurf, dass eine umfassende fachlich-in- dungswege in unserem Hochschulsystem zu sorgen. Als haltliche Begutachtung jedes einzelnen Studienganges Sozialdemokraten können wir dieses nur nachdrücklich nicht mehr gewährleistet ist und zudem nach studien- unterstützen. fremden Gesichtspunkten vorgenommen wird. Diesem Verdacht bzw. dieser Behauptung gar können und wollen Uwe Barth (FDP): Die Linken haben mit ihrem wir uns zum jetzigen Stand unserer Kenntnisse aus- Antrag ein Problem angesprochen, das wir schon oft dis- drücklich nicht anschließen. Und die Andeutungen der kutiert und auch in Anträge gefasst haben, zum Beispiel: Fraktion Die Linke, wie der Akkreditierungsrat in Zu- „Chancen der jungen Generation durch Bildung und kunft denn arbeiten sollte, stärkt auch nicht unser Zu- Ausbildung verbessern“, Drucksache 15/5259. Natürlich trauen darin, dass es damit ein Verfahren von größerer sind Hochschulzugang und Hochschulabschlüsse Vo- Transparenz, Praktikabilität und Fachlichkeit geben raussetzungen für die im Grundgesetz verankerte freie würde. Damit hier keine Missverständnisse aufkommen: Berufswahl, deshalb müssen sie diskriminierungsfrei er- Dumping-Wettbewerbe, Oberflächlichkeit in der Ana- möglicht werden. lyse und Bewertung, unkritische Verengungen und Re- duzierungen von Studiengängen auf eine kurzfristige Diskriminierungsfrei heißt aber nicht: frei von Leis- ökonomische Verwertbarkeit der Studienergebnisse wür- tungskriterien, auch wenn der Leistungsschwächere sich den auch von uns kritisiert werden, wenn sie denn tat- nicht selten subjektiv durch den Erfolg des Leistungs- sächlich die Wirklichkeit im Akkreditierungsverfahren stärkeren diskriminiert fühlt. zutreffend beschreiben würden. Gerade uns Liberalen geht es darum, jedem Kind faire Viertens. Schließlich thematisiert die Fraktion Die Chancen möglichst schon von Anfang an einzuräumen. Linke die Notwendigkeit einer bundesweit einheitlichen Deshalb treten wir massiv für eine Verbesserung der Regelung zur Öffnung der Hochschulen nach einer be- frühkindlichen Bildung ein. Es ist aber völlig weltfremd, ruflichen Ausbildung. Ob diese auch in die Kompetenz die Augen davor zu verschließen, dass es tatsächlich el- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5639

(A) ternhausbedingte Ungleichheiten gibt. Dies beklagen die Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Mit dem vorliegen- (C) Linken in ihren – kabarettreifen oder sogar unverschäm- den Antrag fordern wir die Bundesregierung dazu auf, ten – Bemerkungen zu den „habituellen Differenzen“ ein neues Hochschulzulassungsgesetz und ein neues Stu- „von Studienbewerberinnen und Bewerbern aus Eltern- dienabschlussgesetz vorzulegen. Hochschulzulassung häusern ohne akademischem Hintergrund“. Welche Dis- und Studienabschlüsse sind nach der Föderalismusre- kriminierung von solchen Elternhäusern treiben Sie, die form neben der Forschungspolitik die zentralen hoch- Linken, eigentlich mit solchen Formulierungen? Aus schulpolitischen Handlungsfelder der Bundesebene. In welchen Elternhäusern kommen Sie? ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage machte die Bun- desregierung allerdings deutlich, dass es aus ihrer Sicht Ich kenne etliche Akademiker und auch Kollegen hier keine Gründe gebe, in diesem Bereich aktiv zu werden. im Bundestag, die aus Elternhäusern ohne akademi- Die Linke sieht das anders. Und wer in den letzten Jah- schem Hintergrund kommen und die schon sehr früh ren eine Hochschule von innen gesehen hat, wird uns da- dazu erzogen wurden, „habituelle Differenzen“ oft zum bei Recht geben. Dies möchte ich im Folgenden begrün- Vorteil vor schlampigen Akademikerkindern zu nutzen, den. weil ihre Eltern, auch ohne akademischen Hintergrund, das Beste für ihre Kinder wollten, sie gut erzogen und Zum ersten Punkt: die Hochschulzulassung. Wir alle ihnen den notwendigen Leistungswillen mitgaben. wissen, dass das deutsche Bildungssystem soziale Un- gleichheit reproduziert. Das wird nicht nur in internatio- Die Linken setzen in ihrem Antrag auf staatliche Be- nalen Vergleichsstudien immer wieder nachgewiesen. vormundung. Sie wollen keine Freiheit für die Hoch- Damit dürfen wir uns nicht abfinden: Es kann nicht sein, schulen und die Studierenden. Wir dagegen setzen auf dass der Bildungsweg junger Menschen insbesondere Selbstorganisation und Selbstbestimmung. Die Hoch- vom Geldbeutel ihrer Eltern abhängt. Die Bundesregie- schulen benötigen wirkliche Autonomie, um wieder an rung müsste sich in ihrer Hochschulpolitik daher in aller- die Spitze zu kommen. Dies gilt für Personal- ebenso erster Linie dafür einsetzen, den Zugang zu den Hoch- wie für Organisations- und Budgetangelegenheiten. schulen sozial zu öffnen. Hochschulen sollen sich ihre Studentinnen und Studen- ten selbst aussuchen können, und umgekehrt sollen die SPD und Union haben in ihrem Koalitionsvertrag in Studentinnen und Studenten die Möglichkeit haben, die diesem Zusammenhang zumindest ein unterstützenswer- für sie beste Universität auszuwählen. Die Forderung der tes Vorhaben vereinbart: Sie wollen den Berufsabschluss Linken, die Möglichkeiten für individuelle Auswahlver- zur Zugangsberechtigung für Hochschulen machen. Das fahren der Hochschulen wieder zurückzunehmen, ist ge- wäre ein wichtiger – und längst überfälliger – Schritt zu radezu grotesk. Wir brauchen keine Zentralstelle für die mehr Durchlässigkeit in unserem Bildungssystem. Auf Vergabe von Studienplätzen. Das ist planwirtschaftliches unsere Nachfrage, wann endlich ein solcher Gesetzent- (B) (D) altes Denken. wurf vorgelegt wird, erhalten wir von der Bundesregie- Wir setzen darauf, dass die Länder zunehmend die rung nun aber die Antwort, dass sie hier entgegen der Budgets der Hochschulen jedenfalls auf die Lehre bezo- Koalitionsvereinbarung keine Neuregelung plant. Statt- dessen schiebt sie nun auch hier die Entscheidungsmacht gen an die Studierenden bindet. So wird ein Wettbewerb der Hochschulen um die Studenten und um das beste den Ländern zu. Für Die Linke ist es nicht hinnehmbar, Lehrangebot in Gang gesetzt. Das Hochschulgesetz in wenn ausgerechnet dieser wichtige Schritt zur sozialen Öffnung der Hochschulen und zur Gleichstellung akade- NRW zeigt, welchen Weg die Länder gehen können, um Freiheit für die Hochschulen zu schaffen. mischer und beruflicher Bildungswege auf der Strecke bleibt. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, Noch ein Wort zu den Hochschulkapazitäten im Osten: schnellstmöglich ihre Hausaufgaben zu machen. Die Studienplatzkapazitäten dieser Hochschulen müs- sen erhalten werden. Sie sind ein Pfund beim Bemühen, Daneben sind auf dem Weg zu einer sozial gerechten allen Studieninteressierten eine qualitativ hochwertige Hochschulzulassung weitere Schritte erforderlich: Mit Ausbildung anzubieten. Nach der Prognose „Studien- der 7. Novelle des Hochschulrahmengesetzes stärkte da- platzkapazität“ des Centrums für Hochschulentwicklung mals noch Rot-Grün das Auswahlrecht der Hochschulen. wird es ab 2009 einen deutlichen Überschuss an Studien- Die Folge ist, dass es inzwischen an fast jeder Hoch- plätzen in den neuen Bundesländern geben – 2010 be- schule individuelle Auswahlgespräche oder so genannte reits über 15 000 Studienplätze – bei einem Defizit von Studierfähigkeitstests gibt. Das ist vor allem für Jugend- 46 000 Plätzen in den alten Bundesländern. liche aus nicht akademischen Elternhäusern ein Pro- blem: nicht nur weil häufig Gebühren für diese Aus- Wir fordern deshalb eine Marketing-Aktion „Go wahlverfahren anfallen und weitere Kosten von den East“ bei den Abiturienten. Wie gut das Lehrangebot ge- Studienanwärterinnen und -anwärtern selbst getragen rade auch an vielen Ost-Hochschulen ist, ist oft noch werden müssen, sondern auch weil hierbei immer auch nicht einmal im Osten selbst bekannt. der kulturelle Habitus eine Rolle spielt. Ein Arbeiterkind scheint eben viel schlechter in die Hochschule zu passen Wir schlagen deshalb vor, die Solidarpakt-II-Mittel als der Sohn eines Arztes. Wer von den beiden im Zwei- auch für Hochschulausgaben – und auch für einen be- fel dann den Studienplatz bekommt, dürfte klar sein. Die stimmten Teil der Personalausgaben – zuzulassen. Bundesregierung hat in einer Antwort auf eine Kleine Bei allen politischen Differenzen muss es doch vor al- Anfrage von uns selbst zugegeben, dass bei individuel- lem um das Eine gehen: der jungen Generation so gute len Auswahlgesprächen eine soziale Diskriminierung Chancen wie nur möglich einzuräumen. nicht vollständig ausgeschlossen werden kann. Wer 5640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) dieses aber erkannt hat, handelt unverantwortlich, wenn dern, dass der bundesweite Akkreditierungsrat gestärkt (C) er keine gesetzliche Änderung vornimmt. Wir fordern und demokratisiert wird. Das Akkreditierungssystem, von der Bundesregierung ein neues Hochschulzulas- also die Zulassung bestimmter Studiengänge an Hoch- sungsgesetz, das einen sozial gerechten Zugang zu den schulen, muss in öffentlicher Verantwortung liegen. Hochschulen sichert. In dieser Woche wurde zwischen Bund und Ländern Der zweite Punkt sind die Hochschulabschlüsse. An- eine erste Einigung zum Hochschulpakt erzielt. Dieser gestoßen durch den Bolognaprozess zur Schaffung eines Pakt darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass an den einheitlichen europäischen Hochschulraums werden die Hochschulen auch strukturelle Reformen notwendig Studiengänge in zahlreichen Ländern auf die Abschlüsse sind. Die Bundesregierung ist aufgefordert, hier endlich Bachelor und Master umgestellt. In Deutschland wird aktiv zu werden. In diesem Sinne freuen wir uns auf die dieser Prozess derzeit zu einem massiven Bildungsabbau Diskussion und die Beratungen im Ausschuss zu unse- genutzt: Während die große Masse der Studierenden sich rem Antrag. mit einem billigen Bachelorstudium abfinden soll, bleibt das Masterstudium einer kleinen Elite vorbehalten. Der Bachelor wurde von den Kultusministern als Regelab- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das schluss bezeichnet. Der Zugang zum Master ist an den Bürgerrecht auf freien Hochschulzugang ist die Grund- allermeisten Hochschulen eng begrenzt. Diese Entwick- lage aller Diskussionen über Hochschulzulassung. Die- lung ist für Die Linke nicht hinnehmbar. Wir fordern ses Recht impliziert für uns, dass der Hochschulzugang stattdessen: Der Master muss Regelabschluss sein. nicht sozial selektiv sein darf. Es darf nicht ausgehöhlt werden durch neue Schlösser vor den Hörsaaltüren, Das Akkreditierungssystem, das zur Anerkennung der seien es Studiengebühren, flächendeckende NCs oder neuen Studiengänge geschaffen wurde, soll die Ver- gar fehlende Studienplätze. Deswegen muss der freie gleichbarkeit von Studiengängen garantieren, Studieren- Hochschulzugang auf dem Papier durch eine demo- den damit Mobilität ermöglichen und gleichzeitig Im- grafie- und nachfragegerechte Steigerung zu wirklich pulse für Studienreformen geben. In seiner jetzigen offenen Hörsaaltüren in der Realität führen. Ein freier Ausgestaltung kann es allerdings keine dieser Aufgaben und guter Zugang beginnt nicht erst an den Hochschu- erfüllen. Es fehlen klare, einheitliche Mindeststandards len: Schon die Schülerinnen und Schüler müssen besser für Studiengänge. Das System ist zutiefst intransparent auf die Studien- und Berufspraxis vorbereitet werden – und genügt keinerlei demokratischen Ansprüchen. Die vor allem durch die Förderung selbstständigen Arbeitens Studierenden, die unter schlechten Studienbedingungen und Lernens. Außerdem ist eine bessere Information und am meisten leiden, sind nach wie vor an vielen Akkredi- Beratung zur Studien- und Berufswahl essenziell. (B) tierungsverfahren unbeteiligt. Und wenn sie beteiligt (D) werden, dürfen sie häufig nicht selber entscheiden, durch Um die Passung zwischen Studierenden und Hoch- wen sie vertreten werden. schule zu verbessern, hat Rot-Grün das individuelle Auswahlrecht der Hochschulen gestärkt. Dadurch kann Immer häufiger erreichen uns Klagen von Studieren- die Zahl der Studienabbrecher gesenkt werden. Außer- den, deren Studienleistungen noch nicht einmal von der dem bewerben sich aufgrund des neuen Auswahlrechts Nachbarhochschule anerkannt werden – geschweige mehr Studierende für bislang weniger begehrte Hoch- denn von Hochschulen in anderen Bundesländern. Bolo- schulstandorte, wie erste wissenschaftliche Untersu- gna hat ihnen die großen Freiheit versprochen: Ein Jahr chungen belegen. Diese jungen Menschen steigern so in Berlin, eins in London, eins in Paris – so sollten die ihre Chancen auf einen Studienplatz und nutzen gleich- Bachelor von morgen aussehen. Nun bleiben sie zwi- zeitig bestehende regionale Überkapazitäten an Studien- schen Hannover und Bochum auf der Strecke. Auf die plätzen – ein wichtiger Faktor auch in der aktuellen versprochene Vergleichbarkeit der neuen Studiengänge Diskussion um den Hochschulpakt. Die Hochschulen warten die Studierenden bis heute. Und die Bundesregie- müssen nun von den Ländern konzeptionell und finan- rung macht bislang nicht den Eindruck, als wollte sie die ziell in die Lage versetzt werden, ihr Auswahlrecht an- Studierenden in diesem Anliegen unterstützen. gemessen wahrzunehmen. Keinesfalls dürfen die Kosten für Auswahlmaßnahmen auf die Studierenden abgewälzt Der Bolognaprozess hat uns eine strukturelle Harmo- werden. nisierung der europäischen Hochschulbildung verspro- chen. Die inhaltliche Vielfalt sollte dabei nicht einge- Sinnvoll erscheint ein Mix von verschiedenen Aus- schränkt werden. Die Studieninhalte scheinen nun aber wahlinstrumenten, in dem die Abiturdurchschnittsnote der einzige Punkt zu sein, in dem wir wirklich eine zu- eine zentrale, aber nicht alleinige Bedeutung hat. Des nehmende Vergleichbarkeit der Hochschulen beobach- Weiteren können berufliche Qualifikation – für den Zu- ten: Die Studiengänge werden auf die unmittelbare Ver- gang von Menschen ohne Abitur –, fachspezifische Ein- wertbarkeit der vermittelten Qualifikationen auf dem gangstests und die Wartezeit eine Rolle spielen. Die ein- Arbeitsmarkt ausgerichtet. Was nicht in den Mainstream zelnen Auswahlverfahren sind kritisch im Hinblick auf passt, wird herausakkreditiert. Inhaltliche Pluralität oder Validität, Verlässlichkeit und soziale Selektivität zu eva- gar gesellschaftskritische Wissenschaft bleiben so zuse- luieren, beispielsweise durch Monitoringbeiräte in den hends auf der Strecke. Impulse für die Lösung gesell- Ländern. Um einen repräsentativen Hochschulzugang schaftlicher Probleme können von den Absolventinnen von sozial benachteiligten Gruppen zu erreichen, sollten und Absolventen solcher Studiengänge wohl weniger er- Länder und Hochschulen im Rahmen der kriterien- wartet werden. Diese Entwicklung ist falsch. Wir for- gebundenen Mittelvergabe Zielvereinbarungen treffen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5641

(A) Die Forderung der Linksfraktion nach einer Abschaf- Recht, nämlich das des Mitgliedstaates, in dem der (C) fung von guten Auswahlverfahren lehnen wir dagegen Hauptsitz gewählt wurde, maßgeblich ist. ab. Sie läuft darauf hinaus, dass ausschließlich die Abi- turnote über den Hochschulzugang entscheidet. Dies ist Die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes sachlich nicht angemessen, eindimensional und nicht ge- schreitet voran. Der Bedarf der europäischen Kapitalge- recht. Aber auch die Koalition weiß nicht, was sie will: sellschaften nach Kooperation und Reorganisation Der Hochschulzugang für beruflich Qualifizierte ohne wächst. Die Umsetzung der erwähnten Richtlinie trägt Abitur soll laut Koalitionsvertrag im Hochschulrecht ge- diesem Bedarf Rechnung. Gleichzeitig sollen jedoch die öffnet und verankert werden. Passiert ist bislang nichts. Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Ar- Also, was plant die Koalition? Wie will sie den Hoch- beitnehmer gesichert werden. schulzugang für beruflich Qualifizierte erleichtern? Die CDU/CSU-Fraktion hat an der Wiege der Mitbe- Wir begrüßen, dass durch die Einführung der Bachelor- stimmung gestanden und fühlt sich dieser Tradition auch und Masterstudienabschlüsse die Mobilität von Lehren- weiterhin verpflichtet. Die Mitbestimmung hat sich be- den, Lernenden und Forschenden erleichtert, die Trans- währt. Das sehen nicht nur die Arbeitnehmer, sondern parenz bei der Anerkennung von Berufsqualifikationen auch die Mehrheit der Arbeitgeber in unserem Land so. und Studienleistungen erhöht und der Zugang zu Bil- Der Mitbestimmung verdanken wir unter anderem den dung und Weiterbildung weiter geöffnet werden sollen. vergleichsweise hohen betrieblichen Frieden. Bestehende Hürden beim Übergang vom Bachelor zum Beim Zusammenschluss von Unternehmen auf euro- Master – insbesondere für Frauen – müssen dabei drin- päischer Ebene können nun aber auch für deutsche Ar- gend erörtert und behoben werden. beitnehmer die Mitbestimmungsregelungen unserer Ob Mindeststandards bei Hochschulzulassung und -ab- Nachbarländer gelten. Mit welcher Zielvorstellung geht schlüssen bundesgesetzlich festgelegt werden sollten, ist der heute debattierte Gesetzentwurf an dieses Problem zu diskutieren. Wenn, dann brauchen wir eine schlanke heran? Das Gesetz soll die in den an der Verschmelzung Regelung. Sinnlos sind neue Bundesgesetze, die, wie von beteiligten Gesellschaften erworbenen Mitbestim- von der Linksfraktion vorgeschlagen, im offenen Wider- mungsrechte der Arbeitnehmer sichern. spruch zur Position der Länder stehen, besonders in den Wie soll dieses im Einzelnen geschehen? Entschei- Regelungsbereichen, die bisher aufgrund von Staatsver- dendes Grundprinzip des Gesetzesentwurfs ist der trägen oder im Hochschulrahmengesetz bundeseinheit- Schutz erworbener Rechte der Arbeitnehmer durch das lich gelten. Denn auch wenn, wie von Ministerin „Vorher-Nachher-Prinzip“. Das bedeutet, dass sich der Schavan geplant, das Hochschulrahmengesetz abge- vorhandene Umfang an Mitbestimmungsrechten der Ar- schafft wird – was ich für falsch halte –, gelten die in die (B) beitnehmer grundsätzlich auch in der aus der grenzüber- (D) jeweiligen Landesgesetze eingeflossenen Regeln weiter. schreitenden Verschmelzung hervorgehenden Gesell- Wer den Ländern aber ein umfassendes und detailliertes schaft wiederfinden soll. Dabei müssen jedoch aufgrund Bundesgesetz vor die Nase setzt, provoziert geradezu des grenzüberschreitenden Charakters unterschiedliche deren Rebellion. Jedes Land wird dann sein Abwei- Rechtslagen verschiedener Mitgliedstaaten, in denen die chungsrecht nutzen und eigene Gesetze erlassen. Dies verschmolzene Gesellschaft die Arbeitnehmer beschäf- gefährdet die noch bestehende Einheitlichkeit und führt tigt, berücksichtigt werden. Aus diesem Grund sieht die geradewegs zu dem befürchteten gesetzgeberischen Richtlinie in den Fällen des Art. 16 Abs. 2 ein der SE Flickenteppich. Studentische Mobilität reicht dann nur – der Europäischen Gesellschaft – und der SCE bekann- noch bis zur Landesgrenze. tes Verfahren zur Festlegung der Mitbestimmung der Ar- beitnehmer vor. Dabei haben praxisnahe Verhandlungs- lösungen über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer Anlage 6 Vorrang vor gesetzlich vorgeschriebenen Regelungen. Zu Protokoll gegebene Reden Diese Verhandlungslösung ist ein wesentlicher Bau- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur stein der neuen Regelung. Die große Vielfalt unter- Umsetzung der Regelungen über die Mitbestim- schiedlicher Unternehmen erfordert unterschiedliche mung der Arbeitnehmer bei einer Verschmel- Partizipationsformen für die Arbeitnehmer. Vereinba- zung von Kapitalgesellschaften aus verschiede- rungslösungen schaffen Raum für differenzierte Modelle nen Mitgliedstaaten (Tagesordnungspunkt 17) und passen in die europäische Entwicklung. Auch die Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat setzt auf Ver- einbarungslösungen durch ein besonderes Verhandlungs- Michael Hennrich (CDU/CSU): Das Gesetz zur gremium. Diese Regelung ist in den 90er-Jahren unter Umsetzung der Regelungen über die Mitbestimmung der maßgeblicher Beteiligung des damals unionsgeführten Arbeitnehmer bei einer Verschmelzung von Kapital- Bundesarbeitsministeriums entstanden. Ich freue mich, gesellschaften aus verschiedenen Mitgliedstaaten hat die dass dieser Lösungsweg auch hier erneut aufgegriffen Eins-zu-Eins-Umsetzung des Art. 16 der Richtlinie wird. 2005/56/EG zum Ziel. Diese Richtlinie stellt einen wich- tigen Schritt bei den Bemühungen der Europäischen Was passiert aber, wenn keine Einigung erzielt wer- Union um Fortschritte im Rahmen der Lissabonstrategie den kann? Für den Fall, dass die Verhandlungen des be- dar. Sie legt fest, dass für die aus der Verschmelzung her- sonderen Verhandlungsgremiums scheitern, enthält der vorgegangene Gesellschaft nur noch ein nationales Vorschlag eine Auffangregelung. Dann kommt die 5642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Mitbestimmung kraft Gesetzes zur Anwendung und si- Wie wirken sich diese unterschiedlichen Regelungen (C) chert so die Rechte der Arbeitnehmer. auf Deutschland aus? Durch die Entwicklung des Bin- nenmarktes gibt es einige mögliche negative Konse- Wie werten wir diese Regelungen? Insbesondere die quenzen für den Standort Deutschland: Insbesondere die Sicherung der Mitbestimmung vorrangig auf dem Ver- großzügigen Beteiligungsrechte in den Aufsichtsräten handlungsweg ist sehr zu begrüßen. Der Vorrang der lösen bei so manchem ausländischen Unternehmen si- Verhandlungslösungen ermöglicht einen sinnvollen Aus- cherlich einen Kulturschock aus. Denn kein anderes Mit- gleich der in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden glied der Europäischen Union schreibt eine paritätische Rechtslagen und zugleich eine sachgerechte Anpassung Besetzung des Aufsichts- und Verwaltungsrates vor. An- an die Bedürfnisse und Strukturen der zukünftigen Ge- dererseits hat sich Daimler-Chrysler bewusst und aus- sellschaft. Zudem können durch Vereinbarungslösungen drücklich mit der Begründung der Unternehmensbestim- eventuelle Nachteile der bestehenden Regelungen zur mung für den Standort Deutschland entschieden. Das Unternehmensmitbestimmung aufgefangen werden. In amerikanische Unternehmen General Motors hat für Kombination mit der Auffangregelung, die die Mitbe- seine deutsche Tochter Opel die Unternehmensmitbe- stimmung sichert, bilden die Regelungen einen guten In- stimmung ebenfalls akzeptiert. teressenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Unter- nehmen. Die europäische Gesellschaftsrechtsentwicklung lässt aber andere Lösungen zu. Durch die Entscheidung des Nun näher ins Detail: Im Rahmen des Gesetzesent- Europäischen Gerichtshofes zur Niederlassungsfreiheit wurfs reden wir über die Mitbestimmung auf der Unter- dürfen künftig auch ausländische Unternehmen, die ihre nehmensebene. Wie sieht es bei uns in Deutschland da- Zentrale nach Deutschland verlegen, die Beteiligungsge- mit aus? Deutschland hat im europäischen Vergleich die setze ihrer Heimat anwenden. Zieht etwa eine britische meisten Mitbestimmungsgesetze und die größte Anzahl Aktiengesellschaft nach Deutschland, so gelten die Vor- unterschiedlicher Arbeitnehmervertretungsorgane. Ins- gaben aus Großbritannien. Nach deutschem Recht ge- gesamt regeln acht verschiedene Gesetze die Mitbestim- gründete Firmen unterliegen aber weiter der deutschen mung, vier davon die Entscheidungen auf Unternehmens- Mitbestimmung. ebene. Auch infolge der Fusionsrichtlinie wird den derzeiti- gen deutschen Regeln praktisch eine Absage erteilt. So Nirgendwo sind die Mitwirkungs- und Mitbestim- werden die Arbeitnehmer nach einem Zusammenschluss mungsrechte der Arbeitnehmer im Unternehmen so weit zweier europäischer Unternehmen nur noch maximal ein gehend geregelt wie hierzulande. Die überwiegende Drittel der Aufsichtsratssitze im fusionierten Konzern Mehrzahl der europäischen Länder hat im Gegensatz zu erhalten, außer die Verhandlungsparteien vereinbaren (B) Deutschland weitaus höhere Schwellenwerte, die festle- (D) freiwillig etwas anderes. Die Folgen sind ähnlich wie die gen, ab wie vielen Beschäftigten eine Arbeitnehmerver- Konsequenzen der Niederlassungsfreiheit: Künftig wer- tretung gewählt werden kann. Beachtet man die Montan- den hierzulande sowohl Betriebe mit paritätischer Mit- mitbestimmung, nimmt Deutschland eine weltweit bestimmung als auch Firmen mit weniger Mitsprache einzigartige Stellung ein. Kein Land kennt eine so um- ihre Zentrale haben. fassende Beteiligung der Arbeitnehmer und der Gewerk- schaften in den Aufsichtsräten. Als letztes noch das Stichwort „Europäische Aktien- gesellschaft“: Unternehmen können seit kurzem eine Eu- Vergleichen wir dies nun mit der Mitbestimmung in ropäische Aktiengesellschaft – SE – bilden. Zuvor müs- anderen europäischen Ländern: Die betriebliche Mitbe- sen sich Beschäftigte und Unternehmensleitung jedoch stimmung ist kein exotisches, überkommenes Phänomen auf ein Mitbestimmungsmodell verständigen. Schaffen der deutschen Wirtschaft. Auf betrieblicher Ebene zeigt sie das nicht, muss sich das gesamte Unternehmen an die der Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn: Auch weitestgehenden Regelungen halten, die eine der be- in anderen Ländern haben die Beschäftigten Anspruch teiligten Gesellschaften in die Liaison einbringt. Die auf Mitsprache und Information, teilweise mehr als hier- Allianz gehört zu den Pionieren dieser Entwicklung. Wir zulande. Bei der Unternehmensmitbestimmung sieht es müssen erst noch sehen, welche Erfahrungen wir mit der hingegen anders aus: Klammert man Staatsunternehmen neuen Rechtslage machen. und die Möglichkeit der Freiwilligkeit aus, dann gibt es in 14 der 25 Mitgliedstaaten der EU überhaupt keine Un- Angesichts der veränderten Rechtslagen und neuen ternehmensmitbestimmung. Eine paritätische Mitbe- Entwicklungen, deren Ausgang noch abzuwarten ist, stimmung gibt es nur in Deutschland und Slowenien in müssen unsere Mitbestimmungsgesetze erneuert wer- Unternehmen mit mehr als 1 000 Arbeitnehmern. Wenn den. Die Praxis der Mitbestimmung wird sich in es eine Mitbestimmung auf Unternehmensebene in Deutschland schon aufgrund der erwähnten gesell- schaftsrechtlichen Gesetzgebung der Europäischen Europa gibt, so ist dies in den meisten Fällen die Eindrit- Union, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts- telbeteiligung der Arbeitnehmer, entweder im Kontroll- hofes sowie des internationalen Standortwettbewerbs organ Aufsichtsrat oder im Verwaltungsrat. Dies ist der ohnehin ändern. Deutschland kann sich dieser Entwick- Fall in Luxemburg im Verwaltungsrat, in Österreich, lung, die aus dem Wettbewerb der Gesellschaftsrechts- Polen, der Slowakischen Republik, Ungarn und Slowe- systeme entsteht, also nicht entziehen. nien – bis 1 000 Arbeitnehmer –. In Großbritannien, Frankreich, Spanien und Belgien gibt es keinerlei Mitbe- Die deutschen Regelungen haben viele Vorteile. Die stimmung in den Aufsichtsräten. Beteiligung kann etwa die Identifikation der Belegschaft Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5643

