Plenarprotokoll 15/178

Deutscher

Stenografischer Bericht

178. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Tagesordnungspunkt 4: nung ...... 16707 A a) Antrag der Abgeordneten Dietrich Absetzung des Tagesordnungspunktes 26 . . . 16708 C Austermann, Dr. , Steffen Kampeter, weiterer Abgeordneter und der Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Fraktion der CDU/CSU: Verschuldungs- neten Martina Eickhoff ...... 16767 A spirale stoppen – Nachtragshaushalt und Haushaltssicherungsgesetz umge- hend vorlegen Tagesordnungspunkt 3: (Drucksache 15/5331) ...... 16727 D b) Antrag der Abgeordneten Dr. Andreas a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Pinkwart, Jürgen Koppelin, , rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- weiterer Abgeordneter und der Fraktion zes zur Verbesserung der steuerlichen der FDP: Prekärer Haushaltslage ent- Standortbedingungen gegentreten – Nachtragshaushalt und (Drucksachen 15/5554, 15/5601) ...... 16708 C Haushaltssicherungsgesetz vorlegen b) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 15/5477) ...... 16728 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. Michael Meister (CDU/CSU) ...... 16728 B zes zur Sicherung der Unternehmens- nachfolge , Bundesminister BMF ...... 16731 C (Drucksachen 15/5555, 15/5603) ...... 16708 D Jürgen Koppelin (FDP) ...... 16736 D Hans Eichel, Bundesminister BMF ...... 16708 D (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 16738 A Heinz Seiffert (CDU/CSU) ...... 16711 C Jürgen Koppelin (FDP) ...... 16739 C Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Steffen Kampeter (CDU/CSU) ...... 16740 C DIE GRÜNEN) ...... 16713 C Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 16743 D Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 16715 D Hans Eichel (SPD) ...... 16744 B Joachim Poß (SPD) ...... 16717 D Steffen Kampeter (CDU/CSU) ...... 16744 D Hartmut Schauerte (CDU/CSU) ...... 16718 B Elke Ferner (SPD) ...... 16745 B Jürgen Koppelin (FDP) ...... 16746 D (CDU/CSU) ...... 16720 D Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 16722 D Tagesordnungspunkt 30: Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 16723 D a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Peter Rzepka (CDU/CSU) ...... 16725 D rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. , Donnerstag, den 2. Juni 2005

Gesetzes zur Änderung des Binnen- Zusatztagesordnungspunkt 2: schifffahrtsaufgabengesetzes (Drucksache 15/5557) ...... 16748 A a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/ b) Erste Beratung des von der Bundesregie- DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- nes Gesetzes zur Ergänzung des NS-Ver- zes zur Änderung des Gemeindefinanz- folgtenentschädigungsgesetzes (Zweites reformgesetzes und anderer Gesetze Entschädigungsrechtsergänzungsgesetz – (Drucksache 15/5565) ...... 16748 A 2. EntschRErgG) c) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 15/5576) ...... 16748 D rung eingebrachten Entwurfs eines Zwan- b) Erste Beratung des von den Fraktionen der zigsten Gesetzes zur Änderung des Um- SPD und des BÜNDNISSES 90/ satzsteuergesetzes DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs (Drucksache 15/5558) ...... 16748 A eines Gesetzes zur Errichtung einer d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Bundesanstalt für den Digitalfunk der rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Behörden und Organisationen mit Si- zes zu dem Abkommen vom 31. Juli cherheitsaufgaben (BDBOS-Gesetz – 2002 zwischen der Regierung der Bun- BDBOSG) desrepublik Deutschland und dem (Drucksache 15/5575) ...... 16749 A Obersten Rat der Europäischen Schu- len über die Europäische Schule in c) Erste Beratung des von den Fraktionen der Frankfurt am Main SPD und des BÜNDNISSES 90/ (Drucksache 15/5517) ...... 16748 B DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reorganisation der e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Bundesanstalt für Post und Telekom- Dr. , Carl-Ludwig munikation Deutsche Bundespost und Thiele, Dr. Volker Wissing, weiteren Ab- zur Änderung anderer Gesetze geordneten und der Fraktion der FDP ein- (Drucksache 15/5573) ...... 16749 A gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuergesetzes d) Erste Beratung des von den Fraktionen der (Drucksache 15/5494) ...... 16748 B SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs f) Antrag der Abgeordneten eines Gesetzes zur Änderung des Vier- (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Dr. ten und Sechsten Buches Sozialgesetz- , weiterer Abgeordneter und buch der Fraktion der FDP: Überregulierung (Drucksache 15/5574) ...... 16749 A des grenzüberschreitenden Schienengü- terverkehrs verhindern – Wettbewerbs- e) Erste Beratung des von der Bundesregie- chancen privater Güterbahnen erhalten rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 15/5359) ...... 16748 C zes zur Änderung des Abfallverbrin- g) Antrag der Abgeordneten Dr. Christel gungsgesetzes sowie zur Auflösung und Happach-Kasan, Birgit Homburger, Hans- Abwicklung der Anstalt Solidarfonds Michael Goldmann, weiterer Abgeordne- Abfallrückführung ter und der Fraktion der FDP: Biologische (Drucksache 15/5523) ...... 16749 B Kohlenstoffsenken für den Klimaschutz f) Erste Beratung des von der Bundesregie- nutzen rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 15/4665) ...... 16748 C zes zur Straffung der Umweltstatistik h) Antrag der Abgeordneten Birgit (Drucksache 15/5538) ...... 16749 B Homburger, , , weiterer Abgeordneter g) Erste Beratung des von der Bundesregie- und der Fraktion der FDP: Leistungsfä- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- higkeit der Chemiewirtschaft in zes über das Zweckvermögen des Bun- Deutschland und Europa erhalten des bei der Landwirtschaftlichen (Drucksache 15/5274) ...... 16748 C Rentenbank und zur Änderung des Ge- setzes über die Landwirtschaftliche i) Antrag der Abgeordneten Angelika Rentenbank Brunkhorst, , Birgit (Drucksache 15/5566) ...... 16749 B Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Forschung und h) Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Entwicklung für innovative Energie- , , weiterer übertragungstechnologien voranbringen Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (Drucksache 15/5140) ...... 16748 D Selbstbestimmungsrecht und Autono- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 III

mie von nichteinwilligungsfähigen Pati- – zu dem Antrag der Abgeordneten enten stärken , Dirk Fischer (Ham- (Drucksache 15/3505) ...... 16749 C burg), , weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ i) Antrag der Abgeordneten Sören Bartol, CSU: Europäische Eisenbahnmagis- , , weite- trale Paris–Budapest im deutschen rer Abgeordneter und der Fraktion der Abschnitt voranbringen SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt (Ingolstadt), (Köln), – zu dem Antrag der Abgeordneten , weiterer Abgeordneter Horst Friedrich (Bayreuth), Birgit und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Homburger, Dr. Karl Addicks, weiterer DIE GRÜNEN: Car-Sharing als innova- Abgeordneter und der Fraktion der tive Verkehrsdienstleistung im Umwelt- FDP: Ausbau der Schienenmagis- verbund fördern trale Paris–Karlsruhe–Stuttgart– (Drucksache 15/5586) ...... 16749 C München–Budapest j) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. (Drucksachen 15/4864, 15/3715, 15/5041, Kolb, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), 15/5572) ...... 16750 B , weiterer Abgeordneter d) – h) und der Fraktion der FDP: Finanzierung der Künstlersozialversicherung sichern Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- (Drucksache 15/5476) ...... 16749 C schusses: Sammelübersichten 206, 207, 208, 209 und 210 zu Petitionen (Drucksachen 15/5470, 15/5471, 15/5472, Tagesordnungspunkt 31: 15/5473, 15/5474) ...... 16750 C a) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Vor- Tagesordnungspunkt 5: schlag für eine Verordnung des Rates Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der 382/2001 des Rates vom 26. Februar Bundesregierung: Fortsetzung der deut- 2001 hinsichtlich des Zeitpunkts ihres schen Beteiligung an der Internationalen Außer-Kraft-Tretens und bestimmter Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Ge- Regelungen betreffend die Ausführung währleistung eines sicheren Umfeldes für des Haushaltsplans KOM (2004) 840 die Flüchtlingsrückkehr und zur militäri- endg.; Ratsdok. 5992/05 schen Absicherung der Friedensregelung (Drucksachen 15/4969 Nr. 1.27, 15/5371) 16749 D für das Kosovo auf der Grundlage der Re- b) Beschlussempfehlung und Bericht des solution 1244 (1999) des Sicherheitsrates Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung und des Militärisch-Technischen Abkom- durch die Bundesregierung: Bericht der mens zwischen der Internationalen Sicher- Bundesregierung über die Perspekti- heitspräsenz (KFOR) und den Regierun- ven für Deutschland – Nationale Strate- gen der Bundesrepublik Jugoslawien und gie für eine nachhaltige Entwicklung der Republik Serbien (jetzt: Serbien und Fortschrittsbericht 2004 Montenegro) vom 9. Juni 1999 (Drucksachen 15/4100, 15/5399) ...... 16750 A (Drucksachen 15/5428, 15/5588, 15/5608) . . 16751 A Dr. Peter Struck, Bundesminister BMVg . . . . 16751 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) . . . . . 16752 C nungswesen (SPD) ...... 16753 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Karin Rehbock-Zureich, Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 16754 A Sören Bartol, weiterer Abgeordneter Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 16755 C und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt (Ingol- (SPD) ...... 16756 C stadt), Volker Beck (Köln), Franziska Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordne- Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg ter und der Fraktion des BÜNDNIS- (CDU/CSU) ...... 16757 D SES 90/DIE GRÜNEN: Eisenbahn- (fraktionslos) ...... 16759 A magistrale für Europa zwischen Paris und Budapest Siegfried Helias (CDU/CSU) ...... 16759 C IV Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Namentliche Abstimmung ...... 16760 C Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Drucksachen 15/5556, 15/5602) ...... 16787 B Ergebnis ...... 16762 C b) Erste Beratung des von den Abgeordneten , Rainer Brüderle, Birgit Homburger, weiteren Abgeordneten und Zusatztagesordnungspunkt 3: der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion wurfs eines Gesetzes zur Lockerung des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Verbots wiederholter Befristungen Schwerer Störfall in der Wiederaufberei- (Drucksache 15/5270) ...... 16787 B tungsanlage Sellafield: (SPD) ...... 16787 C Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 16760 D Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU) ...... 16789 A Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 16764 B DIE GRÜNEN) ...... 16791 C Martina Eickhoff (SPD) ...... 16766 A Dirk Niebel (FDP) ...... 16792 D Birgit Homburger (FDP) ...... 16767 A Angelika Krüger-Leißner (SPD) ...... 16793 C Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16768 C Tagesordnungspunkt 8: Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU) ...... 16769 D Große Anfrage der Abgeordneten Dr. Peter Horst Kubatschka (SPD) ...... 16771 B Paziorek, Cajus Julius Caesar, Dr. Christian Dr. (CDU/CSU) ...... 16772 B Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Auswirkung der Zerstörung (BÜNDNIS 90/ von tropischen Regenwäldern auf das welt- DIE GRÜNEN) ...... 16773 C weite Klima Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 16774 C (Drucksachen 15/4193, 15/5075) ...... 16794 D Michael Müller (Düsseldorf) (SPD) ...... 16775 B Cajus Julius Caesar (CDU/CSU) ...... 16794 D Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU) ...... 16776 C Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 16796 B (SPD) ...... 16778 A Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 16797 C Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 16798 D DIE GRÜNEN) ...... 16779 B Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU) . . . . 16799 D (SPD) ...... 16801 A Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Tagesordnungspunkt 9: brachten Entwurfs eines Stalking-Bekämp- a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: fungsgesetzes Lebenslagen in Deutschland – Zweiter (Drucksache 15/5410) ...... 16780 C Armuts- und Reichtumsbericht Dr. Christean Wagner, Staatsminister (Hessen) 16780 D (Drucksache 15/5015) ...... 16802 C Hermann Bachmaier (SPD) ...... 16782 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sibylle Laurischk (FDP) ...... 16783 A Sicherung zu der Unterrichtung durch die Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Bundesregierung: Nationaler Aktions- DIE GRÜNEN) ...... 16783 D plan für Deutschland zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung (CDU/CSU) ...... 16784 D 2003 bis 2005 Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 16785 D Strategien zur Stärkung der sozialen In- tegration (Drucksachen 15/1420, 15/3041) ...... 16802 D c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Tagesordnungspunkt 7: Nationaler Aktionsplan für Deutsch- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- land zur Bekämpfung von Armut und rung eingebrachten Entwurfs eines Fünf- sozialer Ausgrenzung 2003 bis 2005 – ten Gesetzes zur Änderung des Dritten Aktualisierung 2004 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 V

Strategien zur Stärkung der sozialen In- Tagesordnungspunkt 11: tegration Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Drucksache 15/3270) ...... 16803 A schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- sen in Verbindung mit – zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Faße, Uwe Beckmeyer, , wei- Zusatztagesordnungspunkt 4: terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Rainder Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Steenblock, Albert Schmidt (Ingolstadt), schusses für Bildung, Forschung und Tech- Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter nikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Ab- und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ geordneten Ulrike Flach, DIE GRÜNEN: Verkehrssicherheit in (Homburg), Cornelia Pieper, weiterer Abge- der Seeschifffahrt verbessern – Alko- ordneter und der Fraktion der FDP: Bildungs- holmissbrauch konsequent bekämpfen armut in Deutschland feststellen und be- kämpfen – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksachen 15/3356, 15/4587) ...... 16803 A Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dr. Ole Schröder, Dirk Fischer (Hamburg), weite- , Bundesministerin BMGS . . . . 16803 B rer Abgeordneter und der Fraktion der Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 16803 D CDU/CSU: Promillegrenze in der See- schifffahrt Wolfgang Zöller (CDU/CSU) ...... 16806 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Klaus Kirschner (SPD) ...... 16807 A Michael Goldmann, (Müns- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ ter), Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer DIE GRÜNEN) ...... 16808 C Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bessere Möglichkeiten im Kampf gegen Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 16810 A Trunkenheitsfahrten in der Seeschiff- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos) ...... 16811 A fahrt schaffen Rolf Stöckel (SPD) ...... 16811 D (Drucksachen 15/4942, 15/4383, 15/3725, 15/5514) ...... 16824 D Andreas Storm (CDU/CSU) ...... 16813 D Annette Faße (SPD) ...... 16825 B Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) 16826 A Tagesordnungspunkt 10: Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ a) Antrag der Abgeordneten Sibylle DIE GRÜNEN) ...... 16827 C Laurischk, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 16828 C Fraktion der FDP: Unterhaltsrecht sozial , Parl. Staatssekretärin und verantwortungsbewusst gesell- BMVBW ...... 16829 C schaftlichen Rahmenbedingungen an- passen Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU) 16830 C (Drucksache 15/5369) ...... 16815 C Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 16830 D b) Große Anfrage der Abgeordneten Sibylle (CDU/CSU) ...... 16831 B Laurischk, Daniel Bahr (Münster), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Unterhaltsrecht auf Tagesordnungspunkt 12: dem Prüfstand (Drucksache 15/3117) ...... 16815 D Antrag der Abgeordneten , Dr. Friedbert Pflüger, , weiterer Sibylle Laurischk (FDP) ...... 16815 D Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ 16817 A CSU: Für eine klare europäische Perspek- tive der Ukraine Rainer Funke (FDP) ...... 16817 B (Drucksache 15/5021) ...... 16832 D Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 16818 D Claudia Nolte (CDU/CSU) ...... 16832 D Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 16820 A Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD) ...... 16834 A Sibylle Laurischk (FDP) ...... 16820 C Harald Leibrecht (FDP) ...... 16835 C Ute Granold (CDU/CSU) ...... 16821 D Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ Sabine Bätzing (SPD) ...... 16823 C DIE GRÜNEN) ...... 16836 B VI Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Manfred Grund (CDU/CSU) ...... 16837 A nahmen zur Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsicherung GmbH Jörg Vogelsänger (SPD) ...... 16838 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Birgit Homburger, Tagesordnungspunkt 13: Hans-Michael Goldmann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Leitli- Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- nien für die Privatisierung der Deut- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten schen Flugsicherung – Gesamtkonzept Ingrid Arndt-Brauer, , zur Neuordnung der Flugsicherung , (Heidel- berg), und weiteren Abgeordne- (Drucksachen 15/5342, 15/4829, 15/4670, ten: Mehr Demokratie wagen durch ein 15/5519) ...... 16849 C Wahlrecht von Geburt an (Drucksachen 15/1544, 15/4788) ...... 16838 D Barbara Wittig (SPD) ...... 16839 A Tagesordnungspunkt 17: (CDU/CSU) ...... 16841 C Antrag der Abgeordneten Holger Ortel, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- DIE GRÜNEN) ...... 16843 D wie der Abgeordneten Cornelia Behm, Klaus Haupt (FDP) ...... 16844 C Undine Kurth (Quedlinburg), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak- Dr. (BÜNDNIS 90/ tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: DIE GRÜNEN) ...... 16845 C Die Situation der Fischerei durch nachhal- (CDU/CSU) (zur Geschäftsordnung) 16846 C tige Bewirtschaftung verbessern (Drucksache 15/5587) ...... 16850 A Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 16847 A Rolf Stöckel (SPD) ...... 16848 A Tagesordnungspunkt 16:

Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Peter Weiß (Em- mendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Siche- Fraktion der CDU/CSU: Mikrofinanzierung rung der Unternehmensnachfolge und Finanzsystementwicklung zur nach- (Drucksache 15/5604) ...... 16849 A haltigen Armutsbekämpfung und Mittel- standsförderung ausbauen (Drucksache 15/5455) ...... 16850 B Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten , Hartmut Koschyk, (Heil- Tagesordnungspunkt 18: bronn), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU: Verbot des Führens von Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Anscheinwaffen schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Drucksache 15/5106) ...... 16849 B und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten Peter Weiß (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Tagesordnungspunkt 15: CSU: Chance zum demokratischen Neube- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- ginn in Haiti unterstützen schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswe- (Drucksachen 15/2746, 15/4973) ...... 16850 C sen – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ Tagesordnungspunkt 19: DIE GRÜNEN und der FDP: Kapitalpri- vatisierung der Deutschen Flugsiche- Antrag der Abgeordneten Renate Blank, Dirk rung abschließen Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ – zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert CSU: Zügige Verwirklichung der ICE- Königshofen, Dirk Fischer (Hamburg), Trasse Nürnberg–Erfurt (VDE-Schiene Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter Nr. 8.1) und der Fraktion der CDU/CSU: Maß- (Drucksache 15/5456) ...... 16851 A Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 VII

Nächste Sitzung ...... 16851 C ten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Mili- tärisch-Technischen Abkommens zwischen der Internationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) Berichtigung ...... 16851 C und den Regierungen der Bundesrepublik Ju- goslawien und der Republik Serbien (jetzt: Serbien und Montenegro) vom 9. Juni 1999 Anlage 1 (Tagesordnungspunkt 5) ...... 16853 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 16853 A

Anlage 4 Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten des Antrags: Verbot des Führens von An- Jürgen Koppelin (FDP) zur namentlichen Ab- scheinwaffen (Tagesordnungspunkt 14) stimmung über die Beschlussempfehlung und (SPD) ...... 16854 B den Bericht: Fortsetzung der deutschen Betei- ligung an der Internationalen Sicherheitsprä- Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) . . . 16855 B senz im Kosovo zur Gewährleistung eines si- Dorothee Mantel (CDU/CSU) ...... 16856 B cheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen Absicherung der Frie- (BÜNDNIS 90/ densregelung für das Kosovo auf der Grund- DIE GRÜNEN)...... 16856 D lage der Resolution 1244 (1999) des Sicher- Ernst Burgbacher (FDP) ...... 16857 C heitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni- Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär schen Abkommens zwischen der Internatio- BMI ...... 16857 D nalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien und der Republik Serbien (jetzt: Serbien und Anlage 5 Montenegro) vom 9. Juni 1999 (Tagesord- nungspunkt 5) ...... 16853 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Kapitalprivatisierung der Deutschen Flug- Anlage 3 sicherung abschließen Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten – Maßnahmen zur Kapitalprivatisierung der Josef Philip Winkler, Ursula Sowa, Ekin Deutschen Flugsicherung GmbH Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Friedrich – Leitlinien für die Privatisierung der Deut- Ostendorff, Albert Schmidt (Ingolstadt), schen Flugsicherung – Gesamtkonzept zur Grietje Bettin, Thilo Hoppe, , Neuordnung der Flugsicherung Hans-Josef Fell, (Augsburg), Cornelia Behm, Petra Selg, , (Tagesordnungspunkt 15) Peter Hettlich, , Reinhard Weis (Stendal) (SPD) ...... 16858 D (Berlin), Ulrike Höfken, Anna Lührmann, , Marianne Tritz, Jutta Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU) ...... 16860 A Dümpe-Krüger, Volker Beck (Köln), Jutta Norbert Königshofen (CDU/CSU) ...... 16860 D Krüger-Jacob, Dr. Thea Dückert, Franziska Eichstädt-Bohlig, , Christa Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ Nickels, Silke Stokar von Neuforn, Anja DIE GRÜNEN) ...... 16861 D Hajduk, Rainder Steenblock, Dr. Ludger Volmer, , Winfried Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) ...... 16862 B Hermann, Undine Kurth (Quedlinburg), Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin BMVBW 16863 A Hans-Christian Ströbele und (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur na- mentlichen Abstimmung über die Beschluss- Anlage 6 empfehlung und den Bericht: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Internationalen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewähr- des Antrags: Die Situation der Fischerei durch leistung eines sicheren Umfeldes für die nachhaltige Bewirtschaftung verbessern (Ta- Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen gesordnungspunkt 17) Absicherung der Friedensregelung für das Holger Ortel (SPD) ...... 16864 A Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Verein- (CDU/CSU) ...... 16866 A VIII Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ Neubeginn in Haiti unterstützen (Tagesord- DIE GRÜNEN) ...... 16868 A nungspunkt 18) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 16869 A Dr. (SPD) ...... 16874 D Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 16875 D Anlage 7 Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16877 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 16877 D des Antrags: Mikrofinanzierung und Finanz- systementwicklung zur nachhaltigen Armuts- bekämpfung und Mittelstandsförderung aus- Anlage 9 bauen (Tagesordnungspunkt 16) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Karin Kortmann (SPD) ...... 16869 D des Antrags: Zügige Verwirklichung der ICE- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 16871 C Trasse Nürnberg–Erfurt (VDE-Schiene Nr. 8.1) (Tagesordnungspunkt 19) Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 16873 B Heinz Paula (SPD) ...... 16878 B Markus Löning (FDP) ...... 16874 A Renate Blank (CDU/CSU) ...... 16879 A Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) ...... 16881 A Anlage 8 Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 16882 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Chance zum demokratischen Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP) ...... 16882 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16707

(A) (C) Redetext

178. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : d) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vierten und Sitzung ist eröffnet. Sechsten Buches Sozialgesetzbuch Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene – Drucksache 15/5574 – Tagesordnung um die folgende Zusatzpunktliste zu er- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) weitern: Innenausschuss ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Absichten der Koalition, die Beweisaufnahme des Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO 2. Untersuchungsausschusses – Visa – vorzeitig zu been- e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- den ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Abfall- ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren verbringungsgesetzes sowie zur Auflösung und Ab- wicklung der Anstalt Solidarfonds Abfallrückführung (Ergänzung zu TOP 30) (B) – Drucksache 15/5523 – (D) a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der Überweisungsvorschlag: CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reaktorsicherheit Ergänzung des NS-Verfolgtenentschädigungsgesetzes (Zweites Entschädigungsrechtsergänzungsgesetz – f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- 2. EntschRErgG) ten Entwurfs eines Gesetzes zur Straffung der Umwelt- statistik – Drucksache 15/5576 – – Drucksache 15/5538 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Rechtsausschuss Reaktorsicherheit (f) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- ten Entwurfs eines Gesetzes über das Zweckvermögen wurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Bundes- des Bundes bei der Landwirtschaftlichen Rentenbank anstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organi- und zur Änderung des Gesetzes über die Landwirt- sationen mit Sicherheitsaufgaben (BDBOS-Gesetz – schaftliche Rentenbank BDBOSG) – Drucksache 15/5566 – – Drucksache 15/5575 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Innenausschuss (f) Landwirtschaft (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Finanzausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören Bartol, Ludwig Stiegler, Uwe Beckmeyer, weiterer Abgeordneter c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), Cornelia wurfs eines Gesetzes zur Reorganisation der Bundes- Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des anstalt für Post und Telekommunikation Deutsche BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Car-Sharing als in- Bundespost und zur Änderung anderer Gesetze novative Verkehrsdienstleistung im Umweltverbund – Drucksache 15/5573 – fördern Überweisungsvorschlag: – Drucksache 15/5586 – Haushaltsausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Reaktorsicherheit 16708 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Präsident Wolfgang Thierse (A) i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich L. a) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses (C) Kolb, Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Ernst Burgbacher, (4. Ausschuss) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Finan- – Drucksache 15/5606 – zierung der Künstlersozialversicherung sichern Berichterstattung: – Drucksache 15/5476 – Abgeordnete Dr. Michael Bürsch Überweisungsvorschlag: Beatrix Philipp Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Silke Stokar von Neuforn Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Dr. Ausschuss für Bildung, Forschung und b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Technikfolgenabschätzung gemäß § 96 der Geschäftsordnung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss – Drucksache 15/5610 – j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Berichterstattung: Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter Abgeordnete Susanne Jaffke und der Fraktion der FDP: Selbstbestimmungsrecht und Klaus Hagemann Autonomie von nichteinwilligungsfähigen Patienten Alexander Bonde stärken Otto Fricke – Drucksache 15/3505 – Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit Überweisungsvorschlag: erforderlich, abgewichen werden. Rechtsausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Tagesordnungspunkte 16 und 17 sollen getauscht, Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung der Tagesordnungspunkt 26 – Änderung telekommuni- ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- kationsrechtlicher Vorschriften – abgesetzt werden. Sind SES 90/DIE GRÜNEN: Schwerer Störfall in der Wieder- Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre aufbereitungsanlage Sellafield keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: zung (17. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bil- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- dungsarmut in Deutschland feststellen und bekämpfen serung der steuerlichen Standortbedingungen – Drucksachen 15/3356, 15/4587 – Berichterstattung: – Drucksachen 15/5554, 15/5601 – Abgeordnete Ulrike Flach Überweisungsvorschlag: Gesine Multhaupt Finanzausschuss (f) (B) Werner Lensing Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (D) Grietje Bettin Ausschuss für Kultur und Medien ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Rainer Brüderle, Daniel Bahr (Münster), weiteren Abgeord- neten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ersten Gesetzes zur Stärkung der Eigentümerrechte einer Ak- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Siche- tiengesellschaft (1. Eigentümerrechte-Stärkungsgesetz – rung der Unternehmensnachfolge EigStärkG) – Drucksache 15/5582 – – Drucksachen 15/5555, 15/5603 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Faße, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Renate Gradistanac, , weiterer Abgeordneter Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Werner Schulz (Berlin), Volker Beck Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich NISSES 90/DIE GRÜNEN: Öffnungszeiten der Außengas- tronomie während der Fußball-WM 2006 flexibel handha- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ben Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- – Drucksache 15/5585 – minister Hans Eichel das Wort. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus (f) (Dr. [CDU/CSU]: Es klatscht Sportausschuss schon gar niemand mehr! – Weiterer Zuruf von Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit der CDU/CSU: Zu Recht! – Hans Michelbach Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und [CDU/CSU]: Das ist die Abschiedsrede!) Landwirtschaft ZP 7 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wurfs eines Gesetzes zur Regelung des Zugangs zu Infor- mationen des Bundes (Informationsfreiheitsgesetz – IFG) Herren! Lieber Herr Michelbach, Ihre Besetzung ist auch relativ dürftig! – Drucksache 15/4493 – (Erste Beratung 149. Sitzung) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wir sind da!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16709

Bundesminister Hans Eichel (A) Wie stark ist denn Ihr Interesse an diesem Thema? Wenn nachdem wir eine Reihe von Schritten gegangen sind, (C) ich mir überlege, wie das im Bundesrat gewesen ist, inzwischen wieder weitergegangen: Wir haben in vielen Ländern der Europäischen Union niedrigere Körper- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schaftsteuersätze, allerdings in sehr vielen Fällen mit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) breiterer Bemessungsgrundlage als bei uns. Deswegen wäre ich da an Ihrer Stelle außerordentlich vorsichtig. ist es richtig, den Weg in diese Richtung zu gehen, näm- lich auf der einen Seite die Steuersätze bei uns zu senken (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Wir sind mehr und auf der anderen Seite die Gegenfinanzierung im Un- Leute als Sie!) ternehmensteuerbereich zu suchen. Weil es nicht sein Wir haben heute zwei Gesetzentwürfe zu behandeln: kann, dass es einen Steuersenkungswettlauf in Europa erstens das Gesetz zur Verbesserung der steuerlichen gibt – das macht für niemanden einen Sinn –, müssen Standortbedingungen, zweitens das Gesetz zur Siche- wir allerdings auch zu einer Harmonisierung der Unter- rung der Unternehmensnachfolge – beides Gesetze, in nehmensbesteuerung in der Europäischen Union kom- denen Ergebnisse des Jobgipfels und der Regierungser- men. klärung des Bundeskanzlers vom 17. März dieses Jah- res umgesetzt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Die Bundesregierung hat als ersten Schritt dahin diese Im ersten Gesetzentwurf geht es um eine Senkung Initiative gestartet, um zu einer gemeinsamen Bemes- des Körperschaftsteuersatzes von 25 auf 19 Prozent sungsgrundlage bei der Körperschaftsteuer zu gelangen. und die Erhöhung des Anrechnungsfaktors bei der Ge- Das wird inzwischen von ungefähr 20 der 25 Mitglied- werbesteuer von 1,8 auf 2,0 – bei kompletter Gegen- staaten der Europäischen Union als richtiges Ziel aner- finanzierung im Unternehmensbereich. kannt. Auch die Kommission hat das an die Spitze ihrer (Beifall bei der SPD) Arbeit in diesem Bereich der Lissabon-Agenda gesetzt. Ich denke, das ist auch richtig. Ich sage das mit allem Nachdruck, damit auch hier die Verhältnisse klar sind. Dies ist ein Element in einer Per- In diesem Zusammenhang will ich aber ausdrücklich spektive der weiteren Umgestaltung der Unternehmens- deutlich machen, dass wir weiter gehen müssen. Damit besteuerung, die ja – das ist jedenfalls die Position der bin ich bereits bei der Gegenfinanzierung. Wer die Verla- Bundesregierung – zur rechtsformneutralen Unterneh- gerung des Steuersubstrats in Europa von einem Standort mensbesteuerung hinführen muss. Dies muss finanzie- zum anderen verhindern will – es geht also darum, dass rungsneutral erfolgen. (B) der Gewinn nicht mehr an einem anderen Ort als dem (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten versteuert wird, an dem er entstanden ist –, der kann das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schlussendlich nicht mit einem irrsinnigen Kontrollauf- wand erreichen – das würden wir nie schaffen –, sondern Ich darf Sie übrigens darauf hinweisen, dass die Bun- nur dadurch, dass es die steuerlichen Anreize für die Ver- desregierung bereits mit der Unternehmensteuerreform, lagerung von Steuersubstraten nicht mehr gibt. Das ist die wir im Jahr 2000 beschlossen haben, genau diesen die eiserne Logik dieser Entwicklung. Weg vorgeschlagen hatte. Wir wollten schon damals Rechtsformneutralität. Das heißt nichts anderes, als die Wie gesagt, hiermit bin ich bei dem streitigen Punkt Personengesellschaften dem System der Körperschaft- der Gegenfinanzierung. Das Prinzip ist übrigens nicht steuer zu unterwerfen. Wir hatten damals das Options- streitig; das ist auch von allen anerkannt worden. In dem modell vorgeschlagen, damit die Personengesellschaften Augenblick, in dem man mit der Körperschaftsteuer he- genau dies tun können. Damit würden wir uns in den eu- runtergeht, wird der Anreiz, das Steuersubstrat zu verla- ropäischen Geleitzug einordnen. Sie haben das damals gern, kleiner. Die einzige Frage ist, wie hoch man das abgelehnt. Jetzt lese ich in der Zeitung als Vorschlag zum ansetzt. Wir haben das aus meiner Sicht sehr vorsichtig Beispiel von Herrn Kollegen Stratthaus, genau das müsse angesetzt. Deswegen stehe ich dazu, dass dies aufkom- man jetzt tun: Man müsse das Optionsmodell – das Sie mensneutral geschieht. Wir gehen davon aus, dass ein damals abgelehnt haben – einführen. Ein bisschen spät Gewinn von 50 Milliarden Euro, der in Deutschland ent- gemerkt, kann ich dazu nur sagen! steht, hier nicht versteuert wird. Wir rechnen damit, dass künftig etwa 6,5 Milliarden Euro aufgrund dieser Steuer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten satzsenkung in Deutschland verbleiben. Die steuerliche des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gesamtbelastung nach dem neuen System, nach den Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Aber nicht neuen Steuersätzen, wird ein Drittel betragen. Somit so, wie Sie es gemacht haben!) werden etwa 2,2 Milliarden Euro an Steuern anfallen. Die Entwicklung ist ein Stück weiter gegangen: Es gibt in der Zwischenzeit einfachere und bessere Modelle. Bei dieser Gelegenheit will ich noch auf etwas ande- Deswegen sage ich: Das ist die Perspektive. Auf dem res hinweisen, weil von angeblichen Luftbuchungen die Weg dahin gehen wir einen ersten Schritt. Rede war. Dieser erste Schritt – das muss klar sein – hat natür- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Immer! – Leo lich auch etwas damit zu tun, wie wir uns im europäi- Dautzenberg [CDU/CSU]: Doppelte Luft- schen Umfeld bewegen. Da sind die Entwicklungen, buchungen!) 16710 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Bundesminister Hans Eichel (A) Ich hatte die Höhe der Steuersenkungen – hören Sie ge- Strategie gewinnen Sie im Herbst Neuwahlen. Ich sage (C) nau zu – aufgrund der Steuersatzsenkung von 25 auf ausdrücklich „nach Ihrer“. Da werden Sie sich aber noch 19 Prozent mit 6,2 Milliarden Euro angesetzt. Die baye- wundern. rische Rechnung ergab 5,2 Milliarden Euro. Nur so viel möchte ich zu der Frage sagen, ob hier Luftbuchungen (Lachen bei der CDU/CSU – Elke Wülfing enthalten sind oder nicht. [CDU/CSU]: Wer will denn Neuwahlen? Da- mit ist doch der Bundeskanzler gekommen!) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Eine Milliarde Euro! Das sind doch keine Peanuts!) Wenn das so sein sollte, dann könnten Sie nicht nur die Hälfte der Verantwortung übernehmen. Vielmehr müss- Eine nächste Bemerkung, die ich in diesem Zusam- ten Sie dann endlich sagen, was Sie selber wollen. menhang machen will: Als ob das in Ihren Reihen nicht abgestimmt war, gab es in der Union eine Diskussion (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten darüber, dass hier die Konzerne wieder begünstigt wür- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den und der Mittelstand wieder benachteiligt sei. Wenn Sie aber im Herbst in der Lage sein wollen, deut- Erstens war das noch nie der Fall. Um das zu erken- lich zu machen, was Sie selber wollen, dann können Sie nen, müssen Sie sich nur die Gutachten des Sachverstän- doch schon in diesem Sommer wenigstens die Hälfte der digenrates, der Deutschen Bundesbank und von Arthur Verantwortung, die Sie zurzeit haben, wahrnehmen. Um Andersen für das „Handelsblatt“ anschauen. Dann er- diesen Sachverhalt geht es. kennen Sie, dass die Steuerreform genau das Gegenteil (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beinhaltete, dass der Mittelstand und die Personenge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi- sellschaften dabei nämlich deutlich besser weggekom- derspruch bei der CDU/CSU – Elke Wülfing men sind als die Kapitalgesellschaften. [CDU/CSU]: Ich schicke Ihnen die Druck- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sache!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) So ist es auch bei dem zweiten Gesetzesvorhaben. Zweitens ist es auch falsch, zu behaupten, Kapital- Dabei war hinsichtlich der Regelung zur Sicherung der gesellschaften seien die Großen und Personen- Unternehmensnachfolge verabredet, dass der bayerische gesellschaften seien die Kleinen. Von den 15 Prozent Entwurf eingebracht wird. Die Bundesregierung hatte Kapitalgesellschaften sind nämlich über 90 Prozent Mit- sich, wenn das gewünscht würde, bereit erklärt, ihrer- telständler und von den 85 Prozent Personengesellschaf- seits diesen Entwurf einzubringen. Was habe ich bekom- ten sind 20 Prozent GmbH & Co. KGs. Sie wechseln men? Einen Entwurf von Herrn Faltlhauser, der, so hat er (B) von einem Steuerregime ins andere, je nachdem, wie es mir erklärt, im Kabinett noch gar nicht beraten wurde. (D) für sie günstiger ist. Auch insofern ist die Debatte, die an (Zuruf von der SPD: Wo ist der überhaupt? – dieser Stelle geführt wird, unsinnig. Elke Wülfing [CDU/CSU]: Das stimmt doch (Beifall bei der SPD – Elke Wülfing [CDU/CSU]: gar nicht! Das ist doch peinlich! Der Bundes- Wo wollen sie denn da wechseln?) rat hat es beschlossen!) Ich hatte Herrn Kollegen Faltlhauser gesagt, worüber Meine Nachfrage, ob dies der Entwurf ist, hinter dem die man reden kann. Wenn man mit einzelnen Elementen der Union steht, wurde nie beantwortet. Auch meine zweite Gegenfinanzierung nicht einverstanden ist, sollte man Frage nach der Gegenfinanzierung wurde nicht beant- sich daran erinnern, dass der Bundeskanzler am wortet. Wir haben dann einen Entwurf eingebracht, wo- 17. März 2005 an dieser Stelle gesagt hat, dass ange- raufhin Bayern sehr schnell reagiert hat. Was ist in die- sichts der Absenkung des Körperschaftsteuersatzes auch sem Entwurf als Gegenfinanzierung vorgesehen? Sie eine Erhöhung der Dividendenbesteuerung als ein Fi- wollen eine Landessteuer senken und dies mit Einnah- nanzierungsinstrument erwogen werden könne. men aus einer Gemeinschaftsteuer finanzieren. Das ist – oh Wunder – genau das, was der Bundeskanzler, wenn Wir stehen nun vor folgender Situation: Sie sagen es bei der Gegenfinanzierung für die Absenkung des zwar zum wiederholten Male – so haben Sie sich ja die Körperschaftsteuersatzes noch Probleme geben sollte, ganze Wahlperiode verhalten –, was Ihnen nicht passt, für uns erklärt hatte, nämlich zur Finanzierung dieser Sie ziehen aber nie die Konsequenz aus Ihrem Teil der Senkung die Dividendenbesteuerung zu erhöhen. Meine Verantwortung, die Sie deshalb tragen, weil Sie den Damen und Herren, merken Sie denn gar nicht, wie lä- Bundesrat mit einer Mehrheit dominieren. Sie sagen cherlich Sie sich mit einem solchen Vorschlag machen? nicht, was Sie an dieser Stelle wollen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- DIE GRÜNEN – Elke Wülfing [CDU/CSU]: chen bei der CDU/CSU) Da sind Sie aber nicht hier gewesen! Steuer- konzept 21, Erbschaftsteuerrecht! Unmög- Damit sind wir bei dem Grundproblem. Angeblich lich!) haben Sie den Jobgipfel gewollt. Man hat jedoch schon Tage vorher lesen können, dass Sie über die Einladung Damit werden Sie übrigens nicht mehr lange durch- des Bundeskanzlers zu diesem Gipfel eher unglücklich kommen, wenn es nach Ihrer Strategie geht. Sie fallen waren. Sie wussten nämlich nicht, was Sie auf diesem jetzt nämlich aufgrund Ihrer eigenen Fesseln. Nach Ihrer Jobgipfel umsetzen wollten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16711

Bundesminister Hans Eichel (A) (Zustimmung bei der SPD) Präsident Wolfgang Thierse: (C) Ich erteile das Wort Kollegen Heinz Seiffert, CDU/ Genau so haben Sie sich hinterher verhalten. Die Einset- CSU-Fraktion. zung einer Arbeitsgruppe mit einem Finanzminister ei- nes sozialdemokratisch geführten Landes, einem Finanz- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- minister eines unionsregierten Landes und mir war neten der FDP) verabredet. Ich habe Wochen gebraucht, um herauszu- finden, wer denn mein Gesprächspartner war. Heinz Seiffert (CDU/CSU): (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das liegt aber an Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Ihnen!) Herr Minister Eichel, diese Vorstellung war eines Fi- nanzministers, der in Deutschland seit sieben Jahren Das war dann Herr Faltlhauser. Als wir uns das erste und Verantwortung trägt, nicht würdig; das will ich Ihnen in einzige Mal getroffen haben, hat er uns erklärt, dass er aller Deutlichkeit sagen. erstens kein Verhandlungsmandat habe und es zweitens keine Arbeitsgruppe gebe. So gehen Sie mit den Ergeb- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nissen des Jobgipfels um! Deswegen sind wir jetzt in der neten der FDP) Situation, dass wir diese Fragen im offenen parlamenta- Nur die Opposition zu beschimpfen und für alles Unheil, rischen Verfahren angehen müssen. das man selbst angerichtet hat, verantwortlich zu ma- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist chen ist schäbig und billig. aber etwas Besonderes, Gesetze im Parlament (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/ zu beschließen!) CSU]) Ich hoffe, dass jetzt eines aufhört – damit werden Sie Dabei haben Sie mit Ihrer Politik die Lage in nicht durchkommen; denn das werden wir in dem anste- Deutschland, die äußerst schwierig ist, ganz maßgeblich henden Wahlkampf in aller Deutlichkeit sagen –: Diese mit verursacht. Art destruktiver Politik, alles abzulehnen und nicht zu erklären, was Sie selber wollen, hat unser Land in eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schwere Krise geführt. Das lassen wir Ihnen nicht durch- neten der FDP) gehen; darüber reden wir noch in der nächsten Debatte. Das gilt für das schwache Wachstum, den Arbeitsmarkt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die öffentlichen Haushalte, die sich in einer desaströsen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – La- Situation befinden, und die sozialen Sicherungssysteme. (B) chen bei der CDU/CSU und der FDP – Carl- Wir haben die Bundesregierung zum Handeln drän- (D) Ludwig Thiele [FDP]: Wer regiert hier eigent- gen müssen. lich?) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ja! – La- Wenn Sie – das finde ich als Finanzminister wunder- chen bei Abgeordneten der SPD) bar, weil ich das genauso sehe – auf einer vollen Gegen- finanzierung bestehen, dann sagen Sie einmal Herrn Auf dem großen Jobgipfel am 17. März, der prächtig in- Kauder – er ist jetzt nicht da –, dass die Sache mit dem szeniert worden ist, Selbstfinanzierungseffekt nicht funktioniert. Hier geht es (Dr. Uwe Küster [SPD]: Lächerlich, diese nur darum, ob ein vorhandenes Steuersubstrat im Lande Behauptungen!) bleibt. Ich habe nämlich gelesen, die von der CDU/CSU geplante Absenkung der Steuersätze in ihrem Konzept wurde die Senkung der Körperschaftsteuer auf könne unter anderem durch ein Anziehen des Wirt- 19 Prozent sowie die Vereinfachung der Unter- schaftswachstums und durch mehr Beschäftigung finan- nehmensnachfolge bei voller Gegenfinanzierung be- ziert werden. – Meine Damen und Herren, damit fallen schlossen. Wir stehen nach wie vor zu diesen Plänen. Sie auf Positionen zurück, die Sie zuletzt im Jahre 2000 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vertreten und seither die ganze Zeit dementiert haben, neten der FDP) die Sie aber jetzt, um dem Volk Sand in die Augen zu streuen, wieder ausgraben. Herr Minister Eichel, heute, am 2. Juni, 77 Tage nach diesem Jobgipfel, legen Sie endlich Gesetzentwürfe vor, (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Bei Ihnen die offenbar in den rot-grünen Reihen heftig umstritten gibt es kein Wachstum und keine Beschäfti- sind. Warum haben Sie denn die Vorlage aus eigenen gung!) Stücken um drei Wochen verzögert? Doch nicht wegen uns! Das ist das genaue Gegenteil von dem, mit dem Sie ge- genwärtig gegen diese beiden Gesetzentwürfe argumen- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) tieren. Bei Ihnen passt nichts zusammen. So kann man zu keinem gedeihlichen Ergebnis kommen. Nun bleiben dem Parlament zur geplanten Verabschie- dung am 1. Juli ganze 29 Tage. Ein angemessenes, gere- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geltes Verfahren ist in dieser knappen Zeit kaum mög- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Elke lich. Wie man hört, wollen Sie angesichts der Wülfing [CDU/CSU]: Sie wollen doch gar Streitereien in Ihren Reihen gar keinen Abschluss im nicht mehr regieren!) Bundestag. Laut einer dpa-Meldung vom 31. Mai sind 16712 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Heinz Seiffert (A) die Vorsitzenden von Rot-Grün, also Frau Roth und Herr talgesellschaften als auch beim Mittelstand große (C) Müntefering, sehr skeptisch, dass es vor den Neuwahlen Erwartungen geweckt worden. noch zu einem Abschluss des Verfahrens kommt. Auch (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das stimmt!) der bedeutende Finanzpolitiker Kollege Poß hat dies heute Morgen im Frühstücksfernsehen bestätigt. Wir haben – Herr Eichel, das sage ich noch einmal – un- sere Hausaufgaben gemacht. (Joachim Poß [SPD]: Wegen Ihres Verhal- tens! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Weil Sie blo- (Zurufe von der SPD: Wo denn? – Lächerlich!) ckieren! – Lachen bei der CDU/CSU) Wir haben einen Gesetzentwurf – den hat das Land Bay- Offenbar hat die rot-grüne Koalition beschlossen, die ern erarbeitet – über die Erbschaftsteuerreform vorge- Gesetze im Bundestag nur einzubringen und in den Aus- legt, und zwar mit voller Gegenfinanzierung. Bei Ihrem schüssen zu beraten. Sie sind nicht wirklich an einem Gesetzentwurf zur Senkung der Körperschaftsteuer ist Abschluss interessiert. Sie wollen sich über die Zeit ret- die vorgeschlagene Gegenfinanzierung jedoch unzurei- ten und der Opposition den Blockadevorwurf anhängen. chend, und zwar sowohl was die Maßnahmen als auch was die Höhe betrifft. Hier müssen Sie, Herr Eichel, (Zuruf von der SPD: Der ist berechtigt!) schleunigst nachbessern, damit wir diese für den Wirt- schaftsstandort so wichtigen Gesetze möglichst schnell So wollen Sie von Ihren Problemen ablenken, meine Da- in Kraft treten lassen können. men und Herren von Rot-Grün. In der Tat sind unsere Steuersätze im europäischen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vergleich nicht konkurrenzfähig. Sie haben Recht: Die Das verwundert ja auch nicht. Im „Handelsblatt“ vom Bemessungsgrundlagen müssen innerhalb Europas 31. Mai lehnt die SPD-Linke die Gesetzentwürfe ab. dringend harmonisiert werden. Entweder wollen Sie diesen Streit verdecken oder der (Dr. Uwe Küster [SPD]: Da hättet ihr längst Bundeskanzler will gar die Vertrauensfrage an diese Ge- mitmachen können!) setze knüpfen. Sollen diese für den Wirtschaftsstandort Das Steuerrecht ist zu bürokratisch und zu kompliziert. und die internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Kein Wunder also, dass immer mehr Unternehmen ins Betriebe so wichtigen Gesetze zum Spielball Ihrer politi- Ausland abwandern oder aufgeben müssen. In den letz- schen Interessen werden? Wieso beraten wir heute den ten Jahren mussten jeweils 40 000 Unternehmen Insol- Gesetzentwurf, wenn die Spitzen der Koalition offenbar venz anmelden. Im letzten Jahr wurden täglich 1 500 so- gar nicht die Absicht haben, dieses Gesetz in das Gesetz- zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze ins Ausland blatt zu bringen? Wie stellen Sie sich unter solchen Um- verlagert. So kann es und darf es doch nicht weitergehen. (B) ständen eine Anhörung vor? Die Sachverständigen wer- Unsere Kinder und Kindeskinder müssen doch in (D) den sich doch missbraucht und verschaukelt fühlen, und Deutschland auch im produzierenden Gewerbe noch zwar völlig zu Recht. Ausbildungs- und Arbeitsplätze finden. (Beifall der Abg. Elke Wülfing [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wie ernst ist es Ihnen mit der Senkung der Körperschaft- neten der FDP) steuersätze und mit der Reform der Unternehmensüber- Dazu gehört auch, dass wir Unternehmensüber- gaben wirklich? Haben Sie noch die politische Kraft, gaben erleichtern müssen. Allein in diesem Jahr werden das, was der Bundeskanzler beim Jobgipfel angekündigt über 60 000 Unternehmen an die nächste Generation und versprochen hat, umzusetzen? übergeben. Es darf nicht sein, dass der Erbfall zum Sub- stanzverlust führt. Wenn das Unternehmen fortgeführt (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nein!) wird, darf nicht der Neid gegenüber den Erben im Vor- Sie kommen mir vor wie ein Boxer in der zwölften dergrund stehen; vorrangig ist vielmehr der Erhalt der Runde, der sich stehend k. o. nach dem Schlussgong Arbeitsplätze. Hierbei darf die Erbschaftsteuer keine er- sehnt und noch einige Luftlöcher schlägt. drosselnde Wirkung entfalten. Deshalb muss die Reform – wie vorgeschlagen – gelingen. Besonders der Mittel- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. stand mit seiner oft dünnen Kapitaldecke wartet drin- Carl-Ludwig Thiele [FDP]) gend auf eine Lösung. So können Sie dieses wichtige Thema doch nicht verbra- Die beiden Gesetzentwürfe sind insofern vom Grund- ten, meine Damen und Herren von Rot-Grün. satz her zu begrüßen. Sie entsprechen den Zielsetzungen und Ergebnissen des Jobgipfels. Die Stundung der Ich stelle für die Unionsfraktion noch einmal fest: Wir Erbschaftsteuer bei Unternehmensübergaben und die wollen die Unternehmensteuerreform nicht nur anbera- Senkung der Körperschaftsteuer auf 19 Prozent sind ten, sondern wir wollen sie in das Gesetzblatt bringen. grundsätzlich richtig. Die Maßnahmen müssen jedoch Wir werden wie immer konstruktiv mitarbeiten. – so lautet auch die Vereinbarung – voll gegenfinanziert (Zurufe von der SPD: Oh!) und aufkommensneutral gestaltet werden. In diesem Zusammenhang frage ich Sie noch einmal: Wir werden selbst das enge und chaotische Verfahren in Wo bleiben Ihre Finanzierungsvorschläge, Herr Eichel? 29 Tagen mitmachen, wenn wir so für den Wirtschafts- Diese vorzulegen war Ihre Aufgabe. standort Deutschland ein wichtiges Signal setzen kön- nen; denn mit dem Jobgipfel sind sowohl bei den Kapi- (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16713

Heinz Seiffert (A) Bei der Senkung der Körperschaftsteuer verzichten ich Sie auf. Zumindest bis September dieses Jahres sind (C) Sie zu einem guten Teil auf die Gegenfinanzierung und Sie gewählt und stehen in der Verantwortung. bauen auf das Prinzip Hoffnung. Eine sorgfältige auf- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Richtig!) kommensneutrale Gegenfinanzierung wird nicht nur von uns als Opposition, sondern auch von den Grünen Deshalb ist es Ihre Pflicht, diese beiden Gesetzentwürfe und mittlerweile sogar von Teilen der SPD-Fraktion ge- nicht nur anzuberaten und Legenden zu bilden, sondern fordert. sie ins Gesetzblatt zu bringen. Sie sollten sich Ihrer Ver- antwortung bewusst werden. Sie, Herr Minister Eichel, rechnen mit erheblichen Mehreinnahmen durch das zusätzlich in Deutschland zu Vielen Dank. versteuernde Gewinnsubstrat. Wenn es denn so einfach (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wäre, die Gewinne dorthin zu verschieben, wohin man neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Heuch- gerade will! ler!) (Widerspruch des Bundesministers Eichel) So einfach ist das aber nicht. Wenn es so einfach wäre, Präsident Wolfgang Thierse: dann hätten Sie längst die Finanzbehörden anweisen Ich erteile Kollegin Christine Scheel, Fraktion Bünd- müssen, dies erneut zu regeln. nis 90/Die Grünen, das Wort. Tatsache ist aber, Herr Eichel: Auch die Regierungs- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Jetzt wer- koalition glaubt mittlerweile Ihren Prognosen nicht den wir mal die Pirouetten beobachten!) mehr. Sie haben mit Ihren verfehlten Prognosen alle Glaubwürdigkeit verspielt. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Seiffert, Ihre Äußerung, dass die Union bereit ist, die Carl-Ludwig Thiele [FDP]) Unternehmensteuerreform und auch die vorgesehenen Sie bauen Ihre gesamte Haushalts- und Finanzplanung Änderungen in der Erbschaftsteuer ins Gesetzblatt zu allein auf das Prinzip Hoffnung. Wohin uns das geführt bringen, ist durchaus ehrenwert. Aber wenn Sie zu den hat, sehen wir jetzt. Vorschlägen des Jobgipfels stehen Im Übrigen schadet es dem Wirtschaftswachstum (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das tun wir!) und dem Standort, wenn Sie die Senkung des Körper- und der Meinung sind, dass dabei eine vernünftige Ge- (B) schaftsteuersatzes an Maßnahmen koppeln, die die um genfinanzierung notwendig ist, (D) das Überleben kämpfenden Mittelständler weiter belas- ten. Ich denke dabei zum Beispiel an die Erhöhung der (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Wie Sie auch!) Mindestbesteuerung, die systematisch und wirtschaft- dann frage ich mich, warum Sie fast alle Vorschläge zur lich falsch ist. Deshalb können wir eine solche Maß- Gegenfinanzierung, die von Rot-Grün und vom Minis- nahme nicht mittragen. ter bislang vorgelegt wurden, ablehnen, aber bis heute (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keinen einzigen eigenen Vorschlag eingebracht haben. neten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Ergebnisse des Jobgipfels sind vernünftige Ein- und bei der SPD) zelbausteine, die es rasch umzusetzen gilt. Dabei ist auf Der Bundesrat hat mit der Mehrheit der unionsregier- eine seriöse und aufkommensneutrale Gegenfinanzie- ten Länder das Gesetz in einer ersten Stellungnahme als rung zu achten. Alles andere ist angesichts der desolaten unzureichend finanziert beurteilt. Haushaltslage des Bundes und der Länder nicht zu ver- antworten. Darin sind wir uns hoffentlich einig. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die haben das Gesetz beschlossen! – Heinz Seiffert Die Senkung der Körperschaftsteuer und die unter- [CDU/CSU]: Wie Sie auch!) nehmensfreundliche Reform der Erbschaftsteuer sind wichtige Schritte zu einem besseren und gerechteren Die Länder haben im Bundesrat keinen einzigen Vor- Steuerrecht. Aber sie reichen längst nicht aus. Auch da- schlag für die Umsetzung der Vereinbarungen des Job- rin sind wir uns sicherlich einig. gipfels unterbreitet. Angesichts eines dümpelnden Wirtschaftswachstums (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Sie reden hier sowie von 5 Millionen arbeitslosen Menschen brauchen immer anders als in der Öffentlichkeit! Das ist wir mehr, nämlich mutige Strukturreformen in allen das Problem!) Bereichen. Ich bin mir sicher, dass Sie von Rot-Grün Das gilt auch für Ihre Länder. diese nicht mehr schaffen. Dazu fehlen Ihnen der Wille und die Kraft. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Die haben es doch am Freitag beschlossen!) (Widerspruch bei der SPD) Vonseiten Ihrer Ministerpräsidenten gibt es in der De- Bei den vorliegenden Gesetzentwürfen sollten Sie batte über dieses Thema die unterschiedlichsten Vor- sich aber noch einmal zusammenreißen. Dazu fordere schläge. Der eine sagt: Die Eigenheimzulage muss jetzt 16714 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Christine Scheel (A) doch abgeschafft werden. Der Zweite sagt: Die Pendler- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist der falsche (C) pauschale wird reduziert. Der Dritte sagt: Die Sonntags- Vergleich! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Rech- und Nachtarbeitszuschläge werden in Zukunft nicht nen Sie doch mal das Kindergeld und die mehr steuerfrei gestellt. Eigenheimzulage mit rein! Alles Märchen- stunde!) (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Konzept 21! Nicht einmal das haben Sie gelesen! Da steht Wir haben eine historisch niedrige Steuerquote und ste- alles drin!) hen im internationalen Vergleich sehr gut da. Der Vierte sagt: Wir müssen den Sparerfreibetrag ab- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das stimmt so schaffen. Der Fünfte sagt: Die Mehrwertsteuer muss um nicht!) 4 Prozent angehoben werden. So wird die Debatte in den unionsregierten Ländern geführt, Da zeigt sich, dass die Steuerpolitik von Rot-Grün in den letzten sieben Jahren, die vor allen Dingen die Entlas- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- tung der kleinen und mittelständischen Unternehmen SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das Land ju- aber es wird keine ernsthafte Debatte darüber geführt, belt! – [CDU/CSU]: Fragen wie die Unternehmensteuerreform ins Gesetzblatt kom- Sie die mal!) men kann. Das ist die Wahrheit! Also muss man jetzt auch einmal klipp und klar sagen: Stehen Sie als Union und die Entlastung der Familien und der kleinen Ein- zu diesen Vorschlägen und sorgen Sie im parlamentari- kommen zum Ziel hatte, aufgegangen ist und dass eine schen Verfahren dafür – alle Menschen in diesem Land erhebliche steuerliche Entlastung auch wirklich stattge- wissen doch, dass die Vorschläge nur mit Zustimmung funden hat. des Bundesrates umgesetzt werden können –, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehrheit im Bundesrat die Ergebnisse der Beratungen und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ hier im Deutschen Bundestag auch mittragen wird. CSU]: Lesen Sie mal den Armutsbericht! – (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Der Bundestag Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das Land jubelt! braucht erst einmal eine Mehrheit! – Wolfgang Sie können sich vor Dankbarkeit gar nicht Zöller [CDU/CSU]: Sie brauchen erst einmal mehr retten!) eine Mehrheit!) Jetzt geht es um Strukturverbesserungen in unserem Sie wissen alle – auch Sie, Herr Thiele, obwohl ich Steuersystem und um mehr Transparenz und Vereinfa- (B) manchmal denke, Ihr Gedächtnis ist verdammt kurz –, chung. (D) dass wir uns keine weiteren Steuerausfälle erlauben (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das machen wir können, und zwar weder der Bund noch die Länder. Wir jetzt! Beschließen wir das Gesetz!) müssen doch sehen, dass sich hier wirklich niemand aus der Verantwortung stehlen kann. Wir müssen unsere Steuersätze bei den Unternehmen, die sich international messen lassen müssen, auf ein Ni- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sagen Sie das mal veau setzen, das die internationale Wettbewerbsfähig- Ihrem Bundeskanzler!) keit gewährleistet. Hier müssen wir feststellen, dass die Sie haben im Bundesrat – der Minister hat es zu Steuersätze – es geht nicht um die Steuerbelastung, son- Recht angesprochen – den Subventionsabbau in Höhe dern um die Steuersätze, um die Optik – für die Unter- von 17 Milliarden Euro pro Jahr blockiert und Sie wis- nehmen in der Bundesrepublik Deutschland leider sehr sen ganz genau, dass wir die derzeitigen Probleme in den hoch sind. Deshalb sagen wir zu Recht: Wir müssen mit Haushalten des Bundes und der Länder nicht hätten, diesem Gesetz den Körperschaftsteuersatz auf 19 Pro- wenn Sie sich in den letzten Jahren steuer- und finanz- zent senken – die Gewerbesteuer und der Solidaritäts- politisch konstruktiv und verantwortlich verhalten hät- zuschlag kommen noch hinzu –, damit wir ins westeuro- ten. päische Mittelfeld rücken. Diese Entscheidung zugunsten des Standortes und der Arbeitsplätze in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland ist richtig und notwendig, und zwar nicht und bei der SPD – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: nur vor dem Hintergrund des Standortwettbewerbs, son- Also ist die Opposition schuld! Die Opposition dern auch im Hinblick auf die Erhöhung des Anreizes muss zurücktreten!) für Unternehmen, ihre Gewinne hier zu versteuern. Das weiß mittlerweile jeder in diesem Land. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Machen Sie Ich möchte noch etwas sagen zur Steuerbelastungs- das!) situation in der Bundesrepublik Deutschland, die von der Darauf hat der Minister bereits hingewiesen. FDP immer so aufgeblasen wird. Die Steuerquote, also die Summe der insgesamt gezahlten Steuern im Verhält- Das Ziel der Senkung der Unternehmensteuern ist nis zum Bruttoinlandsprodukt, ist in Deutschland im also, Unternehmen, die bereits Gewinne am deutschen Vergleich mit allen Ländern, mit denen wir uns in Fiskus vorbei ins Ausland transferieren oder darüber Europa zu vergleichen haben, und auch im Vergleich mit nachdenken, weil andere Länder ihre Steuersätze sen- den USA, Kanada und Japan mit die niedrigste. ken, in Deutschland zu veranlagen. Wir wollen dafür Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16715

Christine Scheel (A) sorgen, dass die Finanzierung dieser Reform auf eine so- Ein weiteres Gesetz, das wir sehr positiv betrachten, (C) lide Grundlage gestellt wird. betrifft die Regelung der Unternehmensnachfolge. Es ist richtig, die Unternehmensnachfolge vor allen Dingen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- in mittelständischen Familienbetrieben zu erleichtern. SES 90/DIE GRÜNEN – Hartmut Schauerte Der Vorschlag, nach zehn Jahren Betriebsfortführung die [CDU/CSU]: Trauen Sie sich! Nur Mut!) Erbschaftsteuer auf das betriebliche Vermögen – gestaf- Sie haben sich ebenfalls dazu bekannt und gesagt, felt – entfallen zu lassen, ist richtig. Das ist für den dass Sie sich daran beteiligen werden. Frau Merkel hat Standort und die Planungssicherheit der Unternehmen aber gesagt, die Unternehmensteuerreform gefalle ihr sehr wichtig. nicht. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das war (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sie wollen doch nur doch unser Vorschlag!) von Ihrer eigenen Zerrissenheit ablenken!) Für uns ist entscheidend, dass der Betriebsübergang für Wir bräuchten stattdessen eine Senkung des Spitzensteu- kleine und mittlere Unternehmen erleichtert wird, dass ersatzes auf 39 Prozent und diese Senkung solle mit ei- Arbeitsplätze dadurch langfristig gesichert werden, dass ner Anhebung der Mehrwertsteuer finanziert werden. es in diesem Zusammenhang keine neuen Steuerspar- Das akzeptieren wir nicht. Das wird mit uns nicht zu ma- modelle gibt und dass die Finanzierung dieser Reform chen sein. Das muss man an dieser Stelle ganz klipp und auf eine solide Basis gestellt wird. Dazu wird es im Ge- klar sagen. setzgebungsverfahren noch Vorschläge geben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Dann fordern Sie sowie bei Abgeordneten der SPD – Elke den Finanzminister auf, nachzubessern, ge- Wülfing [CDU/CSU]: Der ehemalige Finanz- nauso wie ich es gemacht habe!) minister von Schleswig-Holstein findet das Ich sage an die Adresse der Union: Wenn Sie sich ge- richtig!) gen die Umsetzung unserer Vorschläge nicht sperren und Wir wollen mehr Anreize für Arbeitsplätze und wenn es Ihnen wirklich Ernst ist, Investitionen am Standort Deutschland. (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Uns ist es Ernst!) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das glaubt dass wir die Ergebnisse des Jobgipfels noch vor der Ihnen niemand mehr!) Sommerpause in Gesetze umsetzen – Sie wissen, dass wir die Zustimmung des Bundesrates brauchen –, Wir Grüne haben Vorschläge gemacht, aus denen her- (B) vorgeht, wie man in steuerlicher Hinsicht auf die Proble- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Sie haben doch in (D) matik der Arbeitsplatzverlagerung reagieren sollte. Wir den eigenen Reihen keine Mehrheit!) befinden uns im Finanzausschuss in der Diskussion da- rüber. dann kommt es nun darauf an, dass Sie im Bundestag nicht nur die Backen aufblasen, sondern die unions- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nicht im Finanz- geführten Länder dazu motivieren, sich an einer soliden ausschuss! Bisher nicht!) Finanzierung zu beteiligen. Ich gehe davon aus, dass sich Union und FDP daran kon- Wir brauchen klare Signale aus den Ländern; sonst struktiv beteiligen werden. kommt dieser Gesetzentwurf nicht ins Bundesgesetz- blatt. Das wissen Sie ganz genau. Wir warten auf Ihre (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir kennen aber Vo r sc h lä g e . keine Vorschläge von Ihnen im Finanzaus- schuss!) Ich bin sehr heiser. Meine Stimme war heute leider nicht so, wie sie sonst ist. Ich bitte um Entschuldigung. – Herr Thiele, wenn Sie behaupten, dass Sie keine Vor- schläge von uns kennen, dann kann ich nur sagen: Wir Danke schön. sind gerade am Anfang der Beratungen. Wir lesen heute (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Gesetzentwurf zum ersten Mal. sowie bei Abgeordneten der SPD – Heinz Morgen wird der Finanzausschuss erstmalig darüber Seiffert [CDU/CSU]: Noch lauter brauchte sie beraten. Danach werden wir im Rahmen des parlamenta- wirklich nicht zu sein! Zum Rumeiern hat die rischen Verfahrens – ich hoffe: gemeinsam – für eine Stimme gereicht!) vernünftige Finanzierung sorgen. Wenn Sie sich hier aufblasen und sagen, Sie seien bereit, das Gesetz in Kraft Präsident Wolfgang Thierse: treten zu lassen, dann bitte ich auch um Vorschläge Ih- Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Ludwig Thiele, rerseits. Sie können nicht nur ständig das, was Rot-Grün FDP-Fraktion. vorschlägt, ablehnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Carl-Ludwig Thiele (FDP): Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wir hätten Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- viel weiter sein können, wenn Sie nicht gewe- nen und Kollegen! Herr Finanzminister Eichel, wenn sen wären!) Ihre Politik wirklich so fantastisch ist, wie Sie sie hier 16716 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Carl-Ludwig Thiele (A) dargestellt haben, warum wollen Sie dann eigentlich den. Wir als Politiker haben angesichts 5 Millionen re- (C) Neuwahlen gistrierter Arbeitsloser die Aufgabe, die Weichen für mehr Arbeitsplätze in unserem Land zu stellen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und warum droht der Bundeskanzler damit, die Vertrau- der CDU/CSU) ensfrage zu stellen? Das passt doch überhaupt nicht zu- sammen. Die Rekordarbeitslosigkeit ist die Folge rot-grüner (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Politik. Wenn die Politik die Probleme nicht löst, dann suchen sich die Probleme selbst ihre Lösungen. Der Weg Frau Kollegin Scheel, nachdem Sie sämtliche von zu Neuwahlen und zu neuen Mehrheiten im Deutschen Rot-Grün vorgenommenen Entlastungen hier vorgetra- Bundestag ist deshalb richtig. gen haben, frage ich Sie: Wer zahlt eigentlich die Öko- steuer? Das sind doch die Leute, die Strom und Heiz- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten energie verbrauchen und die tanken müssen. Das müssen der CDU/CSU) Sie doch zumindest bei der Steuerbelastung berücksich- Herr Finanzminister Eichel, die FDP war nicht Ge- tigen. genstand der von Ihnen geäußerten Kritik. Sie konnten (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Aber EEG und die FDP auch nicht kritisieren, weil wir unsere Konzepte KWK sind viel schlimmer! – immer vorgelegt haben. Ich erinnere an unseren ausfor- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen mulierten Steuerentwurf. In anderen Bereichen haben Sie denn mit der Rente machen?) wir für unsere Ideen sehr konkret geworben. Wir als Op- position haben auch dann konstruktiv gearbeitet, wenn Die Gesetzentwürfe, die wir heute beraten – die Sen- unsere Ideen nicht aufgegriffen wurden. Rot-Grün hat kung der Körperschaftsteuer und die Verbesserung bei Ignoranz demonstriert; daher haben Sie das Scheitern der Übergabe von Familienunternehmen –, sollten ei- dieser Politik zu verantworten und nicht die FDP. gentlich dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für Wachstum und Beschäftigung in unserem Lande zu ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bessern. Als Ausfluss der Regierungserklärung vom der CDU/CSU – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: 17. März und als Ausfluss des so genannten Jobgipfels Und wir auch nicht!) sollte mit diesen Gesetzen eine Aufbruchstimmung er- – Auch die Union nicht, Herr Kollege Seiffert. zeugt werden. Wir haben aber festgestellt: Durch die An- kündigung dieser Gesetze haben wir das bisher nicht er- Wir werden uns dafür einsetzen, dass alles getan wird, (B) reicht. Allerdings hat sich eines grundlegend geändert: damit in unserem Lande mehr Arbeitsplätze entstehen, (D) Es wird eine Aufbruchstimmung geben, weil sich ab- und dass alles unterlassen wird, was Arbeitsplätze ge- zeichnet, dass die rot-grüne Lähmung unseres Landes zu fährdet. Ende geht. Wir nähern uns Neuwahlen und wir haben die Chance auf einen Politikwechsel in Deutschland. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Die Grünen erst mal weg!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Diese Gesetzentwürfe sollten zum Abbau der Arbeits- Wir diskutieren diese Gesetze in einer Stimmung, die losigkeit beitragen und eine Aufbruchstimmung erzeu- vom Ende der rot-grünen Regierung geprägt ist. Die gen. Heute haben wir aber eine ganz andere politische Wähler in Nordrhein-Westfalen haben die letzte rot- Situation. Diese Gesetzentwürfe erweisen sich als letztes grüne Regierung abgewählt. müdes Aufbäumen einer abgewirtschafteten Koalition, (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der die den Schein einer Reformpolitik wahren will. Deshalb CDU/CSU) werden wir im Finanzausschuss, insbesondere was Rot- Grün angeht, keine ernsthaften politischen Beratungen, Rot-Grün ist kein Modell für Deutschland mehr. Das sondern nur Gesichtswahrungsübungen erleben. rot-grüne Reformprojekt ist gescheitert und die Partner zerlegen sich: Der Bundeskanzler will Neuwahlen; die Bis zum 1. Juli will kein Abgeordneter von Rot-Grün Grünen sind dagegen. Die Grünen sind nicht gefragt Gefahr laufen, als Meuchelmörder des Bundeskanzlers worden; sie sind auch nicht einbezogen worden. Das hat und der rot-grünen Koalition zu erscheinen. Keiner will allerdings seine Gründe: Die Grünen sind in keiner ein- den Dolch im Gewande führen. Sie, Frau Scheel, haben zigen Landesregierung mehr vertreten. Damit haben sie dazu beigetragen, dass es zu den Gesetzen keine Frak- über den Bundesrat in unserem Lande keinerlei Gestal- tionsentwürfe gibt. Diese hätten wir eigentlich benötigt. tungsspielraum mehr. Wir hätten schon vor drei Wochen die erste Lesung ha- ben können. Dann wären wir heute weiter. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Und das ist gut so!) Ich sage Ihnen jetzt schon: Sie werden einknicken. Die Bürger in unserem Lande wollen, dass die zentra- Sie werden alles schlucken, was im Gesetzentwurf steht; len Probleme Deutschlands gelöst werden und dass man denn das Gesetzgebungsverfahren wird einfach von der sich nicht nur mit Orchideenthemen beschäftigt. Die Suche nach einem verfassungsgemäßen Weg zu Neu- Bürger wollen, dass ihre Sorgen ernst genommen wer- wahlen überlagert. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16717

Carl-Ludwig Thiele (A) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Wie kom- Diese Mindeststeuer ist der falsche Weg, Wachstum zu (C) men sie hier raus?) beschleunigen. Der Bundeskanzler hat erklärt, dass er die Wundertüte, Die Befreiung des betrieblich gebundenen Vermögens aus der er einen verfassungsgemäßen Weg zu Neuwah- von der Erbschaftsteuer ist richtig. Das entspricht einer len zaubern will, erst am 1. Juli öffnen wird. jahrzehntelangen Forderung der FDP, die wir – als ein- zige Partei – schon im letzten Bundestagswahlkampf in (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Aus Respekt vor unser Programm aufgenommen hatten. Hier allerdings dem Parlament!) eine Grenze von 100 Millionen Euro einzuziehen ist eine – Aus Respekt vor dem Parlament. – Bis dahin dürfen willkürliche Ungleichbehandlung und deshalb aus unse- Herr Müntefering und Herr Fischer einmal in die Wun- rer Sicht verfassungswidrig. dertüte schauen. Der Rest der Abgeordneten wird vom (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie soll ja Bundeskanzler offiziell für dumm verkauft; denn er sagt, noch niedriger sein!) dass die Abgeordneten die Ersten sein sollen, die erfah- ren, auf welchem Weg er Neuwahlen herbeiführen will. Wir brauchen im Rahmen der Politik für einen Auf- bruch in Deutschland nicht mehr ein Klein-Klein und Das Ziel des Bundeskanzlers – vorgezogene Neuwah- nicht mehr den Versuch, den Urwald mit einer Nagel- len – ist richtig; der Weg dahin ist schon jetzt skandalös schere zu roden. Wir brauchen einen Neuanfang, auch in und an Frechheit und Dreistigkeit nicht zu überbieten. der Steuerpolitik. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dr. Uwe Küster [SPD]: Was ist eigentlich das der CDU/CSU) Thema?) Deshalb sagen wir als Erstes: Die Sondersteuer auf Ar- Die sauberste Möglichkeit, Neuwahlen zu erlangen, beit, die Gewerbesteuer, muss abgeschafft werden. wäre ein Rücktritt des Bundeskanzlers. Diesen Weg Außerdem brauchen wir eine Abgeltungsteuer auf Kapi- wünschen wir uns. Das wäre der richtige Weg, um zu talerträge. Dann kann das Bankgeheimnis wieder herge- Neuwahlen zu kommen. stellt werden. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das wäre (Beifall bei der FDP) wenigstens ein bisschen ehrlich!) Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, Herr Zu den Gesetzentwürfen. Mit dem Entwurf des Geset- Präsident, ich komme zum Schluss. Hermann zes zur Absenkung der Körperschaftsteuer zeigt die (B) sagte einmal: Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Wir (D) Koalition, dass wir Reformen brauchen und dass wir in- als FDP wollen den Anfang, wir wollen einen grund- ternational wettbewerbsfähiger werden müssen. Aber legenden Neuanfang für unser Land und eine neue der vorliegende Gesetzentwurf ist zu kurz gesprungen. Aufbruchstimmung. Dazu drei Punkte: Erstens. Da ausschließlich die Kör- perschaftsteuer gesenkt werden soll, vergrößert sich die (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kluft zu den Personenunternehmen; das ist die logische Ein Neuanfang mit Herrn Westerwelle! Folge. Deshalb ist dieses Konzept ordnungspolitisch Juchhe! – Weitere Zurufe von der SPD und verfehlt. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zweitens. Der Gesetzentwurf ist auch handwerklich Wir wollen mehr Freiheit für unsere Bürger und unser – bewusst oder unbewusst – schlecht gemacht. Denn Land und wir wollen grundlegende Reformen als Vo- wenn in der Steuerschätzung ein Körperschaftsteuerauf- raussetzung für eine neue Aufbruchstimmung. Wir wol- kommen von 17 bis 18 Milliarden Euro unterstellt wird len mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in unserem und die Körperschaftsteuersätze um 24 Prozent sinken, Land, damit Deutschland nicht mehr im Bremserhäus- sinkt das Steueraufkommen um 24 Prozent und damit chen sitzt, sondern wieder zur Lokomotive für mehr Ar- um 4,3 und eben nicht um 5,3 Milliarden Euro. Sie gau- beitsplätze wird. keln den Bürgern also 1 Milliarde Euro mehr an Entlas- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – tungswirkung vor. Joachim Poß [SPD]: Zaubern Sie sich mal (Joachim Poß [SPD]: Das ist ja eine abenteuer- weg!) liche Rechnung!) Präsident Wolfgang Thierse: Drittens. Die Erhöhung der Mindeststeuer durch eine Ich erteile das Wort Kollegen Jochen Poß, SPD-Frak- weitere Einschränkung des Verlustvortrages lehnt die tion. FDP ab. Man kann doch insbesondere investierende Un- ternehmen mit hohen Anlauf- oder hohen Projektkosten (Beifall bei der SPD) nicht dadurch belasten, dass man Scheingewinne besteu- ert. Genau das aber geschieht; dies soll verschärft wer- Joachim Poß (SPD): den. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Thiele hat sich heute wieder einmal als exzellenter Ver- der CDU/CSU) treter von faulem Zauber bewährt; 16718 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Joachim Poß (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Joachim Poß (SPD): (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Bundeskanzler und der SPD-Parteivorsitzende haben das sehr deutlich gemacht. Sie haben gesagt: An- denn alles, was er hier geboten hat, hat mit einem jeden- gesichts der Wahlergebnisse der letzten Jahre suchen wir falls nichts zu tun: mit den Zahlen und mit der Wirklich- eine neue politische Legitimation für unseren Kurs, der keit. richtig ist, nämlich Erneuerung in sozialer Verantwor- Um es gleich vorweg zu sagen: Die SPD-Bundestags- tung. fraktion steht hinter den von der Bundesregierung be- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Ihr habt doch eine schlossenen steuerlichen Eckpunkten Mehrheit!) (Lachen bei der CDU/CSU) Der Kurs ist richtig. aus der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 17. März 2005. DIE GRÜNEN – Elke Wülfing [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD – Heinz Seiffert [CDU/ Dann bleiben Sie doch hier!) CSU]: Sie sind von einer anderen Welt!) Dafür, dass er bestätigt wird, werden wir kämpfen, Herr Diese Koalition hat seit der Regierungsübernahme 1998 Schauerte. die Bedingungen für die Unternehmen in Deutschland Bei dem, was Sie jetzt zu bieten beginnen – Herr nachhaltig verbessert. Das wird uns zum Teil vorgewor- Stoiber hat sich gestern im Interview mit der „Zeit“ ge- fen. äußert –, wird sich noch mancher umgucken, Herr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schauerte. Den Menschen, insbesondere den Arbeitneh- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – mern, die in Nordrhein-Westfalen CDU gewählt haben, Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Genau! Aus werden die Augen aufgehen den eigenen Reihen!) (Beifall bei der SPD) Wir haben die Bedingungen nachhaltig verbessert. Das angesichts dessen, was auf sie zukommt, wenn Sie von gilt für die Personengesellschaften noch mehr als für die den vielen Versprechungen nur eines realisieren, näm- Kapitalgesellschaften. Das ist die Wahrheit, meine Da- lich Ihr Konzept des Bierdeckels. Das lautet in erster Li- men und Herren. nie: Entlastung für wenige durch Senkung des Spitzen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten steuersatzes des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Warum (D) Die Wahrheit ist, dass neben Arbeitnehmerinnen und Ar- treten Sie zurück?) beitnehmern, Geringverdienern und Familien mit Kin- und Mehrwertsteuererhöhung für alle. Das wird die Phi- dern die mittelständische Wirtschaft zu den Gewinnern losophie sein, mit der Sie steuerpolitisch vorgehen, Herr unserer Steuerpolitik zählt. Dazu waren Sie, meine Da- Schauerte. Das werden wir noch klar machen. men und Herren, bis 1998 nicht in der Lage. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD – Heinz Seiffert [CDU/ DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Dann CSU]: Deshalb machen auch 40 000 Betriebe lassen Sie doch die Neuwahl!) im Jahr zu!) Wir machen im europäischen Zusammenhang weiter. Gleichwohl müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Entwicklung in Europa voranschreitet. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) – Ja, wir machen weiter. Sie werden sich noch wundern, Präsident Wolfgang Thierse: meine Damen und Herren. Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte? (Dr. [FDP]: Wir wundern uns jetzt schon! – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ich wundere mich schon die ganze Zeit!) Joachim Poß (SPD): Aber gerne. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es in Europa einen Standortwettbewerb über Steuersätze gibt. Wir (Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Schaurig ist wollen aber keinen ungezügelten Steuersenkungswett- immer willkommen!) lauf. Alle Staaten, die sich daran beteiligen, werden ver- lieren. Also müssen wir einen ruinösen Wettbewerb be- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): kämpfen. Deshalb ist richtig, was der Bundeskanzler und Herr Kollege Poß, wenn das Land so voller Gewinner Chirac vorgeschlagen haben: eine EU-weit einheitliche steckt, wie Sie das gerade beschrieben haben, dann be- Bemessungsgrundlage bei der Unternehmensbesteue- antworten Sie mir und den Zuschauern doch bitte eine rung. Frage: Warum will der Bundeskanzler nicht mehr wei- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Richtig! – Heinz termachen? Seiffert [CDU/CSU]: Und was habt ihr in den (Heiterkeit bei der CDU/CSU) letzten Jahren dazu beigetragen?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16719