(A) mit dem Unternehmen steigern und den betrieblichen den, über die angesprochenen Verhandlungslösungen (C) Frieden sichern. Gemeinsame Konfliktbewältigung, Ein- auch auf deutscher Ebene zu diskutieren. Die Menschen bindung in Entscheidungsprozesse und Übernahme der in den Betrieben müssen und dürfen sich Gedanken ma- Mitverantwortung von Arbeitnehmern stellen gerade in chen über die Ausgestaltung ihrer Rechte. Sie haben die Zeiten wirtschaftlicher Umbrüche entscheidende posi- größte Nähe zu den Erfordernissen der Belegschaft und tive Elemente dar. Insbesondere die Gewerkschaftsver- des Unternehmens. Durch den Verhandlungsvorrang treter sehen in der Mitbestimmung eine Bestimmungs- wird eine Prägung durch den Subsidiaritätsgrundsatz, größe für die bisherigen wirtschaftlichen Erfolge der sich als Leitlinie durch unser und auch das europäi- Deutschlands und fordern aus diesem Grund sogar ihre sche Rechts- und Gesellschaftssystem zieht, auch im Ausweitung. Mitbestimmungsrecht möglich. Davon lassen sich fle- xible und maßgeschneiderte Mitbestimmungslösungen Auf der anderen Seite steht die Mitbestimmung aber für die Unternehmen und damit auch für die Arbeitneh- als Belastung für das Wirtschaftswachstum und die wei- mer positive Auswirkungen erhoffen. tere wirtschaftliche Entwicklung in der Diskussion. Fle- xible Mitbestimmungsregelungen können einen ent- Es geht aber um noch mehr: Nicht nur Deutschland scheidenden Beitrag für Deutschland als attraktiven als einzelnes Land, sondern auch Europa als Ganzes Standort leisten und der oben angesprochenen Entwick- muss sich im Weltmarkt behaupten. Die Richtlinien- lung entgegensteuern. Beispielsweise werden immer umsetzung ist daher zu begrüßen, da sie den Wirtschafts- wieder die Größe der Aufsichtsräte und deren Zusam- standort Europa stärken wird. mensetzung, das heißt nur Betriebszugehörige oder auch betriebsfremde Mitglieder, ins Gespräch gebracht. Wir kommen heute der Aufforderung der Europäi- schen Union nach und übertragen die Richtlinie 2005/ Wie heftig die unterschiedlichen Ansichten diskutiert 56/EG durch den heute vorliegenden Gesetzesentwurf werden, hat sich auf dem Deutschen Juristentag im Sep- eins zu eins in deutsches Recht. Zugleich setzen wir ein tember erneut gezeigt: Hier führten insgesamt unüber- Zeichen, dass unser Mitbestimmungsrecht in Bewegung brückbare Ansichten dazu, dass einvernehmlich auf eine kommt und beweglicher wird. Kampfabstimmung verzichtet wurde, um die weitere Dialogfähigkeit nicht zu gefährden. Anette Kramme (SPD): „Die Mitbestimmung der Allen Beteiligten ist jedoch klar, dass sich das Mitbe- Arbeitnehmer in den Unternehmensorganen ist nicht nur stimmungsrecht an die neuen Anforderungen anpassen politisch gefordert und historisch gegeben, sondern muss. Fest steht: Es geht nicht um die Abschaffung der sachlich notwendig.“ So lautete der Eingangssatz der Unternehmensmitbestimmung, sondern es geht darum, Empfehlungen der ersten Mitbestimmungskommission (B) sie europatauglich auszugestalten. Derzeit arbeitet eine unter Professor Kurt Biedenkopf. Das sah damals auch (D) Kommission unter Leitung von Professor Dr. Kurt die Mehrheft der Abgeordneten so: In diesem Jahr konn- Biedenkopf Reformvorschläge aus. Ausgehend vom gel- ten wir 30 Jahre Mitbestimmungsgesetz feiern. Die Mit- tenden Recht soll sie bis Ende des Jahres Vorschläge für bestimmung ist mittlerweile ein nicht wegzudenkender eine moderne und europataugliche Weiterentwicklung Teil unserer sozialen Marktwirtschaft geworden. Auch der deutschen Unternehmensmitbestimmung erarbeiten. die deutsche Bevölkerung möchte die Unternehmensmit- Die Regierungskommission beschäftigt sich dabei mit bestimmung nicht mehr missen. „Das deutsche Modell der strategischen Frage, wie die Mitbestimmung in der Unternehmensmitbestimmung hat sich bewährt, des- Deutschland unter den veränderten Rahmenbedingungen halb sollte man es erhalten.“ Dieser Aussage stimmen der Weltwirtschaft gesichert werden kann. In unserem laut einer Umfrage von TNS Emnid vom August 2006 Koalitionsvertrag steht: „Wir werden die einvernehmlich 83 Prozent zu. erzielten Ergebnisse der Kommission aufgreifen und so- In Europa haben wir verschiedene Traditionen, was weit erforderlich und geboten Anpassungen der nationa- die Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- len Unternehmensmitbestimmung vornehmen.“ mer am Wirtschaftsleben angeht. Die deutsche Mitbe- Wir brauchen Regelungen, die die Wettbewerbsfähig- stimmung wird jedoch zu Unrecht als Exot dargestellt: keit der deutschen Unternehmen stärken und grenzüber- 18 von 25 EU-Mitgliedstaaten kennen eine Mitbestim- schreitende Kooperationen, Fusionen und Sitzungsverle- mung von Arbeitnehmern oder deren Vertretern im gungen aus dem Ausland nach Deutschland, aber auch höchsten Unternehmensorgan. Man weiß also auch in umgekehrt, so einfach wie möglich machen. Denn bei al- anderen Staaten, dass die Beteiligung von Arbeitneh- len widerstreitenden Interessen im Mitbestimmungsrecht mern an Entscheidungsprozessen der Unternehmen sinn- sollten wir eines besonders im Auge behalten: voll ist. Nicht umsonst beneidet man Deutschland wegen des sozialen Friedens in unseren Betrieben. Es geht zunächst darum, wie Deutschland im europäi- schen Vergleich dasteht. Schon oft sind aus Europa posi- Die Diskussion um die Fusionsrichtlinie, mit der die tive Impulse für unser Land gekommen. Es lohnt sich, Verschmelzung von Kapitalgesellschaften aus verschie- diese aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Das Bench- denen Mitgliedstaaten erleichtert werden soll, war sehr marking der Europäischen Union kann einen guten Weg kontrovers. Letztendlich ist ein gutes Ergebnis herausge- aufzeigen. Wir können einen wertvollen Impuls für die kommen. Die alte Bundesregierung hat – und das mit Er- Entwicklung der Mitbestimmung in Deutschland auf- folg – dafür gekämpft, dass die europäische Fusions- nehmen. Insofern hoffe ich, dass die Vorschläge der richtlinie mitbestimmungsfreundlich ausgestaltet wird. Biedenkopf-Kommission uns Gelegenheit geben wer- In Anlehnung an die Regelungen des Gesetzes über die 5644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Beteiligung der Arbeitnehmer in der Europäischen Ge- schen an den grundsätzlichen Unternehmensentschei- (C) sellschaft wird in der Fusionsrichtlinie sichergestellt, dungen beteiligt sind. dass die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer gut vertreten werden können. Heinz-Peter Haustein (FDP): Durch die europäi- Unter folgenden Voraussetzungen greift das Sitzstaat- sche Integration haben wir heute wieder einmal Anlass, recht deshalb nicht und es kommt zur Verhandlungslö- über die Mitbestimmung zu reden. Wir alle müssen ein sung. Interesse an einer zügigen Umsetzung der hier zur Debatte stehenden europäischen Verschmelzungsricht- Das ist der Fall, wenn erstens eine der an der grenz- linie haben, um die bestehende Rechtsunsicherheit für überschreitenden Verschmelzung beteiligten Gesell- diejenigen Unternehmen zu beseitigen, die sich mit dem schaften mitbestimmt ist und in den sechs Monaten vor Gedanken tragen, grenzüberschreitend zu fusionieren. der Veröffentlichung des Verschmelzungsplans in der Die hier in Rede stehenden Regelungen betreffen in- Regel mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigte, oder direkt auch Fragen, die zur Aufgabenstellung der so ge- wenn zweitens das innerstaatliche Recht, das für die aus nannten Biedenkopf-Kommission gehören, die sich mit der grenzüberschreitenden Verschmelzung hervorge- der Mitbestimmung befasst. Daher wäre es ratsam, die hende Gesellschaft maßgeblich ist, nicht mindestens den Ergebnisse eben dieser Kommission abzuwarten, die gleichen Umfang an Mitbestimmung, wie er in den je- Ende dieses Jahres vorgelegt werden sollen, um eine Be- weiligen an der Verschmelzung beteiligten Gesellschaf- nachteiligung deutscher Unternehmen und damit des ten bestand, gewährleistet oder wenn drittens das für die ganzen Standortes Deutschland möglichst gering zu hal- aus der grenzüberschreitenden Verschmelzung hervorge- ten. Die FDP hält dies schon für den ersten Fehler. hende Gesellschaft maßgebende innerstaatliche Recht Arbeitnehmern in Betrieben anderer Mitgliedstaaten Der vorgelegte Entwurf lehnt sich an die Vorschriften nicht den gleichen Anspruch auf Ausübung von Mitbe- des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in stimmungsrechten wie denjenigen Arbeitnehmern ge- einer europäischen Gesellschaft – SE: Societas Euro- währt, die am Sitzstaat der Gesellschaft beschäftigt sind. paea –, des SE-Beteiligungsgesetzes an. Er setzt im We- sentlichen die zwingenden Regelungen der Richtlinie Regelmäßig werden zwei der genannten Vorausset- über die Arbeitnehmerbeteiligung bei grenzüberschrei- zungen bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung tenden Verschmelzungen um. Aber genauso, wie beim zu einer Kapitalgesellschaft mit Sitz in Deutschland er- SEBG nutzt auch er nicht die vorhandenen Flexibilitäts- füllt. Einerseits stimmt der Schwellenwert mit den Vor- spielräume. gaben des Drittelbeteiligungsgesetzes überein. Anderer- seits haben die in einem anderen Mitgliedstaat Die FDP teilt die grundsätzlich richtige Einschätzung (B) beschäftigten Arbeitnehmer der Gesellschaft nicht den aus der Gesetzesbegründung, hier werde die Möglichkeit (D) gleichen Anspruch auf Ausübung von Mitbestimmungs- eröffnet, speziell auf die Situation der geplanten Gesell- rechten. schaft zugeschnittene Regelungen zu treffen. Neben den Seit einigen Jahren ist die Unternehmensmitbestim- bekannten Formen könnten so neue Konzepte und Ver- mung wieder Gegenstand wissenschaftlicher und politi- fahren der Mitbestimmung entwickelt werden. Aber scher Kontroversen. Als Klotz am Bein und unzeitge- diese Einschätzung aus der Gesetzesbegründung geht an mäß wird die Mitbestimmung betitelt. BDA und BDI, der so genannten Auffangregelung vorbei, die bei einer sekundiert von der FDP, fordern regelmäßig eine „An- Beteiligung deutscher mitbestimmter Unternehmen an passung“ der deutschen Mitbestimmung an den europäi- grenzüberschreitenden Fusionen eine freie Aushandlung schen Standard, was nichts anderes ist als die Forderung von Mitbestimmungsregeln nur in engen Grenzen zu- nach Abbau von Mitbestimmungsrechten. Interessant ist, lässt. dass vor allem die deutschen Verbandsvertreter über den Nur wenn von dem in der Verschmelzungsrichtlinie ein- angeblich so wenig attraktiven Standort Deutschland geräumten Umsetzungsspielraum auch Gebrauch gemacht lamentieren. Die deutsche Mitbestimmung wirke ab- würde, könnten gleichberechtigte Verhandlungen über die schreckend auf ausländische Konzerne, heißt es immer Mitbestimmung bei Beteiligung deutscher Unternehmen wieder. an grenzüberschreitenden Verschmelzungen gewährleistet Aus dem Ausland sind jedoch ganz andere Stimmen werden. zu vernehmen. „Wer die deutsche Mitbestimmung in- Die Bundesregierung fasst in ihrer Stellungsnahme in frage stellt, riskiert Produktivitätsverluste der deutschen Anlage 3 zusammen: Bei der Umsetzung jener Regelun- Wirtschaft.“ Das sagte zum Beispiel der amerikanische gen, die dem Gesetzgeber Gestaltungsspielraum lassen, Wirtschaftsforscher Edward Lazear von der Stanford orientiert sich der Gesetzentwurf an dem SE- und dem University. Nach einer veröffentlichten Studie der Unter- SCE- Beteiligungsgesetz und folgt damit bereits gelten- nehmensberatung Ernst & Young von 2006 ist Deutsch- dem deutschen Recht. land aus Sicht international tätiger Unternehmen der attraktivste Standort in Europa. Von den 767 Unterneh- Die FDP hält das für falsch. Unsere Position zur Mit- men, die dem deutschen Mitbestimmungsgesetz unter- bestimmung der Arbeitnehmer in großen Unternehmen liegen, gehören rund 30 Prozent zu ausländischen Kon- ist bekannt: Erstens. Wir fordern, die paritätische Mitbe- zernen. So abschreckend, wie behauptet, kann unsere stimmung aufzugeben und zu einer Drittelparität als ge- Mitbestimmung folglich nun wirklich nicht sein. Nach- setzlichem Mindeststandard bei Nichteinigung zwischen haltiges Wachstum ist eher zu erreichen, wenn die Men- Arbeitnehmer- und Eigentümervertretern über die Mit- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5645

(A) spracherechte zu kommen. Dieses höchste Mitbestim- der Mitbestimmung das deutsche Mitbestimmungsmo- (C) mungsniveau in Europa können wir uns nicht länger leis- dell als „wesentliches Merkmal der sozialen Marktwirt- ten. Es hemmt die Kapitalbeschaffung und senkt die schaft“ gewürdigt. Sie hat weiter hervorgehoben, dass Aktienkurse, wie unter anderem eine Studie der Federal gerade auch die Unternehmensmitbestimmung in den Reserve Bank of St. Louis aus dem Jahr 2002 belegt. Der Aufsichtsräten sich als ein Erfolg erwiesen habe und da- faktische Konsenszwang lähmt die Arbeit des Aufsichts- rum bewahrt werden müsse. SPD-Chef Beck charakteri- rates. Die eigentliche Aufgabe des Aufsichtsrates, näm- sierte die Mitbestimmung kürzlich als Standortvorteil. lich die effektive Kontrolle des Vorstandes wird zurück- Sie mache die Arbeitswelt demokratischer, stärke den gedrängt. Betriebsfrieden und die Motivation der Beschäftigten. Zweitens. Das Gewerkschaftsprivileg, das gesetzlich Auch ein Blick auf unsere europäischen Nachbarn regelt, dass zwei Aufsichtsratsposten an Gewerkschafts- zeigt, dass die Mitbestimmung ein notwendiges und so- funktionäre gehen, muss abgeschafft werden. Obwohl zial wie wirtschaftlich erfolgreiches Element der Demo- der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den Betrie- kratie ist. 18 von 25 europäischen Ländern haben Mitbe- ben stetig zurückgeht – jeder fünfte Arbeitnehmer ist stimmungsmodelle und die Mehrzahl der EU-Staaten heute nur noch gewerkschaftlich organisiert –, hat die Gewerkschaft nach wie vor Einfluss auf die Unterneh- nutzt die Mitbestimmung als Instrument der Unterneh- mensentscheidungen. Dieses Privileg muss fallen. Die menskontrolle. Auch der hohe Anteil von ausländischen Kontrolle des Vorstandes gehört nicht in Gewerkschafts- Konzernen, die in Deutschland tätig sind und dem deut- hände. Das können die Beschäftigten des Unternehmens schen Mitbestimmungsgesetz unterliegen, spricht dafür, allemal besser als externe Gewerkschaftsfunktionäre. dass das deutsche Mitbestimmungsmodell erfolgreich ist und eine Zukunft hat. Von den 767 Unternehmen, die Wenn Sie selbst das überkommene Modell der Mit- dem deutschen Mitbestimmungsgesetz unterliegen, ge- bestimmung für so gut halten, hätten Sie Konkurrenz hören rund 30 Prozent zu ausländischen Konzernen. zulassen können. Dann hätten wir in einigen Jahren able- sen können, welches Modell sich durchsetzt. Stattdessen Gerade weil das so ist, fordert Die Linke die stärkere versuchen Sie krampfhaft, das deutsche Modell in alle Verankerung der Mitbestimmung im europäischen Welt zu exportieren nach dem Motto: „Am deutschen Recht. Deshalb begrüßen wir die grundsätzliche Aus- Wesen soll die Welt genesen“ ohne zu erkennen, dass richtung des vorliegenden Gesetzentwurfs der Bundesre- sich die Welt weiterdreht, auch ohne uns. Die Mehrheit gierung, die Interessenvertretung der Beschäftigten im der Mitgliedstaaten der EU lehnt unser Modell ab. Viele Verschmelzungsfall abzusichern. In wesentlichen As- kennen nicht einmal unsere Art der Mitbestimmung. Es pekten sehen wir allerdings noch Veränderungsbedarf, geht doch nicht darum, irgendwelche Gewerkschafter (B) um dem Anliegen in Gänze gerecht zu werden. Ich (D) aus den Aufsichtsräten zu verdrängen. Es geht darum, nenne einige Stichworte: notwendig ist die Festlegung dass Deutschland für Investoren interessant ist, dass in eines Mindestkataloges an zustimmungspflichtigen Ge- Deutschland investiert wird und Arbeitsplätze geschaf- schäften durch die Aufsichtsräte, damit zum Beispiel fen werden. Entscheidungen über Investitionen transparenter wer- Erlauben Sie mir, Herrn Röttgen zu zitieren, der am den. Notwendig ist eine Vereinfachung des Wahlverfah- 29. Oktober 2004 von diesem Pult aus gesagt hat: rens für Aufsichtsräte, um die Wahl von Aufsichtsrats- mitgliedern einfacher und kostengünstiger zu machen. Es gibt keine Grundlage dafür, zu glauben, wir Notwendig ist für multinationale Unternehmen eine ge- wären eine Insel in Europa und könnten noch etwas setzliche Garantie der Beteiligung von Arbeitnehmerver- regeln. Das wird nicht der Fall sein. Verantwortlich tretern der anderen Länder in den Gremien, zum Beispiel handelt der, der der Unternehmensmitbestimmung im Aufsichtsrat. Dazu gehört auch die Einführung des eine europäische Perspektive bietet. passiven und aktiven Wahlrechts für alle Beschäftigten Ferner heißt es in der Rede: des jeweiligen Unternehmens; notwendig ist weiterhin eine Festlegung, dass den bei einer Verschmelzung fort- Wir haben nicht das Recht, den Unternehmen vor- bestehenden Arbeitnehmervertretungsstrukturen, also zuschreiben, dass dies der einzig denkbare Weg ist. zum Beispiel der Gesamtbetriebsrat, ein autorisierter Ich kann nur sagen: Recht hat er! Gesprächs- und Verhandlungspartner gegenüberzustel- len ist. Aber stattdessen gerieren sie sich wie Michael Kohlhaas, getreu der Einstellung: Ich muss Recht be- Im Fall von zwei weiteren Aspekten schließen wir kommen, mag darüber auch die Welt zugrunde gehen. uns ausdrücklich den Überlegungen des DGB an und Sie müssen endlich anerkennen, dass es nicht ein Natur- fordern die Bundesregierung auf, auch ausländische Ge- gesetz ist, dass Unternehmer in Deutschland investieren, sellschaften mit Sitz im Inland sowie ausländische Kom- weil dies in der Vergangenheit stets so war. Mit ihrem plementäre in der deutschen Kommanditgesellschaft in Verständnis von Mitbestimmung stärken Sie nicht die den Geltungsbereich der deutschen Unternehmensmitbe- Rechte der Arbeitnehmer, sie nehmen denjenigen ohne stimmung einzubeziehen und gegenüber der EU-Kom- Beschäftigung die Chance auf einen Arbeitsplatz. mission dafür einzutreten, die 14. gesellschaftsrecht- liche Richtlinie zur Verlegung des Unternehmenssitzes Werner Dreibus (DIE LINKE): Kanzlerin Merkel so auszugestalten, dass nationale Mitbestimmungsstan- hat auf dem Festakt des DGB zum 30-jährigen Bestehen dards nicht umgangen werden können. 5646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Um die Verankerung der Mitbestimmung – nach deut- Im Zuge der Verbesserung der Corporate Governance (C) schem Modell – auf europäischer Ebene tatsächlich mit wollen Bündnis 90/Die Grünen die Zahl der Aufsichts- Leben zu füllen, ist es darüber hinaus unverzichtbar, die ratsmitglieder reduzieren, um diese Gremien arbeitsfähi- deutsche Gesetzgebung den veränderten Bedingungen in ger zu machen. Wir wollen, dass der Anteil der Frauen in der Wirtschaft anzupassen. Zwei Elemente sind hier von den Aufsichtsräten dem Anteil der Frauen in der Beleg- besonderer Bedeutung: erstens der Schwellenwert von schaft entspricht. Diese Regelung gilt heute schon für derzeit 2 000 Mitarbeitern. Dieser Wert ist angesichts die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerinnen sinkender Betriebsgrößen nicht mehr zeitgemäß. 500 Be- und Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Die Zahl der Auf- schäftigte wären demgegenüber angemessen. Zweitens sichtsratsmandate, die eine Person wahrnehmen kann, wird das Doppelstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzen- sollte auf fünf begrenzt werden. Zudem sollte der Über- den dem Anspruch einer demokratischen Kontrolle und gang vom Vorstand in den Aufsichtsrat desselben Unter- Steuerung von Unternehmen nicht gerecht. Daher plä- nehmens in Zukunft im Interesse einer konsequenten dieren wir für seine ersatzlose Streichung. Aufsicht nicht mehr möglich sein. Vorschläge zur Öff- nung der Arbeitnehmerbänke für Kolleginnen und Kol- legen ausländischer Belegschaften begrüßen wir aus- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): drücklich. Die Regelung zur Umsetzung knüpft an die Regelungen an, die für die Regelung zur Mitbestimmung bei der Eu- ropäischen Gesellschaft gefunden worden ist. Zunächst Gerd Andres, Parlamentarischer Staatssekretär wird bei der Verschmelzung zweier Kapitalgesellschaf- beim Bundesminister für Arbeit und Soziales: Das Prin- zip der Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Unter- ten ein Verhandlungsgremium zwischen den Arbeitneh- nehmen ist ein nicht wegzudenkender Teil unserer sozia- mervertretungen der beteiligten Gesellschaften und der len Marktwirtschaft. Mitbestimmung gewährt den Geschäftsführung gebildet, das ein Mitbestimmungs- Arbeitnehmern eine wesentliche Einflussnahme auf die modell für die neue Gesellschaft aushandeln soll. Organisation der Arbeit im Betrieb. Mitbestimmung be- Kommt es binnen eines Jahres nicht zu einer Einigung, teiligt die Arbeitnehmer an der von der Unternehmens- so greift die weitestgehende Mitbestimmungsregelung in spitze verfolgten Unternehmenspolitik und Mitbestim- einer der beteiligten Gesellschaften. Damit ist gesichert, mung lebt, damit dieses Zusammenspiel bestmöglich dass über die Verschmelzung von Gesellschaften der funktioniert, von einem partnerschaftlichen Miteinander hohe Standard der Mitbestimmung in Deutschland nicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und vom Be- ausgehebelt werden kann. wusstsein der gemeinsam getragenen Verantwortung für Wir halten die bei der Europa-AG gefundene und jetzt den Betrieb. (B) auch für die Mitbestimmung bei verschmolzenen Unter- Durch die Globalisierung und den damit verbundenen (D) nehmen vorgeschlagene Lösung einer Kombination aus hohen Wettbewerbsdruck gehören Unternehmensüber- Verhandlungsverfahren und Auffangregelung für richtig nahmen und Restrukturierungen von Unternehmen auch und sinnvoll. Regelmäßiges Ergebnis dieser Regelung über Grenzen hinweg immer mehr zum wirtschaftlichen wird sein, dass bei deutscher Beteiligung das deutsche Alltag. Die Mitbestimmung steht damit vor großen He- Mitbestimmungsrecht Geltung erlangt. Deswegen unter- rausforderungen auf nationaler und insbesondere auf stützen wir diese Regelung. europäischer Ebene. Die deutsche Mitbestimmung hat sich bewährt. Sie Die Europäische Union hat diese Problematik schon hat einen wesentlichen Anteil an den im internationalen vor geraumer Zeit erkannt und beim Thema Arbeitneh- Vergleich sehr geringen Streikzeiten in Deutschland. Be- merbeteiligung in den vergangenen Jahren bereits substan- triebsräte haben notwendige Restrukturierungen der zielle Fortschritte erreicht. Die Mitbestimmung ist zu ei- Betriebe immer unterstützt. Einschränkungen der Mitbe- nem festen Bestandteil europäischer Arbeitnehmerrechte stimmungsrechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- geworden. Ich verweise auf die Europäische Gesell- mer lehnen wir entschieden ab. Die von manchen schaft (SE), auf die Europäische Genossenschaft (SCE) Arbeitgebern immer wieder aufgestellte These, Mitbe- und auf die Richtlinie über die grenzüberschreitende stimmung reduziere die Zahl der ausländischen Investo- Verschmelzung von Kapitalgesellschaften (10. Richt- ren in Deutschland, ist falsch. Michael Rassmann, von linie). Die Umsetzung des arbeitsrechtlichen Teils eben Invest in Germany, New York City, hat dazu in den „Ta- dieser 10. Richtlinie in deutsches Recht ist Inhalt des gesthemen“ am 22. Oktober 2004 erklärt: Es ist uns nie vorliegenden Gesetzentwurfs. passiert, dass wegen der Mitbestimmung in Deutschland Die Bundesregierung hat sich dabei von vier Grund- eine Investition in Deutschland nicht zustande gekom- sätzen leiten lassen: Erstens. Aufbau und Struktur des men ist. – Einer Umfrage zufolge hat die ganz überwie- Umsetzungsgesetzes folgen der Struktur der europäi- gende Mehrheit der Vorstände großer Aktiengesellschaf- schen Regelung und damit dem Art. 16 der Richtlinie, ten gute Erfahrungen mit der Mitbestimmung gemacht. der auf die Vorschriften des SE-Rechts verweist. Nur 25 Prozent votierten für die Abstimmung. Zweitens. Soweit das europäische Recht Regelungen Mitbestimmung passt zu einem offen, innovations- enthält, die von allen Mitgliedstaaten notwendigerweise orientierten Betriebsklima. Durch das vorliegende Ge- identisch umzusetzen sind, erfolgt mit diesem Gesetz setz wird sie auch bei Verschmelzungen gewährleistet. eine 1:1-Umsetzung. Dies gilt zum Beispiel für den Deshalb begrüßen wird dieses Gesetz. Grundsatz der Sicherung erworbener Rechte durch eine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5647

(A) Vorher-Nachher-Betrachtung und auch für den Vorrang trieblichen Ausbildung. Sie begründen das mit der Aus- (C) von Verhandlungen über die Mitbestimmung vor einer bildungsplatzsituation. gesetzlichen Auffangregelung. Wir stimmen darin überein, dass die Lage am Ausbil- Drittens. Sofern die Richtlinie dem Gesetzgeber Ge- dungsmarkt besser sein könnte und auch müsste. Gleich- staltungsspielraum eröffnet, greifen die Mitgliedstaaten wohl wird sich – wie in den letzten Jahren auch – die weitgehend auf ihre national bekannten Regelungen und Ausbildungsplatzlücke im Laufe der Nachvermittlung Strukturen zurück. Genauso ist die Bundesregierung bei wieder schließen. ihrem Umsetzungsgesetz verfahren. Sie war zwar Ende September mit 34 086 um Viertens. Soweit möglich übernimmt der Gesetzent- 6 218 höher als im letzten Jahr; dies liegt aber zu einem wurf die Regelungen, die bereits durch das SE-Beteili- großen Teil an den Schulabgängern, die aufgrund der gungsgesetz und das SCE-Beteiligungsgesetz bekannt verbesserten Arbeitsmarktdaten in eine berufliche Aus- sind. Dies gilt zum Beispiel für die Frage, auf welche bildung drängen. Hinzu kommen alle diejenigen Ausbil- Weise nationale Arbeitnehmervertreter in das besondere dungsbewerber, die sich in den letzten Jahren für eine Verhandlungsgremium oder in den Aufsichtsrat gewählt schulische Maßnahme entschieden haben, obwohl sie werden. eine betriebliche Berufsausbildung suchten. Auch verzeichnen wir eine weiterhin ansteigende Zahl von Im Hinblick auf die Wahl der Arbeitnehmervertretung Schulabgängern. Außerdem erleben wir hier einen statis- haben wir ganz bewusst an die vorhandenen nationalen tischen Effekt: Erstmals werden auch die nicht vermittel- Strukturen angeknüpft. Der Betriebsrat – oder auch der ten Bewerber der Argen nach SGB II mitgezählt. So Gesamt- oder Konzernbetriebsrat – bildet jeweils das stieg die Bewerberzahl auf insgesamt 763 097 Personen. Wahlgremium, das die nationalen Arbeitnehmervertreter in die jeweiligen Gremien bestimmt. Dieser Rückgriff Infolgedessen hat die Bundesregierung die Aufsto- auf bestehende Mitbestimmungsstrukturen gewährleis- ckung der Einstiegsqualifizierungen, EQJ, von jährlich tet, dass das Wahlverfahren für die Unternehmen kosten- 25 000 auf 40 000 beschlossen – nicht ohne Grund. günstig und zügig durchgeführt werden kann. Denn fast 57 Prozent der Jugendlichen haben nach einer solchen Einstiegsqualifizierung eine reguläre betrieb- Erste positive Erfahrungen sind bei der SE bereits ge- liche Ausbildung begonnen, ein Erfolg, der sich sehen macht worden. So konnte bei den ersten beiden SE- lassen kann. Somit sorgt die Steigerung der Einstiegs- Gründungen deutscher Großunternehmen, der Allianz qualifizierungen dafür, dass alle ausbildungswilligen Ju- SE und der MAN-Tochter MAN B&W Diesel SE, das gendlichen im Rahmen der Nachvermittlung bis Ende Verhandlungsverfahren über die Beteiligung der Arbeit- Dezember zumindest eine Qualifizierung erhalten, die (B) nehmer innerhalb der vorgesehenen Frist erfolgreich ab- betrieblich zertifiziert wird und in der Regel auf den zu- (D) geschlossen werden. künftigen Ausbildungsberuf angerechnet werden kann. Ich bin überzeugt: Mit dem Umsetzungsgesetz schaf- Erfreulicherweise ist aber auch die Zahl der Ausbil- fen wir einen geeigneten rechtlichen Rahmen, der die dungsplätze gestiegen. Die Wirtschaft hat zusätzlich wirtschaftlichen Interessen der Unternehmen an grenz- 55 800 neue Ausbildungsplätze und 29 600 Einstiegs- überschreitenden Verschmelzungen respektiert und praktika angeboten. Sie hat damit ihre Paktzusage mehr gleichzeitig den Arbeitnehmern angemessene Mitgestal- als erfüllt. Industrie, Handel und Handwerk schlossen tung und Mitbestimmung gewährleistet. Ich bitte Sie sogar 14 000 neue Ausbildungsverträge mehr ab als im deshalb um Zustimmung zum vorliegenden Entwurf. Vorjahr. Die Zahlen stammen von ZDH und DIHK. Ein Erfolg des Ausbildungspaktes ist aber natürlich Anlage 7 vor allem eine deutliche Folge der erwachenden deut- schen Wirtschaftsdynamik. Denn eine florierende Wirt- Zu Protokoll gegebene Reden schaft schafft Arbeitsplätze, Arbeitsplätze ziehen Aus- zur Beratung des Antrags: Überschüsse der bildungsplätze nach sich und gute Ausbildung ist die Bundesagentur für Arbeit für Ausbildung, Basis für eine blühende Ökonomie. Qualifizierung und Progressiv-Modell verwen- Um unsere Volkswirtschaft nun auch erfolgreich zu den (Tagesordnungspunkt 18) gestalten, müssen die Menschen vor allen Dingen wieder festes Vertrauen in die Politik entwickeln. Wer schon Peter Rauen (CDU/CSU): Ihr Antrag spricht drei heute weiß, was morgen passiert, investiert auch in die Punkte an: erstens die Ausbildung, zweitens die Schaf- Zukunft. Das ist der Kern erfolgreicher Wirtschaftspoli- fung von Arbeitsplätzen und drittens die Eingliederung tik. Dazu gehört aber auch, dass die Bürger nachvollzie- von Menschen in diese Arbeitsplätze. hen können, wofür sie ihr eigenes Geld hergeben, wofür sie Steuern bezahlen sollen, aber ebenso, dass sie das Erstens: Ausbildung. Mit dem Überhang des Über- Geld dann zurückbekommen, wenn es nicht wirklich ge- schusses der Bundesagentur für Arbeit, also all dem braucht wird. Geld, das die BA über circa 8 Milliarden Euro hinaus den Arbeitnehmern und Unternehmen zuviel berechnet Hier liegt das ganze Problem: Zwar ist die tatsächli- hat, fordern Sie ein Sonderprogramm für mindestens che Höhe des Überschusses für das gesamte Jahr noch 50 000 Jugendliche, teils zur Akquise neuer Ausbil- nicht einmal bekannt, doch schon weckt diese erfreuli- dungsplätze, teils aber auch zum Ausbau der außerbe- che Kassenlage fortwährend neue Begehrlichkeiten, vor 5648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) allem für weitere künstliche Arbeitsbewirtschaftungs- Aussteuerungsbetrag die BA geradezu, für absehbar (C) maßnahmen des Staates. Dabei sollten wir zuallererst schwer integrierbare Arbeitslose in den ersten zwölf Mo- einmal an diejenigen denken, die die Erwirtschaftung naten erst gar keine Aktivierungsmaßnahmen zu finan- dieses Geldes erst möglich gemacht haben. zieren. Schließlich besteht das Risiko, am Ende trotz der hohen Investitionen obendrein noch mit dem Aussteue- Der Finanzierungsüberschuss der Bundesagentur geht rungsbetrag belastet zu werden, dann nämlich, wenn der nämlich – neben einer Straffung der BA-Verwaltung und Arbeitslose trotz aller Maßnahmen nicht innerhalb des der Vorziehung des Fälligkeitstermins von Sozialbeiträ- ersten Jahres integriert werden kann. Agenturchef Heise gen in 2006 sowie der Verringerung der Bezugsdauer sieht das wohl ähnlich und hat sinnvoll reagiert: Die BA von Arbeitslosengeld – auch zu einem großen Teil auf wird in ihrem nächsten Haushalt ein eigenes, gesondert die gute Wirtschaftslage zurück. Die Ausgaben für das ausgewiesenes Budget für die Förderung schwer vermit- Arbeitslosengeld werden etwa 3 Milliarden Euro unter telbarer Arbeitsloser einrichten. dem Planwert liegen. Gleichzeitig steigen die Einnah- men, weil es mehr sozialversicherungspflichtige Be- Auch hier gilt das bereits von mir Gesagte: Wir Politi- schäftigungsverhältnisse gibt. Auch der Aussteuerungs- ker müssen Vertrauen in unser Handeln aufbauen, indem betrag fällt aus diesem Grund um circa 1,3 Milliarden wir denjenigen das Geld zurückgeben, von denen es Euro geringer als kalkuliert aus. stammt. Alle Überschüsse müssen in die weitere Sen- An diesen Fakten werden die Zusammenhänge offen- kung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge – auch weit sichtlich: Nach sieben Jahren grüner Regierungsbeteili- über die vorgesehene Senkung von 2 Prozent hinaus – gung ist hier endlich ein Paradigmenwechsel eingeläutet gehen. So schaffen wir Zuversicht durch klare Zuwei- worden. Ich mache darauf besonders aufmerksam, weil sungen und Verantwortlichkeiten – infolgedessen auch damit ein fast sechsjähriger Negativtrend endlich gebro- neue Arbeitsplätze ohne komplizierte Zuschussmodelle. chen ist. Von 28 285 045 sozialversicherungspflichtig Drittens: Progressiv-Modell. Schließlich wollen Sie Beschäftigten im September 2000 waren wir auf in ihrem Antrag statt der linearen Absenkung des Beitra- 25 815 795 im Februar 2006 zurückgefallen. Über ges zur Arbeitslosenversicherung mit der Einführung ei- 65 Monaten lang verzeichneten wir einen Abbau an ver- nes progressiven Beitragssatzes kleine Einkommen ent- sicherungspflichtiger Beschäftigung. lasten. Sie unterstellen damit gleichsam die These, dass Doch in den Monaten Mai bis Juli dieses Jahres kam vor allem die Lohnzusatzkosten der größte Feind der Be- die Trendwende: Wir verzeichneten einen stetig steigen- schäftigung Geringqualifizierter und Langzeitarbeitslo- den Zuwachs an versicherungspflichtig Beschäftigten im ser im Niedriglohnbereich sind. Vergleich zum Vorjahr, zuletzt fast 200 000 neue ordent- Auch wenn ich natürlich ein großer Freund sinnvoller (B) liche Stellen. Ich gehe davon aus, dass sich diese Trend- Senkungen der Arbeitskosten bin, muss ich Ihnen hier (D) umkehr in den letzten beiden Monaten fortgesetzt hat. widersprechen. Sie versuchen nämlich durch die Belas- Das ist Freude und Ansporn zugleich. Die steigenden tung regulärer Arbeit, den Niedriglohnsektor in überhöh- Einnahmen zeigen zum einen, wohin beherztes Handeln tem Maß zu subventionieren. Das ist Umverteilung pur. führen kann. Zum anderen bleibt der Druck für weitere Dann müsste nämlich derjenige, der seine Arbeit besser Korrekturen am Arbeitsmarkt nach wie vor bestehen. macht, überproportional dafür bezahlen, dass er mehr verdient als sein weniger qualifizierter Kollege, obwohl Wie bereits festgestellt: Der Ausbildungsmarkt folgt er sowieso schon höhere Abgaben bezahlt. So etwas dem Arbeitsmarkt. Und wenn schon die Wirtschaft an- hätte ich den Herrschaften auf dem linken Flügel des springt, dürfen wir sie nicht über das zur Konsolidierung Hauses zugetraut, Ihnen, liebe Kolleginnen und Kolle- der Staatsfinanzen Nötige hinaus durch zusätzlichen gen vom Bündnis 90/Die Grünen, jedoch nicht. Aderlass schröpfen. Sonst verhindern wir lediglich das Entstehen ordentlicher betrieblicher Arbeits- und Aus- Sie wollen mit Ihrem Antrag Anbieter und Suchende bildungsplätze. auf dem Niedriglohnsektor unterstützen. Das wollen wir auch. Die Koalitionsarbeitsgruppe Arbeitsmarkt wird zu Zweitens: Aussteuerungsbetrag. Sie fordern weiterhin diesem Thema in Kürze handfeste Ergebnisse vorlegen. in Ihrem Antrag, die Kosten der Integrationsangebote für Doch mit Ihren Forderungen würden Sie Niedriglohnan- Betreuungskunden der BA mit dem so genannten Aus- bieter generell belohnen. So etwas kann nur zu Fehlsteu- steuerungsbetrag zu verrechnen. Ich halte die ganze Ver- erungen und Mitnahmeeffekten führen. Zudem ist die anstaltung mit dem Aussteuerungsbetrag an sich für von Ihnen geplante völlige Abschaffung von Mini- und fragwürdig: Lieber wäre mir, dass die BA überhaupt Midijobs falsch und unrealistisch. Woher Sie obendrein kein Geld, das von den Beitragszahlern stammt, an die zur Finanzierung dieser Pläne notwendigen Kosten Herrn Steinbrück überweisen muss. Ich sehe da – ehrlich von 13 Milliarden Euro herbekommen wollen, frage ich gesagt – den zwingenden Zusammenhang nicht, außer am besten erst gar nicht. dass die Beitragszahler das ALG II subventionieren, für das eigentlich der Bundeshaushalt zuständig ist. Aus diesen Gründen lehnen wir Ihren Antrag ab. Zwar sollte der Aussteuerungsbetrag Anreiz für die Fazit: Die derzeitigen Arbeitsmarktimpulse kommen BA zur schnellen Integration von Arbeitslosen in den maßgeblich aus dem Mittelstand. Gut ein Viertel der Be- Arbeitsmarkt sein. Das Mittel einer Strafzahlung im triebe hat in den vergangenen sechs Monaten ihren Per- Falle der Nichtvermittlung überzeugt mich dabei wenig. sonalbestand aufgestockt und nur ein Achtel der Firmen Im Gegenteil: Bei vernünftigem Verhalten nötigt der musste sich von Mitarbeitern trennen. Nach schweren Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5649

(A) Jahren ist der Mittelstand wieder Jobmotor der deut- Dies bedeutet aber nicht, dass wir die Menschen aus (C) schen Wirtschaft. Allein im ersten Halbjahr 2006 haben den Augen verlieren, die unserer Hilfe bedürfen. Tat- kleine und mittlere Unternehmen 70 000 neue Arbeits- sächlich ist die Ausbildungssituation mehr als unbefrie- plätze geschaffen. Weitere 30 000 Jobs sollen bis Ende digend. Zurzeit stehen einer Zahl von 49 500 nicht ver- des Jahres noch hinzukommen. Das sind 100 000 neue mittelten Bewerbern 15 400 offene Stellen gegenüber. Jobs für 2006 und Tausende neuer Ausbildungsplätze für Gegenüber dem Vorjahr ist dies ein saldierter Zuwachs 2007. der Lehrstellenlücke von 6 200. Das ist ein Zustand, der nicht einfach zur Kenntnis genommen werden darf. Aus Der Optimismus in den Firmen ist zwar deutlich ge- diesem Grund hat auch das BMAS die Möglichkeit, stiegen. Doch trotz dieser guten Stimmung halten die EQJ-Mittel zu beantragen, auf eine Zahl von 40 000 er- Firmen ihr Geld lieber zusammen und investieren wenig, höht. Wir bieten hier also 15 000 Jugendlichen mehr als berichtete die Studie der Wirtschaftsauskunftei Credit- im Vorjahr die Chance, eine Eingliederungsqualifizie- reform vor wenigen Tagen. Kurzum: Man traut dem Bra- rung wahrzunehmen. Die BA hat 5 000 zusätzliche au- ten noch nicht so. ßerbetriebliche Ausbildungsplätze, vornehmlich für Ju- In dieser Situation nun mit den Überschüssen der BA gendliche mit Migrationshintergrund zur Verfügung gesamtgesellschaftliche Aufgaben zu finanzieren zu gestellt und wird diese Anfang des Jahres 2007 um wei- wollen widerspricht nicht nur dem Grundgedanken einer tere 2 500 Plätze erweitern. Versicherung – und darum geht es bei der Arbeitslosen- Also passiert schon etwas. Natürlich – das will ich an- versicherung –, sondern es bedeutet faktisch eine Enteig- erkennen – reicht das nicht. Aber ich erlaube mir die nung der Beitragszahler. Frage, ob dort, wo gesellschaftliche Gruppen sich aus ih- rer Verantwortung herausstehlen, in diesem Fall die Ar- Für uns Politiker kann all dies nur eines bedeuten: beitgeber, der Staat einzuspringen hat. Wir müssen durch eine nachvollziehbare Ordnungspoli- tik Vertrauen schaffen und dürfen keinesfalls die gerade Hier sind bei dem Angebot von Ausbildungsplätzen aufblühende wirtschaftliche Dynamik durch kosten- als Erstes die Arbeitgeber im Rahmen des dualen Sys- intensive Strohfeuer torpedieren. tems gefordert. Der Staat trägt heute schon für den Erhalt dieses Systems mehr als 50 Prozent der Kosten. Dies sei Wolfgang Grotthaus (SPD): Mit dem Antrag der an dieser Stelle den Arbeitgebern auch noch einmal ins Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, die Über- Stammbuch geschrieben: Wer nicht ausbildet, darf hinter- schüsse der Bundesagentur für Arbeit für Ausbildung, her den Staat nicht dafür verantwortlich machen, wenn Qualifizierung und das Progressiv-Modell zu verwen- sein Betrieb keine Zukunft hat. (B) den, kommt ein weiterer Vorschlag auf den Tisch, wie Unter dem Strich bleibt zu diesem Antrag festzu- (D) die von der Bundesanstalt für Arbeit erwirtschafteten fi- halten: Die Situation im Ausbildungsbereich ist nicht nanziellen Überschüsse zweckmäßigerweise angelegt befriedigend. Wir sind froh, dass wir Überschüsse im werden sollten. Bereich der Arbeitslosenversicherung haben. Dies ist Dabei stehen Vorschläge im Mittelpunkt, denen man auch ein Ergebnis unserer Reformen im Rahmen der sich auf den ersten Blick eigentlich nicht verschließen Hartz-Gesetzgebung, nämlich schnellere Vermittlung kann. Denn wer kann schon etwas dagegen haben, jun- und Belebung auf dem Arbeitsmarkt. Wir begrüßen es gen Menschen, die noch keinen Ausbildungsplatz haben, nicht, dass Überschüsse bei der aktiven Arbeitsmarkt- Ausbildungsplätze anzubieten oder deren Chancen auf politik erwirtschaftet werden. Weniger Ausgaben im den Erhalt eines Ausbildungsplatzes durch zusätzliche Eingliederungstitel in Höhe von 520 Millionen Euro sind Bildungsmaßnahmen zu verbessern? nicht akzeptabel. Aber so einfach, wie sich die Fraktion des Bündnis- Diese Mittel im Sinne der jungen Menschen, die Aus- ses 90/Die Grünen das vorstellt, ist es nicht, insbeson- bildungsplätze suchen, einzusetzen, sollte Aufgabe der dere dann nicht, wenn es sich um Beitragszahlungen von BA sein. Deshalb fordern wir die BA auf, weiterhin ein Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern handelt. Hier aktiver und verlässlicher Partner bei der Ausbildungs- streiten nicht nur Verfassungsrechtler, ob das überschüs- frage zu sein. Dies heißt aber auch für uns, dass kurzfris- sige Geld zweckentfremdet ausgegeben werden darf, tige Aktionen nicht weiterhelfen, sondern hier ist eine sondern viele gesellschaftliche Gruppen, aber auch die verlässliche und kontinuierliche Politik gefordert. im Bundestag vertretenen Fraktionen haben zur Verwen- Aus diesem Grund lehnen wir den Antrag der Frak- dung der Überschüsse unterschiedliche Vorschläge ge- tion des Bündnisses 90/Die Grünen ab. macht. Fakt ist, die Regierungskoalition hat den Beschluss ge- Dirk Niebel (FDP): Bei der BA wird mit einem fasst, die Arbeitslosenversicherungsbeiträge um 2 Pro- Überschuss von bis zu 10 Milliarden Euro gerechnet. zent zu senken. Damit verringern wir die Lohnnebenkos- Das weckt natürlich Begehrlichkeiten. Da möchte jeder ten und leisten einen Anreiz zur Schaffung neuer Ar- ein Stück vom Kuchen haben. Zweifellos sind die Ab- beitsplätze. Wir geben das Geld aber auch den Menschen sichten der Grünen ehrenwert, aber sie gehen vom fal- zurück, die es vorher einbezahlt haben, und leisten so schen Ansatzpunkt aus. Die Bundesagentur für Arbeit auch einen Teil an Gerechtigkeit und Verlässlichkeit in erwirtschaftet kein Geld. Sie arbeitet mit Mitteln der der Politik. Steuer- und Beitragszahler. Wir erwarten, dass sie mit 5650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) fremdem Geld sorgsam umgeht. Zumindest das hat sich Im nächsten Monat ziehen wir Bilanz: ein Jahr (C) ja in den letzten Jahren unter neuer Leitung verbessert. schwarz-rote Koalition. Den Namen „große Koalition“ hat sie sich bisher wahrlich nicht verdient, es sei denn, Das Wirtschaftswachstum im Vorfeld der Mehrwert- man erkennt an, dass sie das größte Steuererhöhungspro- steuererhöhung ab Januar 2007 sorgt dafür, dass mehr gramm aller Zeiten gestartet hat. In der Arbeitsmarkt- Arbeitsplätze geschaffen wurden und die Einnahmen an politik gab es bisher nur Lippenbekenntnisse und heiße Steuern und Sozialabgaben gestiegen sind. Knapp Luft. Statt, wie angekündigt, mehr Freiheit am Arbeits- 165 Euro wurden im Juni 2006 im Durchschnitt in die markt zu erlauben, erlaubt sie sich einen Rückzieher Arbeitslosenversicherung einbezahlt. Die offiziell regis- beim Kündigungsschutz und arbeitsplatzgefährdende trierte Arbeitslosigkeit ist weiterhin zu hoch. Darüber Diskussionen über Mindest- und Kombilöhne. Weiter hinaus sind mehr als 1,5 Millionen Menschen in arbeits- führt das alles nicht. Die hohe Arbeitslosigkeit wird marktpolitischen Maßnahmen eingesetzt. Mehr als nicht wirksam abgebaut. Weder werden Perspektiven 376 000 nehmen an Beschäftigung schaffenden Maß- noch neue Chancen für mehr Beschäftigung entwickelt. nahmen teil, darunter mit 320 000 eine steigende Zahl Das ist mehr als nur Stillstand am Arbeitsmarkt; das ist ALG-II-Empfänger in Arbeitsgelegenheiten. Vor allem Kapitulation vor den Problemen. Letzteres trägt dazu bei, dass die statistische Arbeitslo- Sie kennen die Forderungen der FDP nach niedrige- senzahl geringfügig gesunken ist. Aber es ist und bleibt ren Steuern und Abgaben, nach weniger Bürokratie, Augenwischerei. Diese Maßnahmen ermöglichen einer- nach Lockerungen im Arbeits- und Tarifrecht. Nichts da- seits den Betroffenen einen Zusatzverdienst und die Teil- von ist bisher von der schwarz-roten Koalition aufgegrif- habe am Arbeitsleben. Auf der anderen Seite ist es ihnen fen worden. Das unübersichtliche Gestrüpp der Förder- in dieser Zeit nicht möglich, sich selbst um eine sozial- maßnahmen darf nicht noch weiter aufgebläht werden. versicherungspflichtige Arbeitsstelle auf dem ersten Ar- Wir brauchen vorrangig Arbeitsplätze im ersten Arbeits- beitsmarkt zu kümmern. Da sie ja erst einmal versorgt markt. Nur durch sozialversicherungspflichtige Arbeits- sind, können sich auch die zuständigen Behörden in ih- plätze gibt es Einnahmen an Steuern und Sozialbeiträ- ren Vermittlungsbemühungen zurückhalten. gen. Auch die subventionierte Beschäftigung darf keinesfalls weiter aufgebläht werden. Wenn Arbeitgeber Die Bundesregierung hat nicht zum Aufschwung bei- und Arbeitsplätze subventioniert werden, wächst die Ge- getragen; vielmehr gefährden ihre Aktionen diesen Auf- fahr für Mitnahmeeffekte und die Verdrängung regulärer schwung. Das Geld, das der BA jetzt zur Verfügung Arbeitsplätze. steht, besteht zu einem Drittel aus den vorgezogenen So- zialabgaben, die die Unternehmen jetzt zu Monatsanfang Die FDP hat Vorschläge gemacht, wie durch eine (B) und nicht wie früher zur Monatsmitte überwiesen haben. Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik und strukturelle (D) In diesem Jahr stehen einmalig 13 statt zwölf Monatsbei- Veränderungen bei der Arbeitsverwaltung der Faktor Ar- träge zur Verfügung. Wir haben oft genug betont, dass beit entlastet, Wachstum und mehr Arbeitsplätze in wir diese Maßnahme abgelehnt haben. Für die Stabilisie- Deutschland erreicht und Arbeitsuchende schneller und rung der Rentenversicherung wurde den Unternehmen dauerhaft integriert werden können. Die Umsetzung die- Liquidität in einem Umfang entzogen, der den Bedarf ses Konzeptes macht darüber hinaus eine weitere Sen- bei weitem überschreitet. Und wie wir gesehen haben: kung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung mög- Genutzt hat es nichts. lich.