Joachim Poß (A) In diesem Kontext diskutieren wir die Gesetzentwürfe, leichterung bei Betriebsnachfolgen im System der Erb- (C) um die es hier und heute geht. schaftsteuer selbst. Das ist für alle Mitgliedstaaten von herausragender Der bayerische Gesetzentwurf enthält dagegen einen Bedeutung. Nur auf dieser Grundlage, die im Übrigen Finanzierungsvorschlag, der diese Voraussetzung nicht auch durch die Rechtsprechung des Europäischen erfüllt. Das muss man hier klar sagen. Gerichtshofs erzwungen wird, kann ein fairer Steuer- (Beifall bei der SPD) wettbewerb stattfinden. Genau dafür steht meine Partei. Die SPD steht für fairen Steuerwettbewerb in Europa. Bayern will eine reine Ländersteuer mit einer Maß- nahme finanzieren, die sowohl Bund und Länder als (Beifall bei der SPD) auch Gemeinden betrifft. Das werden wir nicht akzeptie- ren. Es gibt nämlich vernünftige und sogar verfassungs- Die vom Bundeskanzler vorgeschlagene Steuersatz- rechtlich gebotene Alternativen; diese habe ich gerade senkung ist keine pauschale Steuersenkung, wie überall genannt. berichtet wird; es ist eine Senkung des Steuersatzes von 25 auf 19 Prozent, die Deutschland bei der nominalen Die CDU/CSU hat entgegen der Zusage von Herrn Belastung ins europäische Mittelfeld, in eine gute Mit- Stoiber und Frau Merkel beide Gesetzentwürfe der Bun- telposition führt. Das hat uns übrigens kürzlich im desregierung im Bundesrat abgelehnt – so viel zur Le- Finanzausschuss auch die OECD empfohlen. Das setzen gendenbildung –, obwohl der Bundeskanzler in seiner wir um. Damit sichern wir, technisch gesprochen, Steu- Regierungserklärung am 17. März nicht nur die Steuer- ersubstrat, weil die international verflochtenen Konzerne erleichterung, sondern auch die von der Union jetzt kriti- dann mehr Gewinne in Deutschland versteuern werden. sierten Finanzierungsmaßnahmen beim Gesetz zur Ver- Die OECD hält die Anreize dafür, dass Unternehmen besserung der steuerlichen Standortbedingungen schon steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten nutzen, um ihre konkret benannt hat. Die Union bleibt damit ihrer bishe- Gewinne – nicht die Produktion – ins Ausland zu verla- rigen Linie treu. Sie fordert ständig eine breitere steuerli- gern, angesichts des derzeit geltenden Regelsteuersatzes che Bemessungsgrundlage. Aber wenn es ernst wird, für Kapitalgesellschaften in Deutschland für zu groß. Es blockiert sie, weil sie darauf hofft, dass die Leute das geht hierbei also um Gewinn-, nicht um Produktionsver- komplizierte Zusammenspiel zwischen Bundestag und lagerung. Bundesrat nicht durchschauen. Das sage ich auch zu einem Streitpunkt, der uns in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den eigenen Reihen beschäftigt. Die OECD widerspricht DIE GRÜNEN) damit der Behauptung, dass es im deutschen Steuerrecht Das Gleiche gilt für Ihre Kritik bezüglich der Rück- (B) Anreize für eine Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland (D) führung von Steuersubstrat nach Deutschland. Die gibt. Richtig ist aber, dass die in Deutschland erzielten gängige Formel von CDU/CSU in der Steuerpolitik be- Gewinne nicht ausnahmslos hier versteuert werden. Aus sagt, dass die Steuersätze nur weit genug gesenkt werden diesem Grund ist der Entwurf des Gesetzes zur Verbes- müssen, damit danach die Steuereinnahmen umso stär- serung der steuerlichen Standortbedingungen ein richti- ker fließen. Wird dieser Ansatz dann in einer für die öf- ger Ansatz und liegt im Interesse einer europäischen fentlichen Haushalte vertretbaren und verantwortbaren Harmonisierung. Weise aufgegriffen, will sie davon nichts mehr wissen. Das Gleiche gilt für den Entwurf des Gesetzes zur Dabei geht sie bei ihren eigenen Beschlüssen, Herr Sicherung der Unternehmensnachfolge. Er greift Seiffert, von einer milliardenschweren Selbstfinanzie- – das will ich einmal deutlich sagen – einen wichtigen rung durch angebliche Wachstumseffekte in zweistelli- Punkt der Beschlüsse des SPD-Parteitages von Bochum ger Höhe aus. aus dem Jahre 2003 auf. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Durch Wirt- (Zuruf von der CDU/CSU: Was?) schaftswachstum!) 10 Milliarden Selbstfinanzierung! Was Sie da machen, Dort wurde gefordert, dass durch Freibeträge oder ver- ist, vornehm ausgedrückt, Voodoo. gleichbare Instrumente bei der Erbschaftsbesteuerung die Fortführung von kleinen und mittleren Unternehmen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesichert werden soll. Ich sage ausdrücklich: Das ist Be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) schlusslage der SPD. Sie gaukeln den Menschen ständig etwas vor. Ihre Poli- In unserem Parteitagsbeschluss zur Erbschaftsbesteu- tik reduziert sich auf die systematische Täuschung von erung werden aber noch weitere Forderungen aufge- Wählerinnen und Wählern. stellt, auf die meine Fraktion im weiteren Gesetzge- Herr Kauder hat zuletzt noch öffentlich behauptet, bungsverfahren zurückkommen wird. Sie betreffen die dass die – unfinanzierbaren – Steuerversprechen der momentan gültige, aber verfassungsrechtlich bedenkli- Union trotz der leeren öffentlichen Kassen aufrechter- che niedrige Bewertung von Grundvermögen und die halten werden können. Frage der Angemessenheit der Belastung von hohen und höchsten Erbschaften. Diese Maßnahmen bieten Frau Merkel kündigt weitere Steuersenkungen an. über ihre politische Rechtfertigung hinaus auch die Meine Damen und Herren, was Sie da veranstalten, ist Möglichkeit einer Finanzierung der vorgeschlagenen Er- Wahlschwindel. Das muss man so deutlich sagen. 16720 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Joachim Poß (A) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista zensteuersatzes bestehen bleiben müsse. Wenn Herr (C) Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Glos hinzufügt, dass auf dem Wege der Gesundung die Behandlung auch ein bisschen weh tun könne, dann trifft Im Moment überholen sich die Vertreter der Union ja das sicher für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer quasi mit Vorschlägen, die Entfernungspauschale oder in Deutschland zu. Ich kann nur sagen: Arbeitnehmerin- andere steuerliche Vergünstigungen von Arbeitnehmern nen und Arbeitnehmer, zieht euch bei diesen Steuerplä- wie die Steuerfreiheit von Sonntags- und Schichtzu- nen der Union warm an! Aber ich kann auch sagen: schlägen einzuschränken oder ganz abzuschaffen. Liebe Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ihr könnt (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Es ist noch keine euch darauf verlassen, dass es mit der SPD weiterhin drei Wochen her, dass wir das Konzept bespro- eine sozial gerechte Besteuerung nach der wirtschaft- chen haben!) lichen Leistungsfähigkeit geben wird. Frau Kollegin, die Katze ist jetzt für alle sichtbar aus (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Sack. Die Arbeitnehmer, auch die, die zuletzt in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nordrhein-Westfalen CDU gewählt haben, werden sich Das ist der Verfassungsgrundsatz. Das ist der Grundsatz – ich habe es schon gesagt – verwundert die Augen rei- für die soziale Marktwirtschaft, der Grundsatz für einen ben, wie schnell auf ihrem Rücken ein höheres Steuer- Sozialstaat. Diesen garantieren wir. Er wird nicht durch aufkommen realisiert werden soll. das garantiert, was Sie im Schilde führen. (Beifall bei der SPD) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ihr seid Ich wiederhole, Herr Schauerte: Das Steuerkonzept gescheitert!) der Union ist wieder ganz einfach geworden. Es hat drei Auf die Union ist steuerpolitisch jedenfalls kein Ver- Komponenten und passt sogar wieder auf einen Bier- lass, weder bei der Unternehmensbesteuerung, wie sich deckel: erstens Mehrwertsteuer für alle herauf, zweitens jetzt angesichts der Absprachen mit dem Bundeskanzler steuerliche Vergünstigungen für alle Arbeitnehmer weg am 17. März zeigt, und drittens Spitzensteuersatz für einige wenige herun- ter. Das sind mittlerweile die drei simplen steuerpoliti- (Elke Wülfing [CDU/CSU]: Wollen Sie den schen Leitplanken der Union. Auf diese Bierdeckelsteu- Steuersenkungen jetzt zustimmen oder lehnen erreform wird es hinauslaufen, wenn CDU/CSU und Sie sie ab?) FDP bei einer vorgezogenen Bundestagswahl eine noch bei der Einkommensbesteuerung, wie Ihre leeren Mehrheit erreichen sollten. Das hat Herr Stoiber gestern Versprechungen, die Sie seit vielen Monaten in der Steu- in seinem Interview mit der „Zeit“ bestätigt. Klarer als erpolitik gemacht haben, belegen. Den Wählerinnen und (B) Herr Stoiber kann man das gar nicht auf den Punkt brin- (D) Wählern werden jetzt die Augen geöffnet und sie werden gen. Für die Klarheit, die er da geschaffen hat, bin ich erkennen, ihm sehr dankbar. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Dass ihr die Bes- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe ten seid!) von der CDU/CSU und der FDP) dass eine verlässliche und sozial gerechte Steuerpolitik, Entlarvend ist auch, was Herr Glos in diesem Zusam- ob bei der Besteuerung von Arbeitnehmern oder bei der menhang gesagt hat. Herr Glos hat gesagt Besteuerung von Unternehmern, nur mit der SPD und (Zuruf der Abg. Elke Wülfing [CDU/CSU]) mit dieser Koalition zu haben ist. – hören Sie einmal zu, was Herr Glos gesagt hat –, es Vielen Dank. werde sicher im Wahlprogramm eine Formulierung ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ funden, die die Union einerseits ehrlich erscheinen lasse, DIE GRÜNEN) die andererseits aber den notwendigen Spielraum zur Finanzierung der Staatsfinanzen biete. Präsident Wolfgang Thierse: (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Ja, was Ich erteile das Wort Kollegen Hans Michelbach, denn sonst?) CDU/CSU-Fraktion. Das heißt im Klartext: (Beifall bei der CDU/CSU) (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Jetzt kommt wieder Ihre falsche Interpretation, die Hans Michelbach (CDU/CSU): poßsche!) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Sie wollen sich mit Täuschung an die Macht mogeln. Kollegen! Herr Poß, Sie kommen mir vor wie ein Ertrin- Herr Glos hat das hier offen gesagt. kender, der ins tiefe Wasser gesprungen ist und feststellt, dass er gar nicht schwimmen kann. Ich kann nur deutlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sagen: Die Tatsachen müssen noch einmal sachlich fest- DIE GRÜNEN) gehalten werden. Vergessen hat Herr Glos nur zu sagen, dass auch ein (Joachim Poß [SPD]: Seit wann reden Sie über gewisser Spielraum für eine weitere Senkung des Spit- Tatsachen? Sie täuschen doch bloß!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16721

Hans Michelbach (A) Die Vorsitzenden der CDU und der CSU sind ins Kanz- dringend notwendigen Steuergesetze noch manipulieren. (C) leramt gegangen und haben dem Regierungschef die Die Bundesregierung legt Gesetzentwürfe vor, weiß aber Hand gereicht, um gemeinsam darüber nachzudenken, noch gar nicht, ob sie auch wirklich umgesetzt werden wie wir in Deutschland mehr Wachstum und Beschäfti- sollen. gung bekommen. Leider ist die dabei beschlossene steu- errechtliche Initiative zu einem rot-grünen Trauerspiel (Zuruf von der CDU/CSU: Die gibt es gar auf dem Rücken von Arbeitnehmern und Unternehmen nicht!) geworden. Die Parlamentarier von SPD und Grünen sollen dabei (Elke Wülfing [CDU/CSU]: So ist das!) gewissermaßen zur strategischen Verfügungsmasse de- gradiert werden. Das, was wir hier erleben, ist eine Miss- Was ist in den letzten Wochen passiert, meine Damen achtung des Parlaments und bedeutet einen Schaden in und Herren? Vor der NRW-Wahl war sich Rot-Grün Bezug auf mehr Wachstum und Beschäftigung, für den plötzlich nicht mehr einig. Standort Deutschland und für die Arbeitsplätze in Deutschland. Das haben Sie zu verantworten. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) Die hier vorliegenden Entwürfe der Steuergesetze Man hat sich außerstande gesehen, eine geschlossene werden für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Arbeits- Haltung herzustellen. Die im Kabinett beschlossenen plätze dringend benötigt. Die CDU/CSU will Steuer- Steueranträge wurden im Bundestag von der Tagesord- erleichterungen noch vor den Neuwahlen durchsetzen. nung genommen. Tatsache ist einfach: Die SPD ist in- Die Beschäftigungsfrage steht im Mittelpunkt unserer nerlich zerrissen zwischen und Kapitalis- Politik und muss im Mittelpunkt aller Politik stehen. Wir muskritik; hier passt nichts mehr zusammen. wollen erneut eine Vertrauensbasis für den Standort (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutschland herstellen. Die Grünen lehnen die Finanzierung von Herrn Eichel Unsere Leitlinie heißt: Arbeit braucht Wettbewerbsfä- als unseriös ab. higkeit und Wettbewerbsfähigkeit braucht eben Steuerer- leichterungen, nicht aber Steuererhöhungen. Für die (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Zu Recht!) Menschen muss es jetzt ein Signal für mehr Wachstum – Da haben sie teilweise Recht. – Die SPD-geführten und Beschäftigung geben. Länder haben im Bundesrat die Verbesserung der Rege- Ich lade Sie ein, Herr Eichel: Wenn Teile der SPD und lungen zur Unternehmensnachfolge abgelehnt. Wie der Grünen nicht mehr wollen, dann setzen Sie die steu- kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, die SPD stehe errechtlichen Jobgipfelvereinbarungen im Bundestag mit (B) hinter diesen Steuergesetzen? Im Bundesrat haben Sie uns um! Wir sind bereit dazu. So können Sie beweisen, (D) diese Steuergesetze abgelehnt. dass Sie gar nicht die Vertrauensfrage damit verbinden (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wollen, sondern dass es Ihnen um die Sache, um die Ar- beitsplätze sowie um Wachstum und Beschäftigung in Wir erleben blankes Regierungschaos. Die Linken der Deutschland, geht. SPD und der Grünen fordern heute sogar neue Steuer- erhöhungen – nicht Steuererleichterungen, sondern Steu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ererhöhungen! Das ist Tatsache und zeigt, dass bei Ihnen der FDP) nichts zusammenpasst. Meine Damen und Herren, Selbstblockade einer Außerdem sollen diese Steuergesetze vielleicht – das Bundesregierung kann sich Deutschland einfach nicht ist sehr bedenklich – als Vehikel für eine inszenierte mehr leisten. Es ist doch eine Tatsache: Wer im Juni Vertrauensfrage herhalten. Der Bundeskanzler will nicht mehr weiter weiß, ist doch im September nicht klü- aber, so scheint es, vor dem 1. Juli mit seinen Abgeord- ger. neten nicht darüber sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Mit seriöser und verantwortungsvoller Politik hat das Beim Scheitern im Frühling kann man im Herbst keinen alles nichts mehr zu tun, meine Damen und Herren. Das zweiten Frühling erwarten. Das ist doch paradox. ist ein politischer Offenbarungseid. Um mit einer be- kannten Parole zu sprechen: Die Flasche ist leer, Sie ha- Das Argument, wir könnten uns Steuererleichterun- ben fertig! Abtreten! gen nicht mehr leisten, kann ich nicht gelten lassen. Wir haben in unseren gesamten Steuerkonzeptionen eine voll (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) durchgerechnete Gegenfinanzierung vorgelegt. Alle Sie sind ökonomisch gescheitert, aber haben noch nicht Teile unseres Konzeptes 21 wurden vorgelegt. Sie be- einmal genug Charakter für einen sauberen Abgang. haupten, das sei nicht finanzierbar. Keine Regierungsfähigkeit, keine Abwicklungsfähig- (Zuruf von der SPD: Luftnummer!) keit – das sind Tatsachen in diesem Lande, meine Da- men und Herren. Das kann ich nicht gelten lassen. Wenn Sie so weiterma- chen, können wir uns bald gar nichts mehr leisten. We- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen dieser Tatsache müssen wir auf eine neue Gesamt- Jetzt wollen die Oberstrategen von Rot-Grün die beim steuerkonzeption hinarbeiten, die das komplizierte Jobgipfel fest vereinbarten und für die Arbeitsplätze deutsche Steuerrecht als Standortnachteil ersten Ranges 16722 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Hans Michelbach (A) letzten Endes abschafft und eine Verbesserung der Rah- Hierzu braucht es dringlich unser Erbschaftsteuer- (C) menbedingungen für unsere Arbeitsplätze in Deutsch- modell. land herstellt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eine radikale Vereinfachung des Steuersystems mit Da dürfen wir keine Zeit verlieren. Kann die Erbschaft- einem Gesamtkonzept und Rechtsformneutralität ist nun steuer nicht aus anderen Vermögenswerten bestritten einmal die Grundvoraussetzung für mehr Wachstum und werden, wirkt sie wie eine Substanzsteuer auf das Be- Beschäftigung. Die jetzige Senkung des Körperschaft- triebsvermögen und gefährdet das Unternehmen in sei- steuersatzes und die Anhebung des Gewerbesteueran- ner Existenz. rechnungsfaktors sowie die erbschaftsteuerlichen Re- formvorschläge sind geeignete Zwischenschritte, die Der große Fehler Ihrer Steuerpolitik ist, dass Sie zur dem längerfristigen Ziel einer umfassenden Gesamtsteu- Substanzbesteuerung übergegangen sind. erreform mit Unternehmensteuerreform nicht im Wege (Hans Eichel, Bundesminister: Wo denn?) stehen. Es ist ein wesentlicher Vorteil dieser Konzeption, dass es in eine Gesamtsteuerkonzeption eingepasst wer- Mit den 50 Steuergesetzen, Herr Eichel, die Sie in den den kann. Die geplante Absenkung des Körperschaft- letzten sieben Jahren beschlossen haben, haben Sie das steuersatzes von 25 auf 19 Prozent entfaltet schon im deutsche Steuerrecht wesentlich verwüstet. Es ist zwar Voraus eine Signalwirkung und begünstigt insbesondere herrschendes Recht, aber trotzdem Unrecht, was Sie ge- die Investitionen. Dies nicht zu machen, entspräche ei- schaffen haben, und zwar deshalb, weil Sie im Rahmen nem Arbeitsplatz- und Investitionsvernichtungspro- der Gegenfinanzierung immer wieder eine Substanz- gramm. und Scheingewinnbesteuerung vorgenommen haben. Damit haben Sie kontraproduktiv gearbeitet. Sie haben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auf der einen Seite den Tarif gesenkt und sind auf der an- Wir müssen jetzt handeln. Deswegen wollen wir, dass deren Seite bei der Gegenfinanzierung kontraproduktiv diese Steuergesetze im Vorgriff auf eine Gesamtsteuer- vorgegangen. Sie sollten sehr viel mehr auf die ökono- konzeption hier beschlossen werden, und zwar mög- mische Vernunft und die Effizienz der Steuergesetze lichst schnell, möglichst in diesen Wochen. achten. Dass Sie das nicht getan haben, ist Ihr Problem- punkt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörg-Otto Spiller [SPD]: Was tun Sie denn da- Meine Damen und Herren, wir von der CDU/CSU für?) wollen jetzt die Senkung der Körperschaftsteuer und die Einführung eines Erbschaftsteuerbetriebserhaltungs- Deutschland würde damit zeigen, dass es den in der glo- modells. Darauf kommt es jetzt an. Der Standort (B) (D) balisierten Welt verschärften Wettbewerb nicht scheut, Deutschland muss wieder attraktiv werden, damit Ar- sondern fähig ist, seine Zukunft als Wirtschaftsstandort beitsplätze geschaffen und bestehende Arbeitsplätze er- aktiv zu gestalten. Vor allem mit Blick auf internationale halten werden. Arbeit braucht Wachstum und Wachstum Investoren ist ein solches Aufbruchssignal dringend er- braucht Freiheit. Das ist der richtige Weg, den die CDU/ forderlich. CSU gehen muss. Der Bundesfinanzminister spricht ständig davon, dass Herzlichen Dank. er sich letzten Endes vorstellen kann, dass innerhalb der EU in irgendeiner Form eine gemeinsame Bemessungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) grundlage entsteht. Das ist richtig; dafür sind auch wir. Aber man muss doch erst einmal selbst handeln und darf Präsident Wolfgang Thierse: nicht immer wieder warten, bis vielleicht am Sankt- Ich erteile das Wort Kollegin Gesine Lötzsch. Nimmerleins-Tag eine solche Entwicklung eintritt. Wir brauchen in Deutschland jetzt eigenverantwortliche Lö- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die ergänzt sungen in der Steuerpolitik. jetzt den Poß!) Als aktiver Mittelständler, der viele Arbeitsplätze ge- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): schaffen hat und erhält, möchte ich an dieser Stelle die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Wichtigkeit einer Generationenbrücke für die Abgeordnete der PDS. Keine Bundesregierung hat die Arbeitsplatzsicherung unterstreichen. Familienge- Unternehmensteuern so dramatisch gesenkt wie diese führte Unternehmen sind nun einmal das Rückgrat der rot-grüne Regierung. Hat der Bundesfinanzminister deutschen Wirtschaft. Sie stellen mehr als 70 Prozent der noch im Jahr 2001 rund 25 Milliarden Euro durch die Arbeitsplätze und erwirtschaften etwa 65 Prozent des Körperschaftsteuer eingenommen, musste er ein Jahr BIP. Die Übergabe der Familienunternehmen an die später 426 Millionen Euro an die Unternehmen zurück- nächste Generation stellt angesichts von Hunderttausen- zahlen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will der den Betriebsübergaben in den nächsten Jahren eine der Finanzminister die Körperschaftsteuer noch einmal dras- größten Herausforderungen für das zukünftige Wachs- tisch senken, nämlich von 25 auf 19 Prozent. Man muss tum in Deutschland und der europäischen Wirtschaft dar. sich einmal vorstellen: Das entspricht einem Steueraus- 4,8 Millionen Arbeitsplätze in deutschen Familienunter- fall von rund 25 Milliarden Euro in fünf Jahren. nehmen können nach meiner Ansicht nur gesichert wer- den, wenn der in den kommenden fünf Jahren anste- Bei der Körperschaftsteuer liegen wir hier in hende Generationswechsel erfolgreich bewältigt wird. Deutschland unter dem EU- und dem OECD-Durch- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16723

Dr. Gesine Lötzsch (A) schnitt. Das Gleiche trifft auch für die Unternehmen- von Rot-Grün gemacht habt, das hätten wir uns nie ge- (C) steuer, die Umsatzsteuer und die Vermögensteuer zu. traut; das hätten wir nie durchgekriegt; es war gut, dass SPD und Grüne haben vor der Wahl – die Grünen sogar ihr es getan habt. noch nach der Wahl – etwas anderes versprochen. Sie wollten die Vermögensteuer wieder einführen. Doch sie Diese Politik spaltet die Gesellschaft in Arm und haben genau das Gegenteil getan. Sie haben nämlich die Reich. Sie wird dazu beitragen, dass die Lebensqualität Vermögenden dramatisch entlastet und die kleinen Leute aller Menschen sinkt, nicht nur die der ärmeren. Ob nun belastet. Ihre Steuerpolitik ist schlichter Wahlbetrug. in São Paulo oder in Moskau: Dort, wo sich die Reichen immer dreister Eigentum aneignen, müssen sie sich und (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) ihre Familien hinter hohen Mauern verstecken. Ein sol- ches Gesellschaftsmodell wollen wir als PDS nicht! Ziel der ständigen Steuersenkungen war es angeblich, die Investitionsbereitschaft der Unternehmen anzukur- Die PDS-Steuerpolitik ist klar: Wir wollen eine ge- beln. Wir alle wissen: Es wurde viel gekurbelt; doch der rechte Unternehmensbesteuerung, die Wiedererhebung Motor ist nicht angesprungen. Die Steuersenkungen ha- der Vermögensteuer und eine Reform der Erbschaft- ben eben keine neuen Arbeitsplätze in unserem Land ge- steuer. Die Umverteilung des Reichtums von unten nach schaffen. Dafür mussten der Bund, die Länder und die oben auf Kosten der Bezieher von kleinen und mittleren Kommunen auf Milliarden von Steuereinnahmen ver- Einkommen, von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfän- zichten. Sie sind immer weniger in der Lage, ihre gern muss endlich gestoppt werden. Pflichtaufgaben zu erfüllen und die Infrastruktur zu er- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) halten. Am 18. September haben alle Wählerinnen und Wäh- Nun könnte man eigentlich annehmen, dass die Bun- ler in diesem Land dazu eine Chance. desregierung bereit wäre, aus ihren Fehlern zu lernen. Spätestens nach der dramatisch verlorenen Wahl in (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Steht das Nordrhein-Westfalen müsste der SPD und den Grünen schon fest?) doch ein Licht aufgegangen sein, dass ihre Politik ge- scheitert ist, Sie haben die Chance, eine echte Wahlalternative zu SPD, CDU/CSU und den beiden kleinen Parteien der (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Besserverdienenden zu wählen. Sie können am 18. Sep- tember die PDS, eine starke linke Fraktion, in den Bun- dass die Menschen diese unsoziale Politik nicht mehr ak- destag wählen. zeptieren wollen. Vielen Dank. (B) Aber in guter alter deutscher Tradition führt die Bun- (D) desregierung ihre gescheiterte Politik bis zum bitteren (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Ende fort. Die Grünen haben zwar zaghaft einige Beden- ken geäußert, doch als die Machtfrage gestellt wurde, Präsident Wolfgang Thierse: scharten sich wieder alle brav um den Kanzler; natürlich Ich erteile das Wort Kollegen Jörg-Otto Spiller, SPD- nur, um das Schlimmste zu verhindern. Doch, meine Da- Fraktion. men und Herren, damit lügen Sie sich selbst in die Ta- sche. Sie verhindern nicht das Schlimmste, sondern Sie (Beifall bei der SPD) bereiten mit Ihrer Politik das Schlimmste vor. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Jörg-Otto Spiller (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Ich nenne Ihnen einmal einige Zahlen aus dem CDU- Herren! Frau Kollegin Merkel, für Sie war es wahr- Steuerkonzept. Die CDU möchte Ledige mit einem zu scheinlich gut, dass Sie den Anfang dieser Debatte nicht versteuernden Einkommen in Höhe von 15 000 Euro um mitbekommen haben; 787 Euro im Jahr entlasten. Das hört sich zunächst ein- mal ganz gut an. Einem Gutverdiener jedoch mit einem (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Jetzt nicht zu viel Einkommen in Höhe von 500 000 Euro sollen schon gegen Eichel! – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: 31 000 Euro zurückgezahlt werden. Soziale Gerechtig- Was haben Sie gegen Eichel? – Weitere Zurufe keit sieht anders aus! Die FDP legt sogar noch etwas von der CDU/CSU) drauf. Sie will einem besser verdienenden Single rund denn die Botschaft Ihrer Fraktion lautete: Sie sind für 36 000 Euro zurückzahlen. Das ist Ausdruck der Selbst- eine Regierungsübernahme nicht reif. bedienungsmentalität der Besserverdienenden! (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) DIE GRÜNEN) Die rot-grüne Regierung hat mit einer schlimmen Das, was die Redner Ihrer Fraktion heute geboten ha- Politik einer noch weit schlimmeren Politik den Weg be- ben, war reine Polemik. reitet. Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, wis- sen doch selbst, dass die Schwarzen häufig – nicht in (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das stimmt offiziellen Sitzungen, aber bei zwischendurch stattfin- nicht! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihre denden Besprechungen – zu Ihnen gesagt haben: Was ihr Flasche ist leer!) 16724 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Jörg-Otto Spiller (A) Sie haben nicht einen konkreten Vorschlag gemacht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Herr Seiffert, ich kenne Sie aus dem Ausschuss eigent- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lich als richtig sachlichen Kollegen, Deswegen haben wir von vornherein gesagt: Wir (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist wahr!) brauchen eine saubere Gegenfinanzierung. Das haben aber Sie durften offensichtlich nichts Konkretes sagen. Sie, Frau Merkel, in Ihrem Debattenbeitrag vom 17. Dezember letzten Jahres – rein theoretisch – bestä- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ich darf alles!) tigt. Sie durften offenbar nichts Konstruktives beitragen. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ja, klar! Natür- Frau Merkel, Ihr in Aussicht genommener Koalitions- lich! Niemand sagt etwas anderes!) partner – Herr Thiele hat ihn repräsentiert – hat die reine Wir haben gewartet, wie sich der Bundesrat, in dem Sie Polemik noch übertroffen. die Mehrheit haben, dazu verhält. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Kann man Sie (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Und wir haben da überhaupt noch übertreffen?) auf den Finanzminister gewartet!) Wie Sie mit dem zusammen irgendetwas machen wol- Wie hat sich der Bundesrat in seiner Stellungnahme zum len, ist sehr fragwürdig. Gesetzentwurf zur Senkung der Körperschaftsteuer ge- (Beifall bei der SPD – Heinz Seiffert [CDU/ äußert? Er hat nur Nein gesagt, aber nicht einen einzigen CSU]: Die Wahrheit tut manchmal weh! – konkreten Vorschlag gemacht, wie die auch von Ihnen Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Münte will – theoretisch – gewünschte Aufkommensneutralität ge- Schwarz-Gelb!) sichert werden kann. Ich weiß, dass Sie eine lebhafte Debatte zwischen den Zweitens. Beim Thema Erbschaftsteuer waren wir beiden Parteien und innerhalb der Parteien führen. Für uns einig – der Bundeskanzler hat diese Auffassung vor- die deutsche Öffentlichkeit ist interessant, was Sie mit getragen und Frau Merkel hat bestätigt, dass auch Sie der Mehrwertsteuer machen wollen. dies befürworten –, dass der Übergang eines Betriebes auf die nächste Generation nicht durch die Erbschaft- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Was wollen steuer erschwert werden soll. Deswegen haben wir uns Sie denn, Herr Kollege?) einvernehmlich – so schien es zumindest – an einem Um wie viele Punkte wollen Sie die erhöhen? Was ma- Vorschlag des Freistaats Bayern orientiert und uns dafür chen Sie mit der Entfernungspauschale für die Arbeit- ausgesprochen, für jedes Jahr, das der Betrieb fortge- (B) nehmer und was haben Sie sich sonst noch einfallen las- führt wird, 10 Prozent der Erbschaftsteuer zu erlassen. (D) sen? (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Machen wir es (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Was macht ihr doch!) denn mit den beiden Gesetzentwürfen? Kom- Warum wehren Sie sich nun dagegen? men Sie einmal zur Sache!) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Wir wehren uns Herr Stoiber sagt, dass man die Steuerfreiheit von doch nicht! Machen wir es doch!) Schichtzuschlägen abschaffen sollte. Sonst fällt Ihnen nichts dazu ein, wie Sie die Finanzlöcher, die bei Durch- Warum machen Sie keinen konkreten Vorschlag, wie führung Ihres Konzepts auftreten würden, schließen dies in die Tat umgesetzt werden kann? können. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Wir haben doch Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung den Gesetzentwurf vorgelegt! Herr Spiller, um vom 17. März dieses Jahres zwei sehr konkrete Vor- Gottes willen! – Steffen Kampeter [CDU/ schläge gemacht, wie wir unseren Standort angesichts CSU]: So ein Quatschkopf! – Hans des steuerlichen Wettbewerbs, in dem Deutschland nun Michelbach [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar einmal steht, im Vergleich zu anderen Standorten inner- nicht!) halb und außerhalb Europas wettbewerbsfähiger für Un- ternehmen machen können. Die SPD-Fraktion bekennt – Entschuldigung, aber die Mehrheit des Bundesrates hat sich aus ganzem Herzen zu diesen Vorschlägen zur Stär- dazu lediglich gesagt, dass eine Gegenfinanzierung not- kung unserer Wettbewerbsfähigkeit. wendig sei. Erstens. Mit der Senkung des Körperschaftsteuer- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die SPD-ge- satzes auf 19 Prozent setzen wir die Verbesserung der führten Länder haben das abgelehnt!) Rahmenbedingungen in Deutschland fort, an der wir seit Aber welche Gegenfinanzierung haben Sie – von der 1998 arbeiten. Wir werden allerdings auch darauf achten, Erbschaftsteuer einmal abgesehen – vorgeschlagen? Sie dass diese Senkung des Steuersatzes mit einer Stabilisie- wollen eine Anhebung der Einkommensteuer, die eine rung des Steueraufkommens einhergeht; denn der Staat Gemeinschaftsteuer ist und nicht nur die Länder betrifft. muss handlungsfähig bleiben und die öffentlichen Auf- gaben müssen angemessen – und zwar nach dem Prinzip (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: So heben Sie das der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit – durch Niveau dieser Debatte aber nicht an! – Heiter- Steuern finanziert werden. keit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16725

Jörg-Otto Spiller (A) – Herr Kollege Seiffert, ich muss mir nicht viel Mühe Die Bevölkerung muss sich entscheiden, ob sie einen (C) geben, Weg der unsicheren Polemik, wie Union und FDP sie ih- nen bieten, gehen will (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das tun Sie ersichtlich auch nicht! – Carl-Ludwig Thiele (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein, nein, nein: [FDP]: Nicht schon wieder gegen Eichel!) Eine klare Alternative!) um das Niveau dieser Debatte, wie sie von Ihrer Seite oder ob sie eine kontinuierliche, auf sozialen Ausgleich bisher geführt wurde, anzuheben. und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abzielende Poli- tik, (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Uwe Küster [SPD]: Genau! Außer Tarnen und Täu- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Rekordver- schen ist da nichts gekommen!) schuldung und Rekordarbeitslosigkeit!) Leider haben wir erlebt, dass sich das Kuddelmuddel, die Sicherung der Zukunft unseres sozialen Bundesstaa- das sich bei Ihnen in der Vergangenheit gezeigt hat, in tes, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verbunden mit so- den steuerpolitischen Vorschlägen, die heute vonseiten zialem Zusammenhalt, unterstützen will oder nicht. der FDP und der Union vorgetragen worden sind, erneut (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war der voll bestätigt. Reif zur Übernahme der Regierung sind Durchbruch, Herr Kollege!) Sie nicht. Aber eines, Frau Merkel, muss aufhören: Sie dürfen (Beifall bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele den Bundesrat nicht als reines Blockadeorgan nutzen, [FDP]: Doch, sind wir! Und wenn nicht, dann ohne irgendeine konstruktive Leistung für die notwen- müssen Sie wohl weiter an der Regierung blei- dige Modernisierung unseres Landes zu erbringen. ben!) (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) Die FDP ist voll in der Opposition. Deswegen sage ich Ihnen: Wir gehen mit Zuversicht in (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aber sehr diese Bundestagsneuwahlen hinein. konstruktiv!) (Beifall bei der SPD – Heinz Seiffert [CDU/ Die CDU/CSU allerdings ist durch ihre Position im Bun- CSU]: Und viele von euch werden nicht mehr desrat für fast alle Steuergesetze, die wir in Deutschland herauskommen! – Hartmut Schauerte [CDU/ machen, mitverantwortlich. Denn es ist fast immer die CSU]: Bei euch regiert die Angst, nichts Zustimmung des Bundesrates erforderlich, wenn eine sonst!) (B) Gemeinschaftsteuer oder eine Ländersteuer betroffen ist. (D) Aber ein konstruktiver Beitrag von Ihrer Seite ist nicht Präsident Wolfgang Thierse: gekommen. Deswegen sage ich – ohne noch die Hoff- Ich erteile Kollegen Peter Rzepka, CDU/CSU-Frak- nung zu hegen, tion, das Wort. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ohne polemisch zu werden!) Peter Rzepka (CDU/CSU): dass sich Ihre Grundhaltung ändern wird –: Wir werden Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und am 18. September die Entscheidung haben, Herren! Eine zentrale Botschaft der Rede des Kollegen Poß war die Aussage: Wir machen weiter. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Woher wis- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Ja! Welche Dro- sen Sie das eigentlich alles schon? – Hans hung! – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das Michelbach [CDU/CSU]: Sie sind doch gar war eine Drohung!) nicht eingeweiht! Sie wissen doch angeblich gar nichts! – Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Herr Kollege Poß, ich glaube, Sie begreifen gar nicht, Also werden Sie doch rechtzeitig informiert! – dass das von der überwiegenden Mehrheit der Bevölke- Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es kann doch rung, der Bürgerinnen und Bürger, inzwischen als Dro- nicht sein, dass der 1. Juli schon heute wäre!) hung empfunden wird. ob die Mehrheit der Bevölkerung die Fortsetzung der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Reformpolitik der Regierung von Bundeskanzler Und Ihr „Weiter so“ beweist doch, dass Sie angesichts Gerhard Schröder unterstützt. Wir haben die doppelte einer katastrophalen Staatsverschuldung und angesichts Herausforderung von globalisierter Wirtschaft und von von über 5 Millionen Arbeitslosen weder den Mut noch massiver Veränderung der altersmäßigen Zusammenset- die Kraft haben, die notwendigen Reformen im Arbeits- zung unserer Bevölkerung angenommen. Wir haben mit recht, in den Sozialsystemen und auch im Steuerrecht der Agenda 2010, mit dem Umbau unserer sozialen Si- wirklich anzupacken. cherungssysteme und mit unserer auf Wettbewerbsfähig- keit zielenden Unternehmensbesteuerung einen kon- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- struktiven Weg gewiesen. neten der FDP) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr habt Steuergesetze müssen einfach und klar sein und sie schließlich die Mehrheit!) müssen Planungssicherheit gewährleisten, sowohl für 16726 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Peter Rzepka (A) Konsumenten als auch für Investoren. Beide Grundsätze kanten Investitionen. Eine dadurch bewirkte Min- (C) einer erfolgreichen Steuerpolitik hat diese Bundesregie- destbesteuerung hat nicht nur schädliche allokative rung sträflich missachtet. Folgen, von ihr können überdies negative konjunk- turelle Effekte ausgehen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) Weiter wird darauf hingewiesen, dass die Mindestbe- Auch die vorliegenden Gesetzentwürfe tragen in vielen steuerung den Unternehmen liquide Mittel entzieht, wo- Punkten nicht zur Vereinfachung und Planungssicher- durch der Aufschwung nicht ermöglicht wird. heit bei. Die Union hält zwar das Ziel, die Körperschaft- steuer zu senken, als ersten Schritt zu einer durchgrei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fenden Vereinfachung und Entlastung aller Unternehmen unverändert für richtig. Auch die Sicherung der Unter- Dem ist aus meiner Sicht nichts hinzuzufügen. Diese nehmensnachfolge ist eine seit langem von der Union er- Steuererhöhung ist deshalb nicht mit uns zu machen. hobene Forderung, über die offenbar inzwischen bei al- Bei der Änderung des Einkommensteuergesetzes len Fraktionen im Hause Einigkeit besteht. wollen Sie eine neue Vorschrift – § 15 b Einkommen- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ich habe da steuergesetz – zur Einschränkung der Verrechenbarkeit noch Zweifel!) von Verlusten im Zusammenhang mit Steuerstundungs- modellen einfügen. Die generelle Zielsetzung, Verlust- Dass wir Schritte in die richtige Richtung unterstützen, verrechnungsmöglichkeiten zum Beispiel bei Medien- heißt aber nicht, dass wir bei der Prüfung von unseren fonds zu begrenzen, findet unsere Zustimmung, der Zielen der Steuervereinfachung und der Verlässlichkeit Wortlaut ist aber noch zu unbestimmt. So ist nicht si- steuerpolitischen Handelns Abstand nehmen. chergestellt, dass volkswirtschaftlich notwendige For- schungs- und Entwicklungsaufwendungen, die in der (Beifall bei der CDU/CSU) Anfangsphase eines Unternehmens zu erheblichen Ver- Es fehlt eine solide Gegenfinanzierung für die Steuer- lusten führen können, ausgenommen sind. senkungen und vor dem Hintergrund der gegenwärtigen, (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Genau so ist es!) katastrophalen Lage der öffentlichen Haushalte stellt sich die Frage, inwieweit das verantwortet werden kann. Es gibt noch weitere Fragen: Wann genau liegt ein Steu- Der Streit innerhalb der Regierungskoalition zeigt, dass erstundungsmodell vor? Was ist eine modellhafte Ge- unsere Bedenken berechtigt sind und dass die Gesetzent- staltung? würfe einer Überarbeitung und Korrektur bedürfen. Las- sen Sie mich einige Beispiele nennen, wie diese Bundes- Der § 15 b Einkommensteuergesetz – wie er jetzt aus- (B) regierung zum Chaos im deutschen Steuersystem gestaltet ist – führt zu einer weiteren Komplizierung der (D) beigetragen hat: Im Rahmen der Unternehmensteuer- Steuergesetzgebung und zu Planungsunsicherheit. Im reform wurde es Kapitalgesellschaften beim Übergang weiteren Gesetzgebungsverfahren muss er deshalb nach- vom Anrechnungsverfahren zum Halbeinkünfteverfah- gebessert werden. Es wird auch zu prüfen sein, ob die ren ermöglicht, gezahlte Körperschaftsteuern auf in der vorgesehene Rückwirkung im vorgesehenen Umfang Vergangenheit einbehaltene Gewinne durch Ausschüt- verfassungsrechtlich zulässig ist. Vor dem Hintergrund tungen vorzeitig zur Anrechnung zu bringen. Dadurch der angespannten Haushaltslage müssen wir auf eine se- wurde den Unternehmen unerwartet erhebliche Liquidi- riöse Gegenfinanzierung von Steuersenkungen bestehen. tät zugeführt, mit der Folge, dass das Körperschaftsteu- Wenn diese nicht vorgelegt wird, kann es eben nicht zu eraufkommen, wie Sie alle wissen, dramatisch eingebro- der Körperschaftsteuersenkung im vorgesehenen Um- chen ist. fang kommen. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja!) Die Seriosität der Gegenfinanzierung wird übrigens auch in der Regierungskoalition bestritten. Wenige Jahre später wurde mit der Einschränkung des Verlustausgleichs, der so genannten Mindestbesteue- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) rung, den Unternehmen unerwartet Liquidität entzogen Deshalb hat die Vorsitzende des Finanzausschusses, die und die Krisenanfälligkeit der deutschen Wirtschaft er- Abgeordnete Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen, auch höht. einen Beitrag zum Gelingen des Gesetzes einbringen Nun soll die Mindestbesteuerung weiter verschärft wollen, indem sie über die Medien einen Vorschlag zum werden. Nach eigenen Aussagen des Bundesfinanzmi- Abbau von angeblichen Steuersubventionen in Höhe von nisters bringt sie wenig, sie belastet jedoch risikoträch- 5 Milliarden Euro für den Export von Arbeitsplätzen tige Unternehmungen zusätzlich und schreckt weiter von lancierte. Investitionen in Deutschland ab. Der Sachverständigen- (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Die sind doch rat kommentiert Ihren Plan, den Verlustabzug auf lächerlich!) 50 Prozent des Gesamtbetrags der Einkünfte bei einem Sockelbetrag von 1 Million Euro zu begrenzen, wie Auf einen Antrag oder Gesetzesvorschlag im Parlament folgt: warten wir bis heute vergebens, Frau Kollegin. Verlustverrechnungsbeschränkungen diskriminieren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – die gerade für eine dynamische Volkswirtschaft und Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Jetzt erklär ihr das einen schöpferischen Wettbewerb bedeutsamen ris- mal!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16727

Peter Rzepka (A) Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Sie in der Öf- umfassenden Reform der Einkommen- und Körper- (C) fentlichkeit populistisch reden, im Parlament aber anders schaftsteuer verstanden werden kann. handeln. Im Übrigen ist der Vorschlag eines Finanzpoli- Wir teilen ausdrücklich diese Auffassung. Deutsch- tikers selten auf größere Kritik in der Fachwelt gestoßen. land braucht eine tief greifende strukturelle Moderni- Lassen Sie mich nur aus einer Stellungnahme des sierung des Steuerrechts. Bundesfinanzministeriums zitieren: (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) Die in der jüngeren Vergangenheit häufig vernehm- Ein solch großer Wurf würde psychologische Wirkung bare Behauptung, haben und eine Aufbruchstimmung erzeugen, die die – Ihre Behauptung, Frau Scheel – Wachstumskräfte stärkt. die Kosten einer Verlagerung von Arbeitsplätzen (Joachim Poß [SPD]: Es kommt ja richtig ins Ausland würden steuerlich begünstigt, ver- Stimmung auf, wenn Sie das so leidenschaft- fälscht und verkürzt die tatsächliche Rechtslage. lich vortragen!) Erst dann könnte auch auf einen Selbstfinanzierungsef- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fekt vertraut werden. Solange aber keine Verzahnung der Diese Aussage ist ausnahmsweise einmal richtig, Herr Steuerpolitik mit Reformen am Arbeitsmarkt, bei der Bundesfinanzminister. Bildung und den Sozialsystemen zu erkennen ist, so- lange Sie sich in Einzelmaßnahmen verlieren, so lange (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU ist keine wirtschaftliche Dynamik in Deutschland zu er- und der FDP – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: warten. Ehre, wem Ehre gebührt!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carl- Aber sie zeigt doch in ihrer vornehmen und zurückhal- Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) tenden Art, dass dies der diplomatische Versuch des BMF ist, die Vorsitzende des Finanzausschusses nicht Solange dürfen Sie sich auch nicht wundern, dass Sie völlig bloßzustellen. Jahr für Jahr neue Milliardenlöcher im Haushalt stopfen müssen. Die „FAZ“ vom 12. Mai 2005 schreibt hierzu: (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Obwohl sie es Die Einnahmeausfälle, die Rot-Grün jetzt wieder verdient hätte!) beklagt, führt sie mit ihrer Politik vorsätzlich her- Ich darf zum Schluss die Wertung des Bundesfinanz- bei. ministeriums zu den Vorschlägen der Kollegin Scheel Gemeint ist Ihre Politik, die auf mehr Staatstätigkeit und (B) zusammenfassen: Eine Verschärfung des Betriebsausga- weniger Freiheit für Unternehmen und Bürger setzt. Wir (D) benabzugsverbotes, wie immer sich die Kritiker das dagegen wollen weniger Staat, weniger Bürokratie, we- auch vorstellen, hätte zudem nachteilige standortpoliti- niger Abgaben, mehr Freiheit für Unternehmen und Bür- sche Wirkungen. Konzernzentralen würden sich dann ger und mehr Arbeit in Deutschland. überlegen, ob sie künftig ihren Sitz in Länder verlegen, die günstigere Regelungen für die Geltendmachung von Ich danke Ihnen. Beteiligungsaufwendungen haben. – So, meine Damen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Herren von den Grünen, schädigen Sie den Standort Deutschland weiter, insbesondere den Holdingstandort Deutschland. Der Vorschlag von Frau Scheel wäre dem- Präsident Wolfgang Thierse: nach eine wirkungsvolle Maßnahme, Kapital aus Ich schließe die Aussprache. Deutschland zu vertreiben, Arbeitsplätze zu vernichten Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf und Steuermindereinnahmen zu bewirken. Er legt die den Drucksachen 15/5554 und 15/5601 sowie 15/5555 Axt an die Wurzeln des Erfolgs des deutschen Exports, und 15/5603 an die in der Tagesordnung aufgeführten auf den Sie in den Regierungsfraktionen immer so stolz Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige hinweisen. Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Über- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weisungen so beschlossen. neten der FDP) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b Dennoch dürfen die Gesetze zur Senkung der Unter- auf: nehmensteuerbelastung und zur Unternehmensnachfolge 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich nicht scheitern. Die Bundesbank warnt in ihrem Monats- Austermann, Dr. Michael Meister, Steffen bericht für Mai eindringlich: Kampeter, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU Neue Vertrauensprobleme würden freilich aufge- worfen, wenn das Vorhaben jetzt noch scheitern Verschuldungsspirale stoppen – Nachtrags- würde. haushalt und Haushaltssicherungsgesetz um- gehend vorlegen Weiter schreibt die Bundesbank zu positiven Effekten ei- ner Steuerreform: – Drucksache 15/5331 – Überweisungsvorschlag: Dies wäre vor allem dann der Fall, wenn sie nicht Haushaltsausschuss (f) als Einzelmaßnahme, sondern als Schritt zu einer Finanzausschuss 16728 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Präsident Wolfgang Thierse (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) Dr. , Jürgen Koppelin, Otto Jürgen Koppelin [FDP]) Fricke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Damit nicht genug: Wir werden nach 2002, 2003, 2004 und 2005 auch im kommenden Jahr keinen verfassungs- Prekärer Haushaltslage entgegentreten – gemäßen Haushalt von dieser Bundesregierung bekom- Nachtragshaushalt und Haushaltssicherungs- men. Die Nettoneuverschuldung wird wieder oberhalb gesetz vorlegen der Summe für Investitionen liegen. Diese Bundesregie- rung steht mit ihrer Finanzpolitik nicht mehr auf dem – Drucksache 15/5477 – Boden des Rechts. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der CDU/CSU) Haushaltsausschuss (f) Innenausschuss Wie keine andere Bundesregierung vor Ihnen setzen Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Sie sich über geltendes Recht hinweg, nur weil Sie nicht Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und den Mut und nicht die Kraft haben, die notwendigen Re- Landwirtschaft formen in Deutschland durchzuführen. Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Joachim Poß [SPD]: Was hat Ihnen der Herr Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Kampeter da aufgeschrieben?) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Herr Poß, die Rahmendaten der Haushaltspolitik von Ausschuss für Bildung, Forschung und Hans Eichel sind verheerend. Er hat in den vergangenen Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und sechseinhalb Jahren 160 Milliarden Euro neue Schulden Entwicklung in Deutschland gemacht. Dabei sind die 50 Milliar- Ausschuss für Tourismus den Euro, die er aus der Veräußerung der UMTS-Lizen- Ausschuss für Kultur und Medien zen gewonnen hat, nicht berücksichtigt. Zusammenge- nommen wären das über 200 Milliarden Euro neue Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Schulden, die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Joachim Poß [SPD]: Es hätten viel weniger sein können, wenn Sie nicht blockiert hätten!) Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Michael Meister, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. die Sie von der SPD, Ihr Koalitionspartner und der Bun- desfinanzminister zu verantworten haben. (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D) (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Sie haben es gerade nötig!) Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herr Poß, jedes neugeborene Kind in Deutschland be- Herren! Diese Bundesregierung ist am Ende. kommt von Ihnen 10 500 Euro Bundesschulden aufge- bürdet. Dafür tragen Sie die Verantwortung. (Beifall bei der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Das hätte ich nicht gedacht! Da bin ich (Beifall bei der CDU/CSU – Walter Schöler richtig fertig! Solche Feststellungen hier!) [SPD]: Wie viel haben Sie denn davon ge- macht? – Dr. Uwe Küster [SPD]: Wo ist denn Nachdem ein nicht mehr handlungsfähiger Bundeskanz- Ihr Anteil? – Joachim Poß [SPD]: Wer so blo- ler als Folge der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ckiert wie Sie, sollte vorsichtig sein!) seinen politischen Offenbarungseid geleistet hat, wollte Wenn Ihre Regierung bleibt und Ihre Finanzpolitik so ihm Finanzminister Hans Eichel in dieser Woche nicht weitergeht, dann kommen jedes Jahr mindestens nachstehen. 40 Milliarden Euro Schulden dazu. Hinzu kommt, dass In einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters bei Ihren Planungen für die Zukunft, in der mittelfristi- vom 31. Mai wird erklärt – ich darf zitieren –: gen Finanzplanung, die Wachstumsannahmen regelmä- ßig zu hoch angesetzt werden. Das heißt, Sie planen für Deutschland wird nach Worten von Bundesfinanz- die Zukunft regelmäßig mit zu hohem Wachstum, mit zu minister Hans Eichel (SPD) auch im kommenden hohen Steuereinnahmen und mit zu geringen Ausgaben Jahr gegen den europäischen Stabilitätspakt versto- für die Arbeitsmarktpolitik. Das bedeutet, dass Sie in der ßen … mittelfristigen Finanzplanung die künftigen Defizite massiv unterschätzen und damit das Volk, die Menschen Mit diesem Eingeständnis des Finanzministers ist er end- und die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht lich in der finanz- und haushaltspolitischen Realität an- über die tatsächlichen Sachverhalte aufklären. gelangt. Dies bedeutet im Klartext, dass wir nach 2002, 2003, 2004, 2005 im Jahr 2006 ein fünftes Mal gegen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- europäisches Recht verstoßen werden. Wir werden zum neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Deswe- fünften Mal die Defizitgrenze des Maastricht-Vertrages gen haben Sie eine Nettoentlastung in der nicht einhalten – eine Folge rot-grüner Politik, eine Steuerpolitik, damit die Schulden weiter wach- Folge der Politik des Finanzministers Hans Eichel. sen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16729

Dr. Michael Meister (A) Herr Poß, Sie haben im Jahr 2005 ein strukturelles Defi- Haushalt 2006 vorzulegen. Sie versuchen, sich aus der (C) zit Verantwortung zu stehlen. (Joachim Poß [SPD]: Wie wollen Sie Ihre Wir fordern Sie auf: Legen Sie endlich den Kopfpauschale finanzieren? Wie wollen Sie Haushalt 2006 vor, beschließen Sie den Entwurf im Ka- Ihre Steuersenkungen finanzieren?) binett im Bundeshaushalt von rund 60 Milliarden Euro. Das ist (Joachim Poß [SPD]: Sie stehen doch für diese Ihr Defizit, 60 Milliarden Euro in einem einzigen Jahr. verantwortungslose Politik!) Sie haben 22 Milliarden Euro Neuverschuldung ausge- wiesen. Sie haben eine Finanzierungslücke, die jetzt of- und beraten Sie ihn so, wie sich das gehört! Es ist das fen gelegt worden ist, in Höhe von 17 Milliarden Euro. vornehmste Recht des Parlaments, den Haushaltsentwurf Ich nenne die Stichworte Rente, Bundesbank, Steuer- in einem geordneten Verfahren zu diskutieren. schätzung, Hartz IV und Arbeitsmarktausgaben. An all diese Ziele und an Ihre damaligen Verspre- (Walter Schöler [SPD]: Das ist exakt Ihre chungen werden Sie heute sicherlich nicht gerne erin- Blockade!) nert. Das ist verständlich; denn Sie sind von der Realität Ihrer eigenen Finanzpolitik überholt worden. Schulden, Sie haben Privatisierungserlöse von rund 22 Milliarden Schulden, Schulden – das ist das Ergebnis von Hans Euro. Wenn Sie das addieren, dann ergibt das ein struk- Eichel. turelles Defizit von 60 Milliarden Euro. Darauf muss von Ihnen eine Antwort kommen und sie muss lauten: (Walter Schöler [SPD]: 16 Jahre Unionspoli- Nicht einfach jedes Jahr neue Schulden machen. tik! – Elke Ferner [SPD]: Gucken Sie sich ein- mal die Bilanz von Herrn Waigel an!) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sind von einem ausgeglichenen Bundeshaushalt so Ich darf Sie daran erinnern, wie Sie 1998 gestartet weit entfernt wie von Ihrem Ziel, die Zahl der Arbeitslo- sind. Es wird einem Oppositionskollegen ja gestattet sen zu halbieren. sein, in Ihre Koalitionsvereinbarung vom 20. Okto- ber 1998 zu blicken. Ich darf zitieren: Jetzt stellt der Bundesfinanzminister fest, die Union sei an dem Desaster schuld. Ich will diesen Vorwurf auf- Solide Staatsfinanzen sind eine unverzichtbare greifen, weil er falsch und irreführend ist. Die Union hat Grundlage für neue Arbeitsplätze, in staatspolitischer Verantwortung den Subventions- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stimmt!) abbau im Deutschen Bundestag und im Bundesrat mit- getragen. (B) für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung (D) und für soziale Stabilität … (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbstgefällig ist das! Unehrlich!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stimmt!) Wir haben die steuerlichen Subventionen um 12 Prozent Wir wollen die Schuldenanhäufung zu Lasten künf- gekürzt. Wir haben die Eigenheimzulage um 30 Prozent tiger Generationen verringern. zurückgeführt. Außerdem haben wir bei den haushalts- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Richtig!) wirksamen Subventionstatbeständen Kürzungen in Höhe von jeweils 4 Prozent über drei Jahre vorgenommen. Was ist aus dieser Ankündigung vom 20. Oktober 1998 Das ist mit unserer Mitwirkung und Zustimmung ge- bei Ihnen geworden? schehen. Ich glaube, es gab in der deutschen Geschichte (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nichts!) noch nie einen Subventionsabbau mit einem ähnlichen Volumen, einen Subventionsabbau, der von der Opposi- Das krasse Gegenteil. tion in Verantwortung gegenüber dem Land mitgetragen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. worden ist. Jürgen Koppelin [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU – Walter Schöler Aber Sie, Herr Poß, und Sie, Herr Eichel, haben nicht [SPD]: Das reicht alles nicht! Sie sagen doch nur eine Wahlperiode regiert, es gibt ja noch eine zweite selber: Das reicht alles nicht!) Koalitionsvereinbarung, aus dem Jahr 2002. Auch da- Was wir allerdings verhindert haben, waren Ihre Steu- raus darf ich zitieren: ererhöhungspläne im so genannten Steuervergünsti- Bis 2006 werden wir einen Bundeshaushalt ohne gungsabbaugesetz. Damit wollten Sie isoliert die steuer- neue Schulden vorlegen. liche Bemessungsgrundlage verbreitern. (Lachen bei der CDU/CSU) (Walter Schöler [SPD]: Dafür wollen Sie die Mehrwertsteuer erhöhen!) Solide Finanzen sind ein elementares Gebot der Ge- nerationengerechtigkeit und unerlässlich für ein Alles, was Sie zurzeit in der Diskussion aufgreifen, war nachhaltiges Wachstum von Wirtschaft und Be- in Ihrem Steuervergünstigungsabbaugesetz vorgesehen, schäftigung gerade auch für die private Wirtschaft. ohne dass beim Einkommensteuertarif eine Entlastung erfolgt wäre. Was Sie hier betreiben, ist doch Heuchelei! Nun versuchen Sie nicht, einen Haushalt 2006 ohne Schulden vorzulegen, sondern Sie versuchen, keinen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 16730 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Dr. Michael Meister (A) Wir waren der Auffassung, zu reinen Steuererhöhun- Beleidigungen noch ablesen, ist eine Frech- (C) gen und Mehrbelastungen der Menschen an dieser Stelle heit!) Nein zu sagen, weil sich sonst – das haben uns damals – Sehr geehrter Herr Poß, Sie können das alles mit Si- alle Fachleute bestätigt – das wirtschaftliche Wachstum cherheit besser. und die Beschäftigungssituation noch schlechter entwi- ckelt hätten, als es jetzt der Fall ist. Deshalb sollten Herr (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Der Poß ist nicht Eichel und die Bundesregierung uns nicht kritisieren; sie umsonst nichts geworden! Er kann es nicht sollten sich vielmehr dafür bedanken, dass die Opposi- besser!) tion dafür gesorgt hat, dass dieses Land nicht noch Aber der Finanzminister ist zu einem Getriebenen im schlechter dasteht, als es unter dieser Regierung ohnehin Endzeitkabinett Schröder geworden. der Fall ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir fragen uns: Warum handeln Sie eigentlich nicht? Wir verfolgen eine relativ einfache Linie, um zu ent- Wir fordern Sie auf, zu handeln. Wir verlangen von Ih- scheiden, was wir mittragen: Das, was für Wachstum nen erstens eine sofortige Haushaltssperre zur Senkung und Beschäftigung gut ist, trägt die Union mit und zu des allgemeinen Staatsverbrauchs. Es gibt keinen Grund, dem, was dafür schädlich ist, sagen wir Nein. An dieser das Land weiter in die Schulden treiben zu lassen. Messlatte werden wir unsere Politik hinsichtlich des Haushalts, der Steuern und in anderen Bereichen orien- Zweitens fordern wir Sie auf, unverzüglich einen tieren. Nachtragshaushalt 2005 in den Deutschen Bundestag einzubringen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Sie suchen allerdings die Schuld für das Desaster, in das Sie Deutschland hineingeführt haben, nie bei sich der die voraussichtlichen Einnahmen und Ausgaben für selbst. Sie suchen stattdessen die Verantwortung immer das laufende Jahr und auch die Neuverschuldung wahr- bei anderen. heitsgemäß und realistisch abbildet. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und zwar Sie sind besonders glaubwürdig!) ehrlich!) Jetzt wird von Ihrer Seite sogar versucht, die europäi- Denn nur auf dieser Grundlage können wir Maßnahmen sche Währungsunion als Sündenbock für die anhal- ergreifen, um dagegen anzugehen. tende Wachstumsschwäche in Deutschland verantwort- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) lich zu machen. Handeln Sie endlich, Herr Bundesfinanzminister! (Hans Eichel, Bundesminister: Quatsch!) Schauen Sie nicht zu, wie das Land weiter in die Schul- Sie versuchen auf billige Art und Weise, von den wahren den treibt! Werden Sie Ihrer Verantwortung an dieser Problemen in unserem Land abzulenken, Stelle gerecht! Sie sind in der Regierung. Wenn Sie der Verantwortung nicht gerecht werden können, dann treten (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da werden Sie heute zurück! Warten Sie nicht noch einige Wochen Legenden gestrickt!) oder Monate, sondern beenden Sie Ihre Arbeit heute an ohne den Menschen zu sagen, welche Kosten mit dem dieser Stelle! diskutierten Austritt aus dem Euro verbunden wären. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Weitere Wachstumseinbrüche und Arbeitsplatzverluste neten der FDP) sowie die Gefährdung von Arbeitsplätzen in Deutsch- land sind die möglichen Folgen der von Ihnen entfachten Drittens verlangen wir die Vorlage des Bundeshaus- Diskussion. Sie schaden unserer Volkswirtschaft. Hören halts 2006 und eine ordentliche Beratung im September Sie endlich auf, weiteren Schaden zu verursachen! Spie- dieses Jahres hier im Deutschen Bundestag. len Sie nicht mit den Menschen, sondern kehren Sie zur Viertens ist ein Haushaltssicherungsgesetz notwen- Wahrheit und zu einer verlässlichen Politik zurück! dig, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Eine Schluss- Jürgen Koppelin [FDP]) bilanz!) Die Wahrheit ist: Ihre Politik ist gescheitert. Sie sind ge- um tatsächlich Einsparungen auf der Ausgabenseite des scheitert, Herr Bundesfinanzminister. Sie sind vom Bundeshaushaltes vornehmen zu können. „Spar-Hans“ zum „Schulden-Hans“ geworden. Der Bun- desfinanzminister ist zu einer Karikatur seiner selbst ge- (Elke Ferner [SPD]: Was wollen Sie denn worden: ein Finanzminister, der vollmundig angetreten jetzt? Wollen Sie weniger oder mehr ausge- ist, dem aber Gestaltungskraft und ordnungspolitische ben?) Fundierung fehlt und der schrittweise sein Versagen ein- Deutschland kann es besser. Die Arbeitnehmer und gestehen muss. Unternehmer in diesem Land können es besser. Es ist (Joachim Poß [SPD]: Die Beleidigungen diese Bundesregierung, die für die katastrophale Ent- könnten Sie aber frei formulieren! Dass Sie die wicklung verantwortlich ist, die eine eigene Leistung, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16731

Dr. Michael Meister (A) eine Eigenanstrengung der Menschen hemmt. Sie, meine Präsident Wolfgang Thierse: (C) Damen und Herren auf der Regierungsbank, sind verant- Ich erteile das Wort Bundesminister Hans Eichel. wortlich für die hohe Arbeitslosigkeit und die drama- tisch steigende Staatsverschuldung. Sie sind auch dafür Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: verantwortlich, dass nicht längst die notwendigen Struk- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und turreformen in diesem Land angepackt worden sind, die Herren! Zunächst eine Bemerkung zu Ihnen, Herr dazu führen würden, das strukturelle Defizit im Haushalt Meister: Normalerweise schätze ich Sie, wie Sie wissen, endlich zurückzuführen und zu begrenzen. als einen sachlichen Mann. Es fehlt Ihnen an Reformen im Arbeitsmarkt. Dazu (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das war doch al- hatten wir Ihnen im „Pakt für Deutschland“ einen Vor- les sachlich! Das ist die Wahrheit! – Gegenruf schlag gemacht. der Abg. Elke Ferner [SPD]: Haben Sie was (Elke Ferner [SPD]: Klasse! – Walter Schöler mit den Ohren, oder was? – Steffen Kampeter [SPD]: Sehr gut!) [CDU/CSU]: Das war ein sehr guter Redebei- trag!) Wir haben Ihnen Vorschläge zur Reform des Gesund- – Was haben Sie für ein Durcheinander? heitswesens, zur Reform des Rentensystems, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir haben (Elke Ferner [SPD]: 23 Milliarden Euro!) kein Durcheinander! Sie haben eine intellektu- zum Thema Bürokratieabbau, zur Vereinfachung des elle Blockade!) Planungsrechts und zur Vereinfachung des Steuerrechts Nach dieser Rede muss ich Ihnen allerdings sagen: Es gemacht. Zu all diesen Themen gibt es in Anträgen und war weit unter Ihrem Niveau, Gesetzentwürfen von unserer Seite Vorschläge. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Joachim Poß [SPD]: Alles ungerecht und un- DIE GRÜNEN) finanzierbar!) das Thema Währungsunion und Euro in der Weise zu be- Aber Sie sind nicht handlungsfähig. Sie sind innerlich handeln, wie Sie es hier gemacht haben. zerstritten. Sie wissen nicht, wohin Sie das Land hinfüh- ren wollen, und sind deshalb nicht in der Lage, dieses (Joachim Poß [SPD]: Unverantwortlich!) Land ordentlich zu regieren, meine Damen und Herren. Panikmache aufgrund eines Zeitungsberichts, an dem (Beifall bei der CDU/CSU) nichts dran ist – Sie konnten genau nachlesen, was die (B) Bundesbank dazu erklärt hat und was ich dazu gesagt (D) Deshalb müssen Sie sich die Arbeitslosen und die Staats- habe –, ist unverantwortlich. Das ist tatsächlich die Art, verschuldung anrechnen lassen und können nicht auf die wie die Opposition in diesem Hause vielfach argumen- Opposition verweisen. Die Menschen in unserem Land tiert. haben eine bessere Regierung verdient, eine Regierung, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die die Lösung der Probleme aufzeigt und nicht hilflos, DIE GRÜNEN) kopflos und ratlos agiert. An dem Bericht ist nichts dran und deswegen weise ich Meine Damen und Herren, mit der Ankündigung, Ihre Vorwürfe mit Nachdruck zurück. Das ist kein Neuwahlen herbeiführen zu wollen, gesteht Bundes- Niveau, auf dem man eine Debatte führen kann, Herr kanzler Schröder das endgültige Scheitern seiner Regie- Meister. rung ein. Er gesteht die innere Zerrissenheit der Koali- tionsfraktionen ein. Er gesteht ein, dass Rot-Grün auf die (Franz Müntefering [SPD]: Wohl wahr!) drängenden Fragen der Zeit und auf die Herausforderun- Nun komme ich zum Haushalt. Ja, ich habe gesagt: gen keine Antworten hat. Sie haben kein Zukunftspro- Die Haushaltslage ist dramatisch oder äußerst prekär. gramm und verteidigen lediglich das bisher Erreichte. Die Wortwahl von Herrn Kampeter lautete: Sie ist ka- Das reicht nicht bei 6,5 Millionen Arbeitslosen. Es sind tastrophal. nämlich nicht nur die in der öffentlichen Statistik erfass- ten Menschen ohne Beschäftigung, sondern auch dieje- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Grauenhaft!) nigen, die an Arbeitsmarktmaßnahmen teilnehmen. Ich will darüber nicht streiten, sondern ich will zunächst Deshalb wäre es gut für Deutschland, wenn das Land nur auf eines hinweisen: Die Haushaltslage ist drama- eine neue Regierung bekäme. Diese rot-grüne Regierung tisch, nicht nur beim Bund, sondern beim Gesamtstaat. hat versagt. Sie sind nicht regierungsfähig. Aber Sie sind der absolut falsche Ankläger in dieser Frage, meine Damen und Herren. (Joachim Poß [SPD]: Was haben Sie denn ei- gentlich zum Thema zu sagen?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir bieten eine Alternative und deshalb werben wir um das Vertrauen der Menschen in Deutschland. Sie haben es in 16 Jahren im Jahresdurchschnitt auf 36,4 Milliarden neue Bundesschulden gebracht. Danke schön. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und die Wie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dervereinigung?) 16732 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Bundesminister Hans Eichel (A) Wir haben hingegen in sechs oder meinetwegen in sie- man die Inflationsrate berücksichtigt, dann bedeutet das (C) ben Jahren – wenn Sie das siebte, das noch nicht abge- sogar, dass es beim Bund einen realen Rückgang der öf- schlossen ist, hinzuzählen wollen – insgesamt fentlichen Ausgaben gegeben hat. Dabei sind noch – das 160 Milliarden neue Schulden gemacht. Das sind im ist wahr – die viel höheren Kosten für den Arbeitsmarkt Durchschnitt rund 23 Milliarden pro Jahr, während Sie wegen der stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung in 16 Jahren jedes Jahr 36,4 Milliarden neue Schulden und die höheren Kosten für die Rentenversicherung gemacht haben. Das wollen wir einmal festhalten. Sie – das hat etwas mit der demographischen Entwicklung sind nicht diejenigen, die wissen, wie man die Staats- zu tun – zu berücksichtigen. Überall sind die Ausgaben finanzen in Ordnung bringt. – einzige Ausnahme ist der Bereich Bildung und For- schung; das haben wir ganz bewusst so gemacht – nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nur real, sondern auch nominal drastisch zurückgefahren DIE GRÜNEN) worden, sodass der Sachverständigenrat in seiner Be- Sie sind aber sehr wohl diejenigen, die wissen, wie man wertung zu dem Ergebnis kommt, auf keinen Fall könne die Staatsfinanzen durch Verweigerungshaltung durchei- bestritten werden, dass wir ausgabenseitig konsolidiert nander bringt. hätten. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Finanzhil- fen. Nun will ich ganz genau sagen, wie die Lage in die- sem Jahr ist. Das Ergebnis der Steuerschätzung bedeu- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tet im Vergleich zum Haushaltsvoranschlag ein neues DIE GRÜNEN) Risiko in Höhe von 3,8 Milliarden Euro. Wir haben im Eine Hilfe waren Sie mir dabei nie. Ich erinnere mich Hinblick auf den Arbeitsmarkt – der Wirtschaftsminister noch gut: Als wir 1999 das 30-Milliarden-DM-Paket auf ist hier möglicherweise ein bisschen optimistischer als den Weg gebracht haben und ich vorgeschlagen habe, ich – mit einem zusätzlichen Risiko in Höhe von unter anderem die Beamtengehälter für eine bestimmte 7 Milliarden bis 8 Milliarden Euro zu rechnen. Wir ha- Zeit einzufrieren, sind es die von Ihnen regierten Länder, ben außerdem einen niedrigeren Bundesbankgewinn zu die die Hauptnutznießer dieser Maßnahme gewesen wä- verzeichnen. Wenn ich die positiven Entwicklungen ren, gewesen, die mir das im Bundesrat kaputtgemacht berücksichtige und beispielsweise die höheren Dividen- haben. So sieht einer Ihrer Beiträge zur Konsolidierung deneinnahmen und die Schuldenrückzahlungen etwa von der öffentlichen Haushalte aus. Nur Lobbypolitik! Polen gegenrechne, dann stelle ich fest, dass wir in die- sem Jahr ein zusätzliches Risiko in Höhe von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 10 Milliarden bis 12 Milliarden Euro zu verkraften ha- DIE GRÜNEN) ben. (B) Zu den Leistungsgesetzen. Dazu möchte ich von (D) Noch ein Wort zu Hartz IV. Sie haben hier alles mit Ihnen Genaueres erfahren; das wollen wir einmal beschlossen und sich anschließend in die Büsche ge- durchbuchstabieren. Was haben wir denn in der Renten- schlagen. Die unionsgeführten Länder lehnen nun eine versicherung gemacht? Wir haben einen Nachhaltig- Revisionsklausel ab, obwohl die Kosten für die Unter- keitsfaktor eingeführt. kunft – alles spricht dafür, dass das stimmt – wesentlich (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Aber erst, nach- geringer ausfallen. Dabei geht es um eine Entlastung für dem ihr unseren Faktor abgeschafft habt!) den Bundeshaushalt in Höhe von 2,4 Milliarden Euro. Angesichts dessen müssen Sie sich fragen lassen, ob das Wir haben außerdem für eine Nullrunde bei der Rente der richtige Umgang zwischen Bund und Ländern in ei- gesorgt. nem föderalen Staat ist. Ich jedenfalls halte das für nicht akzeptabel. (Zurufe von der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Rechnen Sie das doch nach! Sie wissen ganz genau des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – das ist leider wahr –, dass unser Nachhaltigkeitsfaktor viel härter ist als Ihr demographischer Faktor. Das ist der Damit die Bedingungen ganz klar sind: Einen Nach- schlichte Sachverhalt. tragshaushalt werde ich nicht vorlegen. Das werde ich Ihnen gleich begründen. Ich werde die hier entstehenden Wir haben des Weiteren die Betriebsrenten dem vol- Probleme durch Einmalmaßnahmen und notfalls durch len Krankenversicherungsbeitrag unterworfen und den die Inanspruchnahme von Restkreditermächtigungen be- vollen Pflegeversicherungsbeitrag von den Rentnern herrschen können. verlangt. Das alles sind Dinge, die zwar keinen Spaß ge- macht haben, die aber unvermeidbar waren. (Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Wenn man hinnimmt, dass die demographischen Ver- – Jawohl, Herr Koppelin, ich werde gleich präzise darü- änderungen nicht in den ökonomischen Rahmenbedin- ber reden, was Sie alles nicht tun. Was wollen Sie jetzt gungen abgebildet werden – sie haben das 16 Jahre lang eigentlich? getan –, dann ist eine solche Situation der sozialen Sicherungssysteme die Folge. Wir mussten so handeln, Ich weise darauf hin, dass wir auf der Ausgabenseite nicht weil wir unsozial sind, sondern gerade weil wir so- in einem bisher nicht gekannten Maße konsolidiert ha- zial sind. ben. Wir haben seit 1999 ein durchschnittliches Ausga- benwachstum in Höhe von 0,4 Prozent pro Jahr. Wenn (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16733

Bundesminister Hans Eichel (A) Mit jedem weiteren Jahr, das man wartet – das sage ich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) auch in Richtung ganz anderer –, würden die Probleme des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nur größer. Es stellt sich die Frage: Was bleibt eigentlich übrig? Was hat unsere Gesundheitsreform gebracht? Die Eine Menge! Ganz unwahr ist, dass wir nichts gemacht Wahrheit ist: Für viele Versicherte werden Leistungen hätten. Herr Dr. Meister, ich komme jetzt zum Subven- des Gesundheitssystems ab dem 1. Juli noch einmal teu- tionsabbau. Sie schieben immer die Kleckerbeträge, bei rer werden. Herr Fricke, es tut mir sehr Leid, dass Kos- denen Sie mitgemacht haben, vor, verschweigen aber, tendämpfung durch mehr Wettbewerb aufseiten der wie viele große Vorhaben Sie verhindert haben, und Leistungserbringer – das ist eine zentrale Frage – auf der zwar systematisch und seit Beginn dieser Wahlperiode. Strecke geblieben ist. Dafür sind Sie verantwortlich. Das wissen Sie so gut wie ich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Zum Beispiel Kohle!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Darauf komme ich zu sprechen; da können Sie ganz si- cher sein. Was Hartz IV angeht, sind einige von Ihnen schon Ich habe in der Zeitung gelesen, Herr Röttgen habe wieder dabei, umfangreiche Nachbesserungen zu for- gesagt, es werde zum Inhalt des Programms, das Sie am dern. Der Wirtschaftsminister hat darauf hingewiesen: 11. Juli vorlegen wollen, gehören, die gegenwärtige fi- Wir werden über die neu entstandenen Missbrauchstat- nanzielle und ökonomische Lage des Landes und die bestände in der Praxis reden müssen. Es gilt, zu klären, Verantwortung dafür uneingeschränkt darzustellen, weil warum wir plötzlich so viele Bedarfsgemeinschaften ha- sich die Legitimation für den Neuanfang und die Not- ben. Das kann so nicht sein. Ich möchte einmal wissen, wendigkeit der ersten Schritte der neuen Regierung erst was die von der CDU regierten Kommunen bei der Um- daraus ergäben. Hervorragend! setzung dieses Gesetzes eigentlich machen. Darüber wird zu reden sein und da schlagen Sie sich in die Bü- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – sche. Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Dabei kommen Sie nicht ganz gut weg!) Wenn Sie Eingriffe in Leistungsgesetze – sie würden in diesem Jahr übrigens gar keine Auswirkungen haben; Ich erwarte also, dass in Ihrem Programm, das Sie am insofern ist das ein völlig untauglicher Beitrag zur Haus- 11. Juli vorlegen wollen, steht: Ja, wir übernehmen die haltssituation dieses Jahres – wollen, dann nennen Sie Verantwortung doch bitte Ross und Reiter. Im Moment sind Sie diesbe- (B) züglich absolut sprachlos. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Für den (D) Neuanfang!) Ich kann Ihnen sagen, wo Geld zu holen ist – wenn man das überhaupt will. Vieles ist verfügt: im Etat des dafür, dass wir seit Ende 2002 systematisch blockiert ha- Verkehrsministeriums bei den Verkehrsinvestitionen, im ben, dass Jahr für Jahr steuerliche Subventionen in Höhe Etat des Verteidigungsministeriums bei den Beschaffun- von 17,5 Milliarden Euro – insgesamt war der Abbau gen, im Etat des Ministeriums für Bildung und For- von Subventionen in Höhe von 26 Milliarden Euro vor- schung und im Etat des Entwicklungshilfeministeriums. gesehen – abgebaut werden. Ich weiß ganz genau, was Sie sagten, wenn ich dort Kür- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zungen vornähme. Ich würde so aber nicht vorgehen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) weil es in dieser Phase konjunkturschädlich wäre. Ein solcher Schritt würde die Probleme vergrößern und nicht Das muss man dann ganz klar machen. Wenn Sie sich verringern. dem nicht stellen, dann sind Ihre sämtlichen Behauptun- gen, dass Sie die Verantwortlichkeiten in Ihrem Pro- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gramm offen legen wollen, hohles Gerede. In Wirklich- … Das zu erwartende gesamtwirtschaftliche Wachs- keit stehlen Sie sich davon. tum wird in erheblichem Umfang vom Export getra- Jetzt wollen wir einmal über Steuern reden. Wenn Sie gen sein, während das Wachstum der Inlandsnach- nicht in der Wirklichkeit ankommen – wir werden dage- frage zunächst noch dahinter zurückbleiben dürfte. gen kämpfen, dass der Wähler Ihnen sein Vertrauen Steuererhöhungen oder weitere drastische Ausga- schenkt –, dann werden Sie in der Tat keine wirklich- benkürzungen würden in dieser Situation die In- keitstauglichen Antworten geben können; das haben Sie landsnachfrage zu sehr dämpfen und damit die selber gesagt. Wachstumsdynamik beeinträchtigen und eine posi- tive Beschäftigungsentwicklung in Frage stellen. Wo sind wir mit der Steuerquote, meine sehr verehr- ten Damen und Herren? Wir sind mit der Steuerquote ge- Mit dieser Begründung haben Sie im Jahre 1997 einen genwärtig bei 20,1 Prozent. Damit liegen wir um Nachtragshaushalt abgelehnt. Damals erwarteten Sie ein 3 Prozent unter dem jahrzehntelangen Durchschnitt der Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent. Wir erwarten im alten Bundesrepublik. Augenblick ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent. Dennoch verlangen Sie solche Eingriffe. Wie unglaub- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne würdig ist Ihre Position?! Kastner) 16734 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Bundesminister Hans Eichel (A) Wir wollen festhalten: Das gilt auch für die Abgaben- Also: Sie wollten den Bund in die Grube fallen lassen. (C) quote. Ich zitiere wörtlich den Sachverständigenrat. Er Das wird, wenn Sie so weitermachen, auch gelingen. nennt die internationale Vergleichsquote für 2003: Aber die Länder liegen schon in der Grube – und Ihre Mit 21,5 Prozent wies Deutschland im Jahr 2003 im eigenen Länder zuallererst, meine Damen und Herren. internationalen Vergleich eine der niedrigsten und in der Europäischen Union sogar die niedrigste ge- (Beifall bei der SPD) samtwirtschaftliche Steuerquote auf … Nie zuvor Was ist das für eine Politik: die eigenen Ministerpräsi- in der Geschichte der Bundesrepublik waren Ein- denten dazu zu zwingen, ihre Finanzen zu ruinieren, da- gangssteuersatz … und Spitzensteuersatz … der mit man die Sozialdemokraten und die rot-grüne Koali- Einkommensteuer so niedrig; auch im europäischen tion im Bund los wird? Das ist unverantwortlich. Vergleich sind die Einkommensteuersätze eher mo- derat. Aus diesen Zahlen kann für sich genommen (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/ weder die Notwendigkeit einer generellen Steuer- CSU]: Das ist dummes Geschwätz!) senkung abgeleitet noch auf eine unzureichende Das ist Ihr Beitrag zur Föderalismusdebatte. steuerliche Attraktivität des Standorts Deutschland geschlossen werden. Dies gilt auch, wenn die ge- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wer hat sie samtwirtschaftliche Abgabenquote als Summe von denn scheitern lassen? Herr Müntefering hat Steuerquote und Sozialabgabenquote betrachtet die Arbeit aufgegeben!) wird. Hier liegt Deutschland mit 36,2 Prozent im Was machen denn die Länder? Sie machen dasselbe europäischen Mittelfeld. wie ich. Ich habe – das ist ja richtig, Herr Meister – in Mit anderen Worten: Wenn Sie sich nicht dem Sach- hohem Maße Privatisierungserlöse zur Finanzierung verhalt öffnen, dass es eine weitere Steuerentlastung des Haushalts eingesetzt. Das habe ich nie gewollt; das nicht mehr geben kann und dass wir eine Verbesserung ist nicht die Finanzpolitik, die ich mir vorgestellt habe. der Einnahmesituation des Staates durch Subventions- Wir wollten – darüber gab es keinen Streit – privatisie- abbau brauchen, sind Sie nicht wirklichkeitstauglich. ren; aber wir wollten die Erlöse einsetzen, um damit alte Schulden abzubauen, nicht zur laufenden Finanzierung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des Haushalts. DIE GRÜNEN) Was passiert nun in diesem Lande? Das wissen übrigens viele. (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Sie sind geschei- Was war denn die Strategie? Das wollen wir einmal tert! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU) (B) richtig auskämpfen. Von dem Augenblick an, als ich das (D) Gesetz zum Abbau von Steuervergünstigungen einge- In Niedersachsen zum Beispiel gibt es Privatisierungen bracht habe – beim Haushaltsbegleitgesetz für den Haus- in großem Umfang. halt 2004 war es später ganz genauso –, war Ihre Strate- gie: Wir lassen den Bund mit unserer Mehrheit im (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Reden Sie Bundesrat in die Grube fallen. Dann werden wir sehen, doch einmal über sich und Ihre Politik!) dass die anderen kaputtgehen, und wir kommen wieder – Hören Sie doch auf! Wenn die Länder keine Verant- dran. – Das war Ihre Strategie vom ersten Tag der neuen wortung für ihre Politik übernehmen müssen, geben Sie Wahlperiode an. den Föderalismus an der Garderobe ab. So ist es doch. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sie haben aber eines übersehen: Die CDU-geführten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Länder liegen längst in der Grube. Herrn Koch und Entweder haben Sie eine Verantwortung – dann nehmen Herrn Wulff steht das Wasser doch längst Oberkante Un- Sie sie wahr! –, oder Sie haben keine Verantwortung; terlippe. Sie sollten den Mund nicht so weit aufreißen, dann muss man das System ändern. weil sonst das Wasser hineinschwappt. Das ist die Wirk- lichkeit. Hessen – der Ministerpräsident dort wurde auch ein- mal als Kanzlerkandidat genannt – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Oh je!) Hessen hat einen verfassungswidrigen Haushalt auf- plant allein in diesem Jahr mit Einnahmen in Höhe von gestellt. Herr Wulff tritt mit seiner Regierung an und er- 850 Millionen Euro aus der Veräußerung von Behörden- klärt, er werde in der ganzen Wahlperiode keinen verfas- bauten, die dann zurückgemietet werden. Zum Beispiel sungsgemäßen Haushalt vorlegen. Das Saarland, wird das Finanzministerium verkauft. Vielleicht fällt Ih- Bremen und Berlin haben keinen verfassungsgemäßen nen so etwas auch noch ein. Verkaufen und zurückmie- Haushalt. Nach der Steuerschätzung sind jetzt insgesamt ten – das bedeutet eine Verdoppelung der Kosten in der zehn Länder nach ihren Finanzplänen in der Verfas- Zukunft und nur noch von der Substanz leben! Das ist sungswidrigkeit. Es kann allerdings sein, dass es das ungefähr so, als wenn jemand – das versteht jeder – sein eine oder andere Land noch irgendwie schafft, die Ver- Häuschen verkauft und den Verkaufserlös für Konsum fassungswidrigkeit für dieses Jahr durch Bewirtschaf- einsetzt. Im Gegensatz zu vorher, als er das Häuschen tung zu vermeiden. noch hatte, muss er jetzt Miete zahlen, aber das Geld ist Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16735