Nicht benötigte Mittel müssen denen zurückgegeben Kornelia Möller (DIE LINKE): Es ist erfreulich, werden, die sie bezahlt haben. Die Überschüsse müssen wenn es der Opposition durch ein größeres Maß an an die Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben werden. Gemeinsamkeiten gelingt, die falsche Arbeitsmarkt- Die Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung politik der großen Koalition ad absurdum zu führen. ist eine Möglichkeit. Eine bessere Alternative wäre auch Insofern unterstützen wir die Ablehnung der Fraktion die Rücknahme der Mehrwertsteuererhöhung. Mit 1 Pro- des Bündnisses 90/Die Grünen, die Überschüsse der zentpunkt Mehrwertsteuer soll die Senkung der Beiträge Bundesagentur für Arbeit zur Haushaltskonsolidierung zur Arbeitslosenversicherung finanziert werden. Das ist einzusetzen. Wir erkennen auch den Versuch an, ange- nun nicht mehr nötig. Wir stimmen mit den Grünen darin sichts der verheerenden Ausbildungssituation wesentlich überein, dass sich keinesfalls der Staat das Geld unter mehr jungen Leuten eine berufliche Chance geben zu den Nagel reißen darf. wollen. Nichts stellt einer Gesellschaft ein schlimmeres Zeugnis aus, als wenn Tausenden jungen Menschen der Wir dürfen nicht länger zusehen, wie das Geld von Weg in eine berufliche und damit überhaupt in die Steuer- und Beitragszahlern in zusätzlicher subventio- Zukunft versperrt wird. Seit Jahren verordnen die Regie- nierter öffentlicher Beschäftigung auf Nimmerwiederse- renden, von Rot-Grün bis Schwarz-Rot, einer wachsen- hen versenkt wird. Auch die Finanzierung von Kombi- den Zahl von Menschen ein Leben ohne Perspektiven löhnen, die bei den Grünen Progressiv-Modell heißen, und spalten damit unsere Gesellschaft. Das muss auf- ist nicht Sache der Beitragszahler. Wenn selbst verdiente hören. Die Lösungen, die die Grünen für die Verwen- Einkünfte unterhalb des Existenzminimums liegen, muss dung der Überschüsse der BA vorschlagen, sind aller- das über ein Steuer- und Tranfersystem aus einem Guss dings nicht ausgewogen. Sie tragen den Charakter einer ausgeglichen werden. Dazu haben wir mit dem FDP- grünen Notoperation an einem Patienten, den rot-grüne Bürgergeld einen Vorschlag ausgearbeitet. Regierungspolitik erst schwer krank gemacht hat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5651

(A) Die Grünen haben sich stets einer dauerhaften und Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) nachhaltigen Lösung des Ausbildungsproblems verwei- Die Bundesagentur für Arbeit rechnet in diesem Jahr mit gert. Eine Umlagefinanzierung, wie sie von uns ebenso einem Überschuss in Höhe von bis zu 9,6 Milliarden wie von Gewerkschaften seit Jahren gefordert wird, Euro. Circa 8 Milliarden Euro davon sind für die 2-pro- könnte das Problem der Ausbildungsunwilligkeit bei zentige Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenver- Unternehmen dauerhaft und nachhaltig lösen. sicherung eingeplant. Die Verteilung des Rests hat ein lebhaftes politisches Vorschlagswesen ausgelöst. Abso- Ein Noteingriff ist auch Ihr Vorschlag, die Qualifizie- luter Spitzenreiter der Vorschlagsliste ist die Forderung rungs- und Förderangebote der Bundesagentur für Arbeit nach einer weiteren Beitragssenkung. Erst heute wieder für so genannte Betreuungskunden mit den Überschuss- hat der Bundesarbeitsminister eine wohlwollende Prü- geldern kurzzeitig zu verstärken, statt die Ursache zu be- fung angekündigt. Ich kann verstehen, dass die Vertei- seitigen: die Hartz-Gesetze, die Sie gemeinsam mit der lung von Wohltaten – und das auch noch in barer SPD zu verantworten haben. Münze – verlockend ist. Trotzdem schließen wir uns die- sem Vorschlag nicht an; denn Vorrang vor weiteren Seit langem sagen wir Ihnen, was sie jetzt auch in der Beitragssenkungen hat die aktive Arbeitsmarktpolitik. Untersuchung des Bundesrechnungshofes nachlesen können: In den Hartz-Gesetzen selbst liegt eine der Ur- Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben wir genug. sachen für die Verfestigung von Langzeitarbeitslosig- Ihre Lösung verlangt nicht nur nach Ideen, sie verlangt keit. Hartz IV ist ein schlechtes Gesetz, handwerklich auch nach Geld. Eine Beitragssenkung auf Teufel komm schlecht gemacht, volkswirtschaftlich unsinnig und so- raus dagegen hilft nicht im Kampf gegen die Arbeits- zial unverträglich. Deswegen hören Sie von mir auch losigkeit. immer wieder: Hartz IV muss weg. Wir haben es aktuell mit zwei besonders dringenden Es geht eben nicht an, dass Reformen der Bundes- Problemen zu tun: agentur fast ausschließlich aus betriebswirtschaftlicher Sicht erfolgen und das eigentliche Ziel der Bundesagen- Erstens. 50 000 Jugendliche brauchen einen Ausbil- tur für Arbeit, der Abbau der Arbeitslosigkeit und ins- dungsplatz. Mit einem Sonderprogramm kann ihnen eine besondere der Langzeitarbeitslosigkeit, auf der Strecke Perspektive gegeben werden. Die hierfür erforderlichen bleibt. Den sozialpolitischen Auftrag der Bundesagentur 650 Millionen Euro sind gut angelegt. Denn nicht nur die jungen Leute brauchen eine Chance, auch wir brau- für Arbeit wiederherzustellen und bei allen künftigen chen die jungen Leute. Tun wir nichts, sind die Ausbil- Reformschritten im Auge zu behalten, das ist unsere dungsverlierer von heute die fehlenden Fachkräfte von Forderung an die Bundesregierung. (B) morgen. (D) Die 2006 anfallenden Überschüsse der Bundesagen- Zweitens. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist im tur für Arbeit, die auch wesentlich durch Sparen beim Vergleich zum Vorjahr um mehr als 5 Prozent gestiegen. Fördern entstanden sind, sind für aktive Arbeitsmarkt- Um den weiteren Anstieg zu verhindern, müssen die politik, vor allem zum Abbau der verfestigten Langzeit- Qualifizierungs- und Förderangebote für besonders arbeitslosigkeit, einzusetzen. schwer vermittelbare Arbeitslose deshalb dringend ver- Unsere Fraktion fordert Sie auf, einen Teil der 2006 stärkt werden. Auch wenn die Bundesagentur für Arbeit anfallenden Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit in die Vernachlässigung dieser Gruppe bestreitet: Der das kommende Jahr zu überführen, um damit 2007 eine jüngste Beschluss, eine feste Summe für die so genann- Startfinanzierung für 150 000 Arbeitsplätze nicht unter ten Betreuungskunden einzuplanen, spricht eine andere Mindestlohnhöhe von 8 Euro im Rahmen öffentlich ge- Sprache. Trotz hoher Arbeitslosigkeit an Qualifizierung förderter Beschäftigung zu sichern. Ein entsprechender und Förderung zu sparen, kommt uns alle später teuer zu stehen. Dieser Unsinn muss aufhören. Die Bundes- Antrag von uns, der die Schaffung einer halben Million agentur für Arbeit ist nicht zum Sparen da, sondern soll öffentlich finanzierter Arbeitsplätze vorsieht, befindet qualifizieren und vermitteln. Erst dann noch vorhande- sich im parlamentarischen Verfahren, wir werben um ner finanzieller Spielraum kann für weitere Beitragssen- Zustimmung. Sie sollte nicht schwer fallen, zumal der kungen verwendet werden. weitaus größte Teil der notwendigen Mittel für dieses Programm ohnehin ausgegeben werden wird – bislang Aber auch für den Einsatz der bereits beschlossenen allerdings zur Finanzierung von perspektivlosen 1-Euro- Beitragssenkung schlagen wir Ihnen eine progressive Jobs. Alternative vor: Wir wollen die gezielte Entlastung niedriger Einkommen. Ein progressiver Beitragssatz Unsere Fraktion geht davon aus, dass die Überschüsse senkt spürbar die Lohnnebenkosten im unteren Einkom- der Bundesagentur für Arbeit ausreichen, um sowohl die mensbereich. Das ist genau dort, wo das ungünstige Ausbildungsplatzsituation in diesem Jahr zu entschärfen Kosten-/Produktivitäts-Verhältnis derzeit neue Arbeits- als auch das Vorhaben der Fraktion Die Linke zu ermög- plätze verhindert, Arbeitsplätze, die wir aber dringend lichen, im Jahre 2007 150 000 öffentlich finanzierte Ar- brauchen und von denen vor allem auch Geringquali- beitsplätze zu schaffen. Machen Sie einen Anfang und fizierte profitieren könnten. lassen Sie statt Machtpolitik endlich Sachorientierung walten. Die Zukunft der Menschen in diesem Land sollte Mit unserem Progressiv-Modell können wir mehr Ar- es Ihnen wert sein. beitsplätze anreizen, als es durch die geplante lineare 5652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Senkung möglich ist. Diese gezielte Maßnahme wirkt ef- riert und transparent gemacht. Mit den Ergebnissen des (C) fektiver als alle Einkommen gleichmäßig. Profiling können effizienter als bisher jedem einzelnen Arbeitslosen konkrete Vorschläge gemacht werden. Die Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit kön- nen sinnvoll eingesetzt werden. Schließen Sie sich uns Der Bundesrechnungshof sieht die Handlungspro- an: für den Vorrang der aktiven Arbeitsmarktpolitik und gramme als sinnvoll und geeignet an. Er weist allerdings für mehr Beschäftigung. Eine Beitragssenkung auf Teu- auch darauf hin, dass die Handlungsempfehlungen für fel komm raus ist dazu keine Alternative. die Betreuungskunden nicht weit genug gehen. Darauf zielt ja auch der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Gerd Andres, Parl. Staatssekretär im Bundesminis- Grünen ab. terium für Arbeit und Soziales: Wieder einmal weckt der Die Frage ist also: Was kann man für Arbeitsuchende Überschuss der Bundesagentur für Arbeit Begehrlichkei- tun, bei denen die Vermittlungshemmnisse so gravierend ten. Diesmal bei der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. sind, dass die direkte Förderung einer Arbeitsaufnahme Ich denke, wir sollten uns noch einmal sachlich die fi- keinen Erfolg verspricht? nanzielle Lage der BA vergegenwärtigen. Die Antwort kann meiner Meinung nach nur lauten, Die BA erwartet für 2006 einen Überschuss von dass entweder ihre Beschäftigungsfähigkeit durch Arbei- 8,8 bis 9,6 Milliarden Euro. Dieser wird in die Rücklage ten auf dem zweiten Arbeitsmarkt erhalten wird oder eingestellt. Davon werden 2007 8,0 Milliarden Euro be- aber die Vermittlungshemmnisse beseitigt werden, auch nötigt, um die Beitragssatzsenkung zur Arbeitslosenver- wenn dies auf den ersten Blick schwierig und wenig effi- sicherung von 6,5 auf 4,5 Prozent zu finanzieren. zient erscheint. Möglicherweise werden 0,8 bis 1,6 Milliarden Euro Dennoch halte ich die zweite Alternative für die bes- in der Rücklage bleiben – die Betonung liegt auf „mögli- sere. Überlegungen der BA, Betreuungskunden durch cherweise“. Denn es ist noch nicht klar, ob und in wel- die Bereitstellung eines Teils des Eingliederungstitels cher Höhe ein solcher Restbetrag übrig sein wird. Da es künftig stärker mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten aber mit seriöser Finanzpolitik nichts zu tun hat, Mittel zu fördern, sind deshalb ein richtiger erster Schritt zum zu verplanen, die man noch gar nicht hat, ist diese De- Nutzen der Jugendlichen. Auf diese Weise können wir batte für die Bundesregierung eine Luftnummer, an der zudem wertvolle Erfahrungen zur Weiterentwicklung wir uns nicht beteiligen. des Steuerungssystems sammeln, und zwar speziell im Ich möchte mich lieber auf die konkreten Hilfen für Hinblick auf Integrationsfortschritte. Arbeitsuchende konzentrieren und zunächst etwas über Ich weiß, dass die BA die so genannten Betreuungs- die Fördermaßnahmen für Jugendliche sagen. kunden im Blick hat. Insbesondere die Selbstverwaltung (B) (D) Gerade junge Menschen in unserem Land brauchen ist damit intensiv befasst, wie die Chancen zur Einglie- Perspektiven, wie es nach der Schule weitergeht – ob mit derung in den Arbeitsmarkt gesteigert werden können. oder ohne Abschluss. Wir müssen deshalb die Kräfte Abschließend möchte ich noch ein Wort zu dem im bündeln, um für diese Zielgruppe gute Fortschritte zu Antrag vorgeschlagenen Progressiv-Modell sagen. machen. Niedrige Einkommen werden bereits durch die so ge- Ein erfolgreiches Instrument ist das Sonderprogramm nannte Gleitzonenregelung für Einkommen zwischen zur Einstiegsqualifizierung, das sich als Türöffner in die 400 Euro und 800 Euro entlastet. Eine stärkere progres- Berufsausbildung bewährt hat. 57 Prozent der bisherigen sive Ausgestaltung des Beitrages zur Arbeitslosenversi- Absolventen haben den Sprung zur Ausbildung im Be- cherung würde zu einem erheblichen bürokratischen trieb geschafft. Aufgrund dieses Erfolges haben wir das Aufwand führen. Sowohl die Einzugsstellen bei den EQJ-Programm um ein Jahr verlängert und die Anzahl Krankenkassen als auch die Arbeitgeber würden erheb- der Plätze um 15 000 angehoben. lich belastet. Das verschweigen Sie in Ihrem Antrag. Außerdem werden ab Oktober 2006 zusätzlich Anders als Sie dort suggerieren, liegt bislang eine se- 5 000 benachteiligte Jugendliche in außerbetrieblicher riöse Schätzung der Arbeitsangebots- und der -nachfra- Ausbildung gefördert. Ihre Zahl soll Anfang 2007 um geeffekte de facto nicht vor. Es mag das Privileg der Op- weitere 2 500 Jugendliche aufgestockt werden. position sein, unfertige Vorschläge zu machen. Für Regierungshandeln taugt dies aber nicht. Damit aber nicht genug. Um auch in diesem Jahr möglichst viele Jugendliche mit einem Ausbildungsplatz zu versorgen, führt die BA derzeit umfangreiche Nach- vermittlungen durch. Ich sehe die Möglichkeit, dass da- Anlage 8 bei mindestens 50 000 vorhandene Ausbildungs- und Zu Protokoll gegebene Reden Qualifizierungsangebote noch nachbesetzt werden kön- nen. Diese Chance muss genutzt werden. zur Beratung des Antrags: Einfuhr- und Han- delsverbot für Robbenprodukte (Tagesord- Lassen Sie mich nun etwas sagen zur Situation bei nungspunkt 19) den so genannten Betreuungskunden der BA. Hier haben wir folgende Situation: Dr. Peter Jahr (CDU/CSU): Zweifellos verbindet Die BA hat ihre Vermittlungsarbeit mit der Einfüh- man mit Flossenfüßern – lateinisch Pinnipedia – viele rung von so genannten Handlungsprogrammen struktu- positive menschliche Empfindungen. Ob das an der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5653

(A) speziellen Bewegungsart liegt, an den großen Augen und Ein weiteres Argument möchte ich aufgreifen. Die (C) traurigen Blicken oder an den zahlreichen kuscheligen kanadischen Anstrengungen eines verbesserten „Ma- Nachbildungen, die unsere Kinderzimmer und Bild- nagements“ hören sich gut an, taugen jedoch oft nicht schirme überschwemmen, wage ich nicht zu sagen. In für die Praxis, denn sie versagen vor Ort, auf dem Eis deutschen Kinderzimmern gehört das Robbentier zur und auf dem Fangschiff. Niemand kann jedem Jäger im Grundausstattung der hauseigenen Plüschtiersammlung. Frühjahr auf dem kanadischen Eis über die Schulter Positiv hervorzuheben ist, dass sich immer mehr die schauen, ob er auch alle nötigen vorgeschriebenen Tests Abneigung ausprägt, höher entwickelte Säugetiere, die durchführt, um den Tod des Tieres eindeutig festzustel- unsere Gefährten der Schöpfung sind, ohne Not, viel- len. Solange immer wieder den noch lebenden und bes- mehr aus reiner Gewinnsucht umzubringen. tenfalls betäubten Robbenjungen buchstäblich das Fell über die Ohren gezogen wird, handelt es sich um tier- Bei der Vorbereitung der heutigen Debatte habe ich quälerische Grausamkeit. Je höher die Jagdquote, desto die Ausführungen des Abteilungsleiters des kanadischen mehr Tiere müssen lebendigen Leibes sterben. Dabei ist Fischereiministeriums, Kevin Stringer, noch einmal auf- der Streit, wie viele Robben tatsächlich noch lebten, also merksam nachgelesen, der im Ausschuss für Ernährung, bei vollem Bewusstsein waren, oder aber „sachkundig“ Landwirtschaft und Verbraucherschutz am 5. April die- erschlagen oder erschossen wurden, mehr als nebensäch- ses Jahres Ausführungen machte und für unsere Fragen lich. Dass es tatsächlich passiert, das ist der eigentliche zur Verfügung stand. Ich zitiere aus dem Kurzprotokoll Skandal. Nr. 16/13 der 13. Sitzung des Ausschusses, Seite 28: Weiterhin ist es für mich unvorstellbar, Säugetiere nur … Man müsse auch bedenken, das es sich hierbei deshalb zu töten, um einen Teil des Tieres zu „gewin- – gemeint ist die Robbenjagd – nen“. Nashörner waren und sind wegen ihres angeblich belebenden Hornes bedroht; Elefanten wurden wegen um eine Tradition gerade für diese Gemeinschaften des Elfenbeines fast vollständig ausgerottet. handle, die seit über 400 Jahren in verschiedenen Gebieten in Newfoundland, in Quebec und auch in Nur strikte Einfuhr- und Handelsboykotts und gesell- den atlantischen Provinzen erfolge. schaftliche Ächtung haben diese Arten geschützt und er- halten. Das hat oft sehr lange gedauert. Es funktioniert Diese Ausführungen sind insoweit richtig, gehen aber heute besonders gut dort, wo Nationalstaaten strikt ge- völlig am eigentlichen Problem vorbei. gen illegale Jagdmethoden vorgehen, Erzeugnisse be- Um es festzuhalten: Es steht für uns alle keineswegs schlagnahmen und dem internationalen Handel die Grundlage entziehen. Da die wehr- und schutzlosen (B) zur Debatte, die Rechte und Traditionen der indigenen (D) Bevölkerung in diesen Gebieten einzuschränken. Der Robben fast ausschließlich ihres Felles wegen getötet Anteil der Inuit an der jährlichen Robbenjagd zum Ei- werden, überzeugen auch die Hinweise auf die derzeit genverbrauch bewegt sich im einstelligen Prozentbe- nicht vorhandene Gefährdung des Gesamtbestandes reich. Außerdem verwerten die Inuit die erlegten Tiere, nicht. Beginnen wir jetzt endlich, diesen jährlichen Mas- von denen sie leben, fast vollständig; ein kommerzieller sakern ein Ende zu setzen! Handel findet so gut wie nicht statt. Kommen wir zum letzten Argument, das die Men- Es sind die massenhaften, die grausamen Tötungsme- schen veranlasst, dieses blutige Massensterben zu bege- thoden, die Jahr für Jahr erneut die internationale Öffent- hen. Es wird behauptet, die Robben gefährden die Fisch- lichkeit auf den Plan rufen. Herr Stringer und die kanadi- bestände in dieser Region. Hier muss man deutlich sche Regierung wissen das alles sehr gut, schrecken aber feststellen: Wenn jemand die Fischbestände in der Welt nicht davor zurück, auch noch das letzte Argument aus gefährdet, so sind das immer noch die Menschen. Dieses der staubigen Ecke zu holen, um damit eine Rechtferti- wirtschaftliche Interesse mit kulturellen Handlungswei- gung für die jährliche Abschlachtung von inzwischen sen der Inuit zu tarnen, ist zynisch oder einfach nur mehr als 300 000 Jungrobben zu versuchen. hochgradig peinlich bzw. einer entwickelten menschli- chen Gesellschaft unwürdig. Kein modernes Land der Welt kann die bedrückenden Bilder vorsätzlich erschlagener Robben einfach ignorie- Für den Verzicht auf Robbenprodukte benötigen wir ren und die öffentliche Erregung als Sensationsgier der allerdings auch gesellschaftlichen Rückhalt. Einer der Medien disqualifizieren. Gründe für den zunehmenden internationalen Pelzhandel mit Robbenfellen soll der Umstand sein, dass wohlbe- Wir nehmen zur Kenntnis, dass sich die kanadische leibtere Damen – und auch Herren –, sofern sie sich die- Regierung durchaus um ein akzeptables Management ses Statussymbol leisten können, inzwischen viel lieber der Robbenjagd bemüht. Wir nehmen ebenfalls zur eng anliegende Jacken und Mäntel aus Robbenfell tragen Kenntnis, dass nicht nur Kanada wegen der Robbenjagd öffentlich in Beschuss geraten ist. Auch in Norwegen als die „dick machenden“ Pelzmäntel. Also ist es eine und Russland werden Jahr für Jahr Robben blutig getö- Erscheinung in den „reichen“ Industrieländern. Dort tet. werden auch andere Robbenprodukte wie diverse Öle und Fette gehandelt, um zum Beispiel im wachsenden An dieser Stelle fordere ich die Bundesregierung auf, Wellnessbereich exotische Anwendung zu finden. Es in ihren bilateralen Bemühungen zum Schutz der Rob- existiert leider eben auch eine Nachfrage nach diesen ben gegenüber diesen Staaten nicht nachzulassen. Produkten. 5654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Wir haben gründlich überlegt, ob wir uns für ein Han- tes, wenn man die dortigen Tierschutzstandards auf- (C) delsverbot auf EU-Ebene einsetzen werden, weil alle re- merksam verfolgt und gegebenenfalls Anreize zu tier- gulierenden Eingriffe in den weltweiten Handel und schutzwidrigen Praktiken verringert. Marktabschottungen stets auch unvermeidliche Neben- wirkungen haben. Aber offensichtlich führt im Fall der Die Argumente, die seitens der kanadischen Regie- Robbenprodukte kein Weg daran vorbei. Wir sind sicher, rung für die Robbenjagd ins Feld geführt werden, sind in dass sich weitere europäische Staaten diesem Vorhaben meinen Augen nicht stichhaltig. Diplomatische Bemü- anschließen werden. Wir gehen davon aus, dass es des- hungen, die Haltung der Kanadier zu ändern, blieben wegen sehr bald zu einem gemeinschaftsweiten Einfuhr- fruchtlos. und Handelsverbot mit Produkten aller Robbenarten Es hat in der Vergangenheit den Versuch gegeben, kommen wird. beispielsweise mit der so genannten Jungrobbenrichtli- Wohlgemerkt wird das auf europäischer Ebene ge- nie von 1983, durch legislative Maßnahmen auf Ebene schehen; denn nationale Alleingänge sind im vereinigten der EU die massenhafte Tötung von Robben in Kanada Europa keine Lösung. Ich zitiere aus dem Antrag auf zu unterbinden oder zumindest wirksam einzuschränken. Bundestagsdrucksache 16/2755: Dies ist – das muss man in dieser Offenheit konstatieren – gründlich misslungen. „Harmonisierte europäische Lösungen sind ange- Nach wie vor bin ich der Auffassung, dass ein EU- sichts des freien Warenverkehrs … gegenüber na- weit gültiges generelles Einfuhrverbot von Robbenpro- tionalen Maßnahmen vorzuziehen.“ dukten der beste Weg wäre, um dem hunderttausendfa- Und, sehr geehrter Herr Minister Seehofer, es wäre chen Schlachten in der Arktis Einhalt zu gebieten. Daher ein durchaus lohnendes Ziel für die deutsche Ratspräsi- fordern wir die Bundesregierung auf, die bevorstehende dentschaft ab Januar 2007! Wir möchten das der Koali- Ratspräsidentschaft zu nutzen, ein solches generelles tionsregierung ausdrücklich mit auf den Weg geben. Importverbot – wie dies übrigens für Hunde- und Kat- zenfelle bereits geschehen ist – auf den Weg zu bringen. Mit dem fraktionsübergreifenden Gruppenantrag ent- sprechen wir der großen Mehrheit in diesem Parlament Sollte ein solches Verbot jedoch nicht schnell zu reali- und der deutschen Bevölkerung. Wir setzen den Auftrag sieren sein, so muss allerdings zügig ein nationales Im- der Mehrheit unserer Wählerinnen und Wähler um, portverbot her. wirksam gegen die sich jährlich wiederholenden Grau- Ein Importverbot für Deutschland wäre übrigens kei- samkeiten mit den Mitteln der Politik vorzugehen. Wir neswegs ein „nationaler Alleingang“. So hat beispiels- entscheiden uns heute für den konsequenten Schutz der weise Italien einen befristeten Importstopp verhängt; ein Robben und wir sind sicher, dass wir damit einen wichti- (B) belgischer Gesetzesentwurf ist bereits von der EU notifi- (D) gen Grundstein zum Arterhalt legen. ziert. Es ist ungefähr vierhundert Jahre her, dass eine Tier- EU-weite oder nationale Einfuhrverbote brauchen wir art – vorläufig – von unserer Erde verschwunden ist, nicht nur für die in diesem Antrag behandelten Robben- eine Tierart, die Mitteleuropa und das heutige Deutsch- produkte und die bereits erwähnten Hunde- und Katzen- land über 200 000 Jahre lang bewohnte. Der letzte Auer- felle. Ein weiteres drängendes Problem sind die Importe ochse soll im Jahr 1627 von Wilderen erlegt worden von lebenden Wildvögeln. Auch hier gilt das über die sein. Ich wünsche mir, auch für unsere Kinder und En- Robben Gesagte: Auch wenn außerhalb Deutschlands kel, dass den Robben das Schicksal des Auerochsen er- und der EU in unverantwortlicher Weise Tiere aus rein spart bleibt und dass sich menschliche Vernunft gemein- ökonomischen Beweggründen ohne Not gequält werden, sam mit politischem Handeln erfolgreich durchsetzen dürfen wir nicht die Augen verschließen. Vielmehr sind wird. wir gefordert, im Rahmen unserer gesetzgeberischen Kompetenz alles zu tun, um solchen Missständen abzu- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Wir diskutieren helfen. heute einen Antrag, über den weithin Einigkeit besteht. Vier Fraktionen fordern gemeinsam die Bundesregie- In der heutigen Debatte – ich erwähnte dies bereits rung auf, sich verstärkt für den Schutz von Robben ein- eingangs – muss niemand in diesem Hause von unserem zusetzen. Anliegen überzeugt werden. Aus Sicht des Tierschutzes ist es ein überaus erfreulicher Umstand, dass wir einen Der Hintergrund ist klar: Es gibt kein zwingendes von einem breiten überfraktionellen Konsens getragenen konsumtives Interesse an Robbenprodukten – weder an Antrag eingebracht haben. deren Fleisch, noch an den Fellen. Daher besteht – um eine Formulierung aus unserem deutschen Tierschutzge- Politik ist häufig ein Prozess des Abwägens und Ge- setz zu gebrauchen – kein „vernünftiger Grund“, um wichtens verschiedener Interessen. Die Abwägung fällt Jahr für Jahr mehrere Hunderttausend Tiere auf grau- vielfach schwer und führt bei den verschiedenen Fraktio- same Art und Weise zu töten. nen in diesem Hause mitunter zu durchaus unterschiedli- chen Ergebnissen. In der Frage des Imports von Robben- Nun ist mir selbstverständlich klar, dass Kanada au- produkten ist die Sache anders: Wir hatten lediglich ßerhalb des Geltungsbereiches unserer Gesetze und Ver- abzuwägen zwischen der Eitelkeit einzelner Zeitgenos- ordnungen liegt. Dennoch ist es in meinen Augen keine sen einerseits, die sich mit echten oder vermeintlichen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staa- Statussymbolen wie Pelzjacken oder -stiefeln schmü- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5655

(A) cken wollen, und andererseits hunderttausendfachem ner notwendigen Bestandskontrolle. Die Robbenpopula- (C) blutigem Tierleid an Kanadas Küsten. Dies fiel uns tion, um es hier einmal ganz klar und deutlich zu sagen, leicht. gefährdet nicht die Fischbestände. Natürlich fressen Robben Fische. Und natürlich konkurrieren sie damit Ich bin guter Hoffnung, dass sich die Bundesregie- mit den Menschen, die vom Fang dieser Fische leben. rung im Sinne unseres Antrages einsetzen wird. Wir Doch die Probleme der rückläufigen Erträge der Fische- werden ihr dabei sehr aufmerksam über die Schulter rei auf die Robben zu schieben, ist eine unzulässige Re- schauen und gegebenenfalls auch „schubsen und drän- duzierung komplizierter Zusammenhänge des Ökosys- geln“, wenn wir ungeduldig werden. Ich hoffe, dass dies tems Meer. Die Fischbestände leiden an Überfischung. nicht nötig sein wird. Die Fischbestände leiden an der Meereserwärmung. Die Fischbestände leiden an der Umweltverschmutzung. Das Hans-Michael Goldmann (FDP): Die Robbenjagd sind alles menschengemachte oder jedenfalls von in Kanada wird alljährlich von weltweiten Protesten be- menschlichem Handeln verstärkte Probleme. Die Rob- gleitet. Wir alle kennen die Bilder von Jungrobben, de- ben können dafür nichts. ren Kulleraugen uns anklagend anblicken. Das darf uns Viel wichtiger für den Erhalt der Arbeitsplätze in der aber nicht den Blick darauf verstellen, dass die Jagd als Fischerei – in Kanada wie auch in Europa und Deutsch- solche nicht verwerflich ist. Auch andere jagdbare Tiere land – ist es, Lösungen für diese schwerwiegenden Pro- sehen niedlich aus. Es geht um die Art und Weise. In bleme zu finden. Wir müssen uns daran machen, die Deutschland haben wir klare Regelungen, wie eine gute Meeresumwelt zu schützen. Wir müssen dafür Sorge tra- fachliche Praxis in der Jagd auszusehen hat. Das Leid gen, die Klimaschutzziele weltweit konsequent umzuset- der Tiere muss auf ein Minimum reduziert werden, Tiere zen. Und wir müssen eine nachhaltige Fischerei zum dürfen nicht angeschossen und dann ihrem Leiden über- Zuge kommen lassen, die nicht durch Überfischung die lassen werden. In Deutschland erbringen die Jäger als Spirale der Bestandsreduzierung immer weiter dreht. Naturnutzer einen wichtigen Beitrag zum Erhalt und zur Pflege von Fauna und Flora. Es ist mir wichtig, gerade Ich habe es schon zu Beginn gesagt: Das Problem ist auch in der heutigen Debatte zu verdeutlichen, dass die nicht die Jagd als solche. Das Problem ist die Art und Arbeit unserer Jäger im Tier-, Natur-, Arten- und Um- Weise der Jagd und die massenhafte Tötung aus vorge- weltschutz international Vorbildcharakter hat. schobenen Gründen. Artenschutz ist nicht nur ein Argu- ment für den Kabeljau, sondern auch für die Robben. Was alle Fraktionen gemeinsam in dieser Initiative anprangern, ist die Nichtbeachtung dieser fachlichen Praxis bei der Robbenjagd in Kanada. Wenn Tiere bei le- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Um es vorweg (B) bendigem Leibe gehäutet werden, wenn viele schwer zu sagen: Wir stimmen dem fraktionsübergreifenden (D) verletzte Tiere im Wasser oder auf dem Eis qualvoll ver- Antrag zu; wir haben ihn seit Beginn seiner Entstehung enden, dann dürfen wir davor nicht die Augen verschlie- – er geht ja auf eine Initiative der Grünen zurück – immer ßen. unterstützt. Alle Appelle der Vergangenheit an die kanadische Re- Wie der Antrag letztlich zustande gekommen ist und gierung haben nicht gefruchtet. Es bleibt bei der trauri- welche Fraktionen am Ende als Initiatoren im Kopf ste- gen Bilanz, dass bei der jährlichen Robbenjagd viele hen, ist ein absurdes Lehrstück dafür, wie der Kalte Tiere unnötig leiden müssen. Es zuzulassen, dass daraus Krieg in den Köpfen von CDU und CSU noch immer wirtschaftlicher Gewinn durch die Vermarktung in weiter spukt. Deutschland gezogen wird, ist ethisch nicht vertretbar. Als Verantwortliche für Tierschutz habe ich an den Die EU hat mit der Jungrobbenrichtlinie bereits ein kla- vorbereitenden Gesprächen für diesen interfraktionellen res Signal nach Kanada gesandt: Doch leider hat die Antrag teilgenommen. Erst kurz vor dessen Einbringung Richtlinie nicht den gewünschten Effekt gezeigt. Die hat sich die Union gesperrt, zusammen mit der Linken Robbenjagd beginnt jetzt zwar ein paar Wochen später, auf einem Antrag zu erscheinen. Es gebe da einen Unver- aber an der Art und Weise hat sich nichts geändert. Es einbarkeitsbeschluss. muss daher jetzt klar gemacht werden, dass es nicht nur um den Zeitpunkt geht, sondern um die Einhaltung be- Es ist traurig, dass die Partei, die sich immer so gerne stimmter Tierschutzstandards bei der Jagd. Kanada muss auf die Bewahrung der Schöpfung beruft, nicht den Hin- sich bewusst werden, dass diese Methoden nicht hono- tern in der Hose hat, wenigstens punktuell mit politischen riert werden. Gegnern zu kooperieren, wenn es um die Erhaltung der natürlichen Umwelt geht. Dass einige Gazetten diesen Es wäre daher wünschenswert, wenn die EU sich für Umstand genüsslich so zurechtbiegen, als sei es die ein europaweites Verbot des Imports Robbenprodukten Linke, die sich einem solchen Antrag verweigert, war zu entschiede, solange die Jagd nicht guter fachlicher Pra- erwarten. Der Journalismus in diesem Land ist ohnehin xis genügt. Die Bundesregierung muss sich hierfür auf weitgehend dem Mainstream verpflichtet. Und dann europäischer Ebene einsetzen. kommt eben so etwas dabei heraus. Glücklicherweise betreibt inzwischen nicht einmal Aber geschenkt. Nun zum Inhalt. Es ist dem Antrag mehr die kanadische Regierung Legendenbildung, in- anzusehen, dass er einen Minimalkonsens darstellt, da dem behauptet wird, die massenhafte Robbenjagd unter die Union in Sachen Tierschutz wie immer gebremst hat. Inkaufnahme tierschutzwidriger Jagdmethoden diene ei- Der erste Antragsentwurf hatte die Bundesregierung 5656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) noch aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der jedes Jahr Hunderttausende Robben auf grausame Weise (C) in Deutschland die Einfuhr und den Handel mit Produk- abgeschlachtet. Den größten Teil töten die Kanadier all- ten aller Robbenarten verbietet. Solche Gesetze haben jährlich bei der kommerziellen Robbenjagd im Frühjahr. auch die Niederlande und Belgien der EU-Kommission Gejagt werden vor allem Jungtiere. Seit der Wiederauf- zur Notifikation vorgelegt. nahme der Robbenjagd im Jahr 1996 wurden allein in Kanada über 3 Millionen Sattelrobben getötet. Bezogen Auf Druck der CDU/CSU ist dieser Passus gestrichen auf das Jahr 2006 waren es 335 000 Tiere. worden. Was bleibt, ist die Anforderung, die Bundes- regierung möge national den Handel irgendwie unter- Die Bilder über die Robbenjagd sorgen jedes Jahr er- binden. Nur gemeinschaftsweit soll sie sich für ein ge- neut für große weltweite Entrüstung. Das liegt vor allem setzliches Verbot einsetzen. Damit ist der Antrag deutlich daran, dass dieses blutige Handwerk in der Praxis weit geschwächt worden. Sollte sich die EU hier überhaupt von tierschutzgerechter Tötung und dem, was wir unter einigen, könnte das unter Umständen noch Jahre dauern. Jagd verstehen, entfernt ist. Filmaufnahmen belegen die Und so lange ist dank Union auch in Deutschland der Grausamkeit der Robbenjagd. Die Beteuerungen der Handel mit Robbenfellen nicht gesetzlich verboten. Robbenfänger und auch des Pelzhandels – Sie haben CDU und CSU haben ebenfalls dafür gesorgt, dass sicher wie ich entsprechende Briefe bekommen –, die eine dritte Forderung gestrichen wird, die ursprünglich Fangmethoden hätten sich mittlerweile geändert und im Antragsentwurf stand: Danach sollte sich die Bundes- seien nunmehr tierschutzgerecht, können durch aktuelles regierung auf EU- und internationaler Ebene für ein Filmmaterial eindeutig widerlegt werden. Auch die Kennzeichnungssystem und eine Kennzeichnungspflicht Behauptungen über die Fairness der Robbenjagd, die der für in Kleidungsstücken verarbeitete Felle einsetzen. kanadische Regierungsvertreter bei uns im Ausschuss Ohne eine solche Kennzeichnung lassen sich aber weder gemacht hat, konnten durch Fotos und Filme eindrucks- ein Handels- und Einfuhrverbot noch andere einschrän- voll als unwahr widerlegt werden. Dies war, wie ich kende Maßnahmen à la CDU/CSU vernünftig durchset- finde, ein sehr beschämender Vorgang. Von der regie- zen. Effiziente Kontrollmechanismen sind für die Hüter rungsoffiziellen Robbenjägerlobby schlicht und einfach der Markwirtschaft halt Teufelszeug. Absichtserklärun- belogen zu werden, hat, so war mein Eindruck, wesent- gen dagegen sind immer wohlfeil. Nun fragen vielleicht lich dazu beigetragen, dass der Antrag heute eine breite, einige, warum die Linke diesen deutlich abgewerteten voraussichtlich sogar einstimmige Mehrheit finden wird. Antrag trotzdem unterstützt. Wir machen dies erstens, Es sind aber nicht nur Tierschutzaspekte, die uns zu weil es ein erster Schritt ist, dem freilich weitere folgen der Entscheidung geführt haben, dass die Robbenjagd müssen. Zweitens sehen wir hier auch eine Verpflich- gestoppt werden muss. Das Robbenschlachten steht auch tung für Frau Merkel bei der EU-Präsidentschaft, dieses (B) nicht mit den Anforderungen der Nachhaltigkeit und des (D) Thema auf die Agenda zu nehmen. Drittens spielen wir Artenschutzes in Einklang: Es besteht die Gefahr, dass nicht beleidigte Leberwurst, nur weil wir wieder einmal die hohen Jagdquoten den Erhalt der Population bedro- ausgegrenzt werden. Politik muss sich um Inhalte drehen hen, insbesondere weil es weitere Risikofaktoren gibt. und viele Themen eignen sich einfach nicht zur Profilie- Das sind neben dem Beifang bei der Fischerei vor allem rung. die Klimaänderungen und die damit drohende Zerstö- Inhaltlich haben meine Kollegen wohl alles gesagt, rung des Lebensraumes. Was für die Einschränkung des was zu sagen ist, um ein solches Verbot zu begründen. Lebensraumes des Eisbären zutrifft, gilt letztendlich auch Ich möchte noch einmal unterstreichen: Nicht die Rob- für die Robben: Die sommerliche Meereseisbedeckung ben bedrohen die Kabeljaubestände, sondern die Über- der Arktis geht zusehends zurück und wird bis zur Mitte fischung der Weltmeere. Die Linke hat übrigens gerade dieses Jahrhunderts bis auf Relikte verschwunden sein. heute eine Große Anfrage zum Meeresschutz an den Auch die Eisbedeckung im Winter und Frühjahr wird auf Bundestag übermittelt. jeden Fall in Ausdehnung und Dicke deutlich geringer. Dies wird erheblichen Einfluss auf die Populationen Wir dürfen nicht zulassen, dass aus wirtschaftlichen haben, da Arten wie Sattelrobbe und Klappmütze zur Interessen der Artenschutz unterlaufen und der Tier- Vermehrung auf Packeis angewiesen sind. schutz sträflich missachtet wird. Das grausame Ab- schlachten der Tiere auf dem Eis muss endlich ein Ende Sieht man von der traditionellen und deswegen aus- haben. drücklich erlaubten Jagd der Inuit ab, ist die Robbenjagd darüber hinaus überflüssig, da es für das Fell und für die Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich anderen Produkte, die von diesen Seehunden hergestellt bin froh, dass wir heute endlich den Antrag behandeln werden, zahlreiche Alternativen gibt. Fleisch, Fett und und verabschieden, mit dem wir das Verbot der Einfuhr Kleidung sind auch ohne Robbenjagd ausreichend vor- und des Handels von Robbenprodukten auf den Weg handen. bringen. Dafür haben wir Grüne uns lange eingesetzt. Das Einfuhr- und Handelsverbot für alle Robbenpro- Die Initiative für diesen konkreten Antrag hatten wir dukte in Deutschland allein wird das Robbenschlachten bereits im Frühjahr ergriffen. Die Meinungsbildung hat nicht stoppen. Es werden noch viel mehr Länder folgen einige Monate gedauert, und wir mussten etliche Hürden müssen, um das Morden zu beenden. Aber es ist das, überwinden, aber heute ist es endlich so weit. was Deutschland im Augenblick tun kann. Und es ist ein Ich möchte hier noch einmal kurz begründen, warum deutliches Signal an die Nationen, die noch heute die uns dieses Anliegen so wichtig ist. Weltweit werden Robbenjagd betreiben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5657

(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, die für die Debatte um größere Lastkraftwagen ist das zu- (C) monatelange Verzögerung auf dem Weg zu diesem ge- nehmende Verkehrsaufkommen in Deutschland und in meinsamen Antrag war auf ganz wenige Akteure bei der Europa und die damit einhergehenden Belastungen. Die CDU zurückzuführen. Von Anfang an gab es bei Ihnen Prognosen im Bundesverkehrswegeplan gehen im Ver- Befürworter für ein gemeinsames Vorgehen. Blockiert gleichszeitraum 1997 bis 2015 von massiven Steigerun- hat dieses Vorhaben vor allem Ihr agrarpolitischer Spre- gen der Verkehrsleistungen aus. Demnach werden die cher. Ich denke, Sie haben sich damit keinen Gefallen Verkehrsleistungen im Personenverkehr in diesem Zeit- getan; und ich hoffe, Sie ziehen daraus für die Zukunft raum um 20 Prozent und im Güterverkehr um 64 Prozent ihre Schlussfolgerungen. steigen. Neuere Prognosen gehen sogar von noch höhe- ren jährlichen Zuwachsraten, als bislang angenommen, Ich bedaure es im Übrigen sehr, dass die Union letzt- aus. lich nur zu einer Zustimmung zu bewegen war, wenn die Fraktion der Linken von der Antragstellung ausgeschlos- Nach dem sprunghaft angestiegenen Verkehrsauf- sen bleibt, obwohl sie unseren Antrag unterstützt und kommen zwischen neuen und alten EU-Mitgliedstaaten wir sie von Anfang an in die interfraktionellen Abstim- als Folge der EU-Osterweiterung am 1. Mai 2004 hat mungen zum Thema einbezogen haben. Ich meine, diese sich diese Entwicklung im Jahr 2005 fortgesetzt. Dies ist Prinzipienreiterei und diese Art des Umgangs mit dem zunächst einmal eine erfreuliche Entwicklung; denn ein politischen Konkurrenten hier im Deutschen Bundestag reger Güteraustausch ist ein Zeichen für einen funktio- schaden der politischen Kultur und dem Ansehen der Po- nierenden Binnenmarkt und für das wirtschaftliche Zu- litik in Deutschland sehr. Ich denke, die Bürger hätten sammenwachsen Europas. ein besseres Bild von der Politik, wenn sie sehen wür- den, dass Politiker dort zu einem gemeinsamen Agieren Um den wachsenden Verkehr in Deutschland mög- in der Lage sind, wo Einigkeit in der Überzeugung lichst störungsfrei zu bewältigen, werden wir alle Ver- herrscht. Aber wir konnten und wollten den Erfolg in der kehrsträger brauchen, das heißt Straße, Schiene und Sache an diesem Punkt nicht gefährden und den Antrag Wasserweg. Es sind deshalb alle Rationalisierungsmög- nicht an dieser Frage scheitern lassen. Letztlich ist dies lichkeiten zu nutzen; das gilt insbesondere für die Um- eine Auseinandersetzung, die die Fraktion der Linken schlageinrichtungen. Ich sehe gerade auch bei Schiene mit der Union fuhren muss. Ich möchte hier aber klar und Wasserstraße noch erhebliche Reserven, die mit ver- und deutlich zum Ausdruck bringen, dass wir diese Aus- tretbarem Aufwand zu erschließen sind. grenzung missbilligen und keinesfalls mit betreiben. Den Großteil des wachsenden Güterverkehrsaufkom- Zum Schluss meiner Rede möchte ich an die Bundes- mens wird allerdings die Straße zu bewältigen haben. regierung appellieren, unseren heutigen Beschluss zügig (B) Dies bedeutet eine zusätzliche Belastung unserer Bun- (D) umzusetzen. Denn der Beschluss selber ist erst einmal desfernstraßen. Eine vorausschauende Verkehrspolitik nicht mehr als eine Willensbekundung. Die Bundes- hat sich darauf einzustellen. Als Regierungskoalition tra- regierung muss ihre Ratspräsidentschaft im nächsten gen wir dieser Entwicklung Rechnung. Wir sind dabei, Jahr nutzen, um auch dort auf eine schnelle Umsetzung den zu Recht beklagten Investitionsstau der letzten Jahre des Beschlusses des Europäischen Parlamentes zuguns- Schritt für Schritt aufzulösen. Bis 2009 werden zusätzli- ten eines Handelsverbotes für Robbenprodukte in der che 4,3 Milliarden Euro für Infrastrukturmaßnahmen be- EU zu drängen. reitgestellt. Mit einem „Masterplan Güterverkehr und Außerdem muss die Bundesregierung zügig die nöti- Logistik“ wollen wir die intelligente Vernetzung der Ver- gen Gesetz- und Verordnungsentwürfe erarbeiten und kehrsträger und damit eine höhere Effizienz und Wirt- vorlegen. Ich hoffe, hier gibt es in den Ministerien keinen schaftlichkeit des gesamten Verkehrssystems erreichen. hinhaltenden Widerstand, sondern den festen Willen, die Eine weitere wichtige Maßnahme in diesem Zusammen- Beschlüsse des Bundestages auch umzusetzen. hang ist die Planungsbeschleunigung für Infrastruktur- vorhaben. Auch innovative Fahrzeugkonzepte können einen Anlage 9 wichtigen Beitrag zur Bewältigung des steigenden Ver- Zu Protokoll gegebene Rede kehrsaufkommens leisten. Vor diesem Hintergrund for- dert die FDP-Fraktion in ihrem Antrag, einen umfassen- zur Beratung der Anträge: den deutschlandweiten Feldversuch über die Vor- und – Umfassenden Feldversuch über die Vor- und Nachteile von 60-Tonnen-LKW zu starten. Ein mit den Nachteile von 60-Tonnen-LKW starten Verbänden abgestimmter Versuch soll die Frage klären, ob durch den Einsatz von 60-Tonnen-LKW ein wirksa- – Keine 60-Tonnen-LKW auf deutschen Stra- mer Beitrag zur Entlastung der Straße geleistet werden ßen kann. (Tagesordnungspunkt 20 und Zusatztagesord- Allerdings sind die betroffenen Verbände sich keines- nungspunkt 11) wegs einig in der Beurteilung von Sinn und Nutzen grö- ßerer LKW. Während der Bundesverband des Deutschen Hubert Deittert (CDU/CSU): Wir beraten heute Groß- und Außenhandels davon ausgeht, dass durch eine zwei Anträge der Oppositionsfraktionen zum Thema Zulassung nahezu das gesamte Güterverkehrswachstum „60-Tonnen-LKW auf deutschen Straßen“. Hintergrund der nächsten Jahre aufgefangen werden könne, sieht der 5658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsor- sperren. Eine pauschale Ablehnung, wie es im Antrag (C) gung hier noch viele offene Fragen. der Grünen gefordert wird, halte ich deshalb für überzo- gen. Ich denke, wir sind gut beraten, die Argumente Das Thema „60-Tonnen-LKW“ ist nicht neu. Bereits sorgfältig zu prüfen und abzuwägen, bevor wir zu einer in der vergangenen Legislaturperiode haben wir uns da- endgültigen Entscheidung über eine Zulassung kommen. mit beschäftigt. Die Vorteile größerer Lastkraftwagen Wie Sie wissen, untersucht die Bundesanstalt für Stra- liegen in einem niedrigeren spezifischen Kraftstoffver- ßenwesen zurzeit die Beanspruchungssituation und brauch, niedrigeren spezifischen Emissionen und in ge- Grenztragfähigkeit verschiedener Brückenbauwerke bei ringeren Transportkosten. Die Befürworter versprechen einem Verkehr mit Fahrzeugen bis 60 Tonnen. Darüber sich von ihrem Einsatz eine Reduzierung der Zahl der hinaus sind in mehreren Bundesländern befristete Aus- LKW-Fahrten und damit einen Beitrag zur Entlastung nahmegenehmigungen für den Betrieb erteilt worden. In von Umwelt und Straßen. Skeptiker äußern hingegen die Baden-Württemberg zum Beispiel ist diese Genehmi- Befürchtung, dass durch die Senkung der Transportkos- gung an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. So ist ten genau das Gegenteil des gewünschten Effektes ein- dort die wissenschaftliche Begleitung durch die Bundes- tritt, nämlich die Rückverlagerung vom kombinierten anstalt für Straßenwesen sichergestellt. Zwischen- und Verkehr Schiene-Straße auf die Straße. Dieser Einwand Abschlussberichte sind vorgesehen. ist jedenfalls nicht einfach von der Hand zu weisen. Ob die Gleichung aufgeht, hängt von vielen Faktoren Bevor wir einen deutschlandweiten Feldversuch ab. Dem unbestreitbaren rein rechnerischen Nutzen grö- durchführen, sollten wir die Ergebnisse der laufenden ßerer Lastkraftwagen sind die absehbaren Kosten gegen- Untersuchungen abwarten und auswerten. Wir als CDU/ überzustellen. Eines der zentralen Probleme in der CSU-Fraktion werden uns nach einer sorgfältigen Bera- Diskussion um die Zulassung der 60-Tonner ist die Be- tung im Fachausschuss ein Urteil bilden. Die Notwen- lastbarkeit unserer Straßen und Brücken. Für die Belas- digkeit einer weiteren aufwendigen Studie zum jetzigen tung von Brücken ist nicht die geringere Achslast ent- Zeitpunkt kann ich allerdings nicht erkennen. scheidend, sondern das höhere Gesamtgewicht. Viele Brücken sind aber nicht für ein solches Gewicht ausge- legt. Sie könnten durch eine zu hohe Belastung beschä- Anlage 10 digt werden und im schlimmsten Fall sogar zusammen- brechen. Ein einzelner 60-Tonnen-LKW stellt sicherlich Zu Protokoll gegebene Reden kein Problem dar. Was aber passiert zum Beispiel bei ei- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über nem Stau mehrerer 60-Tonner auf einer Brücke? Einige die Durchsetzung der Verbraucherschutzge- Brücken stoßen bereits heute an ihre Belastungsgrenze. (B) setze bei innergemeinschaftlichen Verstößen (D) Um diese Bauwerke flächendeckend für die schweren (Zusatztagesordnungspunkt 12) LKW sicher zu machen, wären umfangreiche Baumaß- nahmen erforderlich. Es spricht also einiges dafür, einen eventuellen Einsatz auf genau definierte Strecken zu be- Julia Klöckner (CDU/CSU): Das Einkaufen im Aus- grenzen. land ist heute selbstverständlich. Ob Lebensmittel, Haus- haltsgeräte, Versicherungen oder Reisebuchungen, der Veränderte Fahrzeugmaße werfen darüber hinaus eine grenzüberschreitende Waren- und Dienstleistungsver- Reihe praktischer Fragen auf, die vor allem die Ver- kehr bereichert das Angebot, die Wahlfreiheit und den kehrssicherheit betreffen. Ich nenne nur einige Punkte: Wettbewerb. Das kommt dem Verbraucher zugute. Die Kurvenradien an Autobahnauffahrten, an Abfahrten und in Kreisverkehren sind für Fahrzeuge mit einer Ge- Das ist die eine Seite. Die andere jedoch bringt das samtlänge von über 25 Metern zu eng. Und wie steht es Problem des Verbraucherschutzes zutage. Die EU sorgt um die Akzeptanz der anderen Verkehrsteilnehmer? sich zwar um deren Harmonisierung, aber die Durchset- Überholvorgänge werden länger und damit potenziell zung dieser Rechte war bislang das Problem. Wenn näm- gefährlicher. Gibt es ein erhöhtes Unfallrisiko größerer lich zum Beispiel das Fernsehgerät aus Frankreich nicht Fahrzeuge und mit welchen Unfallfolgen ist – etwa bei das hält, was die Werbung versprochen hat, dann hatte einem Aufprall auf einen Brückenpfeiler – zu rechnen? der Verbraucher bisher Schwierigkeiten, an sein Recht Sind die LKW-Plätze auf Park- und Rastplätzen ausrei- zu kommen. chend groß? Mit dem neuen Gesetz zur Umsetzung zur Durchset- Schließlich möchte ich noch eine grundsätzliche zung der Verbraucherschutzgesetze bei innergemein- Frage stellen: Was kommt eigentlich nach dem 60-Ton- schaftlichen Verstößen wird dies nun anders. Einem Un- nen-LKW? Wo liegt die Grenze des technisch Be- ternehmen, das bei seinen europaweiten Geschäften herrschbaren? In Australien fahren LKW-Züge von gegen die Rechte der Verbraucher verstößt, kann jetzt 53 Metern Länge. Dies wäre für deutsche Verhältnisse schneller und leichter das Handwerk gelegt werden. Ne- eindeutig zu viel. Aber auch die Erfahrungen aus Schwe- ben der Stärkung der Verbraucherrechte auf europäischer den oder Finnland mit 60-Tonnern lassen sich wegen der Ebene bedeutet dies aber auch eine Stärkung des Wachs- unterschiedlichen Geografie nicht eins zu eins auf tumspotenzials für den europäischen Binnenmarkt. Denn Deutschland übertragen. durch diese Ausweitung auf europäischer Ebene werden Hier kritisch nachzufragen heißt nicht, sich grund- zukünftig noch mehr Kunden den europäischen Markt sätzlich gegen Innovationen im Fahrzeugbereich zu nutzen. Damit werden also nicht nur die Verbraucher- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5659