Bundesminister Hans Eichel (A) weg. Da weiß man genau, wann das zu Ende geht. Das Es gehe nicht um die Aufreihung einzelner Aktionen, (C) kann überhaupt nicht gut gehen. um die jeweils davon betroffenen Lobbygruppen zu mo- bilisieren, sagte Röttgen. Es werde darauf ankommen, (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Das ist Verständnis für Strukturveränderungen zu wecken, die Politik Eichel! – [CDU/CSU]: Das ist Ihre Politik!) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Genau!) – Das ist nicht meine Politik! Darauf komme ich noch etwa für die Abkopplung der Sozialkosten vom Lohn, einmal zu sprechen. statt Hysterie über einzelne Maßnahmen zu erzeugen. (Beifall bei der CDU/CSU) Baden-Württemberg: Die Zinseinnahmen bis 2017 werden auf 2005 und 2006 vorgezogen, damit Baden- Da bleibt nur noch eine Frage, verehrter Herr Württemberg noch eben einen verfassungsgemäßen Röttgen: Gibt es nun die Mehrwertsteuererhöhung in Ih- Haushalt darstellen kann. Bayern wird uns erzählen, im rem Programm, ja oder nein? Jahr 2006 werde es einen Haushalt ohne neue Schulden haben; nach der Verfassung ist das so. Wissen Sie, wie (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) man das da macht? Durch Privatisierungserlöse und Wird die Eigenheimzulage gestrichen, ja oder nein? durch Entnahmen aus Rücklagen, die aus alten Krediter- Wird die Pendlerpauschale drastisch eingeschränkt, ja mächtigungen gebildet worden sind. Das ist in anderen oder nein? Wird die Steuerfreiheit der Sonntags-, Feier- Ländern schon verboten. Das ist Ihre Finanzpolitik, tags- und Nachtarbeitszuschläge aufgehoben, ja oder meine Damen und Herren! Das macht Ihr künftiger Su- nein? Das ist die Frage nach der neuen Ehrlichkeit. perminister für Wirtschaft und Finanzen, wie ich in den Zeitungen lese! Ich habe eine Fülle von Vorschlägen unterbreitet. Die Koalition hat sie mitgetragen. (Beifall bei der SPD – Hans-Joachim Fuchtel (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Und was [CDU/CSU]: Jetzt mal zum Bund!) Sie jetzt machen, ist das Ergebnis!) Keine Angst! Alle Zahlen für dieses Jahr sind auf Wir haben eine Menge Prügel dafür eingesteckt, dass wir dem Tisch. Es kommen auch alle neuen Zahlen auf den gesagt haben: In der Verantwortung für dieses Land Tisch. Der Herr Söder meint, man müsse noch einen müssen wir solche unpopulären Maßnahmen treffen. – Kassensturz machen. So etwas Ähnliches habe ich auch Sie waren immer dagegen. Jetzt, da Sie glauben, Sie von Frau Merkel gelesen. Die sind wohl nicht à jour. könnten im Herbst die Regierung stellen – ich wäre an Herr Stratthaus sieht das ganz anders und sagt: Wir brau- (B) Ihrer Stelle vorsichtig –, treten die einen auf, die vertu- (D) chen keinen. Wir kennen alle Zahlen. schen wollen, weil sie sich sagen: „Dann kommen wir (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Legen Sie besser bis zur Wahl“, und die anderen, die der Meinung doch einen Haushaltsentwurf vor, wenn Sie sind, es geht gar nicht weiter. Aber diejenigen, die wirk- die Zahlen kennen!) lich Verantwortung für ihr Land haben, die Ministerprä- sidenten, wollen es genauso geklärt wissen wie die ande- Das ist auch richtig. Ich habe nämlich eingeführt, dass ren, die Angst um ihre Wahlaussichten haben. Sie jeden Monat in den Monatsberichten des Bundesfinanz- werden das klären müssen. ministeriums genau der Status, jeweils im Vergleich zum (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Wir Vormonat, veröffentlicht wird. Dreimal im Jahr gibt es werden das auch klären!) unsere Prognose, die auch veröffentlicht wird. Das ist der schlichte Sachverhalt. Unsere Antworten, etwa zum Subventionsabbau, so unpopulär sie auch sind, liegen auf dem Tisch. Es gibt (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Aber nichts, verehrter Herr Röttgen, was nicht von Lobby- keinen Haushaltsentwurf 2006!) gruppen bekämpft werden wird. Das ist die Wahrheit. Meine Damen und Herren, was Sie durch Ihre Blo- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Legen Sie ckademehrheit im Bundesrat angerichtet haben, wird Ih- mal einen Haushalt vor!) nen selber auf die Füße fallen. Sie haben sich immer dahinter gestellt. Mit der 17-Mil- Da bleibt nur noch die Frage: Was ist denn nun ei- liarden-Blockade sind Sie für die Probleme, die wir ha- gentlich mit der neuen Ehrlichkeit? Herr Glos wurde ben, mit verantwortlich. Das ist nicht das Problem allein, schon zitiert. Das war nun wirklich eine der schönsten aber es ist Ihr Beitrag dazu. Darüber wird zu reden sein. Veranstaltungen, die wir erlebt haben. Aber ich habe (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall noch etwas anderes gelesen, wieder von Herrn Röttgen, beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ilse wieder zum Programm: Entscheidend sei überdies, dass Aigner [CDU/CSU]: Das war die Abschieds- sich das Programm nicht erschöpfen dürfe in der Auf- rede!) zählung einzelner Maßnahmen, sondern die programma- tischen Leitplanken der künftigen Regierungspolitik be- schreiben müsse. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin, FDP- (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Da hat er Recht!) Fraktion. 16736 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

(A) Jürgen Koppelin (FDP): finanzminister deutlich. Sie hatten natürlich auch einen (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorgänger, der Ihnen den Start leicht gemacht hat; das Herr Bundesminister, ich finde, Sie sind Ihrer Verant- war . wortung nicht gerecht geworden. Jedes Jahr sind aufgrund Ihrer Träumereien, Herr (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- Eichel, die Probleme größer geworden, auf der Einnah- derspruch des Abg. Jörg Tauss [SPD]) men- wie auf der Ausgabenseite. Wenn Sie jetzt schon Sie sind als Bundesfinanzminister vereidigt worden und keinen Nachtragshaushalt vorlegen wollen, sagen Sie haben eine Aufgabe übernommen. Sie hätten heute Stel- wenigstens etwas zu den gescheiterten Arbeitsmarkt- lung zu den Anträgen nehmen und eindeutig sagen müs- reformen und den geringen Bundesbankgewinnen und sen, warum Sie keinen Nachtragshaushalt vorlegen. dazu, dass die Reformen nicht greifen. Das liegt doch daran, dass sie handwerklich teilweise schlecht gemacht (Hans Eichel, Bundesminister: Das habe ich sind. Diese Probleme haben Sie doch geschaffen und doch getan!) nicht die Opposition. Dafür tragen auch Sie die Verant- wortung. Stattdessen beschimpfen Sie die Opposition. Ja, es ist wahr, dass man vielleicht über die eine oder (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten andere Frage sachlich diskutieren kann. Wir als FDP ha- der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Den ben zum Beispiel eine klare Meinung zur Mehrwert- Schwachsinn muss ich mir nun wirklich nicht steuer, in der Union wird darüber diskutiert. Aber, lieber anhören!) Herr Eichel, diese Probleme sind doch sehr gering zu – Frau Präsidentin, so eine Bemerkung, dazu noch neben den Problemen, die Sie in Ihrer eigenen Partei haben. dem Rednerpult, ist unmöglich. Ich wäre dankbar, wenn (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La- das gleich korrigiert würde. chen bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: – Ich weiß nicht, wer da gerade gelacht hat, aber es ist doch Tatsache, dass vor kurzem einer Ihrer ehemaligen Herr Kollege Tauss, es ist nicht gut, wenn Sie am Bundesvorsitzenden aus der Partei ausgetreten ist und Redner vorbeigehen und solch eine Bemerkung machen. ein anderer ehemaliger Bundesvorsitzender, Herr Es wäre gut, wenn Sie sich anschließend noch beim Red- Scharping, gestern groß mit Ihrer Partei abgerechnet hat. ner entschuldigen würden. Diese Probleme haben Sie. Also beschimpfen Sie nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – die Opposition, sondern kümmern Sie sich um Ihren ei- Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist ein Fle- (B) genen Laden. gel!) (D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das, was Sie hier gesagt haben, enthielt keinerlei Jürgen Koppelin (FDP): Stellungnahme zu der rot-grünen Haushaltspolitik, die Liebe Kolleginnen und Kollegen, statt Ausgaben zu wir hier Jahr für Jahr erlebt haben. Es war immer das senken, werden Steuern erhöht. Bei dieser Erhöhung Gleiche: erst zu optimistische Prognosen und dann zu werden dann auch noch handwerkliche Fehler gemacht. geringes Wachstum und zu geringe Steuereinnahmen. Ich erinnere nur an die Erhöhung der Tabaksteuer. Keine der Zahlen auf der Einnahmen- wie auf der Aus- Jedes Jahr hat Rot-Grün die gleiche Haushaltspolitik gabenseite hat gestimmt. Die Haushalte sind deshalb aus betrieben: Einnahmen geschönt, Ausgaben unterschätzt dem Ruder gelaufen, weil sie immer von rot-grünen und keinen Mut zu Einsparungen gezeigt. Herr Eichel, Träumereien geprägt waren. ich sage es Ihnen sehr direkt: Sie haben erst den Haus- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Leider wahr!) halt gegen die Wand gefahren, nun wollen Sie in diesen Tagen auch noch Fahrerflucht begehen. Genau das ha- Sie jedoch haben diese Träumereien für Wirklichkeit ge- ben Sie vor. halten. Das ist doch die Wahrheit. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Ach, Herr Koppelin!) Das Ergebnis Ihrer Politik ist, dass der Haushalt in eine Schieflage geraten ist. So beanspruchen die So- Herr Eichel, Sie sind am Ende. Das ist auch eine Erfah- zialausgaben und Zinsausgaben etwa 86 Prozent der rung, die Sie gemacht haben. Steuereinnahmen. Allein an Zinsausgaben ist für das (Jörg Tauss [SPD]: Das ist unter Ihrem Haushaltsjahr 2005 mit einer Größenordnung von circa Niveau!) 40 Milliarden Euro zu rechnen. Das heißt konkret, liebe Kolleginnen und Kollegen: Rund jeden fünften Euro, Sie mögen guten Willens gewesen sein, Sie sind aber am den die Bürgerinnen und Bürger an Steuern zahlen, muss Ende vom Bundeskanzler zum Buchhalter dieses Bun- der Bund für Zinsen bereitstellen. Das ist die Wirklich- deskabinetts degradiert worden. Sie konnten selber keit. nichts mehr gestalten. Das ist doch Ihr Problem. Ich bil- lige Ihnen zu, dass Sie wirklich guten Willens gewesen (Lothar Mark [SPD]: Wir haben 80 Milliarden sind. Das wird gerade an Ihren ersten Reden als Bundes- DM 1998 übernommen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16737

Jürgen Koppelin (A) Machen Sie sich einmal klar, lieber Kollege, was das für einmal auf: Wir haben zum Bundeshaushalt 2005 Spar- (C) kommende Generationen bedeutet – das Problem ist vorschläge gemacht, 437 Anträge mit Einsparungen in greifbar –: Würde der Bund jedes Jahr 10 Milliarden einem Umfang von circa 13 Milliarden Euro. Das sind Euro für die Tilgung alter Schulden einsetzen, wäre er keine Großprojekte, sondern viele einzelne kleine Maß- erst in circa 85 Jahren schuldenfrei. Das ist unsere au- nahmen. Wir haben Streichungen vorgenommen: bei den genblickliche Situation. Subventionen 20 Prozent, bei den Zuwendungen des Bundes 20 Prozent. All das muss gemacht werden. Das (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Was betrifft sogar – das sage ich sehr deutlich – unsere Klien- stammt denn aus Ihrer Regierungsverantwor- tel. Aber wenn alle gleichermaßen von 20 Prozent Kür- tung?) zungen betroffen werden, dann kann keiner jammern; Da muss man doch nun wirklich die Bremse ziehen, dann sind alle gleich behandelt. Da kann man sich nicht egal, wo man sitzt und wofür man Verantwortung trägt. einfach die Eigenheimzulage heraussuchen, sondern es muss überall das Gleiche gemacht werden. Die Probleme liegen doch auf der Hand: Bei Hartz IV – das wurde schon angesprochen – haben wir ein großes (Beifall bei der FDP) Minus; wir müssen mit 7 bis 8 Milliarden Euro rechnen. Das ist unser Ziel, um zu sparen. Die Steuereinnahmen vermindern sich. Die Bundesagen- tur für Arbeit braucht mehr Geld. Der Bundesbankge- Rot-Grün hat alle unsere Anträge abgelehnt. Kommen winn fällt nicht entsprechend aus. Die Einnahmen aus Sie jetzt nicht damit, dass wir nicht bereit gewesen wä- der Tabaksteuer fallen nicht so hoch aus wie geplant. Als ren, zu handeln und mit Ihnen im Sinne der Sache zu- wir Ihnen vorhersagten, dass das so kommen wird, sammenzuarbeiten. wurde das abgestritten. Für die Rentenversicherung wer- den Sie zusätzliches Geld brauchen. Das Sonderopfer Ich sage das auch mit Blick auf die Grünen, weil die Südostasien, das wir alle gewollt haben, ist noch nicht Kollegin Hajduk gleich spricht. Von den Grünen werden eindeutig finanziert. Die Beschlüsse aus dem Jobgipfel gerade zum Thema Haushalt immer Reden gehalten, de- sind noch nicht eindeutig finanziert usw. Die Liste ließe nen ich in manchem zustimmen könnte, weil das solide sich fortsetzen. Sie aber sagen, einen Nachtragshaushalt und vernünftig klingt. Wenn es aber um Entscheidungen bräuchten Sie nicht. Was ist denn das für eine Haushalts- ging, dann haben Sie immer dieser unsoliden Politik zu- politik, die Sie da machen? Es wäre doch ehrlich, zu sa- gestimmt. Liebe Kollegin Hajduk, da Sie gleich spre- gen, in welcher Situation wir uns befinden, und einen chen, sage ich es Ihnen sehr deutlich: Die Grünen haben Nachtragshaushalt vorzulegen. mit ihrem Marsch durch die Institutionen, wenn ich mich richtig erinnere, beim Oberbürgermeister Hans Eichel in Wir sind zwar auch für eine Haushaltssperre – das , der ersten rot-grünen Koalition in einer großen (B) sage ich an die Adresse der Kolleginnen und Kollegen Stadt, begonnen. Wissen Sie, wo Sie mit Ihrem Marsch (D) von der Union –, aber diese wird in dieser schwierigen durch die Institutionen gelandet sind? Beim Bundesfi- Situation längst nicht so viel bringen, wie wir brauchen. nanzminister Hans Eichel in seinem Schuldenstaat. (Otto Fricke [FDP]: Leider!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hoffentlich ist er damit zu Ende, Herr Kollege! Damit ist Gemacht werden muss das, aber allein auf diese Maß- er zu Ende!) nahme sollte man nicht setzen. Wir als FDP wollen eine Doppelstrategie, um den Insofern haben Sie die Pleite des Bundeshaushaltes mit Haushalt zu konsolidieren. Natürlich muss bei den Aus- zu verantworten. gaben gespart werden; daran geht kein Weg vorbei. Aber Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir brauchen, wir brauchen auch Reformen bei Steuern, Sozialversi- ist eine neue Politik; darum kommen wir nicht herum. cherung und Arbeitsmarkt. Nur so ist der Bundeshaus- halt zu konsolidieren. Das wird nicht von einem Jahr (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sehr wahr!) aufs andere funktionieren. Wir brauchen eine Politik, die sich der Verantwortung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten für kommende Generationen wieder bewusst ist, eine der CDU/CSU) Politik, die sich wieder darum kümmert, dass Arbeits- plätze geschaffen werden können, und vor allem, dass Wir haben Ihnen, Herr Eichel, immer die Zusammen- Arbeitsplätze erhalten bleiben. Deshalb sage ich für die arbeit angeboten. Das war nicht nur so gesagt. Sie haben FDP: Ein weiteres Drehen an der Steuer- und Abgaben- das Angebot leider ausgeschlagen. Gerade aufgrund der schraube wird es mit der FDP nicht geben; denn das be- Verantwortung, die wir in den Ländern tragen – jetzt ja deutet eine weitere Vernichtung von Arbeitsplätzen. Mit auch noch in Nordrhein-Westfalen, was wir natürlich be- der FDP in einer kommenden Regierung wird es das ge- grüßen –, wollten wir auch beim Bund solide Staats- ben, was Deutschland dringend braucht: eine Kehrt- finanzen und einen ausgeglichenen Haushalt erreichen. wende, eine Kehrtwende zu einem Staat, der seine Ver- Wir waren daran interessiert, weil das natürlich auf die antwortung für die Menschen in unserem Land kennt, Länder durchschlägt. Aber Sie haben unser Angebot ei- vor allem eine Kehrtwende zu einem Staat der Beschei- ner haushaltspolitischen Zusammenarbeit ausgeschla- denheit. gen. Vielen Dank. Die FDP hat sich nicht vom Weg abbringen lassen. Wir haben gehandelt; deshalb werfe ich das hier noch (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 16738 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es gibt zwar – das will ich nicht leugnen – weiterhin (C) Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Bündnis 90/ eine große strukturelle Lücke im Haushalt, aber man Die Grünen. muss sehen, dass wir trotz schwieriger wirtschaftlicher Situation die Ausgaben strikt konsolidiert haben. Verur- sacht wird die Lücke durch – das sagt jede Analyse – Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wegbleibende Steuereinnahmen und zusätzliche Ausga- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Herr ben für den Arbeitsmarkt aufgrund der Arbeitslosigkeit. Koppelin, Sie haben mich gerade direkt angesprochen; Sie haben gesagt, wo wir Grünen gestartet und wo wir (Zuruf von der CDU/CSU: Durch eine falsche gelandet sind. Ich will zum Anfang meines Redebeitrags Politik!) zur Haushaltssituation – in einer Situation, in der wir uns Ich werde auf den Bereich Arbeitsmarkt gleich noch zu- einem Wahlkampf und Neuwahlen nähern – allen deut- rückkommen. lich sagen: Keine Seite hier im Parlament hat angesichts der Situation, angesichts der Zahlen und Schwierigkei- Jetzt aber zunächst zu den Stichworten Mut und Ehr- ten, die Sie hier benennen, Grund, selbstgefällig zu sein, lichkeit – schließlich stehen wir jetzt vor einem kurzen, ausdrücklich auch Sie nicht. Denn wenn man in Ruhe aber vermutlich knackigen Wahlkampf –: Auch wir sind und mit inhaltlichem Interesse liest, wie begründet wird, der Meinung, dass diejenigen, die Regierungsverantwor- warum Deutschland in einer so schwierigen Lage ist, tung tragen, Vorschläge machen müssen. Wir haben dies dann stellt man fest, dass die wenigsten meinen, dass getan und dafür Mut und Konsequenz aufgebracht; das dies Rot-Grün zuzuschreiben sei. Vielmehr liest man: In hat Herr Eichel gerade noch einmal in Zahlen ausge- den 90er-Jahren, als es vor dem damaligen wirtschaftli- drückt. Wir haben uns bewusst der Kritik ausgesetzt, in- chen Hintergrund wichtig gewesen wäre, Reformthemen dem wir das Risiko eingegangen sind, Subventionsstrei- in Deutschland mutig anzupacken, haben Sie über einen chungen vorzuschlagen. Sie dagegen haben in diesem längeren Zeitraum versagt, als wir bislang überhaupt re- Punkt – Herr Meister hat vorhin davon gesprochen, man giert haben. brauche Mut in der Finanzpolitik – versagt. Sie mussten nicht die Verantwortung übernehmen, die Vorschläge (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Da war die Wie- erfunden zu haben, aber Sie hätten in der Verantwortung dervereinigung mit ihren Problemen!) vor der Situation der öffentlichen Haushalte, die Ihnen bekannt war, wenigstens sagen müssen: Wir blockieren Sie haben keinen Grund zur Selbstgefälligkeit. das nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD) (B) (D) Zu den Themen Mut und Offenheit werde ich gleich Fakt ist, dass Sie die öffentlichen Haushalte mit Ihrem noch ein paar sehr deutliche Worte sagen. Zuvor will ich Verhalten in die Enge getrieben haben; das Ganze macht einmal kurz beschreiben, was Rot-Grün in der Haus- einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag aus. Die halts- und Finanzpolitik seit 1998 gemacht hat. Folge ist nicht allein, dass der Bundeshaushalt ein Pro- blem hat, sondern dass fast allen Ländern die Puste aus- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Nichts geht. Wenn wir von Verantwortung reden und morali- Gutes!) sche Kategorien bedienen, dann frage ich Sie: Wiegen Wir haben die Steuern erheblich gesenkt. Dazu haben eigentlich Schulden in den Länderhaushalten für die wir auch die Zustimmung im Bundesrat erwirkt. nachfolgenden Generationen minder schwer als Schul- den im Bundeshaushalt? Was maßen Sie sich eigentlich (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt stehen an, nicht den Zusammenhang zu sehen, was Ihre Blocka- Sie plötzlich zu den Körperschaftsteuerausfäl- depolitik den zukünftigen Generationen zumutet und len?) was der Reformstau in diesem Land an dieser Stelle lei- der bewirkt? Ich weiß, dass Sie teilweise mit geballter Faust in der Ta- sche zur Kenntnis genommen haben, dass wir Einkom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mensteuertarife erreicht haben, die Sie nicht hinbekom- und bei der SPD) men haben. Deswegen ist es schon absurd, dass sich die CDU- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Sie vor- Ministerpräsidenten in den Ländern, die gegenüber der her blockiert haben, insbesondere dieser Mann Bundespolitik klagen und unter den Schulden stöhnen, da vorn! Der hat Petersberg blockiert!) dazu hergegeben haben, diesen Subventionsabbau we- gen einer Unionstaktik zu verhindern. Solche Politiker, Wir haben die Finanzhilfen in Höhe von 12 Milliar- solche Ministerpräsidenten brauchen wir gewiss nicht den Euro bis heute, nach sieben Jahren, um die Hälfte hier auf der Regierungsbank. Sie sind verantwortungs- vermindert. Damit macht man sich nicht nur Freunde. los. Wir haben die Ausgaben des Bundes in den letzten Jah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren trotz wirtschaftlich schwieriger Zeit absolut zurück- und bei der SPD) geführt; von den Preissteigerungen in den letzten Jahren habe ich dabei noch gar nicht geredet. Das wissen Sie Nun komme ich zu den Vorschlägen der CDU und der auch und das stimmt. FDP. Zwischen den Vorschlägen beider Parteien beste- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16739

Anja Hajduk (A) hen Unterschiede, aber sie eint eines: Sie bringen die Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Haushalts- und Finanzpolitik in Deutschland auf die to- Natürlich. tale Abschussbahn. Das ist eine Geisterfahrt. Herr Solms, der eine tragende Rolle in der Finanzpolitik der Jürgen Koppelin (FDP): FDP spielt, hat ausweislich eines Zeitungsberichtes ge- Sehr geehrte Kollegin Hajduk, da ich befürchte, dass sagt, weitere Steuernettoentlastungen seien unverzicht- Sie auf dieses Thema nicht mehr zu sprechen kommen, bar. will ich Ihnen dazu gern durch eine Zwischenfrage die (Beifall bei der FDP) Gelegenheit geben: Ich habe vor einiger Zeit im „Han- delsblatt“ gelesen, dass Sie für die Erhöhung der Mehr- Wer angesichts der Steuerquote, die wir in Deutschland wertsteuer sind. Sind Sie das nach wie vor und wird das haben, ein solches Credo anstimmt, der ist, was die öf- von Ihrer Fraktion mitgetragen? fentlichen Finanzen in Deutschland angeht, nicht reali- (Elke Ferner [SPD]: Wird sie von Ihnen immer tätstauglich. Offenbar ist das ganze Gerede von Genera- noch abgelehnt, Herr Koppelin?) tionengerechtigkeit, die Sie bei der FDP sich gern anstecken wollen, reine Lüge und entbehrt jeder sachli- chen Grundlage. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Koppelin, ich komme auf die di- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rekten und indirekten Abgaben noch zu sprechen. Ich und bei der SPD) lege Wert darauf, dass dies in einem bestimmten Zusam- menhang geschieht. Herr Meister hat vorhin gesagt, die CDU/CSU habe zu Reformen in den Sozialsystemen und auf dem Ar- (Zurufe von der CDU/CSU: Ach so!) beitsmarkt Vorschläge gemacht. Dazu möchte ich Fol- Deswegen seien Sie gewiss, dass Sie in meinem Rede- gendes sagen: Sie haben Vorschläge gemacht, die vor beitrag dazu noch etwas hören werden. noch nicht ganz einem Jahr – ich glaube, es ist ein halbes Jahr her – in den Zeitungen mit „Das 100-Milliarden- Ich möchte noch darauf hinweisen, dass die Vor- Risiko Frau Merkel“ betitelt wurden. Sie haben Ihre schläge, die aus der Union mit Blick auf den Staatshaus- Steuervorstellungen und Ihren Willen zur Reform der so- halt kommen, sowohl was den Subventionsabbau als zialen Sicherungssysteme noch gar nicht in Übereinstim- auch was die Finanzierung der sozialen Sicherungssys- mung gebracht. Ich sehe bei der CDU/CSU keinen Mut, teme angeht, immer noch davon gekennzeichnet sind, zu sagen, wie sie ihre Steuerreform gestalten will. dass sie nicht zu einer Deckung führen. Auch das zeigt sich, wie gesagt, in den Debatten der letzten Woche. (B) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ist doch al- (D) les schon vorgelegt!) Abschließend möchte ich zum Thema Subventionsab- bau sagen: Es ist schon ziemlich verlogen – das muss Ih- Wir befinden uns heute in der Situation, dass wir uns nen irgendwie peinlich sein –, dass Sie angesichts der Neuwahlen nähern. Sie werden sich nicht darauf ausru- schwierigen Haushaltslage in Bund und Ländern nicht hen können – das werden wir Ihnen nicht durchgehen den Mut hatten, sich zum Beispiel hinter unseren Vor- lassen –, dass Sie uns nur kritisieren. Ich kann Ihre Kri- schlägen zu verstecken, sondern einen Beitrag dazu ge- tik gut ertragen; aber Sie müssen eigene Vorschläge dazu leistet haben, die Kompliziertheit des Steuersystems machen, ob Sie im Gesundheitssystem noch eine Soli- eher aufrechtzuerhalten. Das ist noch einmal deutlich ge- darfinanzierung vorsehen wollen. worden, als Sie hier gesagt haben, es sei richtig gewesen, das Steuervergünstigungsabbaugesetz abzulehnen. Das (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Wo ist war billige Polemik. Mit diesem Gesetz hätte man eine denn Ihr Vorschlag?) Vereinfachung unseres Steuersystems erreichen kön- nen. Wenn Sie eine Kopfpauschale einführen wollen, dann müssen Sie die Beiträge für Kinder gegenfinanzieren, (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Steuer- Herr Röttgen. Dazu fehlt Ihnen ein Steuervorschlag. erhöhungen waren das!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sie rufen jetzt schon wieder „Steuererhöhungen“. Man und bei der SPD) merkt: Ihnen fehlt der Mut zu Einfachheit und Transpa- renz. Sie meinen, Sie könnten Volksverdummung betrei- ben: Sie senken die Einkommensteuer weiter und ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nachlässigen, zu welcher Steuernettoentlastung das und bei der SPD – Lachen bei Abgeordneten führt. Wenn Sie die Einkommensteuer dann gedanklich der CDU/CSU) nur zur Hälfte senken, soll das dafür reichen, ein anderes Denn Sie haben noch nicht einmal den Mut, gegenüber virtuelles Loch in der Gesundheitspolitik zu stopfen. Das kleinsten Klientelgruppen für die Durchsetzung Ihrer ist absurd. Vorschläge einzustehen. Das zeichnet Sie nicht für eine Regierungsübernahme aus. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir brauchen in Deutschland eine sehr ehrliche De- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des batte. Vielleicht gelingt es ja trotz des Wahlkampfs, ein Kollegen Koppelin? bisschen längerfristig und ehrlich zu diskutieren. Wir 16740 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Anja Hajduk (A) Roten und Grünen tun das auch vor dem Hintergrund, Steffen Kampeter (CDU/CSU): (C) dass uns manches nicht gelungen ist. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nichts ist Herren! Der Bundesfinanzminister hat es für nötig be- gelungen!) funden, der Opposition vorzuwerfen, sie stehle sich da- von. Ich komme auf das Thema Zukunft zurück; hier su- chen wir eine Entscheidung. Wie soll es in Deutschland (Lothar Mark [SPD]: Stimmt!) auf dem Arbeitsmarkt und im Hinblick auf die öffentli- Das empfinde ich als ziemlich dreist. Da strebt das ganze chen Finanzen weitergehen? Ich glaube, dass es nicht Bundeskabinett an, kollektiv den Lafontaine zu markie- richtig ist, zu meinen: Wenn die Staatsquote geringer ist, ren, aus der Regierungsverantwortung zu flüchten, und wird alles besser. Wir haben zwar die Staatsquote ge- dann stellt sich der Bundesfinanzminister hier hin und senkt; aber man kann in Deutschland so oder so Reform- sagt, die Opposition stehle sich aus der Verantwortung. optionen öffnen. Ich verstehe es so: Die FDP ist ziemlich Völlig wirklichkeitsfremd! Blöder geht es doch schon klar entschlossen, Risiken sehr weitgehend zu privatisie- gar nicht mehr, meine sehr verehrten Damen und Her- ren. Auch die CDU/CSU möchte vielleicht mehr dem ren! angelsächsischen Modell folgen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nein! Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war Überhaupt nicht!) keine angemessene Formulierung! Das war Frau Präsidentin, ich komme gleich zum Ende. sehr unparlamentarisch, Herr Kollege!) (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Sie sind am Herr Bundesfinanzminister, Sie haben hier dem Parla- Ende!) ment erklärt, Sie wollen für das Jahr 2005 keinen Nach- tragshaushalt mehr vorlegen, weil Sie andere, kreative Ich plädiere dafür, dass wir uns an Nachbarländern Finanzierungsmöglichkeiten sehen. Dazu kann ich nur orientieren. Ich blicke im Moment gern nach Norden, sagen: Im laufenden Haushaltsjahr 2005 beläuft sich die und zwar nicht nach Hamburg – obwohl ich von dort strukturelle Unterdeckung dieses Etats auf ungefähr komme –, sondern in die skandinavischen Länder. Ich 60 Milliarden Euro. Diesen Betrag geben wir mehr aus, glaube, dass es richtig ist, den Faktor Arbeit in Deutsch- als wir auf regulärem Wege einnehmen. Jetzt tut Um- land deutlich zu entlasten, damit wir konkurrenzfähiger steuern Not und nicht Aussitzen. Wenn Sie wirklich werden und dadurch die Zahl der sozialversicherungs- noch handlungsfähig und gestaltungsstark sind, müssten pflichtig Beschäftigten erhöhen. Sie jetzt eigentlich der Bevölkerung klar und deutlich (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN über das Ausmaß der Haushaltskrise im Jahr 2005 Aus- (D) sowie bei Abgeordneten der SPD) kunft geben. Sie jedoch verweigern diese Auskunft. (Hans Eichel, Bundesminister: Nein!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Sie müssen jetzt wirklich zum Ende Sie machen den Lafontaine auch beim Nachtragshaus- kommen. halt 2005. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Kollege Beck, wenn Sie sich an- Ich scheue nicht die Debatte – ich komme zum ständigerweise vielleicht einmal hinsetzen würden, wie Ende –, dass wir eine massive Verschiebung zwischen es die Regeln im Parlament vorsehen, würde Ihnen das direkten und indirekten Abgaben brauchen. Wir werden gut anstehen. Abgaben für ein solidarisch finanziertes Sozialsystem brauchen und werden dieses System nicht so einreißen, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das wie Sie es wollen. Wir werden ehrlich sein und auch den müssen Sie nun gerade sagen! Dass gerade Sie Mut haben, – über die Regeln im Parlament sprechen!) – Außer der Störung des Redners dokumentiert es nur Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das schlechte Verhalten des Geschäftsführers von Frau Kollegin, Sie wollten zum Ende kommen. Bündnis 90/Die Grünen.

Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und – schwierige Entscheidungen zu treffen. der FDP – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) – Ja, das ist so. Gleichzeitig haben Sie hier, sehr geehrter Herr Bun- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: desfinanzminister, einen Satz gesagt, den ich infrage Das Wort hat der Kollege Steffen Kampeter, CDU/ stelle. CSU-Fraktion. (Joachim Poß [SPD]: Sie stellen nur einen Satz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) infrage?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16741

Steffen Kampeter (A) Ich kenne die Zahlen. Jeden Tag entdecken wir ein neues ßen, weil Sie nicht in der Lage sind, die notwendigen (C) Haushaltsloch. Gestern haben Sie beispielsweise erklärt, Reformen in Deutschland voranzutreiben. Das ist der dass Sie die 2 Milliarden Euro aus dem ERP-Sonderver- zentrale Unterschied zwischen Ihnen und der zukünfti- mögen aufgrund der zeitlichen Abläufe nun doch nicht gen Regierung. bekommen. Wenn es stimmt, dass Sie die Zahlen ken- nen, dann erwarte ich von Ihnen, dass Sie auch Manns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) genug sind, einen Etat für 2006 vorzulegen. Mit Interesse habe ich vernommen, dass die Noch- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen gesagt hat, sie Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Genauso ist hätten den Haushalt konsolidiert, also weniger ausgege- es! Entweder – oder!) ben. Ich war etwas überrascht und habe mir die Zahlen noch einmal angeschaut, weil ich dachte, ich hätte mich Sie müssen dann auch in der Lage sein, der Bevölkerung geirrt. Frau Hajduk, ich will Ihnen die Zahlen noch ein- die Wahrheit mitzuteilen. Deswegen lautet unsere Forde- mal nennen: Im Jahre 1998 haben wir 233 Milliarden rung heute, hier nicht nur den Nachtragsetat für 2005, Euro ausgegeben. Wahrscheinlich werden wir im sondern auch den Etat für 2006 vorzulegen. Wir wollen Jahr 2005 265 Milliarden Euro ausgeben. Ich will mit ihn gern im September hier debattieren. Ihnen nicht über Details streiten, aber ich glaube schon, dass die deutsche Öffentlichkeit wissen wird, dass (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – 265 Milliarden Euro mehr als 233 Milliarden Euro sind. Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sonst Einen Rückgang der Ausgaben kann ich nicht erkennen. täuscht er mit Vorsatz!) Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Eine solche Täu- Die Redner der Regierungskoalition haben an dieser schung der Öffentlichkeit sollten Sie unterlassen. Stelle mehrfach darauf hingewiesen, die Opposition habe sich nicht am Subventionsabbau beteiligt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf von der SPD: Zu Recht!) Nun ist es also an uns; denn die Regierung hat sich entschlossen, am 18. September dieses Jahres Neuwah- Diese Mitteilung ist falsch. len durchzuführen. Sie können zwar nicht regieren, aber mit Ihrem Rückzug klappt es auch noch nicht so richtig. (Beifall bei der CDU/CSU – Anja Hajduk Das ist von keiner höheren Qualität als Ihre Regierungs- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben arbeit. sich sehr hasenfüßig beteiligt!) Ich glaube, in der Geschichte der Bundesrepublik Jetzt müssen wir die Politik, die Sie in den sieben Jah- ren Ihrer Regierungsverantwortung gemacht haben, im (B) Deutschland hat es noch nie eine Opposition gegeben, (D) die sich so konstruktiv auch an unangenehmen steuer- Hinblick auf den Haushalt bewerten. Lassen Sie mich politischen Maßnahmen beteiligt hat wie die gegenwär- die nackten Fakten darstellen: Viermal in Folge gab es tige. keinen verfassungsgemäßen Haushalt, sondern eine ver- fassungswidrige Kreditaufnahme; dass dies zum fünften (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD Mal geschehen wird, ist bereits angekündigt. Viermal und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hintereinander haben Sie die Maastricht-Kriterien geris- sen. Das strukturelle Defizit beträgt heute 60 Milliarden Herr Eichel, Sie sollten wissen, dass wir nur in zwei Euro; auch hier ist keine Besserung in Sicht. Mehr als Punkten, nämlich der vollständigen Abschaffung der ein Fünftel unserer Ausgaben – jeder fünfte Euro, den Entfernungspauschale wir ausgeben – ist nicht durch reguläre Einnahmen (Hans Eichel, Bundesminister: Die habe ich finanziert. nie beantragt!) Schaut man sich den Bundeshaushalt an, stellt man und der vollständigen Abschaffung der Eigenheimzu- fest, dass wir zu einem wesentlichen Teil auf Pump le- lage, nicht mitgemacht haben. Darüber kann man unter- ben. Allein in den letzten drei Jahren hat der Bund schiedlicher Auffassung sein. Schulden in Höhe von 110 Milliarden Euro gemacht. Das ist die größte Schuldenexplosion, die wir bisher in (Zuruf von der SPD: Da hört man aber etwas der Geschichte der Finanzpolitik der Bundesrepublik anderes!) Deutschland erlebt haben. Herr Eichel, wenn Sie sich Es mag manche in Deutschland geben, die der Auffas- hier hinstellen, uns Ihre käsigen Bilder bzw. Ihre Ku- sung sind: Ein Eigenheim zu haben ist etwas Gutes. Ich chenbilder – dabei könnte es sich auch um einen Käse- persönlich teile diese Auffassung. Ich gönne den Leuten kuchen handeln – zeigen und behaupten, das alles sei ihr Eigenheim. nicht so schlimm, sage ich Ihnen: Die Menschen wissen, dass in diesem Bundeshaushalt leider kein Stein mehr (Elke Ferner [SPD]: Unterste Kiste! – Weitere auf dem anderen steht. Deutschland driftet unter Ihrer Zurufe von der SPD) Verantwortung in den Staatsbankrott. Wenn die Sozialdemokraten das anders sehen, können (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir gern darüber streiten. Ich will aber eines sagen: Was wir nicht mitmachen werden, ist, steuerliche Ausnahme- Allein die Ausgaben für den Arbeitsmarkt sind seit tatbestände oder – einfacher ausgedrückt – Steuererhö- der Übernahme der Verantwortung durch die Regierung hungen zum Stopfen von Haushaltslöchern zu beschlie- Schröder/Eichel von 21,5 Milliarden Euro auf in diesem 16742 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Steffen Kampeter (A) Jahr wahrscheinlich über 45 Milliarden Euro gestiegen. Viele von uns – die Unruhe bei den Sozialdemokraten (C) Die Ausgaben für den Arbeitsmarkt haben sich somit um zeigt, dass sie dazugehören – haben noch gar nicht be- über 100 Prozent erhöht. griffen, dass uns diese Entwicklung der Wachstumsdiffe- renz zukünftig sehr stark berühren wird; denn gesamt- (Elke Ferner [SPD]: Vergleich Äpfel mit wirtschaftlich bedeutet das, dass wir im Vergleich zu Birnen!) vielen anderen Ländern immer ärmer werden. Wäre Hartz IV von der Bundesregierung ordentlich Nun könnten die Deutschen ja sagen, das sei nicht so und nicht so schlampig, wie wir es in diesen Tagen er- schlimm, weil es uns insgesamt immer noch gut geht. fahren, vorbereitet worden, könnte man davon ausgehen, Aber seit der Übernahme durch die Regierung Kohl – – dass diese Zahl nicht weiter steigt. Aber es ist zu be- fürchten, dass sich Hartz IV langsam und schrittweise (Lachen bei der SPD) durch den Bundeshaushalt frisst und dadurch ein weite- res milliardenschweres Haushaltsrisiko entsteht. Seit dem Übergang von der Regierung Kohl zur Regie- rung Schröder/Eichel sind die Realeinkommen der Ar- (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Leider wahr!) beitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor allen Dingen aufgrund dieser Wachstumsdifferenzen nicht gestiegen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, hätten Sie Rot-Grün macht arm und arbeitslos, wie es Karl-Josef sich in den sieben Jahren Ihrer Regierungsverantwortung Laumann von hier aus gesagt hat. wenigstens auch um die Zukunftsinvestitionen geküm- mert und hätten wir den Eindruck, es handele sich nur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- um eine vorübergehende Haushaltskrise, könnte die Be- neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: wertung etwas sanfter ausfallen. Tatsache ist aber, dass Schwarz-Gelb macht bettelarm!) die Investitionsquote in Deutschland seit der Über- nahme der Verantwortung durch die Regierung Meine sehr verehrten Damen und Herren, was haben Schröder/Eichel von Haushalt zu Haushalt gesunken ist die Menschen zu erwarten, wenn die Politik wechselt? und mit derzeit 8,9 Prozent einen historischen Tiefstand Ich glaube, im Hinblick auf die Finanz- und Haushalts- erreicht hat. politik können sie vor allen Dingen eines erwarten: die Rückkehr zu Ehrlichkeit in der Finanzpolitik. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja!) (Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Das bedeutet, dass wir notwendige Zukunftsinvestitio- SES 90/DIE GRÜNEN) nen zugunsten des Gegenwartskonsums unterlassen. Auch das ist Ausdruck Ihres Scheiterns in der Finanz- Herr Eichel, Sie haben Täuschung zum zentralen Ele- (B) und Haushaltspolitik. ment Ihrer Politik gemacht. Ich will daran erinnern, dass (D) wir zu Beginn dieser Legislaturperiode sogar einen „Lü- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) genausschuss“ eingerichtet haben, der die falschen An- Die Ursachen dieser Haushaltskrise liegen nicht nur gaben, die Sie gegenüber dem deutschen Parlament ge- im Bereich der Finanzen im engeren Sinne, sondern vor macht haben, allem auch im zu schwachen Wachstum. Dort sitzt die (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da ist Fraktion, die die Grenzen des Wachstums entdeckt hat nichts herausgekommen!) und den Menschen erklärt, Wachstum sei für Deutsch- land gar nicht so wichtig. Ich kann Ihnen sagen, dass mit überprüft hat. Er hat deutlich gemacht, dass Sie im Hin- dem Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen vor allem ei- blick auf einen Wahltermin vor nichts zurückschrecken nes gewachsen ist: die Freude auf eine bessere Zukunft. und alles verschleiern, um die Öffentlichkeit vorsätzlich Das wollen wir auch für Berlin erreichen. zu täuschen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Joachim Poß [SPD]: Wer ist denn Spezialist in Sachen Täuschung?) Aber diese Freude auf eine bessere Zukunft muss erst wachsen und von mehr Wirtschaftswachstum begleitet Ich will dazu einige Zitate aus Ihrer Rede zur Einbrin- werden. Grob gerechnet lässt sich die Lage wie folgt be- gung des Etats für 2003 bringen; das ist ja noch gar nicht schreiben: Die Wirtschaft unserer Nachbarstaaten so lange her. Sie haben im Deutschen Bundestag erklärt, wächst in etwa doppelt oder sogar dreimal so schnell wie alles, was Ihre Finanzpolitik auszeichne, sei für die unsere. Union ein Fremdwort: Solidität, Nachhaltigkeit, Ausga- benkontrolle und Rückführung der Neuverschuldung. (Lothar Mark [SPD]: Die haben auch keine Blockierer!) (Elke Ferner [SPD]: Genau!) Im Rest der Welt wächst die Wirtschaft doppelt so Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist entwe- schnell wie in Europa insgesamt. In einem Land wie der dreist oder komplette Wirklichkeitsverweigerung. China beispielsweise wächst die Wirtschaft zehnmal so Auf jeden Fall ist ein solcher Bundesfinanzminister nicht schnell wie in unserem Land. mehr tragbar für Deutschland; er stellt ein großes Haus- haltsrisiko dar. (Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist Ihre volkswirt- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schaftliche Kompetenz, Herr Kampeter!) neten der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16743

Steffen Kampeter (A) Ehrlichkeit dagegen schafft Vertrauen. Wir haben Das zeigt doch, dass Ihnen selbst die Auflösung der (C) deswegen – das hat der Kollege Meister hier vorgetra- Währungsunion von den internationalen Finanzmärkten gen – unseren Dreiklang vorgeschlagen: Kassensturz und von vielen Entscheidern zugetraut wird. Sie schre- und damit Offenlegung der Wahrheit über die finanzielle cken vor nichts, aber auch wirklich gar nichts zurück, Situation Deutschlands. Die Regierung verweigert die- meine sehr verehrten Damen und Herren in dieser Bun- sen Kassensturz, sonst würde sie einen Nachtragshaus- desregierung! halt für 2005 und einen Etat für 2006 mit anstrengenden Konsolidierungsschritten vorlegen. Die Alternativen (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der sind klar: SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So viel Unsinn in so kurzer Zeit!) (Elke Ferner [SPD]: Ja, die sind klar!) Ich schließe: Staatsbankrott mit Rot-Grün oder ehrli- Entweder marschieren wir in den Staatsbankrott che, anständige Konsolidierung (Lothar Mark [SPD]: Wie in der Kohl-Zeit!) (Lachen bei der SPD) mit Rot-Grün oder wir fangen endlich an, die Zukunft unter einer anderen Regierung, das ist die Entschei- Deutschlands durch eine ehrliche Konsolidierung unter dungsalternative, die wir heute noch einmal deutlich ma- Schwarz-Gelb zu gestalten. Das sind die Alternativen, chen können. Wir fordern Ehrlichkeit in der Finanzpoli- um die wir in diesen Wochen werden ringen müssen. tik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Walter Schöler [SPD]: Guck mal in den Spiegel!) Wir werden – ich will das klar sagen – für ein Mandat für eine ehrliche und anständige Konsolidierung kämp- statt Lug und Trug, wie wir es von dieser Bundesregie- fen. Wir müssen den Menschen deutlich machen: Es ist rung bisher erlebt haben. Wir machen deutlich, dass nicht der Zeitpunkt für die Verteilung von Geschenken. dieser Weg nicht ohne Anstrengung ist. Ich glaube aller- dings, diese Anstrengung lohnt sich. Wir wollen Wei- (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) chen stellen: für mehr Beschäftigung, für einen konsoli- Es ist vielmehr der Zeitpunkt, ehrlich Bilanz zu ziehen dierten Haushalt und für eine gute Zukunft für unser und den Leuten klar zu sagen: Es wird zukünftig im Vaterland. Haushalt nicht mehr so weitergehen wie bisher. Ich danke Ihnen. (Zuruf von der SPD: Wo sparen Sie denn?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) neten der FDP) (D) Wir sagen dies – anders als Sie, Herr Eichel – vor dem Wahltermin und wir nehmen die Menschen in die Pflicht, wir nehmen sie mit. Wir sagen: Wir müssen uns Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gemeinsam anstrengen, wir müssen gemeinsam sparen – Herr Kollege Kampeter, es ist Ihr gutes Recht, den oben wie unten. Aber wir dürfen die Leute nicht länger Kollegen Beck zu kritisieren. Ich muss Ihnen aber sagen, belügen und ihnen die Wahrheit über die finanzielle Si- dass die Äußerung, es gehe nicht blöder, die Sie zur Aus- tuation des Landes verschweigen. sage des Bundesfinanzministers gemacht haben, sehr un- parlamentarisch ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Lothar Mark [SPD]: Und von Lug und Trug Herr Bundesminister, in diesem Zusammenhang ha- hat er noch gesprochen!) ben Sie in diesen Tagen dafür gesorgt, dass der Außen- wert des Euros in einer fundamentalen Art und Weise Das Wort zu Kurzinterventionen erhalten die Kollegin heruntergekracht ist. Anja Hajduk und anschließend der Kollege Hans Eichel. (Lachen bei der SPD) (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Offensicht- lich hat die Rede gesessen! Zwei melden sich Sie haben es für nötig befunden, in einem internen Zirkel schon!) über das Ende der europäischen Währungsunion zu phi- losophieren. Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Unglaublich!) Herr Kollege Kampeter, wegen der Ausgabenent- wicklung des Bundes haben Sie mich direkt angespro- Ich finde, Sie können über vieles diskutieren, aber eines chen. Ich möchte eine Bemerkung vorweg machen: Das ist ausgesprochen bedrohlich: dass die Finanzmärkte Ende Ihrer Rede war weder von Anstand noch von Ver- trotz Ihres Dementis offenbar so erschüttert waren, dass antwortungsbewusstsein gekennzeichnet. es zu diesem Kurssturz des Außenwertes des Euros ge- kommen ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Lothar Mark [SPD]: Das kannst du doch selbst nicht glauben, was du da erzählst! – Von dieser Art Politiker hat dieses Land die Nase voll. Elke Ferner [SPD]: Das ist die Reaktion auf Sie können der Lust, anzugreifen, nicht widerstehen. Da- die Kanzlerkandidatin!) bei verdrängen Sie den Kern der Politik nach hinten. Das 16744 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Anja Hajduk (A) ist ziemlich schade. Ich muss Ihnen sagen: Das hätten habe, jetzt für den Herrn Abgeordneten Kampeter: Ich (C) Sie eigentlich gar nicht nötig. finde es ungeheuerlich, dass Sie bei einer zentralen Frage hier noch einmal einen haltlosen Vorwurf erhoben (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Das war haben. Es hat zu keinem Zeitpunkt eine Diskussion über doch ein guter Beitrag von ihm!) eine Auflösung der Währungsunion oder Ähnliches ge- Jetzt komme ich zum Thema Ausgabenentwicklung, geben, an der ich mich beteiligt habe. Es ist unverant- weil Sie zu Recht darauf hingewiesen haben. Wenn man wortlich, dass Sie das hier wiederholt haben. sich die Ausgabenentwicklung des Bundes von 1998 bis (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ 2004 ansieht, dann kann man feststellen, dass es zu einer DIE GRÜNEN – Wilhelm Schmidt [Salzgit- Steigerung von ungefähr 230 Milliarden Euro auf über ter] [SPD]: Sie zündeln! Das ist alles!) 250 Milliarden Euro gekommen ist. Ich wollte Sie oder die Öffentlichkeit in keiner Weise irritieren, als ich hier Dass durch solche falschen Nachrichten auch Märkte gesagt habe, dass wir die Ausgaben absolut gesenkt ha- beunruhigt werden, ist richtig. Ich würde Ihnen dringend ben. Wenn man die Preissteigerungen herausrechnet, ha- raten, sich anzusehen, wann die Abwärtsbewegung des ben wir sie sogar erheblich gesenkt. Ich bin von den be- Euro in den letzten Tagen angefangen hat. Dies geschah reinigten Ausgaben ausgegangen. Das muss ich noch nämlich nach dem französischen Referendum. Es lohnt, einmal sagen. darüber nachzudenken, warum sich die Bevölkerung in zwei Ländern mit einer konservativen Regierung gegen Ich finde es auch richtig, dies zu tun, weil die berei- die europäische Verfassung gewandt hat. Vielleicht den- nigten Ausgaben bezogen auf den Bundeshaushalt ver- ken Sie darüber einmal ein bisschen nach. deutlichen, dass wir einen großen Teil der Rentenfinan- zen umfinanziert haben. Dies geschah teilweise auch mit Im Übrigen rate ich Ihnen: Wenn Sie noch einen Rest Ihrer Unterstützung: Kindererziehungszeiten werden an- von Verantwortungsbewusstsein und Anstand haben, gerechnet und wir haben den Beitragssatz durch die dann sollten Sie das, was Sie hier eben gesagt haben, Ökosteuer stabilisiert. Dadurch haben wir den Rentenzu- nicht nur nicht wiederholen, sondern zurücknehmen. schuss erhöht. Ich meine, zu wissen, dass Sie uns mit Vorschlägen für einen ausgabenmindernden Eingriff bei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Rente nicht überholt haben. Ich glaube, man kann DIE GRÜNEN) der Ehrlichkeit halber sagen – ich denke, das können Sie zugeben, auch wenn Sie mit unserer Finanzpolitik insge- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: samt vielleicht nicht zufrieden sind –, dass die somit be- Bitte schön, Herr Kollege Kampeter. reinigten Bundesausgaben (B) (D) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Was sind Steffen Kampeter (CDU/CSU): denn bereinigte Bundesausgaben?) Die Frau Abgeordnete Hajduk hat hier wortreich er- klärt, dass die Behauptung, es sei falsch, dass in um diese erheblichen Änderungen bei den Rentenfinan- Deutschland mehr ausgegeben werde, worauf ich hinge- zen zurückgegangen sind. wiesen habe, richtig ist. Ich will deswegen noch einmal Wenn Sie das angreifen wollen, dann müssen Sie ent- die Zahlen nennen. Frau Hajduk, wir können zwar berei- weder den Beitragszahlern sagen, dass Sie lieber die nigte, halbbereinigte, viertelbereinigte oder sonstige Fäl- Beiträge zur Rentenversicherung von 19,5 Prozent nach schungen der Statistik vornehmen. Ich aber verlasse oben erhöhen wollen, oder Sie müssen hier deutlich sa- mich auf den Haushaltsplan und die Zahlen, die darin gen – das traue ich Ihnen ehrlich nicht zu –, dass Sie den stehen und die so auch der deutschen Öffentlichkeit be- Rentnern Einsparungen im zweistelligen Milliardenbe- kannt sind. reich zumuten wollen. Laut dem Haushaltsplan des Bundes sind 1998 Ich glaube, wenn Sie diese kleine Erläuterung zu mei- 233,6 Milliarden Euro ausgegeben worden. Im Haus- nen Zahlen zur Kenntnis nehmen, dann werden wir uns haltsplan für 2005 stehen etwa 255 Milliarden Euro. in der Sache sehr schnell einig. (Walter Schöler [SPD]: Das ist blamabel für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Haushälter!) und bei der SPD – Dr. Norbert Röttgen [CDU/ Die Regierung hat allein für die Hartz-IV-Gesetze von CSU]: Das sind aber sehr subjektive Zahlen!) Mehrausgaben in Höhe von 10 Milliarden Euro gespro- chen. Das macht insgesamt 265 Milliarden Euro. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 265 Milliarden sind mehr als 233 Milliarden. Ich be- Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention hat der danke mich, dass Sie das noch einmal ausdrücklich be- Kollege Hans Eichel. stätigt haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Er hat doch schon (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) genug geredet! Mein Gott!) Herr Bundesfinanzminister oder auch Herr Abgeord- neter Eichel, ich habe darauf hingewiesen, dass Beamte Hans Eichel (SPD): Ihres Hauses – für dieses Haus tragen Sie persönlich nun Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- einmal die politische Verantwortung, solange Sie im gen! Ich wiederhole das, was ich schon vorhin gesagt Amt sind – in einem Diskussionspapier halböffentlich Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16745

Steffen Kampeter (A) darüber spekuliert haben, dass eine Option auf die Auf- Die Finanzminister der Länder klagen ständig über (C) lösung der Währungsunion im Finanzministerium in Einnahmeprobleme, die so genannten Haushaltsexperten Deutschland erörtert worden ist. Wer wie Sie als verant- hier im Hause über Ausgabeprobleme. Die Finanzminis- wortlicher Fachminister in seinem Haus eine solche Dis- ter der Länder mit ihren Einnahmeproblemen blockieren kussion offenbar zulässt, wer ein windelweiches seit Jahr und Tag den Abbau von Steuersubventionen in Dementi vornimmt, als diese Diskussion in der Öffent- Höhe von mittlerweile jährlich 17 Milliarden Euro. Die lichkeit bekannt wird, der trägt für die Währungsturbu- Einnahmesituation der öffentlichen Haushalte ist so, wie lenzen, die dadurch mit ausgelöst wurden, ein gerüttelt sie ist, weil Sie sich weigern, dem Staat das zu geben, Maß an Verantwortung. was er braucht, um die notwendigen Ausgaben auch täti- gen zu können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD) Sie haben mit den Anträgen, die Sie heute vorlegen, wieder das gemacht, was Sie schon in den letzten Jahren Dies steht in einer gewissen Kontinuität. Herr Eichel, immer gemacht haben. Aber offenbar sind die Anträge unter Ihrer politischen Führung sollte der europäische in Ihrer Fraktion in Abwesenheit der Fraktionsvorsitzen- Stabilitätspakt weggewischt werden. Das war ihr politi- den und der Fachpolitiker beschlossen worden. Wie kön- sches Ziel. nen Sie es sonst erklären, dass Ihre Fraktionsvorsitzende (Abg. Hans Eichel [SPD] meldet sich zu einer umfangreiche Steuersenkungen in Aussicht stellt? Ihr weiteren Kurzintervention) Konzept 21 würde Einnahmeausfälle von rund 10 Mil- liarden Euro bedeuten. In den ersten beiden Jahren wä- Sie wollen keine Stabilität in Europa. Schulden und In- ren das sogar 15 bis 16 Milliarden Euro. Wie sonst ist es flation sind Ihr politisches Programm. zu erklären, dass der verkehrspolitische Sprecher Ihrer (Lothar Mark [SPD]: Das ist eine Fraktion mal eben 3 Milliarden Euro mehr für Verkehrs- Unverschämtheit!) investitionen fordert? Wie ist es zu erklären, dass die Kopfpauschale, an der Sie offenbar immer noch festhal- Dass dann natürlich bei Ihnen über europäische Stabili- ten, die öffentlichen Haushalte mit bis zu 23 Milliarden tätskultur innerhalb eines gemeinsamen europäischen Euro zusätzlich belasten würde? Währungssystems streitig diskutiert wird, ist der zweite Schritt. Er ist konsequent und zeigt, welcher währungs- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das alles politischen und wirtschaftspolitischen Verantwortungs- stimmt nur leider nicht!) losigkeit Sie anheim gefallen sind. Wenn man die Kosten dieser drei Vorschläge einmal zu- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salz- sammenrechnet, und zwar ohne den ganzen Kram, den (B) gitter] [SPD]: Sie sind ein Brandstifter!) Sie sonst immer fordern, dann sind das 41 Milliarden (D) Euro. Vor diesem Hintergrund reden Sie von Haushalts- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: konsolidierung. Das kann ja wohl nicht wahr sein. Herr Kollege Eichel, es ist nicht üblich, eine Kurz- (Beifall bei der SPD) intervention auf eine Kurzintervention zu machen. Die Kurzintervention bezieht sich auf eine Rede. Sie befinden sich in einem haushaltspolitischen Amoklauf und merken es noch nicht einmal. Sie fordern (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Machen Sie uns auf, Ausgaben zu kürzen, und Sie selbst wollen noch eine Pressekonferenz und erklären Sie das!) mehr Geld, das nicht vorhanden ist, verteilen. Wie soll Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner, SPD-Fraktion. das denn eigentlich funktionieren? Ich glaube, wir sollten uns über Ihre Kürzungsvor- Elke Ferner (SPD): schläge beim Haushalt unterhalten; denn andere Ideen Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle- haben Sie bisher nicht aufgezeigt. Sie, FDP und Union gen und Kolleginnen! Das, was Sie eben geboten haben, zusammen, haben gefordert, die Steinkohlenbeihilfen Herr Kampeter, kann man wirklich nur noch unter dem für das Jahr 2005 um 1,645 Milliarden Euro zu kürzen. Stichwort abhandeln: Kampeter toppt Austermann. Mehr Es gibt aber einen rechtskräftigen Zuwendungsbescheid. kann man dazu nicht sagen. Ihre Lügen werden auch da- Der interessiert Sie nicht. Diese Ausgaben wären über- durch nicht besser, dass Sie sie ständig wiederholen. haupt nicht einzusparen. Herr Eichel hat den Sachverhalt eben klargestellt. Sie (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Wer hat sollten Manns genug sein, das zu akzeptieren. denn den Zuwendungsbescheid gemacht? Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten war der Bund!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn man das gemacht hätte, wären Massenentlassun- Im Übrigen kann man Ihre Debattenbeiträge und das, gen im Bergbau, im Kraftwerksbereich und in der Zulie- was Sie sich bisher im Bundestag und im Bundesrat ge- ferindustrie die Folge gewesen. Ist das die Arbeitsmarkt- leistet haben, nur noch unter das Motto stellen: Denn sie politik, die Sie wollen? Verstehen Sie das unter wissen nicht, was sie tun! „Vorfahrt für Arbeit“, liebe Kollegen und Kolleginnen von der Union und der FDP? (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Andere Meinung des deutschen Volkes!) (Beifall bei der SPD) 16746 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Elke Ferner (A) Dann haben Sie gefordert, die Arbeitslosenhilfe um 17 Milliarden Euro. Das ist Ihre Verantwortung, die Ver- (C) 1 Milliarde Euro und den Bundeszuschuss an die Bun- antwortung dieser Seite des Hauses. Dieser Verantwor- desagentur für Arbeit auch um 1 Milliarde Euro zu tung müssen Sie sich dann im September stellen. kürzen. Der Vorschlag ist eine Luftnummer; denn die Arbeitslosenhilfe war eine gesetzliche Verpflichtung. (Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [FDP]: Oder wollten Sie zum Gesetzesbruch aufrufen? Das an- Bei der Subvention der Steinkohle haben wir dere würde schlicht und ergreifend bedeuten: Entweder Vorschläge gemacht!) man hat überhaupt keine Mittel mehr für die aktive Ar- – Herr Koppelin, wenn Sie einmal in Ihrem Leben zuhö- beitsmarktpolitik oder man muss das Arbeitslosengeld I ren würden. Ich habe Ihnen eben erklärt, dass das kürzen. schlicht und ergreifend nicht gegangen wäre. (Joachim Poß [SPD], zur CDU/CSU gewandt: Man muss vielleicht noch einmal deutlich machen, Was wollen Sie?) wie sich Ihre Haushalts- und Finanzpolitik auswirkt. Aber dazu bedarf es auch einer Gesetzesänderung. Für Das wären massive Kürzungen bei Rentnern und Rent- wie seriös halten Sie selbst denn Ihre Vorschläge eigent- nerinnen, bei den Arbeitslosen und bei den Kurzarbei- lich? tern, das wären Massenentlassungen im Bergbau, bei den Zulieferern, im Kraftwerksbereich und im öffentli- Herr Stoiber hat sich gestern auch wieder zu Wort ge- chen Dienst. Sie wollten so eben mal die Verwaltungs- meldet: Absenkung des Beitrags zur Arbeitslosenver- ausgaben um 1,9 Milliarden Euro senken. sicherung um 1,5 Prozentpunkte. – Was bedeutet das denn? Arbeitsmarktpolitische Maßnahmen werden ge- (Jürgen Koppelin [FDP]: Wie sieht Ihre Bilanz strichen. Das hat er ja auch gesagt. Es werden sich insbe- aus?) sondere die Menschen im Osten freuen, dass da über- – Stellen Sie doch eine Zwischenfrage, Herr Koppelin, haupt nichts mehr läuft. und schreien Sie nicht dazwischen. Sie wollen mittler- (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Es läuft weile eine Mehrwertsteuererhöhung, die alle Konsumen- anschließend mehr auf dem ersten Arbeits- tinnen und Konsumenten betrifft. markt!) (Abg. Jürgen Koppelin [FDP] meldet sich zu Das bedeutet natürlich, dass über kurz oder lang die einer Zwischenfrage) Kosten für das Arbeitslosengeld II auch steigen würden, weil nicht mehr so viele Menschen in den ersten Arbeits- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: markt reintegriert werden können. Zum anderen würde Frau Kollegin, gestatten Sie die Zwischenfrage des (B) die Entlastung bei dem oder der Einzelnen bei einem Ge- Herrn Kollegen Koppelin? (D) halt von 2 000 Euro brutto im Monat schlappe 15 Euro betragen. Die Handwerkerstunde – das muss man sich Elke Ferner (SPD): jetzt wirklich auf der Zunge zergehen lassen – würde um sage und schreibe 10 Eurocent inklusive Mehrwertsteuer Sehr gerne. billiger. Wenn das Ihre Vorstellungen von einer aktiven Arbeitsmarktpolitik, von Wirtschaftsförderung und Wirt- Jürgen Koppelin (FDP): schaftswachstum sind, dann kann man Sie wirklich nur Bevor Sie sich die Sorgen machen, die sich eine zu- zu Ihren Vorstellungen beglückwünschen. Das ist wirk- künftige Koalition der CDU/CSU und der FDP machen lich das Papier nicht wert, auf dem es steht. Vor allen müsste, können Sie mir vielleicht sagen, wie es zurzeit Dingen verschleiert es die wirklichen Probleme, die wir bei Ihnen aussieht. Ich nenne nur das Stichwort Arbeits- haben. losigkeit. Ich könnte zwar noch andere Bereiche anspre- chen, aber es würde mir schon reichen zu erfahren, was (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit in den sie- [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ben Jahren geschehen ist, und zwar ausgehend von der Sie haben noch andere Vorschläge gemacht. Die FDP Bemerkung Gerhard Schröders, dass er die Arbeitslosen- beispielsweise wollte die pauschale Abgeltung versiche- zahl senken wolle, rungsfremder Leistungen in der gesetzlichen Kranken- (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Halbieren!) versicherung streichen. Dann sollten Zinsausgaben um mehrere Milliarden Euro gekürzt werden und es sollten sonst solle man ihn nicht wiederwählen. andere Pseudokürzungen, die nicht umsetzbar sind, er- folgen. Ihre ganzen Vorschläge zur Ausgabenkürzung Elke Ferner (SPD): waren Luftnummern. Ein Blick auf die öffentlichen Haushalte über alle (Jürgen Koppelin [FDP]: Auch die Subven- Ebenen zeigt, dass die Investitionstätigkeit des Bundes tionen bei der Steinkohle?) relativ konstant geblieben ist, während bei den Ländern und Gemeinden die Investitionen dramatisch zurückge- Hier gaukeln Sie der Öffentlichkeit, ohne selber Vor- gangen sind. Das hatte auch etwas mit Ihrer Steuerpoli- schläge zu machen, vor, man müsse nur die Ausgaben tik zu tun. reduzieren und dann komme das alles schon in Ordnung. Beim Steuersubventionsabbau verweigern Sie sich. Sie (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Was ist jetzt mit den entziehen den öffentlichen Haushalten jedes Jahr Arbeitslosen?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16747

Elke Ferner (A) Wir haben dann gegen Ihren Widerstand die Gewer- – Herr Stegner ist im Gegensatz zu Ihrer Fraktionsvorsit- (C) besteuerreform auf den Weg gebracht. Seit letztem Jahr zenden kein Kanzlerkandidat der SPD. fließt die Gewerbesteuer wieder. Sie aber wollen – zu- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das weiß mindest Ihren Parteitagsbeschlüssen zufolge – die Ge- man ja bei euch nie! Das ist ja unsicher!) werbesteuer wieder abschaffen, das heißt den Kommu- nen die Finanzgrundlage und damit den Boden für Ihre Fraktionsvorsitzende hat Steuersenkungen angekün- eigene Investitionen entziehen. digt, die sie offenbar durch eine Mehrwertsteuererhö- hung finanzieren will. Das bedeutet, dass die Konsumen- Wie verhält es sich denn beispielsweise mit dem Ab- ten und Konsumentinnen die Entlastung der oberen fluss der Mittel aus dem 4-Milliarden-Euro-Ganztags- Zehntausend finanzieren sollen, dass die unteren Ein- schulprogramm in den unionsregierten Ländern, das kommen durch die Besteuerung der bisher steuerfreien kleinteilige lokale Investitionen fördern und das lokale Sonn-, Feiertags- und Nachtschichtzuschläge zusätzlich Handwerk mit Aufträgen versorgen würde? Nichts da- belastet werden und dass sie bei der Pendlerpauschale von ist zu erkennen. zusätzlich herangezogen werden, sodass im Ergebnis die (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Das Krankenschwester die Steuerentlastung für den Chefarzt mag das Volk an der Politik, dass sie Fragen finanziert. Das ist Ihr Verständnis von Politik und sozia- beantwortet, die sich gar nicht stellen!) ler Marktwirtschaft. – Sie können auch gerne eine Zwischenfrage stellen. (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Klassenkampf statt Wirtschafts- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sie wachstum!) beantworten sie ja nicht!) Das alles – einer Ihrer Kollegen hat es eben bereits – Sie müssen es schon mir überlassen, wie ich dem Kol- angedeutet – reicht Ihnen aber noch nicht aus. Sie wollen legen Koppelin antworte. auch noch de facto den Kündigungsschutz abschaffen, den Jugendarbeitsschutz schleifen und in das Tarifrecht (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sie und die betriebliche Mitbestimmung eingreifen. müssen es mir überlassen, wie ich das kom- mentiere!) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Rot-Grün macht arm und arbeitslos!) – Das können Sie gerne kommentieren, wie Sie möch- ten. Ich weiß auch, wie die Bevölkerung Ihre Vorschläge Das verstehen Sie unter sozialer Marktwirtschaft. Wenn kommentiert, die Sie alle miteinander vorlegen. Sie ha- Ihr Altbundeskanzler Erhard das wüsste, dann würde er (B) ben ein stärkeres Wirtschaftswachstum blockiert, indem sich im Grab umdrehen. (D) Sie Steuereinnahmen blockiert und verhindert und damit (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter auch sinnvolle Investitionen verhindert haben. Insofern [CDU/CSU]: Der sozialdemokratische Kapita- können wir gerne darüber reden, was man alles hätte lismus mit über 5 Millionen Arbeitslosen!) besser machen können. Aber ständige Ausgabenkürzun- gen und Steuergeschenke an die oberen Zehntausend Zum Abschluss, sehr geehrter Herr Kampeter: Zurzeit schaffen sicherlich keine Arbeitsplätze, sehr geehrter ist überall von „neuer Ehrlichkeit“ zu lesen. Herr Koppelin. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Neue Ehrlichkeit statt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten alter Unehrlichkeit! Lügenbold!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Was darunter zu verstehen ist, hat Ihr stellvertretender Jürgen Koppelin [FDP]: Schröder ist doch der Fraktionsvorsitzender Glos mit seiner Bemerkung deut- Freund der Bosse!) lich gemacht, es werde sicher im Wahlprogramm eine Ich war dabei, zu erläutern, welche Vorstellungen Sie Formulierung gefunden, die die Union einerseits ehrlich von Politik haben, was Sie aktuell diskutieren und wel- erscheinen lasse, die andererseits aber den notwendigen che Vorschläge Sie haben. Zurzeit wird die Mehrwert- Spielraum für die Sanierung der Staatsfinanzen biete. steuererhöhung ins Spiel gebracht. Die FDP ist von ei- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Entlarvend!) nem klaren Nein über ein Vielleicht jetzt schon bei einem Jein angelangt. Herr Koppelin hat sich eben in Das ist keine neue Ehrlichkeit, meine Damen und seiner Rede schon gar nicht mehr getraut, etwas dazu zu Herren von der Opposition; es ist vielmehr die alte sagen. Scheinheiligkeit. (Jürgen Koppelin [FDP]: Sie haben nicht zuge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hört!) Sie hätten Ihre peinlichen Anträge am besten gar nicht – Wenn Sie etwas dazu gesagt haben, dann bitte ich um gestellt oder sie wenigstens zurückziehen sollen. Das Entschuldigung. Ich habe das wohl überhört. Aber wir beste Haushaltssicherungskonzept, das ich mir vorstel- werden hören, mit welchen Wahlaussagen Sie in den len kann, besteht darin, dass Sie in der Opposition blei- Wahlkampf hineingehen werden. ben und wir in der Regierung. Vielen Dank. (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Stegner heißt der Mann!) (Beifall bei der SPD) 16748 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst (C) Ich schließe die Aussprache. Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 15/5331 und 15/5477 an die in der Ta- Fraktion der FDP gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Überregulierung des grenzüberschreitenden Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Schienengüterverkehrs verhindern – Wettbe- ist die Überweisung so beschlossen. werbschancen privater Güterbahnen erhalten Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 i sowie – Drucksache 15/5359 – die Zusatzpunkte 2 a bis 2 j auf: Überweisungsvorschlag: 30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Binnenschifffahrtsaufgabenge- g) Beratung des Antrags der Abgeordneten setzes Dr. Christel Happach-Kasan, Birgit Homburger, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter – Drucksache 15/5557 – und der Fraktion der FDP Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Biologische Kohlenstoffsenken für den Klima- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit schutz nutzen b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 15/4665 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Überweisungsvorschlag: rung des Gemeindefinanzreformgesetzes und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) anderer Gesetze Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und – Drucksache 15/5565 – Landwirtschaft Überweisungsvorschlag: h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Finanzausschuss (f) Innenausschus Homburger, Angelika Brunkhorst, Michael Haushaltsausschuss Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- der FDP gebrachten Entwurfs eines Zwanzigsten Geset- Leistungsfähigkeit der Chemiewirtschaft in zes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes Deutschland und Europa erhalten (B) – Drucksache 15/5558 – – Drucksache 15/5274 – (D) Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Landwirtschaft d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- i) Beratung des Antrags der Abgeordneten kommen vom 31. Juli 2002 zwischen der Regie- Angelika Brunkhorst, Cornelia Pieper, Birgit rung der Bundesrepublik Deutschland und dem Homburger, weiterer Abgeordneter und der Frak- Obersten Rat der Europäischen Schulen über die tion der FDP Europäische Schule in Frankfurt am Main Forschung und Entwicklung für innovative – Drucksache 15/5517 – Energieübertragungstechnologien voranbrin- Überweisungsvorschlag: gen Ausschuss für Kultur und Medien (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 15/5140 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Dr. Volker Wissing, weiteren Abgeordneten und ZP 2 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD, der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs ei- der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nes Gesetzes zur Änderung des Tabaksteuer- NEN und der FDP eingebrachten Entwurfs eines gesetzes Gesetzes zur Ergänzung des NS-Verfolgten- – Drucksache 15/5494 – entschädigungsgesetzes (Zweites Entschädi- Überweisungsvorschlag: gungsrechtsergänzungsgesetz – 2. EntschRErgG) Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss – Drucksache 15/5576 – Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Überweisungsvorschlag: Landwirtschaft Finanzausschuss (f) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16749

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) b) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören (C) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Bartol, Ludwig Stiegler, Uwe Beckmeyer, weite- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie tung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Abgeordneten Albert Schmidt (Ingolstadt), der Behörden und Organisationen mit Sicher- Volker Beck (Köln), Cornelia Behm, weiterer heitsaufgaben (BDBOS-Gesetz – BDBOSG) Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 15/5575 – Überweisungsvorschlag: Car-Sharing als innovative Verkehrsdienstleis- Innenausschuss (f) tung im Umweltverbund fördern Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO – Drucksache 15/5586 – c) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Überweisungsvorschlag: und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reorgani- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sation der Bundesanstalt für Post und Tele- kommunikation Deutsche Bundespost und zur i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Änderung anderer Gesetze Dr. Heinrich L. Kolb, Hans-Joachim Otto (Frank- furt), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter – Drucksache 15/5573 – und der Fraktion der FDP Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Finanzierung der Künstlersozialversicherung Innenausschuss sichern Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit – Drucksache 15/5476 – Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung Überweisungsvorschlag: d) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ausschuss für Bildung, Forschung und brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Technikfolgenabschätzung des Vierten und Sechsten Buches Sozialgesetz- Ausschuss für Kultur und Medien buch Haushaltsausschuss – Drucksache 15/5574 – j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Überweisungsvorschlag: Kauch, Rainer Funke, Sibylle Laurischk, weiterer (B) Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Abgeordneter und der Fraktion der FDP (D) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Selbstbestimmungsrecht und Autonomie von Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO nichteinwilligungsfähigen Patienten stärken e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 15/3505 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Überweisungsvorschlag: rung des Abfallverbringungsgesetzes sowie Rechtsausschuss (f) zur Auflösung und Abwicklung der Anstalt Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Solidarfonds Abfallrückführung Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung – Drucksache 15/5523 – Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Straf- überweisen. Der Gesetzentwurf auf Drucksache 15/5517, fung der Umweltstatistik Tagesordnungspunkt 30 d, soll abweichend von der Ta- gesordnung federführend an den Ausschuss für Kultur – Drucksache 15/5538 – und Medien überwiesen werden. Sind Sie damit einver- Überweisungsvorschlag: standen? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisun- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) gen so beschlossen. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 h auf. g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Zweckvermögen des Bundes bei der Landwirt- schaftlichen Rentenbank und zur Änderung Tagesordnungspunkt 31 a: des Gesetzes über die Landwirtschaftliche Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Rentenbank richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) – Drucksache 15/5566 – zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überweisungsvorschlag: Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) Änderung der Verordnung (EG) Nr. 382/2001 Finanzausschuss des Rates vom 26. Februar 2001 hinsichtlich 16750 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) des Zeitpunkts ihres Außer-Kraft-Tretens und – zu dem Antrag der Abgeordneten Horst (C) bestimmter Regelungen betreffend die Aus- Friedrich (Bayreuth), Birgit Homburger, führung des Haushaltsplans Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und KOM (2004) 840 endg.; Ratsdok. 5992/05 der Fraktion der FDP Ausbau der Schienenmagistrale Paris–Karls- – Drucksachen 15/4969 Nr. 1.27, 15/5371 – ruhe–Stuttgart–München–Budapest Berichterstattung: – Drucksachen 15/4864, 15/3715, 15/5041, Abgeordnete Bartholomäus Kalb 15/5572 – Dr. Heinz Köhler Berichterstattung: Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- Abgeordnete Heinz Paula tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für Eduard Lintner diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- men des ganzen Hauses angenommen. schlussempfehlung, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- Tagesordnungspunkt 31 b: probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Unter Nr. 2 bis 4 seiner Beschlussempfehlung emp- und Reaktorsicherheit (15. Ausschuss) zu der Un- fiehlt der Ausschuss, die Anträge der Fraktionen der terrichtung durch die Bundesregierung SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, der Fraktion Bericht der Bundesregierung über die Per- der CDU/CSU und der Fraktion der FDP auf Drucksache spektiven für Deutschland – Nationale Strate- 15/4864, 15/3715 und 15/5041 zur Eisenbahnmagistrale gie für eine nachhaltige Entwicklung Paris–Budapest für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- Fortschrittsbericht 2004 tungen? – Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit – Drucksachen 15/4100, 15/5399 – den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Berichterstattung: Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- Abgeordnete Astrid Klug titionsausschusses. Tagesordnungspunkt 31 d: (B) Winfried Hermann (D) Michael Kauch Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für Sammelübersicht 206 zu Petitionen diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- – Drucksache 15/5470 – tungen? – Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht 206 ist mit den Stimmen Tagesordnungspunkt 31 c: des ganzen Hauses angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 31 e: richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (14. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Karin Rehbock-Zureich, Sören Bartol, weite- Sammelübersicht 207 zu Petitionen rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- – Drucksache 15/5471 – wie der Abgeordneten Albert Schmidt (Ingol- stadt), Volker Beck (Köln), Franziska Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Eichstädt-Bohlig, weiterer Abgeordneter und Sammelübersicht 207 ist ebenfalls mit den Stimmen des der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ganzen Hauses angenommen. NEN Tagesordnungspunkt 31 f: Eisenbahnmagistrale für Europa zwischen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Paris und Budapest ausschusses (2. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Eduard Sammelübersicht 208 zu Petitionen Oswald, Dirk Fischer (Hamburg), Georg – Drucksache 15/5472 – Brunnhuber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Sammelübersicht 208 ist ebenfalls mit den Europäische Eisenbahnmagistrale Paris– Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Budapest im deutschen Abschnitt voran- bringen Tagesordnungspunkt 31 g: Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16751

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- (C) ausschusses (2. Ausschuss) schusses werden wir später namentlich abstimmen. Sammelübersicht 209 zu Petitionen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich – Drucksache 15/5473 – höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- Sammelübersicht 209 ist mit den Stimmen des ganzen minister der Verteidigung, Dr. Peter Struck. Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 31 h: Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten ausschusses (2. Ausschuss) Damen und Herren Kollegen! In den kommenden Mona- ten tritt der Prozess zur politischen Gestaltung des Ko- Sammelübersicht 210 zu Petitionen sovo in eine bedeutende Phase. Die Chancen, den Status des Kosovo zu klären, haben deutlich zugenommen. Der – Drucksache 15/5474 – Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat die Schritte Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- dazu in der vergangenen Woche erörtert und stützt die tungen? – Sammelübersicht 210 ist mit den Stimmen Empfehlungen des Generalsekretärs. Es zeichnet sich ab, von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei dass die angestrebte Feststellung und Bewertung der bis- Gegenstimmen der FDP angenommen. her erreichten grundlegenden demokratischen und rechtsstaatlichen Standards im Kosovo Anfang Juli be- Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: ginnen könnte. Darüber wird dem Sicherheitsrat ein Be- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richt vorzulegen sein, der bei positivem Ergebnis den richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Statusprozess einleiten könnte. Einen Automatismus schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung gibt es dafür allerdings nicht. Die Erfüllung der Stan- dards bleibt nach wie vor eine zwingende Vorausset- Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der zung. Internationalen Sicherheitspräsenz im Ko- sovo zur Gewährleistung eines sicheren Umfel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des für die Flüchtlingsrückkehr und zur mili- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tärischen Absicherung der Friedensregelung Erst am vergangenen Freitag hat der Chef der (B) für das Kosovo auf der Grundlage der Resolu- UNMIK in seinem Bericht an die Vereinten Nationen ei- (D) tion 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Ver- nen andauernden Fortschritt bei der Entwicklung im Ko- einten Nationen vom 10. Juni 1999 und des sovo festgestellt. Er hat aber gleichzeitig betont, dass zur Militärisch-Technischen Abkommens zwi- Verwirklichung aller acht Standards noch erheblich mehr schen der Internationalen Sicherheitspräsenz Anstrengungen unternommen werden müssen. Alle poli- (KFOR) und den Regierungen der Bundesre- tischen Akteure im Kosovo wissen, dass von ihnen publik Jugoslawien und der Republik Serbien – auch im eigenen Interesse – konkrete und entschei- (jetzt: Serbien und Montenegro) vom 9. Juni dende Fortschritte erwartet werden. Es kommt jetzt da- 1999 rauf an – auch im Interesse unserer Soldaten dort –, bald – Drucksache 15/5428 – Klarheit für die Menschen und die Region zu schaffen. Die Lösung der Statusfrage wird die jahrelange Unsi- (Erste Beratung 175. Sitzung) cherheit beenden. Das wird positive Auswirkungen für a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- das Land, aber auch für die gesamte Region haben. Da- wärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) bei steht in jedem Fall fest: Die politische Zukunft des Kosovo muss langfristig in eine europäische Perspektive – Drucksache 15/5588 – der Region eingebettet sein. Berichterstattung: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abgeordnete Uta Zapf DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg CDU/CSU und der FDP) Marianne Tritz Dr. Rainer Stinner Wir alle wissen, dass der laufende politische Prozess zur Zukunft des Kosovo nur in einem sicheren und stabi- b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- len Umfeld erfolgreich gestaltet werden kann. Durch schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung eine Reihe von internationalen und nationalen Maßnah- – Drucksache 15/5608 – men ist es gelungen, eine Wiederholung der gewaltsa- men Auseinandersetzungen wie im März des vergange- Berichterstattung: nen Jahres zu verhindern. Generalsekretär Kofi Annan Abgeordnete Alexander Bonde hat am vergangenen Freitag die substanzielle Verbesse- Lothar Mark rung der Sicherheitslage im Kosovo positiv gewürdigt. Aber es gibt dort noch keine dauerhafte oder sich selbst Jürgen Koppelin tragende Stabilität. Die gesellschaftliche und politische 16752 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Bundesminister Dr. Peter Struck (A) Entwicklung des Kosovo ist unverändert gefährdet. Die gemeinsam hoffen, dass sämtliche Soldatinnen und Sol- (C) Gründe dafür sind vor allem die unbefriedigenden wirt- daten aus dem Einsatz im Kosovo unversehrt zurück- schaftlichen Bedingungen, die hohe Kriminalitätsrate, kommen werden. die fortbestehenden interethnischen Spannungen und der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ politische Extremismus. Auch die anstehende Dezentra- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lisierungsdebatte und die Statusfrage sowie der CDU/CSU und der FDP) Haradinaj-Prozess in Den Haag können zum erneuten Ausbruch von Gewalt führen. Die Anschläge auf Ein- richtungen der internationalen Gemeinschaft und auf Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Politiker wie der Sprengstoffanschlag auf Präsident Das Wort hat der Kollege Christian Schmidt, CDU/ Rugova im März dieses Jahres unterstreichen darüber hi- CSU-Fraktion. naus die Gefährdung der Sicherheitslage. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): In der vor uns liegenden wichtigen Phase für das Ko- Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- sovo ist eine Fortsetzung der militärischen Unterstüt- legen! Die Zeit im Kosovo wird knapp. Der gegenwär- zung der politischen Bemühungen um Frieden und ge- tige Zustand wird nicht halten. – Das schreibt die Inter- sellschaftliche Normalisierung unerlässlich. national Crisis Group, eine internationale Beratergruppe, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die einen sehr verdienstvollen Vorschlag zur weiteren DIE GRÜNEN) politischen Entwicklung der Fragen, die in der Resolu- tion 1244 des UN-Sicherheitsrats nur vorläufig geregelt Die KFOR-Truppe trägt zur Gewährleistung eines si- worden sind, gemacht hat. Wie wird das Kosovo in Zu- cheren Umfeldes und zur Unterstützung der im Kosovo kunft aussehen? Wird es autonom, also unabhängig, tätigen Organisationen bei. Sie bleibt gemeinsam mit sein? Wie wird es sich in die staatlichen Strukturen auf UNMIK unverzichtbar für die Sicherheit im Kosovo. dem Balkan einordnen? Deutschland ist mit rund 2 500 Soldatinnen und Solda- ten der Bundeswehr der größte Truppensteller für die Diese Frage – sie wurde bereits gerade als Status- KFOR. Wir tragen damit eine herausgehobene Verant- angelegenheit angesprochen – muss in diesem Jahr in wortung. Wir sind aber beileibe nicht allein im Kosovo der Tat beantwortet werden, und zwar nicht nur deswe- engagiert. Die KFOR umfasst Streitkräfte von insgesamt gen, weil die Zeit knapp wird, eine allumfassend friedli- über 30 Nationen. Niemand wird bezweifeln, dass deut- che Lösung zu finden – wir haben im März letzten Jahres sche Soldatinnen und Soldaten seit 1999 ganz wesentlich einen Vorgeschmack bekommen, was passieren kann, zur Stabilisierung der Region und zum Wiederaufbau wenn die Dinge stagnieren –, sondern auch, weil wir (B) des Landes beigetragen haben. Ich bin stolz auf diesen nicht wollen, dass aus dem Engagement von NATO, (D) Dienst für den Frieden, den unsere Soldaten geleistet ha- KFOR und Bundeswehr im Kosovo eine unendliche Ge- ben. schichte wird. Ein solches Engagement ist die Aus- nahme und nicht die Regel. (Beifall im ganzen Hause) Triebfeder zur Regelung des Status des Kosovos ist KFOR muss auch weiterhin in der Lage sein, Gewalt- auch der Wunsch, dass unsere Soldaten bald die Mög- tätigkeiten und den sich abzeichnenden Unruhen mit lichkeit haben, das Schicksal dieses Teils des Balkans größtmöglicher Flexibilität zu begegnen. Die bisher er- der Verantwortung albanischer, kosovarischer oder ser- reichten Ergebnisse des immerhin schon sechs Jahre an- bischer ziviler Kräfte, also Polizeikräfte zu übergeben, dauernden Einsatzes im Kosovo dürfen nicht gefährdet auch wenn sich Europa dort niemals politisch vollstän- werden. Deutschland hat, wie alle europäischen Staaten, dig zurückziehen können wird. Wir werden auf politi- ein großes Interesse an der Fortsetzung einer friedlichen scher Ebene ein gewichtiges Maß an Verantwortung be- und demokratischen Entwicklung im Kosovo. Deshalb halten. gibt es zur konsequenten Fortsetzung der Unterstützung des Kosovo wie des gesamten Balkans auf deren Weg (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zurück nach Europa überhaupt keine Alternative. neten der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mit derzeit rund 2 600 Soldaten ist Deutschland einer DIE GRÜNEN) der größten Truppensteller im Kosovo. Unsere Soldaten machen einen guten Job. Sie haben international einen Auch deshalb ist es richtig, den Einsatz der Bundes- guten Ruf; ihr Engagement verdient Anerkennung. Wir, wehr im Rahmen der KFOR-Mission auf bisherigem Ni- die CDU/CSU, stehen zur Fortsetzung der deutschen veau fortzuführen. Gleichzeitig gilt es, in den kommen- Beteiligung an der internationalen Kosovomission. Wir den Monaten alles zu tun, um bei der politischen stehen dazu, dass wir unseren Soldaten die entspre- Kernfrage des Kosovo, dem künftigen Status, endlich chende Unterstützung, Ausbildung und Ausrüstung ge- weiterzukommen. Das liegt sowohl im Interesse der ben. Menschen im Kosovo als auch der KFOR-Truppenstel- lernationen. Unsere Fraktion ist auf die Statusfrage in einem aus- führlichen Antrag zum Westbalkan eingegangen. Wir Für die Zustimmung aller Fraktionen zum Antrag der haben über dieses Thema bereits diskutiert und wir wer- Bundesregierung, die in den folgenden Beiträgen deut- den es mit den Kollegen von und zu Guttenberg und lich werden wird, danke ich Ihnen sehr. Wir alle wollen Helias heute vertiefen. Wir müssen aber auch dort rea- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16753

Christian Schmidt (Fürth) (A) gieren, wo sich die Dinge nicht gut entwickelt haben, Rainer Arnold (SPD): (C) und wir müssen die entsprechenden Probleme anspre- Herr Kollege Schmidt, ich möchte einfach eine Zwi- chen. So hatte man den Eindruck, dass sich nach der schenfrage stellen: Ist Ihnen möglicherweise entgangen, Erfahrung des 17./18. März 2004, als gewalttätige De- dass uns im Verteidigungsausschuss nach den Unruhen monstrationen insgesamt an die 30 Todesopfer gefordert im März von der politischen Leitung des Ministeriums, haben und der Kosovo in Aufruhr war, beim Einsatz der aber auch von der militärischen Führung sehr zügig sehr Bundeswehr und der KFOR-Truppen einige Probleme viele Punkte vorgetragen wurden, bei denen lesson lear- sehr deutlich gezeigt haben. Es war auffällig, wie selek- ned, also die notwendigen Folgerungen tatsächlich vom tiv und beschönigend die Auswertung der März-Unru- Haus aus selbst angegangen und Veränderungen einge- hen in Berlin in den ersten Wochen vorgenommen wor- leitet wurden, oder sind Sie vielmehr der Meinung, es den ist. Es hat eines Anstoßes bedurft, damit man sich bedurfte eines Drucks? Ich habe in Erinnerung, dass das parlamentarisch und auch publizistisch mit den Fragen Ministerium die Dinge von sich aus vorgetragen und beschäftigt hat und zu einer nüchternen Betrachtungs- verändert hat. weise der Probleme gekommen ist. Es hilft ja nieman- dem, so zu tun, als sei alles geregelt, wenn die Probleme knapp unter der Oberfläche liegen und jederzeit wieder Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): ausbrechen können. Herr Kollege, es wird die Mitarbeiter im Ministerium ehren, wenn Sie sagen, alles wäre von selbst gekommen. Ich stimme der Befürchtung des Verteidigungsminis- Natürlich hat man dort reagiert. Aber wir beide wollen ters zu, dass die Verhandlungen über die Statusfrage, als Parlamentarier doch einmal unterstreichen, dass die wenn sie denn in diesem Jahr beginnen werden, ein er- Erzeugung von politischem Aufklärungsdruck üblicher- höhtes Risiko und ein Destabilisierungspotenzial im weise die Aufgabe des Parlaments – ich sage: in diesem Kosovo mit sich bringen werden. Die Verhandlungen Fall auch der Medien – ist. müssen ja nicht genau zu dem Ziel führen, das sich ei- nige wünschen; es kann auch sein, dass es andere Über- Bezüglich „selektiv“ und „beschönigend“ muss ich legungen gibt und dann mancher meint, mit gewaltsa- mich entschuldigen, Frau Präsidentin. Ich habe verges- men Mitteln versuchen zu müssen, die Verhandlungen sen, den Verfasser zu zitieren. Mit Genehmigung der zu beeinflussen. Präsidentin zitiere ich noch einmal einen Vermerk des Deswegen müssen wir schnell reagieren und übrigens Kollegen Winfried Nachtwei von den Grünen von die- mit der Zahl, mit der die KFOR jetzt im Kosovo vertre- sem Jahr, wo er sagte: Vor diesem Hintergrund war auf- ten ist, dort bleiben. Man kann die Zahl nicht reduzieren, fällig, wie selektiv und beschönigend in den ersten Wo- solange die Probleme nicht reduziert sind. Deswegen chen in Berlin die Auswertung der März-Unruhen auf (B) (D) müssen wir dort bleiben. dem normalen Bundeswehrdienstweg war. Wir müssen darauf dringen, dass aus den Problemen Ich bedanke mich beim Kollegen Nachtwei für die des Jahres 2004 Schlussfolgerungen gezogen werden. Zurverfügungstellung dieses Berichts. Wir haben den Unterausschuss „Innere Führung/Ko- sovo“ des Verteidigungsausschusses mit Fragen zu De- Zu dem Problem der internationalen Strukturen und tails beschäftigt und gefragt: Was ist im Kosovo vorge- der Frage: Wie geht es weiter, wenn das in Polizeiaufga- fallen? Da gibt es einige Punkte, die wir noch zu beraten ben übergeführt wird? – Dass es zu viele Wege in Berlin haben, die sich aber jetzt schon abzeichnen. gegeben hat, ist das eine; dass die verkürzt werden und auch schon verkürzt worden sind, mag das andere sein. Es war nicht das Verschulden der Soldaten, dass das Dass Polizei-, Gendarmeriefunktionen mehr gefragt sind Krisenmanagement nicht funktioniert hat. Wir haben als die Funktionen einer hart kämpfenden Truppe und festgestellt, dass in einer internationalen Struktur schon dass man seine Fähigkeiten auch anpassen muss, ist ge- die Informationsgewinnung schwierig und verbesse- nauso wahr. Ich bedauere sehr, dass sich die Bundesre- rungsfähig, ja verbesserungsnotwendig ist. Wir haben gierung nicht dazu bereit erklärt hat, zur europäischen festgestellt, dass die Einsatzregeln nicht von verschiede- Gendarmerietruppe, die beim europäischen Verteidi- nen nationalen Vorbehalten und Vorstellungen geprägt gungsministertreffen in Noordwijk beschlossen worden werden können; das mindert die Einsatzfähigkeit. Wir ist, einen Beitrag zu leisten; denn das brauchen wir in haben festgestellt, dass sich die Kooperation und die Ab- der Zukunft. stimmung auf der politischen Führungsebene, das heißt zwischen dem Sonderbeauftragten der Vereinten Natio- nen, dem Hauptquartier von KFOR und der Polizeistruk- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tur UNMIK, als unzureichend erwiesen haben. Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Frau Präsidentin, ich bin schon beim Ende und erkläre Kollegen Arnold? noch einmal, dass wir diesem Antrag aus grundsätz- lichen Erwägungen zustimmen werden. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bitte sehr. neten der FDP) 16754 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Statusfrage wird nur zu lösen sein, wenn die Region eng (C) Das Wort hat der Bundesaußenminister Joschka in eine stabile Gesamtregion eingebunden ist. Das Nach- Fischer. barland Mazedonien verdient dabei unsere erste Auf- merksamkeit. Dass es unter dem Einsatz von NATO und Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: Europäischer Union gelungen ist, in Mazedonien eine ähnlich katastrophale und furchtbare Entwicklung wie Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In weni- etwa in Bosnien-Herzegowina zu verhindern, ist meines gen Wochen jährt sich zum zehnten Mal das Massaker Erachtens einer der wirklich großen Erfolge, die die eu- von Srebrenica und dies ruft uns in Erinnerung, was in ropäische Balkanpolitik erzielen konnte. Südosteuropa eigentlich auf dem Spiel steht. Vor diesem Hintergrund ist unser Engagement im Kosovo zu sehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unser gemeinsames Ziel – mit „uns“ meine ich die inter- und bei der SPD) nationale Gemeinschaft, aber auch die regionalen Ak- Wenn wir über die Statusfrage nachzudenken begin- teure – bleibt der Aufbau eines multiethnischen, demo- nen, müssen wir einige Dinge klar aussprechen. Das kratisch und rechtsstaatlich verfassten Kosovo, der in ein Erste: Es kann keine Rückkehr zum Status von vor 1999 enges Interessengeflecht mit seinen Nachbarn eingebun- geben. Wer eine solche Rückkehr anstrebt – aber Gott sei den ist. Dank scheint klar zu sein, dass das keiner von den Betei- Es geht darum, den Kosovo – ich denke, das ist für ligten mehr will –, würde nicht die Lösung der Pro- die ganze Region wichtig – europafähig zu machen. bleme, sondern ihre Verschärfung erreichen. Wenn wir über Standards sprechen, dann geht es genau Ein zweiter wesentlicher Punkt ist, dass die Entwick- um diesen Punkt. Erst wenn auf dem Weg zu diesem Ziel lung nicht in Richtung einer Teilung des Kosovo gehen hinreichende Fortschritte erzielt worden sind, sind die darf. Wer anfängt, die Grenzen auf dem Balkan infrage Voraussetzungen gegeben, um die Statusfrage einer Lö- zu stellen, der kann nicht absehen, wo dieses Unterfan- sung zuzuführen. gen enden wird. Eines ist allerdings gewiss: Er wird Dennoch ist es sehr wichtig, dass die Diskussion der nicht Frieden und Stabilität kreieren, sondern genau das Statusfrage jetzt gut vorbereitet begonnen wird und dass Gegenteil. das Überprüfungsdatum eingehalten wird. Es ist ein gro- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ ßer Fortschritt, dass sich die internationale Gemeinschaft DIE GRÜNEN und der SPD) darauf hat einigen können. Deswegen ist es drittens sehr wichtig, dass der multi- Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten ethnische Charakter gewährleistet wird, dass Rück- (B) also vor entscheidenden Herausforderungen stehen. Ge- kehrmöglichkeiten geschaffen werden, dass das Pilot- (D) rade angesichts der Erwähnung von Srebrenica möchte projekt zur Dezentralisierung, das heißt zur kommunalen ich aber nochmals darauf hinweisen, welche positiven Selbstverwaltung auch dort, wo es serbische Mehrheiten Veränderungen die vergangenen Jahre trotz aller großen gibt, vorankommt. Wir brauchen über eine Europäisie- Probleme, die in der Region nach wie vor vorhanden rung nicht zu sprechen, wenn der multiethnische Cha- sind, gebracht haben. rakter infrage gestellt wird. Letzterer beinhaltet nämlich Denken wir doch zurück: Srebrenica war die verbre- im Kern, den europäischen Standard beim Minderheiten- cherische Konsequenz der Wiederkunft einer nationalis- schutz zu erreichen. Ich denke, hier gibt es gerade in Ma- tischen Politik, die mit den Mitteln von Vertreibung, zedonien, aber auch in vielen anderen europäischen Re- Massenvergewaltigungen und Massenmord eine neue gionen hervorragende Erfahrungen mit Modellen, die politische Grenzziehung auf ethnischer Grundlage errei- ohne weiteres angepasst übernommen werden können. chen wollte – etwas, was in Europa in der ersten Hälfte Viertens ist festzuhalten, dass es keinen Weg in un- des 20. Jahrhunderts – gerade in diesem Jahr haben wir konditionierte Unabhängigkeit geben wird, denn Unab- besonders daran gedacht – nicht nur auf dem Balkan, hängigkeit muss auf solider Grundlage stehen, also auf nicht vor allem auf dem Balkan zu finden war. Heute die Interessen der Nachbarn in der gesamten Region gibt es eine Entwicklung der gesamten Region hin zum Rücksicht nehmen. Europa der Integration. Gestatten Sie mir, dass ich noch- mals unterstreiche: Alles, was es an Lösungsansätzen Wenn man diese vier Ausschlusskriterien als Maßstab gibt, lebt letztlich von der festen Verankerung dieser Re- nimmt, dann – das haben alle Gespräche gezeigt – stellt gion in der europäischen Perspektive. man fest, dass die Positionen zwischen der kosovarisch- albanischen Mehrheit und der serbischen Minderheit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN noch weit auseinander liegen. Es besteht aber sozusagen und bei der SPD sowie des Abg. Karl-Theodor nur noch eine quantitative und keine qualitative Diffe- Freiherr von und zu Guttenberg [CDU/CSU] renz mehr. Insofern denke ich, dass wir hier ein Mehr an und des Abg. Dr. Rainer Stinner [FDP]) Stabilität kreieren können. Ohne diese europäische Perspektive werden die tragen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Säulen abgeräumt, die eine langfristige Lösung der und bei der SPD) Konflikte in dieser Region ermöglichen. Wahr ist aber auch, meine Damen und Herren: Das Deswegen ist es wichtig, zu begreifen, dass das Koso- A und O ist die Garantie der Sicherheit, das heißt, dass voproblem nicht allein aus sich heraus zu lösen ist. Die unsere Soldaten, eingebunden in die Anstrengungen von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16755

Bundesminister Joseph Fischer (A) KFOR, Vereinten Nationen und UNMIK, von NATO Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) und Europäischer Union, dort präsent bleiben müssen. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rainer Stinner, Ich war erst jüngst in Prizren und konnte mich davon FDP-Fraktion. überzeugen, welche hervorragende Arbeit dort gemacht wird. Es wurden wirklich Konsequenzen aus den Erfah- Dr. Rainer Stinner (FDP): rungen vom März letzten Jahres gezogen und entspre- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und chende Maßnahmen umgesetzt. Für eine positive Ent- Herren! Herr Außenminister, Sie haben heute eine Rede wicklung im Kosovo und damit der gesamten Region gehalten, in der ohne jeden Zweifel vieles richtig gewe- sind unsere Soldaten zusammen mit den anderen natio- sen ist. nalen Einheiten von KFOR unverzichtbar. Deswegen ist auch die Verlängerung dieses Mandats unverzichtbar. ( [Wiesloch] [SPD]: Sogar Ich freue mich – dafür möchte ich mich bei allen bedan- alles!) ken –, dass dieses Anliegen interfraktionell auf breitester Grundlage steht. Das haben zumindest die Ausschussbe- Es war aber die Rede vom letzten Jahr. Bis auf den letz- ratungen gezeigt. ten Absatz hätten Sie diese Rede genauso gut vor einem Jahr halten können. Sie wäre auch damals richtig gewe- Ein weiteres Mal erleben wir doch hier in einem Teil sen. Europas, dass es nicht mehr um traditionelle Machtpoli- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Nächs- tik geht. Die Bundeswehr wird nicht auf dem Balkan tes Jahr hält er sie nicht mehr!) oder am Hindukusch aus traditionellen Gründen nationa- len Interesses, aus traditionellen Gründen machtgestütz- Aber wir haben erwartet, dass in den letzten zwölf Mo- ter Außenpolitik eingesetzt, sondern sie ist dort, um kol- naten von der Bundesregierung mehr gekommen wäre. labierten Staaten bzw. Regionen zu helfen, auf die Ihre Rede war die Rede von vor einem Jahr und wir er- eigenen Beine zu kommen, um furchtbare Bürgerkriege warten von der Bundesregierung eben mehr. zu beenden, um Sicherheit und Stabilität vor allen Din- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen für die Zivilgesellschaften zu garantieren und um der CDU/CSU) eine demokratische und positive wirtschaftliche Ent- wicklung in der Zukunft zu gewährleisten. Dieser Auf- Die FDP-Fraktion wird heute dem Antrag auf Verlän- trag verdient jede Unterstützung. gerung des Kosovo-Mandats zustimmen. Wir wissen, dass im Kosovo nach wie vor NATO-Soldaten gebraucht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden und wir wollen als Deutsche dazu unseren Bei- und bei der SPD) trag leisten. Aber seit Beginn der Diskussion über die (B) Mandatsverlängerung gab es immer wieder ein Credo: (D) Meine Damen und Herren, wir stehen auf dem Balkan Wir brauchen dringend politische Perspektiven, eine vor einem entscheidenden Jahr. Wenn Europa aufgrund politische Lösung dieses Problems. Das müssen wir vo- seiner internen Probleme das Signal aussenden würde, rantreiben. Wir dürfen nicht zulassen, dass Soldaten auf seine Haltung lockern zu wollen, würde das auf dem Dauer als Ersatz für Politik gebraucht werden. Wir müs- Balkan umso stärkere Folgen haben. Das wäre also ein sen politisch agieren und das verlangen wir von allen. falsches Signal. Deswegen rate ich dringend dazu, sau- ber zu unterscheiden: Die Lösung der internen europäi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schen Probleme ist nach den beiden Entscheidungen in der CDU/CSU – Winfried Nachtwei [BÜND- Frankreich und den Niederlanden schwer genug. Europa NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir uns ei- wird sich aber aufgrund seiner internen Probleme keine nig!) Auszeit bezüglich seiner geschichtlichen Verantwortung nehmen können. Wenn wir meinen, die auf dem Balkan – Herr Nachtwei, wir sind uns alle einig; das freut mich eingegangenen Verpflichtungen auch nur ansatzweise in- sehr. frage stellen zu können, weil der europäische Einigungs- Meine Fraktion, die FDP, hat dazu im Frühjahr letzten prozess stagniert, dann werden wir dafür einen hohen Jahres einen ganz konkreten Antrag eingebracht. Preis bezahlen. Das wäre unvernünftig und sollte unter- lassen werden. (Günther Friedrich Nolting [FDP]: So ist es! Den hat die Koalition abgelehnt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Wir haben im Frühjahr letzten Jahres ganz konkret ge- FDP) fordert, dass sich die Europäische Union stärker enga- giert. Wir haben ein europäisches Treuhandgebiet ge- Meine Damen und Herren, ich möchte mich nochmals fordert. Internationale Studien bestätigen uns in unserer für die fraktionsübergreifende Unterstützung unserer Anschauung. Der Bericht des norwegischen Botschaf- Soldaten bedanken und mich dem Wunsch anschließen, ters Eide für die Vereinten Nationen nach den Ereignis- dass alle gesund und wohlbehalten nach Hause zurück- sen im März 2004 geht eindeutig in unsere Richtung ei- kehren mögen. nes stärkeren europäischen Engagements. Noch stärker in dieselbe Richtung geht der Bericht der Balkan-Kom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mission vom April dieses Jahres, die unter der Führung und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der des italienischen Exministerpräsidenten Amato stand CDU/CSU und der FDP) und der auch Herr von Weizsäcker angehörte. Dort heißt 16756 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Dr. Rainer Stinner (A) es: Die UNMIK muss durch die Europäische Union ab- Uta Zapf (SPD): (C) gelöst werden. Das ist eine klare Sprache, die wir auch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! im Deutschen Bundestag verlangen. Ich glaube nicht, dass wir hier die Reden vom letzten Jahr halten. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ich möchte aber gern Wir haben diese Forderung eingebracht. Die Bundes- Ihre Rede vom letzten Jahr hören!) regierung sagt heute – deutlicher als vor einem Jahr; das – Ich sage jetzt aber etwas anderes, Herr Stinner. Mir gebe ich zu –, dass die europäische Perspektive wichtig fällt öfter einmal etwas Neues ein. ist. Trotzdem lehnt die rot-grüne Mehrheit unseren An- trag ab. Auch hier schlägt Parteipolitik Sachpolitik. Das Wir alle wissen, dass die KFOR-Verlängerung drin- ist für uns auf Dauer nicht akzeptabel. gend notwendig ist, dass wir wahrscheinlich nicht das letzte Mal verlängern, aber dass wir fast alle einmütig (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zustimmen, weil wir wissen, dass dies für die künftige der CDU/CSU – Widerspruch der Abg. Uta Stabilität im Kosovo dringend erforderlich ist. Zapf [SPD]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Wir brauchen hier und heute konkretere Schritte, Frau des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zapf. Ich erinnere mich sehr gut an Ihre Rede vor genau Die Sicherheitslage – so steht es in dem Bericht des einem Jahr hier, in der Sie gesagt haben: Die Zeit rennt BMVg – ist ruhig, aber nicht stabil. Was heißt das, liebe uns davon, der Balkan brennt. Sie können nicht zufrie- Kolleginnen und Kollegen? Die Märzunruhen haben wir den sein mit dem, was im letzten Jahr erreicht worden immer noch im Hinterkopf. Wir haben das Attentat auf ist; Sie müssen einfach konkreter werden. Rugova in Erinnerung, die Ermordung des Bruders von Herr Minister, sowohl das, was Sie heute hier gesagt Haradinaj und den Anschlag auf die Partei ORA von haben, als auch das, was Sie gestern im Ausschuss ge- Veton Surroi. Das beängstigt uns; deswegen fürchten sagt haben, bleibt im Ungefähren, im Wolkigen, ist als wir, dass wieder Eruptionen auftreten. Perspektive zu wenig konkret. Aber wir konnten im letzten Jahr auch positive Ab- läufe beobachten: Die fairen Wahlen und die Regierung (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Es geht um Haradinaj, die sich zu unserer großen Überraschung als eine Mandatsverlängerung, Herr Stinner!) ausgesprochen stabilisierend erwiesen hat; die Übergabe – Herr Weisskirchen, wir wissen alle spätestens seit von Haradinaj an Den Haag und die Regierungsübergabe an Kosumi, die allesamt geklappt haben. Wir haben also (B) Sonntag und seit gestern, seit den Volksabstimmungen in (D) Frankreich und den Niederlanden, wie wichtig es ist, die immer auch Positives zu beobachten. Deshalb stelle ich Bevölkerung bei politischen Prozessen mitzunehmen. fest, dass wir in diesem für den Statusprozess entschei- Wir müssen jetzt auch dahin kommen, Herr denden Jahr 2005 ganz genau hinsehen müssen, was in Weisskirchen, die betroffene Bevölkerung in Serbien dem Bericht von Kofi Annan an den Sicherheitsrat steht. und im Kosovo bei dem Prozess mitzunehmen. Wo tun Ich empfehle ihn wirklich zur Lektüre; Herr Stinner, ich wir das? Auch das muss getan werden. nehme an, Sie haben ihn gelesen. In ihm steht, dass es sehr viele Fortschritte bei der Statusimplementierung ge- Wir müssen konkreter werden. Dazu haben wir einen geben hat, dass es natürlich noch Defizite gibt und dass Vorschlag gemacht. Wir erwarten von der Bundesregie- auch in den prioritären Bereichen – – rung und von der Europäischen Union, dass sie sich hier (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Sie meinen Stan- stärker engagieren. Das ist der einzig richtige Weg. Wir dardimplementierung, nicht Statusimplemen- müssen unseren Soldaten sagen, dass wir an der politi- tierung!) schen Perspektive arbeiten. Die europäische Lösung ist der richtige Weg. Arbeiten wir gemeinsam daran! Das – Da habe ich mich versprochen; aber Sie verstehen ja sind wir den Soldaten schuldig. Wir können nicht zulas- immer, was ich sagen will. Das ist gut. sen, dass in den nächsten drei Monaten hier nur noch Innere Streitigkeiten bei den Kosovaren behindern be- Wahlkampf gemacht wird, statt dass dafür gesorgt wird, stimmte Fortschritte. Sie betreffen zum Beispiel die dass die Soldaten sicher nach Hause kommen. Wir müs- Flüchtlingsrückkehr, bei der es noch Probleme gibt, die sen ihnen sagen: Die politische Lösung ist da und des- Dezentralisierung, die nicht vorankommt, und die Res- halb können wir euren schweren Einsatz endlich been- titution der Flüchtlinge aus der Zeit der Märzunruhen. den. Es wird einen weiteren Bericht geben, den wieder Vielen Dank. Karl Eide erstellen wird; er wird in etwa drei Monaten vorliegen. Aber ich glaube, dass es eine positive Per- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten spektive gibt, die wir von uns aus unterstützen sollten. der CDU/CSU – Uta Zapf [SPD]: Das war Ich habe heute mit Herrn Rücker gesprochen, der dort im auch die Rede vom letzten Jahr!) Bereich der Wirtschaftssäule tätig ist. Er hat mir einen sehr positiven Eindruck von der Entwicklung vermittelt. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Weitere Fortschritte sind selbstverständlich notwen- Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf, SPD-Fraktion. dig. Dazu gehört insbesondere die Teilhabe der Kosovo- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16757

Uta Zapf (A) serben an den politischen Institutionen und die Teil- in einer ganzen Region, zu dem die Bundesrepublik er- (C) nahme an der Parlamentsarbeit. Ich denke, wir alle heblich beigetragen hat. haben ein Interesse daran, dass sich auch dieser Bevöl- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des kerungsteil an der Entwicklung beteiligt. Wir sollten sie BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ausdrücklich dazu auffordern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diesen dürfen wir nicht stoppen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr von Guttenberg, ich möchte Sie, wie ich es Lassen Sie mich noch auf ein paar positive Punkte schon einmal getan habe, an Ihren Balkan-Antrag erin- hinweisen. Zum Beispiel ist die Bewegungsfreiheit der nern. Ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, Serben verbessert worden. KFOR braucht also nicht aus dem Antrag der CDU/CSU: mehr so häufig bei irgendwelchen Bewegungen Schutz Die Europäische Union hat den Staaten des westli- zu gewähren. Als besonders gut erachte ich, dass sich die chen Balkan eine EU-Beitrittsperspektive gegeben, Kooperation zwischen UNMIK und PISG, also der koso- die ein wichtiger Anreiz für die Entwicklung von varischen Regierung, hervorragend entwickelt hat. Als Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirt- ich zum letzten Mal im Kosovo war und mit den Koso- schaft in diesen Ländern ist. varen sprach, sagten sie, die Vertreter der UNMIK seien schreckliche Diktatoren; die UNMIK sagte, die Leute Dem ist nichts hinzuzufügen. von der Regierung könnten es ja gar nicht. Mittlerweile Aber dann bitte ich Sie, Frau Merkel, Herrn Glos und hat sich ein vertrauensvolles, kooperatives Verhältnis andere Ihrer Kolleginnen und Kollegen aufzufordern, entwickelt. Dies ist ein wichtiger Ansatz, den man nicht die wirklich gefährlichen Sprüche in Bezug auf eine zu- unterschätzen darf. künftige Erweiterung der EU einzustellen und zu überle- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen, wie wir die gegenwärtige Krise, die natürlich auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wir empfinden, so meistern können, dass wir die wichti- gen Aussichten, die die Erweiterungsperspektive von Auch die Privatisierung ist auf einem besseren Weg; dies Thessaloniki und die Stabilitäts- und Assoziationsab- hat große Bedeutung für die Wirtschaftsentwicklung. kommen für die gesamte Region bieten, nicht leichtfer- Recht positive Entwicklungen gibt es aber auch in tig zerstören und damit unsere eigenen Sicherheitsinte- Belgrad. Ich halte dies ebenfalls für einen sehr wichtigen ressen nicht in Gefahr bringen. Punkt. Die Position ist flexibler geworden. Der Dialog- Lassen Sie mich ein letztes Wort sagen. Herr von prozess an den drei verschiedenen Tischen – Vermisste, Guttenberg, in Ihrem Antrag steht, dass die Regierung (B) Kulturerbe, Transport, Verkehr und Energie – ist wieder mutlos im Status quo verharre. Hier könnte ich Ihnen in (D) aufgenommen worden. Das sind noch keine Verhandlun- der Tat Gedächtnisschwund nachweisen. Was diese Bun- gen, aber hier ist wieder ein Dialog in Gang gekommen. desregierung, angefangen bei der Initiative zum Stabili- Tadic hat ein Angebot zu Gesprächen an Rugova ge- tätspakt, über die ganzen Jahre hin getan hat, um diese macht; leider hat Rugova abgelehnt. Aber Kosumi hat Region zu stabilisieren, sollten Sie selbst im Wahlkampf das Angebot von Kostunica angenommen und wird dem- nicht heruntermachen. nächst nach Belgrad reisen. Ich finde, das ist eine gute (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Entwicklung. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ich glaube, wir alle haben eine große Verantwortung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) für die Zukunft einer Region, die zu Europa gehört und Wer genau zuhört, hat bei allen Vertretern der demo- der wir dringend helfen müssen, sich zu stabilisieren. kratischen Parteien – nicht der radikalen Parteien –, mit Ich danke Ihnen. denen man in Belgrad spricht, das sichere Gefühl, dass Belgrad einen wichtigen Anreiz braucht, um diesen Pro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zess weiterzuführen. Dieser Anreiz ist die EU-Perspek- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tive. Herr Stinner, es ist richtig: Nur, Sie haben perfekte Rezepte vorgegeben, während sich die Strukturen noch Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: in der Entwicklung befinden und noch ausgearbeitet Nächster Redner ist der Kollege Karl-Theodor werden müssen. Zum Beispiel hat das positive Ergebnis Freiherr zu Guttenberg, CDU/CSU-Fraktion. der EU-Machbarkeitsstudie Belgrad einen ganz großen Schub gegeben, sich mit dem Problem Kosovo in einer Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg positiven Richtung auseinander zu setzen. Das, was mit (CDU/CSU): dem Stabilitätspakt begonnen und 2003 in Thessaloniki Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und versprochen wurde, diese europäische Perspektive dür- Herren! Frau Zapf, Ihre Verknüpfung der Erweiterung fen wir unter gar keinen Umständen stoppen. der EU um Rumänien und Bulgarien mit den Fragen, vor Deshalb wiederhole ich, was ich schon im Ausschuss denen wir im Westbalkan stehen, ist – Herr Bundesaußen- gesagt habe: Wer wie die CDU/CSU in populistischer minister, auch Sie haben dies implizit angesprochen – in Art und Weise an der europäischen Perspektive rüttelt, der Form, wie Sie es tun, unseriös. Man kann nicht Äpfel versündigt sich in der Tat an dem Stabilisierungsprozess mit Birnen vergleichen. 16758 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg (A) (Beifall des Abg. Christian Schmidt [Fürth] scheint nur noch schlagwortartig und schlaglichtartig in (C) [CDU/CSU]) Debatten wie dieser, die wir heute führen. Er erscheint innerhalb der internationalen Gemeinschaft, wenn es in Für die Westbalkanländer geht es um die Perspektive der breiten Tagesordnung irgendwann einmal angesagt Europa und die Wirkkräfte, die diese Perspektive entfal- erscheint, sowie in der Reaktion auf unvorhersehbare ten kann – das ist richtig –, bei Rumänien und Bulgarien Geschehnisse. Dieser unbedingte Wille flaut dann er- um den konkreten Beitrittstermin und die nicht ausrei- staunlich schnell wieder ab. Das gilt auch für das Be- chende Erfüllung entsprechender Kriterien. Auch wenn dürfnis, sich substanziell damit auseinander zu setzen, sich das für Sie nicht unmittelbar erschließen mag: Das wie vorhersehbar solche Ereignisse gewesen sind. Der sind zwei völlig unterschiedliche Paar Stiefel, verehrte Kollege Christian Schmidt hat darauf hingewiesen. Frau Zapf und verehrter Herr Bundesaußenminister. Wir stehen vor einem entscheidenden Jahr. Auch da- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. rauf wurde hingewiesen. In der internationalen Gemein- Harald Leibrecht [FDP] – Gert Weisskirchen schaft entwickelt sich eine gewisse Dynamik. Auch aus [Wiesloch] [SPD]: Sie waren noch nie in Bel- der Region selbst sind zumindest zaghafte Töne zu ver- grad!) nehmen, dass ein Einigungspotenzial vorhanden ist. Sie wollen doch nicht ernsthaft den Eindruck vermit- Dieses Einigungspotenzial sollten wir aufgreifen und die teln, dass im Umkehrschluss ein Beitritt zur Europäi- erkennbare Verhandlungsbereitschaft sollten wir unter- schen Union einem Durchmarsch gleichkommt. Herr füttern. Bundesaußenminister, gerade diese Haltung kann sich (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. die Europäische Union momentan am allerwenigsten Harald Leibrecht [FDP]) leisten. Frau Zapf, die CDU/CSU unterstützt ganz aus- drücklich die Gewährung einer europäischen Perspek- Dazu genügt es allerdings nicht, nur Kosmetik zu be- tive für die Westbalkanländer. Nur müssen auch die treiben. Ein vernarbtes Gesicht schminkt sich weder zum gegebenen Zeitraum ihre Hausaufgaben im Hin- selbst noch will es sich von außen schminken lassen. Es blick auf eine Vollmitgliedschaft, die derzeit noch gar gewinnt – wenn überhaupt – durch die Wiedergewin- nicht im Raume steht, angehen. Sollten die Westbalkan- nung von Selbstachtung und durch Anerkennung von au- länder dann einmal so weit sein – wir wünschen uns ßen. Diese Anerkennung ist nicht nur auf den Kosovo zu schließlich alle, dass Beitrittsverhandlungen aufgenom- übertragen, sondern auch auf die angrenzenden Länder, men werden –, darf es für diese keinen Rabatt geben. unter gewissen Voraussetzungen auch auf Serbien. Auch Diesen Rabatt gewähren Sie anderen Ländern derzeit je- das ist angesprochen worden und ist in diesem Kontext doch mit allzu leichter Hand. auch völlig richtig. Das heißt aber, dass wir keine Aus- (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU) grenzung betreiben dürfen. Demzufolge müssen wir Ser- bien innerhalb dieser Voraussetzungen und Anforderun- Im Rahmen der Abwägung all dieser Aspekte ist für gen mit ins Boot nehmen. Das bedeutet aber auch, dass Sie offensichtlich die Signalwirkung in Richtung dieser wir klar machen müssen, dass eine Zusammenarbeit mit Länder bei weitem gewichtiger als der innere Zustand dem Internationalen Strafgerichtshof in diesem Kontext beitretender Länder und möglicherweise auch wichtiger entscheidend bleibt und auch die anderen Voraussetzun- als die Kompensationsfähigkeit der Europäischen gen erfüllt werden müssen. Union. Auch dieser Zusammenhang ist zu sehen. Nun zur Statusfrage, Herr Bundesaußenminister. Wir Wie oft haben wir in den vergangenen Jahren das wiederholen seit Jahren – meist ex negativo – all die As- Wort Perspektive gebraucht? Kollege Stinner hat auch pekte, die die Statusfrage nicht umfassen darf. Aber wie darauf hingewiesen. Wie oft haben wir gebetsmühlenar- sehen Ihre positiven Konzepte aus? Es wurde zum Bei- tig – wenn auch zu Recht – unseren Soldaten gedankt spiel von einer konditionierten Unabhängigkeit gespro- und mit dem Dank an die Soldaten auch die Notwendig- chen. Das wäre ein möglicher Ansatz. Aber auch dieser keit von Veränderungen verknüpft? So oft, dass man Ansatz muss irgendwann einmal seinen Kinderschuhen mittlerweile auch darauf achten muss, dass daraus keine entwachsen. Dafür zu sorgen, das ist Aufgabe der Bun- Routine lediglich erneuerter Hoffnungen erwächst. desregierung. Die schrecklichen Ereignisse im März 2004 waren ein Ich schließe meine Rede und sage, dass wir für diesen Wachrütteln, allerdings alles andere als ein Frühlingser- gesamten Komplex ein willens- und handlungsfähiges wachen im Hinblick auf die Kernfragen im Kosovo. Europa brauchen, insbesondere im Lichte der beiden Re- Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass die ferenda, die in den letzten Tagen in Frankreich und in klamme Kälte, die die Stagnation auch danach noch aus- den Niederlanden stattgefunden haben. Willens- und zustrahlen wusste, immer noch in unseren politischen handlungsfähig bedeutet, seine Kräfte nicht lediglich im Knochen steckt. Anspruch der Grenzüberschreitung zu verschleißen, Herr Bundesaußenminister, sondern die Grenzen auch zu Meine Damen und Herren – das richtet sich insbeson- fassen wissen. dere an die Bundesregierung –, wo ist eigentlich der un- bedingte Wille im Hinblick auf den Kosovo, den wir 1999 verspüren durften, der unbedingte Wille, den man Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: in die Region hinein und den man der Region selbst auch Herr Kollege, ich möchte Sie daran erinnern, dass Sie vermitteln muss, Herr Bundesaußenminister? Er er- Ihre Rede schließen wollten. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16759

(A) Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg desinnenminister bereiten massenhafte Abschiebungen (C) (CDU/CSU): von Kriegsflüchtlingen vor, was allerdings voraussetzt, Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. dass die Lage im Kosovo für die Betroffenen zumutbar ist. Die Grenzziehung als solche umfasst den Westbalkan. Überschätzen Sie Ihre Europapolitik nicht und fassen Sie Nach allen Regeln formaler Logik muss eine der zwei sie wieder in Muster, die für unsere Bevölkerung ver- SPD-Argumentationen falsch sein, entweder die des In- ständlich sind. nenministers oder die des Verteidigungsministers. Vielen Dank. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Wir lehnen beides ab, sowohl die Verlängerung des Krie- ges als auch die Abschiebung der Opfer. Auch deshalb Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wird die PDS mit Nein stimmen. Das Wort hat die Kollegin Petra Pau. (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktionslos]) Petra Pau (fraktionslos): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Mandat der Bundeswehr, das heute erneut verlän- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege gert werden soll, reicht zurück in das Jahr 1999. Damals Siegfried Helias, CDU/CSU-Fraktion. begann der Krieg der NATO gegen Jugoslawien. Für Deutschland wurde er zum Sündenfall. Die PDS im Siegfried Helias (CDU/CSU): Bundestag hat bereits damals gesagt: Das ist politisch Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und falsch und obendrein völkerrechtswidrig. Herren! Den Soldatinnen und Soldaten ist zu Recht für (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch ihre aufopferungsvolle Arbeit gedankt worden, und dies [fraktionslos]) nicht nur gebetsmühlenartig, sondern vielmehr aus volls- ter Überzeugung. Ich möchte in diesen Dank auch die Damals war die Debatte aufgeheizt. Verteidigungsmi- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisatio- nister Scharping handelte mit Geheimplänen, die PDS nen einbeziehen, die ebenfalls einen wesentlichen Bei- wurde als fünfte Kolonne Moskaus verdächtigt und Tau- trag zur Stabilität dieses Landes leisten. sende Friedensbewegte demonstrierten gegen den dro- (B) henden Krieg – vergebens. Kurzum, wir haben das Bun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) deswehrmandat 1999 abgelehnt und wir werden heute neten der SPD und der FDP) auch seiner Verlängerung nicht zustimmen. So sehr sich die Sicherheitspräsenz auch bewährt hat, (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch bleibt die Lage im Kosovo weiterhin von Kriminalität, [fraktionslos]) ethnischen Konflikten und politischen Extremen ge- kennzeichnet; der Verteidigungsminister hat dies zutref- Wie bei allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr ver- fend festgestellt. Der Außenminister hat zudem einige missen wir auch bei diesem Einsatz drei wesentliche Ausführungen zum künftigen Status gemacht; dafür ist Leitplanken: ein tragfähiges politisches Konzept, eine ihm zu danken. Umso bedauerlicher ist es, dass sich der glaubwürdige Analyse und ein überschaubares Aus- Antrag der Bundesregierung auf eine Stellungnahme stiegsszenario. Stattdessen erleben wir, dass sich die zum Istzustand beschränkt und eigene Ideen zum politi- Lage im Kosovo zwar gewendet, nicht aber gebessert schen und zum wirtschaftlichen Status des Kosovo ver- hat. Hieß es anfangs „Serben kontra Albaner“, so heißt missen lässt. es längst „Albaner gegen Serben“. Selbst wenn ich op- portunistisch wäre und meinen würde, der Erfolg heilige (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und die Mittel, bliebe unter dem Strich das Fazit: Es gibt kei- der FDP) nen Erfolg. Über den sicherheitspolitischen Aspekt wird hier (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch kaum hinausgedacht. Mittlerweile hat sich sogar die [fraktionslos]) neutrale Schweiz mit eigenen Vorschlägen zu Wort ge- meldet, doch auf eine Initiative der Europäischen Union Diese Region Europas ist ein Pulverfass, wodurch wie- oder der Bundesregierung, wie sie der Kollege Stinner derum die dafür bereitgestellten Mittel zusätzlich in gefordert hat und wie sie auch von unserer Fraktion er- Zweifel gezogen werden. Daher wird die PDS im Bun- wartet wurde, warten auch die Kosovaren leider verge- destag sie auch nicht nachträglich legitimieren. bens. Seit einigen Tagen gibt es bei Rot-Grün ganz offen- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) sichtlich ein paar Abstimmungsprobleme. Aber auch in- nerhalb der SPD-Ressorts scheint die eine Hand nicht zu Die Entsendung des Sondergesandten Kai Eide – Herr wissen, was die andere treibt. Verteidigungsminister Minister Struck, Sie haben das angesprochen – durch Struck, SPD, verlangt eine Verlängerung des KFOR- den UN-Generalsekretär zwecks Überprüfung des Min- Mandats. Seine Begründung: Die Lage im Kosovo ist derheitenstandards ist der beste Beweis dafür, dass aber- höchst instabil. Innenminister Schily, SPD, und die Lan- mals die Vereinten Nationen das Heft in die Hand 16760 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Siegfried Helias (A) nehmen müssen. Trotz dieser begrüßenswerten UN- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) Mission darf nicht vergessen werden, dass es im Kosovo Danke schön. – Ich schließe damit die Aussprache. nicht nur um Standards und um den Status geht – es geht Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- vor allen Dingen um die Menschen, die in diesem Gebiet gen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung wohnen und die eine Existenzgrundlage und eine Le- zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der Inter- bensperspektive benötigen. nationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Es liegen eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und persönliche Erklärung des Abgeordneten Koppelin und der FDP) eine persönliche Erklärung des Abgeordneten Winkler mit insgesamt 36 Unterschriften von anderen Kollegen Im Ergebnis sieht sechs Jahre nach dem Krieg die Ge- vor, die wir zu Protokoll nehmen.1) Der Ausschuss emp- samtbilanz leider immer noch trostlos aus, nicht zuletzt fiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/5428 anzunehmen. aufgrund des ebenso kostspieligen wie verfehlten Ma- Es ist namentliche Abstimmung verlangt. nagements der internationalen Gemeinschaft. Diese hat – das müssen wir festhalten – mit ihren bisherigen Kon- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die zepten schlichtweg versagt. Allein im Rahmen des Sta- vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze an bilitätspakts für Südosteuropa wurden rund 2 Milliarden den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne damit Euro in den Wiederaufbau weitgehend fehlinvestiert. die Abstimmung. Deutschland hat sich auf bi- und multilateraler Ebene am Ich denke, Sie sind damit einverstanden, dass wir Wiederaufbau beteiligt. Die verschiedenen Mittel flos- noch zwei weitere Unterschriften unter der persönlichen sen in Infrastrukturprojekte, in den Aufbau mittelständi- Erklärung des Abgeordneten Winkler zu Protokoll neh- scher Strukturen sowie in die Selbstverwaltung der Ko- men. – Dann tun wir das. sovaren. Das ist begrüßenswert. Doch wenn wir nach der Verwendung der Gelder fragen, stellen wir fest, dass im Wie sieht es aus? Ist ein Mitglied des Hauses anwe- Kosovo Unvermögen auf Unfähigkeit trifft. Das Engage- send, das seine Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – ment der internationalen Gemeinschaft, allen voran der Ich höre keine Proteste. Dann schließe ich damit die Ab- UNMIK, ist ein Trauerspiel. stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift- führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) Wir setzen die Beratungen fort. Es korrespondiert mit der Bilanz einer völlig überforder- ten Selbstverwaltung, die immer noch in den Kinder- Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: schuhen steckt. Wir müssen feststellen, dass die Kosova- Aktuelle Stunde (B) ren immer noch keine Perspektive haben. Die Menschen auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (D) im Kosovo wollen aber nicht nur Empfänger von Hilfs- GRÜNEN leistungen sein und sich so empfinden, sondern gleich- berechtigte Partner in der Entwicklungszusammenarbeit. Schwerer Störfall in der Wiederaufbereitungs- anlage Sellafield Obwohl sich die wirtschaftliche Situation des Ko- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst sovo also nicht gebessert hat, drosseln die Geberländer der Herr Bundesminister Jürgen Trittin. ihre Hilfsleistungen: Allein die EU hat ihre Mittel von 154 Millionen Euro im Jahr 2002 auf 50 Millionen Euro (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- im letzten Jahr abgesenkt. Die ausländischen Kapitalzu- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) flüsse versiegen zu einer Zeit, in der eine Klärung der Statusfrage völlig offen, aber dringend geboten ist. Mit Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- den von deutscher Seite in Rede stehenden weiteren schutz und Reaktorsicherheit: 13 Millionen Euro für 2005 stellt sich die Frage, wie Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha- Deutschland seine künftige Entwicklungszusammenar- ben es hier mit einem sehr ernsten Vorgang zu tun. Es ist beit im Kosovo gestalten will, um den Menschen eine nicht das erste Mal, dass es in der Wiederaufarbeitungs- Perspektive zu geben. Hier muss nach meiner Auffas- anlage in Sellafield zu einem Störfall kommt. Es ist auch sung das Umdenken beginnen: Wir müssen die Ursachen nicht das erste Mal, dass über diesen Störfall nur mit er- der wirtschaftlichen Misere bekämpfen und nicht allein heblicher zeitlicher Verzögerung berichtet wird. Erst die Symptome. nachdem dies der britischen und internationalen Presse bekannt wurde, erst nachdem wir am 9. Mai schriftlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und mündlich bei den britischen Aufsichtsbehörden der FDP) nachgefragt haben, sind wir schriftlich und mündlich in- Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Zur Stabilisie- formiert worden. rung des gesamten westlichen Balkans müssen dem Ko- Nach diesen Informationen stellt sich der Vorgang sovo nicht nur politische, sondern auch klare wirtschaft- wie folgt dar: In der Wiederaufarbeitungsanlage wurde liche Perspektiven eröffnet werden. Dies, meine Damen am oder um den 19. April herum mithilfe einer Kamera und Herren, hat die Bundesregierung bislang leider ver- säumt. 1) Anlage 2 und 3 (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 2) Seite 16762 C Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16761

Bundesminister Jürgen Trittin (A) festgestellt, dass 83 000 Liter hoch radioaktive konzen- (Monika Griefahn [SPD]: Ich dachte, eher mit (C) trierte Salpetersäure aus einer vollständig abgerissenen einem Minus!) Rohrleitung in die Bodenwanne einer so genannten Hei- ßen Zelle geflossen sind. 83 000 Liter Salpetersäure sind – Das wäre ganz ehrlich, Frau Griefahn, aber ich habe in etwa 22 Tonnen abgebrannte Brennelemente. Man mich jetzt auf das, was ausgewiesen ist, bezogen. kann es auch anders ausdrücken: 220 Kilogramm Pluto- nium sind dort aufgelöst. Der Störfall in Sellafield zeigt, dass die Entscheidung dieser Bundesregierung richtig war, die Wiederaufarbei- Gott sei Dank hat die Bodenwanne der Heißen Zelle tung deutschen Atommülls zu beenden. diese Menge aufgenommen und es ist nicht zu einer Freisetzung gekommen. Gott sei Dank ist es zumindest (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach den Informationen, die die Briten uns übermittelt und bei der SPD) haben, so, dass die Gefahr einer Kritikalität, das heißt Übrigens, die ökonomische Einschätzung, die ich Ihnen das Entstehen einer Kettenreaktion, zurzeit ausgeschlos- hier vorgetragen habe, teilen auch die Betreiber unserer sen ist. Atomkraftwerke. Weil wir heute über ein vernünftiges (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Konzept von dezentraler Zwischenlagerung verfügen, Zurzeit!) haben sie die Zahl der möglichen Transporte drastisch minimiert, fast auf die Hälfte. Anfang 2000 hatten sie Die Internationale Atomenergie-Behörde hat diesen noch vor, 500 Behälter in die Wiederaufarbeitungsanla- Störfall in Stufe 3, also als einen ernsten Störfall – a se- gen nach La Hague und Sellafield zu bringen. Tatsäch- rious incident –, eingeordnet. Dennoch wurde dieser lich wurden jetzt nur noch 267 verbracht. Ich sage Ihnen Vorfall gegenüber der Öffentlichkeit lange Zeit geheim auch und gerade mit Blick auf die Diskussionen über gehalten. Atomtransporte hier: Jeder Behälter, der nicht nach Sellafield geht, jeder Behälter, der nicht nach La Hague Ursache ist übrigens nach bisheriger Einschätzung geht, ist ein Behälter weniger, der zurück nach Gorleben Materialermüdung. Es gibt ernste Hinweise darauf, dass diese Materialermüdung schon im August 2004 festge- oder Ahaus kommt. stellt wurde. Es ist offensichtlich so, dass seit Januar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2005 kontinuierlich Flüssigkeitsvolumina ausgetreten und bei der SPD) sind. Trotzdem wurde dort weiterbetrieben und dieser Störfall lange verschwiegen. Ich sage mit allem Nach- Die Praxis des Transportes unseres Atommülls in das druck: Ich halte bei aller Kollegialität diese Art des Um- Ausland endet jetzt vollständig. Ab 30. Juni wird es (B) gangs für nicht akzeptabel. keine Transporte mehr geben. Der letzte Transport nach (D) Sellafield, der von Vattenfall vorgesehen war, ist am ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gangenen Freitag abgesagt worden. Ich begrüße außeror- sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. dentlich, dass man sich so verhalten hat. Birgit Homburger [FDP]) Wir kennen solche Probleme aus vielen Fällen. Es ge- Der Störfall in Sellafield bestätigt auch, dass nicht nur hört bei solchen Anlagen, wenn man sie betreibt und et- die Beendigung der Wiederaufarbeitung, sondern auch was passiert, zu einem verantwortungsbewussten Sicher- der Ausstieg aus der Atomenergie der richtige Weg ist. heitsmanagement, schnell zu handeln und umfassend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und korrekt zu informieren. Leider ist das nicht der erste und bei der SPD) Fall. 1950 ist in Sellafield der erste Störfall aufgetreten. Inzwischen ist dies zum Symbol für die Achillesferse der Nur durch einen Verzicht auf die Atomenergie können Nukleartechnik geworden, nämlich das Sicherheitsma- die Gefahren, die mit dieser Hochrisikotechnologie ver- nagement. Es ist oft gar nicht die Technik als solche, bunden sind, nachhaltig beseitigt werden. Wer heute da- sondern das Zusammenspiel zwischen Technik und rüber spekuliert, Laufzeiten zu verlängern, der vermehrt Menschen, das darüber entscheidet, ob es zu einem Un- nicht nur die Menge hoch giftigen Atommülls, der ge- fall kommt und ob auf einen Unfall adäquat reagiert fährdet nicht nur die Entscheidungen über Investitionen wird. in die Modernisierung des Kraftwerksparks in Deutsch- Die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennele- land, menten ist, wie das Beispiel zeigt, technisch riskant. Sie (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Das hat mit ist bereits im Normalbetrieb mit unverhältnismäßig ho- Sellafield nichts zu tun!) hen Ableitungen von Radioaktivität in die Umwelt ver- bunden. Sie können die Ableitungen von Sellafield noch sondern er verlängert auch das Risiko der Menschen, mit in den Lachsfarmen Norwegens nachweisen. solchen Störfällen wie in Sellafield leben zu müssen. Ich halte das für verantwortungslos. Die Wiederaufarbeitung ist auch ökonomisch ein au- ßerordentlich fragwürdiges Unterfangen. Selbst in Groß- Vielen Dank. britannien, wo diese Anlage betrieben wird, wird der Ge- samtwert des hier erzeugten Materials mit 0,00 Pfund in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Bilanz geführt. und bei der SPD) 16762 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (C) Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, möchte ich vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Ihnen das Ergebnis der namentlichen Abstimmung Abkommens zwischen der Internationalen Sicherheits- über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Aus- präsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepu- schusses zu dem Antrag der Bundesregierung „Fortset- blik Jugoslawien und der Republik Serbien (jetzt: Ser- zung der deutschen Beteiligung an der Internationalen bien und Montenegro) vom 9. Juni 1999“ mitteilen. Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleistung ei- Abgegebene Stimmen 582. Mit Ja haben gestimmt 575. nes sicheren Umfeldes für die Flüchtlingsrückkehr und Mit Nein haben gestimmt 7. Es gab keine Enthaltun- zur militärischen Absicherung der Friedensregelung für gen. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen das Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 worden.

Endgültiges Ergebnis Johannes Kahrs Dr. Erika Ober Abgegebene Stimmen: 582; Petra Ernstberger Ulrich Kasparick Holger Ortel davon Karin Evers-Meyer Dr. h.c. Susanne Kastner Heinz Paula Annette Faße Ulrich Kelber Johannes Pflug ja: 575 Elke Ferner Hans-Peter Kemper Joachim Poß Gabriele Fograscher Klaus Kirschner Dr. Wilhelm Priesmeier Ja Rainer Fornahl Hans Forster Hans-Ulrich Klose Dr. Sascha Raabe SPD Gabriele Frechen Astrid Klug Karin Rehbock-Zureich Dr. Lale Akgün Dr. Bärbel Kofler Gerold Reichenbach Ingrid Arndt-Brauer Lilo Friedrich (Mettmann) Dr. Heinz Köhler (Coburg) Dr. Carola Reimann Rainer Arnold Iris Gleicke Christel Riemann- Hermann Bachmaier Günter Gloser Fritz Rudolf Körper Hanewinckel (Neuruppin) Uwe Göllner Karin Kortmann Doris Barnett Renate Gradistanac Rolf Kramer René Röspel Dr. Hans-Peter Bartels Angelika Graf (Rosenheim) Dr. Eckhardt Barthel (Berlin) Dieter Grasedieck Ernst Kranz Karin Roth (Esslingen) (Starnberg) Monika Griefahn Nicolette Kressl Michael Roth (Heringen) Sören Bartol Volker Kröning Gerhard Rübenkönig (B) Sabine Bätzing Gabriele Groneberg Angelika Krüger-Leißner (D) Uwe Beckmeyer Achim Großmann Dr. Hans-Ulrich Krüger Marlene Rupprecht Wolfgang Grotthaus Horst Kubatschka (Tuchenbach) Dr. Karl Hermann Haack Helga Kühn-Mengel Thomas Sauer (Extertal) Ute Kumpf Anton Schaaf Hans-Werner Bertl Hans-Joachim Hacker Dr. Uwe Küster Axel Schäfer (Bochum) Bettina Hagedorn Gudrun Schaich-Walch Klaus Hagemann Christian Lange (Backnang) Bernd Scheelen Lothar Binding (Heidelberg) Alfred Hartenbach Christine Lehder Siegfried Scheffler Michael Hartmann Waltraud Lehn Horst Schild Gerd Friedrich Bollmann (Wackernheim) Dr. Elke Leonhard Klaus Brandner Nina Hauer Eckhart Lewering Horst Schmidbauer Götz-Peter Lohmann (Nürnberg) Reinhold Hemker Gabriele Lösekrug-Möller Ulla Schmidt (Aachen) (Hildesheim) Rolf Hempelmann Erika Lotz Silvia Schmidt (Eisleben) Hans-Günter Bruckmann Dr. Barbara Hendricks Dr. (Meschede) Dirk Manzewski Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Marco Bülow Petra Heß Tobias Marhold Heinz Schmitt (Landau) Monika Heubaum Lothar Mark Dr. Michael Bürsch Gisela Hilbrecht Walter Schöler Hans Martin Bury Gabriele Hiller-Ohm Marion Caspers-Merk Gerd Höfer Karsten Schönfeld Dr. Jelena Hoffmann (Chemnitz) Ulrike Mehl Fritz Schösser Dr. Herta Däubler-Gmelin Walter Hoffmann Petra-Evelyne Merkel Wilfried Schreck (Darmstadt) Ulrike Merten Martin Dörmann (Wismar) Angelika Mertens Gerhard Schröder Peter Dreßen Frank Hofmann (Volkach) Ursula Mogg Brigitte Schulte (Hameln) Elvira Drobinski-Weiß Eike Hovermann Michael Müller (Düsseldorf) Reinhard Schultz Detlef Dzembritzki Klaas Hübner Christian Müller (Zittau) (Everswinkel) Christel Humme Gesine Multhaupt (Spandau) Siegmund Ehrmann Lothar Ibrügger Franz Müntefering Dr. Angelica Schwall-Düren Hans Eichel Brunhilde Irber Dr. Rolf Mützenich Martina Eickhoff Renate Jäger Volker Neumann (Bramsche) Erika Simm Marga Elser Klaus-Werner Jonas Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16763

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Dr. Cornelie Sonntag- Carl-Eduard von Bismarck Klaus-Jürgen Hedrich Klaus Minkel (C) Wolgast Renate Blank Wolfgang Spanier Ursula Heinen Stefan Müller (Erlangen) Dr. Margrit Spielmann Siegfried Helias Bernward Müller (Gera) Jörg-Otto Spiller Dr. Maria Böhmer Uda Carmen Freia Heller Dr. Gerd Müller Dr. Ditmar Staffelt Wolfgang Bosbach Hildegard Müller Ludwig Stiegler Dr. Wolfgang Bötsch Jürgen Herrmann (Bremen) Rolf Stöckel Klaus Brähmig Henry Nitzsche Christoph Strässer Dr. Ralf Brauksiepe Ernst Hinsken Rita Streb-Hesse Helge Braun Peter Hintze Claudia Nolte Dr. Peter Struck Monika Brüning Robert Hochbaum Günter Nooke Joachim Stünker Georg Brunnhuber Klaus Hofbauer Dr. Georg Nüßlein Jörg Tauss Verena Butalikakis Joachim Hörster Franz Obermeier Jella Teuchner Hartmut Büttner Hubert Hüppe Eduard Oswald Dr. Gerald Thalheim (Schönebeck) Susanne Jaffke Melanie Oßwald Wolfgang Thierse Cajus Julius Caesar Dr. Rita Pawelski Franz Thönnes Gitta Connemann Dr. Egon Jüttner Dr. Peter Paziorek Hans-Jürgen Uhl Leo Dautzenberg Bartholomäus Kalb Ulrich Petzold Rüdiger Veit Steffen Kampeter Dr. Simone Violka Roland Dieckmann Irmgard Karwatzki Sibylle Pfeiffer Jörg Vogelsänger Bernhard Kaster Dr. Friedbert Pflüger (Pforzheim) Vera Dominke Siegfried Kauder (Villingen- Beatrix Philipp Dr. Marlies Volkmer Thomas Dörflinger Schwenningen) Hans Georg Wagner Marie-Luise Dött Hedi Wegener Maria Eichhorn Gerlinde Kaupa Daniela Raab Andreas Weigel Reinhard Weis (Stendal) (Lübeck) Jürgen Klimke Hans Raidel Petra Weis Julia Klöckner Dr. Peter Ramsauer Gunter Weißgerber Ilse Falk Kristina Köhler (Wiesbaden) Helmut Rauber Gert Weisskirchen Dr. Hans Georg Faust Manfred Kolbe Peter Rauen (Wiesloch) Albrecht Feibel Norbert Königshofen Christa Reichard (Dresden) Dr. Ernst Ulrich von Enak Ferlemann Thomas Kossendey Weizsäcker Ingrid Fischbach Rudolf Kraus Hans-Peter Repnik Dr. Hartwig Fischer (Göttingen) Klaus Riegert Hildegard Wester (B) Dirk Fischer (Hamburg) Günther Krichbaum Dr. (D) Lydia Westrich Axel E. Fischer (Karlsruhe- Günter Krings Inge Wettig-Danielmeier Land) Dr. Martina Krogmann Franz Romer Dr. Dr. Dr. Hermann Kues Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Andrea Wicklein Klaus-Peter Flosbach (Zingst) Dr. Klaus Rose Jürgen Wieczorek (Böhlen) Herbert Frankenhauser Dr. Karl A. Lamers Kurt J. Rossmanith Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Hans-Peter Friedrich (Heidelberg) Dr. Norbert Röttgen Dr. Dieter Wiefelspütz (Hof) Dr. Dr. Christian Ruck Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Erich G. Fritz Volker Rühe Engelbert Wistuba Jochen-Konrad Fromme Barbara Lanzinger (Weiden) Barbara Wittig Dr. Michael Fuchs Peter Rzepka Dr. Hans-Joachim Fuchtel Werner Lensing Anita Schäfer (Saalstadt) Verena Wohlleben Dr. Jürgen Gehb Peter Letzgus Dr. Wolfgang Schäuble Waltraud Wolff Ursula Lietz Hartmut Schauerte (Wolmirstedt) Walter Link (Diepholz) Dr. Heidi Wright Eduard Lintner Norbert Schindler Uta Zapf Georg Girisch Dr. Klaus W. Lippold Georg Schirmbeck Manfred Helmut Zöllmer (Offenbach) Angela Schmid Dr. Christoph Zöpel Ralf Göbel Dr. Reinhard Göhner Dr. Michael Luther Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU Peter Götz Dorothee Mantel Andreas Schmidt (Mülheim) Dr. Wolfgang Götzer Dr. Ilse Aigner Ute Granold (Recklinghausen) Dr. Ole Schröder Kurt-Dieter Grill (Altötting) Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Conny Mayer (Freiburg) Norbert Barthle Hermann Gröhe Dr. Martin Mayer Wilhelm Josef Sebastian Günter Baumann Michael Grosse-Brömer (Siegertsbrunn) Ernst-Reinhard Beck Markus Grübel Wolfgang Meckelburg Kurt Segner (Reutlingen) Dr. Michael Meister Matthias Sehling Veronika Bellmann Karl-Theodor Freiherr von Dr. Marion Seib Dr. und zu Guttenberg (Hamm) Heinz Seiffert Doris Meyer (Tapfheim) Bernd Siebert Dr. Rolf Bietmann Holger Haibach Hans Michelbach 16764 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Alexander Bonde Rainder Steenblock Sabine Leutheusser- (C) Ekin Deligöz Silke Stokar von Neuforn Schnarrenberger Dr. Thea Dückert Jürgen Trittin Markus Löning Jutta Dümpe-Krüger Marianne Tritz Dirk Niebel Andreas Storm Franziska Eichstädt-Bohlig Dr. Antje Vogel-Sperl Günther Friedrich Nolting Dr. Uschi Eid Dr. Antje Vollmer Hans-Joachim Otto Matthäus Strebl Hans-Josef Fell Dr. Ludger Volmer (Frankfurt) Thomas Strobl (Heilbronn) Joseph Fischer (Frankfurt) Josef Philip Winkler Eberhard Otto (Godern) Detlef Parr Michael Stübgen Katrin Göring-Eckardt Margareta Wolf (Frankfurt) Anja Hajduk Cornelia Pieper Edeltraut Töpfer Winfried Hermann Dr. Hermann Otto Solms FDP Dr. Rainer Stinner Dr. Hans-Peter Uhl Peter Hettlich Carl-Ludwig Thiele Volkmar Uwe Vogel Ulrike Höfken Dr. Karl Addicks Andrea Astrid Voßhoff Daniel Bahr (Münster) Dr. Dieter Thomae Thilo Hoppe Jürgen Türk Gerhard Wächter Michaele Hustedt Angelika Brunkhorst Marko Wanderwitz Ernst Burgbacher Dr. Jutta Krüger-Jacob Dr. Claudia Winterstein Peter Weiß (Emmendingen) Helga Daub Fritz Kuhn Dr. Volker Wissing Gerald Weiß (Groß-Gerau) Renate Künast Jörg van Essen Undine Kurth (Quedlinburg) Ulrike Flach Annette Widmann-Mauz Markus Kurth Otto Fricke Nein Klaus-Peter Willsch Monika Lazar Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Reinhard Loske Rainer Funke CDU/CSU Werner Wittlich Anna Lührmann Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Dagmar Wöhrl Jerzy Montag Hans-Michael Goldmann Wolfgang Börnsen Elke Wülfing Kerstin Müller (Köln) Joachim Günther (Plauen) (Bönstrup) Wolfgang Zeitlmann Winfried Nachtwei Dr. (Emstek) Wolfgang Zöller Christa Nickels Dr. Christel Happach-Kasan Willi Zylajew Klaus Haupt BÜNDNIS 90/DIE Simone Probst Ulrich Heinrich GRÜNEN BÜNDNIS 90/DIE Claudia Roth (Augsburg) Birgit Homburger Hans-Christian Ströbele GRÜNEN Krista Sager Dr. Kerstin Andreae Christine Scheel Michael Kauch FDP (Bremen) Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Heinrich L. Kolb Volker Beck (Köln) Rezzo Schlauch Hellmut Königshaus Jürgen Koppelin (B) Cornelia Behm Albert Schmidt (Ingolstadt) Gudrun Kopp (D) Birgitt Bender Werner Schulz (Berlin) Sibylle Laurischk Fraktionslose Abgeordnete Petra Selg Harald Leibrecht Dr. Gesine Lötzsch Grietje Bettin Ursula Sowa Ina Lenke Petra Pau

Jetzt hat das Wort in der Debatte der Abgeordnete halb, weil diese Koalition in allen anderen Feldern ver- Klaus Lippold. sagt hat. (Beifall bei der CDU/CSU) Hier soll von der katastrophalen Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt abgelenkt werden. Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): (Horst Kubatschka [SPD]: Sie lenken von Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Sellafield ab!) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Anfang der Rede von Minister Trittin sah ganz danach aus, als Hier soll von dem Sachverhalt abgelenkt werden, dass sollte es sich hier um eine sachliche Behandlung eines die Jugendarbeitslosigkeit zurzeit eine Rekordmarke er- Themas handeln, die einem ernsten Störfall immer ein- reicht hat und dass wir eine Rekordverschuldung zu ver- zuräumen ist. zeichnen haben. (Horst Kubatschka [SPD]: War doch!) (Dr. Rolf Bietmann [CDU/CSU]: Wohl Aber zum Schluss wurde dann deutlich, dass hier nur ein wahr! – Monika Griefahn [SPD]: Das ist eine Aufhänger für die aktuelle Wahlkampfsituation gesucht Wahlkampfrede!) wurde und nichts anderes. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, Herr Minister (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Uwe Küster Trittin! [SPD]: Jetzt wird es unsachlich!) (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist es nämlich, was hinterher auch beim Kollegen Michael Müller kommen wird, dessen Presseerklärung Jetzt hat sich die auseinander laufende Koalition für ich heute gelesen habe: Angstmache zum Wahlkampf- einen Moment wieder einmal halbwegs zusammenge- auftakt und Angstmache mit Kernenergie, und zwar des- funden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16765

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) (Horst Kubatschka [SPD]: Das ist Wunsch- Das macht auch das deutlich, was ich gerade über (C) denken!) Gabriel gesagt habe. Aber man muss wissen, dass das, was hier gerade zum (Beifall bei der CDU/CSU – Monika Griefahn Ausdruck kam – nämlich dass man in Deutschland aus [SPD]: Sie haben noch nichts zum Unfall ge- der Hochsicherheitstechnologie aussteigen muss, weil es sagt! – Weiterer Zuruf des Abg. Jörg Tauss diese Technologie in anderen Ländern nicht gibt –, ein [SPD]) völlig falscher Weg ist. Wenn andere Länder die deut- – Sie waren so viel unterwegs, Herr Tauss. Das muss sche Technologie hätten, dann wäre es nicht zu diesem man nicht jedes Mal mitbekommen. Unfall gekommen. Der Kernpunkt ist: Mit unserer Technologie – ich (Horst Kubatschka [SPD]: Meine Güte!) wiederhole es – wäre das nicht passiert. Diejenigen, die in Deutschland aus der Hochsicher- (Zuruf von der SPD: Quatsch!) heitstechnologie aussteigen wollen, verhindern, dass wir diese Technologie in den internationalen Gremien ein- Aber das interessiert Sie ja nicht. fordern. So einfach ist das. Wir müssen eines feststellen: Die Akzeptanz für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kerntechnologie in der Bundesrepublik steigt. Eine Ta- gung der Bürgermeister der Standorte der Kraftwerke Das ist auch Ausdruck Ihrer Technologiefeindlichkeit. hat noch einmal deutlich gemacht, dass gerade dort, wo Sie sind schließlich nicht nur gegen Kernkraft, sondern eigentlich maximale Betroffenheit herrschen müsste, auch gegen die Bio- und Gentechnologie. Das ist doch maximale Zustimmung gegeben ist. Besuchen Sie doch das Entscheidende: Immer dann, wenn es um Fortschritt einmal diese Orte! geht, sind Sie dagegen. (Horst Kubatschka [SPD]: Wegen der (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gewerbesteuern!) NEN]: Was ist das für ein Fortschritt?) Die Proteste kamen von denjenigen, die von außerhalb Die folgende Feststellung ist durchaus richtig: herangekarrt wurden. Die Grünen haben den Hang, Investitionsmaßnah- Ich verstehe zwar, dass Sie, nachdem Sie die Bürger- men, Planungsmaßnahmen und Innovationsmaß- rechtsbewegungen als Ihre Hilfstruppen enttäuscht ha- nahmen mit einer überbordenden Bürokratie zu be- ben, jetzt bei einer vorgezogenen Wahl versuchen, sie frachten, die uns daran gehindert hat, in möglichst schnell wieder hinter sich zu sammeln, aber (B) Deutschland Arbeitsplätze zu schaffen und zu si- das ist der falsche Weg. Notwendig ist – dafür treten wir (D) chern … Ich nenne nur das Thema Gentechnologie. ein – Sicherheit. Deshalb erhalten wir die Option Kern- Das hat kein Unionsmann gesagt, sondern der frühere energie aufrecht, auch weil ohne die Option Kernenergie Ministerpräsident des Landes Niedersachsen Gabriel in die Fragen des weltweiten Klimaschutzes nicht zu lösen Bezug auf die Grünen. Das sollten Sie sich hinter die wären. Ohren schreiben. Denn überall dort, wo Rot-Grün re- (Lachen bei der SPD) giert, findet die Bio- und Gentechnologie genauso wenig Berücksichtigung wie die Hochsicherheitstechnologie – Sie können ruhig lachen. Das zeigt nur, dass Sie nicht im Kernkraftbereich. in der Sache drin sind. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Mit Kernenergie sparen wir jährlich 2,8 Milliarden Herr Kollege, bei der Aktuellen Stunde sind wir sehr Tonnen CO ein. Das ist wesentlich mehr, als nach den großzügig, aber ein bisschen zur Sache müssen Sie 2 Kioto-Vereinbarungen weltweit eingespart werden soll. schon sprechen. Wenn Sie daraus aussteigen, blockieren Sie die Kioto- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vereinbarungen und sämtliche vernünftigen klima- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – schutzpolitischen Maßnahmen. Diese Position tragen Dr. Uwe Küster [SPD]: Ein bisschen!) wir so nicht mit. Wir wollen Klimaschutz. Wir wollen die großen Risi- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): ken für diese Welt auch für die zukünftigen Generatio- Verehrte Frau Präsidentin, mir steht keine Kritik zu, nen abwenden. Deshalb müssen wir Ihnen mit Ihrer aber wenn die Damen und Herren aus der Koalition hier kleinkarierten Antitechnologiehaltung eine klare und eine bestimmte Vorgehensweise wählen, dann muss es eindeutige Absage erteilen, auch wenn Sie ausländische mir als frei gewähltem Abgeordneten überlassen blei- Vorwände nutzen, um in Deutschland Stimmung zu ma- ben, was ich darauf antworte. chen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Herr Müller, ich sage es Ihnen noch einmal: Jetzt mit Lachen bei der SPD) Angst und Panikmache zu kommen und davon zu spre- chen, noch wüssten wir nicht, wie viele Tote und Betrof- Ich liege mit meiner Rede im Thema. fene es in Sellafield gibt – obgleich Sie über die Nach- (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) richten genau wissen, dass da nichts ist; sonst hätte 16766 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (A) dieser Minister es ja auch gesagt –, das halte ich schon (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) für nicht verantwortlich. Sie wollen mit Angst Politik DIE GRÜNEN) machen und Angst ist ein falscher Ratgeber. Mit Interesse konnten wir in den vergangenen Tagen le- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – sen, dass Frau Merkel, sollte sie irgendwann einmal die Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist wohl Bundestagswahlen gewinnen, wahr! – Jörg Tauss [SPD]: Wie viele Tote wol- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nein! Nein!) len Sie? Wie viele Tote dürfen es denn sein?) der Atomwirtschaft bezüglich der Restlaufzeiten von Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Atomkraftwerken freie Hand lassen will. Bleibt zu hof- Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Martina Eickhoff. fen, dass sich die Risiken bei noch längerer Nutzung der Atomkraftwerke nicht potenzieren. Immerhin erteilt die (Beifall bei der SPD) Opposition dem Neubau von Atomkraftwerken – noch – eine Absage. Man kann Zweifel haben, ob das so bleiben Martina Eickhoff (SPD): wird. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Monika Griefahn [SPD]: Die wollen ja Sub- Meine Damen und Herren! Keine Frage, die Pressemel- ventionsabbau machen! Dann geht das ja dungen vom 29. Mai 2005 zum Atomunfall in Sellafield nicht!) stimmen bedenklich. Dass 83 000 Liter hoch radioaktive Flüssigkeit über neun Monate hinweg unbemerkt austre- Meine Damen und Herren, die SPD-Fraktion steht ten können, bereitet große Sorgen und stellt die Frage weiterhin zum Atomausstieg. nach den Sicherheitsvorkehrungen in den Vordergrund. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, unweigerlich schauen wir DIE GRÜNEN) auf die Situation in Deutschland. Das Ereignis in Sella- Natürlich bedeutet dieser Ausstieg, dass wir über die Ge- field ruft die Gefahren für Mensch und Umwelt, die von währleistung von Versorgungssicherheit im Energiesek- hoch radioaktiven Stoffen ausgehen können, wieder in tor diskutieren müssen. Diese Diskussion hat mit dem Erinnerung. Unmittelbar nach dem GAU von Tscherno- gestern im Kabinett beschlossenen Energieforschungs- byl waren die Risiken der Atomkraft deutlicher in der programm konkrete Formen angenommen. Wir streben Wahrnehmung der Menschen vorhanden als heute. Wir einen ausgewogenen Energiemix an, der die Potenziale müssen uns klar machen, dass die Folgen 19 Jahre da- unterschiedlicher Energieträger angemessen berücksich- nach noch nicht überwunden sind. 40 Prozent der ukrai- tigt. Zu diesem Mix gehören fossile Energieträger ge- (B) nischen Wälder gelten als kontaminiert und über nauso wie die erneuerbaren Energien, die beachtliche (D) 400 000 Kinder haben an den Folgen radioaktiver Ver- wirtschaftliche Potenziale bieten. strahlung zu leiden – ein Schicksal, das wir nicht gerne selbst erleben und erleiden möchten. Neben der angesprochenen Versorgungssicherheit müssen wir auf die Steigerung der Energieeffizienz hin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ arbeiten. Positive Beispiele gibt es bereits bei den mo- DIE GRÜNEN) dernen Kraftwerkstechnologien, die erhöhte Wirkungs- Mitarbeiter und Umfeld sollen laut Betreiber beim ak- grade ermöglichen und gleichzeitig zum globalen tuellen Ereignis in Sellafield nicht gefährdet gewesen Umweltschutz beitragen, indem sie den CO2-Ausstoß sein; dennoch bezeichnet die Internationale Atomener- mindern. Das Stichwort lautet hier auch „clean coal“. giebehörde den Unfall als ernst. Zu dieser Kategorie ge- Seit Mitte Mai wissen wir, dass im brandenburgischen hört auch der Aspekt „akute Gesundheitsschäden beim Spremberg die weltweit erste Pilotanlage für ein CO2- Personal“. Im Grundsatz gilt: Störfälle dieser Art müs- freies Braunkohlekraftwerk gebaut wird. sen durch geeignete Sicherheitsmaßnahmen verhindert Zurück zur Energieeffizienz: Moderne Kohlekraft- werden. werke hier in Deutschland erreichen Wirkungsgrade von 45 Prozent. Im Vergleich dazu ist die Atomkraft gera- Der jüngste Bericht des BMU zu meldepflichtigen dezu verschwenderisch. Vorgängen in deutschen Atomkraftwerken und For- schungsreaktoren verzeichnet erfreulicherweise kein (Beifall bei der SPD) einziges Ereignis, bei dem akute sicherheitstechnische Mängel aufzuzeigen waren. Trotz allem, die Gefahren AKWs erreichen bei der Energieumwandlung in Strom der Atomkraft können nicht ausgeschlossen werden. Wirkungsgrade von 30 Prozent. Auch mögliche terroristische Angriffe auf Kernkraft- Massiv an Energie sparen können wir aber auch durch werke schüren die Ängste der Menschen, und das nicht energieoptimiertes Bauen bzw. durch die energiege- erst seit dem 11. September 2001. rechte Sanierung älterer Gebäude. Privathaushalte benö- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tigen mehr als ein Drittel des Endenergieverbrauchs DIE GRÜNEN) Deutschlands, noch vor den Sektoren Verkehr und In- dustrie. Der Energieverlust durch schlechte Wärmedäm- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ausstieg aus mung oder veraltete Heizungssysteme ist erschreckend der Atomenergie war eine richtige und notwendige Ent- hoch. Die 2002 in Kraft getretene Energieeinsparverord- scheidung der rot-grünen Bundesregierung. nung hat bereits neue Akzente für die Energieeinsparung Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16767