(A) rechte, sondern auch europäische Wirtschaftsinteressen braucherschutz und Lebensmittelsicherheit ist eine gute (C) gestärkt. Wahl getroffen worden Diese Behörde hat die richtigen Voraussetzungen, um als zentrales Bindeglied zu fungie- Ausgangsbasis für den heutigen Gesetzesentwurf ist ren. die EG-Verordnung, die die Durchsetzung von Verbrau- cherrechten bei grenzüberschreitenden Verstößen gegen Neben dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Gesetze zum Schütze der Verbraucher verbessern will. Lebensmittelsicherheit, das für alle Verstöße zuständig Damit sind alle Mitgliedstaaten verpflichtet, eine zen- ist, die nicht aufgrund spezieller Regelungen durch an- trale Verbindungsstelle und eine oder auch mehrere für dere Behörden verfolgt werden, wird auch die Bundes- die Durchsetzung zuständige Behörden zu benennen. anstalt für Finanzdienstleistungen und das Luftfahrtbun- desamt in Erscheinung treten. Die Bundesanstalt für Dabei umfasst die EG-Verordnung Fälle innergemein- Finanzdienstleistungsaufsicht wird vorrangig dann tätig, schaftlicher Verstöße gegen kollektive Verbraucherinte- wenn es sich um Verstöße handelt, die von Unternehmen ressen über Grenzen in der EU hinweg, also dann, wenn im Bereich des Bank-, Versicherungs- oder Wertpapier- ein Unternehmen aus Mitgliedstaat A gegen Verbrau- wesens begangen werden. Und das Luftfahrtbundesamt cherrecht im Mitgliedstaat B verstößt. Hier kann das greift ein, wenn Verstöße gegen die EU-Verordnung über neue Behördennetz tätig werden. Es erfasst aber keine Passagierrechte bei Annullierungen und großen Verspä- Verstöße, die nur innerhalb eines Mitgliedstaats erfol- tungen im Luftverkehr vorliegen. gen. Mit diesem Gesetz soll vielmehr der kollektive Ver- braucherschutz auf europäischer Ebene angeglichen und Soweit auf Länderebene bereits Behörden mit der harmonisiert werden. Durchführung von Gesetzen befasst sind, die vom An- wendungsbereich der Verordnung betroffen werden, Das heißt konkret: Eine Behörde muss auf Ersuchen bleiben die Länderzuständigkeiten unberührt. Dies gilt einer Schwesterbehörde eines EU-Nachbarlandes alles bei der Fernsehrichtlinie, der Preisangabenrichtlinie so- Erforderliche tun, um festzustellen, ob, wie behauptet, wie der Richtlinie zur Schaffung eines Gemeinschafts- ein Verstoß gegen Verbraucherrechte vorliegt. Sie muss kodexes für Humanarzneimittel. die relevanten Unterlagen bei dem Unternehmen einse- hen und Auskünfte geben können. Und auch die Ermitt- Die Verordnung gestattet unter bestimmten Bedin- lung vor Ort gehört dazu. Dies ist sicherlich ein Schritt gungen, dass die Behörde nicht selbst tätig wird, sondern in die richtige Richtung und ein deutliches Zeichen, um eine geeignete dritte Stelle mit der Einstellung des Ver- illegalen Praktiken einen Riegel vorzuschieben. stoßes beauftragt. Zu diesem Zwecke werden die zustän- digen Behörden ermächtigt, Rahmenvereinbarungen mit Denn mit dem Gesetz, können grenzüberschreitende geeigneten Stellen abzuschließen. Geeignete Stellen sind (B) Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht, wie zum Beispiel vor allem Verbraucherzentralen, aber auch Verbände der (D) irreführende oder aggressive Werbepraktiken, unzuläs- Wirtschaft, wie die Wettbewerbszentrale. Die Eignung sige Vertragsklauseln, die Nichteinhaltung der Vorschrif- bestimmt sich nach den Vorgaben des Unterlassungskla- ten über das Fernsehabsatzrecht, Verstöße bei Haustür- gengesetzes. Dieses regelt, welche Vereinigungen gegen geschäften, aber auch des Pauschalreiserechts oder des Verbraucherschutzinteressen beeinträchtigende Ver- Arzneimittelrechts von den Behörden oder den von ih- stöße vorgehen können. nen beauftragten Organisationen verfolgt werden. Vo- raussetzung, damit die Behörden eingreifen können, ist: Denn eines ist auch klar: Wir wollen mit diesem Ge- Kollektive Verbraucherschutzinteressen müssen betrof- setz so wenig Bürokratie wie möglich schaffen und des- fen sein. halb in der Praxis versuchen, die Verbraucherzentralen oder die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbe- Wie sieht nun die konkrete Anwendung der EG-Ver- werbs mit der Verfolgung von Rechtsverstößen zu beauf- ordnung in Deutschland aus? Mit dem Entwurf des EG- tragen. So können wir sicherstellen, dass auch zukünftig Verbraucherschutzdurchsetzungsgesetzes werden die das bewährte System erhalten bleibt. Ich denke, dies ist Voraussetzungen für die tatsächliche Anwendbarkeit der auch in Richtung der Verbraucherzentralen und der Ver- Verordnung bis Ende Dezember in Deutschland geschaf- bände der Wirtschaft ein wichtiges Signal. fen. Hierzu zählen die Benennung der zentralen Verbin- dungsstelle, die Benennung der zuständigen Behörden, Da es sich bei der Verordnung um unmittelbar gelten- die Regelung der erforderlichen Zwangsbefugnisse und des Recht handelt, kann der nationale Gesetzgeber nur in die Regelung der Einbeziehung geeigneter dritter Stellen engen Grenzen Durchführungsregeln erlassen. In dem – insbesondere von Verbraucherzentralen – zur Einstel- Entwurf werden deshalb nur die Regelungen getroffen, lung von Verstößen. die für die tatsächliche Anwendbarkeit unverzichtbar sind. Soweit nicht bereits behördliche Spezialzuständig- Kurz zu der Benennung der zentralen Verbindungs- keiten bestehen, wird das BVL auf Bundesebene die Ge- stelle: Als zentrale Verbindungsstelle wird das Bundes- neralzuständigkeit als Durchsetzungsbehörde haben. amt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit benannt. Dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Mit der Zuständigkeit des Bundesamtes für Verbrau- Lebensmittelsicherheit obliegt es damit, die Kommuni- cherschutz und Lebensmittelsicherheit und damit des kation mit den zuständigen nationalen Behörden und in- Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und nerhalb des europäischen Netzwerkes sicherzustellen. Verbraucherschutz wird der Tatsache Rechung getragen, Unmittelbare exekutive Befugnisse wird das BVL nicht dass es sich bei der Durchsetzung verschiedenster haben. Mit der Entscheidung für das Bundesamt für Ver- Rechtsvorschriften zugunsten der Verbraucher bei grenz- 5660 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) überschreitenden Verstößen in einem europaweiten Be- hen zu können. Unter bestimmten Voraussetzungen kön- (C) hördennetzwerk um eine klassische Querschnittsaufgabe nen Behörden hierzu auch geeignete Dritte einschalten. handelt. Der Koalitionsvertrag definiert den Verbrau- Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass in cherschutz ausdrücklich als Querschnittsaufgabe. Diese Deutschland, anders als in anderen Mitgliedstaaten, übli- Funktion soll und wird das Bundesministerium für Er- cherweise Verstöße gegen Verbraucherrechte durch Ver- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ausfül- braucherschutz- oder Wirtschaftsverbände auf dem Zi- len. vilrechtsweg verfolgt werden. Erfasst werden nur Insgesamt ist dieses Verbraucherschutzdurchset- Verstöße, die einen grenzüberschreitenden Bezug haben; zungsgesetz die richtige Antwort, um unseriösen Ge- auf rein nationale Sachverhalte sind weder die EG-Ver- schäftspraktiken einen Riegel vorzuschieben, die kollek- ordnung noch das nationale Gesetz anwendbar. Die EG- tiven Verbraucherrechte zu stärken und auf europäischer Verordnung dient auch nicht der Durchsetzung von Indi- Ebene zu harmonisieren. Die Bundesregierung nimmt vidualansprüchen der Verbraucher. den praktisch anwendbaren Verbraucherschutz zum Der Gesetzentwurf trifft nur insoweit Regelungen, Wohle aller Bürgerinnen und Bürger Deutschlands ernst. wie dies erforderlich ist, um die grenzüberschreitende Behördenzusammenarbeit in der Praxis zu ermöglichen. Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Wir haben heute ei- Hierzu zählen die Benennung der zentralen Verbin- nen komplizierten Gesetzentwurf vorliegen, der zeigt, dungsstelle, die Benennung der für die Durchsetzung zu- wie schwierig es in Deutschland ist, Verbraucherrechte ständigen Behörden, die Regelung der erforderlichen durchzusetzen. Kompliziert, aber gut und wichtig; denn Zwangsbefugnisse, die Regelung der Einbeziehung ge- damit sollen die unverzichtbaren Voraussetzungen für eigneter dritter Stellen, insbesondere von Verbraucher- die Umsetzung der EU-Verordnung 2006/2004 über die zentralen, zur Einstellung von Verstößen. Zentrale Ver- Zusammenarbeit im Verbraucherschutz in nationales bindungsstelle, die für die Kommunikation innerhalb des Recht geschaffen werden. Netzwerks zuständig ist, wird das Bundesamt für Ver- Die EU-Verordnung ist bereits Ende Dezember 2004 braucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Das BVL ist in Kraft getreten. Sie wird gestaffelt wirksam. Zum Teil auch die für die Durchsetzung der Verbraucherrechte zu- ist Deutschland mit der Umsetzung in Verzug. Ziel der ständige Behörde, soweit nicht auf Bundes- oder Lan- Verordnung ist es, innerhalb der Europäischen Union ein desebene bereits Spezialzuständigkeiten bestehen. Der Netzwerk von Verbraucherschutzbehörden zu errichten, Gesetzentwurf sieht vor, dass Fälle grenzüberschreiten- die sich gegenseitig bei der Durchsetzung von Maßnah- der Verletzungen von Verbraucherrechten vorrangig an men im Falle grenzüberschreitender Verstöße gegen kol- geeignete dritte Stellen abgegeben werden sollen. Damit (B) lektive Verbraucherinteressen unterstützen. Bis Ende wird sichergestellt, dass auch künftig das erfolgreiche (D) 2006 soll das Netz der Kontaktstellen für Verbraucherin- privatrechtliche Durchsetzungssystem in Deutschland nen und Verbraucher in der ganzen EU aufgebaut sein. erhalten bleibt. Das Unterlassungsklagengesetz und das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb werden geän- Was heißt das konkret für Verbraucherinnen und Ver- dert, um Verbraucherverbänden und sonstigen klagebe- braucher? Ich will ein Beispiel nennen: Es kommt immer fugten Einrichtungen ein Tätigwerden auch in grenz- wieder vor, dass Fluggesellschaften Flüge grundlos und überschreitenden Fällen zu ermöglichen. ohne Entschädigung absagen. Das ist nicht nur ärgerlich, das verletzt die Rechte des Fluggastes. Hierbei handelt Die Anwendung dieser europäischen Verordnung es sich um ein typisches grenzüberschreitendes Problem, wird in Deutschland die Rechte der Verbraucherinnen da der Fluggast und die Fluggesellschaft oft nicht aus und Verbraucher bei grenzüberschreitenden Sachverhal- demselben Mitgliedstaat stammen. Weil sich diese Fälle ten stärken. Im Interesse der Verbraucher müssen euro- häufen, wird hier ein kollektives Verbraucherinteresse päische Netzwerke von Verbraucherschutzzentren einer- sichtbar. Für diesen Bereich der Fluggastrechte gibt es seits und von Verbraucherschutzbehörden andererseits in bereits eine entsprechende Verordnung, die es den Ver- Zukunft untereinander stärker vernetzt werden. Die Sa- brauchern ermöglicht, effektiv ihre Rechte geltend zu che eilt: Laut EU-Kommission haben zum Beispiel im machen. Aber das ist bisher die Ausnahme. Bereich Onlinegeschäfte die meisten Beschwerden ihren Der heute vorliegende Gesetzentwurf stärkt nun gene- Ursprung in Deutschland. Wir müssen unseren Beitrag rell die Rechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern zum Aufbau des EU-weiten Kontaktstellennetzwerk gegenüber grenzüberschreitenden Verstößen. Denn wo leisten. die Verbraucher bisher auf den beschwerlichen, weil in- dividuellen Zivilrechtsweg verzichtet haben, werden Hans-Michael Goldmann (FDP): Nicht zuletzt bei Verbraucherinteressen mit diesem Gesetz nun gebündelt den unlängst bekannt gewordenen Gammelfleischskan- und von Behörden bzw. Verbänden durchgesetzt. dalen hat sich gezeigt, dass Verbraucherschutzverstöße Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, eine zentrale nicht an nationalen Grenzen halt machen. Gammel- Verbindungsstelle und die für die Durchsetzung von fleisch aus München wurde nicht nur innerhalb der Bun- konkreten Maßnahmen zuständigen Behörden zu benen- desrepublik, sondern auch in andere Länder verkauft. nen. Die zuständigen Behörden müssen über die in der Daher ist es richtig und wichtig, verbesserte Regelungen Verordnung vorgesehenen Befugnisse verfügen, um ge- für die Verfolgung von Verstößen gegen Verbraucher- gen die Verletzung kollektiver Verbraucherrechte vorge- schutzgesetze innerhalb der EU zu schaffen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5661

(A) Doch die Gammelfleischskandale haben auch die Er- Doch nicht nur im organisatorischen Bereich weist (C) kenntnis gebracht, dass Systeme zur Verfolgung von das Gesetz Mängel auf. Auch inhaltlich muss nach- Verbraucherschutzverstößen über Grenzen hinweg keine gebessert werden. Die zuständigen Verbraucherschutz- Selbstläufer sind. Es reicht nicht, die Möglichkeit zum behörden erhalten durch das Gesetz die Befugnis, grenz- Anlegen elektronischer Akten über Gammelfleischhänd- überschreitende Verstöße gegen Gesetze zum Schutz von ler über unsere föderalen Ländergrenzen hinweg zu Verbraucherinteressen zu verfolgen – beispielsweise durch schaffen – sie muss vor allem genutzt werden. Das Pro- Beschlagnahme oder Durchsuchung. In dem Gesetz wird blem fängt also schon im Lande an. jedoch nicht klargestellt, dass die Beschlagnahme- und Durchsuchungsverbote, die in Deutschland für die freien Jetzt soll über Staatengrenzen hinweg die Zusammen- Berufe wie Rechtsanwälte oder Ärzte gelten, hier eben- arbeit der Verbraucherbehörden verbessert werden. Ich falls Anwendung finden müssen. Der Schutz des beson- muss schon sagen, dass ich das für ein ambitioniertes deren Vertrauensverhältnisses zwischen Vertretern der Ziel halte, wenn die Zusammenarbeit schon zwischen freien Berufe und den Bürgerinnen und Bürgern, die den Bundesländern nicht richtig funktioniert. Das Pro- deren Dienstleistungen in Anspruch nehmen, muss auch blem zeigt sich ja auch schon in dem vorliegenden in der innergemeinschaftlichen, grenzüberschreitenden Gesetzentwurf: § 2 – Zuständige Behörde – ist ein sehr Rechtsverfolgung gewahrt bleiben. einprägsames Beispiel unserer heillos unübersichtlichen Das Gesetz birgt noch viele Fallstricke. Die FDP- Kompetenzen im Verbraucherbereich. Zentrale Verbin- Fraktion wird daher im Ausschuss für Ernährung, Land- dungsstelle soll das Bundesamt für Verbraucherschutz und wirtschaft und Verbraucherschutz eine Anhörung zu dem Lebensmittelsicherheit werden, auch, wie es ausdrück- Gesetzentwurf beantragen. lich im Gesetzentwurf steht, für solche Fälle, in denen die eigentliche Rechtsdurchsetzung anderen Behören, beispielsweise Kommunalbehörden, obliegt. Das BVL Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Der vorlie- soll mithin gegenüber der EU dafür Rede und Antwort gende Gesetzentwurf macht klar: Was wir vor einem stehen, was die Passauer Lebensmittelkontrollbehörde Monat vorgeschlagen haben, ist doch möglich, auch tut oder lässt. Da würde es mich schon sehr interessieren, wenn es von der Regierungskoalition abgelehnt wurde. wie sich die Bundesregierung das praktisch vorstellt, Wir hatten angesichts der Neuauflage des Gammel- welche Systeme da vorgehalten werden, um eine rei- fleischskandals gefordert, dass die unterschiedlichen bungslose Kommunikation schon innerhalb Deutsch- Standards der Lebensmittelkontrollen in den Ländern in lands zu gewährleisten. einem Bund-Länder-Staatsvertrag endlich bundesweit geregelt und angehoben werden müssen. Wir forderten Ungeklärt ist auch, wie das BVL, dessen fachlicher (B) ein bundesweites Qualitätsmanagement, das die (D) Aufgabenbereich bislang die Bereiche Verbraucherschutz Schwachstellen analysieren und beseitigen muss. Damit bei Lebensmitteln, Kosmetika, Textilien und Spielzeug, das Qualitätsmanagement funktioniert, sollte die Le- Futtermitteln, Pflanzenschutz, Tierarzneimittel und Gen- bensmittelkontrolle der Länder einer unabhängigen Aus- technik umfasst, sich nunmehr um alle Fragen des recht- wertung unterzogen werden. Dafür sollte laut unserem lichen und wirtschaftlichen Verbraucherschutzes küm- Vorschlag eines Bund-Länder-Staatsvertrags eine Audi- mern soll, einmal als zentrale Verbindungsstelle, vor tierung durch das Bundesamt für Verbraucherschutz und allem aber als originär zuständige Behörde. Damit wird Lebensmittelsicherheit eingerichtet werden. die Fachkompetenz um ein vielfaches ausgeweitet. Ich möchte einmal ein paar Beispiele nennen: irreführende An die Spitze des Qualitätsmanagements sollte das Werbung, Haustürgeschäfte, Verbraucherkreditgeschäfte, BVL gestellt werden, assistiert von einem im Rotations- Nichterbringung von Leistungen bei Pauschalreisen, verfahren wechselnden Bundesland. Damals ging es uns missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, Teil- um die Konsequenzen aus dem bundesweiten, aber auch nutzungsrechte an Grundstücken, E-Commerce, Fernab- grenzübergreifenden Vertrieb von Gammelfleisch. satzgeschäfte, Entschädigung für Ausfälle von Flügen. Heute, nur einen Monat später, geht es wieder um ein Nur für spezielle Fachbereiche sollen andere Behörden Gesetz, das die Durchsetzungsmöglichkeiten von ver- fachlich zuständig sein, so das BAFin, die Luftsicher- braucherschützenden Vorschriften im grenzüberschrei- heitsbehörde und andere. Auch bei diesen Behörden tenden Verkehr von Waren und Dienstleistungen verbes- muss die Frage gestellt werden, welcher Arbeitsaufwand sern soll. zu erwarten ist und wie dieser geschultert werden soll. Nehmen wir das Beispiel von unlauteren Geschäfts- Doch mein besonderes Augenmerk gilt dem BVL. Zu praktiken, die von einer deutschen Firma ausgehen, und der umfänglichen Ausweitung von deren Kompetenzen zwar als Verstöße gegen die Lebensmittelsicherheit oder will meines Erachtens nicht passen, dass die Mittel für irreführende und aggressive Werbung oder falsche das BVL im aktuellen Haushaltsansatz nicht entspre- Preisangaben. In diesen Fällen soll die ausländische Be- chend angepasst werden. Eine solche Kompetenzerweite- hörde in Deutschland um Amtshilfe ersuchen können. rung muss doch mit einer Aufstockung bei entsprechend Die EU-Verordnung schreibt vor, dass die Bundes- fachkompetentem Personal und nicht zuletzt mit dem republik eine „Zentrale Verbindungsstelle“ zum Emp- Aufbau der entsprechenden Infrastruktur zur Vernetzung fang und zur Weiterleitung dieser Amtshilfeersuchen an mit Länder- und Kommunalbehörden wie auch anderen die zuständige Behörde hat. Zur Erledigung der Amtshil- Bundesbehörden einhergehen. feersuchen muss die Bundesregierung außerdem die 5662 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) „Zuständigen Behörden“ benennen. Diese Behörden Nicht, dass wir diese Lösung kritisieren. Im Gegen- (C) müssen befähigt sein, den Sachverhalt zu ermitteln und teil – sie zeigt, dass es geht, wenn man es für sinnvoll mit geeigneten Maßnahmen die Verstöße abzustellen. hält. Nach der bisher vorgetragenen Logik hätte die Bun- Nachdem die Bundesregierung also nun bewiesen hat, desregierung mit Verweis auf die föderalen Regeln auch dass eine solche bundesweite Kompetenzübernahme hier auf die Verantwortlichkeit der Länder verweisen möglich ist, und die Länder sogar bereit sind, beim müssen, mit der Folge einer Vielzahl von zuständigen Preisangabenrecht die Rechtsdurchsetzung an den Bund Landesbehörden mit einer Vielzahl von unterschiedli- abzugeben (siehe Bundesratsstellungnahme), ist viel- chem Landesrecht zur Durchsetzung der verbraucher- leicht auch eine ernsthafte Prüfung einer Bund-Länder- Vereinbarung zum Qualitätsmanagement bei der Lebens- schützenden Vorschriften im grenzüberschreitenden mittelkontrolle möglich. Unser Antrag dazu ist ja als Handel und im Dienstleistungsbereich. Denkanstoß noch im laufenden parlamentarischen Ver- Das war selbst der Bundesregierung zu absurd. So be- fahren. nennt sie nun im Gesetzentwurf sinnvollerweise das Zu begrüßen ist, dass das BVL im Gesetz aufgerufen Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsi- wird, den Verbraucherschutz mithilfe der Verbraucher- cherheit als „Zentrale Verbindungsstelle“ zur Entgegen- schutzorganisationen zu verfolgen. Die dafür erforderli- nahme und Weiterleitung der Amtshilfeersuchen. chen Rahmenvereinbarungen müssen auf Bundes- und Schließlich habe das BVL bereits im derzeitigen Aufga- Länderebene zügig angegangen und umgesetzt werden, benzuschnitt Erfahrung im Austausch von Daten zwi- damit die Organisationen zum Stichtag 29. Dezember schen den Mitgliedstaaten und der Europäischen Kom- 2006 auch tätig werden können. Auch hier wäre eine mission, so die inhaltliche Begründung. Richtig. Aber Bund-Länder-Rahmenvereinbarung mit dem Verbrau- natürlich hat das BVL mindestens genauso viel Erfah- cherzentrale-Bundesverband und dessen länderseitiger rung im Austausch von Daten mit den Bundesländern. Untergliederung unser Vorschlag. Sollte es zumindest. Gerade deshalb sind wir ja – übri- gens in (seltener) Übereinstimmung mit einem Vor- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das schlag von Horst Seehofer – der Meinung, dass das BVL vorliegende Gesetz verfolgt ein richtiges Anliegen: Es auch Koordinierungs- und Auditierungsstelle beim bun- übersetzt die EU-Verordnung über die Zusammenarbeit desweiten Qualitätsmanagement der Lebensmittelkon- zwischen den zuständigen nationalen Behörden, die für trolle sein sollte. Warum das in dem einen Fall eine ver- die Durchsetzung der Verbraucherschutzgesetze verant- nünftige Lösung ist, in dem anderen Fall aber nicht wortlich sind. Im Falle eines grenzüberschreitenden Ver- (B) gehen soll, ist bislang unbeantwortet. stoßes gegen kollektive Verbraucherinteressen helfen (D) sich die Verbraucherbehörden innerhalb der Europäi- In der Bundestagsdebatte zu unserem Antrag am schen Union und bilden ein Netzwerk, das sich gegen- 28. September 2006 gab die CDU/CSU zu Protokoll, seitig bei der Durchsetzung von Maßnahmen unterstützt. dass man uns noch mal den Föderalismus erklären Die EU-Verordnung wird also mit dem deutschen Recht müsse. Die Bund-Länder-Zusammenarbeit gäbe es be- vereint, nicht mehr und nicht weniger. Das ist also nicht reits. der große verbraucherpolitische Wurf, sondern eine rich- tige technische Umsetzung. Nur: Herr Seehofer höchstselbst hatte in der Anhö- rung im September erklärt, dass zum Beispiel die Die Funktion der obligatorischen Zentralen Verbin- Meldungen der Länder an das beim BVL eingerichtete dungsstelle soll in Deutschland vom Bundesamt für Ver- Fachinformationssystem „Verbraucherschutz und Le- braucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL, wahr- bensmittelsicherheit“ äußerst dürftig waren. genommen werden. Diese Festlegung begrüßen wir. Damit hat die Bundesregierung den Vorschlag der Bun- Dass aber eigentlich auch die Regierungskoalition mit desländer, das Justizministerium mit der Koordinierung uns gegen eine zersplitterte Durchsetzung des Verbrau- zu beauftragen, mit Recht verworfen. Wir finden: Die cherschutzes ist, zeigt der jetzt vorliegenden Gesetzent- Verbraucherkompetenzen gehören in eine Hand, umso wurf: Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Le- mehr als die Querschnittsaufgabe Verbraucherschutz in bensmittelsicherheit wird jetzt sogar als „Zuständige der jetzigen Bundesregierung im Kompetenzgerangel Behörde“ für den Vollzug (!) zur Durchsetzung des unterzugehen droht. Wir erleben das beim Passivrau- grenzübergreifenden Verbraucherschutzes benannt. Das cherschutz, bei der Bekämpfung des Ernährungspro- BVL ist also nicht nur koordinierende Behörde, wie in blems Übergewicht und nicht zuletzt bei Fahrgastrech- unserem Antrag, sondern es wird sogar ermächtigt, bei ten. Heraus kommt ein verbraucherpolitischer Stillstand, Amtshilfeersuchen von Behörden aus Mitgliedsländern den wir nicht akzeptieren wollen. den Verbraucherschutz durchzusetzen. Bei den Lebens- Das Gesetz müsste aber an einigen Stellen noch ver- mittelskandalen hieß es immer, der Vollzug ist Ländersa- bessert werden, damit der deutsche Verbraucher einen che. Beim grenzübergreifenden Verbraucherschutzvoll- Zusatznutzen zur EU-Verordnung hat. Bei wettbewerbs- zug beschränkt sich die Länderverantwortung auf die rechtlichen Verstößen ist kein klarer Partner vorgesehen, Werbung in Rundfunk und TV sowie die Heilmittelwer- der mit dem BVL zusammenarbeitet. Hier müssen beste- bung, das Preisangabenrecht und die Aufsicht über re- hende Kompetenzen optimal zum Wohl der Verbraucher gional tätige Versicherungsunternehmen. ausgenutzt werden. Dabei macht es den entscheidenden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5663

(A) Unterschied, ob ein Werbevergehen von einem unabhän- Die Bundesregierung hat erst kürzlich in ihrer Ant- (C) gigen Verbrauchervertreter beurteilt wird oder ob die In- wort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke er- dustrie- und Handelskammer eines ihrer Mitgliedsunter- neut auf diese Rechtslage hingewiesen. In der mit nehmen kritisieren soll. Also hier fehlt eine klare Schreiben des Bundesministeriums für Gesundheit über- Aussage zur bevorzugten Zusammenarbeit des BVL mit mittelten Antwort vom 10. August 2006 – Bundestags- den Verbraucherverbänden. drucksache 16/2384 – heißt es wörtlich: Das Gesetz wird auch nur bei Rechtsverstößen mit Nach Artikel 123 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) grenzüberschreitendem Bezug zur Anwendung kom- gilt Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des men. Das ist bedauerlich, denn auch national liegen viele Deutschen Bundestages (7. September 1949) fort, Koordinationsaufgaben im Verbraucherschutz brach. So soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht. wie die EU-Kommission die Durchsetzung von Verbrau- Fortgelten können demnach nur vorkonstitutionelle cherrechten als mangelhaft analysiert hat und Maßnah- Rechtsnormen, die an diesem Tag gültig waren men zur Abhilfe ergreift, müsste die Bundesregierung (BVerfGE 4, 115, 138). Rechtsnormen, die im Wi- die bestehenden Vollzugsdefizite beim Verbraucher- derspruch zum Grundgesetz stehen, sind bereits bei schutz in den Ländern konsequenter angehen. Zu nennen dessen Inkrafttreten am 24. Mai 1949 außer Kraft sind hier natürlich vor allem die Probleme in der Lebens- getreten. Die Gültigkeit des Gesetzes zur Verhütung mittelüberwachung, aber auch die Verfolgung von erbkranken Nachwuchses … endete mit dem In- rechtswidriger Telefonwerbung, Verstöße gegen die Pro- krafttreten des Grundgesetzes, soweit es dem duktsicherheit, Sicherheitsmängel bei Kinderspielhallen Grundgesetz – insbesondere dem Artikel 2 usw. In den Ausschussberatungen werden wir über diese Abs. 2 GG – widersprach. Die wenigen als Bundes- Punkte ja noch sprechen können. recht fortgeltenden Regelungen über Unfruchtbar- machung und Schwangerschaftsabbruch mit Ein- willigung bei Lebens- und Gesundheitsgefahr sind Anlage 11 endgültig durch Art. 8 Nr. 1 des Gesetzes vom 18. Juni 1974 (BGBI. I S. 1297) aufgehoben wor- Zu Protokoll gegebene Reden den. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach- wuchses existiert nicht mehr. Der Forderung, das zur Beratung des Antrags: Nichtigkeitserklä- Gesetz durch einen rückwirkenden Akt für nichtig rung des Erbgesundheitsgesetzes (Tagesord- zu erklären, kann der Bundesgesetzgeber nicht ent- nungspunkt 21) sprechen.