Martina Eickhoff (A) im Gebäudebereich gesetzt. Diese Linie muss fortge- Was Sie hier tun, ist nichts anderes als der Missbrauch (C) führt werden. eines Vorfalls, um Angst zu schüren. Das ist nicht in Ordnung. Nur ein Ausstieg aus der Atomkraft kann Störfälle wie in Sellafield verhindern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Deutschland hat schließlich völlig andere, höhere Si- cherheitsstandards, deren Einhaltung streng kontrolliert Die rot-grüne Bundesregierung hat diesen Schritt gewagt wird. Wenn Sie behaupten, dass eine Verlängerung der und damit Verantwortungsbewusstsein gegenüber Restlaufzeiten unverantwortlich sei, dann antworte ich Mensch und Umwelt bewiesen. Das gestern im Kabinett Ihnen: Herr Minister Trittin, Sie handeln unverantwort- beschlossene Energieforschungsprogramm zeigt Alter- lich. Entweder ist ein Kernkraftwerk sicher – dann muss nativen zur Atomkraft auf. es betrieben werden können – oder es entspricht nicht den Sicherheitsanforderungen; dann muss es abgeschal- Vielen Dank. tet werden, und zwar sofort. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – DIE GRÜNEN) Horst Kubatschka [SPD]: Alterung, Versprö- dung kennen Sie nicht!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister Trittin, die Tatsache, dass Sie die Kern- Ich danke auch und möchte Ihnen, Frau Kollegin, zu kraftwerke in Deutschland nicht abgeschaltet haben, Ihrem heutigen Geburtstag im Namen des Hauses gratu- zeigt, dass sie den Sicherheitsanforderungen entspre- lieren. chen. Deswegen muss es möglich sein, sie weiterzube- treiben. (Beifall) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Birgit Homburger. Ich möchte aus dem Atomkonsens zitieren. Dort (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das Endlager kommt steht: dann in Ihren Wahlkreis!) Kernkraftwerke und sonstige kerntechnische Anla- gen werden auf einem international gesehen hohen Birgit Homburger (FDP): Sicherheitsniveau betrieben. (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) Wir diskutieren heute über einen Unfall in der britischen Das ist ein Zitat aus dem Atomkonsens, unterschrieben Wiederaufbereitungsanlage Sellafield. Es ist absolut von Bundesumweltminister, Bundeswirtschaftsminister richtig, dass wir hier darüber sprechen. Vor allen Dingen und Bundeskanzler. Ich finde, man sollte das, was Sie will ich sehr deutlich machen: Ich halte es für richtig, unterschrieben haben, für bare Münze nehmen. dass der Bundesumweltminister direkt die britische (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Atomaufsicht um Aufklärung gebeten hat. Ich bitte da- rum, das Ergebnis dieser Aufklärung auch dem Umwelt- Herr Trittin, ich sage Ihnen ganz klar, was unverant- ausschuss des Deutschen Bundestages zur Verfügung zu wortlich ist: Ihre Politik. Es ist unverantwortlich, ohne stellen. irgendein vernünftiges Argument die Genehmigung von Gorleben und Schacht Konrad nicht voranzutreiben. Sie (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem haben gesagt, Sie wollten eine andere Lösung. Sie wol- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- len statt zwei Endlagern nur noch ein Endlager haben. geordneten der SPD) Sie haben dafür ein Gesetz angekündigt. Auf dieses Ge- setz warten wir aber seit Jahren vergeblich. Sie verzö- Alle Euratom-Vertragspartner haben sich schließlich gern auf unverantwortliche Art und Weise die Beantwor- dazu verpflichtet, die Sicherheit zu gewährleisten, und tung der Endlagerfrage auf Kosten zukünftiger zwar nach entsprechenden Standards. Darauf müssen wir Generationen. Das ist nicht akzeptabel, Herr Minister. achten. Deswegen reicht es meines Erachtens nicht aus, die britische Regierung um Aufklärung zu bitten. Viel- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mehr sollte man Gespräche darüber beginnen, wie in den Sie selbst haben doch den so genannten Atomkonsens Euratom-Vertragsstaaten die Sicherheit gewährleistet unterschrieben. Darin steht, dass die bisherigen Befunde werden kann. nicht gegen die Eignung von Gorleben sprechen. Die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Behandlung von Zweifelsfragen wird aber immer wieder verschoben. Das Ergebnis ist, dass der Atommüll mitt- Herr Bundesumweltminister Trittin, es ist aber voll- lerweile oberirdisch an den Kernkraftwerken zwischen- kommen unverantwortlich, dass Sie den Vorfall in Groß- gelagert wird. Das ist meines Erachtens in keiner Weise britannien nun nutzen, um alle Anlagen zur friedlichen sicherer als eine unterirdische Lagerung. Im Gegenteil: Nutzung der Kernenergie auf eine Stufe zu stellen. Das Es ist unsicherer. ist nicht redlich. (Horst Kubatschka [SPD]: Das sind Zwischen- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) lager!) 16768 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Birgit Homburger (A) Herr Minister Trittin, nicht das, was wir sagen, ist unver- Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) antwortlich. Ihre Politik und Ihre Aktionen sind unver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! antwortlich. Ich möchte zunächst etwas zu Sellafield sagen. Der iri- sche Umweltminister Dick Roche hat auf die Nachricht, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Horst dass es dort ein Leck gibt, empört reagiert und gesagt, Kubatschka [SPD]: Sie machen Panik!) dies sei ein weiteres vernichtendes Urteil über die Si- Ich sage Ihnen sehr deutlich: Genauso unverantwort- cherheitsvorkehrungen in dieser Anlage. Er fordert, dass lich ist es, die Entscheidung über Schacht Konrad als diese Anlage möglichst schnell ordnungsgemäß ge- atomares Endlager zu verzögern. Selbst wenn Sie sämtli- schlossen wird, weil sie eine Gefahr für die Irische See che Kernkraftwerke in Deutschland abschalten, wird es ist. Atommüll geben, nämlich den, der in Forschungsein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN richtungen produziert wird. Dieser Atommüll muss end- und bei der SPD) gelagert werden. Die Tatsache, dass die Entscheidung über Schacht Konrad im Augenblick verzögert wird, be- Wir unterstützen diese Forderung ausdrücklich. deutet, dass dieser Müll derzeit nicht dauerhaft gelagert werden kann. Da dieser Müll nur eine bestimmte Zeit in Im Februar 2005 gab es in Sellafield einen weiteren dieser Form gelagert werden kann, muss er in Zukunft Fall, als plötzlich 30 Kilogramm Plutonium fehlten. Man umkonditioniert, also umgepackt werden. behauptete, es handele sich dabei um ein Problem der Buchhaltung. Ich glaube, auch das war eine Lüge, die (Monika Griefahn [SPD]: Konrad ist nur für wir nicht akzeptieren können. Auch da erwarten wir schwach und mittelradioaktiven Müll geeig- ganz eindeutig Aufklärung. net! Es ist der verkehrte Müll, von dem Sie sprechen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Dadurch werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter FDP) von Forschungsanlagen einer zusätzlichen Gefahr ausge- setzt. Das ist unverantwortlich, Herr Minister. Sellafield ist auch im Visier der EU-Kommission: Die EU-Kommission klagt seit Jahren darüber, dass es dort (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) erhebliche Kontrollmängel gibt und dass die Verseu- chung der Luft und der Irischen See nicht mehr hin- Ich komme zum Schluss. Es ist absolut unverantwort- nehmbar ist. In einem Gutachten, das die EU in diesem lich, dass Sie sich hierhin stellen und erklären, der Zusammenhang selber in Auftrag gegeben hat, heißt es, Atomausstieg sei richtig. rein technisch sei Materialermüdung schuld an dem Mal- (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg Tauss heur – das wurde hier gerade schon angedeutet; es geht (D) [SPD]: Das ist sehr verantwortlich!) wirklich um die Versprödung von altem Material; bei ei- ner so gefährlichen Technologie ist das völlig inakzepta- Bisher haben Sie überhaupt kein Konzept für den Ener- bel –, vor allem aber sei die Gleichgültigkeit derjenigen giestandort Deutschland vorgelegt. Wir warten noch im- zu tadeln, die dort Verantwortung tragen. Die Kombina- mer auf ein Energiegesamtkonzept. Sie riskieren, dass tion aus Atomenergie und Gleichgültigkeit ist tödlich. wir die Klimaschutzziele nicht erreichen, weil Sie keine Das dürfen wir nicht vergessen. Antworten auf die Fragen geben, wie Sie die Kernener- gie ersetzen wollen und wie Sie erreichen wollen, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Versorgungssicherheit gewährleistet ist. Herr Minister sowie bei Abgeordneten der SPD und der Trittin, ich sage Ihnen ganz klar und eindeutig: Sie haben FDP) in Ihrer Amtszeit alles versäumt, was in diesem Bereich Ich bin mit der Argumentation der Kollegin zu tun nötig gewesen wäre. Homburger – hier die gute, sichere deutsche, dort die un- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Mitglied der LSP, verantwortliche ausländische Atomtechnologie – nicht Lautsprecherpartei!) ganz einverstanden. So sauber lässt sich die Scheidelinie nicht ziehen. Die Atomtechnologie ist sehr gefährlich. Deswegen ist es nicht unverantwortlich, Ihnen das zu sa- Ich muss in Erinnerung rufen, warum wir die Atomtech- gen; unverantwortlich ist vielmehr die Politik der Grü- nologie für nicht zukunftstauglich halten und warum wir nen. Durch das, was Sie tun, sind Sie ein Sicherheitsri- den schrittweisen Ausstieg aus dieser Technologie wol- siko für Deutschland. len. Ausschlaggebend sind vor allen Dingen Sicherheits- gründe. Ich verweise auf die Gefahr durch Niedrigstrah- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – lung, auf die Unfallgefahr – haben wir Harrisburg und Horst Kubatschka [SPD]: Ihren Standardsatz Tschernobyl denn schon vergessen? – und auf die Miss- haben Sie schon oft gesagt!) brauchsgefahr, vor allem auf die Gefahr eines militäri- schen Missbrauchs. Ich nenne die ungeklärte Endlage- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: rung. Außerdem sind Nuklearbrennstoffe wie Uranium Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske. genauso endlich wie die fossilen Energieträger. Das sind viele gute Gründe, um aus der Atomenergie auszusteigen. (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt wird es wieder Sie teilen sie nicht; wir hingegen halten sie für richtig. seriös! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt können wir mal (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zur Sachlichkeit zurückkommen!) und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16769

Dr. Reinhard Loske (A) Jetzt zur Position der Kollegin Homburger. Ich habe Wirkungsgrade von beinahe 90 Prozent erreichen kön- (C) heute den „Tagesspiegel“ gelesen. Ich weiß nicht, ob al- nen. les zutreffend ist. Hier steht, Frau Homburger, dass Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Atomkraftwerke bis zum Jahr 2039 am Netz lassen und bei der SPD) wollen. Das ist unsere Antwort auf die Klimaschutzfrage. Sie (Birgit Homburger [FDP]: Nein, das ist schon unterscheidet sich in der Tat fundamental von der Ihren. berichtigt!) Mein letzter Punkt. Wenn wahr wird, was Sie vorha- Gut, bei Ihnen heißt das: Sie sollen so lange betrieben ben, nämlich die Nutzung der Atomenergie nach hinten werden, wie es die Betreiber wollen. hin offen laufen zu lassen, ist das nichts anderes als ein (Birgit Homburger [FDP]: Das habe ich nicht Verhinderungsprogramm von Investitionen in neue gesagt! Eine Berichtigung ist schon verschickt Technologien. worden!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Offensichtlich ist es ein gewaltiger Unterschied, wer in diesem Land die Regierung stellt; denn seit wir an der Denn es ist völlig klar: Mit abgeschriebenen Atomkraft- Regierung sind, sind die Atomkraftwerke in Stade und werken, die „im goldenen Ende“ laufen, kann keine neue Obrigheim abgeschaltet worden. In der nächsten Legis- Technologie konkurrieren, weder die erneuerbaren Ener- laturperiode wird sich die Frage stellen: Was ist mit gien noch die Brennstoffzelle noch die Kraft-Wärme- Biblis A? Wird Biblis A im Jahr 2008 abgestellt, ja oder Kopplung noch moderne und hocheffiziente Gaskraft- nein? Was ist im Jahr 2009 mit Biblis B, Brunsbüttel und werke. Neckarwestheim? Werden sie abgestellt, ja oder nein? Sie sagen: Sie bleiben am Netz. Wir wollen sie vom Netz Wir haben die Rahmenbedingungen so gesetzt, dass nehmen. Darüber können die Leute bei der Wahl unmit- es jetzt einen Investitionsschub in den neuen Technolo- telbar entscheiden. gien geben kann. Wenn sich die Strategie des offenen Endes durchsetzt, wird das im Ergebnis dazu führen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass Investitionen nicht getätigt werden, sondern die al- und bei der SPD) ten Möhren weiter betrieben werden. Das halten wir für falsch. Das ist ein enormer Unterschied zu Ihrem Pro- Zum Klimaschutz. Herr Kollege Lippold, Sie haben gramm. Darüber kann in der Tat in wenigen Monaten ab- über Klimaschutz gesprochen. Wenn man sich mit dem gestimmt werden. Thema „Atomenergie, Weltenergiebedarf und CO2- (B) Emissionen“ beschäftigt und sich die Lösungen an- Danke schön. (D) schaut, erkennt man, dass die Atomenergie absolut rand- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ständig ist. Was den Primärenergieverbrauch betrifft, lie- und bei der SPD) gen wir im Weltmaßstab bei um die 5 Prozent. Da können Sie doch nicht ernsthaft behaupten, das wäre die Lösung des Problems. Das liegt völlig neben der Wahr- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: heit. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Peter Paziorek.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): und bei der SPD) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Dis- Noch eine Zusatzinformation: In allen durchgespiel- kussion hat gezeigt, dass in einem Punkt Einvernehmen ten Weltenergieszenarien, in denen die Atomenergie eine in diesem Hause existiert; das ist der Störfall in Sella- größere Rolle spielt – das sind nämlich expansiv orien- field. Wir alle sind der Ansicht, dass das, was dort pas- tierte, angebotsorientierte Szenarien –, gibt es auch einen siert ist, nicht verharmlost werden darf. Ich wiederhole, deutlichen Aufwuchs an Kohlendioxid. Das heißt: Das was der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Klaus ist eingebettet in eine Strategie, die sehr expansiv ist und Lippold für uns gesagt hat: Das ist ein Vorfall, den man eben nicht auf Energieeinsparung und erneuerbare Ener- überprüfen muss. gien setzt, wie wir es für richtig halten. Deswegen ist die Es ist inakzeptabel, dass mehr als neun Monate lang Zuspitzung „Klimaschutz oder Atomenergie“ schlicht unbemerkt blieb, dass über 83 000 Liter uranverseuchte und einfach falsch. Salpetersäure in ein Tanklager ausgelaufen sind, und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass man höchstwahrscheinlich im Januar nicht festge- und bei der SPD) stellt hat, dass es Risse gibt. Wieso hat es bis April ge- dauert, bis man das festgestellt hat? Wir als Koalition setzen als Antwort auf die drei E: Das alles ist völlig inakzeptabel, darf nicht verharm- Wir setzen auf erneuerbare Energien; da hatten wir in der lost werden und muss auch im Deutschen Bundestag an- Vergangenheit einen enormen Wachstumsschub und die- gesprochen werden. sen wollen wir fortschreiben. Wir setzen auf Energieein- sparung im Gebäudebestand und bei Strom. Wir setzen Aber warum haben Sie das nicht im Umweltausschuss auf Energieeffizienz, vor allen Dingen auf die gekop- zur Sprache gebracht? Warum haben Sie sich dieser pelte Erzeugung von Strom und Wärme, weil wir damit Frage erst jetzt, in einer Aktuellen Stunde, angenommen? 16770 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Dr. Peter Paziorek (A) Wir haben einmal nachgeprüft: Herr Trittin, Sie als Um- haben das Vertrauen der Atomkraftgegner verloren. (C) weltminister haben am 9. Mai eine einzige kleine Presse- Doch auch bei der bürgerlichen Bevölkerung sind erklärung ins Internet gestellt. Das war bis zum heutigen sie nicht wohlgelitten. Tag Ihre Reaktion auf all das Schlimme, was in Sella- field passiert ist; es war in der Tat schlimm. Warum ha- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE ben Sie nicht Wochen vorher reagiert? GRÜNEN]: Das hättet ihr gern!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das zur Beschreibung der Demonstration in Ahaus. Warum sagen Sie nicht, was Sie in Ihrem Ministerium Sie versuchen jetzt künstlich, das, was Sie bei Ihrer eventuell besprochen haben? Sie haben in der Frage Klientel verloren haben, wieder aufzuholen, indem Sie nichts gemacht. Fälle wie den in Sellafield, die wir alle kritisieren, an- sprechen und so tun, als ob Sellafield ein Problem der Warum haben Sie im Umweltausschuss keinen Be- deutschen Atompolitik sei. Dieser Schluss ist unverant- richt vorgelegt? Weil das bei Ihnen politisch noch nicht wortlich. auf dem Radarschirm war! Das ist vielleicht erst auf dem Radarschirm erschienen, als Frau Slomka dieses Thema (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – am Montagabend in der Moderation des „Heute-Jour- Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nals“ angesprochen hat. Plötzlich war das ein Thema bei NEN]: Wir bringen nichts mehr dahin!) Ihnen. – Das Hinbringen ist nicht das Thema. (Zuruf des Bundesministers Jürgen Trittin) (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE – Zwischenrufe von der Regierungsbank sind nicht er- GRÜNEN]: Doch, das ist das Thema!) laubt. Ich freue mich aber, wenn Sie bei meinen Reden Vielmehr ist heute das Thema, das Sie in Ihren Reden dazwischenrufen, Herr Minister. genannt haben; was in Sellafield passiert ist, ist unver- (Jörg Tauss [SPD]: Etwas Abwechslung antwortlich und deshalb müssen wir auch in Deutschland in Ihren Reden!) aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie aussteigen. Deshalb können wir die kritische Frage stellen: Wa- (Monika Griefahn [SPD]: Richtig!) rum haben Sie das Thema heute politisch hochgezogen? Diese Schlussfolgerung ist falsch. Sie ist unberechtigt. Wir wissen ganz genau, warum Sie das getan haben. Sie Es ist nicht berechtigt, die deutsche Atompolitik und die unternehmen hier nämlich den fadenscheinigen Versuch, friedliche Nutzung der Kernenergie so zu beurteilen. aus Anlass einer Angelegenheit, die man massiv kritisie- (B) ren muss, Ängste zu schüren und aus Wahlkampfgrün- (Zurufe von der SPD: Warum?) (D) den Ihrer Klientel zu sagen: Wir sind doch die Partei, die in dieser Sache alles unternommen hat und richtig ge- – Ich sage Ihnen auch, warum. Weil unsere Sicherheits- macht hat. – Sie haben in dieser Angelegenheit nicht al- standards les unternommen und nicht alles richtig gemacht. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wicklungsland Großbritannien?) Wir brauchen doch nur in die Zeitung zu schauen. Mit ein solches Niveau haben, dass es in höchstem Maße un- Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, möchte ich zitieren aus ethisch wäre, weltweit unsichere Kernkraftwerke zuzu- einem „FAZ“-Artikel über das, was sich in Ahaus, nur lassen, aber aus der Nutzung sicherer Kernkraftwerke wenige Kilometer von meinem Wahlkreis entfernt, zuge- hier in Deutschland auszusteigen. tragen hat. Darin heißt es: (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ent- Aus Düsseldorf war die amtierende Umweltminis- wicklungsland Großbritannien, was?) terin Bärbel Höhn angereist – Wenn Sie sagen, dass Sie eine Politik machen, die – das war am Wochenende, und zwar zur ethisch begründet sei, dann sagen wir: Da liegen Sie Demonstration – falsch. im Dienstwagen und mit Verspätung. Sie wurde Aus Ihrer Presseerklärung, Herr Müller, wird deut- nicht gerade freundlich begrüßt. Viele fragten sie, lich, warum heute hier diese Diskussion geführt werden wo sie soll. Sie haben vor einer Renaissance in Sachen Atom- politik durch CDU/CSU und FDP gewarnt. – Einschub von mir: als Grüne – (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ja!) denn in den vergangenen sieben Jahren gewesen sei. Wir wollen keine Renaissance im Sinne von Neubau von Atomkraftwerken. Mit politischem Instinkt hat Frau Höhn sofort nach Bekanntwerden der Transporte entschieden, nach (Horst Kubatschka [SPD]: Das wollen Sie Ahaus zu kommen. Unbeabsichtigt hebt sie damit natürlich!) das Dilemma der Grünen hervor. Sie Wir wollen, dass sichere Atomkraftwerke weiterlaufen, – die Grünen – weil sie sicher sind. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16771

Dr. Peter Paziorek (A) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sie kann eine Wiederaufbereitungsanlage nicht beherrschen. (C) suchen den Einstieg!) Die Empfehlungen der Opposition lauten: Wir müssen wieder in die Kernenergie einsteigen. Die atomare Wirk- – Nein! Sie bauen jetzt einen Popanz auf. lichkeit aber sieht so aus: Der jetzige Unfall in Sellafield (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Seien wurde als Unfall der Stufe 3 eingeordnet; das ist ein Sie wenigstens ehrlich!) ernster Zwischenfall. Durch einen Rohrabriss – ver- harmlosend heißt es in Deutschland: ein Leck – sind Wir können ganz klar und selbstbewusst sagen: Wer 83 Kubikmeter hoch konzentrierte, heiße Salpetersäure eine Klimaschutzpolitik will, der muss die Bereitschaft ausgelaufen. In diesen 83 Kubikmetern waren 22 Ton- haben, nen Brennelemente aufgelöst. Dies ist ein Menetekel, (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: aber für Sellafield nichts Neues. In den 40 Jahren des Quatsch!) Betriebs dort sind über 300 Unfälle passiert. sichere Kernkraftwerke weiterlaufen zu lassen. Übrigens hieß Sellafield früher Windscale. Im Reak- tor Windscale ist im Oktober 1967 (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Seien Sie doch mal ehrlich!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: 1957!) Klimaschutzpolitik und friedliche Nutzung der Kern- ein Feuer ausgebrochen; dadurch sind mehrere hundert energie in Deutschland sind kein Widerspruch; sie be- Quadratkilometer kontaminiert worden – ein Menetekel, dingen sich. Das ist der richtige Weg. das damals nicht wahrgenommen wurde. Wir lernen: Ein Namenswechsel hilft nicht weiter. Das Einzige, was wei- Deshalb fordern wir Sie auf: Nehmen Sie Abstand terhilft, ist ein Ausstieg aus der Kernenergie, von Ihrer Ausstiegspolitik! (Jörg Tauss [SPD]: Nein!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sagen Sie Ja zu der Aufhebung des Moratoriums in Gor- NEN]) leben! Sie zitieren immer nur Gorleben. Sie wollen ver- hindern, dass wir in Deutschland weiter erkunden, und ein Ausstieg, der einen Einstieg in eine andere Energie- sagen dann: Die Erkundung in Deutschland ist noch nutzung darstellt. Die CDU/CSU-Fraktion ist dagegen nicht abgeschlossen. Was ist das für eine Argumenta- nicht lernfähig. tion? Das ist absolut unredlich. (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) Wir sagen: Die weitere friedliche Nutzung der Kern- Sie will den Wiedereinstieg in die Kernenergie. (B) energie in deutschen Kraftwerken für eine Übergangs- (D) zeit ist verantwortlich. Wir fordern Sie auf: Heben Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) das Moratorium in Gorleben auf! Das wäre ein Konzept, Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Renaissance das uns in der Klimaschutzpolitik weiterbringt. Hören der Kernenergie jetzt Wunschdenken oder Realität? Mit Sie auf, Vergleiche zwischen Sellafield und der deut- viel Propaganda wird sie beschworen, den bekannten schen Kernenergiepolitik zu ziehen! Das ist in höchstem Lobbyisten wird fraglos geglaubt und die Realität wird Maße unredlich. übersehen. Die Realität aber sieht so aus: Nach vielen (Beifall bei der CDU/CSU) Jahren wird wieder ein Kernkraftwerk in Europa gebaut, und zwar in Finnland. Aber eine finnische Schwalbe Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: macht bekanntlich noch keinen Kernenergiesommer. Das Wort hat der Abgeordnete Horst Kubatschka. Weiterhin ist Realität: Das schwedische Atomkraftwerk Barsebäck wird abgeschaltet; das war gestern. Vattenfall will dafür den größten Windpark in Nordeuropa bauen. Horst Kubatschka (SPD): Es erfolgt also auch woanders ein Umstieg in Europa. Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- legen! Dass ein Unfall in einer Wiederaufbereitungsan- Die vereinte Opposition dagegen will den Konsens lage in Deutschland nicht passieren kann, verdanken wir aufkündigen; die Oppositionsführerin Frau Merkel will den Demonstranten von Wackersdorf; daran möchte ich die Kernkraftwerke unbegrenzt laufen lassen. Das ist erinnern. rückwärts gewandt. Die Euphorie der 50er- bis 70er- Jahre des letzten Jahrhunderts lebt in dieser Haltung fort. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kein Realist will ein Kernkraftwerk in Deutschland DIE GRÜNEN) bauen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Deutschland (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Na also!) träumen einige Lobbyisten samt CDU/CSU und FDP den Traum von der Renaissance der Kernenergie. Wie Dagegen sprechen schon die Kosten. So sieht nämlich aber sieht die Realität aus? Die Hightechnation Großbri- die Realität aus: Das 1969 bestellte Kernkraftwerk tannien – kein Entwicklungsland, wie Sie so tun, Herr Biblis A kostete 750 Millionen DM, das 1982 bestellte Lippold – Kernkraftwerk Neckar II 5 Milliarden DM – wahrlich eine Kostenexplosion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Monika Griefahn [SPD]: Das Hundertfache!) 16772 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Horst Kubatschka (A) Neckar II ist übrigens das modernste und das zuletzt fer- gen, die ich gehört habe, kann ich bisher nicht schluss- (C) tig gestellte Kernkraftwerk in Deutschland. Seit 1982, folgern, was der Unfall in Großbritannien mit der deut- also seit 23 Jahren, wurde hier kein Kernkraftwerk mehr schen Politik und den Sicherheitsstandards unserer bestellt. Anlagen zu tun hat. (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Auch kein (Beifall bei der CDU/CSU) Kohlekraftwerk!) Auswirkungen auf die Standards deutscher Kraftwerke Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Endlichkeit der oder nuklearer Anlagen sind nicht ersichtlich. Unbe- Ölvorräte ist vielen Bürgerinnen und Bürgern bewusst. streitbar ist die Sicherheit der deutschen Anlagen inter- Über die Endlichkeit der Uranreserven spricht keiner. national auf höchstem Niveau. Auch Minister Trittin, Deswegen nenne ich hier einmal zwei Zahlen: Die gesi- dessen Haus oberste Aufsichtsbehörde für den Betrieb cherten Uranreserven betragen 3,9 Millionen Tonnen. Im der deutschen Kernkraftwerke ist, muss dies bestätigen. Jahr verbrauchen wir 65 000 Tonnen Uran. Damit be- Die jährlich dem Umweltausschuss vorgelegten Berichte trägt die strategische Reichweite maximal 60 Jahre. Dies dokumentieren den hohen Sicherheitsstandard der Anla- sind nicht Zahlen von Gegnern der Atomenergie, son- gen für jedermann. dern Zahlen von der Internationalen Atomenergie-Be- Aber, meine Damen und Herren, wenn es um diese hörde und der Agentur für Nuklearenergie der OECD. Themen nicht geht, dann geht es eben um andere The- Diese beiden Einrichtungen sind bekanntlich keine Ge- men. Es geht darum, das Thema Sellafield für den Auf- gner der Kernenergie. takt eines Antiatomwahlkampfes zu gebrauchen. Die vereinte Opposition aus CDU/CSU und FDP will (Monika Griefahn [SPD]: Wir haben den Un- den Konsens aufkündigen und Kernkraftwerke unbe- fall nicht bestellt, mein Lieber!) grenzt weiterlaufen lassen. Sie empfiehlt die Kernener- gie als Möglichkeit zum Klimaschutz. Durch Kernener- Es geht darum, Betreiber von Kernkraftwerken zu be- gie werden 17 Prozent des weltweit produzierten Stroms schimpfen, und insbesondere darum, die Bürgerinnen hergestellt; das entspricht 2,7 Prozent des weltweiten und Bürger mit der Angst vor der Nutzung dieser Tech- Endenergiebedarfes. Für einen wirksamen Klimaschutz nologie zu konfrontieren. müssten also Tausende von Kernkraftwerken gebaut (Beifall bei der CDU/CSU) werden. Für mich ist das eine ganz billige Taktik, die nicht Kernkraftwerke sind in 31 Ländern in Betrieb. In aufgehen kann, und zwar aus einem ganz einfachen 170 Ländern werden keine Atomkraftwerke betrieben. Grund nicht: Die rot-grüne Bundesregierung hat mit der (B) 50 Prozent der EU-Staaten kommen ohne Kernkraft aus. Energiewirtschaft einen Vertrag geschlossen, in dem sie (D) Wer Kernkraftwerke unbegrenzt weiterlaufen lassen Laufzeiten von Kernkraftwerken in der Bundesrepublik will, spielt mit der Zukunft und geht an der Realität vor- Deutschland bis über das Jahr 2020 hinweg festgeschrie- bei, wie ich sie gerade geschildert habe. ben hat. Sie haben also die Nutzung der Kernkraft für Ich danke fürs Zuhören. den Energiemix in Deutschland ausdrücklich vertraglich akzeptiert. Wer das vertraglich akzeptiert, der kann sich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ doch dann nicht hinstellen und sagen, das sei alles Teu- DIE GRÜNEN) felszeug und zu gefährlich, das könne dem Bürger nicht zugemutet werden. Eine solche Politik ist hochgradig Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: unehrlich. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Bietmann. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Rolf Bietmann (CDU/CSU): Entweder kein Vertrag oder eine konsequente Politik. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Horst Kubatschka [SPD]: Herr Kollege, das gen! Die Diskussion heute hat gezeigt, dass einige heißt, Sie sind für den Sofortausstieg?) Punkte unstreitig sind. Unstreitig ist, dass der Unfall in Sellafield einer kritischen Sicherheitsanalyse bedarf. Ich sage Ihnen auch: Für mich ist es völlig unverant- Unstreitig ist, dass die Ursachen aufgeklärt werden müs- wortbar, die Frage offen zu lassen, wie Sie die fehlenden sen. 29 Prozent des deutschen Stroms, der aus Atomkraft ge- wonnen wird, ersetzen wollen. Es kann doch nicht Ihre (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wohl wahr!) ernste Antwort sein, dass Sie mit Windkraft und mit So- Unstreitig ist, dass in Sellafield einiges auf unverant- larenergie bis zum Jahr 2020 29 Prozent des deutschen wortliche Schlamperei hindeutet. Strombedarfs ersetzen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das sagt neten der FDP) doch keiner! Wer sagt das denn?) Das wird nicht funktionieren, selbst wenn Sie die ge- Das muss man klarstellen. samte Landschaft der Bundesrepublik Deutschland mit Trotzdem bedarf es für diese unbestreitbar richtige Windrädern überziehen und sie damit in einer Weise ver- Erkenntnis nicht der für die heutige Bundestagssitzung schandeln würden, die völlig unverantwortbar und un- beantragten Aktuellen Stunde; denn aus all den Beiträ- vertretbar wäre. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16773

Dr. Rolf Bietmann (A) (Beifall bei der CDU/CSU) nicht schlüssig und deswegen nimmt Ihnen diese Posi- (C) tion draußen auch niemand ab. Ich sage Ihnen eines: Völlig verantwortungslos ist die Offenhaltung der Endlagerung atomaren Mülls. Seit (Beifall bei der CDU/CSU) Übernahme der Regierungsverantwortung durch Rot- Grün ist in dieser Frage in Deutschland nichts mehr pas- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: siert. Das geschieht ganz bewusst, Herr Loske. Sie wol- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried len das Problem der Endlagerung bewusst nicht lösen, Hermann. um den Menschen draußen sagen zu können: Dieses Zeug ist deshalb so gefährlich, weil wir nicht wissen, wohin damit; wir haben ja keine Endlagermöglichkeit. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Damit diese Frage offen bleibt, kommen Sie jetzt auf die Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und verrückte Idee, oberirdische Zwischenlager in Deutsch- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ land einzurichten. Verteilt über das gesamte Bundesge- CSU! Eines vorweg: Wer selbst mitten im Wahlkampf biet wird nun der hochradioaktive Müll in Zwischenla- steht – dies ist offensichtlich –, sollte anderen nicht vor- gern oberirdisch gelagert. werfen, dass sie auch Wahlkampf machen. Am besten wäre es, wenn wir klarstellten, dass wir in den nächsten (Horst Kubatschka [SPD]: Und Sie wollen da- Monaten Wahlkampf führen werden und daher in vielen mit nach Sellafield gehen!) verschiedenen Bereichen über unterschiedliche Kon- zepte streiten werden. Das wollen Sie nicht einmal für nur kurze Zeit, sondern zumindest für 40 bis 50 Jahre tun. Heute streiten wir über unterschiedliche Konzepte beim Umgang mit der Atomenergie: wie man anders Meine Damen und Herren, es kann doch nicht ernst- Energie erzeugt und dabei die Energieversorgung in haft Ihre Politik sein, den Ausbau von Gorleben zu ver- Deutschland sichert. Das ist die Grundfrage. hindern und die Fertigstellung von Schacht Konrad zu hintertreiben, gleichzeitig aber den atomaren Müll im (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Sellafield ist gesamten Bundesgebiet oberirdisch zu verteilen. Diese in England!) Politik glaubt Ihnen doch kein Mensch; das nimmt Ihnen – Wir reden über Sellafield als Beispiel, genau. Sella- niemand ab. field liegt in der Tat nicht in Deutschland; das ist offen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kundig. Niemand hat hier heute behauptet, eine solche Anlage Mit diesem Anti-Atom-Thema lassen sich die Men- wäre in Deutschland möglich. Es geht aber nicht nur da- (B) schen in Deutschland nicht für dumm verkaufen. Ich (D) rum, dass es diese Anlage bei uns nicht gibt, sondern weiß zwar, dass dies Ihr letzter verzweifelter Versuch ist, auch darum, dass bei uns andere Standards gelten und doch noch irgendein Thema zu finden, um die Menschen wir ein anderes Rechtssystem haben. Trotzdem ist es in diesem Lande zu verunsichern, zumal wir zurzeit kein nicht so einfach, wie Sie es sich machen. Sie sagen, wir aktuelles Kriegsthema haben. Aber die Bürgerinnen und hätten damit nichts zu tun, bei uns sei alles in Ordnung. Bürger in diesem Land – – Man muss doch klar und deutlich sagen, dass die deut- (Horst Kubatschka [SPD]: Das ist ja Hetze, sche Atomwirtschaft bis zum heutigen Tage auch davon was Sie sagen!) gelebt hat, dass es Wiederaufarbeitungsanlagen wie in Sellafield mit genau diesen miesen Standards gibt. – Nein, das ist doch keine Hetze. Wissen Sie, was Hetze ist? Wenn man den Menschen erklärt, dass die Wälder in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Ukraine verseucht seien und wir keine vergleichbar und bei der SPD – Franz Obermeier [CDU/ verseuchten Wälder in der Bundesrepublik Deutschland CSU]: Das war zu teuer!) haben wollten. Das ist Hetze, meine Damen und Herren; Über 800 Tonnen radioaktives Material aus deutschen dieser Vergleich ist hochgradig unseriös. Atomkraftwerken sind dort verarbeitet worden. Dies, (Beifall bei der CDU/CSU) meine Damen und Herren, haben wir in diesem Monat beendet. Tun Sie nun nicht so, als hätten Sie nicht immer Deswegen sage ich Ihnen: Hören wir mit dieser Poli- genau dies bekämpft. Sie waren nämlich nicht nur für tik der Emotionalisierung auf und kommen wir gerade in die Fortsetzung der Atomenergie, sondern auch für die der Energiepolitik wieder zu etwas mehr Vernunft zu- Fortsetzung der Wiederaufarbeitung. Das heißt, Sie rück. Die Vernunft sagt uns doch, dass die Vereinbarung, wollten in vollem Bewusstsein der Zustände in La die Sie mit der deutschen Energiewirtschaft geschlossen Hague und in Sellafield weitermachen. An dieser Stelle haben, angesichts veränderter Rahmenbedingungen fort- besteht zwischen uns der Unterschied. geschrieben werden muss. Nichts anderes diskutiert die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Union. Es geht um die Fortschreibung dieses Vertrags- und bei der SPD) werks aufgrund veränderter Bedingungen. Nicht wir ha- ben die Laufzeiten von Kernkraftwerken bis 2021 fest- In der heutigen Debatte hat die Frage der Sicherheit geschrieben; es war Rot-Grün. Deswegen sollten Sie eine große Rolle gespielt. Mich hat gewundert, dass ge- sich überlegen, was Sie vertraglich vereinbart haben, be- rade im Zusammenhang mit der Atomtechnologie in vor Sie hier von Teufelszeug sprechen. Ihre Position ist Deutschland die Frage der Sicherheit neu gedacht 16774 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Winfried Hermann (A) wurde, übrigens auch bei denen, die für Atomenergie Das lehnen wir mit aller Deutlichkeit ab. Ich kann Ih- (C) sind. Man hat nämlich gesagt, bei dieser Technologie nen nur sagen: Wer die Laufzeiten von Atomkraftwerken könne niemand perfekte Sicherheit garantieren. Man verlängern will, ist technologisch einfältig und handelt könne allenfalls die Sicherheitsstandards erhöhen und politisch unverantwortlich. Er treibt ein hochriskantes doppelte, dreifache und vierfache Sicherheit einbauen, Spiel. gleichwohl bleibe immer ein Restrisiko. Man spricht Vielen Dank. eben nicht mehr einfach von Sicherheit oder Unsicher- heit, sondern von Risiko und Risikominimierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie haben heute in all Ihren Beiträgen dargelegt, dass Sie diese Debatte offenkundig verdrängen möchten. Sie verdrängen, dass, obwohl man die Atomtechnologie im- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: mer weiter verbessern und immer sicherer machen kann, Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Franz Obermeier. am Schluss ein großes Risiko bleibt. Dieses große Risiko hat sich in zahlreichen Unfällen, in zahlreichen kleineren Franz Obermeier (CDU/CSU): und größeren Katastrophen niedergeschlagen. Wenn ich Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! An der mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich Ihnen einmal vorgetra- Rede soeben hat man gemerkt, wie schwer Sie sich tun, gen, welche größeren atomaren Zwischenfälle und Un- die Argumentationslinie Ihrer politischen Haltung zur fälle nahezu alle zwei Jahre allein in Sellafield passiert Kernenergie überhaupt noch zu rechtfertigen. Es war ei- sind und wie oft Menschen verstrahlt wurden. Inzwi- niges Neues dabei: Die Kernenergiewirtschaft in schen ist das gesamte Umfeld verstrahlt. Die Irische See Deutschland lebt von Sellafield. Das ist mir bislang noch ist verstrahlt. Die Tiere in dieser Region sind – das ist nicht untergekommen. Bislang habe ich es immer so auf- aufgrund zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen gefasst, dass die Wiederaufarbeitung von abgebrannten nachweisbar – hochgradig verstrahlt. Die Leukämierate Kernelementen viel zu teuer ist und es besser wäre, Zwi- bei Kindern in dieser Region ist nachweislich mindes- schenlager zu bauen und schließlich ein Endlager zu er- tens doppelt so hoch wie im Rest Großbritanniens. Es ist richten. nachgewiesen, dass je höher die Kontamination der Vä- ter ist, desto höher das Risiko ihrer Kinder ist. Mein Vorredner war wenigstens ehrlich; das muss man ihm zugestehen. Er hat uns deutlich gesagt, um was All das ist inzwischen Stand der Wissenschaft und ist es geht: Es geht um den Wahlkampf und nicht um Sella- für uns eine Begründung dafür, dass wir sagen: Diese field; es geht auch nicht um Sicherheitsphilosophien. Für Art der atomaren Wiederaufarbeitung muss beendet wer- uns in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geht es aber den. Die Deutschen können nicht auf ein solches System ausschließlich um die höchstmögliche technische Si- (B) (D) setzen. cherheit der kerntechnischen Anlagen in der Bundesre- publik Deutschland und darüber hinaus. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Genau, Bayern vor!) Nun ist gesagt worden, Sellafield sei ein ganz anderes System. Trotzdem gibt es in den verschiedenen Syste- Sicherheitsdebatten werden von uns in gar keiner Weise men gleiche Elemente mit ähnlichen Risiken. Sie haben verdrängt. Wir verdrängen die Sicherheit in kerntechni- – ob aus Kreisen der CDU/CSU, aus der baden-württem- schen Anlagen in gar keiner Weise. bergischen Landesregierung oder aus der FDP – in den (Horst Kubatschka [SPD]: Hoffen wir es!) letzten Tagen vorgeschlagen, die deutschen Kraftwerke, die sehr sicher seien, länger laufen zu lassen. Dabei soll- Es ist im Gegenteil so, dass wir die internationale For- ten Sie sich eines bewusst machen – das gilt für das schung und Entwicklung kerntechnischer Anlagen in Auto, für die Waschmaschine und erst recht für puncto Sicherheit deutlich beschleunigen wollen. Hochtechnologieanlagen –: Je länger eine Anlage läuft, je älter sie ist, desto eher gibt es Probleme bei den Mate- Es ist völlig unstrittig, dass wir die Vorfälle in Sella- rialien. Der Unfall, der in Sellafield geschehen ist, ist auf field aufs Schärfste verurteilen. Es ist mehrfach gesagt die Ermüdung von Materialien zurückzuführen. Man worden, dass es in Sellafield viele Störfälle gegeben hat. nimmt also, wenn man Anlagen länger laufen lässt, 30, Ich möchte daher den verantwortlichen Minister dieser 40 oder 50 Jahre, das Risiko, das durch Alterung ent- Bundesregierung fragen, was er in den zurückliegenden steht, bewusst in Kauf. sieben Jahren in Europa bezüglich der Sicherheitsstan- dards in Sellafield getan hat. (Birgit Homburger [FDP]: Nein!) (Horst Kubatschka [SPD]: Er ist doch nicht Genau deswegen halte ich es für völlig fatal und völ- der britische Minister!) lig falsch, dass Sie mit Ihrer Energiepolitik darauf set- Er hat nichts getan. Gleichzeitig werden die Vorfälle zen, ausgerechnet die Laufzeit der alten Anlagen zu ver- hier angeprangert. längern. Damit erhöhen Sie das Risiko und tragen ein Stück weit dazu bei, dass es gerade in Deutschland im- (Marco Bülow [SPD]: Sie sind sich auch für mer riskanter wird, Atomenergie zu erzeugen. nichts zu schade!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Sie haben Alterungsschäden von alten Anlagen be- Quatsch!) wusst in Kauf genommen. Wer mit technischen Dingen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16775

Franz Obermeier (A) einigermaßen vertraut ist, weiß ganz genau, wie lange seucht. Interessant ist, dass dies in einem neueren Teil (C) technische Anlagen sowie Rohre und Ähnliches halten der Anlage passiert ist, einem Teil, der in den 90er-Jah- und wann sie ausgetauscht werden müssen. ren gebaut wurde. Dort wurden – so der Bericht – bereits Ermüdungserscheinungen festgestellt. Hier wird häufig dargelegt, wir seien für eine Verlän- gerung der Laufzeiten. Dazu sage ich: Ja, nach meiner Sie können deshalb nicht einfach sagen: Na gut, Auffassung ist das vertretbar. Es gibt jedoch einen Deutschland ist das Hightechland und der Rest der Welt Orientierungsmaßstab, und zwar die Sicherheit der kern- Entwicklungsland. Wir reden hier aber über Großbritan- technischen Anlage. Es kommt nicht wie bei Rot-Grün nien. auf irgendwelche ideologischen Punkte an, sondern da- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rauf, ob es sicherheitstechnisch verantwortbar ist, Lauf- NEN]: So ist es!) zeiten von technischen Anlagen zu verlängern oder nicht. Das ist das einzige Kriterium, über das wir mit Ih- Über was reden Sie eigentlich, wenn selbst in Groß- nen debattieren und das wir auch nach außen tragen wer- britannien solche Dinge wie Ermüdungserscheinungen den. derartig gravierende Auswirkungen haben? Da kann man doch nicht so tun, als handele es sich um ein Zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – fallsereignis. Horst Kubatschka [SPD]: Ihr Auto ist auch 35 Jahre alt!) (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das hat doch gar keiner gesagt!) Sie haben mit Ihrer Energiepolitik in der Bundesrepu- blik Deutschland nicht nur die drei E, sondern auch ein Man muss intensiv darüber nachdenken, welche Konse- großes A herbeigeführt. Dieses große A steht für Ar- quenzen man generell daraus zieht. beitslosigkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – DIE GRÜNEN – Kurt-Dieter Grill [CDU/ Ulrike Mehl [SPD]: Wie viele Arbeitsplätze CSU]: Das ist eine billige Methode, uns zu un- gibt es denn bei Atomanlagen? – Weiterer Zu- terstellen, wir wären für Sellafield!) ruf des Abg. Horst Kubatschka [SPD]) – Ich nehme nur Ihre Worte wahr. Sie haben gesagt: In Wer vor wenigen Tagen beim Wirtschaftsverband Eisen, dem Hochsicherheitsland Bundesrepublik passiert so et- Blech und Metall verarbeitende Industrie war, konnte an was nicht. Das heißt doch im Umkehrschluss: Alle ande- allen Ecken und Enden von den Unternehmern hören, ren Länder sind nicht hochsicher. Sagen Sie das doch was sie tun werden, wenn nicht bald eine Umkehr in der bitte einmal den Briten, Amerikanern und allen anderen. (B) Energiepolitik stattfindet. Ich weiß, dass eine ganze Was ist das denn für eine Argumentation! (D) Reihe von Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Was tun Sie und der Grünen-Fraktion da waren. Auch Sie haben das denn mit den Briten?) alles vernommen. Sie aber nehmen das hin und debattie- ren nicht die Frage: Wo kommen wir in der Bundes- Versuchen wir, über die technischen Probleme der republik Deutschland hin, wenn die Energiepreise, Atomkraft zu reden. Das ist auch ein deutsches Problem. sprich Strompreise, auf dem derzeitigen Niveau bleiben? Sie wissen genau, dass bis zum Atomausstieg der Ent- Dieses Niveau haben Sie durch eine völlig verfehlte sorgungsnachweis in Deutschland unter anderem an Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland zu Sellafield gekoppelt war. Sie können doch nicht so tun, verantworten. als ob es da keinen Zusammenhang gäbe. Das wissen Sie doch ganz genau. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD – Kurt-Dieter Grill NEN]: Also geht es doch um billigen Atom- [CDU/CSU]: Das ist er bis zum 1. Juli 2005 strom!) immer noch!) Also wird es höchste Zeit, dass in der Energiepolitik in Sie tun so, als sei das weltfremd, Sellafield zu kritisie- der Bundesrepublik Deutschland wieder Vernunft und ren. Das ist überhaupt nicht weltfremd, sondern ein Teil Fakten zählen. des Atomverbundes, weswegen es auch die Bundes- republik berührt hat, was in Sellafield passiert ist. Herzlichen Dank. (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Völkerrechtlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) abgesichert von der Regierung Schmidt!) Die erste Forderung ist klar: Wir brauchen mehr Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Transparenz und mehr Informationen. Auch will ich sa- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Müller. gen: Wir haben kein Verständnis dafür, dass die britische Regierung diesen Unfall unter Wahlkampfgesichtspunk- Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): ten nicht veröffentlicht hat. Weil man in Großbritannien Meine Damen und Herren! Der Tatbestand ist klar: einen Wiedereinstieg in die Atomenergie will, hat man Über neun Monate lang sind mehr als 83 000 Liter hoch ihn geheim gehalten. Das ist unverantwortlich und das radioaktive Flüssigkeit durch ein Leck in einen nicht ge- muss man kritisieren. Es gibt keine Begründung dafür, nehmigten Tank gelaufen und haben die Umwelt ver- einen solchen Unfall nicht zu veröffentlichen. 16776 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Michael Müller (Düsseldorf) (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Energieträger lösen zu können. Aber das ist eine Illu- (C) DIE GRÜNEN) sion. Zweitens. Die irische Regierung hat Recht, wenn sie Allen Untersuchungen zufolge wissen wir – es sei sagt, dass die Atomanlage Sellafield geschlossen werden denn, Sie wollen den Weg in die Plutoniumswirtschaft muss; denn dort kam es immer wieder zu Unfällen und gehen –, dass wir beim Uran in kürzer Zeit große Res- gefährlichen Verstrahlungen. Das kann man ganz ein- sourcenprobleme bekommen werden; denn Uran ist fach aufzeigen. Bevor ich dies tue, will ich noch darauf knapp. Das ist bekannt. Sie können nicht so tun, als sei hinweisen, dass die Kritik keine spezifisch deutsche Po- dem nicht so. Wenn die Ausbaupläne, die heute bekannt sition ist, die wir nur aus Wahlkampfgründen vertreten. sind, verwirklicht werden, stellt sich in 20 Jahren die In Großbritannien kam es zu einer Verurteilung der Be- Frage, ob wir generell in Richtung einer Plutoniumswirt- treiber wegen Geheimhaltungspolitik. Sie sind verklagt schaft oder ob wir einen anderen Weg gehen wollen. Wir worden und mussten hohe Geldstrafen zahlen. Auch die wollen lieber heute, da es noch möglich ist, einen ande- EU-Behörde klagt gegen sie. Es ist nachweisbar, dass ren Weg einschlagen. mehrfach Daten über die Anlage gefälscht wurden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wie sieht die traurige Bilanz der 1951 in Betrieb ge- DIE GRÜNEN) gangenen Anlage aus? 1955 gab es dort 250 hochgradig Das wäre richtig; denn dann wären wir Vorreiter einer verstrahlte Arbeiter; deshalb, Herr Lippold, ist meine effizienten, solaren Zukunft. Dabei geht es nicht nur um Aussage richtig, dass es dort auch Tote und hochgradig Windmühlen. Das Thema Windkraft gehört zwar dazu, Verseuchte gegeben hat. 1957 kam es dort zum bis aber es geht vor allem um das Bündnis von Effizienz und Tschernobyl schwersten Atomunfall mit offiziell 33 To- erneuerbaren Energien. Das ist der Weg, den wir in Zu- ten und 200 durch Schilddrüsenkrebs hervorgerufenen kunft gehen wollen. Da sehen Sie hübsch alt aus. „Langzeittoten“. 1973 wurden 35 Arbeitnehmer sehr schwer verseucht. 1976 wurde ein Loch für atomare Ab- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wässer entdeckt, das mehrere Jahre lang nicht abgedeckt DIE GRÜNEN) worden war. 1986 wurden 250 Kilogramm Uran irrtüm- lich ins Meer geleitet. 1993 wurde die Anlage aufgrund Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: hochgradiger Verseuchung evakuiert. 2004 kamen Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kurt-Dieter Grill. 29,6 Kilogramm Plutonium abhanden; das reicht für den Bau von sieben Atombomben. Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Oh nein! Jetzt Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (B) muss wieder die Atombombe herhalten!) Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erstens. Wenn (D) man die Debatte über die Geschichte von Sellafield bis Hinzu kommt der jetzige Vorfall. zum jetzigen Zeitpunkt verfolgt und insbesondere das Es ist bekannt, dass jeden Tag unheimlich große Men- zur Kenntnis genommen hat, was Herr Müller, aber auch gen radioaktiven Abwassers abgeleitet werden. Die Bo- andere vorgetragen haben, stellt sich eine einfache denproben weisen Verseuchungen aus, die weit über den Frage: Was hat eigentlich die Regierung Schmidt dazu Grenzwerten liegen. Und der Anteil der Kinder, die an bewogen, die Wiederaufbereitungsverträge in Sellafield Blutkrebs erkranken, ist zehnmal höher als im Rest völkerrechtlich abzusegnen? Großbritanniens. Das sind gravierende Vorfälle, über die (Ulrike Mehl [SPD]: Schmidt? Dann beziehen man reden muss. Darüber hinaus kann man sehr rational wir uns demnächst auf Adenauer!) begründen, warum man gegen eine bestimmte Technolo- gie ist. Man kann nicht so tun, als gebe es diese Fakten – Entschuldigen Sie, Frau Mehl, Sie erzählen hier eine nicht oder als sei das Land, in dem diese Fakten passiert Geschichte über Jahrzehnte von Atomunfällen, lassen je- sind, ein Entwicklungsland. doch aus, dass eine von Ihrer Partei geführte Bundesre- gierung die Wiederaufbereitungsverträge mit England (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Frankreich völkerrechtlich abgesegnet hat. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Marco Bülow Meine Damen und Herren, wir kommen nicht an der [SPD]: Ja, aber wir haben dazugelernt, ihr grundlegenden Auseinandersetzung vorbei, ob wir zu ei- nicht!) ner anderen Energiepolitik, die sicherer, umweltverträg- licher und effizienter wäre, übergehen wollen oder nicht. Also gibt es in diesem Lande sozialdemokratische Ver- Zukünftig müssen wir eine Energiepolitik betreiben, die antwortung für das, was Sie hier als großes Problem vor- vor allem auf die Vermeidung von Energieeinsätzen tragen. setzt. Zweitens. Sie haben hier Zeitabläufe geschildert: (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Dazu haben Neun Monate ist das alles schon bekannt. Warum dann Sie in den letzten Jahren ja wirklich unheim- heute eine Aktuelle Stunde? – Ich komme darauf zu- liche Beiträge geleistet!) rück. – Die Frage, die sich daraus ergibt, ist doch nicht an die Opposition zu richten, sondern es muss doch die Das ist der Punkt, den Sie nicht wahrhaben wollen; denn Frage der Opposition und dieses Parlaments sein: Was Sie glauben, dieses Grundproblem durch die Frage der hat der Bundeskanzler, was hat der Außenminister, was Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16777

Kurt-Dieter Grill (A) hat der Umweltminister beim Genossen Blair in London Das Zwischenlager in Gorleben, das Frau Griefahn (C) veranlasst, damit das, worüber wir hier heute diskutieren als Blechhütte und bessere Tennishalle kritisiert hat, – die Vorgänge in Sellafield –, aufgeklärt wird, und zwar wurde mittlerweile in Deutschland 13-mal nachgebaut, so, wie Sie es hier heute darstellen? und zwar unter Ihrer Verantwortung. Deswegen lasse ich mich von Ihnen, deswegen lassen wir uns von Ihnen in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der Frage der Verantwortbarkeit, der Beachtung des Monika Griefahn [SPD]: Das haben wir doch höchsten Sicherheitsstandards, der möglich ist, um diese gemacht!) Dinge beherrschbar zur machen, nicht in die Ecke der unmoralischen und ethisch nicht verantwortbaren Politik – Gar nichts haben Sie gemacht, meine Damen und Her- drängen. Sie sind diejenigen, die das fortgesetzt haben, ren; das ist der Punkt. was Sie vorher als unverantwortlich kritisiert haben. Am (Horst Kubatschka [SPD]: Sie haben nicht zu- Ende Ihrer Zeit haben Sie keine – – gehört!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist wieder Grill-Logik!) – Ich habe sehr gut zugehört. – Herr Müller, mit Ihnen halte ich in der Logik immer (Horst Kubatschka [SPD]:Aber ohne Wir- noch mit. kung!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das – Bei Ihnen braucht man manchmal nicht mehr zuzuhö- glaube ich aber nicht!) ren, Herr Kubatschka. – Das schaffe ich locker. Wissen Sie, zu Ihren Ausfüh- Drittens. Ich will Ihnen das einmal an einem Beispiel rungen über Energieeffizienz sage ich: Das ist der beweisen: Sie reden hier über Schweden. Barsebäck ist schlechteste Teil Ihrer Bilanz, Energieeffizienz ist in die- doch ein wunderbares Beispiel. Reden Sie doch einmal sen sieben Jahren in Deutschland wirklich nicht voran- darüber, was in Schweden tatsächlich passiert: In getrieben worden. Schweden wird die Laufzeit der Kernkraftwerke verlän- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gert, weil die Schweden keine Antwort auf die Kli- der FDP) mafrage haben. Der durch Volksabstimmung eingeleitete Ausstieg aus der Kernenergie hat bis heute nicht stattge- Herr Loske, weil auch Sie hier so trefflich argumen- funden. Schweden taugt nicht als Beispiel für die deut- tiert haben, sage ich Ihnen am Schluss eines: Wir werden sche Diskussion. Sie waren es, die am Anfang ihrer mit der Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke (B) Regierungszeit 1998 gesagt haben: Europa steigt mit uns trotzdem nicht die Frage beantworten, wie der Restbe- (D) aus. Das können Sie nicht beweisen. Viele der Länder, darf von etwa 20 000, 30 000 Megawatt neuer Kraft- die selbst keine Kernkraftwerke betreiben, importieren werkskapazität – etwa 300 000 Megawatt in Europa – Strom aus Kernenergie, beispielsweise die Österreicher, überhaupt vernünftig gestillt werden kann. Sie haben bis die Italiener und die Dänen. Deswegen ist diese Darstel- heute kein Programm vorgelegt. Sie hinterlassen nach lung eine statistische Verfälschung der realen Stromwan- sieben Jahren einen Einstieg in ausschließlich eine Rich- derungen und -lieferungen in Europa. tung, ohne die Kernfrage – den CO2-freien Ausstieg aus der Kernenergie – überhaupt beantwortet zu haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich will auf die Zeitabläufe eingehen – das hat der Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit. Letzter Kollege Paziorek mit seinen Ausführungen zu Frau Satz. Höhn eigentlich sehr deutlich gemacht –: Sie haben die- ses Thema in der Sitzung im Mai, als Herr Trittin seine Presseerklärung abgegeben hat, nicht als Aktuelle Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Stunde auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt, Ich komme jetzt gerade zum Schluss. – Der Vorgän- sondern erst nach der Nordrhein-Westfalen-Wahl. Vor ger von Herrn Clement, Herr Müller, hat in seinem Gut- der Nordrhein-Westfalen-Wahl hätten Sie nämlich bei achten dargestellt, dass der CO2-freie Ausstieg aus der der Darstellung, die Sie heute wählen, erklären müssen, Kernenergie 250 Milliarden Euro kostet. warum die Transporte nach Ahaus und nach Sellafield (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist stattfinden. Diesen Widerspruch hätten Sie nicht auflö- doch Unsinn!) sen können. Es ist geradezu klassisch und typisch, dass Frau Höhn – kaum aus der Regierungsverantwortung – Die Fragen, die damit verbunden sind, sind am Ende Ih- wieder auf die Straße geht und da weitermacht, wo sie rer Regierungszeit nicht beantwortet. Das ist das vor der Regierungsverantwortung aufgehört hat. In der schwere Erbe, das wir übernehmen müssen. Zwischenzeit haben von Sozialdemokraten und Grünen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – geführte Landesregierungen und die Bundesregierung Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Armes die Transporte stattfinden lassen und die Zwischenlager Deutschland, kann man da nur sagen!) gebaut, die sie vor dem Regierungswechsel 1998 als un- verantwortlich abgelehnt haben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Wort hat die Abgeordnete Monika Griefahn. 16778 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

(A) Monika Griefahn (SPD): wirklich Vertrauen in die Firma Westinghaus haben, (C) Schauen wir es uns an: Ohne den Unfall sind dort in wenn sie diese Anlage noch nicht einmal nach mehreren der letzten Zeit 29,6 Kilogramm Plutonium verloren ge- Anläufen in den Griff bekommen kann? gangen. Das ist genug für den Bau von sieben Atombom- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: ben. Dies geschah in einer Zeit, in der weltweit – auch in Das ist Ihre Regierung! Der entziehen Sie ge- Deutschland – in den Zeitschriften über die Renaissance rade Ihr Vertrauen!) der Atomenergie diskutiert wurde. Wie gesagt: Das ist eine neue Technik. Die Auguren aus der Wirtschaft und der CDU sagen, alles sei sicher, obwohl in Sellafield in den Jahrzehnten Durch den Atomkonsens haben wir erstens die Ab- des Bestehens so viel passiert ist, dass 75 Prozent der ra- kopplung erreicht, sodass die Wiederaufbereitung nicht dioaktiven Belastung der Irischen See von dieser Anlage mehr als Entsorgungsnachweis dient. Zweitens haben hervorgerufen werden. Das prangern nicht nur Umwelt- wir erreicht, dass auch die Transporte zur Wiederaufbe- organisationen, sondern auch die irische Regierung an. reitung gestoppt werden. Herr Grill, Sie haben gerade Zu Recht wird die Schließung seit Jahrzehnten – nicht gesagt, dass wir da nichts getan haben. Natürlich haben erst seit heute – immer wieder deutlich gefordert. wir etwas getan. Der Transport nach Sellafield ist abge- sagt worden. Ab 1. Juli 2005 werden wir überhaupt Die EU-Kommission hat Großbritannien im Septem- keine Transporte mehr haben. ber 2004 vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt, gegen den Euratom-Vertrag zu verstoßen, weil wegen ei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ner zu hohen Radioaktivität und schlechter Sichtverhält- DIE GRÜNEN) nisse im laufenden Betrieb keine Kontrollen in der An- Das ist das Entscheidende. lage möglich sind. Ich weiß nicht, wie man trotzdem davon reden kann, dass eine scheinbar relativ neue Tech- Ein Weiteres: Man spricht immer von der Wirtschaft- nik, die scheinbar mit technisch viel höherwertigen Ma- lichkeit. Ein Großteil der Kosten der Sanierungen und terialien gebaut wurde, fehlerfreundlich ist. Man sagt, in Reparaturen in Milliardenhöhe zahlt nicht der Betreiber, allen anderen Anlagen könne das nicht passieren. Das sondern der Steuerzahler. Wenn wir das Gesetz so hinbe- erscheint mir einfach unlogisch. Diese Technik ist nicht kommen hätten, wie wir das gewünscht haben, dass fehlerfreundlich; Atombetreiber nämlich unbegrenzt haften müssen, dann würde weltweit niemand eine neue Anlage bauen. Jetzt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist es so: Bei allem, was mit der Atomenergie zusam- DIE GRÜNEN) menhängt, zahlt im Zweifelsfalle immer der Steuerzah- ler. Er hat für die Subventionen zum Bau der jetzt beste- (B) denn man kann überall immer mit Dingen konfrontiert (D) werden, die man nicht vorausgesehen hat. Das gilt für henden Anlagen gezahlt und wenn weiter betrieben neue Materialien, eine neue Technik und eine neue An- wird, haften die Betreiber auch nur mit einer begrenzten lage gleichermaßen. Marge, wenn irgendein Schaden eintritt. Wenn man schon nicht gesundheitliche oder andere Gründe ins Feld Schauen Sie es sich an: Die gefährlichsten Gamma- führen will, sollte man schon allein aus diesem Grund strahler werden immer noch legal staatlich genehmigt. die Anlagen abschalten, um so die Gefahr zu reduzieren. Plutonium- und Technetiumpartikel – das sind Alpha- strahler – gelangen ins Meer. Diese führen nicht nur Herr Grill, Sie haben angeführt, dass die Zwischenla- dazu, dass die Krebshäufigkeit in der Umgebung, in ger nun bald an den Atomkraftwerken stehen werden. Cumbria, angestiegen ist, sondern auch dazu, dass radio- Selbst wenn man die Atomkraftwerke jetzt abschaltet, aktive Staubpartikel bei britischen Kleinkindern in Ge- müssen sie noch lange überwacht werden. Dann ist es si- samtgroßbritannien nachgewiesen werden, die aufgrund cherer, ebenfalls dort den abgebrannten Müll so lange zu der Art der Partikel nur aus der Anlage in Sellafield bewachen, bis man ein sicheres Endlager gefunden hat. stammen können. Ich weiß einfach nicht, wie irgendje- Was im Salzstock Gorleben eingelagert ist, kann – das mand dazu kommen kann, zu sagen, dass man das be- wissen Sie – nicht mehr zurückgeholt werden. herrschen kann. (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Darum geht es (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Was hat denn doch gar nicht! Das ist doch gar nicht die die Bundesregierung getan?) Frage!) Das heißt, der Salzstock Gorleben ist aufgrund der Tat- Wiederaufbereitung produziert eben neuen Müll. sache, dass Brennelemente eingeschmolzen werden Wenn man bedenkt, dass die Anlage in Sellafield ur- müssen, nicht geeignet. sprünglich für die Wiederaufbereitung gedacht war – Plutonium sollte für schnelle Brüter und für Atomwaf- (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Wir haben fen produziert werden –, dann wird klar, dass die Kon- über das Zwischenlager geredet, Frau Kolle- struktion bzw. die Idee der Anlage als solche schon dazu gin!) ausgerichtet war, Unsinn zu produzieren. Zwischenlager heißt, dass dort etwas nur zwischengela- Überlegen Sie einmal: Eine Mitbetreiberin der An- gert wird. Man sucht weiterhin nach der besten Möglich- lage, die Firma Westinghaus, die übrigens auch eine keit einer Endlagerung. Diese Suche nach einem End- Zweigstelle in Deutschland hat, versucht, weltweit neue lager – Sie kennen das Gutachten – haben wir Atomkraftwerke zu bauen. Ich kann nur sagen: Kann ich vorbereitet. Es geht darum, die beste Lösung zu finden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16779

Monika Griefahn (A) Wir können es nicht in Gorleben einlagern, weil wir die noch heute begeht. Schon 1984 hat sich die SPD auf ih- (C) Brennelemente dort nie wieder herausbekommen. Das rem Essener Parteitag von der Atomenergie verabschie- ist der entscheidende Punkt. det und diesen Fehler eingestanden. Sie dagegen stehen noch heute hinter der Atomenergie, obwohl Ihnen der (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Ein Argument Unfall von Tschernobyl und andere Unfälle längst ge- mit Krücke!) zeigt haben müssten, wie gefährlich diese Technologie Wie Sie gesagt haben, sind auch Arbeitsplätze ein ist. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und der SPD. wichtiger Aspekt. In der Branche der regenerativen Wir müssen das historisch betrachten. Energien sind inzwischen 140 000 Arbeitsplätze entstan- den. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es war gut, dass die rot-grüne Bundesregierung und Beim Export dieser Technologien sind wir Weltmarkt- die Mehrheit dieses Parlamentes den Ausstieg aus der führer. Selbst ein großer Energiekonzern wie zum Bei- Atomenergie beschlossen haben. Ansonsten hätten wir spiel RWE hat erklärt, dass man sich ein virtuelles Kraft- noch viel schwierigere Probleme mit größeren Mengen werk vorstellen kann, bei dem Solarenergie und ähnliche Atommüll, als wir sie schon heute haben. Es war zum Energieformen zusammengeschaltet werden und die Beispiel gut, dass in den 80er-Jahren die Anti-Atom-Be- Energie dorthin geschickt wird, wo sie gebraucht wird. wegung die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf Das ist die Zukunftsperspektive. Solche neuen Techno- in Bayern verhindert hat, und zwar gegen Polizeistaats- logien bieten uns neue Möglichkeiten, nicht aber große methoden einer CSU-Regierung. Anlagen, die zentral errichtet werden und deren Strom man überallhin transportieren muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Die Gebiete, bei denen überlegt wird, dort neue Atomkraftwerke zu bauen, sind politisch unsicher. Wenn Ich selbst war bei diesen Protesten dabei und habe erlebt, sie nicht politisch unsicher sind, dann sind es vielleicht wie die Menschen niedergeknüppelt wurden. Wo wären geographisch unsichere Gebiete. In Japan zum Beispiel wir ohne diese Bewegung heute? Wir hätten sonst in Wa- gibt es fast jeden Tag irgendwo ein Erdbeben. ckersdorf die Probleme – die britischen Ingenieure sind mit Sicherheit nicht viel schlechter als die deutschen In- (Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/ genieure –, die heute in Sellafield auftreten. Das sollten CSU]: In Finnland gibt es noch mehr Erdbe- Sie sich deutlich vor Augen führen. Es ist gut, dass wir ben!) den Ausstieg aus der Atomenergie und aus der Wieder- (B) Vor diesem Hintergrund kann ich mir nicht vorstellen, aufbereitung beschlossen haben. (D) dass Sie im Ernst glauben, diese Technologie könne feh- lerfrei genutzt werden. Was überhaupt ist denn Wiederaufbereitung? Mit die- sem beschönigenden Namen soll angedeutet werden, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dass es bei Brennstoffen atomarer Art angeblich einen Kreislauf gibt. Wenn wir genau hinschauen, dann sehen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: wir, dass aus jeder Wiederaufbereitungsanlage mehr Denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Atommüll herauskommt, als an Brennstoffen hineinge- gangen ist. Ein besserer Begriff für Wiederaufbereitung Monika Griefahn (SPD): wäre eigentlich Atommüllvermehrungsanlage Lassen Sie uns gemeinsam für eine zukunftsfähige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Energieversorgung arbeiten. Dabei beziehe ich mich auf und bei der SPD) die drei E: Energieeinsparung, erneuerbare Energien und Energieeffizienz. Wir müssen diejenigen belohnen, die oder auch Giftchemieanlage. Was liegt denn in dieser wirklich etwas dafür tun und sich dafür eingesetzt haben. Wanne? 83 Kubikmeter hoch konzentrierte Salpeter- Das heißt, wir müssen die Industriezweige unterstützen, säure, gemixt mit Plutonium und Uran. Ein Millionstel die Solarenergietechnologien und Ähnliches entwickeln. Gramm Plutonium reicht aus, um einen Menschen zu tö- ten. Das ist der giftigste Stoff dieser Welt. Allein die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Menge Plutonium und Uran in dieser Wanne in Sella- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) field – Gott sei Dank im verbunkerten Bereich, aber den- noch relativ ungesichert – reicht aus, um die gesamte Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Menschheit zu vergiften. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Josef Fell. (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Das ist unglaublich!) Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Man muss sich vorstellen, worüber man hier redet. Es ist Herren! Herr Kollege Grill – wie ich sehe, ist er schon keine Kleinigkeit, von der wir bei diesem Unfall spre- gegangen; das ist schade – hat Exbundeskanzler Schmidt chen. Sie reden ihn klein und sagen, nur weil in Großbri- vorgeworfen, es sei ein Fehler gewesen, dass er die tannien schlechte Techniker seien, sei das ein Problem. Atomenergie befürwortet hat. Es ist schon kurios, wenn Nein, es ist an sich ein Problem, mit der Plutoniumwirt- einem die Union einen Fehler vorwirft, den sie selber schaft weiterzumachen. 16780 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Hans-Josef Fell (A) (Birgit Homburger [FDP]: Hören Sie auf, die Forschungsförderung bei erneuerbaren Energien und (C) Angst zu schüren!) mit vielem anderen mehr. Das ist die Zukunft, der Sie sich mit dem Beharren auf der Atomenergie verweigern. Nehmen wir die Kosten. Sellafield hat gezeigt, dass dies ein kolossaler Irrweg ist. (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Da hilft nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abwählen!) und bei der SPD) Der britische Betreiber der Anlage von Sellafield, der wegen der Kosten – zum Glück – verstaatlicht wurde, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: British Nuclear Fuels, hatte 40 Milliarden Pfund Sterling Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. an Schulden aufgehäuft und wurde dann verstaatlicht. Der britische Staat hat ihn übernommen. Das, was in den Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: letzten Monaten in Sellafield gelaufen ist, war überhaupt nicht finanzierbar. Niemand weiß, was das noch kosten Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten wird. Entwurfs eines Stalking-Bekämpfungsgesetzes Schauen wir uns doch ein Beispiel in unserem eige- – Drucksache 15/5410 – nen Land an. Wir haben doch auch eine Wiederaufbe- Überweisungsvorschlag: reitungsanlage in Deutschland, nämlich die Forschungs- Rechtsausschuss (f) anlage Wiederaufbereitung im Forschungszentrum Innenausschuss Karlsruhe. An ihr merken wir schon, wie die Altlasten Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die dieser Technologie, die Sie zu verantworten haben, heute Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre große Kosten verursachen, obwohl das nur eine kleine keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Forschungsanlage ist. Riesenhuber hatte den Vertrag An- fang der 90er-Jahre gemacht. 1 Milliarde Euro sollte der Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Abbau kosten. So hat er es mit den Betreibern verein- der Justizminister des Landes Hessen, Dr. Christean bart, die riesige Gewinne machen im Gegensatz zum Bachmaier. Staat, der hoch verschuldet ist, jetzt aber die Kosten übernehmen muss. Er hat gesagt, 1 Milliarde Euro über- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wagner! – Wei- nähmen die Betreiber, den Rest der Staat. terer Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt keine fal- schen Übertreibungen!) (Horst Kubatschka [SPD]: Nicht Euro! D-Mark!) – Er heißt Wagner. Ich bitte um Entschuldigung. Das war (B) auf dem Sprechzettel falsch. (D) – Nein, ich habe es in Euro umgerechnet. Natürlich wa- ren es damals D-Mark. (Hermann Bachmaier [SPD]: Ein schmeichel- hafter Vergleich!) Heute kostet der Abbau der Wiederaufbereitungsan- lage bereits 2 Milliarden Euro. Das spüren wir schon im Bundeshaushalt. 160 Millionen Euro müssen wir aktuell Dr. Christean Wagner, Staatsminister (Hessen): im Etat des Bildungs- und Forschungsministeriums für Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und den Abbau von nuklearen Forschungseinrichtungen aus- Herren! Wie ich gerade bemerkt habe, war das ein Verse- geben; der Löwenanteil geht an die Wiederaufberei- hen Ihrer Mitarbeiter, Frau Präsidentin. Deshalb habe ich tungsanlage in Karlsruhe. Das bindet Mittel, die wir für keine Probleme damit, dass Sie zunächst meinen Namen Zukunftsprojekte ausgeben wollen, etwa für erneuerbare nicht richtig genannt haben. Ein alter juristischer Grund- Energien, insbesondere für deren Markteinführung. satz – schließlich spricht hier der hessische Justizminis- ter – lautet: Falsa demonstratio non nocet. Übrigens, schminken Sie sich einmal ab, dass es eine Renaissance der Atomenergie geben könne und dass die (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb Atomenergie eine bedeutende Energiequelle sei. [CDU/CSU]: Das freut mich natürlich!) Schauen Sie sich einmal die neuesten Zahlen an, die vor Das Bundesland Hessen hat im Juli 2004 eine Geset- wenigen Tagen von der Internationalen Energieagentur zesinitiative zur strafrechtlichen Verfolgung von schwe- veröffentlicht wurden. Da heißt es, 20 Prozent des welt- ren Belästigungen – im bisherigen Sprachgebrauch Stal- weiten Energiebedarfs würden bereits von erneuerbaren king genannt – gestartet. Ich freue mich, dass diese Energien gedeckt, Initiative im Bundesrat von Erfolg gekrönt war, und ich (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Das ist doch freue mich sehr darüber, dass wir heute im Deutschen die Wasserkraft!) Bundestag die erste Beratung dieser Gesetzesinitiative durchführen können. 77 Prozent von den klimaschädlichen fossilen Energie- trägern und lächerliche 3,3 Prozent von der Atom- Wir alle – das ist mein ernster Appell – sind aufgeru- energie. Das soll Klimaschutz sein? Wenn Sie wirklich fen, Stalkingopfer in Zukunft besser zu schützen. Es ist Klimaschutz betreiben wollen, dann müssen Sie endlich deshalb notwendig, einen neuen Straftatbestand im in die erneuerbaren Energien einsteigen und Ihre Blo- Strafgesetzbuch zu schaffen, der die Grundlage für ein ckade beenden. Sie müssen aufhören mit Ihren Kampa- frühzeitiges und auch konsequentes Einschreiten der gnen gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz und gegen Strafverfolgungsbehörden bietet. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16781

Staatsminister Dr. Christean Wagner (Hessen) (A) Nach der geltenden Rechtslage sind Polizei und stand, der alle schwerwiegenden Belästigungshandlun- (C) Staatsanwaltschaft selbst bei intensiven Belästigungen gen erfasst, will die Bundesregierung verzichten. Eine der Opfer oft die Hände gebunden. Die Strafverfol- solche Einschränkung würde es den Tätern leicht ma- gungsbehörden müssen häufig tatenlos zusehen, weil es chen, die Strafandrohung zu umgehen, indem sie nicht im deutschen Strafrecht bislang keinen eigenen Straftat- die ausdrücklich im Gesetz geregelten Belästigungsfor- bestand für das so genannte Stalking gibt. Die Ermittler men wählen. Deshalb sage ich: Wer einen wirkungsvol- können vielfach erst dann einschreiten, wenn es zu einer len Schutz der Opfer vor Stalking will, muss eine offene Eskalation der Belästigungen – zum Beispiel zu Körper- Formulierung der Tathandlungen wählen, um auch der verletzungen – kommt. Vielschichtigkeit des Handelns der Täter zu begegnen. Das Gewaltschutzgesetz aus dem Jahr 2002 – das (Beifall bei der CDU/CSU) möchte ich klar und deutlich festhalten – hilft dabei nicht Dass hierbei auch unbestimmte Rechtsbegriffe Verwen- weiter. Seine Strafdrohung hängt davon ab, dass das Op- dung finden müssen, ist nichts Außergewöhnliches. fer gegen den Täter zunächst eine zivilrechtliche Schutz- Schon jetzt gibt es im geltenden Strafrecht zahlreiche anordnung erwirkt. Dieser Weg ist zeitraubend, um- unbestimmte Rechtsbegriffe, die die Gerichte bei der ständlich und für das Opfer auch häufig mit erheblichen Rechtsanwendung konkretisiert haben. zusätzlichen Belastungen verbunden. Die geltende Rechtslage ist deshalb nach meiner Einschätzung den Meine Damen und Herren, bedauerlich ist auch, dass Opfern nicht zumutbar. Die bestehende Gesetzeslücke der Vorschlag der Bundesregierung keinen eigenen Haft- muss dringend geschlossen werden. grund für schwere Stalkingfälle vorsieht. Hinter dem abstrakten Begriff „Stalking“ verbergen (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE sich häufig beklemmende Einzelschicksale. Es geht um GRÜNEN]: Das wäre ja das Allerletzte!) erhebliche Belästigungen von Personen durch fortge- Diese Lücke ist gefährlich. Sie verhindert, dass Eskala- setztes Nachstellen und Verfolgen. Nicht selten sehen tionen rechtzeitig abgebrochen werden. Die Möglichkeit sich die Opfer zu einer gravierenden Veränderung ihrer der Inhaftierung des Täters ist in gravierenden Fällen ein Lebensumstände gezwungen, um ihren Peinigern zu ent- wichtiger und notwendiger Beitrag zur Deeskalation und gehen. Sie haben Angst und leiden unter Schlaflosigkeit damit zum wirksamen Opferschutz. und Albträumen. Eskalieren die Belästigungen – etwa nach einer Trennung vom Lebenspartner –, droht den (Beifall bei der CDU/CSU) Opfern nicht selten auch physische Gewalt, die in Ex- Meine Damen und Herren, das Vorgehen in Sachen tremfällen sogar bis zum Totschlag reichen kann, wie Stalking ist symptomatisch für die Rechtspolitik der rot- (B) wir vor einigen Monaten in Bremen sehr leidvoll miter- grünen Bundesregierung. Die Koalition hat sich in der (D) leben mussten. Vergangenheit in vielen wichtigen rechtspolitischen Fra- Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs des Bundesrates gen einem rechtzeitigen gesetzgeberischen Handeln ver- steht die neue Bestimmung des § 238 Strafgesetzbuch, weigert. Zum Stalking – ich sagte es bereits – hat die die den Titel „Schwere Belästigung“ trägt. Danach sol- Bundesregierung noch bis vor kurzem wiederholt be- len Personen, die andere unbefugt und nachhaltig beläs- hauptet, die geltende Rechtslage sei nicht verbesserungs- tigen, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren be- bedürftig. Durch die späte Aufgabe ihrer Verweige- straft werden können. Voraussetzung für die Strafbarkeit rungshaltung hat die Bundesregierung wertvolle Zeit auf ist, dass die Belästigung geeignet ist, den Betroffenen in dem Weg zu einem wirkungsvollen Schutz vor Stalking seiner Lebensgestaltung erheblich zu beeinträchtigen. vergeudet. Die Freiheit der Lebensgestaltung ist das geschützte Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen: Rechtsgut in dem neuen § 238 Strafgesetzbuch. Außer- Die Diskussion über die Strafbarkeit von Stalking ver- dem – das will ich noch anfügen – soll in qualifizierten läuft, jedenfalls nach meiner Beobachtung, nach demsel- Fällen Untersuchungshaft angeordnet werden können, ben Muster, wie wir es bei den Themen Graffitibekämp- um den Teufelskreis der Eskalation zu durchbrechen. fung, Erweiterung der DNA-Analyse und Einführung Die Bundesjustizministerin hat sich monatelang ge- der nachträglichen Sicherungsverwahrung erlebt haben. weigert, die schwere Belästigung strafgesetzlich neu zu (Beifall bei der CDU/CSU) regeln. Vor sechs Wochen hat sie aber überraschend an- gekündigt, einen eigenen Gesetzentwurf für einen Stal- Auch hier hat sich die rot-grüne Koalition lange Zeit ge- king-Straftatbestand vorzulegen. Bei dieser Ankündi- weigert, überhaupt tätig zu werden, und erst nach Jahren gung ist es leider bisher geblieben. Die Presseerklärung, und wiederholten Initiativen des Bundesrates eigene un- mit der sie es am 15. April angekündigt hat, lässt aller- zureichende Vorschläge vorgelegt. Mit diesem Zickzack- dings einen Gesetzentwurf erwarten, der die Opfer we- kurs sind die berechtigten Interessen der Opfer, wie ich sentlich schlechter schützt, als es im Vorschlag des Bun- finde, grob vernachlässigt worden. Ich gebe mich gleich- desrates vorgesehen ist. wohl der Hoffnung hin, dass der von mir dargestellte dringende gesetzgeberische Handlungsbedarf erkannt (Beifall bei der CDU/CSU) und unserer Initiative eine Mehrheit auch im Bundestag, das heißt bei Ihnen, beschert wird. Die Bundesregierung will nur bestimmte Belästigun- gen wie beispielsweise das Aufsuchen der räumlichen Ich will in meinem letzten Satz noch einmal aus- Nähe unter Strafe stellen. Auf einen Auffangtatbe- drücklich sagen: Das Gesetz erreicht Abschreckung der 16782 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Staatsminister Dr. Christean Wagner (Hessen) (A) Täter und bietet damit die Grundlage für einen wirksa- den – der Mord an einer Frau, die zuvor Stalkingopfer (C) men und konsequenten Opferschutz. des Täters geworden war und die sich deshalb mehrmals erfolglos an die Behörden – diese konnten ihr nicht wei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) terhelfen – gewandt hatte. Solche Projekte reichen aber – das hat unsere Anhörung ebenfalls gezeigt – nicht aus. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vor allem hilft das Gewaltschutzgesetz in diesen Fällen Jetzt hat definitiv der Abgeordnete Hermann leider nicht weiter. Ein Vorgehen nach dem Gewalt- Bachmaier das Wort. schutzgesetz birgt für das Opfer viel zu hohe Risiken. Beschreiten die Betroffenen diesen Weg aber nicht, fehlt Hermann Bachmaier (SPD): es Polizei und Ordnungsbehörden an einer hinreichen- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn den Rechtsgrundlage. Es ist deshalb mittlerweile unbe- ich es richtig sehe, ist das heute die erste Debatte des stritten, dass wir dringend einen eigenständigen Deutschen Bundestages, in der wir uns mit der Frage der Straftatbestand benötigen. Notwendigkeit eines neuen Straftatbestandes gegen das Der Gesetzentwurf des Bundesrates geht zwar in die so genannte Stalking befassen. Auch aus den Reihen der richtige Richtung, unterliegt aber in seiner konkreten Opposition kam bislang kein Antrag. Fassung erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken Denjenigen, die mit diesem Problem näher vertraut vor allem im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot. sind, ist schon seit längerem klar, dass unsere Rechtsord- Dies hat der Deutsche Richterbund in seiner Stellung- nung auf dieses Phänomen bislang keine hinreichende nahme zum Bundesratsentwurf erschöpfend dargelegt. Antwort gefunden hat. Ich habe als Anwalt und als Justi- Vor diesem Hintergrund ist der Gesetzentwurf des Bun- tiar unserer Fraktion einige Stalkingfälle aus der Sicht desrates nur eine Beratungsgrundlage. Über ihn werden der Betroffenen näher kennen gelernt und weiß deshalb, wir genauso beraten wie über andere Vorlagen. Ich freue was Stalkingopfer ertragen müssen: Telefonterror, tag- mich sehr, dass das Bundesjustizministerium mit seinem tägliche distanzlose und zum Teil bedrohliche Briefe, Referentenentwurf auf einem rechtsstaatlich besseren stundenlanges Auflauern vor der Haustür oder vor der Wege ist. Es ist gut, dass wir in Kürze mit einem Kabi- Arbeitsstelle, ständiges Verfolgen und Abpassen, uner- nettsentwurf zu rechnen haben, wünschte Ansprache des Opfers, Bedrohungen, Ver- leumdungen im privaten und beruflichen Umfeld. Es ist (Beifall bei der SPD) bedrückend, mitzuerleben – da sind wir uns von der der nach einer Befassung durch den Bundesrat schon zu Ausgangslage her einig, Herr Wagner –, wie die Freiheit Beginn der nächsten Legislaturperiode eine solide und die persönliche Lebensgestaltung der Betroffenen Grundlage für die zügige Verabschiedung einer Bestim- (B) eingeengt werden, und das praktisch jeden Tag über oft mung mit einem entsprechenden Straftatbestand abge- (D) unabsehbar lange Zeiträume, in vielen Fällen sogar über ben wird. Es ist sinnvoll und richtig, diesen Weg zu be- Jahre hinweg. Im Übrigen kann es nicht nur Prominente schreiten; denn dieser Entwurf unterliegt nicht dem treffen – das ist ein Irrglaube, der leider noch immer weit Prinzip der Diskontinuität. Damit kann die durch Neu- verbreitet ist –, sondern jeden. wahlen entstehende Pause des Bundestages ohne Wir Rechtspolitikerinnen und Rechtspolitiker der Schwierigkeiten überbrückt werden. Wir können also zu SPD-Bundestagsfraktion haben vor einigen Monaten Beginn der nächsten Legislaturperiode sofort zur Tat eine Sachverständigenanhörung zu diesem Gesamtkom- schreiten und einen entsprechenden Straftatbestand in plex durchgeführt. In dieser Anhörung wurden uns er- das Strafgesetzbuch aufnehmen. schreckende Fälle vorgetragen. So hat uns der Vorsit- Uns kann man nicht vorwerfen, dass wir nur wegen zende des Ersten Strafsenates des Bundesgerichtshofes einer symbolischen Wirkung leichtfertig Straftatbe- berichtet, dass eine nicht geringe Zahl der beim BGH an- stände schaffen. Hier waren wir immer behutsam und hängig gewordenen Fälle schwerster Verbrechen, also haben die entsprechende Vorsicht an den Tag gelegt. von Mord und Totschlag, mit einem zunächst harmlos erscheinenden Stalkingverhalten begonnen haben. Die- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sem Verhalten ist – weil es an einem entsprechenden des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Straftatbestand leider bis heute fehlt; auch darüber sind wir uns einig – oft nur unzureichend begegnet worden. Diese Gefahr besteht hier nicht. Im Kampf gegen die Reine Bagatellstrafen wegen Beleidigung, Hausfriedens- vielfältigen Formen, mit denen Stalker ihre Mitmen- bruch oder leichter Körperverletzung reichen nicht aus, schen peinigen, ist die Schaffung eines eigenständigen um einem Stalker rechtzeitig den kriminellen Gehalt sei- Straftatbestandes vielmehr dringend vonnöten. Ich hoffe, nes Fehlverhaltens vor Augen zu führen. Wir müssen da- dass wir in Kürze den notwendigen Straftatbestand in von ausgehen, dass manche schlimme Gewalttat hätte das Strafgesetzbuch aufnehmen werden. verhindert werden können, wenn Polizei und Gerichte Herzlichen Dank. früher die Möglichkeit zu entschlossenem Eingreifen ge- habt hätten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Auf Länderebene hat es zwar vielfältige Versuche ge- geben, den Opfern zu helfen und die Hilfsmaßnahmen zu koordinieren. In Bremen zum Beispiel war der Anlass Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: für solche Maßnahmen – das ist gerade erwähnt wor- Das Wort hat die Abgeordnete Sibylle Laurischk. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16783

(A) Sibylle Laurischk (FDP): tung falsche Darstellungen über sich ergehen lassen (C) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und musste. Dieser Fall wurde letztendlich nicht strafrecht- Herren! Wir sprechen heute über ein gesellschaftliches lich, sondern umgangsrechtlich gelöst: Der Sohn lehnt Phänomen, das uns anscheinend so fremd ist, dass wir den Kontakt zu seinem Vater mittlerweile ab. Das ist si- dafür nicht einmal einen deutschen Begriff haben. Stal- cherlich eine tragische Entwicklung. Ich glaube, dass king heißt „anschleichen“. Die deutsche Bezeichnung eine klare strafrechtliche Stellungnahme hier sehr viel „schwere Belästigung“ erscheint mir sehr viel deutlicher. wirkungsvoller und angemessen wäre. Die Opfer dieses kriminologischen Phänomens müssen (Beifall bei der FDP) ernst genommen werden. Besonders wichtig ist mir in diesem Zusammenhang, Gemäß einer Studie des Mannheimer Zentralinstituts darauf hinzuweisen, dass es bei der Formulierung des für Seelische Gesundheit waren 12 Prozent der Gesetzes gelingen muss, die Arbeit von Journalisten und 2 000 Befragten schon einmal Opfer von Nachstellun- damit die Pressefreiheit zu garantieren. gen. Jedes vierte Opfer wurde länger als ein Jahr drang- saliert; fast jedes dritte Opfer wurde persönlich angegrif- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ fen. Die langfristigen traumatischen Auswirkungen auf DIE GRÜNEN) die Opfer sind vielfältig und man muss sie ernst nehmen. Meines Erachtens genügt es nicht, eine Klarstellung in (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Begründung des Gesetzes vorzunehmen. Der Geset- der CDU/CSU) zestext selbst muss klar formuliert werden. Brauchen wir deshalb dieses Strafgesetz? Wir haben (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ das Gewaltschutzgesetz. Danach kann ein Zivilgericht DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der einem Stalker untersagen, sich im Umkreis seines Op- SPD) fers aufzuhalten. Ebenso kann das Gericht anordnen, Es ist absehbar, dass uns der Gesetzentwurf des Bun- dass der Täter es unterlässt, Verbindung zu verletzten desrates in dieser Legislaturperiode nicht mehr beschäf- Personen aufzunehmen. Zudem ist der Gesetzgeber in tigen wird. der 14. Wahlperiode davon ausgegangen, dass viele Stal- kinghandlungen Straftatbestände wie Beleidigung, Nöti- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE gung, Körperverletzung oder Hausfriedensbruch erfül- GRÜNEN]: Na, wer weiß?) len. Wir, die FDP-Fraktion, werden auch in der nächsten Le- Erste Erfahrungen mit dem Gewaltschutzgesetz zei- gislaturperiode eine eindeutige Lösung dieses gesell- (B) gen allerdings, dass diese gesetzlichen Regelungen aus schaftlich brisanten Problems vorschlagen. (D) Opfersicht unzureichend sind. Eine sorgfältige, wissen- (Beifall bei der FDP) schaftlich fundierte Evaluierung darüber, in welchen Fällen sich das Gewaltschutzgesetz bewährt hat und in welchen Fällen es Lücken gibt, wäre wünschenswert, um Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: eine sachliche Analyse des Sachverhalts vornehmen zu Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard können. Schewe-Gerigk. Bei näherer Prüfung des vorliegenden Gesetzentwurfs zeigt sich, wie schwierig die Aufgabe ist, einen Straftat- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE bestand zu schaffen, der die vielfältigen Belästigungs- GRÜNEN): handlungen erfasst und sie gleichzeitig von normalem, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sozial adäquatem Verhalten abgrenzt. Es erscheint frag- Stalking, also das fortgesetzte Verfolgen, Belästigen und lich, ob der vom Bundesrat vorgeschlagene Tatbestand Bedrohen einer Person, hat in den letzten Monaten große wirklich konkret genug ist, um das unerwünschte Ver- öffentliche Aufmerksamkeit erregt. Häufig wurden Fälle halten zu erfassen. beschrieben, bei denen Stars oder Sternchen die Opfer waren. Natürlich ist es schockierend und bietet auch Ge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ sprächsstoff, wenn ein obsessiver Fan in die Wohnung DIE GRÜNEN) von Jeanette Biedermann einbricht, um sich in ihr Bett zu legen. Im Grunde zeigt das Phänomen der schweren Belästi- gung, dass in einer Gesellschaft, die zunehmend verein- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wie bei Inge zelt und vereinsamt, keine adäquate soziale Kontrolle Meysel damals! – Gegenruf der Abg. Silke mehr gewährleistet ist und dass auswüchsiges Verhalten Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- befördert wird. NEN]: Das war zumindest ein Anfangsver- dacht von Stalking!) Ich persönlich bin durch einen Fall, den ich als An- wältin bearbeitet habe, überzeugt worden, dass wir hier Die meisten Stalkingfälle sehen aber anders aus: Stal- Regelungslücken haben und dass eine strafrechtliche king findet überwiegend in sozialem Nahraum statt; Tä- Normierung notwendig ist. Ich denke an den ausgespro- ter und Opfer kennen sich bereits. Bei der Hälfte der chen tragischen Fall, in dem ein Vater seinen Sohn beläs- Fälle handelt es sich um bestehende oder ehemalige tigt hat. Es handelte sich dabei um ein elfjähriges Kind, Partnerschaften. In den allermeisten Fällen sind die Be- das sich nicht wehren konnte und das sogar in der Zei- troffenen Frauen. Anders als beim Prominentenstalking 16784 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Irmingard Schewe-Gerigk (A) sind diese Stalker leider häufiger bereit, physische und lösen. Bremen ist – das wurde gerade gesagt – bisher das (C) psychische Gewalt anzuwenden. einzige Bundesland, in dem Polizei, Justiz und Bera- tungsstellen zum Thema „Stalking“ gut vernetzt sind. Im Gewaltschutzgesetz hat die rot-grüne Regierung Hier spricht die Polizei die Stalker, sofern sie namentlich 2002 erstmals die Möglichkeit geschaffen, gegen Stalker bekannt sind, direkt an. Ihnen wird verdeutlicht, dass vorzugehen. Handelt es sich auch nicht immer gleich um ihre Handlungen nicht toleriert werden, und Hilfsange- physische Gewalt, so bedeutet Stalking für die Opfer bote werden unterbreitet. Mit diesem Konzept ist Bre- doch eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensfüh- men sehr erfolgreich. Eine Deeskalationshaft ist dagegen rung und oftmals auch ihrer Gesundheit. Die Opfer kön- nur von kurzer Dauer und würde vermutlich oftmals nur nen heute eine zivilgerichtliche Schutzanordnung erwir- noch zu weiterer Gewalt führen. ken, wenn ihnen eine andere Person gegen ihren ausdrücklich erklärten Willen wiederholt nachstellt oder Die anderen Bundesländer müssen jetzt nachziehen. sie mithilfe von Telefon und E-Mails verfolgt. Verstößt Polizei und Justiz müssen geschult werden, feste An- der Täter gegen diese Anordnung, macht er sich strafbar. sprechpartner und -partnerinnen und spezielle, standar- Das Gericht kann eine Geldstrafe oder eine Freiheits- disierte Abläufe sind notwendig. Wir wollen nicht das strafe bis zu einem Jahr verhängen. Risiko eingehen, ein an sich sinnvolles Gesetz zu schaf- fen, das keine Wirkung zeigt, weil die Bundesländer Damit haben wir erstmals in Deutschland eine straf- nicht ihren Teil beitragen. Aber auch auf Bundesebene rechtliche Handhabe gegen Stalking geschaffen. Das war sind Verbesserungen notwendig. Wir müssen das rechtli- ein sehr wichtiger Schritt. Allerdings wurde auch deut- che Instrumentarium schärfen. Ich nenne nur Sonderzu- lich: Die Notwendigkeit, vor dem Zivilgericht selbst die ständigkeiten und beschleunigte Verfahren bei den Beweise sammeln und anführen zu müssen, bedeutet für Staatsanwaltschaften. Das wären zwei Instrumente, um die Opfer eine sehr große Belastung, die ihnen in ihrer wirkungsvoller arbeiten zu können. schwierigen Situation häufig nicht zuzumuten ist. Meist rät ja auch die Polizei von einer Anzeige ab. Schaue ich Ich würde mich freuen, wenn es uns gelänge, den Op- mir die Darmstädter Studie an, so sehe ich: 70 Prozent fern von Stalking bald einen besseren strafrechtlichen der Opfer fühlen sich von der Polizei nicht ernst genom- Schutz zu geben. Wir werden demnächst einen Gesetz- men. entwurf vorlegen. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Recht herzlichen Dank. Kastner) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es wäre sinnvoll, die typischen Verhaltensmuster des und bei der SPD) Stalkings endlich auch als strafrechtlich relevantes Un- (B) (D) recht festzuhalten; denn ohne geeignete gesetzliche Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Grundlagen, Herr Justizminister, sind den Ermittlungs- Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/ behörden oft die Hände gebunden. Für sich allein ge- CSU-Fraktion. nommen liegen die Handlungen der Stalker oft unterhalb der Strafbarkeitsschwelle. Erst ihre Langfristigkeit, ihre Wiederholung und ihr Kontext machen die Bedrohlich- Ute Granold (CDU/CSU): keit für das Opfer aus. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Ein Gesetz mit Wirkung, Frau Kollegin Schewe- Über die Notwendigkeit eines Straftatbestands – so Gerigk, wurde vom Bundesrat vorgeschlagen. Der Bun- habe ich heute vernommen – sind wir uns einig. Nicht desrat hat umfassend getagt; es gab eine Arbeitsgruppe, einig sind wir uns über die Ausgestaltung. Wir können an der sich die Bundesländer – auch SPD-regierte Bun- dem vorliegenden Gesetzentwurf aus dem Bundesrat desländer – beteiligt haben, und es gab ein Ergebnis und nicht zustimmen. Der Tatbestand enthält vier unbe- einen breiten Konsens. Das Ergebnis wird heute disku- stimmte Rechtsbegriffe, deren Verhältnis zueinander tiert. Ich denke, es ist eine gute Basis für uns, und wir überhaupt nicht geklärt ist. Damit läuft er Gefahr, der sollten auf diesem Weg fortschreiten. Bestimmtheitsanforderung des Grundgesetzes nicht standzuhalten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn ich höre, dass es einen Referentenentwurf und bei der SPD – Michael Grosse-Brömer gibt, der gut sein soll, bin ich erstaunt. Uns liegt kein Re- [CDU/CSU]: Was wollen Sie denn?) ferentenentwurf vor; wir hätten ihn gerne gesehen. Denn die Thematik wird seit langer Zeit diskutiert. Der hessi- – Das sage ich gleich. sche Justizminister hat seine Anliegen bereits vor mehr Zugleich wurden häufig vorkommende Belästigungs- als einem Jahr eingebracht, und es hat lange Zeit die arten wie das Schalten von Anzeigen oder die Bestellung Möglichkeit bestanden, etwas auf den Weg zu bringen. von Waren und Dienstleistungen für das Opfer nicht auf- Aber leider Gottes ist das nicht geschehen. genommen. Völlig inakzeptabel, weil unangebracht und Ich unterstütze das, was die Kollegin Laurischk ge- unverhältnismäßig, ist für uns eine Deeskalationshaft für sagt hat, nämlich dass wir nicht den Begriff „Stalking“ „gefährliche Täter“ des Stalkings. heranziehen, sondern von „schwerer Belästigung“ spre- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Probleme lassen chen sollen; denn viele Menschen wissen gar nicht, was sich auch nicht allein durch einen neuen Straftatbestand Stalking ist. Wenn man es den Menschen erklärt, dann Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16785

Ute Granold (A) erkennen manche: Ja, das ist mir auch schon widerfah- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Voll- (C) ren. Dagegen muss etwas gemacht werden. – Deshalb streckungsschwierigkeiten!) sollten wir dazu übergehen, in der weiteren Diskussion den Begriff der schweren Belästigung aufzunehmen. – Auch das. – Davor schrecken die Menschen zurück. Statistiken sagen uns – das Mannheimer Institut wurde (Sibylle Laurischk [FDP]: Es freut mich sehr, schon angesprochen –, dass die Opfer im Schnitt zwei dass Sie das so aufgreifen!) Jahre das Leid ertragen, bevor sie den Weg zu einem An- walt oder zum Gericht wagen. Deshalb – wir sind es den Etwa 18 Prozent der Frauen und 6 Prozent der Män- Opfern schuldig – müssen wir endlich einen Straftatbe- ner sind schon einmal von Stalking betroffen gewesen. stand schaffen. 90 Prozent der Täter und Opfer kennen sich. Es sind also Beziehungen, die bestanden haben, wobei die Beziehun- Auch die Interessen der Medien sind berücksichtigt. gen vielfältig sein können: Partnerschaften, Ehen, aber In dem Gesetzesvorschlag heißt es klar und eindeutig: auch Beziehungen zwischen Arbeitskollegen, zu Ge- wer unbefugt die Belästigung vornimmt. – Die Presse- schäftsleuten, Politikern, Anwälten, Ärzten. organe arbeiten im Rahmen des Presserechts, insofern nicht unbefugt. Von daher ist auch die Pressefreiheit ge- Vielfältig ist auch die Problematik, die bestehen kann: wahrt. Der Expartner möchte seinen Partner zurückhaben und versucht, dies letztlich auch mit psychischer Gewalt zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) erreichen. Rache-Stalking kommt bei den Gruppen „Kollegen“, „Anwälte“, „Politiker“ etc. vor. Das Thema Das Argument der Unbestimmtheit können wir Prominente wurde schon angesprochen. Der Fall nicht gelten lassen. Es werden immer wieder irgendwel- Jeanette Biedermann hat damals Aufsehen erregt und che Gründe dafür vorgetragen, dass das, was von der das Thema Stalking bei uns in Deutschland erst öffent- Union oder auch vom Bundesrat vorgelegt wird, lich gemacht. schlecht ist. Überall wird ein Haar in der Suppe gefun- den, weil es eine bestimmte Handschrift trägt. Die Erfah- Die Palette der Möglichkeiten, Menschen massiv zu rung in den Nachbarländern hat gezeigt: Es ist mitnich- belästigen, ist sehr groß. Die Täter sind sehr erfindungs- ten so, dass die Tatbestände unbestimmt sind und die reich in der Frage, wie sie schikanieren können. Gerade Juristen sagen, es müsse eine andere Formulierung ge- deshalb, wegen der Vielschichtigkeit des Täterhandelns, funden werden. ist es erforderlich, den Straftatbestand so weit zu fassen, dass all das, was es an Belästigung der Opfer gibt, um- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ fasst werden kann. Ein Straftatbestand, der in der Praxis DIE GRÜNEN]: Die Kollegin Laurischk hat das Haar in der Suppe auch gefunden!) (B) nicht greift, nutzt nichts. Deshalb ist der ominöse Refe- (D) rentenentwurf, der etwas von „Nähe zum Opfer“ sagt, einfach nicht ausreichend. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU – Irmingard Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen. Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie kennen den Referentenentwurf ja Ute Granold (CDU/CSU): doch!) Ja. In Amerika, auch in anderen Ländern, in Belgien, in Mittlerweile ist in breitem Konsens eine Formulie- Japan, also quer über den Erdball, gibt es das Phänomen rung gefunden worden, die tragfähig ist. Wir bitten Sie Stalking schon lange. Dort gibt es Gesetze, die dem ähn- im Interesse der Opfer herzlich, nicht durch die Partei- lich sind, was hier vorliegt. Diese Gesetze haben gegrif- brille zu sehen, sondern sich um die Opfer zu kümmern fen. Es gibt jahrelange Erfahrungen. Warum sollen wir und dem Gesetzesvorschlag, der uns vom Bundesrat vor- das, was sich bewährt hat, nicht auch in Deutschland gelegt wurde, zuzustimmen. aufgreifen? Herzlichen Dank. Es gibt derzeit keinen wirksamen Schutz über das Strafrecht, weil die möglichen Straftatbestände – Belei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. digung, Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Nöti- Sibylle Laurischk [FDP]) gung – manchmal nicht greifen. Es muss umfangreich ermittelt werden. Wir hatten eine Veranstaltung mit der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bremer Polizei, haben uns informiert und aus der Praxis Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär erfahren, dass dringend ein Straftatbestand, so wie er Alfred Hartenbach. jetzt in dem Entwurf gefasst worden ist, geschaffen wer- den muss. Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Das Gewaltschutzgesetz hilft mitnichten. Die Opfer desministerin der Justiz: werden auf den Zivilrechtsweg gezwungen. Das heißt: Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Antragsschriften verfassen, Beweise erheben, mit dem Kollegen! – Nun ist der Herr Dr. Wagner weg. Täter konfrontiert werden, noch einmal leiden. Es ist sehr schwierig, den Weg zum Anwalt zu gehen, das Ge- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Der Minister richt zu beauftragen. musste gerade weg!) 16786 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) – Okay. Ich teile ihm dann auf dem Hessen-Fest mit, was Der von der Bundesministerin der Justiz im April vor- (C) ich ihm zu sagen habe. gestellte Gesetzesvorschlag, der mittlerweile als Refe- rentenentwurf vorliegt – hier habe ich ihn –, Wir sind uns sicherlich einig darüber, dass wir etwas gegen diese Nachsteller oder Stalker oder Verfolger, wie (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ immer man sie nennen mag, tun müssen. Allerdings ist DIE GRÜNEN]: Frau Granold hatte ihn doch der Gesetzentwurf des Bundesrates nicht der richtige. Es auch! Sie ist darauf eingegangen!) wird mit diesem Gesetzentwurf nicht gelingen, die Opfer sich in den Ressorts zur Abstimmung befindet und dem- zu schützen. nächst auch dem hessischen Minister der Justiz vorlie- Frau Granold, auch wenn Sie sich eben mit großem gen wird, fasst das alles sehr viel deutlicher. Unter der Eifer für den Entwurf eingesetzt haben, ohne allerdings Überschrift „Nachstellungen“ verlangen wir, dass be- Belege zu bringen, gilt: Der Entwurf ist verfassungs- straft werden: die physische Annäherungen an das Op- rechtlich nicht einwandfrei. Er enthält eine Vielzahl we- fer; alle unerwünschten Kontaktaufnahmeversuche über nig bestimmter Rechtsbegriffe und wird wegen dieser Telefon, schriftlich oder über Dritte; das Bestellen von Häufung mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmt- Waren und Dienstleistungen; bestimmte gewichtige Dro- heitsgebot in Konflikt geraten. Der Entwurf wird eben hungen, wenn dadurch die Lebensgestaltung des Opfers schwerwiegend und unzumutbar beeinträchtigt wird. nicht mit dem schwierigen Problem fertig, das Gesamt- Diese Tathandlungen sind dann auch für Polizei und phänomen Stalking normativ angemessen zu erfassen. Staatsanwaltschaft handhabbar und können bestraft wer- Stalking ist nicht eine bestimmte Handlung, sondern den. hat ganz unterschiedliche Erscheinungsformen. Ein Strafrechtliche Maßnahmen allein, liebe Kolleginnen Straftatbestand, der alle möglichen Tathandlungen in ei- und Kollegen, können das Problem nicht lösen. Wir ner abstrakten Formulierung erfassen will, verliert seine brauchen weiterhin das Gewaltschutzgesetz und beglei- Konturen. Darauf haben inzwischen auch die Medien, tende polizeiliche und zivilrechtliche Möglichkeiten. die in ihrer Mehrheit immer gefordert haben, Stalking Hier besteht noch erheblicher Informations- und Nach- zum Straftatbestand zu erheben, hingewiesen, nicht ohne holbedarf. Unser Hauptaugenmerk sollte deshalb darauf eigenes Interesse. Der Bundesrat hat dieses Problem gerichtet sein, dass neben der Verbesserung des straf- auch gesehen und in die Entwurfsbegründung zu dem in rechtlichen Schutzes, den wir mit diesem Gesetzentwurf § 238 Abs. 1 Nr. 3 StGB vorgesehenen Auffangtatbe- – ich halte ihn noch einmal hoch, damit ihn alle sehen – stand hineingeschrieben, dass sich der durch den Stalker gewährleisten, noch weitere Maßnahmen ergriffen wer- vollführte Terror einer abschließenden gesetzlichen Ein- den. Dies ist – damit gebe ich den Ball an den Bundes- grenzung entziehe. Diese Einsicht hat man bei der For- rat zurück – Aufgabe von Polizei und Staatsanwalt- (B) mulierung des Gesetzestextes aber wieder aus den Au- schaft sowie von sozialen Diensten. Hier sind dann die (D) gen verloren. Länder gefragt. Sie möchte ich bitten, dem in dem Rah- men nachzukommen, was sie tun dürfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die prozess- rechtlichen Änderungen finden nicht unsere Billigung. Nun hat mich der Herr Staatsminister Dr. Christean Die Ausweitung des Haftbefehls bei Wiederholungsge- Wagner eben bis aufs Blut gereizt – das muss ich hier fahr billigen wir nicht. Die Vorschrift wird in der Praxis einmal deutlich sagen –, nur Probleme bringen. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des indem er behauptet hat, wir würden nichts tun. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dirk Niebel [FDP]: Das hat er richtig gesagt!) Stalker begehen in der Regel Straftaten, die für sich ge- nommen nicht zur Deliktsgruppe der schweren Strafta- – Damit liegen Sie nicht richtig, Herr Niebel. Sie sollten ten gehören. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr einmal Ihre Zunge ein wenig hüten, sie ist manchmal zu fordert aber zumindest mittelschwere Straftatbestände. schnell. Das hat er nicht richtig gesehen. So steht es auch in der Begründung des Entwurfs des (Dirk Niebel [FDP]: Torschlusspanik!) Bundesrates. Sie sagen mit entwaffnender Deutlichkeit, dass es sich bei einem Stalker zumeist „um eine ansons- Wenn wir Gesetze machen – das schreiben Sie sich ein- ten strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getretene mal hinter die Ohren; Sie sind ja kein Jurist, aber das Person in geordneten sozialen Verhältnissen handelt“. macht nichts –, Aber auch diese Einsicht hat keinen Eingang in das Ge- (Dirk Niebel [FDP]: Das spricht für mich!) setz gefunden. Wenn Stalker dennoch ausnahmsweise einmal massiver reagieren, langt das vorhandene Pro- dann hören wir Vertreter aus Praxis und Wissenschaft an, zessrecht aus, Herr Dr. Wagner, um eine Inhaftierung dann sprechen wir mit den Verantwortlichen in anderen vorzunehmen. Ministerien und mit den Verfassungsexperten bei uns. Erst dann trauen wir uns nach draußen; erst dann ist ein Der Bundesratsentwurf taugt vielleicht als politischer solcher Gesetzentwurf auch diskutabel. Was wir in der Leistungsnachweis für Landespolitiker gemäß dem letzten Zeit aus dem Bundesrat auf den Tisch bekommen Motto: Seht einmal her, Leute, wir haben etwas getan! – haben, war – mit Ausnahme des Betreuungsrechts, das Mit den Problemen und Defiziten hätten sich dann aller- wir auch noch verbessert haben – so schlimm, dass man dings Polizei und Staatsanwaltschaft auseinander zu set- die Zähne des Reißwolfs beleidigt hätte, hätte man dem zen, den Opfern würde es nichts helfen. Reißwolf diese Gesetze anvertraut. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16787

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre und der FDP – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. So ein Temperamentsausbruch! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Es ist ja gut, dass Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- die CDU/CSU die Vorschläge macht!) gin Doris Barnett, SPD-Fraktion. – Mein lieber Herr Grosse-Brömer, mit Ihnen arbeite ich Doris Barnett (SPD): ja besonders gern zusammen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nun fordere ich Sie auf: Egal wie das Leben spielt, ob Die SPD hält Kurs, selbst in schwierigsten Zeiten. Heute wir uns nach dem 18. September wieder sehen oder nicht verwirklichen wir weitere Teile dessen, was der Bundes- und in welcher Form wir uns wieder sehen kanzler in seiner Regierungserklärung am 17. März vor- (Lachen bei der CDU/CSU und der FDP) geschlagen hat. Unsere Arbeitsmarktgesetze bedeuten eine Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik und dieser – na ja, wenn ich mal so schaue, könnte der eine oder an- haben Sie von der Opposition zum großen Teil zuge- dere auf der rechten Seite fehlen –, wir sollten dann ge- stimmt. Es ist richtig: Wegen der schwierigen gesamt- meinsam darangehen, Frau Laurischk, Frau Granold, wirtschaftlichen Lage in Deutschland und Europa haben Herr Dr. Wagner, lieber Hermann Bachmaier, liebe Frau die Maßnahmen noch nicht so gegriffen, wie wir uns das Schewe-Gerigk, und ein vernünftiges Gesetz machen. vorstellen. Deshalb – das zeichnet uns ja auch aus – pas- Das, was ich hier in der Hand halte, sollten wir mit gro- sen wir die arbeitsmarktpolitischen Instrumente an und ßer Mehrheit verabschieden. Dann sind wir gute Men- verlängern ihre Laufzeit, damit sie jetzt, wo sie zu grei- schen. fen beginnen, ihre Wirkung entfalten können. Vielen Dank. Die Förderung der beruflichen Weiterbildung älte- (Beifall bei der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ rer und von Arbeitslosigkeit bedrohter Arbeitnehmer CSU]: Eine Abschiedsrede, Alfred!) dürfen wir gerade jetzt nicht schleifen lassen. (Beifall des Abg. Klaus Brandner [SPD]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es ist doch ein Irrsinn, dass bei uns nicht einmal Ich schließe die Aussprache. 40 Prozent der über 55-Jährigen noch in Arbeit sind. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Was für eine Vergeudung von Wissen, Erfahrung, Fähig- wurfs auf Drucksache 15/5410 an die in der Tagesord- keiten und Kreativität! Unsere Volkswirtschaft kann sich (B) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es das überhaupt nicht erlauben, wo sie doch bereits seit ge- (D) dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. raumer Zeit über Fachkräftemangel jammert. Deshalb Dann ist die Überweisung so beschlossen. verlängern wir den Förderungszeitraum und konzentrie- ren auch unsere Vermittlungstätigkeiten verstärkt auf Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: diesen Personenkreis. Dafür werden wir mehr als a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 250 Millionen Euro mobilisieren und das ist gut für die gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Menschen. Änderung des Dritten Buches Sozialgesetz- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten buch und anderer Gesetze des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Drucksachen 15/5556, 15/5602 – Aber wenn das alles im Einzelfall nicht greifen sollte, Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) werden die Betroffenen von uns nicht alleine gelassen, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend weshalb die Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung entsprechend angepasst wird. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wichtig – auch das hat der Kanzler am 17. März ohne Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Umschweife zum Ausdruck gebracht – ist uns, befris- b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dirk tete Beschäftigung zu erleichtern, ohne gleich wieder Niebel, Rainer Brüderle, Birgit Homburger, wei- dem Missbrauch Tür und Tor zu öffnen. Die befristete teren Abgeordneten und der Fraktion der FDP Beschäftigung soll nicht mehr dem absoluten Verbot der eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbeschäftigung unterliegen, sondern dieses Verbot ist Lockerung des Verbots wiederholter Befris- auf zwei Jahre zu begrenzen. Damit werden die früher tungen üblichen Kettenarbeitsverträge nicht mehr möglich sein. Der FDP-Antrag allerdings geht genau wieder in diese – Drucksache 15/5270 – Richtung. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (f) (Dirk Niebel [FDP]: Das stimmt doch gar Innenausschuss nicht!) Rechtsausschuss Finanzausschuss – Doch. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (Dirk Niebel [FDP]: Nein!) 16788 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Doris Barnett (A) Die Ich-AG bzw. Existenzgründung hat sich für viele Dies ist ein weiterer Nagel für den Sarg, den Sie im (C) Arbeitslose zu einer interessanten Alternative entwi- Moment für die Gewerkschaften zimmern. Diesen Sarg ckelt. Allerdings hat sich gezeigt, dass die Selbstständig- basteln Sie systematisch zusammen: dort ein bisschen keit nicht immer mit den nötigen Kenntnissen angestrebt untertariflicher Lohn per Gesetz, hier ein bisschen Bünd- wurde. Nun wollen wir alle, dass sich die Selbstständi- nis für Arbeit ohne Gewerkschaften. Ihr Anliegen ist genquote verbessert. Genauso wichtig ist aber auch, dass nicht „Vorfahrt für Arbeit“, Ihr Anliegen lautet: Arbeiten die Verselbstständigung dauerhaft ist. Deshalb wird es ohne Rechte. die Förderung zukünftig nur geben, wenn das Konzept für die Existenzgründung stimmt. Hier sind jetzt die (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: So Kammern gefordert, ihre zukünftigen Mitglieder so zu ein Quatsch!) beraten und zu betreuen, dass aus dem Plan auch eine Existenz werden kann. Deshalb soll auch der Kündigungsschutz rasiert wer- den. Sie umschreiben das mit Lockern. Dabei konnte Ihr Mit den von uns gemachten Vorschlägen zur besseren letzter Kanzler schon beweisen, dass weniger Kündi- Feinjustierung der Instrumente für den Arbeitsmarkt hel- gungsschutz nicht mehr Arbeitsplätze bringt. fen wir den Menschen; wir fördern sie. Aber was ist Ihre Alternative, welche Antwort gibt die Opposition den (Dirk Niebel [FDP]: Warum hat dann Ihr Menschen? Außer dem Hoffen auf Arbeitsplätze haben Kanzler wortgleich dasselbe Gesetz wieder Sie für die arbeitende Bevölkerung nur „Knüppel im eingeführt? Auf Punkt und Komma!) Sack“. Was haben Sie speziell für junge Menschen übrig? Mit der Senkung des Beitragssatzes zur Arbeits- Dort gehen Sie an den Arbeitsschutz. Arbeitsschutz losenversicherung sollen Arbeitsplätze preiswerter ge- scheint für Sie ja ohnehin etwas aus der bürokratischen macht werden. Das hat Stoiber gestern fest versprochen. Mottenkiste des Sozialstaates zu sein. Deshalb wollen Er sagte: Sie auch keine Pflicht zur Bestellung von Fachkräften Im Gegenzug müssten bestimmte Fördermaßnah- für Arbeitssicherheit oder Betriebsärzten. Dabei ist Prä- men vention – darunter verstehe ich sichere und gesunde Ar- beitsplätze – doch die Voraussetzung für eine günstige – ich sage: alle – Personalkostenentwicklung, denn gesunde Mitarbeiter der BA reduziert werden. brauchen kein Krankengeld; sie sind produktiv. Da wären wir auch wieder beim Lieblingsthema von Ihr Instrumentenkasten besteht hauptsächlich aus Ra- (B) Herrn Niebel: Aufgabenreduktion der BA und damit sierklingen. Um dies etwas zu kaschieren, überlegen Sie (D) auch die Chance, die BA endlich zu zerschlagen. jetzt laut, die Bezugszeiten für das Arbeitslosengeld zu verlängern. Menschen mit 40-jähriger Beschäftigung (Dirk Niebel [FDP]: Aufzulösen!) wollen Sie 24 Monate lang das Arbeitslosengeld I zah- Das scheint jetzt auch die Überzeugung der CDU/CSU len. Dazu kann ich – sicherlich stellvertretend für viele zu sein, wenn das CDU-Mitglied Weise in der „Financial Frauen meiner Generation – nur Danke sagen, aber: Times Deutschland“ verkündet, für eine Privatisierung nein, danke! Frauen mit ihren oft unterbrochenen Er- der Aufgaben seiner Behörde offen zu sein. werbsbiografien hätten davon nämlich nichts, außer dass selbst in der Arbeitslosigkeit alte Rollenbilder wieder (Dirk Niebel [FDP]: Den hat doch Ihre Regie- aufleben. Schöne Aussichten, kann ich da nur sagen. Da- rung berufen, oder?) bei habe ich nur einen ganz kleinen Teil Ihres Instrumen- Wenn aber den Arbeitslosen Mittel in Höhe von tariums ausgepackt. 11,2 Milliarden Euro für eine aktive Arbeitsmarktpoli- tik, in diesem Falle für Weiterbildung und Eingliede- (Dirk Niebel [FDP]: Der Kollege Wend leidet rungsmaßnahmen, genommen werden, heißt dies, dass schon richtig!) damit auch die Mittel für Benachteiligte gestrichen wer- Ich halte fest: Im Jahr 2005 brauchen wir eine Arbeit- den. Offensichtlich haben Sie all diese Menschen schon nehmerschaft, die gleichwertiger Partner in der Arbeits- abgeschrieben. Sind Ihnen diese Menschen nichts mehr welt ist. Die Menschen sind Mitarbeiter und keine Kos- wert? Sind sie es Ihnen nicht wert, in die Lage versetzt tenfaktoren, die man braucht oder nicht braucht und zu werden, eine Arbeit aufzunehmen? Wenn ja, wie soll aussortiert. Deshalb brauchen wir auch im Betrieb den denn diese Arbeit aussehen? Qualifiziert? aufrechten Gang, also Tarifverträge, sowie ein demokra- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sind wir hier tisches Mitwirken, also Betriebsverfassung. Diejenigen, im Wahlkampf?) die noch nicht im Betrieb, sondern noch auf Arbeitsuche sind, müssen die notwendigen Chancen und Möglichkei- Nein, Sie brauchen die Nichtqualifizierten, um den Un- ten bekommen, sich für den Arbeitsmarkt fit zu machen ternehmen die Möglichkeit zu geben, einen Niedrigst- und dort auch zu bestehen. lohnbereich aufzubauen und die Menschen mindestens im ersten Jahr ihrer Beschäftigung unter Tarif zu entloh- Danke. nen. Dabei begnügen Sie sich nicht mit den Tarifverträ- gen, die das regeln, nein, Sie wollen das per Gesetz fest- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schreiben. DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16789

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Reinhard Göhner, Man muss daraus Konsequenzen ziehen. Kein einziger CDU/CSU-Fraktion. Arbeitsplatz ist dadurch entstanden. Ich denke, das ist unstreitig; etwas anderes wird niemand ernsthaft be- Dr. Reinhard Göhner (CDU/CSU): haupten. Im Gegenteil: Weil die Frühverrentungspolitik Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! teuer war, hat sie zahlreiche Arbeitsplätze gekostet. Sie Die Bundesregierung will mit diesem Gesetzentwurf verlängern die Gültigkeit von falschen Anreizen auf dem eine ganze Reihe von arbeitsmarktpolitischen Instru- Arbeitsmarkt und konterkarieren Ihre eigenen Bemühun- menten verlängern, darunter sinnvolle, darunter auch ei- gen, die Beschäftigungsbedingungen für ältere Arbeit- nige bis zu 20 Jahre alte; deren Erfinder heißen Blüm, nehmer zu verbessern. Riester, Hartz und Clement. Aus diesem Grunde sollten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir trotz des nahenden Wahlkampfes, Frau Barnett, ganz nüchtern und jenseits parteipolitischer Grenzen die Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen Sie im Frage aufwerfen: Wollen wir sie wirklich verlängern, Arbeitsrecht den Abschluss befristeter Arbeitsverträge wollen wir wirklich ein „Weiter so!“ in der Arbeits- vor allem für Ältere erleichtern. Diese Absicht ist ver- marktpolitik? nünftig. Sie wollen damit das Kündigungsschutzgesetz bei Neueinstellungen ausschalten. Das ist Ihre erklärte Wir haben in den letzten zwei Jahren gemeinsam – je- Absicht. Übrigens, Frau Barnett: Hören Sie endlich da- denfalls die Regierungsfraktionen und die CDU/CSU – mit auf, uns in Sachen Kündigungsschutz zu diffamie- einige grundlegende Veränderungen auf den Weg ge- ren! Keine Regierung hat jemals den Kündigungsschutz bracht, zum Beispiel Hartz IV. so stark eingeschränkt wie die jetzige. (Zuruf des Abg. Dirk Niebel [FDP]) (Doris Barnett [SPD]: Na, na, na! Das ist doch – Ja, einige auch im großen Konsens in diesem Hause. gar nicht wahr!) Nach den ersten Erfahrungen mit diesen neuen, Deshalb lassen Sie uns jenseits aller Partei- und Frak- grundlegenden Änderungen kann es doch trotz allem tionsgrenzen einmal überprüfen, wie wirkungsvoll eine keinen Zweifel geben: Die Arbeitsmarktpolitik der jetzi- solche Maßnahme ist. Die Absicht, die Sie haben, folgt gen wie der früheren Regierungen ist gescheitert – stei- der richtigen Erkenntnis, dass der Kündigungsschutz für gende Rekordarbeitslosenzahlen und dramatisch weni- diejenigen, die Arbeit suchen, vor allem für ältere Ar- ger Beschäftigte! beitslose, kein Schutz, sondern ein Hindernis ist. (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Peter Dreßen [SPD]: Das stimmt ja auch (D) nicht!) Der jüngste Beleg hierfür ist: Vorgestern wurde in Nürn- berg ein Minus von 300 000 Arbeitsplätzen in den letz- Gut gemeint, aber schlecht gemacht! Denn Sie gestalten ten zwölf Monaten in Deutschland verkündet. Das zeigt: diese Regelung so, dass sie für die älteren Arbeitslosen Die Arbeitsmarktpolitik hat keine positiven Wirkungen erneut wirkungslos ist. Sie behaupten andauernd – Herr entfalten können. Clement macht das; der Bundeskanzler hat es neulich getan –, das geltende Recht ermögliche die Einstellung Dass Rot-Grün jetzt ausgerechnet eine alte Frühver- von Arbeitnehmern über 50, ohne dass der Kündigungs- rentungsmaßnahme aus dem Jahre 1986 verlängern will, schutz gelte, weil unbegrenzt befristet werden könne. erstaunt uns besonders. Nach der 58er-Regelung, die ur- Diese Behauptung ist schlicht und einfach falsch. Nach sprünglich schon Ende 2000 auslaufen sollte und von Ih- geltendem Recht geht das noch 18 Monate, nach dem nen bis Ende 2005 verlängert wurde, sollen Arbeitslose, Gesetzentwurf noch 30 Monate. die älter als 58 sind, Arbeitslosengeld auch dann bekom- men, wenn sie nicht mehr arbeiten wollen und sich ver- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- pflichten, zum frühestmöglichen Zeitpunkt Altersrente NEN]: Gilt es oder gilt es nicht?) in Anspruch zu nehmen. Okay, das wären sechs Monate mehr als nach dem Recht, das für alle Arbeitnehmer gelten würde. (Peter Dreßen [SPD]: Das haben wir von Blüm übernommen! – Gegenruf des Abg. Dirk Wenn heute ein älterer Arbeitsloser nach diesem Be- Niebel [FDP]: Das wird deswegen nicht bes- fristungsrecht eingestellt wird, endet die gewollte Aus- ser!) schaltung des Kündigungsschutzes faktisch Ende 2006, nach dem Gesetzentwurf Ende 2007. Damit schaffen Sie – In der Tat, das haben Sie von Blüm aus dem Jahre nur Rechtsunsicherheit, aber keine Verbesserung in der 1986 übernommen. – Das Wichtigste an dieser Maß- Beschäftigungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer. nahme ist, dass diejenigen Arbeitslosen, die 58 Jahre oder älter sind, nicht mehr in der Statistik aufgeführt (Peter Dreßen [SPD]: Sie müssen das Gesetz werden. Das ist eine Erfindung, die in der Tat nicht von mal lesen!) Ihnen stammt. Aber das war und ist ein Anreiz zur Früh- verrentung und zusätzlich Kosmetik in der Statistik. Die bisherige Befristung bis 2006 hat sich als wirkungs- los herausgestellt. Die künftige Regelung wird wegen ih- Diese Frühverrentungspolitik hat sich längst als rer Begrenzung auf 2007 ihre Wirkung genauso verfeh- gravierender Fehler herausgestellt. len wie die jetzige. Wenn Sie wirklich wollen, dass bei 16790 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Dr. Reinhard Göhner (A) Neueinstellungen älterer Arbeitnehmer Befristungen un- Regelung zu Recht helfen wollten. Folgen Sie deshalb (C) begrenzt möglich sind – Sie tragen hier ja vor, dass Sie diesem Vorschlag aus dem Bundesrat! das wollen –, dann dürfen Sie diese Regelung nicht er- neut auf 30 Monate begrenzen. Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetzentwurf kuriert die Regierung wieder halbherzig an Symptomen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schafft Ausnahmen von den Ausnahmen, befristet und Grundsätzlich vernünftig erscheint dagegen die vor- verlängert, kompliziert und bürokratisiert in der Arbeits- gesehene Lockerung des Verbotes der wiederholten be- marktpolitik. Was wir in Deutschland wirklich brauchen, fristeten Beschäftigung. Die Formulierung „Verbot der ist eine grundlegend neue Arbeitsmarktverfassung und wiederholten befristeten Beschäftigung“ in dem vorlie- nicht das x-te Reparaturgesetz. genden Gesetzentwurf sollte man sich auf der Zunge zer- (Peter Dreßen [SPD]: Weg mit den Arbeitneh- gehen lassen. Es wird höchste Zeit, dass Sie diesen gro- merrechten!) ben Unfug, den Sie vor fünf Jahren eingeführt haben, endlich abschaffen. Eine neue, moderne Arbeitsmarktverfassung muss zwei Säulen haben, erstens ein neues Arbeitsvertragsge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) setzbuch, in dem die zurzeit reichlich unverständlichen, Dass Sie einem Arbeitslosen, der vielleicht einmal vor nur noch von einer kleinen Zahl von Experten überhaupt zig Jahren anlässlich eines Ferienjobs oder eines Prakti- überschaubaren 60 arbeitsrechtlichen Gesetze zusam- kums in einem Betrieb gearbeitet hat, zehn oder 20 Jahre mengefasst, vereinheitlicht – wir haben 160 verschie- später verbieten wollen, in dem gleichen Betrieb eine be- dene Schwellenwerte nur im deutschen Arbeitsrecht; das fristete Beschäftigung anzunehmen, war immer gröbster hat Professor Junker gerade zusammengestellt –, ent- unsozialer Unfug zulasten der Arbeitslosen. bürokratisiert und verständlich gemacht werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Peter Dreßen [SPD]: Das ist ein Abbau von Arbeitnehmerrechten, Herr Göhner!) Jetzt sagen Sie: Nach zwei Jahren darf er nun einen solchen Job wieder annehmen. Das ist ein erster Schritt Zweitens brauchen wir eine grundlegende Neuord- der Korrektur, aber wieder halbherzig. Stellen Sie sich nung der Arbeitslosenversicherung. Die Bundesagentur doch einmal vor, ein arbeitsloser Jugendlicher bekommt muss sich wirklich auf die Kernaufgaben einer Arbeits- einen Praktikantenplatz im Rahmen des Ausbildungs- losenversicherung konzentrieren können. Das haben wir paktes, einen der 30 000 zur Verfügung gestellten Plätze. als Gesetzgeber bisher systematisch verhindert. Die Ein halbes Jahr nach Ende des Praktikums ist in dem Kernaufgaben sind die Vermittlung, die Versicherung Unternehmen ein Job frei, vielleicht ein Hilfsjob. Der Ju- (B) – also die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld – und (D) gendliche ist wieder arbeitslos. Der Unternehmer sagt: eine streng an der Vermittlung in den ersten Arbeits- Okay, du kannst befristet bei mir anfangen. markt orientierte Arbeitsförderung. Nach Ihrem Gesetz geht das nach wie vor nicht. Heute ist die BA für alles Mögliche zuständig und (Doris Barnett [SPD]: Ein Praktikumsplatz ist deshalb immer weniger kompetent und effektiv. Die BA doch kein Arbeitsplatz! Das ist eine Maß- ist zuständig für Schule – Nachholen des Hauptschulab- nahme!) schlusses –, Suchtberatung, Familienkasse und sozialpä- dagogische Betreuung. Jetzt haben wir ihr auch noch die Der Arbeitgeber muss sagen: Schade, ich hätte dich Zuständigkeit für viele Sozialhilfeempfänger gegeben. gerne eingestellt. In zwei Jahren ginge es wieder. Aber Da kann die BA sich nicht auf die eigentlichen Aufgaben jetzt darf ich dich nicht befristet einstellen. konzentrieren. Sie ist größer als je zuvor. Wenn wir die (Doris Barnett [SPD]: Das ist doch Unsinn!) Mitarbeiter aus den kommunalen Arbeitsgemeinschaf- ten, die ja nach den Anweisungen und Bedingungen aus Auch wir wollen keine Kettenbefristung. Der Bundes- Nürnberg arbeiten müssen, dazuzählen, haben wir heute rat schlägt vor, spätestens vier Monate nach einer Vorbe- rund 106 000 Mitarbeiter. Trotzdem ist es nicht möglich, schäftigung ein neues befristetes Arbeitsverhältnis zu er- sich auf die Kernaufgaben zu konzentrieren. möglichen. Die FDP schlägt vor, das nach drei Monaten zu tun. Ich halte das für vernünftig. (Klaus Brandner [SPD]: Unsinn! – Doris Barnett [SPD]: Lassen Sie die doch erst mal (Beifall bei der FDP – Doris Barnett [SPD]: arbeiten!) Nein!) Es bleibt ein folgenreicher, schwerer Fehler der Bun- Der Bundesrat schlägt im Übrigen vor, die Befris- desregierung, mit Hartz IV die Betreuung der Sozialhil- tungsmöglichkeiten von 24 auf 48 Monate auszudeh- feempfänger auf die Bundesagentur übertragen und auch nen. Das sollte doch auch für Rot-Grün akzeptabel sein. noch eine neue Bürokratieebene geschaffen zu haben, Denn für Existenzgründer haben Sie das selber – übri- nämlich diese Mischebene der Arbeitsgemeinschaften gens aus guten Gründen – geschaffen und ins Gesetz ge- zwischen Kommunen und Bundesagentur. schrieben. Warum nur für den Existenzgründer? Warum nicht für den Mittelständler, der zehn oder 20 Beschäf- (Dirk Niebel [FDP]: Wir haben das Optionsge- tigte hat und vor der Frage steht: Soll ich das riskieren? setz als Einzige abgelehnt! – Klaus Brandner Heute wird er vom Kündigungsrecht genauso abge- [SPD]: Göhner schießt gegen seine eigene Par- schreckt wie der Existenzgründer, dem Sie mit der neuen tei!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16791

Dr. Reinhard Göhner (A) Das wird nie funktionieren. Herr Weise erklärt zu Recht: Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Das ist ein Konstruktionsfehler. Das müssen wir korri- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr gieren. Kollege Göhner, wenn ich den Rednern der CDU/CSU zuhöre, dann schleicht sich bei mir der Eindruck ein, (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Brandner dass Sie sich langsam einmal entscheiden müssen, was [SPD]: Sie haben das doch so beschlossen, Sie eigentlich wollen. Ich habe erlebt, wie Sie durch das Herr Göhner!) Land gezogen sind und die Betreuung der Arbeitslosen aus einer Hand gefordert haben. Heute sagen Sie wieder Wir sind gegen die Zerschlagung der Bundesagentur etwas anderes. für Arbeit. Es macht aus meiner Sicht auch keinen Sinn, aus einer Behörde drei Behörden zu machen. (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Nein! Im Gegenteil!) (Dirk Niebel [FDP]: Dann haben Sie es ja wie- der nicht verstanden, Herr Göhner!) Oder Sie sagen – zu Recht –: Wir wollen die Möglich- keiten der Befristung der Arbeitsverhältnisse älterer Ar- Aber Konzentration auf die eigentlichen Kernaufgaben beitnehmer und Arbeitnehmerinnen verlängern; das und Entschlackung von all diesen zusätzlichen Aufga- schlagen wir heute vor. Entscheiden Sie sich doch, nicht ben, die wir der Bundesagentur übertragen haben, das immer dagegen, sondern auch einmal dafür zu stimmen. scheint mir unverzichtbar zu sein, auch um die Beiträge Man weiß nie, was Sie wollen. Das ist, als wolle man ei- zur Arbeitslosenversicherung senken zu können. nen Pudding an die Wand nageln. (Dirk Niebel [FDP]: Ich habe Herrn Hundt den (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Nein! Sie ma- Antrag doch geschickt! Da müssten Sie es chen das mit der Befristung einfach falsch!) doch besser wissen!) Es ist so – das ist richtig –, dass in Deutschland die Die Bundesregierung sagt: 1 Prozentpunkt weniger Arbeitslosigkeit von Älteren, Frauen und gering Lohnzusatzkosten sind 100 000 Beschäftigte. Einige Qualifizierten hoch und die Erwerbsquote von Frauen wissenschaftliche Institute schätzen den Effekt höher und Älteren im europäischen Vergleich extrem niedrig ein. Lassen wir einmal die Zahlen weg! Einig sind sich ist. Ich denke – darüber müssen wir diskutieren –, dass doch alle bis hin zu den Gewerkschaften, dass mit einer wir uns, wenn wir Arbeitsplätze für gering Qualifizierte, Senkung der Lohnzusatzkosten mehr Beschäftigung er- Ältere und Frauen schaffen wollen, von einem wirklich reicht werden kann. Deshalb muss eine Arbeitsmarkt- fatalen, über Jahrzehnte gepflegten Irrglauben verab- reform in der Tat das Ziel haben, die Beitragsbelastung schieden müssen. Ich meine den Irrglauben, dass man (B) zu senken. Deshalb bleibt es richtig, auf eine Absenkung durch Arbeitskräfteverknappung mehr Arbeit schaffen (D) des Arbeitslosenversicherungsbeitrages hinzuwirken. könne: durch das Aussteuern von Älteren, zum Beispiel Der größte Konstruktionsfehler, der bei Hartz IV ge- im Rahmen der Frühverrentung, und durch das Konzept macht worden ist, ist in meinen Augen der Aussteue- „Frauen zurück an den Herd“, demzufolge Frauen Platz rungsbetrag. Natürlich ist mir klar: In Wahrheit werden für Männer machen müssen. Beitragsgelder in Höhe von 7 Milliarden Euro aus der Das war ein großer historischer Irrtum, den unsere Arbeitslosenversicherung zur Sanierung des Haushalts Nachbarländer längst erkannt haben. Jetzt machen sie herangezogen. Dass der Haushalt damit allerdings nicht uns vor, wie man durch eine Verbesserung der Verein- mehr zu sanieren ist, ist uns allen klar. barkeit von Familie und Beruf, durch verbesserte Kin- derbetreuung und Ähnliches, die Möglichkeiten von Ein Bestandteil einer neuen Arbeitsmarktverfassung Frauen erhöhen und ihre Erwerbsquote erhöhen kann muss deshalb sein, die Kosten der Arbeitsmarktpolitik zu senken. In keinem Land der Welt wird für den Ar- (Dirk Niebel [FDP]: Das steht doch alles in beitsmarkt so viel Geld ausgegeben wie bei uns; das hat unserem Gesetzentwurf!) Herr Clement vor einiger Zeit selbst eingeräumt. Gleich- zeitig müssen wir feststellen, dass die Vergabe dieser und wie man durch eine Kultur der Altersarbeit die Er- Mittel äußert ineffektiv ist. Deshalb verfolgen Sie in Ih- werbsquote von Älteren steigern kann, statt genau das rem Gesetzentwurf, in dem Sie im Wesentlichen nur Ver- Gegenteil zu tun. Diese Erhöhung der Erwerbsquote von längerungen vorschlagen, den falschen Ansatz. Vielmehr Frauen und Älteren führt dazu, dass wir im Dienstleis- brauchen wir eine grundlegend neue Arbeitsmarktver- tungsbereich neue Beschäftigungsmöglichkeiten für ge- fassung. ring Qualifizierte schaffen können. Das ist in Zukunft wichtig und muss von einer Senkung der Lohnnebenkos- Danke schön. ten begleitet werden; das ist völlig klar. Der Weg der Frühverrentung, den Sie angesprochen haben, war (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – grottenfalsch. Angelika Krüger-Leißner [SPD]: Aber dazu haben Sie nichts gesagt!) (Dirk Niebel [FDP]: Warum machen Sie es denn dann wieder?)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Er ist in den 80er-Jahren eingeschlagen worden. Das Wort hat die Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/ (Dirk Niebel [FDP]: Das muss man aber doch Die Grünen. nicht noch verlängern!) 16792 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Dr. Thea Dückert (A) Herr Göhner, ich spreche das an, weil Sie durch das, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) was Sie gemeinsam mit Herrn Pofalla vorschlagen, der Frau Kollegin, würden Sie bitte einmal auf die Uhr Fortsetzung der Frühverrentungspraxis erneut Tür und schauen. Tor öffnen. (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: (Dr. Reinhard Göhner [CDU/CSU]: Im Ja, bitte! – Johannes Singhammer [CDU/ Gegenteil!) CSU]: Die Zeit ist abgelaufen!)

Was Sie in Ihren Konzepten vorschlagen, bedeutet eine Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rolle rückwärts in die Vergangenheit. Sie lehnen alles Ja. – Sie blinkt. Ich komme sofort zum Schluss. ab, was auf die Integration Älterer zielt. Wir schlagen heute zum Beispiel vor, die berufliche Weiterbildung Es geht darum, eine Politik der Integration der Älte- und die Entgeltsicherung für Ältere zu verlängern und ren, der Integration der Frauen, der Integration derjeni- die Sozialversicherungskosten für Ältere zu senken, gen, die außerhalb stehen, umzusetzen. Dazu brauchen wenn sie als Langzeitarbeitslose eingestellt werden. All wir die Verlängerung der Elemente von Job AQTIV, wie das lehnen Sie ab, ebenso wie Existenzgründungshilfen. wir es hier vorschlagen. Ich würde Sie bitten, im Zusam- menhang mit der neuen Ehrlichkeit, die Sie propagieren, Sie selbst schlagen über Herrn Pofalla – das sage ich den Leuten reinen Wein einzuschenken: dass Sie alle unter der Überschrift „Ehrlichkeit“ – eine Mogelpa- Elemente der aktiven Arbeitsmarktpolitik schleifen wol- ckung zur Verlängerung des Arbeitslosengeldbezuges len, dass Sie sie abschaffen wollen. vor. Meine Damen und Herren, das hat mit Ehrlichkeit nichts zu tun, sondern das ist ein sehr vergiftetes Ange- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bot. Das will ich Ihnen aufzeigen. Der Vorschlag richtet Frau Kollegin, jetzt müssen Sie aber wirklich zum sich an die Unwissenden, für die es gut klingt, wenn es Schluss kommen. heißt: Wer länger zahlt, bekommt auch mehr. Das heißt aber auch, dass wir die Risikoversicherung abschaffen Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und durch eine Äquivalenzversicherung ersetzen. Das Danke schön. heißt, dass ein heute 55-Jähriger 25 Jahre abhängig be- schäftigt gearbeitet haben muss – seit dem 30. Lebens- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jahr – um 18 Monate Arbeitslosengeld zu beziehen. und bei der SPD) Nach dem rot-grünen Konzept soll ihm das nach drei Jahren Beschäftigung zustehen. Ein 55-Jähriger, der Ihr Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (B) (D) Höchstangebot bekommen soll – 24 Monate Arbeitslo- Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, FDP-Fraktion. sengeld –, muss vom 15. Lebensjahr an durchgängig ab- hängig beschäftigt gewesen sein, um da überhaupt hin- Dirk Niebel (FDP): zukommen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Ich frage Sie: Welches Bild von Beschäftigung haben Herren! Ihr Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Sie? Welche Frau soll das erreichen? Welcher Mann soll Clement hat vor einiger Zeit sinngemäß gesagt, dass wir das in Zukunft erreichen? Unsere Kinder, die heute eine im OECD-Vergleich die höchsten Ausgaben für aktive Beschäftigung aufnehmen, werden eine Erwerbs- Arbeitsmarktpolitik haben, auf der anderen Seite aber biografie haben, die unterbrochen ist, zum Beispiel mit die geringste Effizienz. Ich kann ihm hier nur zu- durch selbstständige Tätigkeit, durch Wechsel in ganz stimmen. Vor diesem Hintergrund stellt sich schon nicht unterschiedliche Beschäftigungsfelder. Was Sie hier ab- ganz unberechtigt die Frage, die der Kollege Göhner geben, ist doch ein leeres Versprechen! Und es öffnet aufgeworfen hat, warum Sie diese alte aktive Arbeits- Tür und Tor für eine neue Welle der Frühverrentung in marktpolitik, die offenkundig – auch nach Ansicht Ihres den Betrieben. Da haben wir doch den Salat: Wir haben eigenen Ministers – nicht erfolgreich war, fortsetzen Betriebe, die keine Beschäftigten mehr haben, die über wollen, warum Sie sie verlängern wollen. 50 Jahre alt sind. Das darf so nicht weitergehen. (Klaus Brandner [SPD]: Wer hat die denn ein- geführt? Das waren doch Sie, Ihre Bundes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN regierung!) und bei der SPD) Es ist ein Stück Endzeitstimmung in dieser Regie- Meine Damen und Herren, dieses Angebot von Herrn rung, was wir hier heute sehen: Man will – solange man Pofalla ist vergiftet – ich habe es Ihnen gesagt –, und die parlamentarische Mehrheit dafür gerade noch hat – zwar auch für die jungen Leute. Denn nur jemand be- die Geltungsdauer bestimmter, lieb gewonnener Instru- kommt ein Jahr Arbeitslosengeld, wenn er 10 Jahre gear- mentarien verlängern. Das bringt aber im Ergebnis beitet hat. Nach geltendem Recht sind es zwei Jahre. nichts für die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Nach Ihren Vorschlägen wird es in der Zukunft so sein, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dass jemand mit Mitte, Ende 20 – in der Familiengrün- der CDU/CSU) dungsphase – gerade einmal eine ganz schwache Absi- cherung haben wird. Das ist die Konsequenz Ihrer Vor- Wir haben hier einen Entwurf eingebracht, der es er- schläge, meine Damen und Herren. möglichen soll, lieber eine Zeit lang befristet in Arbeit Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16793

Dirk Niebel (A) zu sein, als dauerhaft arbeitslos bleiben zu müssen. Auch Zöpfe des Klassenkampfes von Rot und Grün endlich (C) wir wollen keine Kettenarbeitsverhältnisse. Sehen Sie, abschneiden. ich komme aus Heidelberg, einer großen Universitäts- stadt. Dort ist es gang und gäbe, dass Studierende, aber (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: auch diejenigen, die ihr Studium abgeschlossen haben, Sehr gut!) hier und da im Bereich der Universität befristete Be- Wir erleben heute hier die Endzeitstimmung einer ab- schäftigungsverhältnisse finden. Der Arbeitgeber ist gewirtschafteten Regierung. Das ist schade. Hoffentlich demnach das Land Baden-Württemberg. Sie alle wissen, geht das bald vorbei. dass die öffentlichen Haushalte überall so angespannt sind, dass Dauerbeschäftigungsverhältnisse kaum noch Vielen Dank. angeboten werden. Nach der Regelung, die Sie jetzt vor- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gelegt haben, hat man innerhalb von zwei Jahren keine Chance mehr, beim Land Baden-Württemberg irgendwo noch einmal befristet beschäftigt zu werden. Das muss Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: man sich einfach einmal vor Augen führen. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Angelika Krüger-Leißner, SPD-Fraktion. (Klaus Brandner [SPD]: Das ist dummes Zeug! Das wissen Sie auch!) Angelika Krüger-Leißner (SPD): Es gibt auch andere Landesregierungen – rote; die Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Grünen sind zum Glück nirgendwo mehr dabei –, die aus Kollegen! Wir befinden uns in einer sehr spannenden den gleichen haushälterischen Gründen nur noch befris- Zeit. Gerade beim letzten Redner hier hat sich das schon tete Beschäftigungsverhältnisse anbieten. sehr nach Wahlkampf angehört. (Klaus Brandner [SPD]: Das ist der Versuch (Klaus Brandner [SPD]: Das kann man wohl der Verdummung!) sagen! – Dirk Niebel [FDP]: Sie haben die Frau Barnett nicht gehört!) Sie nehmen mit dieser Regelung den Menschen die Möglichkeit, mit einem anderen Beschäftigungsverhält- In den nächsten Wochen und Monaten wird es für uns nis aus der Arbeitslosigkeit zu kommen. darum gehen, unsere eingeleitete Reformpolitik zur Wahl zu stellen. Für Sie aus der Opposition wird es da- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rum gehen, endlich einmal Alternativen klar zu benen- der CDU/CSU – Klaus Brandner [SPD]: Das nen, sofern Sie dazu in der Lage sind. Heute habe ich (B) zeigt Ihr Sozialstaatsverständnis!) nichts dazu gehört. (D) Mit einem Beschäftigungsverbot beim ehemaligen Ar- (Peter Dreßen [SPD]: Können die doch nicht! – beitgeber für eine Frist von drei Monaten wollen wir Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Kettenbefristungen verhindern, den Menschen aber Sie müssen mal zuhören! Unglaublich!) trotzdem die Chance geben, zumindest eine Zeit lang be- schäftigt zu sein und nicht dauerhaft in der Arbeitslosig- Lassen Sie mich eines klarstellen: Unsere Reformpo- keit verweilen zu müssen. litik ist durch die Agenda 2010 charakterisiert, deren zentraler Bestandteil die Strukturreformen am Arbeits- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Hans- markt sind. Damit bildet sie auch eine gute Grundlage Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]) für Arbeitsplätze. Die so genannte aktive Arbeitsmarktpolitik, die Sie (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Für hier fortschreiben wollen, war nicht erfolgreich, auch 5 Millionen offizielle Arbeitslose!) nicht, als noch Schwarz und Gelb regiert haben. Neben vielem anderen haben wir hierzu im SGB III eine (Klaus Brandner [SPD]: Kartoffelkäferfrak- Reihe von Instrumenten festgelegt, die bis Ende 2005 tion!) oder 2006 befristet sind. Angesichts der weiterhin gro- ßen Probleme am Arbeitsmarkt, die niemand leugnen Deswegen müssen wir uns frei nach Hermann Hesse, der will, wollen wir diese Instrumente teilweise in modifi- gesagt hat, in jedem Neubeginn liege ein Zauber, Gedan- zierter Form bis Ende 2007 fortführen, was einfach Sinn ken darüber machen, wie wir die Massenarbeitslosigkeit macht. bekämpfen können. Wir können die Massenarbeitslosig- keit nur bekämpfen, indem wir innovationsfreundlicher Lassen Sie mich auf zwei wesentliche Punkte einge- werden, indem wir die Bundesagentur für Arbeit so or- hen: ganisieren, dass sie nach ihrer Auflösung den Ausgleich Ein erster Schwerpunkt ist für mich die Förderung am Arbeitsmarkt effizient schafft, älterer Arbeitnehmer. In diesem Zusammenhang (Beifall des Abg. Dr. Hans-Peter Friedrich möchte ich auf die Forderung der Lissabon-Strategie [Hof] [CDU/CSU]) verweisen. Die Europäische Union hat sich das Ziel ge- setzt, die Erwerbsquote der älteren Arbeitnehmer zwi- indem wir die sozialen Sicherungssysteme in den Griff schen 55 Jahren und 64 Jahren bis 2010 auf 50 Prozent bekommen, damit die Kosten des Faktors Arbeit gerin- zu steigern. Das ist ein richtiger Weg. Zu diesem Weg ger werden, und indem wir die lieb gewordenen alten stehen wir. 16794 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Angelika Krüger-Leißner (A) Lassen Sie uns schauen, was wir auf diesem Weg be- Wir werden und wollen unsere Reformen weiterfüh- (C) reits erreicht haben: ren. Die letzten Sitzungswochen vor den Wahlen sind für uns kein Grund zur Pause. Zum einen hat die Bundesregierung die Attraktivität von Vorruhestand und Frühverrentung vermindert. Das (Dirk Niebel [FDP]: Ist das eine Drohung?) war richtig. Erste Anzeichen einer Trendwende sind er- Ich sage ganz klar: Fördermaßnahmen im Bereich Arbeit kennbar. Zwischen 1998 und 2003 ist das durchschnittli- sind weiterhin notwendig und geben auch denjenigen che Renteneintrittsalter von 59,7 Jahre auf 60,7 Jahre um Chancen, die sonst auf dem Arbeitsmarkt nur schwer ein Jahr angestiegen. Das durchschnittliche Rentenalter vermittelbar sind. Die Ankündigung der Union, diese liegt nun knapp unter 63 Jahren. In einem Punkt sind wir Maßnahmen einschränken zu wollen, zeigt mir eines uns doch einig: Wir brauchen die älteren Arbeitnehmer ganz deutlich: Die Opposition wäre bereit, den Staats- mit ihren Erfahrungen und Fähigkeiten. Mehr als haushalt auf Kosten der Arbeitslosen zu sanieren. 1,2 Millionen Menschen über 50 Jahre sind arbeitslos. Hier müssen wir tätig werden. (Klaus Brandner [SPD]: Hört! Hört!) Zum anderen sollen unsere Maßnahmen dazu dienen, Ein möglicher finanzieller Ausgleich einer Einkommen- Beschäftigungshemmnisse für ältere Menschen abzu- steuersenkung würde nach Stoibers Vorschlägen aus- bauen. Dazu zählen für mich drei Punkte: schließlich zulasten der Arbeitnehmer und der Arbeitslo- sen gehen. Das wollen wir nicht – Ihr Herr Seehofer Erstens. Für die älteren Arbeitnehmerinnen und Ar- sieht das genauso wie wir – und setzen mit diesem Ge- beitnehmer selbst wird insbesondere der Zugang zu Fort- setzentwurf ein klares Zeichen dagegen. Wir wollen den und Weiterbildungsangeboten erleichtert. Sozialstaat reformieren und ihn nicht zerschlagen. Auch Zweitens. Die Lohnkostenzuschüsse werden dazu hier hat Deutschland in den kommenden Wochen die beitragen, Beschäftigung zu fördern. Wahl. Drittens. Die befristete Beschäftigung von Arbeitneh- Danke. mern über 52 Jahre haben wir erleichtert. Wir wollen die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gültigkeit dieser Regelung bis 2007 verlängern. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Mit dem vorliegenden Gesetz wird ein wiederholtes Ich schließe die Aussprache. befristetes Beschäftigungsverhältnis ohne sachlichen Grund möglich, wenn zwischen den Arbeitsverhältnis- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (B) sen ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren liegt. Las- den Drucksachen 15/5556, 15/5602 und 15/5270 an die (D) sen Sie mich dennoch eines klarstellen: Ich bin generell in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- keine Freundin dieser befristeten Arbeitsverhältnisse. schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Aber wir müssen hier mit Augenmaß Flexibilisierungen Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. schaffen, die Neueinstellungen schneller ermöglichen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Dass die Opposition das anders sieht, wird aus dem Vor- schlag des Bundesrates deutlich, befristete Arbeitsver- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten hältnisse bis zu vier Jahren im Prinzip auch als Kettenbe- Dr. Peter Paziorek, Cajus Julius Caesar, fristung zuzulassen. Da kann ich nicht mitgehen. Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Besser drin als draußen!) Auswirkung der Zerstörung von tropischen Regenwäldern auf das weltweite Klima Als zweiten Schwerpunkt wollen wir die Möglich- keit der Ich-AG verlängern. In den Jahren 2003 bis – Drucksachen 15/4193, 15/5075 – 2004 haben insgesamt über 268 000 Arbeitslose mit- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die hilfe des Existenzgründungszuschusses eine selbststän- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich dige Tätigkeit aufgenommen. Die Ich-AG-Förderung höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. erreicht – das müssen Sie zugeben – besser als das Über- brückungsgeld Problemgruppen wie Langzeitarbeits- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege lose. Das ist unbestritten. Darüber hinaus ist die Ich-AG Cajus Julius Caesar, CDU/CSU-Fraktion. für Frauen sehr attraktiv, weil diese häufiger als Männer (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/ nur über geringe Lohnersatzansprüche verfügen. CSU]) Trotz mancher Skepsis, die mit der Einführung der Ich-AG einhergingen, können wir feststellen: Wir brau- Cajus Julius Caesar (CDU/CSU): chen diesen Weg aus der Arbeitslosigkeit in die Selbst- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- ständigkeit. Aber wir wollen auf diesem Weg neue Maß- gen! Der Erhalt der tropischen Regenwälder ist für uns stäbe setzen. Die Gründerinnen und Gründer müssen eine zentrale Herausforderung und von großer Bedeu- künftig die Tragfähigkeit des Vorhabens nachweisen und tung: für die Armutsbekämpfung der vor Ort lebenden ihre unternehmerische Eignung und Fähigkeiten darle- indogenen Völker, aber natürlich auch für Klimaschutz gen. und Artenvielfalt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16795

Cajus Julius Caesar (A) Die Situation verschlechtert sich stetig. Das belegen tuation der Partnerländer als auch auf die Holzpreis- (C) ganz eindeutig die Daten, die die Bundesregierung auf struktur in der EU und in Deutschland. die Große Anfrage der Union geliefert hat. Deshalb for- dern wir als Union die Bundesregierung auf, endlich zu Von der rot-grün geführten Bundesregierung vermis- sen wir praktikable Lösungen und den notwendigen handeln, Maßnahmen zu ergreifen, und nicht durch nachhaltigen Einsatz auch auf internationaler Ebene. kleinkariertes Vorgehen im eigenen Land, durch mehr Vielmehr werden die Gelder für praktische Projekte in Steuern, Abgaben, Gesetze, Verordnungen und vielerlei den Ländern vor Ort zurückgefahren und dagegen der mehr, die Dinge zu behindern. Verwaltungshaushalt und die Bürokratie hier ausgewei- (Ulrich Kelber [SPD]: Was haben die Steuern tet. Es muss uns um den Erhalt der Tropen- und Urwäl- mit den Wäldern zu tun?) der im Sinne einer nachhaltigen Bewirtschaftung ge- hen. Statt in Deutschland ein nicht handhabbares Wir sehen, dass immer mehr Wälder verloren gehen. Urwaldschutzgesetz vorzulegen, das dem einzelnen Es sind im Jahr netto rund 12,5 Millionen Hektar; das ist Waldbesitzer das Leben noch weiter erschwert und ihm nicht zu vernachlässigen. Die Wälder haben eine enorme vorschreibt, welches Pflänzchen er auf welchen Qua- Bedeutung für unsere Ökosysteme. Sie verhindern Ero- dratmeter setzen soll, sollten wir dafür sorgen, dass un- sionen. Sie filtern Luft und Wasser und beherbergen eine terbunden wird, dass in manchen Ländern teilweise unermessliche Zahl von Heilpflanzen, Harzen, Ölen und mehr als 80 Prozent des Holzes illegal geschlagen und Früchten. Sie erhöhen die Luftfeuchtigkeit, sie bremsen dieses ausgeführt und bei uns eingeführt wird. den Wind und sie sorgen für Temperaturausgleich – und das weit über den eigenen Raum hinaus. (Ulrich Kelber [SPD]: Man kann auch beides machen!) Die Tropenwälder sind zudem gigantische Kohlen- stoffspeicher. Wenn wir betrachten, dass wir hier über Wir fordern die Bundesregierung auf, im Rahmen der viele Monate Gesetzesvorlagen – beispielsweise zum Bereitstellung beispielsweise von Hermesbürgschaften Emissionshandel – diskutieren und auch verabschieden, dafür zu sorgen, dass nicht durch die zusätzliche Aus- dann wird deutlich, um welche Dimension es geht, wenn stattung mit Maschinen und Geräten Überkapazitäten beispielsweise Torfbrände in Indonesien auf Flächen der Holzindustrie verstärkt werden, was wiederum dazu von zwei mal 4 000 Kilometern brennen und schwelen. führt, dass der Druck auf den wertvollen Wald erhöht wird. Hier tritt allein durch den CO2-Ausstoß eine Klimaver- schlechterung ein, die all das zerstört, was Deutschland Zertifiziertes Holz und damit Holz aus nachhaltiger zehn Jahre nach dem Kioto-Abkommen in der gesamten Forstwirtschaft ist der richtige Weg. Das ist keine Frage. Zeit an Maßnahmen verabschiedet und umgesetzt hat. Es ist nach unserer Ansicht nicht richtig, ein System der (B) Daran sieht man, welch schädliche Auswirkungen diese international anerkannten acht Systeme zu bevorzugen, (D) Torfbrände und die Zerstörung der Wälder haben. etwa das FSC-System. Man soll sich vielmehr insbeson- Urwaldschutz durch nachhaltige Holz- und Forst- dere dafür einsetzen, dass in Ländern wie beispielsweise wirtschaft stärken – das war und ist eine Initiative der Malaysia, wo es das Zertifizierungssystem MTCC gibt, Union, auch belegt durch die Drucksache 15/2747. Wir dieses unterstützt wird. als Union fordern, die Einfuhr illegal geschlagenen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- gehandelten Holzes aus Urwäldern sowie von Produkten wie der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan aus seiner Verarbeitung ohne Genehmigung zu unterbin- [FDP]) den. Das ist eine zentrale Forderung von uns. Anstatt dass dieses Modellprojekt vorangebracht (Beifall der Abg. Undine Kurth [Quedlinburg] wird, müssen wir feststellen, dass bei der Zusammenar- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) beit des Hamburger Senats, der GTZ und der MTCC im Rahmen einer PPP Hürden aufgebaut werden. Das BMZ Neben zu schützenden Kernzonen wollen wir, dass will sich einbringen, blockiert aber letztlich mehr, als auch vor Ort die nachhaltige Forstwirtschaft erlaubt dass es sich einbringt. Wir müssen feststellen, dass es bleibt, somit die Länder die nötigen Einnahmen erhalten stete Versprechungen im Monatsrhythmus gibt, man und der Lebensstandard der Bürger vor Ort gewährleistet aber nicht zum Erfolg kommt. Das hat das MTCC nicht wird. Es kann aber nicht sein, dass beispielsweise illegal verdient. Dieses wäre zum Beispiel auch ein Weg der geschlagene Mahagonistämme vor Ort für 30 Euro in Zertifizierung, um damit zu gewährleisten, dass letztend- Besitz genommen werden, dann für 3 000 Euro auf dem lich nur noch zertifiziertes Holz aus legalem Holzein- Exportmarkt gehandelt werden und nach der Verarbei- schlag in die Europäische Union und in die Bundesrepu- tung 128 000 Euro erzielen, wie das eine Berechung von blik Deutschland eingeführt wird. Experten ergibt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ein Weg in die richtige Richtung ist der europäische Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) Aktionsplan FLEGT. Es soll ein Genehmigungssystem aufgebaut werden, mit dem gewährleistet werden soll, Wir wollen seitens der Union, dass in diesem Zusam- dass nur legal geschlagenes Holz in die EU eingeführt menhang unbürokratische Regelungen getroffen werden. wird. Dazu sollen Partnerschaftsabkommen mit den Deshalb sehen wir beispielsweise in der Selbstver- Holz erzeugenden Ländern und Regionen erfolgen. Dies pflichtung der Holzindustrie eine Möglichkeit. Wir wol- wird auch vor dem wirtschaftlichen Hintergrund sehr po- len nicht, dass in einem so genannten Urwaldschutzge- sitive Auswirkungen haben, sowohl auf die Einnahmesi- setz in Deutschland Flächen von 10 Hektar festgelegt 16796 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Cajus Julius Caesar (A) werden und dass jeder Waldbesitzer für jede einzelne Zweitens. Wir brauchen dringend internationale Lö- (C) dieser kleinen Flächen nachweisen soll, dass sie kein Ur- sungen, um den Urwaldtod zu stoppen. wald ist, obwohl wir genau wissen, dass es in Deutsch- land gar keinen Urwald gibt. Das trägt dem, was auf der Drittens. Deutschland nimmt im Kampf gegen die Tagesordnung steht, nicht Rechnung. Darüber hinaus der Vernichtung der tropischen Regenwälder mit ihren ver- Holzbranche ein überaus kompliziertes Nachweissystem heerenden Auswirkungen auf das weltweite Klima eine aufzubürden ist sicherlich ebenfalls nicht der richtige international führende Rolle ein. Weg. Innerhalb des 20. Jahrhunderts hat sich eine dramati- Wir wollen unbürokratische und praktische Regelun- sche Abnahme der globalen Waldressourcen vollzogen. gen. Deshalb meinen wir – das hat auch die Anhörung Es ist kaum vorstellbar, aber seit 1950 hat sich die Re- zum Urwaldschutzgesetz und zur vorgesehenen Ände- genwaldfläche auf der Erde halbiert. rung des Bundesnaturschutzgesetzes gezeigt –, dass es möglich ist, solche Regelungen zu finden. Wir sind der Die Konsequenzen sind fatal. Bodenerosion führt in Meinung, dass hierbei der Bundesumweltminister gefor- niederschlagsarmen Gebieten zu Wüstenbildung. Le- dert ist. Beschimpfungen bringen uns aber in keiner bensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen wird zer- Weise voran. Wenn etwa der Bundesumweltminister, stört. Bodenverdichtung als Folge von Tropenwaldzer- Herr Trittin, die bei der Anhörung der Verbände anwe- störung ist Ursache für katastrophale Fluten, wie sie in senden Vertreter des Holzhandels als Diebe beschimpft, Bangladesch immer wieder auftreten. dann kann man nicht auf eine vertrauensvolle Zusam- Die Zerstörung von Regenwäldern durch Brandro- menarbeit setzen. Das ist jedenfalls nicht der Weg der dung setzt große Mengen CO2 frei. Die Erhöhung dieser Union und das kann auch nicht der Weg zu einem Mit- und anderer Treibhausgase wird den Treibhauseffekt einander sein. Dieser Weg verhindert, dass in diesem weiter verstärken. Die globale Erwärmung führt zu wichtigen Feld ein Erfolg für die Zukunft erzielt wird. weiterer Wüstenbildung und zu Naturkatastrophen. Brandrodung ist zudem häufig die Ursache für riesige Ihre Aussage „Mit Dieben macht man keine Verträge“ Waldbrände wie etwa 1998 in Indonesien. ist verantwortungslos und bösartig, Herr Trittin. Sie trägt nicht dazu bei, dass wir in diesem Thema vorankommen. Das Ausmaß der Zerstörung und die folgenschweren Es muss vielmehr darum gehen, den illegalen Holzein- Auswirkungen auf unser Ökosystem sind bekannt. schlag in den betroffenen Ländern durch entsprechende Eigentlich müssten jetzt alle sagen: Stopp! Aber das pas- Partnerschaftsabkommen zu verhindern und gleichzei- siert nicht; denn die Armut in den Entwicklungsländern tig in Zusammenarbeit mit der Holzindustrie und der ist so groß, dass sie den Menschen zum nackten Überle- (B) Forstwirtschaft vor Ort Möglichkeiten und Regelungen ben oft überhaupt keine andere Wahl lässt, als ihre Wäl- (D) zu finden, die uns auf dem Weg des Erhalts des Tropen- der abzuholzen. waldes und der Rahmenbedingungen für unsere eigene Forstwirtschaft voranbringen. Die rücksichtslose Zerstörung der globalen grünen Lebensader ist aber für einige ein profitables Geschäft. Das sind wichtige Akzente für unsere Waldbesitzer, Jährlich werden nach Schätzung der OECD über aber auch weltweit für die Menschen in den betroffenen 150 Milliarden Euro im illegalen Holzhandel verdient. Regionen, für den Erhalt unserer Tropenwälder und da- mit für den Erhalt der Artenvielfalt, für ein weltweites Wie sieht es bei uns in Deutschland aus? Auch Vorankommen im Klimaschutz. In diesem Bereich wol- Deutschland wird mit illegal geschlagenem Holz belie- len wir als Union die entsprechenden Akzente setzen fert. Wir kennen die genauen Zahlen nicht. Umweltver- und unsere Ideen weiterhin einbringen. bände gehen aber davon aus, dass die Hälfte der Tropen- holzimporte aus illegalem Einschlag stammt. Der Anteil In diesem Sinne setze ich auf die Zusammenarbeit, illegaler Holzimporte liegt nach diesen Schätzungen in damit wir gemeinsam erfolgreich sind. Nur so kann es Deutschland zwar nur bei einem Prozent unserer Ge- gelingen, diesen wichtigen Bereich voranzubringen. samteinfuhren. Wenn man aber bedenkt, dass dies einem Gegenwert von über 300 Millionen Euro entspricht, ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. das schon ein ganz schön großer Brocken. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]) Wir haben gehandelt und im letzten Jahr im Bundes- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: tag einen Antrag beschlossen, mit dem wir dem Wahn- sinn begegnen. Hierin zeigen wir auf, was schon alles Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm, SPD- läuft und was noch zu tun ist. Was machen wir schon? Fraktion. Ein Beispiel auf EU-Ebene: Die Bundesregierung hat sich für den Ausbau des FLEGT-Prozesses stark ge- Gabriele Hiller-Ohm (SPD): macht. FLEGT ist das Kooperationsprogramm zwischen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die der EU und Holzerzeugerländern mit dem Ziel, Legalität Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der sicherzustellen und nachhaltige Waldbewirtschaftung CDU/CSU zeigt: voranzubringen. Seit Sommer 2004 liegt ein Verord- nungsvorschlag vor, mit dem ein freiwilliges Genehmi- Erstens. Die Zerstörung der tropischen Wälder schrei- gungssystem für Holzimporte in die EU eingeführt wer- tet voran. den soll. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16797