(B) Der Deutsche Bundestag hat in mehreren Beschlüssen (D) Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Wir befassen uns bereits unzweideutig zum Ausdruck gebracht, dass er heute in diesem Hohen Hause zum wiederholten Male das Unrecht und das Leid, das den Betroffenen mit dem mit einem der unseligsten Gesetze aus der Zeit des Na- Erbgesundheitsgesetz in der Zeit der nationalsozialisti- tionalsozialismus, nämlich mit dem Gesetz zur Verhü- schen Gewaltherrschaft zugefügt worden sind, anerkennt tung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, dem und dass er dieses Gesetz als mit rechtsstaatlichen so genannten Erbgesundheitsgesetz. Hintergrund ist die Grundsätzen absolut unvereinbar ansieht. Deshalb kann erneute Forderung des Bundes der „Euthanasie“-Ge- es mittlerweile keinerlei Zweifel mehr daran geben, dass schädigten und Zwangssterilisierten, dieses Gesetz „end- es sich bei dem Erbgesundheitsgesetz um nationalsozia- lich und nach über siebzig Jahren aufzuheben und für listisches Unrecht handelt. nichtig zu erklären“. Dieser Appell, der im November vergangenen Jahres auch die Unterstützung des Nationa- Soweit keine förmliche Aufhebung durch Rechtset- len Ethikrates gefunden hat, ist an die Fraktionen und zung der Alliierten oder der Länder erfolgt war, war die Abgeordneten des Deutschen Bundestages herangetra- Frage des formalen Fortbestandes des Gesetzes nach gen worden. Ich gehe davon aus, Sie alle oder zumindest dem Kriege allerdings in der Tat leider lange Zeit unklar, die meisten von Ihnen kennen ihn. weil sie ausschließlich unter Berufung auf die Entste- hungsgeschichte und die Gesetzgebung anderer Staaten Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen macht diskutiert wurde. Die meisten Regelungen des Gesetzes sich dieses Anliegen zu Eigen. In dem hier zu beraten- waren bereits deshalb gegenstandslos, weil die vorheri- den Antrag fordert sie die Bundesregierung auf, „einen gen „Erbgesundheitsgerichte“ nicht wieder errichtet Vorschlag vorzulegen, wie der Gesetzgeber dem Anlie- wurden. gen des Bundes der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. gerecht werden kann.“ So weit, Hinsichtlich der Frage der Fortgeltung hat sich erst im so gut könnte man sagen, wenn die Forderung nach Auf- Laufe der Zeit ein Bewertungswandel vollzogen, der auf hebung und Nichtigerklärung des Erbgesundheitsgeset- neuere Forschungsergebnisse und eine vertiefte Ausei- zes erfüllbar wäre. Das ist sie aber nicht und das wissen nandersetzung mit der tatsächlichen Durchführung die- Sie, meine Damen und Herren vom Bündnis 90/Die Grü- ses Gesetzes zurückzuführen war. Die Bundesregierung nen, auch selbst ganz genau. Entsprechende Forderun- verweist daher zu Recht darauf, dass dieses Gesetz durch gen Ihrerseits sind bereits in mehreren parlamentari- Art. 8 Nr. 1 des Strafrechtsreformgesetzes vom 18. Juni schen Beratungsverfahren zu der Thematik jeweils aus 1974 – BGBI. I S. 1297 – auch förmlich außer Kraft ge- Rechtsgründen abgelehnt worden. Ich werde darauf im setzt wurde, soweit es als Bundesrecht fortgalt, was im Folgenden noch eingehen. Hinblick auf die oben genannten Vorschriften zunächst 5664 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) der Fall war. Die Sterilisationsentscheidungen der dama- Deutschen Bundestag vom Bündnis 90/Die Grünen er- (C) ligen Erbgesundheitsgerichte sind durch das Gesetz zur staunlicherweise nicht mehr weiter verfolgt. Die mögli- Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der che Erklärung, dass Sie die Rechtslage mittlerweile be- Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen griffen haben, scheidet allerdings wohl aus, weil Sie, der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte vom 25. August nun in der Opposition, die Forderung letztlich erneut, 1998 – BGBI. I S. 2501 – aufgehoben wurden. wenngleich etwas indirekt formuliert, wieder aufgreifen, nachdem Sie sieben Jahre lang die Mehrheit hatten, sie Der Bewertungswandel fand auch seinen Niederschlag umzusetzen. in dem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 26. Januar 1988 – Bundestagsdrucksache 11/1714 –. Die Der Eindruck, dass es sich bei Ihrem Antrag um einen Antragsteller verkennen, dass in diesem Beschluss be- reinen Schaufensterantrag handelt, ist vor diesem Hin- reits eindeutig zum Ausdruck gebracht wurde, dass der tergrund unvermeidlich. Das scheint Ihnen aber auch ir- Deutsche Bundestag nicht nur die Durchführung von gendwie selbst bewusst zu sein, weil Sie dieses Mal ja Zwangssterilisierungen in der Zeit des Nationalsozialis- nicht direkt die Nichtigkeitserklärung des Erbgesund- mus, sondern auch ihre gesetzliche Verankerung für na- heitsgesetzes fordern, sondern die Bundesregierung dazu tionalsozialistisches Unrecht hält. Wörtlich heißt es auffordern, einen Vorschlag zu machen, wie der Gesetz- hierzu: geber dieser Forderung nachkommen kann. 1. Der Deutsche Bundestag stellt fest, daß die in Auch in dieser Wendung macht die Forderung zum ei- dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nach- nen keinen Sinn, weil die Bundesregierung ja bereits vor wuchses vom 14. Juli 1933 vorgesehenen und zwei Monaten, wie oben erwähnt, dazu Stellung genom- auf der Grundlage dieses Gesetzes während der men und erläutert hat, weshalb eine Nichtigerklärung Zeit von 1933 bis 1945 durchgeführten Zwangs- des Erbgesundheitsgesetzes durch den Bundesgesetzge- sterilisierungen nationalsozialistisches Unrecht ber nicht möglich ist. Zum anderen offenbart sie ein sind. merkwürdiges parlamentarisches Selbstverständnis und eine gewisse Hilflosigkeit bei den Antragstellern. Der 2. Der Deutsche Bundestag ächtet diese Maß- Gesetzgeber sind wir selbst, auch Sie! Der Deutsche nahmen, die ein Ausdruck der inhumanen natio- Bundestag muss doch auch ohne die Hilfe der Bundes- nalsozialistischen Auffassung vom „lebensun- regierung in der Lage sein, hier zu einer Entscheidung zu werten Leben“ sind. gelangen. In dem Bericht zu der Beschlussempfehlung – Bun- Ihr Antrag ist daher nicht der richtige Weg. Wenn be- destagsdrucksache 11/1714 – wird, worauf auch die züglich der Thematik Erbgesundheitsgesetz noch Hand- Bundesregierung in ihrer oben erwähnten Antwort hin- (B) lungsbedarf gesehen wird, muss der Deutsche Bundestag (D) gewiesen hat, weiterhin ausdrücklich festgestellt, dass diesem auf andere Weise nachkommen. eine Fortgeltung des Erbgesundheitsgesetzes in der Bun- desrepublik Deutschland nach Art. 123 Abs. 1 GG aus- geschlossen ist, weil dieses Gesetz mit dem Grundgesetz Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Wir wissen nicht zu vereinbaren ist. Eine förmliche Nichtigerklä- heute, dass aufgrund des „Gesetzes zur Verhütung rung dieses Gesetzes, wie bereits damals vom Bünd- erbkranken Nachwuchses“ vom 4. Juli 1933 nahezu nis 90/Die Grünen beantragt, hat der Deutsche Bundes- 350 000 bis 360 000 Menschen – möglicherweise noch tag allerdings mangels Gesetzgebungskompetenz des mehr – zwangssterilisiert wurden. Wenn wir über das Bundes abgelehnt. erschütternde Thema der Zwangssterilisationen spre- chen, dann müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Die Bewertung des Erbgesundheitsgesetzes als natio- dieses Gesetz die Vorstufe des so genannten Euthanasie- nalsozialistisches Unrecht ist danach noch in mehreren erlasses Adolf Hitlers vom 1. September 1939 darstellt, weiteren Entscheidungen des Deutschen Bundestages durch den die NS-Machthaber zu einer Politik des vor- bekräftigt worden, zuletzt in den Beratungen zu dem be- sätzlichen Massenmordes an behinderten Menschen und reits erwähnten Gesetz zur Aufhebung nationalsozialisti- all denen übergingen, die nicht ihrem wahnwitzigen scher Unrechtsurteile im Jahre 1998. Anträge vom Rassenkonzept einer „arischen Herrenrasse“ und eines Bündnis 90/Die Grünen, die im Zusammenhang mit die- „reinen Volkskörpers“ entsprachen. Das Wort „rein“ ser Gesetzgebung erneut eine förmliche Nichtigerklä- stand dabei für die Eliminierung all jener, die diesem rung des so genannten Erbgesundheitsgesetzes durch Konzept nicht entsprachen. den Deutschen Bundestag forderten, fanden in den parla- mentarischen Beratungen aus den bereits genannten Die Sterilisierung ist einer der härtesten Eingriffe beim rechtlichen Gründen wiederum nicht die Unterstützung Menschen. Wer durch das Gesetz und die hierzu erlasse- der anderen Fraktionen. nen Verordnungen als „erbkrank“ bezeichnet wurde, wurde einem rücksichtslos durchgeführten Zwangs- Dass das Bündnis 90/Die Grünen mehrfach die For- eingriff unterworfen, bei dem der Tod zumindest billi- derung nach einer Nichtigerklärung des Erbgesundheits- gend in Kauf genommen wurde. Annähernd 5 000 bis gesetzes durch den Bundesgesetzgeber erhoben hat, 6 000 Frauen und ungefähr 600 Männer starben im Rah- könnte dem unbefangenen Beobachter den Eindruck ver- men dieser Zwangssterilisationen. mitteln, dass es sich um ein wirklich ernstes Anliegen dieser Fraktion handelt. In der Regierungszeit der rot- Diese Ungeheuerlichkeiten wurden in den letzten grünen Koalition wurde diese Forderung dann aber im 60 Jahren nur nach anfänglichem Zögern als national- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5665

(A) sozialistisches Unrecht anerkannt und haben Wunden führten Zwangsmaßnahmen als nationalsozialistisches (C) geschlagen, die bis heute nicht verheilt sind. Es ist daher Unrecht geächtet und die entsprechenden Beschlüsse der richtig, dass der Deutsche Bundestag sich erneut mit die- so genannten Erbgesundheitsgerichte aufgehoben. sem Thema befasst. Ich plädiere dafür, dass wir in den nun folgenden Ich will aufgrund der jüngsten Landtagswahlergeb- Beratungen zu einer Übereinkunft über die Fraktions- nisse an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass wir nie grenzen hinweg kommen. Die Koalitionsfraktionen er- wieder Bedingungen entstehen lassen dürfen, unter de- arbeiten zurzeit einen gemeinsamen Entschließungs- nen sich ein System entwickeln kann, das solche schwe- antrag mit dem Ziel der Ächtung des so genannten ren Verbrechen von Staats wegen ermöglicht. Erbgesundheitsgesetzes selbst, soweit es die Grundlage Es gibt keine Entschädigung, die das Unrecht und das für die Zwangsmaßnahmen darstellte. Für eine möglichst Leid ausgleichen könnte, das ein mörderischer Staat in breite Unterstützung und Zusammenarbeit möchte ich der Verfolgung seiner verbrecherischen Motive über die schon jetzt werben. Ich lade Sie alle, insbesondere Sie, betroffenen Menschen und deren Angehörige gebracht sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grü- hat. nen, dazu ein, dieses Vorhaben zu unterstützen. Der Antrag, den wir heute beraten, hat meines Erach- tens ein erstrebens- und wünschenswertes Ziel. Es ist je- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): doch in dieser Form, der Nichtigerklärung des Gesetzes, Mit Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, nicht umsetzbar. Lassen Sie mich begründen, warum ich einen Vorschlag vorzulegen, wie das Erbgesundheitsge- zu dieser Einschätzung komme: setz für nichtig erklärt werden kann. Erstens. Ich halte das Ansinnen, von der Bundesregie- Damit verlangen Sie von der Bundesregierung ganz rung einen Vorschlag für eine Nichtigerklärung des Erb- offensichtlich etwas Unmögliches. gesundheitsgesetzes zu verlangen, für nicht sachgerecht. Der Bundestag kann das so genannte Erbgesundheits- Auch wir haben uns mit der Frage einer Nichtigerklä- gesetz nicht für nichtig erklären. Gemäß Art. 123 Abs. 1 rung auseinander gesetzt. Ebenso wie die Bundesregie- des Grundgesetzes gilt vorkonstitutionelles Recht nur rung in ihrer Antwort vom 10. August 2006 auf eine fort, „soweit es dem Grundgesetze nicht widerspricht.“ Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke sind wir jedoch zu Hierdurch sind die Teile des Erbgesundheitsgesetzes, dem Ergebnis gekommen, dass das Gesetz zur Verhütung welche die Zwangsmaßnahmen legalisierten, bereits mit erbkranken Nachwuchses nicht mehr existiert. Soweit die In-Kraft-Treten des Grundgesetzes außer Kraft getreten. Gültigkeit des Gesetzes nicht bereits mit dem In-Kraft- Treten des Grundgesetzes endete, ist es durch Art. 8 Nr. 1 (B) Ich betone ausdrücklich, dass „außer Kraft getreten“ be- (D) deutet, dass aufgrund des Art. 123 Grundgesetz dieses des Fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom Gesetz seit Inkrafttreten des Grundgesetzes in seinen 18. Juni 1974 außer Kraft gesetzt worden. Darüber hinaus verfassungswidrigen Teilen nicht mehr existiert. Es kann sind die in der NS-Zeit erlassenen Sterilisationsentschei- daher – entgegen den Befürchtungen mancher Opferver- dungen 1998 durch Gesetzbeschluss aufgehoben worden. bände – unter dem Grundgesetz auch niemals wieder in Kraft gesetzt werden. Ich halte es daher für bedenklich, wenn Sie in der Be- gründung zu Ihrem Antrag schreiben, der Deutsche Bun- Auch die offensichtlich lediglich für freiwillige Ein- destag dürfe nicht den geringsten Zweifel offen lassen, griffe fortgeltende Vorschrift des § 14 dieses Gesetzes dass das Erbgesundheitsgesetz von Anfang an als nichtig wurde durch das Fünfte Gesetz zur Reform des Straf- angesehen werden muss. Auf diese Weise erwecken Sie rechts vom 18. Juni 1974 aufgehoben. den Eindruck, es gäbe innerhalb des Deutschen Bundes- tages einen Dissens in der Beurteilung dieses Gesetzes. Das Erbgesundheitsgesetz ist daher in sämtlichen Be- Davon kann – zum Glück – schon lange keine Rede stimmungen inexistent. Auch in den Ländern gelten mehr sein. keine Regelungen zum „Erbgesundheitsgesetz“ fort. Eine Nichtigerklärung eines inexistenten Gesetzes ist Ich darf in diesem Zusammenhang an die Entschlie- rechtslogisch jedoch ausgeschlossen. ßungen aus den Jahren 1988 und 1994 erinnern, in denen Zweitens. Die Feststellung der Nichtigkeit eines for- der Deutsche Bundestag unmissverständlich feststellte, mellen Gesetzes ist grundsätzlich dem Bundesverfas- dass die auf der Grundlage des Gesetzes durchgeführten sungsgericht vorbehalten. Das Grundgesetz hat mit Zwangssterilisationen nationalsozialistisches Unrecht Art. 123 die Lösung eines Außer-Kraft-Tretens ab 1949 waren, und in denen er diese Maßnahmen als Ausdruck – und keine rückwirkende Nichtigkeit – gewählt. Hieran der inhumanen nationalsozialistischen Auffassung vom ist der Gesetzgeber gebunden. „lebensunwerten Leben“ ächtete. Ich denke, wir sind uns jedoch alle darin einig, dass die Zweifel, die zu beseitigen wären, sehe ich daher nicht. Opfer ein Recht darauf haben, dass der Bundestag erneut Ebenso wenig sehe ich, wie gesagt, eine Möglichkeit, eine klare Position zu diesem begangenen Unrecht be- das Erbgesundheitsgesetz für nichtig zu erklären. Sollte zieht. In Ergänzung seiner früheren Maßnahmen und Ent- ich mich irren, bin ich gerne bereit, mich eines Besseren schließungen zu diesem Thema sollte nun die Ächtung belehren zu lassen. Für diesen Fall aber schlage ich ein des Gesetzes selbst beschlossen werden. Dies ist bisher gemeinsames Vorgehen aller Fraktionen im Deutschen nicht geschehen. Bislang wurden lediglich die durchge- Bundestag vor. 5666 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) Für parteipolitische Profilierungsversuche ist dieses Deswegen begrüßt die Fraktion Die Linke selbstver- (C) Thema denkbar schlecht geeignet. Das gilt, liebe Kolle- ständlich das Anliegen des vorliegenden Antrags, den ginnen und Kollegen von den Grünen, auch für den Hin- Unrechtsgehalt dieses Gesetzes durch eine Nichtigkeits- weis auf Ihren Einsatz für die Opfer von Zwangssterili- erklärung noch einmal deutlich zu machen. Allerdings sierungen. Ich will Ihnen das gar nicht absprechen, wird das im Bundestag über eine politische Erklärung genauso wenig wie allen anderen Fraktionen. Ich darf nicht hinausgehen können, weil nur das Bundesverfas- aber daran erinnern, dass Sie Ihr Versprechen aus der sungsgericht die Unwirksamkeit bzw. Nichtigkeit eines Koalitionsvereinbarung von 1998, eine Bundesstiftung Gesetzes verbindlich feststellen kann. „Entschädigung für NS-Unrecht“ auf den Weg zu brin- gen, nicht eingelöst haben. Offenkundig ist es also doch Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): leichter, aus der Oppositionsrolle heraus Anträge zu stel- Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ len, als in einer Regierung gegebene Versprechen einzu- (Erbgesundheitsgesetz) war das erste Rassegesetz des halten. NS-Staates. Es wurde bereits am 14. Juli 1933 verab- schiedet und trat im Januar 1934 in Kraft. Die Idee dieses Ulla Jelpke (DIE LINKE): Das Erbgesundheits- Gesetzes war durch und durch rassistisch: Die Nazikom- gesetz, das der vorliegende Antrag für nichtig erklären mentatoren schrieben über das Gesetz: „Ziel der dem will, war ein Ausdruck des nationalsozialistischen deutschen Volk artgemäßen Erb- und Rassenpflege ist: Wahns, den so genannten Volkskörper zu „reinigen“. eine ausreichende Zahl Erbgesunder, für das deutsche Volk rassisch wertvoller, kinderreicher Familien zu allen Dieses schändliche Gesetz war der Auftakt zur Euthana- Zeiten. Der Zuchtgedanke ist Kerngehalt des Rassenge- sie; es war der erste Schritt dazu, Zehntausende Men- dankens. Die künftigen Rechtswahrer müssen sich über schen zu ermorden und Hunderttausende zu sterilisieren. das Zuchtziel des deutschen Volkes klar sein.“ Dieses Leider muss ich sagen: Das Erbgesundheitsgesetz ist Gesetz brachte unermessliches Leid. 350 000 Menschen keine abgeschlossene Geschichte. Die Ideologie, die ihm wurden auf seiner Grundlage zwangsweise sterilisiert. zugrunde lag, existiert fort. Wir erleben es heute noch, Das Erbgesundheitsgesetz bildete den Auftakt für die dass Menschen andere Menschen für nicht lebenswert Verfolgung behinderter Menschen, die im Massenmord erklären oder ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges der so genannten Euthanasie gipfelte. Leben bestreiten. Das Leid der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“- Geschädigten wurde in Deutschland lange Zeit nicht an- Es ist noch gar nicht so lange her, da hat ein Abgeordne- gemessen gewürdigt. In den ersten Jahrzehnten nach ter dieses Parlaments öffentlich gefordert, alte Menschen dem Ende des Nationalsozialismus waren die Überleben- (B) (D) sollten keine künstlichen Hüftgelenke mehr erhalten. Wer den weiter massiver Diskriminierung ausgesetzt. Ihre Ver- nichts mehr produziert, so die menschenverachtende folgung wurde nicht als typisch nationalsozialistisches Haltung dieses Abgeordneten, der soll auch keine Leis- Unrecht im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes tungen der gesetzlichen Krankenversicherung mehr er- anerkannt. Erst in den 80er-Jahren wurden Härteregelun- halten. Wer so argumentiert, der wird morgen auch bei gen eingeführt. In den Jahren 2004 und 2005 ist es ge- Herzschrittmachern und anderen lebensnotwendigen lungen, die Härteleistungen für Zwangssterilisierte und Maßnahmen sparen wollen. Wer so argumentiert, maßt „Euthanasie“-Geschädigte erheblich auszubauen, bei- sich an, den Wert von Menschen zu prüfen und über ihre spielsweise die Leistungen für Personen, die Opfer von Lebenswürdigkeit und Lebensqualität zu entscheiden. Es Zwangssterilisierungen wurden. Diese Leistungen kön- wäre zu begrüßen, wenn wir solche Haltungen durch die nen freilich kein wirklicher Ausgleich für das erlittene heutige Parlamentsdebatte zurückdrängen könnten. Unrecht sein. Sie sind eine Geste der Anerkennung und Unterstützung. Es hat lange genug gedauert, bis sich in diesem Hause die Ansicht durchgesetzt hat, dass das Erbgesundheits- Es hat sehr lange gedauert, bis auch die juristische gesetz nationalsozialistisches Unrecht war. Einwände der Rehabilitierung der Opfer des Erbgesundheitsgesetzes Art, die Zwangssterilisierungen hätten dem damaligen Schritt für Schritt vorankam. Die formelle Gültigkeit des Diskussionsstand der Wissenschaft und dem Zeitgeist Erbgesundheitsgesetzes wurde – soweit es Bundesrecht entsprochen, in anderen Ländern seien auch Menschen betraf – erst im Jahr 1975 mit dem Fünften Gesetz zur zwangssterilisiert worden, haben wir zum Glück hinter Reform des Strafrechts aufgehoben. 1988 hat der Deut- uns gelassen. Heute bestreitet niemand, dass kaum ein sche Bundestag festgestellt, dass die im Erbgesundheits- Gesetz so weitgehend in Zielsetzung und Handhabung gesetz vorgesehenen und auf der Grundlage dieses war wie das Erbgesundheitsgesetz. Man kann dieses Ge- Gesetzes während der Zeit von 1933 bis 1945 durchge- setz aus dem Zusammenhang der ungeheuren Verbre- führten Zwangssterilisierungen nationalsozialistisches chen, die das faschistische Regime begangen hat, nicht Unrecht sind. Der Bundestag hat diese Maßnahmen herauslösen. zudem in derselben Entschließung geächtet. Mit dem „Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechts- Diese Ansicht hat sich auch der Bundestag in seinen urteile in der Strafrechtspflege und von Sterilisationsent- Entschließungen der 11. und 12. Wahlperiode zu eigen scheidungen der ehemaligen Erbgesundheitsgerichte“ gemacht. Daraus wurde der richtige Schluss gezogen, von 1998 wurden die Beschlüsse, die von Gerichten auf- dass auch diese Opfer der nationalsozialistischen Verbre- grund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nach- chen Entschädigungen erhalten müssen. wuchses“ erlassen worden waren, sämtlich pauschal auf- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5667