Gabriele Hiller-Ohm (A) Das ist ein großer Erfolg. Es gibt aber leider auch Beispiel folgen, wenn wir diesen Weg fortsetzen. Das (C) Schwachstellen. Die Teilnahme der Tropenholz expor- tun wir. tierenden Länder ist freiwillig, das Einhalten der Verein- barung schwer zu kontrollieren. Dennoch ist die FLEGT- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vereinbarung ein ganz wichtiger erster Schritt hin zu DIE GRÜNEN) weltweit gültigen Richtlinien und Sanktionsmöglichkei- ten. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ein weiteres Beispiel ist die bilaterale Entwick- Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel Happach- lungszusammenarbeit im Waldsektor. Der aktuelle Kasan, FDP-Fraktion. Fortschrittsbericht der Bundesregierung zeigt den hohen Stellenwert der internationalen Waldpolitik im Rahmen Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Im Jahr 2003 förderte das Bundesministerium für wirtschaftliche Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zusammenarbeit und Entwicklung etwa 170 Waldvorha- Tropische Wälder sind faszinierend. Jeder Bildband ben in 50 Ländern. zeigt das. Sie werden als Klimaanlage der Erde bezeich- net. Ihre Zerstörung nimmt Tier- und Pflanzenarten den Mit diesen Maßnahmen schützen wir die Tropenwäl- Lebensraum und schädigt das Klima. Wir alle sind uns in der und bekämpfen die Armut in den Entwicklungslän- diesem Hause immerhin einig, dass die weitere Zerstö- dern. Es muss gelingen, den Schutz der Wälder in rung der Wälder gestoppt werden muss. Deswegen ist es Armutsminderungsstrategien einzubinden und den Men- deprimierend, festzustellen, dass die Bundesregierung in schen Einkommensalternativen anzubieten. Vieles haben ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU- wir angeschoben, aber es bleibt noch eine Menge zu tun. Fraktion zu dem Schluss kommt: Der Trend zur Wald- zerstörung konnte nicht gestoppt werden. Dies müssen In der letzten Woche hat das UN-Waldforum in New wir so feststellen. Daher, glaube ich, war Ihr Fazit, Frau York getagt. Die Ergebnisse sind niederschmetternd: Hiller-Ohm, ein bisschen zu optimistisch. trotz des vorbildlichen Engagements der Bundesregie- rung keinerlei Bewegung, wieder keine Einigung auf in- In den meisten tropischen Ländern werden Wälder ternational verbindliche Standards zum Schutz der Wäl- zerstört, um landwirtschaftliche Nutzflächen zu ge- der. winnen. Dies scheint unaufhaltsam zu sein. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass auch unsere Wälder frü- Meine Damen und Herren, wir dürfen trotzdem nicht her einmal aus diesem Grund abgeholzt wurden. Weitere resignieren. Wir müssen sagen: Jetzt erst recht! Gründe für die voranschreitende Zerstörung sind illega- (B) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ler Holzeinschlag und Feuer, aber auch die Armut der DIE GRÜNEN) Bevölkerungen, die zur Übernutzung führt. Die Debatten in diesem Haus haben gezeigt, dass alle Fraktionen des In unserem Urwaldantrag zeigen wir auf, wo es lang ge- Deutschen Bundestages den Erhalt der verbliebenen Ur- hen muss: Fortsetzung der bilateralen Zusammenarbeit, wälder als wichtige globale Aufgabe ansehen. Nicht nur Schuldenerleichterung für Entwicklungsländer, die sich SPD und Grüne, sondern auch die CDU/CSU-Fraktion zu Umweltschutzmaßnahmen verpflichten, Beibehal- hat einen Antrag vorgelegt, dem wir zugestimmt haben. tung des vorbildlichen finanziellen Einsatzes Deutsch- Wir alle fühlen uns dieser Aufgabe verpflichtet. Deswe- lands im Rahmen von UNO und Weltbank für globale gen ist es bedauerlich, dass ein gemeinsamer Antrag Umweltschutzprogramme, Schaffung eines internationa- nicht zustande kam. Das bedeutet nämlich, dass der Er- len Netzwerkes von Schutzgebieten zu Lande bis zum halt der Regenwälder einen geringeren Stellenwert hat Jahr 2010, Unterstützung weltweit anerkannter Zertifi- als die eigene Profilierung. Das finde ich bei so viel Ge- zierungssysteme wie das FSC-Label sowie Voranbringen meinsamkeit in dieser Frage beschämend. des FLEGT-Prozesses mit dem Ziel, illegal geschlagenes Holz und Holz aus Raubbau vom europäischen Markt Die FDP unterstützt den Erhalt der Primär- und Ur- auszuschließen. Auch auf der nationalen Ebene prüfen wälder. Wir wollen, dass die Waldnutzung in den Ent- wir alle Handlungsmöglichkeiten zur Verbannung illegal wicklungsländern im Wesentlichen der heimischen Be- geschlagenen Holzes. Die Bundesregierung hat ihre Vor- völkerung zugute kommt. Das vielfach geforderte schläge in einem Urwaldschutzgesetz zusammenge- Verbot, Holz illegaler Herkunft zu importieren, kann fasst. Ich hoffe sehr, dass wir es schon bald im Bundes- nach Aussage der Bundesregierung nicht erlassen wer- tag gemeinsam auf den Weg bringen werden. den. Deswegen müssen andere Wege beschritten wer- den. Den vom Umweltminister vorgelegten Entwurf ei- Wir werden im Kampf gegen die Vernichtung der nes Urwaldschutzgesetzes bezeichne ich aber als eine letzten großen Regenwälder nur dann erfolgreich sein, Farce. Er soll gegenüber verschiedenen Verbänden als wenn es gelingt, dem illegalen Holzhandel das Hand- Handlungsnachweis dienen, ohne irgendwelche Reali- werk zu legen und den Menschen in den Entwicklungs- sierungschancen zu haben. Der Kollege Caesar hat zu ländern endlich nachhaltige Überlebensperspektiven Recht darauf hingewiesen, dass 10 Hektar Wald, die in zu geben. Deutschland nimmt im Kampf gegen die Ar- einer halben Stunde zu durchqueren sind, sicherlich mut in den Entwicklungsländern und für den Erhalt der nicht das sind, was wir uns unter einem Urwald vorstel- Tropenwälder eine vorbildliche Rolle auf internationa- len. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist ein Aufbaupro- lem Parkett ein. Die anderen Länder werden unserem gramm für Bürokratie, das wesentlich mehr heimische 16798 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Dr. Christel Happach-Kasan (A) Betriebe in den Konkurs treibt, als es Bäume zu retten Es bedeutet aber auch, dass die staatlichen Institutio- (C) vermag. Das kann es nicht sein. nen auf dem Forstsektor in die Lage versetzt werden müssen, Recht und Gesetz durchzusetzen. Dazu ist ein (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Mindestmaß an Wohlstand erforderlich. Das heißt, wirk- Es gibt immerhin einen erwähnenswerten Lichtblick. liche Fortschritte beim Schutz der Wälder können nur er- Den Tropenholz exportierenden Ländern ist es gelungen, zielt werden, wenn die Armut erfolgreich bekämpft die Wertschöpfungspotenziale im eigenen Land stärker wird, wenn die Menschen Möglichkeiten erhalten, sich auszuschöpfen. Das heißt, die Hilfe zur Selbsthilfe ist selbst zu versorgen. erfolgreich. Das sollten wir würdigen. Daher sind die Ansätze der Bundesregierung, die auf Deutlich ist aber auch, dass die Förderung des FSC- mehr Bürokratie setzen – Kontrollen, Zertifizierungssys- Zertifikats durch die Bundesregierung, die immer mit teme, Datenbanken etc. –, zu sehr aus dem Blickwinkel der Eindämmung des illegalen Holzeinschlags begründet der Wohlstandsgesellschaft formuliert. Sie stärken das wurde, für den Erhalt der Wälder nichts gebracht hat. Ansehen zu Hause, ohne den Menschen vor Ort zu hel- Denn das Fazit bleibt: Der Trend zur Waldzerstörung fen und ohne die Wälder effektiv zu schützen. Diese Po- wurde nicht umgekehrt. Daher halte ich es für folgerich- litik können wir uns schon lange nicht mehr leisten. tig, dass sich die Bundesregierung davon verabschiedet Einen Beitrag zur besseren Bekämpfung der Armut und inzwischen die gegenseitige Anerkennung der könnte die von der Weltbank entwickelte neue Strategie Zertifikate für notwendig hält. Eine solche Anerken- zum Schutz der Wälder leisten. Die Weltbank will das nung ist eine Forderung der FDP und daher unterstützen Potenzial der Wälder zur Verminderung der Armut ein- wir die Bundesregierung in diesem Punkt. setzen, sie will Wälder in eine nachhaltige Entwicklung (Beifall bei der FDP) integrieren und sie will lokal und global bedeutsame Wälder schützen. Diesen Weg sollten wir beschreiten. Wir freuen uns über diese späte Einsicht der Bundes- regierung. Ich will aber hinzufügen: Es ist nicht glaub- Ich danke für die Aufmerksamkeit. würdig, die gegenseitige Anerkennung zu fordern und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gleichzeitig ein Zertifikat zu fördern. Das ist unglaub- der CDU/CSU) würdig. Die FAO, die auch von der Bundesregierung als eine der wichtigsten Organisationen im Waldbereich angesehen wird, hat schon vor Jahren einen Kriterien- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: katalog für Zertifizierungssysteme aufgestellt und die Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Natur- gegenseitige Anerkennung gefordert. Der grüne Ökoko- schutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin. (B) lonialismus ist völlig ungeeignet, die drängenden Pro- (D) bleme zu lösen. Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Von al- len Rednerinnen und Rednern hier ist darauf hingewie- Bemerkenswert ist, dass der Anspruch der Verbrau- sen worden, mit welch atemberaubendem Tempo die cher auf den „Ausschluss illegaler Herkünfte“ beim letzten Urwälder der Erde vernichtet werden. Wenn man Holzkauf thematisiert wird. Das macht doch sehr deut- sich klar macht, dass allein in den Tropen jedes Jahr eine lich, wie sehr sich Rot-Grün bei der Behandlung dieser Fläche etwa von der Größe halb Italiens abgeholzt wird, Thematik an den Wunschbildern der Wohlstandsgesell- dann versteht man, warum die Vernichtung von Wald schaft orientiert. Die FDP fordert dagegen, dass der eine wesentliche Ursache des Klimawandels ist. Circa Waldschutz als eine zentrale Aufgabe einer auf Nachhal- 20 Prozent der anthropogenen CO2-Emissionen sind tigkeit ausgerichteten Politik angesehen wird. Die exis- durch Landnutzungsänderungen entstanden. Dies ist tenziellen Bedürfnisse der Menschen in den betroffenen aber natürlich nur ein Aspekt. Ländern haben einen viel höheren Stellenwert als An- sprüche der Wohlstandsgesellschaft. Ein anderer Aspekt ist der unwiederbringliche Verlust biologischer Vielfalt. An dieser Stelle – man versucht (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gern, Naturschutz und Menschenschutz in Gegensatz zu- der CDU/CSU) einander zu bringen – muss gesagt werden: Damit ver- bunden ist häufig der Verlust der Lebensgrundlage dort In der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große lebender indigener Völker. Das heißt, Waldschutz, ge- Anfrage heißt es: rade der Schutz der tropischen Regenwälder, ist nicht Vorhaben nachhaltiger Waldentwicklung sind für nur eine Frage des Naturschutzes, sondern auch prakti- den Privatsektor nur dann attraktiv, wenn ausrei- zierte Menschenrechtspolitik. chende Rechts- und Investitionssicherheit gegeben Wir wissen, dass dieses Problem nicht allein in Bezug ist, die eine langfristig selbsttragende Finanzierung auf die Tropen besteht. Wir wissen, dass in Indonesien und eine regional- und wirtschaftspolitische Kon- etwa 73 Prozent des Einschlages illegal ist. Aber auch in kurrenzfähigkeit zu anderen Landnutzungsformen Russland gibt es eine illegale Quote von 20 bis erlaubt. 30 Prozent. Wir wissen, dass wir dies alles nur gemein- Das ist richtig. Das hätte auch ein liberaler Minister sam und international bekämpfen können. Dazu zählen schreiben können. die Initiative der Europäischen Union und natürlich auch Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16799

Bundesminister Jürgen Trittin (A) unsere Bemühungen im Rahmen des UN-Waldforums. mit der ortsansässigen Bevölkerung umgegangen wird (C) Es ist eine Schande, dass man sich auf diesem Forum er- und welche Sozialstandards es gibt. Das ist der Grund. neut nicht auf entsprechende Maßnahmen einigen Ich finde, da muss man seine eigenen Regeln und konnte. seine eigene Überzeugung ernst nehmen. Wir wollen Das ist ein schwieriger Prozess, und ich gehöre wirk- nicht ein Siegel für alle, aber wir wollen einen Standard lich zu denen in der Umweltpolitik, die sagen: Es gibt und einen Nachweis entsprechender Initiativen haben. gerade auf diesem Gebiet keine Alternative zu einem Übrigens ist hier alles privatwirtschaftlich organisiert. multilateralen Prozess. Dennoch müssen wir auch die Hier geht es nicht um eine staatliche Bürokratie. FSC ist Möglichkeiten nutzen, die wir heute schon vor Ort mit keine staatliche Veranstaltung. Daher müssten wir ei- unseren Mitteln haben können. Das sind keine Alternati- gentlich zu einem Urwaldschutzgesetz kommen kön- ven zu multilateralen und europäischen Vereinbarungen, nen. und das sind auch keine Alternativen beispielsweise zum Sie haben auf einen Punkt hingewiesen, bei dem wir, FLEGT-Prozess, es ist aber eine sinnvolle und wirkungs- glaube ich, auch ganz schnell zusammenkommen kön- volle Ergänzung. nen. In Deutschland gibt es keine Urwälder mehr, wie Wir können uns nicht damit abfinden, dass ein großer wir sie verstehen. Deswegen ist die Furcht der deut- Teil des Holzes, das zu uns kommt, illegal geschlagen schen Waldwirtschaft unbegründet. Wir versuchen ge- wurde. Ich kann mich auch nicht damit abfinden, dass rade, der deutschen Waldwirtschaft zu vermitteln, dass wir, selbst wenn wir das wissen, faktisch keine Möglich- diese Frage für sie gar kein Problem ist. Ich habe ein keit haben, hier aktiv zu werden. Ich habe bei verschie- bisschen den Eindruck, bei Prinz zu Salm-Salm ist das denen Gelegenheiten das Beispiel gebracht, dass nach inzwischen auch angekommen – jedenfalls bei ihm als einem Hinweis von Greenpeace das Bundesamt für Na- Person. turschutz Holz aus Brasilien vom Zoll hat beschlagnah- Es geht um den Handel mit illegal eingeschlagenem men lassen. Anschließend ist der Holzeinschlag von der Holz aus Urwäldern. Es gibt in Deutschland wenig ille- Regierung in Brasilien kurzerhand für legal erklärt wor- galen Einschlag, wenn ich das so vorsichtig aussagen den, und wir mussten das unzweifelhaft illegal geschla- darf, und praktisch keinen Urwald nennenswerter Größe. gene Holz freigeben. Wenn Sie das an den 10 Hektar festmachen: Wir haben dem Kollegen inzwischen 1 000 Hektar angeboten. Da- Unser Gesetzesvorschlag für ein Urwaldschutzgesetz mit, finde ich, können auch die privaten Waldbesitzer le- zielt auf die Ergänzung dessen, was wir im Rahmen der ben. Konvention über biologische Vielfalt, im Rahmen des UN-Waldforums und im Rahmen der FLEGT-Initiative Lassen Sie uns nun in diesem Sinne gemeinsam da- (B) der Europäischen Union machen wollen. rum bemühen, die Naturzerstörung durch die Vernich- (D) tung der letzten Urwälder und auch die permanente Ich habe Ihre Äußerungen, Herr Caesar, so verstan- Menschenrechtsverletzung – Herr Caesar, in vielen den, dass über den Grundgedanken hier im Hause ein Gebieten geht es dabei leider nicht nur um Diebstahl, sehr breiter Konsens besteht. Ich finde, in der Zeit, in der sondern auch um Mord und Vertreibung – zu verhindern! wir uns alle sozusagen für eine muntere, sportive und Lassen Sie uns gemeinsam die Möglichkeiten, die wir hoffentlich faire Wahlauseinandersetzung rüsten, sollten hier haben, nutzen und über ein solches Urwaldschutz- wir auch an dieser Stelle bei der vorhandenen Gemein- gesetz dafür sorgen, dass nur Holz aus nachweislich ver- samkeit bleiben. nünftig bewirtschafteten Wäldern hier auf dem Markt Ich möchte Ihnen eines ganz deutlich sagen. Wir haben gehandelt werden kann! Das sollten wir eigentlich ge- ein klares Prä für FSC, weil es das einzige international meinsam hinbekommen, wenn wir schon so weit sind. anerkannte Zertifikat ist. Wir haben aber nichts dagegen, Wenn ich die beiden Anträge übereinander lege, erkenne auch andere Zertifizierungssysteme zu akzeptieren. Wir ich, dass das eigentlich zusammenpassen müsste. haben – das haben Sie richtig gesagt – die bewusste Vielen Dank. Gleichbehandlung und die gegenseitige Anerkennung gefordert, wenn auch nicht eine gegenseitige Anerken- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nung auf einem naturschutzfachlich und waldwirtschaft- und bei der SPD) lich nicht akzeptierbaren Niveau. Vielleicht sollte man sich darüber noch verständigen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Wort hat Christa Reichard, CDU/CSU-Fraktion. Wir haben kein Problem mit PFC; beide müssen ein- fach zueinander kommen, und ich glaube auch, dass das möglich ist. Die Standards sind in der Praxis nicht so Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): weit voneinander entfernt, und wenn beide Seiten auf- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und einander zugehen, müsste man das hinbekommen kön- Herren! Wir Deutschen haben ein wirtschaftspolitisches, nen. ein ökologisches, aber auch ein sicherheitspolitisches In- teresse am Erhalt der Tropenwälder. Das Abbrennen der Aber bei dem malaiischen System gab es gerade das Tropenwälder in Indonesien und die dadurch zu erwar- Problem, dass sie sich bei FSC beworben haben, aber tende Klimaveränderung verursachen auch bei uns grauenvoll an dem gescheitert sind, was das Besondere volkswirtschaftliche Kosten. Zudem führt der Verlust am FSC ist, nämlich dass es nicht nur um die natur- von Tropenwäldern oft zur ökologischen Destabilisie- schutzfachliche, sondern auch um die Frage geht, wie rung ganzer Regionen. Der Verschlechterung der 16800 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Christa Reichard (Dresden) (A) Lebensbedingungen führt zu Migrationsströmen, die uns Die ganze Welt bedient sich inzwischen solcher Me- (C) auch bei uns zu Hause erreichen. thoden, allen voran die Weltbank, die OSZE, die Euro- päische Union und viele europäische Entwicklungsorga- Vielen ist gar nicht bewusst, welche langfristigen nisationen. Umso erstaunlicher finde ich die Antwort der Folgen das Abholzen und das Abbrennen der Tropen- Bundesregierung auf die heute zur Debatte stehende wälder für die Menschen vor Ort wirklich haben. Tro- Große Anfrage der Unionsfraktion. Ganz unverblümt penwälder und die darin enthaltene biologische Vielfalt gibt Rot-Grün zu, dass derartige Studien in dem heute sind in vielerlei Hinsicht die Lebensgrundlage und die debattierten Kontext nicht unterstützt werden. Ich halte Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung. In vielen dies für dilettantisch und höchst unprofessionell. Regionen sind die Beseitigung der Armut, die Ernäh- rungssicherheit, die Versorgung mit Trinkwasser, der Lassen Sie mich folgendes Beispiel anbringen: Allein Schutz der Böden und die Gesundheitsversorgung un- die durch Walddegradierung provozierten Torfbrände im mittelbar mit dem Erhalt der Tropenwälder verbunden. indonesischen Teil der Insel Borneo im Jahr 1997 haben Die Existenzgrundlage gerade armer Bevölkerungs- eine Kohlendioxidmenge freigesetzt, die mehr als dem schichten in vielen ländlichen Regionen in Südostasien, Zehnfachen dessen entspricht, was in Deutschland in Lateinamerika und Zentralafrika hängt direkt vom Erhalt den letzten zehn Jahren im Rahmen der Kioto-Vereinba- der Wälder ab. rungen eingespart wurde. Kollege Caesar hat bereits da- rauf hingewiesen. Besorgnis erregend ist die Geschwindigkeit, mit der die Wälder verschwinden. Von den ursprünglich vorhan- (Ulrich Kelber [SPD]: Kollege Caesar behaup- den gewesenen Tropenwäldern der Erde existieren heute tet etwas anderes! Sie unterscheiden sich von nur noch 20 Prozent. Weltweit gehen pro Jahr rund ihm um den Faktor zehn! Und beide Behaup- tungen aus derselben Fraktion!) 15 Millionen Hektar Wälder verloren. Das ist etwa die Fläche von Bayern, Hessen und Niedersachsen zusam- Berechnungen haben ergeben, dass es für Deutschland men oder die Fläche von Italien, wie wir gerade gehört wesentlich günstiger gewesen wäre, sich auch beim Tro- haben. Mit dem Verlust derart großer Waldflächen ver- penwaldschutz in Südostasien zu engagieren, als aus- siegen Flüsse und Bäche. Der Grundwasserspiegel sinkt. schließlich Treibhausgasemissionen in Deutschland ein- Wertvolle Naturressourcen gehen verloren. Die Boden- zusparen. erosion nimmt zu und der Klimawandel verstärkt sich. Ein weiterer viel versprechender Ansatz ist der Kauf Natürlich ist es unsere gesellschaftliche Verantwor- oder die Pacht von Tropenwaldkonzessionen durch tung, uns für den Erhalt der Schöpfung einzusetzen und westliche Naturschutz- oder Entwicklungsorganisatio- (B) ökologische Integrität wichtiger Ökosysteme für zukünf- nen, um Kahlschlag und Brandrodung zu verhindern (D) tige Generationen zu bewahren. Doch leider haben sol- bzw. nachhaltige Bewirtschaftungsmethoden einzufüh- che Appelle in der Vergangenheit noch nie viel bewirkt, ren. Dies kann, richtig ausgeführt, ein Ansatz sein, der vor allem nicht in Entwicklungsländern, in denen die Po- sowohl von Partnerländern als auch von der lokalen Be- litiker auch andere wichtige Probleme zu lösen haben. völkerung unterstützt wird. Aber auch dieses Konzept lehnt die rot-grüne Bundesregierung ab, wie in ihrer Aber dank der Umweltökonomie, die den Wert des Antwort auf unsere Große Anfrage zu lesen ist. Naturschutzes bzw. die Kosten der Umweltzerstörung zumindest in Ansätzen monetär zu bewerten vermag, Ich könnte in diesem Zusammenhang noch weitere wissen wir heute, dass die Naturzerstörung auch ein gro- Versäumnisse der rot-grünen Bundesregierung aufzäh- ßes ökonomisches Problem darstellt. Naturzerstörung, len. Stattdessen möchte ich sagen, dass das gegenwärtige ausgedrückt in volkswirtschaftlichen Kosten, bleibt viel deutsche Engagement beim internationalen Tropenwald- eher in den Köpfen der Entscheidungsträger hängen als schutz wenig innovativ und wenig flexibel ist. Ange- ökologische Appelle allein und hat in vielen Fällen sichts der ohne Übertreibung als dramatisch zu bezeich- schon geholfen, die Vernichtung bedeutender Naturge- nenden Bedrohung lässt das Engagement von Rot-Grün biete zu verhindern. zu wünschen übrig. Das gilt auch für die Entwicklungs- ministerin, die offensichtlich an dieser Debatte kein Inte- Ich denke in diesem Zusammenhang auch an das resse hat. Der schleichende Bedeutungsverlust des Sek- große Potenzial der Regenwälder für Forschung, Wis- tors Natur- und Ressourcenschutz in der deutschen senschaft, Medizin und auch Tourismus, welches uns zu- Entwicklungszusammenarbeit muss umgehend ein Ende nehmend verloren geht. Moderne Nutzen-Kosten-Analy- haben. Dafür werden wir sorgen. sen zur Bewertung des volkswirtschaftlichen Werts (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. wichtiger Naturressourcen sind heute gefragter denn je. Ulrich Heinrich [FDP]) Sie helfen uns, den ökonomischen Wert oder die Kosten ökologischer Veränderungsprozesse zu bewerten. Sie er- Meine Damen und Herren, uns allen sollte bewusst leichtern uns die politische Entscheidungsfindung im sein, dass das derzeitige Engagement der Industrieländer Umweltbereich. Natürlich kann der Wert der Natur nicht und auch Deutschlands im Bereich des Tropenwald- auf Heller und Pfennig in Geldeinheiten ausgedrückt schutzes zu gering ist. Ich halte daher eine sofortige, werden. Wir bekommen aber mithilfe dieser Methoden groß angelegte und international abgestimmte Initiative hilfreiche Anhaltspunke, die für politische Entscheidun- zum Schutz der Tropenwälder für erforderlich – nicht gen unerlässlich sind. nur aus Interesse am Naturschutz und an den Lebensbe- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16801

Christa Reichard (Dresden) (A) dingungen der Menschen vor Ort, sondern auch aus glo- nenen Flächen nur sehr kurzzeitig genutzt; danach liegen (C) baler ökonomischer Perspektive. sie brach oder es entsteht Sekundärwald. Auf jeden Fall werden sehr viel weniger Gase gebunden, als zuvor bei Ich danke Ihnen. der Vernichtung des Primärwaldes freigesetzt wurden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Klimaschutz heißt in den Regionen des tropischen Regenwalds noch mehr als anderswo auf der Welt, den Menschen Alternativen zur Zerstörung der Wälder Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zu geben. Ich konnte mich im Jahr 2001 zusammen mit Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege dem Kollegen Caesar in Brasilien vor Ort über Projekte Ulrich Kelber, SPD-Fraktion. zum Schutz informieren und mir ansehen, was in den Regionen geschehen ist, in denen der Primärwald schon Ulrich Kelber (SPD): vernichtet worden ist. Eine Gemeinsamkeit aller Regio- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und nen, die wir uns angesehen haben, war: Überall dort, wo Herren! Ich möchte zunächst der Frage stellenden Frak- die Flächen nur kurzfristig genutzt wurden – nach Ro- tion, der CDU/CSU, dafür danken, dass sie dafür gesorgt dung oder Brand –, ist die Region nicht nur ökologisch, hat, dass wir über dieses Thema diskutieren können. So- sondern auch ökonomisch verarmt. Es entstanden Slums, wohl die Erstellung der Fragen als auch die der Antwor- es gab Erosion und Krankheiten. Dort, wo wir auf neue, ten war angesichts der Vielzahl der Seiten sicherlich eine integrierte, moderne, nachhaltige Nutzungsmethoden ge- Fleißarbeit. stoßen sind, war die Situation anders. Wir haben uns zum Beispiel eine Region angeschaut, wo nur alle (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das war 25 Jahre sehr gezielt Stämme entfernt werden und der konzeptionelle Arbeit, keine Fleißarbeit!) Primärwald erhalten bleibt, oder eine, wo es einen ge- Ich fand es etwas schade, dass man sich auch bei die- meinsamen Anbau von Feldfrüchten und Bäumen zur sem Thema nicht des Wahlkampfes enthalten hat. Herr Wiederaufforstung gab. Das erwies sich nicht nur als Kollege Caesar, Sie müssen mir nachher noch einmal er- ökologisch verträglich, sondern diese Regionen erlebten klären, wie Sie den Sprung vom Regenwald zur deut- auch einen ökonomischen Aufschwung; denn es lohnt schen Steuerpolitik geschafft haben. Ich glaube, das sich, vor Ort in Infrastruktur zu investieren, wenn man konnte außer Ihnen keiner nachvollziehen. keine Wanderbewegung in der Wirtschaft haben will. Das macht einen großen Unterschied. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Außer Ihnen!) Wichtig ist: Entwicklung und Schutz des Regenwalds (B) Wir teilen die Einschätzung der Bedeutung des tropi- sind also nicht nur zu vereinbaren, sondern sie bedingen (D) schen Regenwaldes für das weltweite Klima. Wir sind sich gegenseitig und gehören zusammen. darüber hinaus der Meinung, dass die borealen Wälder Aber noch einmal zurück zu meiner Feststellung, dass und die großen Urwälder Nordeuropas und Nordameri- wir mit gutem Beispiel vorangehen müssen. Das gilt kas die gleiche Bedeutung haben. Insofern fand ich es zum einen im direkten Zusammenhang mit dem tropi- schade, dass in der Großen Anfrage darauf nur mit ei- schen Regenwald. Jeder Verbraucher kann sich zum Bei- nem einzigen Satz eingegangen wurde. Wir müssen spiel dafür entscheiden, Produkte aus einer nachhalti- nämlich darauf achten, dass bei den Ländern, die tropi- gen Regenwaldnutzung und nicht aus Raubbau zu schen Regenwald haben, kein falscher Eindruck entsteht. kaufen. Man muss eben wissen, dass, wenn man be- Der Schutz der Wälder und der Schutz des Klimas bei stimmte Liegen für 49 Euro kauft, dafür Wald niederge- uns in den Industriestaaten müssen vorbildlich sein; erst holzt und nicht nachhaltig genutzt wurde. Dafür gibt es dann kann von anderen ebenfalls der Schutz wichtiger die Labels. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich der Überzeu- Wälder eingefordert werden. gung, dass FSC ein sehr erfolgreicher und moderner An- Deutschland spielt beim Schutz des tropischen Re- satz ist. genwalds eine positive Rolle. Das merkt jeder, der sich Europa und Nordamerika müssen zum anderen vor- vor Ort informiert und mit den Projektträgern und den bildlich vor der eigenen Haustür agieren. Deswegen gilt Einheimischen spricht. Das hat unter der Regierung es, die verbliebenen großen Wälder zu schützen. Erst Kohl begonnen und ist unter der Regierung Schröder dann ist man glaubwürdig. Glaubwürdigkeit ist immer fortgesetzt worden. Erlauben Sie mir als klimapoliti- entscheidend in den Diskussionen mit Vertretern des Sü- schem Sprecher auch das zu sagen: Es wäre schön gewe- dens. Sie fragen einen: Zeigt der Norden, dass Klima- sen, wenn Sie in anderen Bereichen des Klimaschutzes schutz und Entwicklung zu vereinbaren sind? vor 1998 genauso konsequent gearbeitet hätten wie im Bereich des tropischen Regenwalds. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Meine Kollegin Frau Hiller-Ohm ist schon detailliert Diese Frage ist auch für andere Gesetzgebungen, die auf die Bedeutung des tropischen Regenwalds eingegan- wir machen, hochaktuell. Wir unterhalten uns zurzeit gen. Als klimapolitischer Sprecher möchte ich in diesem darüber, die in den Klimavereinbarungen zugesagte Re- Zusammenhang mehr auf die Fragen des Klimaschutzes duzierung der Emission von Treibhausgasen auch durch eingehen. Fakt ist: Die Zerstörung des Regenwalds führt Mechanismen in anderen Ländern zu erreichen, also zu erheblichen Emissionen von klimaschädlichen Gasen. nicht nur zu Hause, sondern auch in den Schwellenlän- Oft werden die durch die Zerstörung des Waldes gewon- dern und Entwicklungsländern. Das ist eine wichtige 16802 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Ulrich Kelber (A) Frage, weil wir darüber den Technologietransfer fördern kommt man genau dies zur Antwort. Daher wäre unser (C) wollen, die Schwellen- und Entwicklungsländer einbin- Wunsch, auch die Schwellen- und Entwicklungsländer den wollen und eines Tages vielleicht sogar die USA zur Übernahme von Klimaschutzzielen zu verpflichten, wieder in den Klimaschutz zurückholen wollen. Jetzt ha- dann nicht zu erreichen. ben wir aber die Situation, dass einige Mitgliedstaaten Auch weil die Vereinigten Staaten die Einbindung der der EU und die Opposition aus CDU/CSU und FDP for- Schwellen- und Entwicklungsländer als Voraussetzung dern, mit diesen Mechanismen nicht den Klimaschutz zu nennen, um überhaupt selbst wieder dem internationalen Hause in Deutschland voranzutreiben, sondern sie in den Klimaschutz beizutreten, wäre eine unbeschränkte Nut- Entwicklungsländern unbegrenzt zu erlauben, in Maxi- zung, wie Sie sie von uns fordern und die wir Ihnen zu malposition also den gesamten Klimaschutz im Aus- Recht verweigern, ein Fehler. Wir würden es auf diese land zu betreiben. Dazu möchte ich sagen: Ich glaube, Weise nie schaffen, den größten Emittenten klimaschäd- dies ist kurzsichtig. Es widerspricht nationalen deut- licher Gase in die internationale Zusammenarbeit einzu- schen Interessen und schadet der internationalen Zusam- binden. menarbeit. Akzeptiert man diese Einschätzungen, dann kommt (Beifall bei der SPD) man zu folgendem Fazit: Deutschland muss sich am weltweiten Klimaschutz beteiligen, gerade auch am Nur eine Mischung aus Klimaschutz zu Hause und Tech- Schutz des tropischen Regenwalds. Aber die Vorbild- nologietransfer in die Entwicklungsländer kann tatsäch- funktion findet vor der eigenen Haustür statt. lich Wirkung erzielen. Vielen Dank. Ich werde das näher erläutern. Zuerst zur Frage des nationalen Interesses. Warum haben wir als Deutsche ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nationales Interesse daran, dass Klimaschutz auch in DIE GRÜNEN) Nordamerika und in Europa betrieben und nicht nur in Ländern des Südens bezahlt wird? Deutsche Firmen sind Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: führend bei Klimaschutztechnologien. Wenn Klima- Ich schließe die Aussprache. schutz jetzt nur noch durch Billigstmaßnahmen in den Entwicklungsländern, in den Ländern des Südens betrie- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c sowie ben wird, werden Exportchancen für unsere deutschen Zusatzpunkt 4 auf: Unternehmen gefährdet. Das kann doch keiner wollen. 9 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (B) Allein aus diesem Grund sollten Sie als CDU/CSU und (D) FDP Ihre Position einmal überdenken. gierung (Beifall bei der SPD) Lebenslagen in Deutschland – Zweiter Ar- muts- und Reichtumsbericht Zweites Argument: Die unbeschränkte Nutzung ist auch kurzsichtig. Wenn alles Geld für den Klimaschutz – Drucksache 15/5015 – nur noch auf kurzfristige Billigmaßnahmen in Entwick- Überweisungsvorschlag: lungsländern konzentriert wird, fehlen Geld und Anreiz Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Innenausschuss für die Entwicklung neuer Technologien, die zusätzli- Finanzausschuss che Schritte beim Klimaschutz ermöglichen. In Kürze Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gingen uns die bezahlbaren Maßnahmen aus und es fehl- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und ten uns die Technologien, um weitere Schritte beim Kli- Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend maschutz zu erreichen. Gerade Hightechländer wie Ausschuss für Bildung, Forschung und Deutschland verlören damit einen sich sonst bildenden Technikfolgenabschätzung Weltmarkt. Ausschuss für Kultur und Medien Drittes Argument, warum eine unbeschränkte Nut- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zung für die internationale Zusammenarbeit selbst richts des Ausschusses für Gesundheit und So- schädlich ist: Ein Verzicht auf Klimaschutzanstrengun- ziale Sicherung (13. Ausschuss) zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung gen in den Industriestaaten mit der Begründung, die Kosten für den Klimaschutz seien bei uns zu hoch, des- Nationaler Aktionsplan für Deutschland zur halb müsse er im Süden verfolgt werden, stärkt diejeni- Bekämpfung von Armut und sozialer Aus- gen in den Ländern des Südens, die sagen, Entwicklung grenzung 2003 bis 2005 und Klimaschutz seien nicht miteinander vereinbar. Sie lesen ganz genau, was in den Debatten in den Industrie- Strategien zur Stärkung der sozialen Integra- ländern gesagt wird, und ziehen daraus den Schluss, wir tion glaubten nicht, hier Klimaschutz und Wohlstandsent- – Drucksachen 15/1420, 15/3041 – wicklung gleichzeitig vorantreiben zu können, und woll- ten dies lediglich auf die Menschen im Süden verlagern. Berichterstattung: Wenn man sich mit diesen Menschen unterhält, be- Abgeordneter Markus Kurth Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16803

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- fen und ihnen die Chance zu eröffnen, ihre Existenz und (C) regierung die ihrer Familien zu sichern. Nationaler Aktionsplan für Deutschland zur Wir tun alles, um die Rahmenbedingungen für Arbeit Bekämpfung von Armut und sozialer Aus- und Beschäftigung zu schaffen. Bei genauem Hinsehen grenzung 2003 bis 2005 – Aktualisierung 2004 zeigt sich allerdings, wie entscheidend es ist, welche Form von Arbeitsplätzen und Teilhabemöglichkeiten an- Strategien zur Stärkung der sozialen Integra- gestrebt wird. Der Satz, sozial ist, was Arbeit schafft, tion wird von Ihrer Seite immer wieder gesagt. – Drucksache 15/3270 – (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mit Recht!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (f) Dabei verschweigen Sie: egal unter welchen Bedingun- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit gen. Darin unterscheiden wir uns. Auch wir sagen, sozial Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und ist, was Arbeit schafft. Damit meinen wir aber Arbeit in Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Würde und Arbeit, die den Menschen Sicherheit ver- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe schafft. Das ist ein entscheidender Unterschied. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Zu allen notwendigen Reformen des Arbeitsmarktes und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) sowie der sozialen Sicherungssysteme gehört es, dass zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, wir Arbeitsplätze schaffen, die den Menschen ein Ein- Christoph Hartmann (Homburg), Cornelia Pieper, kommen garantieren, von dem sie und ihre Familien le- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ben können und bei denen die Schutzrechte der Arbeit- nehmer und Arbeitnehmerinnen gewahrt bleiben. Bildungsarmut in Deutschland feststellen und bekämpfen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: – Drucksachen 15/3356, 15/4587 – Sie haben doch die 1-Euro-Jobs geschaffen!) Berichterstattung: Denn die eigene Existenz zu sichern ist eine wesentliche Abgeordnete Ulrike Flach Voraussetzung für die Freiheit von Menschen und die Gesine Multhaupt Bekämpfung von Armut. (B) Werner Lensing (D) Grietje Bettin Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Kollegen Kolb? höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und ministerin für Gesundheit und Soziales, Ulla Schmidt. Soziale Sicherung: Immer. (Beifall bei der SPD) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und Frau Ministerin, Sie haben die Notwendigkeit aus- Soziale Sicherung: kömmlicher Arbeit sehr betont. Sind Sie bereit, einzu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! räumen, dass gerade jetzt wieder statistisch festgestellt Der vorliegende Armuts- und Reichtumsbericht der wurde, dass 300 000 sozialversicherungspflichtige Be- Bundesregierung füllt eine Lücke, die von der Regierung schäftigungsverhältnisse im Vergleich zum Vorjahr ver- Kohl mit Absicht hinterlassen worden ist. Die damalige loren gegangen sind, und dass Sie Ihre beschäftigungs- Regierung wollte die mit einem solchen Bericht verbun- politischen Erfolge – wenn es überhaupt welche gibt – denen heißen gesellschaftlichen Eisen nicht anpacken. allenfalls auf dem Gebiet der 1-Euro-Jobs, der gering- Wer den Bericht genau liest, wird sehen, dass die fügigen Beschäftigung und der Ich-AG, also bei nicht Frage, ob jemand arm ist oder zu denen gehört, denen es auskömmlichen Beschäftigungsverhältnissen erzielen? in unserer Gesellschaft besser geht, eng damit verbunden Können Sie das bestätigen und wie würden Sie das ge- ist, welche Ausbildungschancen und welche Chancen gebenenfalls bewerten? auf dem Arbeitsmarkt der Einzelne hat. Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) Soziale Sicherung: Deshalb ist eine der wesentlichen Folgerungen, die sich Es gibt heute neben den sozialversicherungspflichti- aus diesem Bericht, aber auch aus der Politik ergeben gen Arbeitsverhältnissen eine große Steigerung der Be- – und die die Bundesregierung vor allen Dingen mit der schäftigungsfähigkeit. Selbstverständlich führen gerade Agenda 2010 auf den Weg gebracht hat –, für die Men- Minijobs und Midijobs, deren Einführung vor allen Din- schen einen Zugang zu Bildungsmöglichkeiten zu schaf- gen auf Ihre Empfehlungen zurückgeht, 16804 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) aus der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Meine Damen und Herren, anknüpfend an das, was heraus. der Kollege Kolb angesprochen hat, möchte ich feststel- len, dass wir mit unserer Politik den Sozialstaat erneu- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie bilden eine ern. Wir erneuern ihn, damit er auch unter schwierigeren Brücke in den ersten Arbeitsmarkt!) Bedingungen erhalten bleibt und auch in Zukunft für un- – Sie funktionieren aber nicht ohne weiteres als Brücke sere Kinder und unsere Enkelkinder das leistet, was er in den ersten Arbeitsmarkt. Wir haben heute in den sozi- auch für unsere Generation geleistet hat, nämlich die alen Sicherungssystemen rund 1 Milliarde Euro weniger wesentlichen Lebensrisiken der Menschen abzusichern Einnahmen, weil die Minijobs nicht dazu geführt haben, und dafür zu sorgen, dass es in einer Gesellschaft, die dass die Betroffenen direkt in den ersten Arbeitsmarkt vielfältigen Veränderungen unterworfen ist, gerecht und zurückkehren. verlässlich zugeht. (Peter Dreßen [SPD]: Ordentliche Arbeits- Das ist keine einfache Aufgabe. Sie ist vielleicht da- plätze werden aufgegeben!) mit vergleichbar, ein etwas schwerfälliges Schiff in stür- mischer See um Klippen herum und an Sandbänken und Sie decken vielmehr andere Formen der Beschäftigung Wracks vorbei zu steuern. ab. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn das Schiff Wenn wir sagen, sozial ist, was Arbeit schafft, und al- leck ist, wird es besonders schwer!) les andere hintanstellen, werden wir in Zukunft verstärkt Diese Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ha- erleben, dass die Menschen vielleicht zwei, drei oder ben sich nicht gescheut, dieses Schiff zu besteigen, son- vier Minijobs haben müssen, damit sie überhaupt exis- dern sie haben gesagt: Wenn wir wollen, dass unsere tieren können. Das ist nicht unsere Politik. Wir setzen Kinder und unsere Enkelkinder in Sicherheit leben, dann darauf, in diesem Lande wirklich Sozialpolitik zu ma- müssen wir heute notwendige, wenn auch manchmal chen. nicht sehr beliebte Reformen anpacken. Denn wer heute Wir wollen trotz der Reformen, die notwendig sind, nichts tut, fährt den Sozialstaat gegen die Wand und das und trotz einer Veränderung bei der Erwerbstätigkeit Schiff auf die Klippen. – denn heutzutage wechselt ein Mensch mehrmals zwi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Euer Kompass schen selbstständiger Arbeit, auch in Form der Ich-AG, ist kaputt, Frau Schmidt!) (B) und einer Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt – Ar- (D) beitsplätze schaffen, bei denen die Rechte und die Si- Wir haben die Reformen angepackt und es geschafft, cherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ga- das Schiff um die Klippen herumzuführen. Die sozialen rantiert sind. Sicherungssysteme sind nicht auf Grund gelaufen. Wir ha- ben konsolidiert, und zwar angefangen bei der Gesund- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: An dieser Front heitsreform, die wir ja noch mit Teilen der CDU/CSU zu- sind Sie nicht erfolgreich!) sammen gemacht haben. Der Unterschied ist: Als es dann stürmisch wurde auf hoher See, waren wir fast al- Unser Ziel ist, Arbeit zu schaffen und gute Ausbildungs- leine. Nur die Kollegen Seehofer und Zöller gingen nicht möglichkeiten für die junge Generation und gute Weiter- von Bord. Die, die in den Verhandlungen am lautesten bildungsmöglichkeiten anzubieten. Wir wollen die Ar- nach Privatisierung gerufen haben, waren ja die, die als beitnehmer- und Mitbestimmungsrechte und starke Erste vom Schiff gingen, als es ein bisschen brenzlig Betriebsräte erhalten und dafür sorgen, dass die Men- wurde. Aber da ist der Kollege Zöller ausgenommen. schen von ihrer Arbeit leben können (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber die Statis- DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: tik spricht eine andere Sprache!) Willkommen im Seenotrettungskreuzer, Frau und die sozialen Sicherungssysteme weiter Bestand ha- Kollegin!) ben. Die Rentenreform werden wir wahrscheinlich alleine Angesichts der Tatsache, dass es weniger sozialversi- machen können. cherungspflichtige Arbeitsplätze gibt, müssen wir eine (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist keine Re- Diskussion über die Reform der sozialen Sicherungssys- form, die Sie da vorhaben!) teme führen, da die Anbindung allein an Lohn und Ge- halt nicht ausreicht, um tatsächlich auf Dauer einen aus- Wer den Armutsbericht und den Bericht über die Al- reichenden Schutz zu gewähren. terssicherung liest, der wird feststellen, dass Alter und Armut heute nicht mehr so zusammengehören, wie das (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kontraproduktiv!) früher der Fall war. Vielmehr hat sich die Einkommens- situation der älteren Generation verbessert – ich bin Unsere Forderung ist, die Bürgerversicherung einzufüh- stolz darauf –, ren. Ihre Forderung ist, eine Privatisierung vorzuneh- men. Die der CDU/CSU ist, eine Kopfpauschale einzu- (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb führen. [FDP]: Das ändert sich aber in 20 Jahren of- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16805

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) fenbar dramatisch! In 20 Jahren sieht das voll- die wir eingeleitet haben. Sie sind eine wesentliche Vo- (C) kommen anders aus! Das weiß man heute raussetzung dafür, dass diese jungen Menschen über- schon!) haupt die Chance haben, mit ihren Familien nicht in die Armut zu rutschen und ihren Weg in der Gesellschaft zu unter anderem durch die Einführung der Grundsiche- finden. Ich bin stolz darauf, dass wir das gemacht haben. rung. Dass heute nur noch 1,8 Prozent der älteren Gene- Das sind die richtigen Antworten auf den Bericht, der ration über 65 auf Sozialhilfe angewiesen sind, ist eine hier heute vorliegt. Leistung und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wenn man allerdings sieht, was Sie vorhaben, kann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ man sagen: In 20 Jahren ist das anders. DIE GRÜNEN) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie brauchen nur Diese Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen in Ihre Gesetze zu gucken! Sie haben die Ge- haben zum ersten Mal in der Geschichte der Bundes- setze gemacht, nicht wir!) republik den Mut gehabt, die Ärmsten der Armen in die Förderung von Teilhabe und Chancen einzubeziehen. Wir bauen die zweite Säule auf. Das ist notwendig. Die Die mehr als 2 Millionen erwachsenen Menschen, die CDU/CSU will mit ihren Beschlüssen den Rentnern und bisher von der Sozialhilfe leben, haben jetzt die Chance, Rentnerinnen die Renten um 10 Prozent kürzen. Ich an den Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik teil- kann das hier nur noch einmal sagen. Ihre Beschlüsse zunehmen und Weiterbildungs- und Qualifizierungsan- bedeuten 10 Prozent Rentenkürzung. gebote anzunehmen. Erstmalig sind sie rentenversichert, (Andreas Storm [CDU/CSU]: Ist das ein Mär- pflegeversichert, krankenversichert. Das ist der Weg aus der Armut. Darüber wird leider viel zu wenig diskutiert, chen oder eine Wahlkampflüge?) wenn es um Hartz IV geht. Mit Armutsbekämpfung und Sicherung im Alter hat dies überhaupt nichts mehr zu tun. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: (Beifall bei der SPD – Andreas Storm[CDU/ Das funktioniert aber noch nicht!) CSU]: Märchen! – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Wo steht das? – Erika Lotz [SPD]: Ren- Offensichtlich hat sich unsere Gesellschaft mit tenklau!) 2,5 Millionen Sozialhilfeempfängern ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt abgefunden. Wir tun das nicht. Wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Sozialpolitik wollen Teilhabe, auch die Teilhabe der Kinder von Sozial- und Armutsbekämpfung gehört im 21. Jahrhundert auch hilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfängern. Das ist (B) die Bildungspolitik. Investitionen in die Köpfe unserer unser Weg der Armutsbekämpfung. (D) Jugend, Investitionen in Forschung und Wissenschaft tragen dazu bei, dass unsere Produkte im weltweiten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wettbewerb konkurrenzfähig bleiben. Wir wollen keine DIE GRÜNEN) Konkurrenz um billige Arbeitskräfte, sondern eine Kon- kurrenz mit guten Arbeitsplätzen und zukunftsweisen- Ich kann Ihnen eines sagen: Bei uns sind Armuts- den Produkten. Das ist unser Ziel. bekämpfung und Sozialpolitik gut aufgehoben. Was uns drohen würde, wenn Sie die Regierung stellen würden, Das ist auch das Ziel der Agenda 2010, die der Bun- sagt uns vielleicht Kollege Zöller, der nach mir reden deskanzler auf den Weg gebracht hat. Sie hat zwei zen- wird. Ich weiß nur von dem, was in den letzten Tagen trale Punkte. Der erste Punkt ist, die Chancen für junge gesagt wurde. Langsam lüftet sich, wie CDU/CSU und Menschen zu erhöhen, eine gute Ausbildung zu erhalten. FDP ihre Vorschläge finanzieren wollen. Sie leisten aber Das ist in einer globalisierten Wissensgesellschaft das keinen Beitrag zur Armutsbekämpfung, wenn dem- Wichtigste. Deshalb nehmen wir Geld in die Hand und nächst die Krankenschwester oder der Nachtschichtar- investieren in Kinderbetreuung und Ganztagsschulen, beiter pro Monat erheblich weniger in der Tasche hat, damit alle eine bessere Chance als heute haben. weil Sie die Steuerfreiheit für Nacht- und Wochenend- und Feiertagszuschläge abschaffen wollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Man muss wissen, dass Sie die Renten kürzen wür- den. Dadurch, dass Sie im Gesundheitswesen eine Kopf- Der zweite Punkt sind die Reformen des Arbeits- pauschale einführen wollen, würden zwei Drittel der marktes. Wir wollen mit den Reformen des Arbeitsmark- tes erreichen, dass die Menschen, die arbeitslos werden, Rentnerhaushalte zu Bittstellern beim Staat. schneller in neue Arbeit vermittelt werden, dass Qualifi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nennen Sie doch zierungs- und Weiterbildungsangebote erweitert werden. einmal die Nummer der Drucksache, aus der Vor allen Dingen muss es gelingen, jungen Menschen Sie gerade zitieren!) unter 25 in diesem Land eine Chance auf Ausbildung oder Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu ge- Verschwiegen wird, dass in all Ihren Konzepten weder ben. die Absicherung von Zahnbehandlungen noch das Kran- kengeld enthalten sind. In den letzten Monaten konnten wir die Arbeitslosig- keit der jungen Menschen unter 25 um 10 Prozent sen- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Reine Wahl- ken. Das ist ein Erfolg und spricht für die Maßnahmen, kampffantasie!) 16806 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) Lassen Sie uns jetzt darüber diskutieren, wie es in un- Wir beraten heute den Zweiten Armuts- und Reich- (C) serem Lande weitergehen soll! Ich weiß nur eines: Wenn tumsbericht. Mit diesem Bericht, der auf einen Antrag das, was in den letzten Tagen durch Vertreter Ihrer Par- von Rot-Grün zurückgeht, wollen Sie eine qualifizierte teien an die Öffentlichkeit geraten ist, wahr wird, dann Datengrundlage über die Verteilung der Einkommen in ist das kein gutes Zeichen für die Menschen in Deutsch- Deutschland schaffen. Gleichzeitig sei dieser Bericht ein land, Instrument zur Kontrolle der Wirksamkeit Ihrer Politik. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihre Politik ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schon bittere Realität geworden, Frau Schmidt!) Bis hierhin ist alles in Ordnung. dass Sie die Armut in diesem Lande bekämpfen können. Aber jetzt kommt es. Wie sieht das Ergebnis aus? Dieser Bericht offenbart das absolute Scheitern der Re- Vielen Dank. gierung bei der Bekämpfung der Armut. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- DIE GRÜNEN) neten der FDP)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das Armutsrisiko hat unter Rot-Grün zu- und nicht ab- Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Zöller, genommen. Das allein allerdings ist für Rot-Grün noch CDU/CSU-Fraktion. nicht so schlimm. Viel schlimmer müsste für Sie sein, dass der Abstand zwischen Arm und Reich zugenommen (Beifall bei der CDU/CSU) hat. Das ist dadurch zu belegen – wenn man den Bericht Wolfgang Zöller (CDU/CSU): genau liest, stellt man das fest –, dass über 1 Million Grüß Gott, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kinder Sozialhilfe beziehen, dass die Überschuldung der Kollegen! Frau Kollegin Schmidt, ich habe eine große privaten Haushalte um über 13 Prozent gestiegen ist, Befürchtung: Wir wollen heute zwar über den Zweiten dass Alleinerziehende ein überproportionales Armuts- Armuts- und Reichtumsbericht diskutieren, risiko von 35,4 Prozent tragen, dass die Zahl der Men- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie hat den schen, die nicht mehr aus der Sozialhilfekarriere heraus- Wahlkampf eröffnet!) kommen, steigt und dass die Rekordarbeitslosenzahl die Hauptursache der Armut ist. aber es scheint, als hätten Sie einen anderen Bericht be- (B) kommen als wir, die Opposition. Was mich bei der Diskussion stört, ist die Argumenta- (D) tionslinie der Regierung: Schuld ist – so behaupten Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zumindest – die Schwäche der Weltwirtschaft, die Sie Das, was Sie hier vorgetragen haben, hat mit den Inhal- noch durch den 11. September 2001 negativ beeinflusst ten des Berichts nichts zu tun; sehen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Überhaupt (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Euro!) nichts!) Mit diesem Erklärungsversuch machen Sie es sich mei- dazu werde ich gleich ein paar Fakten nennen. ner Meinung nach viel zu einfach. Diese Erklärung ist falsch, und zwar auch deswegen, weil Deutschland, was Es muss wohl an Ihrem schlechten Gewissen gelegen das Wachstum angeht, unter den 25 EU-Staaten auf dem haben, dass Sie die Diskussion im Bundestag ganz be- 25. Platz ist. Auf diese externen Bedingungen hatten die wusst auf einen Termin nach der Landtagswahl in Nord- übrigen Länder doch keine andere Einflussmöglichkeit rhein-Westfalen platziert haben. als wir. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allerdings!) (Erika Lotz [SPD]: Sagen Sie einmal etwas zur Diese Taktik ging auch auf, bis zum Sonntagabend nach deutschen Einheit!) der Wahl um 18 Uhr. An der Wachstumsschwäche in Deutschland ist einzig (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sonst wäre das und allein die verquere Wirtschaftspolitik schuld – da Ergebnis noch schlechter gewesen!) können Sie noch so viel dazwischenrufen. Dann allerdings hat Ihnen Kanzler Schröder dieses faule (Beifall bei der CDU/CSU) Ei durch seine eigenmächtige Entscheidung etwas zu früh wieder ins Nest gelegt; denn eigentlich sollte die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nächste Bundestagswahl erst in eineinhalb Jahren statt- finden. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner? (Erika Lotz [SPD]: Sie wollten doch zum Be- richt reden, Herr Zöller!) Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Wenn der Inhalt des Berichts nicht so deprimierend Selbstverständlich. Ich hoffe, dass es nicht seine letzte wäre, könnte man fast noch Schadenfreude empfinden. ist; schade, dass er aufhört. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16807

Wolfgang Zöller (A) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU Beispiel zwei: Rentenpolitik. Noch im Jahre 1998 (C) und der FDP) hieß es im SPD-Wahlprogramm, dass die Kürzung des Rentenniveaus von 70 Prozent auf 64 Prozent viele Klaus Kirschner (SPD): Rentner zu Sozialhilfeempfängern machen würde. So Herr Kollege Zöller, warum berücksichtigen Sie bei dürfe man mit Menschen, die ein Leben lang hart gear- Ihrer Kritik – die rein statistisch sicherlich richtig ist – beitet hätten, nicht umgehen. nicht, dass wir 1 Prozent Wachstum haben, und wieso (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann kam das wird in der öffentlichen Diskussion und bedauerlicher- RV-Nachhaltigkeitsgesetz!) weise jetzt auch von Ihnen nicht berücksichtigt, dass wir 4 Prozent des Bruttosozialprodukts ständig zum Aufbau Dies kann ich voll unterstreichen. Nur, so wie die Regie- der neuen Länder benötigen? rung in den darauf folgenden Jahren mit den Rentnern umging, muss man ganz offen von Wahlbetrug sprechen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ah, noch ein Entschuldigungsgrund! – Hildegard Müller (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) [CDU/CSU]: Erst seit 1998 oder was?) Die Rentenversicherung hat durch diese Regierung einen – Ich weiß nicht, warum Sie dagegen sind. – Das ist ein massiven Vertrauensverlust erlitten. Nur durch manches West-Ost-Transfer, den man einmal viel deutlicher öf- Tricksen und Täuschen haben Sie es geschafft, den Bei- fentlich machen müsste und an dem Sie selber – ich tragssatz stabil zu halten. meine das im positiven Sinne – Ihren Anteil haben. Wieso wird das in der öffentlichen Diskussion nicht be- (Peter Dreßen [SPD]: Herr Zöller, wir haben rücksichtigt? Warum stimmen Sie in diesen Chor mit den Rentenbeitragsatz gesenkt! – Erika Lotz ein? [SPD]: Von 20,3 Prozent auf 19,5 Prozent!) Beispiel drei: Auch die Witwen werden durch Ihre Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Regelung gleich mehrfach geschröpft. Herr Kollege Kirschner, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass sich jetzt auch die SPD endlich zur Wiedervereini- Beispiel vier: Private Altersvorsorge. So wie sie ist, gung bekennt ist die private Altersvorsorge unsozial, da Gering- und Normalverdiener nur unzureichend unterstützt werden, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und während die Bezieher höherer Einkommen erhebliche der FDP – Widerspruch bei der SPD) Steuervorteile haben. – ja, selbstverständlich – (B) Beispiel fünf: Wohneigentum. Wohneigentum ist (D) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: War ja nicht im- nach wie vor die beliebteste und wirkungsvollste Form mer so! – Gegenruf der Abg. Erika Lotz der Vermögensbildung für das Alter, gerade für kleine [SPD]: Das darf doch nicht wahr sein! Das ha- Leute. Ausgerechnet diese Form der Altersvorsorge ist ben wir immer getan!) von der Förderung praktisch ausgeschlossen. und dazu, dass sie nicht ohne zusätzliche Kosten zu fi- (Peter Dreßen [SPD]: Sie wissen doch, nanzieren war. Was Sie ausgeführt haben, kann ich voll warum!) und ganz unterstützen. Sie werden von mir aus gerne im- mer wieder in Anspruch nehmen können, dass dies auch Beispiel 6: Familienpolitik. Die Bundesregierung hat ein Grund für diese Ausgabensteigerung ist; überhaupt bei der Erhöhung des Kindergeldes Familien mit drei kein Problem. und mehr Kindern ausgeschlossen. Im von der Regie- rung vorgelegten Armutsbericht heißt es aber, dass ge- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) rade Familien mit zwei und mehr Kindern massiv von Ich will Rot-Grün aber an einigen Beispielen zeigen, wirtschaftlicher Armut und verstärkter sozialer Ausgren- warum sich die Armut entsprechend diesem Bericht zung betroffen sind. durch ihr ganz spezielles Handeln vergrößert hat. Der Das siebte Beispiel betrifft die Alleinerziehenden. kleine Mann ist nämlich der Verlierer von Rot-Grün. Die rot-grüne Bundesregierung strich den Haushaltsfrei- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist betrag für Alleinerziehende. es!) Warum habe ich diese Beispiele genannt? Ich habe es Beispiel eins: Ökosteuer. Die Ökosteuer ist so, wie getan, weil dies typische Beispiele dafür sind, wie durch Sie sie eingeführt haben, ungerecht. Denn Rentner, Stu- Ihr Handeln gerade der Personenkreis betroffen wurde, denten, Arbeitslose – die keine Sozialversicherungsbei- der jetzt im Armutsbericht als besonders arm dargestellt träge zahlen – dürfen die volle Ökosteuer tragen, profi- wird. tieren aber nicht von der Senkung der Lohnnebenkosten. (Erika Lotz [SPD]: Bundesverfassungs- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist gerichtsurteil!) es!) Sie können also nicht sagen, dass es Wirkungen von au- Daneben werden durch die Ökosteuer besonders Fami- ßen waren. lien mit Kindern hoch belastet; denn sie verbrauchen zwangsläufig mehr Energie. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Leider wahr!) 16808 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Wolfgang Zöller (A) Es waren viele Einzelmaßnahmen, die Sie hier zu vertre- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) ten haben. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Herr Zöller, Tatsache ist: Die relative Einkommensar- Erika Lotz [SPD]: Wir mussten das Urteil des mut hat sich zwischen 1998 und 2003 von 12,1 Prozent Bundesverfassungsgerichts umsetzen!) auf 13,5 Prozent erhöht. Arm zu sein bedeutet in Deutschland aber nicht nur, (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Stimmt!) weniger Geld zu haben. Es heißt auch, in einem schlech- Wir können aber nicht allein auf die Einkommensar- teren Gesundheitszustand zu sein und eine geringere Le- mut schauen. Armut ist ein vielschichtiges Problem. benserwartung zu haben als Personen mit einem höheren Einkommen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Vermögen sind auch nicht besser geworden!) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Deshalb nehmen Sie auch Zahnersatz Wer ein geringes Einkommen hat, hat in der Regel auch heraus!) weitere Handicaps, zum Beispiel Probleme im Bildungs- bereich, bei der Gesundheit oder auch Sprachprobleme Menschen in Armut leiden vermehrt an Krankheiten aufgrund der Herkunft bzw. eines Migrationshinter- oder Gesundheitsstörungen und klagen häufiger über starke gesundheitsbedingte Einschränkungen im Alltag. grunds. Diese Tatsache stellt die Bundesregierung in ihrem eige- (Peter Dreßen [SPD]: So ist es!) nen Bericht fest. Der Sachverständigenrat bestätigt diese Einschätzung. Zum Vergleich nur eine Zahl: Die Männer Das heißt, wir müssen uns die Entwicklung getrennt in den einkommensstärkeren Bevölkerungsschichten nach einzelnen Gruppen genau anschauen, um die not- sterben zehn Jahre später als die in Armut lebenden; bei wendigen Schlussfolgerungen ziehen zu können, wie den Frauen beträgt der Unterschied immerhin noch fünf man die Armut am besten bekämpft. Jahre. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das läuft auf Der Sachverständigenrat bemängelt die unzurei- Schönreden hinaus!) chende Studienlage zum Thema Gesundheitschancen von sozialen Schichten. Er regt an, die Gesundheitsbe- – Nein, das läuft nicht auf Schönreden raus, Herr Kolb richterstattung mit der Armuts- und Reichtumsbericht- von der Opposition, sondern ich analysiere die Situation. erstattung zu verknüpfen. Der Bundesregierung wird (B) vom Sachverständigenrat also bescheinigt, dass sie sich Besonders betroffen sind Alleinerziehende – das ist (D) nicht an den eigenen Beschluss gehalten hat, mit dem richtig –, Arbeitslose, junge Erwachsene zwischen eine umfassende Analyse gefordert wurde. 18 Jahren und 24 Jahren und betrüblicherweise, wie ge- sagt, Personen mit Migrationshintergrund. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, der Kanzler hat momentan ein ganz großes Problem. Hier ist es in der Tat auch unter Rot-Grün zu einer weiteren Zunahme der Armutsquote gekommen. Das (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Mindestens geschah aber nicht wegen der Politik von Rot-Grün, son- eines!) dern trotz unserer Bemühungen: trotz der Erhöhung des Kindergeldes, trotz der BAföG-Reform und trotz der – Er hat ein ganz großes. – Es geht darum, wie er die Steuerreform. Vertrauensfrage formulieren soll, damit man ihm das Misstrauen auch aussprechen kann. Für mich ist das ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sehr zweifelhaftes Vorgehen. Wir haben einen besseren und bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb und rechtssicheren Vorschlag: Wer einen solchen Ar- [FDP]: Woran lag es denn? – Gegenruf des mutsbericht trotz vollmundiger Ankündigungen, alles Abg. Peter Dreßen [SPD]: Weil ihr unsere besser zu machen, zu verantworten hat, sollte – Charak- Maßnahmen immer abgelehnt habt! – Gegen- terstärke vorausgesetzt – einfach seinen Rücktritt erklä- ruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr ren. habt immer mehr Leute in die Arbeitslosigkeit Vielen Dank. gebracht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das zeigt: Obwohl wir Umverteilungsanstrengungen Erika Lotz [SPD]: Wen von uns wollen Sie unternommen haben, sind zielgerichtete Programme denn dann haben?) zur Armutsbekämpfung notwendig. Geldleistungen sind wichtig.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Sicherung des Existenzminimums ist in einem Danke schön auch für die Knappheit. – Das Wort hat Sozialstaat natürlich die Grundvoraussetzung. Aber die jetzt der Abgeordnete Markus Kurth. Transferleistung allein reicht nicht aus. Einem jungen Menschen, der nicht richtig deutsch sprechen kann, hel- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- fen 100 Euro pro Monat auf Dauer nicht weiter. Besser SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) wäre es, das Geld in einen Deutschkurs zu investieren. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16809

Markus Kurth (A) Wir brauchen also vor allen Dingen eine Infrastruktur, ner in Baden-Württemberg die Schuleingangsuntersu- (C) die soziale Mobilität ermöglicht. chung streichen. Die Schuleingangsuntersuchung ist speziell für Kinder aus sozialen Brennpunkten und für (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer hat denn Kinder mit Migrationshintergrund oft die erste und ein- die Deutschkurse gestrichen?) zige Möglichkeit, zu erkennen, ob etwa Sprachstörungen Politik wird – das sollten wir den Menschen klar sa- vorhanden sind. Der Schuleintritt bietet die Möglichkeit, gen – Armut nie vollständig abschaffen können. Die Po- um zu intervenieren und die Voraussetzungen für einen litik aber muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass erfolgreichen Schulverlauf zu schaffen. Kinder sind sehr die Menschen die Armut überwinden und aus ihr heraus- wohl Menschen ohne organisierte Lobby. Das machen finden können. Da haben diese Regierung und die Koali- Sie in Baden-Württemberg. tionsfraktionen eine Leistungsbilanz der letzten Jahre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorzuweisen, die sich sehen lassen kann. und bei der SPD – Erika Lotz [SPD]: Hört! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das stimmt doch Hört!) gar nicht!) Ihr Herr Koch legt in Hessen mit der „Operation si- Wir haben zum Beispiel die finanziellen Vorausset- chere Zukunft“ das größte Sparpaket der Landesge- zungen für die Kommunen geschaffen, die Tagesbetreu- schichte vor. Obdachlose werden künftig ohne beglei- ung von Kindern zu organisieren. tende professionelle Hilfe arbeiten müssen. Waren im letzten Jahr der rot-grünen Regierung in Hessen 1999 für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kinderbetreuung, Sprachförderung im Kindergarten und und bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb Betreuungsplätze noch 59 Millionen Euro im Haushalt [FDP]: Wo ist denn das Geld? Wo sind denn eingestellt, so sind es jetzt – das ist beschämend – klägli- die 3,5 Milliarden? Sie sind nicht angekom- che 17,3 Millionen Euro. Das ist die Politik für die Men- men!) schen ohne Lobby. Das ist Ihre Bilanz in Hessen. Wir haben mit dem Ganztagsschulprogramm die Mög- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- lichkeit geschaffen, um über Bildung sozial aufzustei- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Peter gen. Dreßen [SPD]: Hört! Hört!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gestern habe ich in einer Pressemitteilung Folgendes Wir haben die Ausbildungsumlage initiiert und so die gefunden: Die hessische CDU-Fraktion kauft in Zeiten Arbeitgeber dazu gebracht, den Ausbildungspakt zu be- knapper Kassen für repräsentative Zwecke dem Erba- cher Grafen für 13 Millionen Euro sein Schloss ab. (B) schließen. (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein sehr schönes SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Peter Schloss! Es liegt in meinem Wahlkreis!) Dreßen [SPD]: Von euch abgelehnt!) Dafür geben Sie das Geld aus, aber für Kinderbetreuung Wir haben in die Hartz-IV-Gesetze zum ersten Mal für ist kein Geld da. Jugendliche und junge Erwachsene unter 25 Jahren ei- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Kom- nen Anspruch auf ein Angebot aufgenommen. All das men Sie mal zur Sache!) haben wir gemacht. Das können Sie nicht in Abrede stel- len. Wir müssen im Bereich der Migration noch mehr Die Caritas in Bayern hat aufgelistet, welche Sozial- tun; denn hier tickt in der Tat die größte soziale Zeit- kürzungen Sie dort vornehmen. Im Etat für den Auslän- bombe. 36 Prozent aller jungen Menschen mit Migra- dersozialdienst streichen Sie 1,7 Millionen Euro. Sie tionshintergrund haben keine Berufsausbildung. Das ist kürzen die Mittel für die ambulante sozialpsychiatrische unsere Leistungsbilanz. Betreuung. In Niedersachsen beabsichtigt Christian Wulff, der beliebteste Politiker Deutschlands, die voll- Kommen wir jetzt einmal zu Ihnen. Dazu muss man ständige Streichung des Blindengeldes. gar nicht, wie das die Ministerin gemacht hat – das war auch gut –, schauen, was Sie ankündigen, sondern wir (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: sehen ja, was Sie in den von Ihnen regierten Ländern Warum denn?) konkret für eine Politik machen. Ihr Wahlslogan ist Er plant den Ausstieg aus der Mitfinanzierung des Bund/ – Angela Merkel hat es bei ihrer Kandidatinnenkür Länder-Programms „Soziale Stadt“, das wir aufgelegt gesagt –: Wir wollen die Ich-AGs durch die Wir-Gesell- haben, um den Ärmsten der Armen zu helfen. Außerdem schaft ersetzen. will er die Mittel für die externe Drogenberatung in Jus- (Beifall bei der CDU/CSU) tizvollzugsanstalten streichen. Das hört sich so warm an. Weiter heißt es: Menschen Das mag zwar nur nach einigen Details klingen. Das ohne Lobby, Bürger ohne organisierte Interessenvertre- aber betrifft genau die Menschen ohne Lobby, die auf tung – so wird jetzt behauptet – werden von der Union unsere Unterstützung angewiesen sind. Gleichzeitig aber besonders gestützt und gestärkt. sprechen Sie von der Wir-Gesellschaft. Sie lassen die Vergessenen dieser Gesellschaft im Stich. Mit genau die- Schauen wir uns einmal die Realitäten an. Nach einer ser Politik wird es Menschen unmöglich gemacht, Brü- Zeitungsmeldung vom Vortag will Sozialminister Ren- cken aus der Armut zu bauen, um aus ihrer Situation 16810 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Markus Kurth (A) herauszukommen. Das ist der Unterschied zwischen 2003 gegenüber 12,6 Prozent in 1998. Die Zahl der Ver- (C) Rot-Grün und Ihnen. braucherinsolvenzen stieg von 1 634 Fällen in 1999 auf 32 131 Fälle im Jahr 2003. Dabei ist sicherlich auch das Vielen Dank. neue Insolvenzrecht zu berücksichtigen, aber das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch zu einem guten Teil Ergebnis Ihrer Politik. Ganz und bei der SPD) wichtig: Die unteren 50 Prozent der Haushalte verfügen über etwas weniger als 4 Prozent des gesamten Netto- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: vermögens. Der Anteil des oberen Zehntels ist in 2003 Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Kolb. gegenüber 1998 um 2 Prozent gestiegen. Das alles – vor allem der letzte Punkt – zeigt: Die Schere zwischen Arm und Reich ist unter der sozialdemokratisch geführten Re- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): gierung nicht etwa zu-, sondern sie ist weiter aufgegan- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen. Anspruch und Wirklichkeit, Frau Schmidt, klaffen Zunächst einmal zu Ihrer Bemerkung über den Mut, bei Ihnen weit auseinander. heiße Eisen anzupacken, Frau Ministerin. Ihr Mut war auch nicht sonderlich ausgeprägt. Sie haben zwar diesen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Armutsbericht beschlossen, ihn aber erst mit einem hal- ben Jahr Verspätung und erst nach drängenden Fragen Trotz des historisch höchsten Anteils der Sozialleis- der Opposition vorgelegt. tungen am Bruttoinlandsprodukt von 32,6 Prozent ist die Armutsrisikoquote bei nahezu allen gesellschaftlichen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gruppen gestiegen. Das zeigt – das muss man doch zur der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh!) Kenntnis nehmen –: Der Versuch, Armut mit immer Jedem, der diesen Bericht liest, wird relativ schnell klar, mehr Umverteilung zu bekämpfen, ist gescheitert. warum Sie das getan haben, nämlich weil der Bericht (Rolf Stöckel [SPD]: Auch Sie haben den Be- eine offizielle Dokumentation des Scheiterns rot-grüner richt nicht gelesen!) Sozial- und Wirtschaftspolitik ist. – Ich habe ihn gelesen, Herr Kollege Stöckel. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Er ist mehr als ein Armutsbericht, er ist ein Armutszeug- nis für Ihre Regierung, Frau Schmidt. Deswegen ist es Der Bericht leistet immerhin – das will ich hier einräu- verständlich und bezeichnend – da gebe ich dem Kolle- men –, deutlich auf den Zusammenhang zwischen gen Zöller Recht –, dass er erst heute diskutiert wird, Arbeitslosigkeit und Armut hinzuweisen. Der Erhalt (B) zehn Tage nach der Wahl in NRW. Fairerweise und ehrli- von bestehenden und die Schaffung von neuen Arbeits- (D) cherweise hätten Sie ihn vorher diskutieren müssen. plätzen ist eben doch die wirksamste Maßnahme zur Be- Dann hätte das Ergebnis vielleicht noch anders ausgese- kämpfung und Beseitigung von Armut. Aus eben diesem hen. Grunde ist es für die Betroffenen so bitter, dass die halb- herzige Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der rot- Dabei ist die Lage in dem Bericht stellenweise sogar grünen Regierung keine Erfolge zeitigen kann. noch günstiger dargestellt, als sie in der Realität aus- sieht. So sagen Sie, zum Beispiel was die verdeckte Ar- Ich stelle fest: Unter der rot-grünen Bundesregierung mut angeht, dass auf drei Sozialhilfeempfänger noch ist die Armut mitten in der Gesellschaft angekommen. einmal 1,5 bis zwei Anspruchsberechtigte kämen, die Sie trifft heute nicht mehr nur so genannte Randgruppen, ihre Ansprüche nicht geltend machten. Aber die Autoren sondern in Zeiten eines von Rot-Grün zu verantworten- des Forschungsberichtes, der dem Bericht der Bundesre- den weiteren Anstiegs der Arbeitslosigkeit kann in gierung zugrunde liegt, gehen davon aus, dass mindes- Deutschland faktisch jeder von Armut betroffen sein. tens zwei, eher aber drei weitere Berechtigte auf jeweils drei Sozialhilfeempfänger kommen. Das ist die ganze (Erika Lotz [SPD]: Das sagen die, die immer bittere Wahrheit und das Ergebnis Ihrer Politik. für Niedriglohn kämpfen!) Ich will noch einmal anhand von Fakten unterstrei- Das gilt auch für junge Menschen, deren Armutsrisiko- chen und deutlich machen – Kollege Zöller hat damit quote besonders angestiegen ist. Hier besteht ein deut- schon angefangen –, wie sich die Lage seit dem Regie- licher Zusammenhang zwischen Armutsrisiko und Bil- rungsantritt von Rot-Grün verschlechtert hat. Die dung. Je niedriger der Bildungsgrad, desto höher ist die Armutsrisikoquote ist von 1998 bis 2003 von 12,1 Pro- Gefahr der Arbeitslosigkeit. Deswegen muss uns doch zent auf 13,5 Prozent gestiegen. Das heißt, 2003 sind alarmieren, Frau Kollegin Lotz, dass 2003 rund rund 11 Millionen Menschen in diesem Land vom Ri- 90 000 Jugendliche eine allgemeinbildende Schule ohne siko der Armut betroffen. Hauptschulabschluss verlassen haben. (Rolf Stöckel [SPD]: Relative Armut!) (Rolf Stöckel [SPD]: Das ist das Ergebnis Ihrer Politik während Ihrer Regierungszeit!) Das fiktive Armutsrisiko, das heißt die Einkommens- situation vor öffentlichen Transfers, ist sogar von Wir hätten uns gewünscht – dazu gab es einen FDP- 38,5 Prozent auf 41,3 Prozent in 2003 gestiegen. Jede Antrag –, dass in diesem Armutsbericht der Zusammen- siebte Familie muss mit einem Einkommen unterhalb hang zwischen Bildung und sozialer Lage deutlich aus- der Armutsgrenze auskommen. Das sind 13,9 Prozent in geprägter dargestellt und nicht nur auf 20 von insgesamt Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16811

Dr. Heinrich L. Kolb (A) 322 Seiten behandelt worden wäre. Aber Sie haben die- Kindern in Armut, besonders hoher Armutsrisiken für (C) sen Antrag abgelehnt. Familien mit mehreren Kindern und von Alleinerzie- henden ist es ein Ausdruck von bestürzender Lebens- Ich komme zum Schluss. Sieben Jahre Rot-Grün ha- ferne und Ignoranz, wenn die Familienministerin ben dazu geführt – das muss ich zusammenfassend fest- Schmidt in der „Bild am Sonntag“ vom 27. Februar die- stellen –, dass die Armut in Deutschland zugenommen ses Jahres über Armut in Deutschland zu bedenken gibt: hat. Es ist unbestreitbar: Sieben Jahre Rot-Grün haben dazu geführt, dass die Ungleichheit der Vermögensver- Armut hat nicht nur mit Geld zu tun. Entscheidend hältnisse in Deutschland größer geworden ist. ist, ob eine Familie es versteht, mit Geld gut umzu- Die Wahrheit ist: Die rot-grüne Bundesregierung ist gehen. das größte Armutsrisiko für die Menschen in diesem Frau Schmidt empfiehlt dann noch statt teurem Fast Land. Deswegen ist es gut, dass dieses Risiko in Food „Eintopf mit Saisongemüse. Kluge Mütter wissen, 108 Tagen beseitigt sein wird. diese Mahlzeit lässt sich sogar für mehrere Tage im Vo- Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. raus kochen … Manche Familie hat nicht gelernt, einen Haushalt zu führen“. – So viel Inkompetenz und Zynis- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rolf mus kann man nur abwählen, je schneller, desto besser. Stöckel [SPD]: Schauen wir mal! – Erika Lotz [SPD]: Dazu hat der Bundespräsident auch (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) noch was zu sagen! – Gegenruf des Abg. „Der Sozialhilfesatz in Deutschland reicht bei einer Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ach so! Ihr wollt Familie nur 20 Tage lang für eine gesunde Ernährung.“ gar keine Neuwahl?) Zu diesem Ergebnis gelangten Forscher der Universität Gießen in einer Studie. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat die Abgeordnete Gesine Lötzsch. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und was macht man den Rest des Monats?) Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Aus finanziellen Gründen verpflegten sich Sozialhilfe- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und empfänger für den Rest des Monats überwiegend mit Herren! Ich bin Abgeordnete der PDS. – Wenn es einen Brot, Kartoffeln und Teigwaren, so die Ernährungswis- wichtigen Grund für Neuwahlen gibt, dann ist es die zu- senschaftlerin Lehmkühler, die diese Untersuchung nehmende Armut in unserem Land. durchgeführt hat. Für ausreichend Obst und Gemüse rei- che das Geld nicht. Die Ernährungswissenschaftlerin be- (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (B) richtete von gravierenden Folgen, die diese Fehlernäh- (D) Diese Regierung, die nicht alles anders, aber vieles bes- rung besonders bei Kindern hat. Mit dem Begriff ser machen wollte, hat es geschafft, die Politik von „Streckphase“ beschreiben Betroffene, dass sie Geld und Helmut Kohl fortzusetzen: Die Armen werden ärmer Essensreste oft bis zur nächsten Geldüberweisung stre- und die Reichen reicher. cken müssen, damit ihr Haushalt über die Runden bzw. damit überhaupt etwas zu essen und zu trinken auf den (Zuruf von der CDU/CSU: Im Gegenteil!) Tisch kommt. Das ist die Situation in einem der reichs- Meine Damen und Herren von der SPD, das ist nicht ten Länder der Welt! das Ergebnis von unbeherrschbaren Heuschrecken- schwärmen; es ist vielmehr das Ergebnis der Politik von Wir als PDS werden in unserem Wahlprogramm deut- SPD und Grünen. lich machen, dass wir gute Konzepte haben, um Armut zu bekämpfen und Reichtum zu begrenzen. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Vielen Dank. In Ihrem Bericht, der 320 Seiten umfasst, waren Sie nicht in der Lage, auf den wichtigen Zusammenhang (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) von Armut und Reichtum hinzuweisen. Brecht hat es so formuliert: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Reicher Mann und armer Mann standen da und Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rolf Stöckel. sah’n sich an. Und der Arme sagte bleich: Wär ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD – nicht arm, wärst Du nicht reich. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wird jetzt Forbes zählt für das Jahr 2003 43 deutsche Milliar- nicht so einfach sein, sich nach beiden Seiten däre zu den Reichsten der Erde. In Deutschland kommt zu verteidigen!) auf sieben Arbeitslose ein Vermögensmillionär. Auch das ist eine Leistung der Bundesregierung, auf die Sie im Rolf Stöckel (SPD): Bundestagswahlkampf hinweisen sollten, vielleicht un- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich ter der Überschrift „Die Bundesregierung produziert möchte mich zunächst einmal im Namen der SPD-Frak- nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch Milliardäre“. tion bei der Frau Ministerin und vor allem bei der Bun- Doch eigentlich ist das Thema nicht zum Scherzen desregierung dafür bedanken, dass sie den Zweiten Ar- geeignet. Im Gegenteil: Angesichts von 1,5 Millionen muts- und Reichtumsbericht fristgerecht vorgelegt hat. 16812 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Rolf Stöckel (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Pro- (C) L. Kolb [FDP]: Nein!) Kopf-Haushaltsnettoeinkommens von 938 Euro leben müssen, um die Summe hier auch einmal ganz konkret – Vielleicht können Sie sich nicht mehr daran erinnern, zu nennen. Herr Kolb. Sie haben hier den Beweis geliefert, dass Sie den Bericht nicht richtig gelesen haben. Entgegen den Darstellungen in den Medien hat die Bundesregierung den Bericht weder versteckt noch ver- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist doch zögert. Wenn Sie glauben, dass Sie die Zahlen dieses Be- Quatsch!) richts und die Not der Betroffenen für Ihre Propaganda Die Drucksache trägt das Datum vom 3. März 2005. An gegen die Regierung ausschlachten können, dann sage diesem Tag wurde der Bericht eingebracht. Er ist auch ich Ihnen: Wir haben mit dem Bericht die Probleme end- öffentlich zugänglich. lich offen gelegt, und zwar mit einer gegenüber dem ers- ten Bericht verbesserten Datenbasis. Es sind im Übrigen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Er hätte Ende noch weitere Verbesserungen erforderlich; das wird eine 2004 vorgelegt werden müssen! Da war er ja Aufgabe für uns alle sein. auch schon fertig!) Wir haben die Wahrheit gesagt und wir fühlen uns Die Bundesregierung hat eine Pressekonferenz gegeben. auch den anderen EU-Staaten gegenüber verpflichtet, Die SPD-Fraktion hat öffentliche Veranstaltungen mit Armut aktiv zu bekämpfen, gemeinsame Konzepte für den Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften und Kirchen die soziale Integration und gegen die Ausgrenzung von zu einer Problemlage durchgeführt, die uns alle angeht. Millionen von Benachteiligten umzusetzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Peter Wir sind uns der großen Probleme bewusst und dass Dreßen [SPD]: Über 300 Leute! – Dr. Heinrich sich die Wirkung der Maßnahmen und Reformen, die zur L. Kolb [FDP]: Das ist nach dem Motto sozialen Integration vor allen Dingen auf dem Arbeits- „Schön, dass wir etwas geschrieben haben!“) markt beitragen, aber auch für bessere Bildungschancen – Sie wollen hier Krawall machen. Mit diesen alten Poli- sorgen sollen, nicht bis zur nächsten Wahl einstellen tikritualen werden Sie den Betroffenen in keiner Weise wird, sondern dass man einen langen Atem braucht. helfen. Das werde ich Ihnen gleich noch näher und kon- Ich möchte Ihnen noch eines sagen. Sie haben sich kreter erläutern. während Ihrer Regierungszeit bis 1998 – das waren die (Beifall bei der SPD) 16 Jahre vor diesem Berichtszeitraum – trotz der Forde- rungen von Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrts- Tatsächlich war es ein Antrag der Regierungsfrak- verbänden immer geweigert, die EU-Beschlüsse und (B) tionen aus dem Jahre 1999, aufgrund dessen es über- (D) auch unsere Oppositionsforderungen zur Armuts- und haupt zu einer konkreten Armuts- und Reichtums- Reichtumsberichterstattung umzusetzen. Sie haben wäh- berichterstattung und zu einer wissenschaftlichen rend Ihrer Regierungszeit die Armutslage in Deutsch- Untersuchung dieser Problemlagen gekommen ist. Sie land geleugnet und auf die Kinderarmut in der Dritten haben sich während Ihrer Regierungszeit geweigert, ei- Welt und auf die deutsche Sozialhilfe verwiesen, immer nen solchen Bericht zu erstellen, nach dem Motto „Bei uns gibt es das nicht, das ist ein (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber durch Ihren Problem von Rot-Grün“. Bericht ist doch nichts besser geworden!) Ihre Kritik ist sicherlich berechtigt, wenn Sie sagen, obwohl es EU-Beschlüsse und die Aufforderung an die wir hätten noch mehr tun können. Aber seit 1999 waren nationalen Regierungen gab, Instrumente zur Armutsbe- Sie mit einer Bundesratsmehrheit zumindest mit in der kämpfung zu entwickeln. Sie, FDP und CDU/CSU, ha- Verantwortung, Maßnahmen noch effizienter zu gestal- ben hier im Deutschen Bundestag gegen unseren Antrag ten und nicht zu blockieren. gestimmt und heute wettern Sie und weiden sich an den Die Wahrheit ist aber, dass die strukturellen Gründe Problemlagen. Diesen Bericht hätte es ohne unseren da- für die heutige Situation in Ihrer Regierungszeit liegen, maligen Antrag gar nicht gegeben in den 16 Jahren bis 1998. Ich weiß, wovon ich hier rede. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Durch diesen Die Gründe liegen nicht nur in der deutschen Einheit und Bericht hat sich für die Betroffenen überhaupt der Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit, sondern nichts verändert!) auch in der Verweigerung der Anerkennung der Tatsa- che, dass wir ein Einwanderungsland sind, und in unse- und Sie hätten heute nicht die Möglichkeit, den Leuten ren Defiziten in der Integrationspolitik, die wir vor allen zu erklären, die Armut sei mit dem Raumschiff 1998 Dingen in Ihrer Regierungszeit hatten. nach Deutschland gekommen, die habe es vorher, unter Ihrer Regierung, nicht gegeben. Das ist lächerlich, Herr Ich habe während dieser Zeit 15 Jahre in einem So- Kolb. zialamt als Schuldnerberater gearbeitet und dort genau mitbekommen, wie die Langzeitarbeitslosen in die So- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zialhilfe geschoben wurden. Der Schaden durch das DIE GRÜNEN) hohe Ausmaß von Frühverrentungen, übrigens auf Kos- Wir jubeln nicht über die Ergebnisse, die dieser Be- ten aktiver Arbeitsmarktpolitik und von Bildung und richt aufzeigt. Die Zahlen bedeuten nämlich nicht weni- Qualifizierung, und die Finanzierung der deutschen Ein- ger, als dass 11 Millionen Menschen in Deutschland mit heit auf Kosten der Sozialkassen wird für die Einkom- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16813