(A) gehoben. Das waren wichtige Schritte, aber wir sind Die Forderung der FDP, WTO-Generaldirektor Lamy (C) noch nicht am Ziel angelangt. Die Betroffenen sehen das als Streitschlichter einzusetzen und ein Kompromisspa- Unrecht des Erbgesundheitsgesetzes bis heute nicht als pier aus den unterschiedlichen Forderungskatalogen zu ausreichend anerkannt an. Der Bund der „Euthanasie“- entwerfen, halte ich gegenwärtig aus zwei Gründen für Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. ist mit ei- weniger zielführend. nem Appell an die Fraktionen und Abgeordneten des Deutschen Bundestages herangetreten, „das durch und Erstens. Es ist immer noch möglich, zu einer kon- durch rassistische nationalsozialistische Gesetz zur Ver- struktiven Lösung zu kommen und deshalb immer noch hütung erbkranken Nachwuchses endlich und nach über an der Zeit, Hintergrundgespräche zu führen und Chan- siebzig Jahren aufzuheben und für nichtig zu erklären“. cen auszuloten. Dieser Appell hat breite gesellschaftliche Unterstützung gefunden. Dafür freue ich mich sehr, denn unsere Zweitens. Die Zeiten von GATT-Direktor Arthur Gesellschaft steht in der Pflicht, die Opfer von Zwangs- Dunkel waren andere: zwar lagen die Positionen der Ver- sterilisierung und Massenmord vollständig zu rehabili- handlungspartner auch damals weit auseinander; inzwi- tieren, die Überlebenden nach Kräften zu unterstützen schen hat sich aber nicht nur die Zahl der WTO-Mit- und die Erinnerung an das Unrecht wach zu halten. gliedstaaten erhöht, sondern auch die Bedeutung und der Daher darf nicht der geringste Zweifel bleiben, dass das Einfluss der Entwicklungs- und Schwellenländer. Inso- verbrecherische „Erbgesundheitsgesetz“ als nichtig an- fern ist die Konsensfindung erschwert. Solange nicht die gesehen werden muss. Schlüsselländer Bewegung zeigen, wird ein Kompro- misspapier wenig Zustimmung finden. Mit unserem Antrag wollen wir einen Anstoß zur ge- meinsamen Diskussion geben. Wir würden uns sehr WTO-Chef Pascal Lamy ist auch so aktiv und be- freuen, wenn wir im Bundestag gemeinsam mit allen müht, einen erfolgreichen Abschluss zu erzielen. Lamy Fraktionen Wege finden, dem Anliegen des Bundes der führt viele Hintergrundgespräche. Seine Teilnahme an „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. den Beratungen des Lenkungsausschusses des IWF in gerecht zu werden. Wir sind es den Opfern schuldig. Singapur, der die WTO-Mitgliedstaaten aufgefordert hat, bis zum Ende des Jahres zu einem erfolgreichen Ab- schluss der Verhandlungen zu kommen, zeigen sein Anlage 12 Engagement. Lamy ist ein großartiger Taktiker und hat schon als EU-Handelskommissar in schwierigen Situa- Zu Protokoll gegebene Reden tionen großes Verhandlungsgeschick bewiesen. zur Beratung des Antrags: Doha-Runde wieder Priorität aller WTO-Mitgliedstaaten muss es sein, die (B) (D) beleben – WTO-Generaldirektor als Schlichter Zeit zu nutzen und über Bewegungsmöglichkeiten und einsetzen (Tagesordnungspunkt 22) Kompromisse nachzudenken, damit die Runde wieder in Gang kommt. Dies ist umso wichtiger, als ein endgülti- Erich G. Fritz (CDU/CSU): Es ist sehr bedauerlich, ger Abbruch der Doharunde neben wirtschaftlichen mit- dass die Verhandlungen im Rahmen der Doha-Entwick- telfristig auch politische Folgen hätte: Das Regelsystem lungsrunde der WTO bis auf Weiteres unterbrochen sind. der WTO würde nachhaltig in seiner Substanz ge- Ich möchte aber gleich zu Beginn betonen, dass die Sus- schwächt, das erfolgreiche Streitschlichtungssystem zum pendierung der Verhandlungen nicht gleichbedeutend Schwanken gebracht. Nicht zuletzt deshalb will die mit dem Ende der Doharunde ist. CDU während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 dazu beitragen, den WTO-Streit- In der gegenwärtigen Denkpause haben alle Beteilig- schlichtungsmechanismus weiter zu stärken und den Ab- ten die Möglichkeit, ihre Verhandlungspositionen zu schluss der Dohawelthandelsrunde zu forcieren. überprüfen. Die Denkpause darf aber nicht dazu führen, dass bereits vereinbarte Fortschritte und Verhandlungs- Bilaterale Abkommen, wie sie die EU laut ihres ergebnisse verloren gehen. Beides gilt es dringend zu jüngsten Papiers „Global Europe: Competing in the vermeiden. World“ verstärkt mit anderen Regionen abschließen möchte, sind nur die zweit- bzw. drittbeste Lösung. Sie Den im vorliegenden Antrag erhobenen Vorwurf der machen nur Sinn, wenn sie über den aktuellen Stand der FDP-Fraktion, Bundeswirtschaftsminister Glos sei in WTO hinausgehen und zum Beispiel zur Verabschie- den Dohaverhandlungen wenig aktiv, teilt die CDU/ dung von aus den multilateralen Verhandlungen heraus- CSU-Bundestagsfraktion nicht. Erst Mitte September genommenen Investitionsregeln führen. Ansonsten sind hat Wirtschaftsminister Glos Peter Mandelson in Berlin sie mühsam zu verhandeln und bergen die Gefahr, von aufgefordert, die Zeit zu nutzen, damit die Runde wieder wichtigen Märkten ausgeschlossen zu bleiben –, weil an- in Gang kommt. Im Übrigen berät sich die Bundesregie- dere schneller waren und früher bessere Verträge ge- rung gegenwärtig mit den EU-Partnern über Möglichkei- schlossen haben. Deshalb gibt es gegenwärtig keine Al- ten, die unterbrochenen Verhandlungen schnellstmöglich ternative zur Dohawelthandelsrunde. wieder aufzunehmen und bereits in Hongkong vor allem für die Entwicklungsländer erzielte Ergebnisse wie eine Es gibt vieles, was wir nur gemeinsam durchsetzen stärker handelsbezogene Entwicklungshilfe sowie den können. Dabei denke ich zum Beispiel an den Schutz zoll- und quotenfreien Marktzugang für die am wenigs- geistigen Eigentums, ein Problem, das Europa vor allem ten entwickelten Entwicklungsländer zu sichern. mit den Chinesen hat und das Deutschland erfreulicher- 5668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) weise zum Thema der am 1. Januar 2007 beginnenden konsum. Daher ist auch die Entwicklung des Welthan- (C) EU- und G-8-Präsidentschaft machen wird. dels für Deutschland und seine Arbeitsplätze von ent- scheidender Bedeutung. Wir müssen alles in unserer Wie aber geht es in den nächsten Monaten weiter? Da Macht stehende tun, um den Welthandel zu fördern, der Fehlschlag überwiegend der innenpolitischen Situa- möglichst viele Länder dieser Erde in die WTO aufzu- tion in den USA und damit einhergehender mangelnder nehmen und diese an die Standards der Welthandelsorga- Flexibilität – die USA lehnten trotz wiederholter Andeu- nisation heranzuführen. tung weiterer Flexibilität beim Agrarmarktzugang durch die EU eine stärkere Kürzung ihrer internen Agrarstüt- In den vergangenen 30 Jahren hat der Welthandel zung ab – zugerechnet wird, ist es sinnvoll, die am spürbar zugenommen. Der Welthandel wuchs jährlich im 7. November stattfindenden Midterm-Kongresswahlen Durchschnitt rund eineinhalbmal so stark wie das welt- abzuwarten und auf eine Änderung des politischen Kli- weite Bruttoinlandsprodukt. Diese rasante Entwicklung mas in den USA zu hoffen. Äußerungen wie die des wäre ohne die seit Jahrzehnten verfolgte Politik der amerikanischen Landwirtschaftsministers Mike Johanns Marktöffnung nicht denkbar. Profitiert haben hiervon zeigen noch vorhandenen Verhandlungsspielraum. vor allem die Industrieländer, aber auch eine Gruppe von Johanns hatte im Vorfeld der Konferenz der Cairns- damaligen Entwicklungsländern. Sie haben durch die In- Gruppe Mitte September gesagt: „Wir sind sogar bereit, tegration in den Weltmarkt Wissen gesammelt, Techno- mehr anzubieten, als wir bis jetzt auf den Tisch gelegt logien importiert, die Produktivität gesteigert und den haben – dann, wenn wir deutlich mehr Marktzugang an- Wohlstand gehoben, zum Teil mit erheblichem Erfolg, geboten bekommen“. wie uns insbesondere die asiatischen und südamerikani- schen Schwellenländer wie China, Indien, Chile, Ich bin davon überzeugt, dass die Bundesregierung Mexiko, Südkorea und Thailand, in denen immerhin und die EU-Kommission auf die Amerikaner einwirken über 2,5 Milliarden Menschenleben, zeigen. Gerade vor und alles tun werden, die WTO und die Handelsrunde dem Hintergrund dieser aufstrebenden Länder, ist es für wieder zu beleben, bevor im Sommer 2007 das Verhand- Deutschland von besonderem Interesse, das WTO-Re- lungsmandat des US-Präsidenten ausläuft. Gelingt die gime auf eine breitere Basis zu stellen, um später nicht Wiederaufnahme der Verhandlungen allerdings nicht bis ins Hintertreffen zu geraten. Ende des Jahres, wird es in 2007 schwierig, an das be- reits Erreichte nahtlos anzuknüpfen. Die Alternative zur WTO wäre ein Sammelsurium bi- Das Zeitfenster ist also knapp und gibt Anlass zu be- lateraler Abkommen, bei dem jeder in dieser Welt täte, grenztem Optimismus. Die Hoffnung auf einen positiven was er wollte. Es gäbe keine Auflagen, Bürokratie abzu- Abschluss darf aber nicht aufgegeben werden. Schließ- bauen, Good Governance zu praktizieren und gegen (B) lich sollte allen politisch Verantwortlichen das langfris- Korruption und für Transparenz einzutreten. Gleiches (D) tige Interesse an einem stabilen, für Wachstum und Be- gilt für die Möglichkeiten, Sozial- und Umweltstandards schäftigung sorgenden Handelssystem wichtiger sein als in den aufstrebenden Schwellenländern zu implementie- kurzfristige, wahltaktisch motivierte Manöver. ren. Mit dem Verhandlungsstopp der Doharunde ist der multilaterale Ansatz in Gefahr. Mit einem möglichen Sollte am Ende dennoch alle Hoffnung umsonst ge- Scheitern der Welthandelsrunde würden vermehrt bilate- wesen sein, bleibt der Abschluss von plurilateralen Ab- rale Verträge geschlossen. kommen. Plurilaterale Abkommen würden auf längere Sicht die Chance bieten, branchenspezifische Liberali- In Asien besteht ein erhebliches Interesse an bilatera- sierungen und Themenbereiche, die im WTO-Mitglie- len Handelsabkommen, weil Japan und die USA bereits derkreis nicht konsensfähig sind, voranzubringen. Das ein solches abgeschlossen haben. Die MERCOSUR- gilt nicht nur für den umstrittenen Agrarbereich, sondern Staaten sind ebenfalls an bilateralen Verhandlungen inte- zum Beispiel auch für Regeln für ausländische Direkt- ressiert. Insgesamt besteht die Gefahr, dass ein handels- investitionen. So sind etwa die Rechte deutscher Inves- politischer Flickenteppich entsteht. Deutschland hat bis- toren im Ausland, zum Beispiel der Schutz vor Enteig- lang auf multilaterale Verhandlungen gesetzt, da nung, wenn überhaupt, weitgehend durch bilaterale insbesondere die am wenigsten entwickelten Länder bei Regelungen verankert. Durch plurilaterale Investitions- bilateralen Verhandlungen benachteiligt sind. Sie haben regelungen könnten die Transparenz des Investoren- kaum eine Möglichkeit, durch strategische Allianzen schutzes erhöht und die Kohärenz zwischen den zahlrei- ihre Verhandlungsposition ausreichend zu stärken. Um chen bilateralen Abkommen verbessert werden. dies zu vermeiden gilt es nun, die Doharunde mit aller Kraft voranzubringen. Ditmar Staffelt (SPD): Für Deutschland als Export- Sollte die Doharunde tatsächlich scheitern – was ich weltmeister ist ein erfolgreicher Abschluss der nicht hoffen möchte –, sind auch die Verhandlungsergeb- Doharunde von vitalem Interesse. Kaum eine andere nisse gefährdet, die bereits in Hongkong vereinbart wur- Volkswirtschaft ist in so hohem Maße exportabhängig den. Während der Welthandelsrunde in Hongkong wur- wie unsere. Jeder fünfte Arbeitsplatz und jeder dritte In- den substanzielle Verbesserungen für die Industrie- und dustriearbeitsplatz in Deutschland hängt vom Außenhan- Entwicklungsländer erreicht. Gerade für die Entwick- del ab. Der Außenhandel ist die Triebfeder für das wirt- lungsländer hat Deutschland eine wichtige Rolle ge- schaftliche Wachstum in Deutschland. Allein im spielt. Wie auch in den letzten Jahren hat unsere Bundes- vergangenen Jahr stieg der Anteil deutscher Exporte um regierung darauf Wert gelegt, auch die Interessen der 7,5 Prozent und damit deutlich schneller als der Binnen- ärmsten Länder zu vertreten. So haben die Europäer in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5669

(A) Hongkong bei den umstrittenen Agrarfragen weit rei- delsabkommen hingegen gefährden den freien Welthan- (C) chende Zugeständnisse gemacht und sich verpflichtet, del und die Entstehung von Wohlstand weltweit. die Exportsubventionen im Agrarbereich bis 2013 voll- ständig abzuschaffen. Sollte es nicht möglich sein, die Donarunde zum Ab- schluss zu bringen, muss zumindest – gerade im Sinne Darüber hinaus wurde die von Deutschland angesto- der Entwicklungsländer – das bisher Erreichte verab- ßene „Everything but arms“-Initiative auf alle Industrie- schiedet werden. Bilaterale Abkommen sollten erst die staaten ausgeweitet. Das bedeutet, den am wenigsten letzte aller Möglichkeiten sein und müssten im Fall der entwickelten Ländern, wird der zoll- und quotenfreie Fälle, so gestaltet sein, dass sie WTO-konform sind und Zugang zu den Märkten der Industrieländer gewährt. multilateral erweitert werden könnten. Doch bei aller Und nicht zuletzt wurde eine Einigung bei TRIPS er- Verantwortung für die Staaten der Dritten Weit dürfen zielt, nach der Entwicklungsländern der Zugang zu Prä- wir nicht vergessen, dass bei allem, was mit WTO und paraten gegen Massenepidemien wie Aids und Malaria Export zu tun hat, auch unsere Arbeitsplätze und Interes- erleichtert wird. Auf der anderen Seite profitiert sen betroffen sind. Dafür müssen wir in einer geeigneten Deutschland von den Beschlüssen, die in Hongkong ge- Weise offensiv eintreten. troffen wurden. Besonders wichtig ist, dass in einer Ministererklärung festgelegt wurde, den Zollabbau für Gudrun Kopp (FDP): Die Doharunde der Welt- Industriegüter nach einer Schweizer Formel durchzufüh- handelsorganisation WTO ist in sehr schwieriges Fahr- ren. Das bedeutet, höhere Zölle werden stärker gesenkt wasser geraten. Nicht nur sind die Verhandlungen bis auf als niedrigere. weiteres abgebrochen worden. Schlimmer noch, aktuell kann man sich des Eindrucks auch nicht erwehren, dass An dieser Stelle muss ich noch einmal ausdrücklich das ganze Thema von vielen wichtigen Akteuren bereits betonen: Ich wünsche mir, dass sich nun unsere amerika- aufgegeben wurde. Dieser Eindruck drängte sich nicht nischen Freunde in der Pflicht sehen. Es geht nicht, dass zuletzt bei den jüngsten Äußerungen von Wirtschaftsmi- eines der wirtschaftlich stärksten Länder gegenüber Drit- nister Glos auf, der offen einer weiteren Bilateralisierung ten stets hohe Standards fordert und selbst minimalis- des Welthandels das Wort redet. Auch die Bundeskanz- tisch nur das tut, was seinem eigenem Interesse dient. lerin fantasiert lieber öffentlich über transatlantische Hier brauchen wir Bewegung von den Vereinigten Staa- Freihandelszonen, als ihren Einfluss für eine Wiederauf- ten von Amerika. nahme der Dohagespräche geltend zu machen. Ein gutes Beispiel ist der völlige Mangel an Bereit- Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Selbstverständ- schaft, sich in Fragen der internen Agrarbeihilfen auch lich ist es richtig, sich für den Fall eines endgültigen (B) nur einen Zentimeter zu bewegen – sie 2002 sogar noch Scheiterns zu positionieren und dann entsprechende bila- (D) aufstockten –, während die EU bereit ist, die eigenen Ex- terale Vereinbarungen zu treffen. Es ist aber das falsche portsubventionen abzubauen, um die Doharunde nicht Signal, dies jetzt zu tun, nur weil viele Beobachter nicht zu gefährden. mit weiteren Fortschritten vor den amerikanischen Kon- gresswahlen rechnen. Vielmehr ist es grob fahrlässig, Gleiches gilt für den Klimaschutz. Wie soll ich es ei- diese Zeit einfach verstreichen zu lassen. Die FDP unter- nem kleinem Entwicklungsland vermitteln, etwas für breitet deshalb heute den Vorschlag, den Generaldirektor Klimaschutz und Umwelt zu tun, während die Amerika- der WTO, Pascal Lamy, offiziell als Schlichter zu beauf- ner genau das Gegenteil von dem tun, was in allen ande- tragen, um die Doharunde doch noch zum Abschluss zu ren Industrienationen dieser Welt getan wird. Ähnliches bringen. gilt für die großen Schwellenländer, die einerseits stark vom Welthandel profitieren, aber gleichzeitig ihre Indus- Gerade Deutschland als größte Exportnation der Welt trie- und Dienstleistungsmärkte unverhältnismäßig stark profitiert von offenen Märkten. Der Export leistet seit schützen oder intern stützen. Hier gilt es Industriezölle Jahren einen erheblichen Wachstumsbeitrag und gleicht zu senken, den Dienstleistungssektor zu öffnen und das Schwächen in der Binnenkonjunktur zum Teil aus. Al- geistige Eigentum besser zu schützen. lein im Jahre 2005 hat die Bundesrepublik Waren und Dienstleistungen im Wert von rund 786 Milliarden Euro Aber auch die Europäer, insbesondere die Regierun- exportiert. Jeder dritte Arbeitsplatz in Deutschland hängt gen, die landwirtschaftliche Interessen vertreten – wie direkt oder indirekt von den Erfolgen der Exportwirt- Frankreich, Spanien und Irland – müssen sich den be- schaft ab. Umgekehrt sorgen offene Importmärkte für rechtigten Interessen der Schwellen- und Entwicklungs- Wohlstandsgewinne im Inland, weil Kostenvorteile ge- länder stärker öffnen und den Import von landwirtschaft- nutzt werden können: Unternehmen können Rohstoffe lichen Importen verbreitern helfen. und Vorleistungsprodukte günstig einführen. Die privaten Haushalte profitieren von niedrigen Preisen und einer Die Bundesregierung muss mit aller Kraft die Do- vielfältigen Güterauswahl. Die Weltbank beziffert die glo- harunde wieder beleben und zu einem abschließenden balen Einkommenseffekte einer vollständigen Liberalisie- Abkommen gelangen. Eine gute Gelegenheit hierfür bie- rung unter der Doharunde bis 2015 auf 461,2 Milliarden tet sich während der EU-Ratspräsidentschaft und in der US-Dollar. Zeit des deutschen G-8-Vorsitzes im kommenden Jahr. Bei aller öffentlichen Kritik an der WTO ermöglicht ein Vor diesem Hintergrund wäre es unverantwortlich, multilaterales Handelsregime allen Seiten die größten nicht alles zu unternehmen, um ein Scheitern des multi- Wohlfahrtsgewinne. Regionale und bilaterale Freihan- lateralen Ansatzes in den internationalen Welthandels- 5670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006

(A) beziehungen zu verhindern. Angesichts der festgefahre- reine Liberalisierung mit gleichen Konditionen für alle (C) nen Situation aber erscheint ein Fortsetzen der Akteure lässt unterschiedliche Entwicklungs- und Pro- Arbeitsgruppengespräche zum gegenwärtigen Zeitpunkt duktivitätsniveaus völlig außer Acht. Die industrielle als inopportun. Vielmehr sollte die internationale Ge- Basis für die gleichberechtigte Teilhabe am Welthandel meinschaft die jetzt entstandene Pause wirken lassen, fehlt vielen Ländern, sodass der weltweite Wettbewerb um den einen oder anderen Verhandlungspartner reali- und Handel unter ungleichen Partnern stattfindet. Nega- sieren zu lassen, was auch er zu verlieren hat, aber tive Effekte bis hin zur Deindustrialisierung der Ent- gleichzeitig an einem Konzept arbeiten, das die bisheri- wicklungsländer können die Folge sein. Oder der Handel gen Fortschritte aufnimmt und sie um neue Impulse be- findet gar nicht statt, da den Ländern sowohl die Pro- reichert. dukte für den Export als auch die Kaufkraft für den Im- port fehlt. Globalisierung bedeutet eben nicht, dass das Dies kann nach Lage der Dinge nur ein „Honest Bro- Kapital in den letzten Winkel der Erde fließt, sondern ker“ tun, der nicht nur die Verhandlungen intensiv be- dass es dahin geht, wo die höchsten Profitraten erzielt gleitet hat und somit auch die einzelnen Positionen sehr werden können, einschließlich der Vernichtung von we- genau kennt, sondern auch das notwendige Maß an Un- niger profitablem Kapital. abhängigkeit verkörpert. Schon einmal – während der Uruguayrunde – waren die Verhandlungen unterbrochen Auch bei der Frage Investitionsschutz, die in der WTO- worden und nur durch den Einsatz eines Schlichters wie- Runde nach dem Scheitern von Cancun in den Hinter- der in die Erfolgsspur zurückgeführt worden. grund getreten ist, die aber in der neuen EU-Strategie „Global Europe“ mit einer neuen Welle bilateraler Frei- Der Durchbruch bei der Uruguayrunde wird heute handels- und Investitionsschutzabkommen eine neue maßgeblich dem so genannten Dunkel-Draft zugeschrie- Rolle spielt, stehen wir vor ähnlichen Problemen. Seit ben. Damals ergriff der GATT-Direktor Arthur Dunkel den 90er-Jahren haben viele Entwicklungsländer ihre die Initiative und stellte ein Papier aus den unterschied- Märkte für ausländische Direktinvestitionen geöffnet lichen Forderungskatalogen der Mitgliedstaaten zusam- und deren Anforderungen angepasst. Dies führte dazu, men, das trotz anfänglicher massiver Widerstände und dass eine große Anzahl der Exportaktivitäten von trans- Proteste der Mitgliedstaaten schließlich als Verhand- nationalen Unternehmen kontrolliert werden, die den lungsgrundlage diente. In Anbetracht der festgefahrenen Nutzen steigender Exportgewinne für sich vereinnah- Verhandlungen und der bald auslaufenden Handelsvoll- men. Das UNDP stellt fest, das höhere Exportpreise macht des US-Präsidenten könnte auch diesmal ein sol- nicht in höhere Löhne in den Entwicklungsländern ches von der WTO erstelltes Papier neuen Schwung in fließen, sondern in einen größeren Gewinnanteil der die Verhandlungen bringen. transnationalen Unternehmen. Umgekehrt würden sin- (B) Die FDP fordert deshalb die Bundesregierung auf, kende Exportpreise nicht in eine Senkung der Gewinn- (D) sich auf internationaler und europäischer Ebene für ein margen, sondern in niedrige Löhne umgesetzt werden, Schlichtungsmandat des WTO-Generalsekretärs einzu- siehe „Trade and Development Report 2005“. Für eine setzen, der in diesem Rahmen einen Kompromiss- Förderung des Wohlstandes in der Welt ist der reine vorschlag in kurzer Frist erarbeiten soll, der dann als Freihandel kein Segen, sondern ein Fluch. Verhandlungsgrundlage für eine Wiederaufnahme der Unabhängig vom Fortgang der WTO-Runde fordern Doharunde dienen kann. wir die Industrieländer auf, ihre Zusage von Hongkong umzusetzen und die Agrarexportsubventionen abzu- Gerade aus deutscher Perspektive wäre alles andere bauen. Derzeit werden mittels Exportsubventionen reicher als ein erfolgreicher Abschluss der Runde immer nur die Länder die Agrarmärkte der Entwicklungsländer mit bil- zweitbeste Lösung. Langfristig können Entwicklungs- ligen Produkten überschwemmt und deren heimische und Industrieländer nur von einer freihändlerischen Landwirtschaft in den Ruin getrieben. Der Abbau dieser Struktur der Weltmärkte gemeinsam profitieren. Hierfür Subventionen ist ein notwendiger Schritt zur Reduzie- lohnt es sich zu kämpfen. rung der Armut. Die von den Industrieländern geforderte Verknüpfung von Fortschritten im Agrarbereich an Zu- Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Aussetzung der geständnisse der Entwicklungs- und Schwellenländer im WTO-Verhandlungen ist kein Rückschlag, sondern sie Bereich der Industriegüter oder Dienstleistungsmärkte bietet eine neue Chance, substanzielle Angebote für eine war von Anfang an falsch und für eine Entwicklungsper- tatsächliche „Entwicklungsrunde“ auf den Tisch zu spektive schädlich. legen. Ihr Antrag, werte Kolleginnen und Kollegen der FDP, ist wieder einmal ein Beispiel dafür, mit welch ein- Gerade in der Landwirtschaft führt die Exportorien- facher Ideologie Sie ihr Freihandels-Credo begründen. tierung in den Entwicklungsländern zu drastischen Um- „Freier Handel gleich Freiheit; mehr Handel gleich mehr strukturierungen und dem Verlust der Ernährungssouve- Wohlstand“, so einfach ist Ihre Gleichung. So simpel ist ränität. Aus der Produktion von Nahrungsmitteln für den die Welt aber nicht. heimischen Bedarf wird der Anbau von Produkten für den Export in Monokulturen und die Abhängigkeit von Theoretisch ist richtig, dass sich Absatzchancen für transnationalen Saatgut- und Agrochemiekonzernen. Produkte aus den Entwicklungsländern durch einen Grundnahrungsmittel müssen importiert und gekauft verbesserten Marktzugang erhöhen ließen. In der Praxis werden. Entweder können die bäuerlichen Kleinbetriebe bedürfte dies aber einer Regulierung und positiven Dis- auf industrielle Produktion umstellen oder sie werden kriminierung und keinen reinen Freihandel. Denn eine unwirtschaftlich und müssen aufgeben. Verelendung und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 57. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. Oktober 2006 5671

(A) Landflucht sind die Folge. Die Einsicht in die verheeren- die Bundeskanzlerin im Nachgang zu Petersburg deut- (C) den Folgen für die Subsistenzlandwirtschaft hat die indi- lich auf die Notwendigkeit hingewiesen hätte, Agrarsub- sche Regierung veranlasst, ihre Industrievertreter bei ventionen zu kürzen und so für eine kohärente Politik zu den Rufen nach Freihandel zurückzurufen. werben, eine Politik, die dem Exportweltmeister Deutschland angemessen ist und die die Förderung der Das Entscheidende für einen Fortgang der WTO-Ver- Entwicklung begünstigt. handlungen ist also nicht, dass der Generaldirektor als Schlichter eingesetzt wird, sondern dass ein neuer Ver- Stattdessen – ich habe gedacht, ich lese nicht richtig – handlungsvorschlag die Entwicklungsinteressen der Ent- bringt die Kanzlerin eine deutsch-amerikanische Frei- wicklungs- und Schwellenländer, die auch manchmal handelszone auf die Agenda der politischen Debatte und durchaus im Widerspruch zueinander stehen können, im bezeichnet diese Idee auch noch als faszinierende Idee. Blick hat. Nicht nur, dass diese Idee niemand in der EU ge- schweige denn in den USA für faszinierend hält, nein, Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE durch die Platzierung der Idee hat die Bundesregierung GRÜNEN): Lassen Sie mich mit einer Vorbemerkung das Signal gesetzt, sie wolle sich vom Multilateralismus beginnen: Es ist bedauerlich, dass diese Debatte über die verabschieden – das in einer Zeit, wo man sich weltweit Zukunft der Doharunde zu nachtschlafender Zeit in die- Gedanken über den Fortbestand der WTO macht, und im sem Haus stattfindet. Das wird der Komplexität und der Vorfeld der EU-Ratspräsidentschaft und des G-8-Vorsit- Herausforderung, die die Doharunde darstellt nicht ge- zes. recht. Ich unterstütze das Anliegen des zur Diskussion ste- Die Staats- und Regierungschefs hatten beim G-8- henden Antrages. Wir müssen die WTO stärken und dür- Gipfel in Petersburg am 16./17. Juli dieses Jahres verein- fen sie nicht schwächen. Deshalb erwarte ich von der bart, bis Mitte August dieses Jahres die Einigung über Bundesregierung nach den völlig abwegigen visionären die Eckpunkte der Marktöffnung im Agrar- und Indus- Spielchen der letzten Wochen im Vorfeld der G 8, ein triegüterhandel nachzuholen. Dennoch wurden die Ver- deutliches Signal in Richtung Doharunde. Aber meine handlungen im Rahmen der Doha Development Agenda lieben Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wenn wir Ende Juli bis auf weiteres unterbrochen. sagen, wir müssten das multilaterale System stärken, Erneut hat in der WTO der Schwanz mit dem Hund dann geht es nicht nur um eine Mehrung der Chancen für gewackelt. Wieder waren es die Agrarfragen, an denen unser Land. Es geht darum, Fortschritte auf dem Gebiet die Verhandlungen entgleisten. Agrarprodukte machen des Handels für alle zu erzielen. Das Ziel der Entwick- weniger als 10 Prozent des Welthandels aus – mit rapide lungshilfe besteht darin, Länder zur Entwicklung zu be- (B) sinkender Tendenz. Das zeigt, die Bedeutung des Agrar- fähigen. Wenn sie keine faire Chance erhalten, am Wett- (D) sektors als Konfliktpotenzial ist überproportional, um es bewerb auf den Weltmärkten, einschließlich der Märkte elegant auszudrücken. der reichen Länder und einschließlich der Märkte für Fertigerzeugnisse, teilzunehmen, werden sie dazu nicht Es mehren sich die Stimmen, die nicht mehr ausschlie- in der Lage sein. Ich unterstütze die Forderung in dem ßen, dass die Doharunde gänzlich scheitern könnte, weil vorliegenden Antrag nach Beauftragung des Generaldi- sich im Agrarhandel keine Einigung erzielen lässt. Der rektors der WTO als Schlichter ausdrücklich. Schaden für die Weltwirtschaft und für die Architektur der multilateralen Institutionen wäre gewaltig. Und er Die ernsten Rückschläge bei den Dohaverhandlungen würde durch nichts aufgewogen. Im Gegenteil, in den in Genf haben einige Teilnehmer zu der Erwägung ver- Agrarverhandlungen der Doharunde wird über die Poli- anlasst, sich mit weniger als einer echten Entwicklungs- tik von gestern gestritten, nicht übertragfähige Strategien runde zufrieden zu geben. Das darf nicht geschehen. Wir für die Agrarpolitik der Zukunft. müssen weiter die Entschlossenheit und den politischen Mut aufbringen, die notwendig sind, um die Gespräche Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung bis Ende des Jahres zum Abschluss zu bringen. Dieses den Dohaprozess nicht dreistimmig durch Seehofer, Signal muss die Bundesregierung im Vorfeld von G 8 Glos und Heidi Wieczorek begleitet hätte, mit der Folge, und EU-Präsidentschaft setzen. dass sie keine wirklich gestaltende Rolle spielt. Ich hätte mir auch gewünscht, dass die Bundesregierung nicht auf Es wäre fatal, auch für das Ansehen unseres Landes in Positionen von gestern beharrt, nur um vor den heimi- der Entwicklungsrunde, wenn die Vision von der Frei- schen Lobbys zu punkten. Ich hätte mir gewünscht, dass handelszone weiter in der Debatte bliebe.

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