Rolf Stöckel (A) mensverteilung in dieser Bundesrepublik Deutschland sern! Sie können es natürlich versuchen. Aber ich habe (C) auf Dauer ein Problem sein und nicht nur bis zum nächs- größte Sorge, ob das, was Sie wollen, gelingt. ten Wahltag wirken. Sie haben gestern im Ausschuss das KEG, einen Ge- Wenn ausgerechnet die FDP, die 29 Jahre mitregiert setzesantrag Bayerns, abgelehnt. Das Land Hessen und hat, hier einen Antrag zu den Defiziten der beruflichen der Freistaat Bayern haben immer wieder versucht Qualifikation vorlegt, dann nenne ich Ihnen auch die – Herr Stoiber hat in den letzten Tagen noch Interviews Zahlen für die Zeit von 1975 bis 1997, die zum größten dazu gegeben –, gerade die Mittel, die wir in der Sozial- Teil in Ihre Regierungszeit fällt: Der Anteil der unquali- hilfe zur Bekämpfung der Armut noch haben, in Zukunft fizierten Arbeitslosen ist von 6 Prozent unter der damali- so zu gestalten, dass es sozusagen einen Dumpingwett- gen sozialliberalen Koalition während dieser Zeit auf bewerb nach unten gibt. Wenn Sie aber dem Bund die 24 Prozent gestiegen, die Arbeitslosenquote insgesamt Kompetenz wegnehmen und den Ländern oder womög- von 4,7 auf 12,7 Prozent. Dass wir diesen Trend nicht lich sogar den Kommunen die Aufgabe übertragen, die umdrehen konnten, ist sicherlich ein Problem, dem wir Eckregelsätze der Sozialhilfe, die ja Armut bekämpfen uns offen stellen müssen. Ich habe schon gesagt, dass soll, festzulegen, dann liegt es auf der Hand, dass es ei- das kein Grund für Selbstgerechtigkeit ist. Aber in Ihrer nen Dumpingwettbewerb nach unten geben wird. Das ist Regierungszeit sind Sozialhilfedynastien und soziale so nach Adam Riese und dieser ist nicht Mitglied der Brennpunkte entstanden, die bisher mit allen unseren SPD. Instrumenten, etwa dem Programm „Soziale Stadt“, (Andreas Storm [CDU/CSU]: Das ist wahr!) nicht so verändert werden konnten, dass Kinder und Ju- gendliche, die in den betreffenden Stadtvierteln wohnen Sie wollen im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfe- müssen, tatsächlich wieder eine Perspektive haben. gesetzes eine Umschichtung vornehmen. Sie wollen eine Missbrauchskontrolle durch einen Nachtwächterstaat ge- Ich will Ihnen klar sagen: Die Zahlen, die unter ande- gen Rechtsansprüche und gegen einen Ansatz eines akti- rem Herr Zöller vorgetragen hat, sind alles andere als vierenden Sozialstaates setzen. Das werden wir den korrekt, gerade was die Beispielzahlen bei den Älteren Menschen in den nächsten Wochen und Monaten deut- betrifft. lich machen. Ich bin ganz sicher, dass die Menschen die (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was?) richtige Entscheidung im Hinblick auf Ihren und unseren Sozialstaatsansatz treffen werden. Im Gegensatz zu Ihrer Regierungszeit ist unter unserer Regierung der relative Anteil der von einem Armutsri- Herzlichen Dank. siko betroffenen Älteren von 13,3 Prozent auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) 11,4 Prozent gesunken. DIE GRÜNEN) (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das gilt auch für Paare mit zwei Kindern. Dort ist die Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Storm. Quote auf 8,6 Prozent gesunken. Die Zahl der Woh- (Beifall bei der CDU/CSU) nungs- und Obdachlosen in Deutschland ist von über 500 000 im Jahr 1998, dem Ende Ihrer Regierungszeit, Andreas Storm (CDU/CSU): auf rund 300 000 im Jahr 2003 gesunken. Das ist eine eklatante Verbesserung. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Rot- Grün war 1998 angetreten, zwar nicht alles anders, aber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vieles besser zu machen. Mehr Arbeitsplätze wollten Sie DIE GRÜNEN) schaffen und für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen. Große Worte! Aber wie sieht die Wirklichkeit heute aus? Das täuscht aber nicht darüber hinweg, dass vor allen 5 Millionen Arbeitslose, Wachstumsschwäche, Rekord- Dingen bei Familien mit ausländischer Herkunft und verschuldung, geplünderte Sozialkassen, Unqualifizierten die Armutsrisikoquote enorm hoch ist. Darüber sind wir sicherlich nicht glücklich. Aber das ist (Rolf Stöckel [SPD]: Alles mit beschlossen!) auch eine Folge einer langfristig verfehlten Integra- das sind die Fakten. Deutschland ist nach sieben Jahren tionspolitik. Rot-Grün ausgezehrt und kein einziges Problem ist ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten löst. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU – Peter Dreßen Bei alleinerziehenden Frauen beträgt die Armutsrisi- [SPD]: Chefwahlkämpfer!) koquote sogar 35 Prozent, und das trotz Mehrbedarfszu- Kollege Kurth, in einer solchen Situation bauen Sie schlägen und der Tatsache, dass wir die Steuerfreibe- Luftschlösser. träge etwa bei der Betreuung erhöht haben. Das ist ein wirkliches Problem. Verweigern Sie sich nicht unserer Meine Damen und Herren von Rot-Grün, der Zweite Politik zur Förderung der Ganztagsschulen und inte- Armuts- und Reichtumsbericht, über den wir heute de- grierter Schulsysteme sowie vor allem nicht unserem battieren, ist nichts anderes als ein Offenbarungseid Ih- Ansatz, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei rer Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik, die Sie Frauen, insbesondere bei alleinerziehenden, zu verbes- seit 1998 betreiben. 16814 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Andreas Storm (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Alleinerziehenden stellen mit fast 36 Prozent die (C) der FDP – Erika Lotz [SPD]: Schreien Sie weitaus größte Gruppe, die von Armut betroffen ist. doch nicht so!) (Peter Dreßen [SPD]: Das ist leider schon Fakt ist: Erstens. Rot-Grün macht arm. Das Armuts- immer so gewesen!) risiko ist unter Ihrer Regierungsverantwortung massiv Das Armutsrisiko der Familien ist seit 1998 stark ange- gestiegen, und zwar von 12,1 Prozent 1998 auf stiegen. Sie sind 1998 mit dem Versprechen angetreten, 13,5 Prozent 2003. die Situation der Familien zu verbessern. (Erika Lotz [SPD]: Schwarz-Gelb macht (Rolf Stöckel [SPD]: Das haben wir auch ge- dumm!) macht! – Peter Dreßen [SPD]: Das haben wir Nach Ihrem Armuts- und Reichtumsbericht ist in den geschafft!) neuen Ländern jeder Fünfte arm. Über 11 Millionen Das Gegenteil ist der Fall. Bundesbürger sind nach Ihrer eigenen Vorlage von Ar- mut betroffen. Da nützt Ihnen auch der Blick ins Aus- (Beifall bei der CDU/CSU) land nichts. Das Armutsrisiko mag in Deutschland klei- ner sein als in vielen anderen Ländern in Europa. Aber Viertens. Das Hauptübel von Armut und sozialer Aus- das ändert nichts daran, dass das Armutsrisiko in grenzung ist die Massenarbeitslosigkeit. Vorgestern hat Deutschland seit 1998 deutlich gestiegen ist. die Bundesagentur für Arbeit die neuesten Arbeitslosen- zahlen bekannt gegeben: Über 4,8 Millionen Menschen Zweitens. Rot-Grün spaltet die Gesellschaft. Zwi- sind arbeitslos. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, schen 1998 und 2003 ist die Zahl der Armen größer ge- Herr Weise, hat aber vor kurzem eingeräumt, dass es, worden; gleichzeitig haben die Reichen immer mehr. wenn man diejenigen, die in Maßnahmen versteckt sind, hinzurechnet, in Wirklichkeit etwa 6,5 Millionen sind. (Peter Dreßen [SPD]: Diese Rede zeigt, dass Schwarz-Gelb dumm macht!) Doch auch da macht die Arbeitslosigkeit nicht Halt. 6,5 Millionen Arbeitslose bedeutet, dass auch die Ange- Die Schere zwischen Arm und Reich ist noch weiter hörigen betroffen sind: Über 10 Millionen Menschen lei- auseinander gegangen. den in Deutschland faktisch unter dem Schicksal der (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Arbeitslosigkeit. Deshalb ist die Bekämpfung der Mas- NEN]: Darum wollen Sie den Spitzensteuer- senarbeitslosigkeit die Aufgabe Nummer eins, wenn es satz weiter senken!) darum geht, Armut in Deutschland zu bekämpfen. Kollege Stöckel, Sie haben gesagt, Sie hätten mit den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) (D) Gewerkschaften über diesen Bericht diskutiert In Wahrheit geht die Talfahrt auf dem Arbeitsmarkt (Peter Dreßen [SPD]: Ja!) ungebremst weiter. Tag für Tag gehen 500 sozialversi- cherungspflichtige Arbeitsverhältnisse verloren. und es gebe keine Probleme. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist der ei- (Rolf Stöckel [SPD]: Ich habe nicht gesagt, gentliche Skandal! – Peter Dreßen [SPD]: Das dass es keine Probleme gibt!) stimmt nicht mehr! Das ist die Zahl von 1997!) In den „Wirtschaftspolitischen Informationen“ von Verdi Wenn es so weitergegangen wäre, wenn Sie nicht selber des heutigen Tages heißt es – ich zitiere die Kernpassage die Notbremse gezogen hätten, weil Sie erkannt haben, wörtlich –: dass Sie die Probleme nicht mehr in den Griff bekom- Bereits vor zehn Jahren war die Vermögensvertei- men, hätte diese Entwicklung überhaupt nicht gestoppt lung extrem ungleich. Heute sieht es noch schlim- werden könnte. mer aus. Fünftens. Armut ist nicht nur ein aktuelles Problem. Das ist die Beurteilung dieser Gewerkschaft. Durch die Massenarbeitslosigkeit und durch die zuneh- mende Langzeitarbeitslosigkeit schafft Rot-Grün die (Beifall bei der CDU/CSU – Erika Lotz Altersarmut von morgen. [SPD]: Sagen Sie doch einmal was zur Mehr- wertsteuer, Herr Storm! Sie sind doch immer (Rolf Stöckel [SPD]: Der Bericht besagt das dafür! Wie viel Prozent?) Gegenteil!) Drittens – das ist mit das gravierendste Problem –: Sie haben gestern Zahlen zur Situation im Jahr 2003 vor- Wer sich in Deutschland heute für ein Kind entscheidet, gelegt. Diese Zahlen machen deutlich, dass Deutschland trägt ein Armutsrisiko. Das ist ein gesellschaftspoliti- in den vergangenen Jahrzehnten bei der Vermeidung von scher Skandal. Kinder und Jugendliche stellen heute Armut im Alter sehr erfolgreich war. Aber diese Zahlen mit 1,1 Millionen die größte Gruppe unter den Sozialhil- berücksichtigen allesamt noch nicht die Kürzungen seit feempfängern. Mehr als die Hälfte dieser Kinder und Ju- den Hartz-Reformen. Zwei Nullrunden bei der Rente gendlichen wächst in Haushalten von Alleinerziehenden und die Pflicht der Rentner, den vollen Pflegebeitrag zu auf. zahlen, haben ihre Spuren hinterlassen. (Erika Lotz [SPD]: Sie wollen 4 Prozent (Peter Dreßen [SPD]: Was hätten denn Sie Mehrwertsteuererhöhung!) gemacht?) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16815

Andreas Storm (A) Der entscheidende Punkt ist, dass die Rentenansprü- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (C) che für Langzeitarbeitslose im Zusammenhang mit dem Drucksache 15/3270 an die in der Tagesordnung aufge- Sparpaket des Jahres 1999 drastisch reduziert worden führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- sind. verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Unter Walter Riester wurden die Rentenansprüche für Langzeitarbeitslose faktisch halbiert; dies schlägt Schließlich kommen wir zur Beschlussempfehlung sich in diesem Armuts- und Reichtumsbericht naturge- des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technik- mäß noch nicht nieder. Das bedeutet: Wer heute lange folgenabschätzung auf Drucksache 15/4587 zu dem An- Zeit arbeitslos ist, hat in Zukunft ein Problem bei der Al- trag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Bildungsarmut tersversorgung. in Deutschland feststellen und bekämpfen“. Der Aus- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/3356 Eine zentrale sozialpolitische Aufgabe für die nächste abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Wahlperiode wird es daher sein, das zweite Standbein lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- der Altersversorgung – neben der gesetzlichen Rente – schlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und vor allen Dingen für Menschen mit niedrigem Einkom- Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/ men aufzubauen. Wenn wir für Menschen mit niedrigem CSU und FDP angenommen worden. Einkommen keine zusätzliche Altersversorgung schaf- fen – an dieser Stelle sind Sie in dieser Wahlperiode Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: grandios gescheitert, Frau Schmidt –, ist die Altersarmut a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle ein Problem der nächsten Jahrzehnte. Deshalb muss hier Laurischk, Dr. Karl Addicks, Daniel Bahr (Müns- dringend vorgebaut werden. ter), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Erika Lotz [SPD]: Deshalb wollen Sie die Unterhaltsrecht sozial und verantwortungsbe- Mehrwertsteuer erhöhen! Um wie viel Prozent wusst gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wollen Sie die Mehrwertsteuer denn erhöhen? anpassen 4 oder 5 Prozent?) – Drucksache 15/5369 – Das Fazit nach sieben Jahren Rot-Grün lautet: Ar- Überweisungsvorschlag: mutsrisiko Nummer eins ist die Massenarbeitslosigkeit. Rechtsausschuss (f) Innenausschuss Armutsrisiko Nummer zwei – das ist ein gesellschafts- Finanzausschuss politischer Skandal – ist, dass neben den Arbeitslosen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (B) die Familien das größte Armutsrisiko tragen. Hier muss Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung (D) eine Trendwende erfolgen. b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Sie haben vor den Problemen in Deutschland kapitu- Sibylle Laurischk, Daniel Bahr (Münster), Rainer liert. Sie haben Ihre Chance gehabt. Sie haben sie nicht Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion genutzt. Das spüren die Menschen. Deshalb ist es der FDP höchste Zeit für eine Wende auch in der Sozialpolitik. Unterhaltsrecht auf dem Prüfstand (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Drucksache 15/3117 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Ich schließe damit die Aussprache. FDP fünf Minuten erhalten soll. – Widerspruch gibt es keinen. Dann ist so beschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Drucksache 15/5015 an die in der Tagesordnung aufge- die Abgeordnete Sybille Laurischk. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Sibylle Laurischk (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- fassen uns heute mit einem langjährig bekannten Thema, schusses für Gesundheit und Soziale Sicherung auf das die FDP-Fraktion mit einem taufrischen Antrag un- Drucksache 15/3041 zu der Unterrichtung durch die terlegt. Im Juni 2000 – Sie verhören sich nicht! – hat der Bundesregierung über den Nationalen Aktionsplan für Bundestag erstmals eine Entschließung verabschiedet, in Deutschland zur Bekämpfung von Armut und sozialer der die Bundesregierung aufgefordert wurde, sich zügig Ausgrenzung für die Jahre 2003 bis 2005. Der Aus- und mit allem Nachdruck – im Jahr 2000: zügig und mit schuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine allem Nachdruck! – mit dem geltenden Unterhaltsrecht Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- zu befassen, es gründlich zu überprüfen und Vorschläge schlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstim- zu seiner Neuregelung einzubringen. Nachdem die Bun- men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist desregierung dieser Aufforderung fünf Jahre lang nicht mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die nachgekommen ist – tatsächlich liegt mir erst seit ges- Stimmen der Opposition angenommen. tern ein Referentenentwurf vor –, kann man wohl nicht 16816 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Sibylle Laurischk (A) davon sprechen, dass hier zügig und mit Nachdruck ge- Ganz wichtig scheint mir auch zu sein, Alleinerzie- (C) arbeitet worden ist. hende, egal ob sie nach einer Scheidung oder von vorn- herein als nicht eheliche Elternteile Erziehungsverant- (Joachim Stünker [SPD]: Aber der Entwurf ist wortung wahrnehmen, gleichzustellen, zumindest soweit gut und besser als Ihr Antrag!) dies verfassungsrechtlich möglich ist. Sicherlich müssen wir hierbei beachten, dass Art. 6 Grundgesetz Grenzen Die FDP-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, dass setzt. Aber die Tatsache, dass Alleinerziehende – sei es das Unterhaltsrecht dringend einer Überarbeitung be- nach einer Scheidung, sei es, ohne je verheiratet gewe- darf. Es ist kompliziert und für die Betroffenen undurch- sen zu sein – Verantwortung für Kinder tragen, muss un- sichtig. Unterhaltsrechtliche Regelungen finden sich terhaltsrechtlich angemessen gewürdigt werden. längst nicht mehr nur im Bürgerlichen Gesetzbuch, son- dern auch im Sozial-, Renten- und Steuerrecht. Das gel- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tende Unterhaltsrecht wird den sehr verschiedenen Fa- der CDU/CSU) cetten der Lebensgestaltung und Lebensplanung in unserer Gesellschaft nicht mehr gerecht. Die FDP-Bun- Ein anderes Stichwort ist die so genannte Sandwich- destagsfraktion schlägt daher eine Anpassung des Unter- generation. Zur Sandwichgeneration gehören die Men- haltsrechts mit folgenden Schwerpunkten vor: schen, die Kinder großziehen und gleichzeitig auch für alte Menschen Verantwortung tragen. Ihnen eine dop- Das Unterhaltsrecht ist grundlegend zu vereinfachen. pelte Unterhaltsverpflichtung aufzuerlegen erscheint mir Wir müssen eine Übereinstimmung mit dem Steuer- und nicht sachgerecht. Hierfür müssen wir angemessene Lö- Sozialrecht herstellen. Bestehende Widersprüche sind sungen schaffen, auch um die Motivation, nach wie vor aufzuheben, unterschiedliche Wertungen der Lebensum- für die Familie Sorge zu tragen, aufrechtzuerhalten. stände und nicht mehr zeitgemäße Privilegierungen sind abzuschaffen. Uns erscheint es im Übrigen wichtig, das Unterhalts- vorschussrecht zu straffen, zu modernisieren und dabei Unbedingten Vorrang bei dieser Reform hat für uns insbesondere die Kinder zu berücksichtigen, die zwölf die Sicherung des Kindesunterhalts. Kinder sind in zu- bis 18 Jahre alt sind und derzeit keine Ansprüche aus nehmendem Maße Sozialhilfeempfänger; wir haben es dem Unterhaltsvorschussrecht ableiten können. schon in der vorausgegangenen Debatte gehört. Mittler- weile sind über 1 Million Kinder tatsächlich von Sozial- Wir haben auch einen umfangreichen Vorschlag im hilfe abhängig. Durch einen Vorrang des Kindesunter- Rahmen unserer steuerrechtlichen Überlegungen einge- halts lässt sich dies ändern. Kinder erfahren dadurch bracht. Wir sind der Meinung, dass Steuerrecht und auch eine andere Wertung in ihrer rechtlichen Stellung. Unterhaltsrecht in Deckung gebracht werden können. (B) Wir sind bei dieser schwierigen Frage, der sich die Bun- (D) Wir müssen auch hinsichtlich der Zahlungsmoral desregierung bislang nicht gestellt hat, gut aufgestellt. eine andere Einstellung in unserer Gesellschaft schaffen. Immer mehr Zahlungspflichtige kommen ihrer Unter- Erlauben Sie mir noch ein Wort zur Großen Anfrage, haltspflicht nicht nach. Wer Kindesunterhalt nicht zahlt, die wir im Jahr 2004 mit insgesamt 86 Fragen gestellt macht sich zwar strafbar, aber tatsächlich wird dies als haben. Wir haben bisher keine Antwort darauf bekom- Kavaliersdelikt angesehen. Väter – in der Mehrzahl sind men. Vielmehr gab es im November einen Antrag auf Väter unterhaltspflichtig – sollten sich nicht nur als Fristverlängerung. Am 20. Mai gab es einen weiteren Zahlväter verstehen; sie sollten sich in ihrer Verantwor- Antrag auf Verlängerung vonseiten der Bundesregie- tung auch den gesellschaftlichen Realitäten stellen. Ich rung; die Verlängerung wurde gewährt. Die Bundestags- glaube, dass hier auch eine Debatte im sozialrechtlichen verwaltung hat eine Verlängerung der Beantwortungs- Rahmen notwendig ist. frist bis zum – man höre – 23. September 2005 notiert. Es mag ja sein, dass sich manche Dinge durch Liegen- Unterhaltsansprüche müssen grundsätzlich befristet lassen erledigen. Immer wieder erleben wir auch Bei- werden. Unterhaltsverpflichtungen als lebenslange Be- spiele für die Bestrafung dessen, der zu spät kommt. lastung sind nicht mehr zeitgerecht. Die FDP-Bundestagsfraktion hat sich völlig unabhän- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gig von der weiteren politischen Entwicklung – Dies wird von vielen Unterhaltspflichtigen geradezu als Strafe verstanden. Deswegen wird Unterhalt auch in im- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: mer weniger Fällen gezahlt. Frau Kollegin, Sie wissen, dass Sie Ihre Redezeit auch bei großzügigem Ermessen schon weit überschrit- Wenn neue Familien gegründet werden, gibt es bis- ten haben. lang immer noch eine Privilegierung der Erstehe und der Ansprüche aus der Erstehe. Auch insofern ist das Unterhaltsrecht zu reformieren, wobei wir natürlich da- Sibylle Laurischk (FDP): rauf achten müssen, dass bei Altehen, also solchen Ehen, – die Reform des Unterhaltsrechts vorgenommen. Die die noch unter dem geltenden Recht geschlossen worden FDP wird nicht lockerlassen. Die betroffenen Menschen sind, ein gewisser Vertrauensschutz bestehen sollte; warten darauf. diese Problemlage darf nicht einfach übergangen wer- den. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16817

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: – im Unterhaltsrecht nicht –, dass es sich hierbei um ein (C) Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär besonders schwieriges Problem handelt und dass man Alfred Hartenbach. sehr genau prüfen muss, was man macht. Genau dies haben wir getan. Wir haben – so läuft das Gesetzge- bungsverfahren ab – erste Vorstellungen erarbeitet, uns Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: angehört, was Praktiker dazu sagen, und mit Wissen- schaftlern geredet; dann haben wir erste Formulierungs- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und vorschläge gemacht. Herren! Die wesentlichen Inhalte der Reform des Unter- haltsrechts hat Frau Ministerin Zypries im September (Sibylle Laurischk [FDP]: Ich habe andere In- 2004 der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Reaktionen wa- formationen!) ren positiv. Inzwischen liegt ein Referentenentwurf vor, der den Ländern und Verbänden zugeleitet wurde. Auch Ich habe Frau Laurischk, Frau Granold und Frau Noll hier fallen die Rückläufe sehr positiv aus. darüber unterrichtet, was wir planen. Als ein guter Ver- treter der Bundesregierung habe ich die Opposition im- Wenn die FDP nun ein halbes Jahr später, nämlich im mer wieder darüber informiert, was wir vorhaben. April 2005, wesentliche Punkte dieses Vorschlags auf- greift und uns damit weitestgehend zustimmt, ist das zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sibylle mindest für mich ein willkommener Anlass, Ihnen un- Laurischk [FDP]: Sie haben bisher nichts vor- sere Reform vorzustellen. gelegt!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nun ist es so, dass man ein Gesetzgebungsvorhaben des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) auch abstimmen muss, erst einmal im eigenen Haus und dann mit den anderen Ressorts. Wenn 86 Fragen dazwi- Ich finde es etwas ärgerlich, liebe Frau Laurischk, schenkommen, dann müssen diese 86 Fragen in der glei- wenn Sie in einer Pressemitteilung schreiben, Ihr Fra- chen Weise verantwortlich abgestimmt werden. Das al- genkatalog – diese 86 Fragen, die Sie angesprochen ha- les braucht seine Zeit; es ist eben ein schwieriges ben – hätte der Ministerin den Anstoß für die Reform Problem. Wir werden das bis zum 23. September erle- des Unterhaltsrechts gegeben. Sie dürfen mir glauben: digt haben; das verspreche ich Ihnen. Am 5. Mai 2004, also an dem Tag Ihrer Anfrage, hatte die Frau Ministerin bereits ihre grüne Tinte unter das (Rainer Funke [FDP]: Herr Kollege, ist es Konzept gesetzt. nicht vielleicht doch eine – –) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Grüne Tinte?) (B) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (D) – Grüne Tinte, mein Lieber! Das erreichst du nie. – An- Das war, glaube ich, eine sehr ausführliche Antwort. dersherum wird ein Schuh daraus: Sie wussten genau, Haben Sie noch einen neuen Aspekt anzusprechen? was wir vorhatten. Rainer Funke (FDP): Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ist es nicht eine Missachtung des Parlamentes, wenn Gestatten Sie, Herr Staatssekretär, eine Zwischen- eine Große Anfrage anderthalb Jahre liegen bleibt und frage des Kollegen Funke? Sie parallel dazu ein Gesetz vorbereiten?

Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin der Justiz: desministerin der Justiz: Von Herrn Funke immer. Ich kann mich erinnern, dass auch wir in unserer Op- positionszeit lange auf Antworten gewartet haben. Ich Rainer Funke (FDP): entschuldige mich hier bei Ihnen; das tue ich wirklich Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, wenn Sie so gut mit Bedacht und gerne. Ich weiß, dass es lange gedauert auf die Reform vorbereitet gewesen sind, warum dauert hat. Aber, Herr Funke, Sie wollen doch gute Gesetze und es dann so lange, bis Sie die Fragen beantworten? gute Antworten haben und darum bemühen wir uns. (Sibylle Laurischk [FDP]: Fünf Jahre! – Zuruf (Rainer Funke [FDP]: Anderthalb Jahre!) von der SPD: Das wissen Sie doch selber!) Das ist keine Missachtung des Parlamentes. Ich habe – ich habe es eben gesagt – die von mir sehr geschätzte Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Rechtspolitikerin Laurischk desministerin der Justiz: (Rainer Funke [FDP]: Von mir auch!) Herr Funke, Sie wissen aus Ihrer achtjährigen Tätig- keit als Parlamentarischer Staatssekretär erst bei einer umgehend informiert und dazu beigetragen, dass sie Bundesministerin und dann bei einem Bundesminister 86 Fragen stellen konnte. Ich halte das für eine richtig der Justiz, während der Sie im Familienrecht nichts ge- gute Leistung der Bundesregierung. tan haben Jetzt kann ich es mir sparen, darauf einzugehen, dass (Rainer Funke [FDP]: Das ist nicht wahr!) ich Sie informiert habe und dass ich mir nicht sicher bin, 16818 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) ob eine anders gefärbte Bundesregierung so großzügig diejenigen, die es nötig haben, nämlich für die Kinder. (C) mit der Opposition verfahren wäre. Niemand kann das anders wollen; da darf natürlich auch die FDP nicht fehlen. Aber es gibt einen wichtigen Un- Meine Damen und Herren, immer mehr Ehen werden terschied: Anders als die FDP hat die Bundesregierung geschieden; immer mehr Menschen leben in so genann- ein familienpolitisches Gesamtkonzept. ten Zweit- und Drittfamilien zusammen. Sehr viele Kin- der leben bei Alleinerziehenden. Viele Menschen sehen Diese Bundesregierung hat alle Anstrengungen unter- in dieser Entwicklung das Resultat eines angeblichen nommen, um das Betreuungsangebot zu verbessern. Werteverfalls der letzten Jahrzehnte. Gegen Mütter und Wir haben dafür gesorgt, dass den Städten und Gemein- Väter, die nicht oder nicht mehr verheiratet sind, wird den seit dem 1. Januar 2005 jährlich 1,5 Milliarden Euro dabei oft unausgesprochen der Vorwurf erhoben, sie mehr für Betreuungsangebote zur Verfügung stehen. Bis seien egoistisch und nähmen keine Rücksicht auf das 2010 werden wir durch das neue Kinderbetreuungsaus- Wohl ihrer Kinder. baugesetz 230 000 zusätzliche Plätze in Kindertagesstät- ten, in Krippen oder bei Tagesmüttern schaffen. Ich möchte vor einer solchen Diskussion warnen. Sie ist schon historisch falsch. Im 19. Jahrhundert wurden in Daneben stellt der Bund bis 2007 den Ländern Deutschland mindestens 15 Prozent der Kinder nicht 4 Milliarden Euro für den Ausbau von Ganztagsschulen ehelich geboren. Eine Statistik verzeichnet beispiels- zur Verfügung. Dadurch haben Eltern bessere Möglich- weise für das Bayern des Jahres 1826 20 Prozent nicht keiten, auch mit Kindern weiterhin ihren beruflichen eheliche Geburten. Weg zu gehen. Dies kommt in erster Linie den berufstä- tigen Eltern und den allein erziehenden Müttern zugute. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Die haben es Es ermöglicht uns aber auch, den Zweitfamilien mit Kin- getrieben!) dern zu helfen, die heute häufig durch hohe Unterhalts- Für München im Jahr 1860, dem Gründungsjahr der Lö- zahlungen an den ersten Ehegatten belastet sind. So ge- wen, werden 50 Prozent nicht eheliche Geburten ver- ben wir den Unterhaltspflichtigen die Chance, trotz einer zeichnet. Bedingt durch die kürzere Lebenserwartung gescheiterten Ehe einen familiären Neuanfang zu wagen. haben Ehepaare früher faktisch nicht länger mit ihren Meine Damen und Herren, Deutschland sollte zu ei- Kindern zusammengelebt als heute. Heute leben Kinder nem familienfreundlicheren Land werden. Dafür steht länger in Gemeinschaft mit ihren leiblichen Bezugsper- diese Bundesregierung, auch im Unterhaltsrecht. Wir sonen als vor 100 Jahren. Der Erziehungswissenschaftler schulden es den heutigen und den kommenden Genera- Ladenthin hat darauf hingewiesen, dass sich die Men- tionen. schen nicht scheiden lassen, um aus der Ehe zu flüchten und alleine zu leben, sondern dass sie immer wieder die Vielen Dank. (B) (D) Formen von Ehe oder Lebenspartnerschaft suchen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir verfolgen daher mit unserer Reform zwei wesent- DIE GRÜNEN) liche Ziele: die Förderung des Kindeswohls und die Stär- kung der nachehelichen Eigenverantwortung. Der wich- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tigste Aspekt ist für uns das Kindeswohl. Künftig soll Ich habe die ganze Zeit gegrübelt, was im Jahr 1860 der Kindesunterhalt Vorrang vor allen anderen Unter- in München los war. haltsansprüchen haben. Aber hier bleibt unser Konzept nicht stehen. Auch die weitere unterhaltsrechtliche (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Da ist ein Fuß- Rangfolge wird konsequent am Kindeswohl ausgerich- ballverein gegründet worden!) tet. Deswegen sollen sich im zweiten Rang die Unter- – Das weiß ich. Aber was war außerdem? haltsansprüche aller Kinder betreuenden Elternteile gleichberechtigt wiederfinden. Mütter sollen die Chance (Zuruf von der CDU/CSU: Stromausfall! – haben, sich um ihre Kinder zu kümmern. Gleichgestellt Heiterkeit) werden nur langjährige Ehegatten, da hier über viele Es ist doch wirklich eine Frage, was der Fußballverein Jahre Vertrauen in die eheliche Solidarität gewachsen ist. mit den vielen unehelichen Kindern zu tun hat. Das zweite wesentliche Ziel der Reform ist die Stär- (Heiterkeit – Rainer Funke [FDP]: Eine sehr kung der nachehelichen Eigenverantwortung. Wir gute Frage!) wollen den Grundsatz der Eigenverantwortung daher ausdrücklich im Gesetz verankern. Außerdem sollen die Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb. Gerichte künftig mehr Möglichkeiten haben, den nach- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ehelichen Unterhaltsanspruch zeitlich zu befristen oder der Höhe nach zu begrenzen. Der in der Ehe erreichte Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Lebensstandard wird nicht mehr die entscheidende Rolle Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- spielen. Stattdessen wird es auf die persönliche Situation legen! In dieser Debatte geht es um einen Antrag und um der Betroffenen ankommen, etwa darauf, ob ein ausrei- eine Große Anfrage der FDP-Fraktion zum Unterhalts- chendes Betreuungsangebot für die Kinder zur Verfü- recht. Das ist ein wichtiges Thema und eine Reform des gung steht. Unterhaltsrechts ist schon lange überfällig. Das hat sich Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Unterhalts- auch aus den vorherigen Reden ergeben; es steht völlig rechtsreform führt zu mehr Verteilungsgerechtigkeit für außer Zweifel. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16819

Dr. Jürgen Gehb (A) Es war die CDU/CSU-Bundesregierung, die 1998 mit immer vorsichtig sein, wenn die Bundesregierung an- (C) der großen Kindschaftsrechtsreform den ersten Schritt kündigt, sie wolle irgendetwas an die neuen Verhältnisse machte. Die zeitnahe Folge hätte eine Reform des Unter- anpassen. haltsrechts sein müssen, was die 1998 gewählte Bundes- Der Vorrang der Kinder, deren Unterhalt gesichert regierung allerdings offensichtlich als nicht so dringlich sein muss, die Änderung der Rangverhältnisse, das Prin- einstufte. zip der nachehelichen Eigenverantwortung, all dies steht Meine Damen und Herren von der FDP, Ihre Initiati- im Antrag der FDP. Es stand auch schon in den vom ven gehen in die richtige Richtung; Sie stellen die richti- Bundesjustizministerium veröffentlichten Eckpunkten. gen Fragen, Fragen, die auch der Referentenentwurf der Es ist doch ganz klar – denn alle reden von Kindern, von Bundesregierung zur Änderung des Unterhaltsrechts, Kinderreichtum, von Kinderaugen; Kinder seien ein Se- über den wir in der Presse schon viel lesen durften, der gen –: Wenn das nicht zum bloßen Lippenbekenntnis uns aber erst seit gestern Abend im Wortlaut vorliegt, verkommen soll und wir nicht nur die Lippen spitzen, nicht vollständig beantwortet. sondern auch pfeifen, dann muss man – angelehnt an das Grundbuchrecht – bei der Behandlung der Rangfolge sa- Dennoch möchte ich eines loswerden, bevor ich mich gen: Die Kinder müssen an bereitester Stelle stehen. zum Thema selbst äußere: Warum wir hier und heute im Wortsinne debattieren sollen, ist mir – mit Verlaub, liebe (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kolleginnen und Kollegen von der FDP – nicht ganz neten der FDP) klar. Die Debatte im Parlament ist ein wichtiger Be- Das wollen wir, das haben wir immer gesagt und das standteil unseres parlamentarischen Verfahrens und sorgt wird auch so bleiben. im Idealfall sogar für einen Erkenntnisgewinn. Sie sollte Um die finanzielle Absicherung der Kinder – nicht doch so wenig wie möglich für reine Schauveranstaltun- ehelicher wie ehelicher – zu verbessern, sind klare ge- gen missbraucht werden. setzliche Vorgaben erforderlich, an denen sich die Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) richte auch orientieren können. Es reicht nicht, bloße, vage Vorgaben zu machen. Dann müssen wir wieder jah- – Das ist jetzt allerdings verdächtig. Applaus aus dieser relang auf eine ständige, gefestigte Rechtsprechung war- Ecke bringt mir zu Hause Ärger, Herr Stünker. ten. Allgemeine Vorstellungen sind zu wenig und die (Heiterkeit) Rechtsunsicherheit würde erhöht. Also bedarf es fester, sauberer Vorgaben. Bei allem Respekt: Ihr Wunsch, heute über diese Ini- tiativen zu debattieren, hat mit der Bedeutung und der (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sehr gut!) (B) Funktion der Bundestagsdebatte im parlamentarischen Obwohl wir eigentlich nicht über den Gesetzentwurf (D) Verfahren wenig zu tun. Abgesehen davon, dass sich in aus dem Bundesjustizministerium reden wollen, will ich den vergangenen Wochen bereits ein breiter Konsens eine Agenturmeldung von heute vorlesen. Heute Abend über den Reformbedarf im Unterhaltsrecht gezeigt hat, wird dies in „Panorama“ dargestellt; diese Meldung ist ist seit April – das Datum ist heute auch schon genannt aber schon vorab veröffentlicht worden: worden –, als Sie Antrag und Anfrage einbrachten, eini- Die von Justizministerin geplante ges passiert, wie wir alle wissen. Wie es aussieht, wird Reform des Unterhaltsrechts kann für die betroffe- die jetzige Bundesregierung ihren Gesetzentwurf nun nen Familien … zum Teil drastische finanzielle nicht mehr auf den parlamentarischen Weg bringen – je- Nachteile bringen. Der Gesetzentwurf sieht vor, den denfalls habe ich bis heute nichts anderes gehört – und Unterhaltsansprüchen von Kindern gegenüber de- wir werden uns mit diesem Thema zu einem späteren nen geschiedener und aktueller Ehepartner Vorrang Zeitpunkt ohnehin in der gebotenen Gründlichkeit und einzuräumen. Allerdings könne der Hauptverdiener mit der erforderlichen Akkuratesse beschäftigen müssen. gemäß dem Einkommensteuergesetz nur den an die Ob die heutige Debatte als eine Debatte über Ihren An- geschiedene Frau gezahlten Unterhalt steuerlich als trag oder vielmehr als vorgezogene Debatte über die Sonderausgaben absetzen … Dadurch sinke das Pläne der Bundesregierung zur Reform des Unterhalts- Nettoeinkommen und damit auch die Unterhalts- rechts wahrgenommen werden wird, wird sich noch zei- zahlungen, die daraus berechnet würden. Wie Pano- gen; es wird sich, wie wir in Kassel sagen, uswiesen. rama anhand eines Modellfalls vorrechnete, würde (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Das bei einer Familie mit zwei Kindern und einem Brut- habe ich auch verstanden!) toeinkommen von 2 300 Euro der Unterhalt für Mutter und Kinder von 665 auf 544 Euro sinken – Aber sei es drum: Sie haben sich die Arbeit gemacht, also ein Verlust von 121 Euro. Mühe investiert, die Anfrage und den Antrag zu formu- lieren, und so soll dies wenigstens gewürdigt werden. (Joachim Stünker [SPD]: Das stimmt nicht!) Bei höherem Verdienst und mehr Kindern könne Dass das Unterhaltsrecht an die gesellschaftlichen der Verlust sogar mehr als 200 Euro betragen … Rahmenbedingungen angepasst werden muss, ist – ich sagte es bereits – notwendig und überfällig. Die Bundes- (Joachim Stünker [SPD]: Nein!) regierung nennt den Reformbedarf in ihrem Gesetzent- „Einzige Profiteure der Reform sind die Finanz- wurf übrigens Anpassung an „geänderte gesellschaftli- minister von Bund und Ländern“ … che Verhältnisse und den eingetretenen Wertewandel“, meint damit aber wohl dasselbe. Man muss allerdings Genau das müssen wir verhindern. 16820 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Dr. Jürgen Gehb (A) Deswegen sollten wir es nicht dabei bewenden lassen, die ihre Kinder erziehen und Verantwortung dafür über- (C) das Unterhaltsrecht zu verändern, sondern sollten eine nehmen. Harmonisierung des Sozialrechts und des Steuerrechts flankierend mit erledigen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bitte schön. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz. Sibylle Laurischk (FDP): Frau Kollegin, Ihnen ist möglicherweise nicht aufge- fallen, dass wir den Vorschlag machen, den Unterhalts- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vorschuss für Kinder bis zum 18. Lebensjahr zu verlän- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gern. Unser Vorschlag ist durchaus ein Plus und führt zu Im Vordergrund dieser Debatte heute steht das Kindes- einer positiven Entwicklung im Unterhaltsvorschuss- wohl. Es sind sich, wie ich heute zusammenfassen recht. Das übergehen Sie bei Ihrer Bemerkung. Ich würde, alle einig, dass dies auch so sein muss. würde gerne Ihre Einschätzung dazu hören. In der Tat gibt es gesellschaftlich veränderte Ver- hältnisse und einen gewissen Wertewandel. Darauf Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): muss die Politik reagieren. Die Politik muss vor allem Frau Kollegin, Sie dürfen nicht vom Thema ablenken. im Bereich des Unterhaltsrechts darauf reagieren, dass die Scheidungszahlen in Deutschland nach wie vor stei- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ gen, es immer mehr Zweitfamilien bzw. Patchworkfami- DIE GRÜNEN und der SPD) lien gibt, die Zahl der Kinder, die in nicht ehelichen Le- Über eine Verlängerung bis zum 18. Lebensjahr kann bensgemeinschaften oder bei Alleinerziehenden leben, man debattieren. Das habe ich jetzt aber gar nicht ange- täglich zunimmt und sich die Rollenbilder in dieser Ge- sprochen. Ich habe angesprochen, dass Unterhaltszah- sellschaft und die Verantwortungsaufteilung innerhalb lungen nur noch 24 Monate lang vorgeschossen werden der Partnerschaft bzw. der Ehe verändert haben. Wir sind sollen. Kommen Sie doch einmal in die Lebenswirklich- gezwungen, im Bereich des Scheidungsrechts, des Un- keit von Müttern mit jüngeren Kindern! terhaltsrechts, überall dort, wo Familien betroffen sind, (B) darauf zu reagieren und richtige Antworten zu geben. (Sibylle Laurischk [FDP]: Ich kenne die Le- (D) benswirklichkeit von Müttern, auch mit älteren Was machen wir? Wir ändern die Rangfolge im Un- Kindern!) terhaltsrecht; das wurde vom Staatssekretär vorgestellt. Wir sagen: Kinder haben Vorrang im Sinne des Kindes- Gerade wenn die Kinder jünger sind, können sie oft wohls. Wir wollen sie stärken. Fraglos ist eines für uns nicht arbeiten. Einen 16-Jährigen kann man nachmittags Grüne ganz wichtig: dass es bei langen Ehezeiten eine durchaus einmal ein, zwei Stunden alleine lassen. Bei ei- gewisse Bestandsschutzgarantie geben muss. Dies ge- nem Zehnjährigen wird es schon schwieriger. hört dazu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Genau dies ist im FDP-Antrag enthalten. Man braucht und bei der SPD) nicht unter den Teppich zu kehren, dass Sie im Wesentli- Ich bin keine Juristin, aber ich bin Familienpolitikerin chen genau das wollen wie wir. Auch die CDU/CSU hat und Mutter. Ich kenne die Lebenswirklichkeit. Ich kenne bisher nicht widersprochen. Ich hoffe sehr, dass dieser auch die Situation der Alleinerziehenden. Teil des Gesetzentwurfes umgesetzt wird, egal wie die Wahl ausgeht, wobei ich ziemlich zuversichtlich bin, (Sibylle Laurischk [FDP]: Wollen Sie denn dass wir diejenigen sind, die das umsetzen werden. Betreuungsleistungen nicht ausweiten?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Da brauchen Sie mir nichts zu erzählen. Die Frauen, die und bei der SPD) auf Unterhaltszahlungen angewiesen sind, weil sie nicht arbeiten können, weil der Kindergarten um 12 Uhr An einem Punkt aber trübt sich das Bild, das die FDP schließt oder weil sie nur einen Teilzeitjob annehmen, hier abgibt. Sie fordert nämlich, die Bezugsdauer von um für ihre Kinder da zu sein, dürfen Sie nicht alleine Unterhaltsvorschussleistungen für Alleinerziehende lassen. von 72 auf 24 Monate zu verkürzen. Wen erreichen Sie damit? Das ist ein Schlag in die Gesichter der Familien, Aber genau das machen Sie. Sie tun so, als wären die die von diesen Zahlungen abhängig sind. Das ist ein Frauen selber an ihrer Lage schuld, als hätten sie ge- Schlag in die Gesichter alleinerziehender Mütter, die da- nauso gut verheiratet bleiben können. Das ist ein Hohn von abhängig sind und ohnehin schon eine Mehrbelas- für die Situation alleinerziehender Frauen. tung hinnehmen müssen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Sibylle Laurischk [FDP]: und bei der SPD) Ich habe eine Zusatzfrage!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16821

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: zahlen könnten, stehlen sich aus ihrer Verantwortung. (C) Wollen Sie eine Nachfrage stellen? Ich will, dass sie ihre Verantwortung auch weiterhin tra- gen. Wir setzen uns dafür ein, dass regelmäßig Unter- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): haltszahlungen geleistet werden. Ich freue mich. Von der Reform, die wir vorschlagen – das ist die Grundessenz –, erhoffen wir uns, dass über die Koppe- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: lung an die Kinder die Bereitschaft steigt, in Zukunft re- Im Interesse aller bitte ich darauf zu achten, jetzt kurz gelmäßig Unterhalt zu zahlen. Vom Anspruchsvorrang zu fragen. Ich habe jetzt sehr viele Zwischenfragen zu- erhoffen wir uns auch, dass sich die Väter ihrer Verant- gelassen. wortung gegenüber ihren Kindern bewusst werden. Wir erhoffen uns noch mehr: dass bei zukünftigen gerichtli- Sibylle Laurischk (FDP): chen Entscheidungen beiden Elternteilen stärker ver- Eine ganz kurze Frage. Ihren Ausführungen entnehme deutlicht wird, dass sie eine gemeinsame Verantwortung ich, dass Sie die Kinderbetreuungsmöglichkeiten nicht für ihre Kinder haben. Nicht zuletzt wollen wir die Kom- ausbauen wollen? munen und die Länder dazu bewegen, sich stärker dafür einzusetzen, dass das Geld, das die Väter ihren Kinder schuldig bleiben, auch eingetrieben wird. Denn die Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rückholquote der Kommunen und Länder liegt derzeit Nein, Frau Kollegin. Das können Sie vielleicht in ei- bei nicht einmal einem Viertel; sie ist viel zu niedrig. ner Gerichtssituation machen. Aber es ist Quatsch, aus- gerechnet mir das vorzuwerfen. Ich war doch die Abge- Es geht darum, die Rechte unserer Kinder durchzuset- ordnete, die den Ausbau der Kinderbetreuung für zen, die Verantwortung der Väter bzw. der unterhalts- Kinder unter drei Jahren und der Ganztagsschulen ver- pflichtigen Menschen zu stärken und sie zu unterstützen, handelt hat. Wir Grünen gehen ja noch viel weiter. Wir sie aber auch aufzufordern, sich ihrer Verantwortung zu haben Konzepte, die wir im Wahlkampf bringen wollen, stellen. Eine Verkürzung der Bezugsdauer ist der falsche in denen es gerade darum geht, Kinderbetreuung zuver- Weg. Der richtige Weg sind die Vorrangleistung für Kin- lässig auszubauen. Das ist nicht nur gut für die Eltern im der und alle Maßnahmen, die die Situation Alleinerzie- Sinne der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sondern hender verbessern. Dafür stehen wir und dafür wird die auch gut für die Kinder im Sinne der Frühförderung. Politik der Grünen auch in Zukunft stehen. Dass ausgerechnet die FDP, die zum ersten Mal in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieser Wahlperiode das Wort „Kinder“ in den Mund und bei der SPD) (B) nimmt, (D) (Lachen und Widerspruch bei der FDP) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Kollegin Ute Granold. jetzt einen solchen Vorwurf macht, finde ich in der Tat zum Lachen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Re- (Beifall bei der CDU/CSU) aktion ist da goldrichtig. Mehr haben Sie nicht zu bieten. (Widerspruch des Abg. Ernst Burgbacher Ute Granold (CDU/CSU): [FDP]) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle- ginnen und Kollegen! Kommen wir zurück zum Thema: Da kann man nur sagen: Setzen! Das Einzige, was Sie zu bieten haben, geht an der Lebenswirklichkeit der Men- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sehr gut!) schen vorbei. Heute geht es nicht um die Änderung des Unterhaltsvor- (Beifall des Abg. Rainder Steenblock [BÜND- schussgesetzes, sondern um den Antrag der FDP zur Än- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Manfred Grund derung des Unterhaltsrechts. [CDU/CSU]: Dummes Getöse!) Was zum Thema Untätigkeit gesagt wurde, kann ich Sie behaupten, ein sozial gerechtes und verantwor- nur bestätigen: Jahrelang wurde nichts getan. Herr Kol- tungsvolles Unterhaltsrecht zu fordern. Was Sie machen, lege Hartenbach, in der Tat waren die Kollegin Noll und ist das pure Gegenteil. Das ist ein Schlag in die Gesich- ich zu Beginn der Legislaturperiode 2002 bei Ihnen, al- ter der Mütter, in die Gesichter der Menschen, die Ver- lerdings nicht zu einer Unterrichtung, sondern, um anzu- antwortung in der Erziehung übernehmen. mahnen, dass speziell in den Bereichen Unterhaltsrecht und Versorgungsausgleich etwas getan werden muss. Im Jahr 2003 haben 500 000 Kinder Unterhaltsvor- Das war das Thema, Kollege Hartenbach. schussleistungen vom Staat bekommen. Ich will jetzt nicht die Väter vorführen, aber es sind nun einmal in der (Beifall bei der CDU/CSU) Tat die Väter, die nicht zahlen. Es ist vielleicht nicht so Kollege Gehb hat vorhin angesprochen, dass die bekannt, dass ein Drittel der Väter gar nicht zahlt und ein CDU/CSU-FDP-Regierung 1998 die große Kindschafts- weiteres Drittel unregelmäßig zahlt. Das heißt, sie sind rechtsreform auf den Weg gebracht hat. Als Konsequenz säumig. daraus wäre es zwingend notwendig gewesen, das Un- Darunter sind auch diejenigen, die mittel- und arbeits- terhaltsrecht zu reformieren. Aber Sie lamentieren nur los sind. Diese Personen nehme ich aus. Aber viele, die und beklagen sich über die Situation in Deutschland: 16822 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Ute Granold (A) dass die Unterhaltspflichtigen säumig sind und dass aus – Es reicht, ich kann es nicht mehr hören. Wissen Sie, (C) den Unterhaltsvorschusskassen keine Zahlungen geleis- Sie sind sieben Jahre an der Regierung. Jetzt sind Sie tet werden. Aber es wird nichts getan. noch ein paar Monate dran und dann, Gott sei Dank, weg. Dann können wir das, was 1998 erforderlich gewe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sen wäre, für die Menschen in unserem Land weiterfüh- Im Jahre 2000 hat der damalige Bundestag die Bun- ren. desregierung aufgefordert, das Unterhaltsrecht zu refor- Die Scheidungsquote ist in den letzten zehn Jahren mieren. Nun schreiben wir das Jahr 2005. Erst gestern um 35 Prozent gestiegen. Eine zunehmende Zahl von Abend haben wir einen 56-seitigen Referentenentwurf Zweitehen mit Kindern hat doch heute kaum eine Exis- zu dieser Debatte bekommen, die wir heute auf Anstoß tenzchance. der FDP-Fraktion führen. Ich denke, hätte die FDP die- sen Anstoß nicht gegeben, hätten wir gestern Abend (Daniela Raab [CDU/CSU]: Genau!) auch keinen Referentenentwurf bekommen. Wir haben eine zunehmende Zahl von Alleinerziehen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den, eine veränderte Verteilung der Rollen in der Fami- lie, wirtschaftliche Engpässe durch die hohe Arbeitslo- Das Einzige, was damals unternommen wurde – das sigkeit sowie rückläufige Kinderzahlen, auch wegen der ist unglaublich –, war, dass ein Eckpunktepapier mit unglaublichen Benachteiligungen und Ungerechtigkei- Datum vom 1. November 2004 erarbeitet wurde. Die ten im Unterhaltsrecht, Vorschläge dieses Papiers gehen in die richtige Rich- tung. Darin heißt es – das ist unbestritten –, dass die Pri- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – vilegierung der Kinder und die Stärkung der Eigenver- Joachim Stünker [SPD]: Das ist ja wohl der antwortlichkeit nach der Ehe notwendig sind. Dann wird Hammer! Wo ist Ihr Entwurf? Das ist unglaub- lange in die richtige Richtung diskutiert und angekün- lich!) digt, dass man in Kürze einen ausgearbeiteten Entwurf und vieles andere mehr. bekommen wird. Diesen Entwurf haben wir auch be- kommen: am 6. Mai 2005. (Dirk Manzewski [SPD]: Wo ist denn Ihr Entwurf?) (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sa- gen Sie einmal etwas zur Sache!) Sie wissen es und haben trotzdem jahrelang nichts getan. Was gefordert wird, ist eine Vereinfachung des Unter- Man höre und staune: Es handelte sich wiederum um das haltsrechts, transparent, einfach, gerecht und der Le- Eckpunktepapier, versehen mit dem Zusatz, dass diese benswirklichkeit entsprechend. (B) Reform im Jahre 2006 greifen wird. Mehr ist nicht ge- (D) schehen. Ich muss Ihnen sagen: Die Art und Weise, in Der Antrag der FDP geht in die richtige Richtung. Ich der angesichts der Bedeutung dieses Themas mit einem habe den Referentenentwurf – 56 Seiten – in der Kürze umgegangen wird, ist schier unglaublich. der Zeit überflogen. Die Privilegierung der Kinder – sie sollen den ersten Rang bekommen – steht außer Frage. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Auch die Mütter und Väter, die Kinder betreuen, sollen Hans-Michael Goldmann [FDP]: Eine Bla- geschützt werden, wobei hier natürlich berücksichtigt mage!) werden muss, wie die Betreuungslandschaft bei uns in Von den Betroffenen, den Verbänden und den Deutschland aussieht: hundsmiserabel. Nicht nur das: Gerichten wissen Sie: Es wurde angemahnt, dass das Wenn wir keine gescheite Kinderbetreuung haben und Unterhaltsrecht dringend zu novellieren ist. Das Bundes- keine Arbeitswelt, die auf die Familien Rücksicht verfassungsgericht hat sich mit dem Grundgesetz behol- nimmt, fen. Der Bundesgerichtshof hat fortlaufend neue Pflöcke (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eingeschlagen. Die Oberlandesgerichte haben ihre Leit- NEN]: Warum haben Sie dann gegen den Aus- linien verfeinert, um den Familiengerichten auf der un- bau der Kinderbetreuung gestimmt?) tersten Ebene für ihre tagtägliche Arbeit einen Leitfaden an die Hand zu geben. Es kam zu Handlungsaufforde- dann ist es sehr schwierig, insbesondere den Frauen auf- rungen der obersten Gerichte, zum Beispiel zum Fami- zuerlegen, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. lienlastenausgleich und zum Ehegattensplitting. Aber bis Auch darüber müssen wir einmal nachdenken. Wir dür- zum heutigen Tage wurde nichts getan. Kollege Gehb fen nicht immer nur fordern, sondern müssen auch die hat vorhin zu Recht gesagt, dass das Sozialrecht – das Voraussetzungen dafür schaffen. Steuerrecht flankierend – mit eingearbeitet werden muss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch in dieser Hinsicht ist nichts geschehen. Die Kollegin von der FDP hat etwas Wichtiges ange- (Joachim Stünker [SPD]: Das hättet ihr ja sprochen: Die Sandwichgeneration – die heute 40- bis 16 Jahre lang machen können!) 60-Jährigen –, die auf der einen Seite eine Unterhaltsver- Der Druck aus der Bevölkerung – – pflichtung gegenüber ihren Kindern haben, die in der Ausbildung sind, aber auf der anderen Seite auch die (Joachim Stünker [SPD]: Ihr hättet ja 16 Jahre Verpflichtung, ihre Eltern im Alter finanziell zu unter- etwas machen können! – Weiterer Zuruf von stützen, ist arg belastet. Auch hier muss dringend eine der SPD: Reden Sie doch nicht so schnell!) Regelung her. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16823

Ute Granold (A) (Joachim Stünker [SPD]: Da bin ich ja ge- auf gesellschaftliche Veränderungen und gewan- (C) spannt, was kommt! Die Milliarden will ich delte Wertevorstellungen reagieren. sehen!) Eine sehr richtige Erkenntnis, nur leider viel zu spät: Ein Es gibt viele Punkte, viele Baustellen im Unterhalts- Handlungsauftrag besteht seit dem Jahre 2000. Wir ha- recht, die geklärt werden müssen, die zum Teil im Refe- ben jetzt 2005. Gestern endlich kam ein Papier. Was da- rentenentwurf nicht enthalten sind. Das ist die Bemes- mit passiert, wissen wir aber alle selbst. sungsgrundlage des Unterhalts, das sind Maß, Höhe und Hoffen wir, dass die neue Regierung als erstes das Dauer des Unterhalts und vieles andere mehr. Unterhaltsrecht in Angriff nimmt und eine Regelung für (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die vielen Menschen in unserem Land herbeiführt, die NEN]: Einmal die Luft anhalten! – Joachim angemessen und gerecht ist. Stünker [SPD]: Luft holen!) Herzlichen Dank. Wenn Sie eine Akzeptanz in der Bevölkerung für das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Unterhaltsrecht wollen, müssen Sie die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen, wenn sie Unterhalts- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schulden haben, diese tatsächlich begleichen. Es ist ein Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine Bätzing. Skandal, dass heute mehr als 1 Million Kinder in der So- zialhilfe leben. Es ist ein Skandal, dass nur 50 Prozent der Unterhaltsschuldner ihre Leistungen erbringen und Sabine Bätzing (SPD): der Rest gar nichts zahlt oder nur einen Teil des Unter- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und halts. Die Unterhaltsvorschusskassen leisten 800 Millio- Kollegen! Wenn ich mir den FDP-Antrag ansehe, muss nen Euro Unterhalt im Jahr. 22 Prozent davon werden ich schon sagen: Ich freue mich über das Ansehen – der zurückgeholt. Das leisten der Bund, die Ländern und die Parlamentarische Staatssekretär hat das auch zum Aus- Kommunen. Das sind Steuergelder, obwohl normaler- druck gebracht –, das unsere Bundesregierung bei den weise der Unterhaltsschuldner zahlen müsste. Darüber Liberalen zu genießen scheint. Denn es entsteht schon müssen wir nachdenken. ein bisschen der Eindruck, dass der von Ministerin Zypries vorgelegte Referentenentwurf zur Reform des Es ist schon richtig, wenn die Kollegin sagt, das Un- Unterhaltsrechts als Vorlage bei der Formulierung terhaltsvorschussgesetz muss ein Stück weit geändert diente. werden, weil mit dem 12. Lebensjahr des Kindes die Leistungen eingestellt werden. Was ist denn mit einem (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das kann aber (B) 13- oder 14-jährigen Kind? nicht sein: Der ist erst danach gekommen!) (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, das macht gar nichts; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und denn wir sind froh, dass Sie anders als die Union wirk- der FDP) lich konkrete Vorschläge vorgelegt haben. Frau Granold, Sie wollen ja wohl nicht behaupten, dass sie voll im Er- ich wäre sehr gespannt, was Ihre kommunalen Spitzen- werbsleben stehen. verbände zu den Unterhaltsvorschussleistungen sagen würden, wenn Sie ihnen das einmal vorschlagen würden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Auch diese Kinder verdienen Schutz. Die Kinder brau- chen einen Schutz, und zwar gerade dann, wenn die El- Wir dürfen also hoffen, dass der Gesetzentwurf der Bun- tern sich trennen, wenn alles chaotisch ist, wenn die fi- desregierung besonders im parlamentarischen Verfahren Ihre Zustimmung finden wird. nanziellen Verhältnisse geregelt werden müssen. Dann darf nicht differenziert werden zwischen einem neunjäh- Lassen Sie mich die Gunst der Zustimmung nutzen rigen Kind und einem zwölfeinhalbjährigen Kind. Das und nochmals kurz erläutern, für wen und warum wir kann nicht sein und wir kämpfen dafür, dass hier ein diese Gesetzesänderung anstreben. Das bestehende Un- Stück weit Ordnung einkehrt und insbesondere niemand terhaltsrecht ist fast 30 Jahre alt und entspricht weder mehr auf den Unterhaltsvorschuss angewiesen ist. den heutigen Vorstellungen eines Familienlebens noch der Wirklichkeit. Die Fakten – wir haben es mehrfach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gehört – dokumentieren die Notwendigkeit einer grund- der FDP) legenden Änderung beim Unterhaltsrecht zum Wohle Lassen Sie mich ganz am Schluss aus dem Referen- der Betroffenen. Darin sind wir uns hier in diesem Ho- tenentwurf – wir werden ihn in den Beratungen noch hen Hause auch einig. Wir verzeichnen nämlich einen eingehend zu prüfen haben – zitieren. Auf Seite 12 steht: stetigen Anstieg von Ehescheidungen und eine Zunahme der Anzahl von Zweitfamilien. Wir haben auch schon Das Unterhaltsrecht ist in besonderer Weise auf die gehört, dass sich die Anzahl von Kindern, die in nicht Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger angewie- ehelichen Lebensgemeinschaften aufwachsen oder mit sen. Um diese Akzeptanz auf Dauer zu bewahren, ihren alleinerziehenden Eltern zusammenleben, erhöht. muss es zeitnah Mit der geplanten Unterhaltsrechtsreform möchten – zeitnah! – wir auf die veränderten Wertevorstellungen und den 16824 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Sabine Bätzing (A) damit verbundenen Wandel der Lebensformen reagie- jährige Kinder die Harmonisierung des Unterhaltsrechts (C) ren. Dabei ist für uns eines klar: Familie ist dort, wo mit dem steuer- und sozialrechtlichen Existenzminimum Kinder sind. Das zentrale Anliegen unserer Reform ist erreichen. von daher die Stärkung des Kindeswohls. Darum muss Trotz dieser vielen Übereinstimmungen werden wir dem Anspruch auf Kindesunterhalt erstrangig vor sämt- Ihren Antrag momentan aber noch ablehnen müssen, lichen weiteren Unterhaltsansprüchen Rechnung getra- weil wir uns bei einigen Detailforderungen einfach noch gen werden. Den zweiten Rang nach den Kindern neh- zu sehr unterscheiden. Wir sind aber sicher, dass wir im men die Elternteile ein, die mit ihren Kindern späteren Verfahren noch die eine oder andere Einigung zusammenleben, und zwar unabhängig vom Familien- finden werden. stand. Damit steht die nicht verheiratete Mutter also gleichberechtigt neben verheirateten oder geschiedenen Ich möchte die Details noch kurz benennen. Wir kön- Müttern. Damit werden wir unserer Ansicht nach auch nen der vollständigen Harmonisierung des Unterhalts- dem veränderten Rollenverständnis der Frauen gerecht. rechts mit dem Sozialrecht nicht zustimmen. Sie müssen Sie wollen unabhängig sein. Das zweite Ziel unserer Re- einfach sehen, dass die Bereitschaft zur Solidarität inner- form ist deshalb auch die Stärkung der nachehelichen halb einer Familie höher ist als die der Gesellschaft ge- Eigenverantwortung. genüber den Bedürftigen. Diesen Umstand kann und darf der Gesetzgeber nicht ignorieren. Etwas anderes gilt (Beifall des Abg. Dirk Manzewski [SPD]) bei der Festsetzung des Existenzminimums. Dem haben Hinzu kommt, dass Zweitfamilien durch die kaum wir ja mit Blick auf die Kinder durch die Harmonisie- vorhandene Möglichkeit der Befristung – wir haben es rung Rechnung getragen. erwähnt – oder Beschränkung von Unterhaltsansprüchen Wie gesagt, Ihr Antrag kommt unseren Reformvor- über Gebühr belastet werden und die Gerichte – das schlägen entgegen. Das eine oder andere Detail unter- kommt noch hinzu – von den bestehenden Möglichkei- scheidet uns noch. Aber aus den genannten Gründen ten kaum Gebrauch machen. Klar ist für uns von daher, werden wir Ihren Antrag heute leider ablehnen müssen. dass wir auch hier handeln müssen. Deswegen geben wir den Gerichten mit unserem Entwurf stärker als bisher (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was?) Möglichkeiten an die Hand, den Unterhalt zu befristen oder in seiner Höhe zu begrenzen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir handeln mit diesem Referentenentwurf bestimmt, Bitte denken Sie an Ihre Redezeit. aber mit Maß und Ziel; denn es gibt Lebensumstände und Biografien, die eine besondere Berücksichtigung Sabine Bätzing (SPD): (B) und einen besonderen Schutz verdienen. Darum gehören Gerade die Unterhaltsrechtsauseinandersetzungen be- (D) lange miteinander verheiratete Ehegatten, die auch nach lasten die am meisten, die wir am meisten beschützen Beendigung ihrer Ehe auf die eheliche Solidarität ver- wollen, unsere Kinder. Von daher bin ich mir sicher, dass trauen sollen, ebenfalls in den zweiten Rang. Bei den be- wir hier im Hohen Hause im Sinne unserer Kinder und sonderen Biografien haben wir auch an jene Ehegatten eines respektvollen Umgangs zwischen Menschen, die gedacht, die sich mit ihrem Partner auf eine bestimmte füreinander Verantwortung tragen, im Rahmen des par- Rollenverteilung geeinigt und im Vertrauen darauf auf lamentarischen Verfahrens auf der Basis unseres Refe- eine Erwerbstätigkeit verzichtet haben. rentenentwurfs zu einer guten und pragmatischen Lö- sung kommen werden. (Beifall bei der SPD) Danke schön. Die Detailfragen, die sich hieraus ergeben – darüber gibt es sicherlich noch jede Menge Diskussionen –, werden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir dann gemeinsam im parlamentarischen Verfahren er- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) örtern. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das dritte Ziel, das wir mit unserer Reform verfolgen, ist die Vereinfachung des Unterhaltsrechts. Frau Ich danke auch und schließe damit die Aussprache zu Laurischk, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen diesem Punkt. – auch in Ihrem Antrag –, dass das Unterhaltsrecht für Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf die Betroffenen nur schwer verständlich ist. Drucksache 15/5369 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie bitte verstanden? – mal zum Thema!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Natürlich!) Von daher sieht das Bundesjustizministerium bei der Re- form eine klare und plausible Regelung der Rangfolge Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- vor. Wir wollen die verstreuten Befristungsregelungen sen und die Vorlagen sind mit Begeisterung überwiesen. zusammenfassen und das komplizierte Verfahren der Re- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: gelbetragsverordnung ersetzen. Hier verweisen wir auf das Steuerrecht. Damit entfällt auch die bisher notwen- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dige Fortschreibung. Schließlich wollen wir durch die richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und gesetzliche Definition des Mindestunterhalts für minder- Wohnungswesen (14. Ausschuss) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16825

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Annette keit und persönliche Eignung für die Erteilung und Fort- (C) Faße, Uwe Beckmeyer, Gerd Andres, weiterer dauer der Gültigkeit der Befähigungszeugnisse stärker Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie berücksichtigt werden müssen. Es ist erfreulich, dass alle der Abgeordneten Rainder Steenblock, Albert Fraktionen den Handlungsbedarf erkannt haben. Die Schmidt (Ingolstadt), Volker Beck (Köln), wei- Ziele und Wege waren bzw. sind allerdings unterschied- terer Abgeordneter und der Fraktion des lich. Ich begrüße nachdrücklich, dass wir heute einen ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN meinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD und Grünen be- raten. Verkehrssicherheit in der Seeschifffahrt ver- bessern – Alkoholmissbrauch konsequent be- Zu den notwendigen Schritten unseres Präventions- kämpfen und Sanktionskonzeptes zählen wir neben der generellen Herabsetzung der Promillegrenze die Einführung der – zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Nullpromillegrenze für besonders gefährliche Gefahr- Börnsen (Bönstrup), Dr. Ole Schröder, Dirk guttransporte. Fischer (Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Promillegrenze in der Seeschifffahrt Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans- Das sind Tankschiffe, die besonders gefährliche Stoffe, Michael Goldmann, Daniel Bahr (Münster), zum Beispiel flüssige Gase, flüssige Chemikalien sowie Horst Friedrich (Bayreuth), weiterer Abgeord- umweltschädliche Güter, transportieren, und Schiffe, die neter und der Fraktion der FDP radioaktive Stoffe und Abfälle befördern. Bessere Möglichkeiten im Kampf gegen Trun- Zurzeit darf zum Beispiel ein Kapitän nach einer Aus- kenheitsfahrten in der Seeschifffahrt schaffen nüchterung sein Schiff weiter führen, obwohl seine Al- – Drucksachen 15/4942, 15/4383, 15/3725, koholwerte darauf hindeuten, dass er alkoholabhängig 15/5514 – sein könnte. Hier ist eindeutig eine Regelungslücke. Dies räume ich klar und deutlich ein. Künftig soll es die Berichterstattung: Möglichkeit geben, ihm vorläufig das Patent zu entzie- Abgeordnete Annette Faße hen. Ein Kapitän soll nach einem alkoholbedingten See- Wolfgang Börnsen (Bönstrup) unfall oder einer Trunkenheitsfahrt bis zu seiner Ver- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die handlung nicht mehr am Ruder stehen. (B) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ein deut- (D) keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. scher Kapitän!) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Die Grenzen zwischen einem Beinaheunfall, einem die Abgeordnete Annette Faße. leichten Unfall und einer reinen Trunkenheitsfahrt sind (Beifall bei Abgeordneten der SPD) häufig fließend. Wir wollen nicht warten, bis weiterhin Unglücke, die auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind, geschehen. Wir wollen bei Trunkenheitsfahrten auch Annette Faße (SPD): ohne konkrete Gefährdung bereits einschreiten. Die pa- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tentausstellende Behörde soll die Befugnis erhalten, das Was für den Straßenverkehr zählt, soll künftig auch in vorläufige Ruhen der Erlaubnis anzuordnen. Die WSD der Seeschifffahrt gelten. Die Beeinträchtigung der Fahr- Nord wird den Führerschein bzw. das Berufspatent vor- tauglichkeit durch Alkoholgenuss ist in der Seeschiff- läufig beschlagnahmen können, wenn ein Schiff trotz al- fahrt nicht anders zu beurteilen als im Straßenverkehr koholbedingter Fahrunsicherheit geführt wird und das zu oder in der Binnenschifffahrt. einer konkreten Gefährdung Dritter führt. Wir wissen, Derzeit gilt für das Befahren deutscher Seeschiff- dass wir damit einen tiefen Eingriff in die Berufsfreiheit fahrtsstraßen eine Promillegrenze von 0,8. Demgegen- vornehmen. Es ist für einen Kapitän sehr schwierig, über liegt die Alkoholgrenze in der Binnenschifffahrt denn ohne Patent darf er logischerweise seinen Beruf und im Straßenverkehr bereits bei 0,5 Promille. Diese nicht ausüben. unterschiedliche Regelung ist nicht zu rechtfertigen. Der (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das darf ein Handlungsbedarf ist unstrittig. Wir möchten mit unse- LKW-Fahrer auch nicht!) rem Antrag unter anderem erreichen, dass die Alko- holgrenze von 0,5 Promille generell für den Verkehr auf Ich hoffe hier auf die abschreckende Wirkung unserer See gelten soll. Die Herabsetzung der Promillegrenze Regelung. soll für Schiffsführungspersonal einschließlich der Be- Wir wollen diese Änderungen in einem Verfahren, satzung während der Dienstzeit für das Befahren deut- das keine Änderung des SUG nötig macht. Das möchte scher Seeschifffahrtsstraßen und weltweit für deutsche ich hier ganz klar sagen. Wir wollen den präventiven Be- Schiffe und für die Sportschifffahrt gelten. reich durch regelmäßige Gesundheitsuntersuchungen Das Sicherheitskonzept der Bundesregierung beruht weiter ausdehnen. Wir wollen auch verstärkte Kontrol- zu einem wesentlichen Teil auf dem Präventionsgedan- len in den Häfen haben. Das halten wir für notwendig; ken. Dazu gehört auch, dass Kriterien wie Zuverlässig- denn sonst brauchen wir keine verschärften Regelungen. 16826 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Annette Faße (A) Wir wollen das zentrale Überwachungsregister beim Der gemeinsame Antrag, den wir vorgelegt haben, (C) BSH in Hamburg ermächtigen, vorläufige Patententzie- zeigt aber auch den Kurs von Verantwortung und von hungen und Fahrverbote in die Kartei aufzunehmen. Mit Vernunft. Wir haben in Europa unterschiedliche Rege- der IMO – wir befinden uns hier im internationalen Be- lungen in Bezug auf die Mitnahme bzw. den Konsum reich – sind bereits Kontakte aufgenommen worden, da- von Alkohol. Bei den Italienern gibt es zum Beispiel mit die Regelungen, die für Deutschland gelten sollen, überhaupt keine Begrenzung. Die Engländer und Hol- auch international auf fruchtbaren Boden fallen. länder haben eine 0,5-Promille-Grenze, aber in anderen Ländern gelten Grenzen von 0,8 Promille und mehr. Es (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Soll das ein besteht insofern eine unterschiedliche Ausgangslage für Witz sein?) die Schiffsführer in Europa. Wir müssen zu einer Verein- Denn wir haben es nicht nur mit der nationalen oder EU- heitlichung kommen, damit auch Ungerechtigkeiten be- weiten, sondern mit der internationalen Seeschifffahrt zu seitigt werden können. tun. Die Gründe, weshalb man jetzt in diesem Bereich Präventives Handeln hat für uns Vorrang. Dieser ge- konsequent vorgehen will, liegen auf der Hand. Wir kön- meinsame Antrag zeigt es. Wir handeln verantwortungs- nen es nicht zulassen, dass Menschen, die See und die voll. Ich bitte um Ihre Unterstützung. Umwelt dadurch beeinträchtigt werden, dass man nicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu einem vernünftigen Ergebnis kommt. Betrunkene ge- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang hören nicht als Rudergänger auf ein Schiff! Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) Einige von Ihnen werden sich an den schrecklichen Unfall der „Exxon Valdez“ 1989 vor der Küste Alaskas Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: erinnern, bei dem 40 000 Tonnen Erdöl ausgelaufen Danke schön. – Das Wort hat jetzt der Abgeordnete sind. Verursacht wurde der Unfall von einem alkoholi- Wolfgang Börnsen. sierten Schiffsführer. Das kann man nicht durchgehen (Beifall bei der CDU/CSU) lassen. Dagegen muss etwas getan werden. Wir sind dabei, heute gemeinsam eine entsprechende Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): Vorlage zu beschließen. Annette Faße hat darauf auf- Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und merksam gemacht und mein Kollege Dirk Fischer hat Kollegen! Annette Faße hat das Ergebnis der sehr sorg- von Hamburg aus immer wieder deutlich gemacht, wie fältigen Überprüfung eines Zustandes vorgetragen, der notwendig dies ist. Bei Chemikalientankern, Öltankern nicht haltbar ist. und Schiffen mit gefährlichen Stoffen darf es auch keine (B) (D) Promillegrenze von 0,3 mehr geben. Wir müssen an die- (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE ser Stelle konsequent sein und die Null-Promillegrenze GRÜNEN]: Richtig!) einführen. Das wird in der Vorlage gefordert. Allein in den letzten drei Jahren hatten wir 126 Fälle von Alkoholmissbrauch von Schiffsführern. Es reicht nicht aus, nur darauf aufmerksam zu ma- chen, dass sich die Lage hinsichtlich des Alkoholmiss- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie viele brauchs ändern muss, sondern wir müssen auch durch waren Deutsche?) eindeutige Maßnahmen zeigen, dass wir zum Handeln Der Eisberg der nicht kontrollierten Schiffe ist noch sehr bereit sind. Man darf nicht vergessen, dass die Reeder in viel größer. 126 Mal ihren Verträgen mit der Crew sehr wohl vorschreiben, dass während der Arbeit an Bord nicht getrunken werden (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie viele darf. Wenn aber schon – wie eingangs deutlich wurde – deutsche Kapitäne?) 126 Missbrauchsfälle bekannt wurden, dann heißt das, – alleine in Deutschland – sind wir an kleineren und grö- dass über die Verträge hinweggegangen wird. Insofern ßeren Katastrophen auf See vorbeigeschrammt. 126 Mal muss eine vernünftige Regelung für alle geschaffen wer- haben wir eine Situation gehabt, die dazu hätte führen den. Das wollen wir tun. können, dass, ob in der Ostsee oder der Nordsee, große Richtig ist, dass das Seesicherheits-Untersuchungs- Teile verwüstet worden wären, wenn es zu einem Unfall Gesetz, das vor drei Jahren in Kraft getreten ist, nicht gekommen wäre. Deshalb ist es richtig, dass wir, wenn ausreichend gewirkt hat. Das steht außer Frage. Es hat wir Menschen, See- und Lebensräume schützen wollen, keine abschreckende Wirkung, wenn betrunkenen aufpassen, wo es Regelungsbedarf gibt. Er liegt jetzt vor. Schiffsführern auch nach Unfällen nicht die Fahr- Dass wir weitgehend zu einem gemeinsamen Antrag ge- erlaubnis entzogen wird, wenn sie erst Monate später kommen sind, zeigt, dass die Problematik, auch wenn belangt werden die FDP in einigen Punkten unterschiedlicher Meinung ist, von allen gesehen wird. Wir sind uns einig: Alkohol- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) missbrauch am Ruder darf es nicht geben. Dem haben wir den Kampf anzusagen – ohne Wenn und Aber. und wenn im Falle eines Unfalls nicht als Konsequenz mit dem Verlust der Fahrerlaubnis zu rechnen ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Genau das NEN]) regeln Sie nicht, Herr Börnsen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16827

Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (A) Es schreckt ebenfalls nicht ab – auch Rainder bei einer Kollision ein finnischer und ein italienischer (C) Steenblock hat diesen Punkt immer wieder moniert –, Kapitän beteiligt sind, gilt zweierlei Recht. Hier sollte wenn entsprechende Verhandlungen hinter verschlosse- man zu einer Vereinheitlichung und zu einer für alle ver- nen Türen stattfinden. Vielmehr muss die Öffentlichkeit tretbaren Lösung kommen, damit ein Ausweichen auf dazu Zugang haben, um zu erfahren, wer andere gefähr- andere Länder unmöglich wird. det hat. Auch das muss in Zukunft zur Regel werden. Viele kennen das wunderschöne Lied „What shall we (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- do with the drunken sailor?“ ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Wir glauben, dass es nicht ausreicht, wenn wie vor ei- DIE GRÜNEN]: Das könnten Sie jetzt doch nem Jahr, als ein ukrainischer Kapitän sturzbetrunken mal anstimmen!) mit über 2 Promille in Bremen ankam – – – Das haben einige schon überlegt; das ist ja auch nahe (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was passiert liegend. denn jetzt mit dem nach Ihrer neuen Rege- Nicht weit von meiner Heimat hat vor etwa einem lung?) Jahr ein dänischer Kapitän im Großen Belt die – Das will ich ja gerade ausführen. Stützwand der Brücke gerammt. Er war sturzbetrunken. Und was ist ihm passiert? Er wurde von Bord gefegt. So (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Gar nichts!) lange sollten wir mit dem „drunken sailor“ nicht warten. Ihm wurde zwar durch das Seegericht die Fahrerlaubnis Ich hoffe, dass wir jetzt in der Lage sind, unter Rück- für die Straße innerhalb Deutschlands entzogen, aber sichtnahme auf die Besatzung eine größere Seesicherheit nicht die Fahrerlaubnis für die See. für alle zu schaffen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Natürlich Herzlichen Dank. nicht! Das stimmt überhaupt nicht! Da sind Sie (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem falsch informiert!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Er ist nach drei Wochen nach England gegangen, hat geordneten der FDP) sich dort wieder ein Schiff genommen und fährt weiter über die Weltmeere. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das geht nicht mehr an. Wir müssen sowohl auf na- Eine wirklich interessante Debatte, auch für uns tionaler als auch auf internationaler Ebene zu einer Re- Landratten. Man lernt wirklich etwas dazu über die Ver- (B) gelung kommen, damit solche Auswüchse verhindert hältnisse auf See. (D) werden und wir dazu beitragen, dass diese Verhaltens- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainder weise unterbunden wird. Steenblock. Ich will noch zu zwei Punkten etwas anmerken. Zum einen ist es richtig, dass wir nicht nur von der Verant- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wortung des Kapitäns ausgehen, sondern auch von der NEN): der gesamten Crew. Es geht nicht an, dass zwar der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kapitän nüchtern, aber der am Ausguck stehende Steuer- Die Havarie des Öltankers „Exxon Valdez“ – der Kol- mann stark betrunken ist. Alle haben im Dienst dem Ge- lege Börnsen hat es angesprochen – vor der Südküste bot der Nüchternheit zu folgen. Dafür ist der Schiffsver- Alaskas hat aus sehr vielen Gründen eine traurige Be- kehr viel zu schwierig. rühmtheit erlangt. Einer der Gründe war der Alkohol- missbrauch des Kapitäns; denn der betrunkene Kapitän Zum anderen ist es auch richtig, dass wir die Einrich- hatte das Schiff einem völlig unerfahrenen Offizier über- tung eines zentralen Überwachungsregisters fordern, lassen, der mit der Schiffsführung total überfordert war. durch das der Wasserschutzpolizei und anderen die Die Havarie der „Exxon Valdez“ wurde zu einer der Möglichkeit geboten wird, festzustellen, ob gegen aus- größten Umweltkatastrophen des 20. Jahrhunderts. ländische Kapitäne – die ihr Fahrtenbuch nicht vorzei- gen müssen, das auch nicht eingezogen werden kann; Betrunken war auch der Kapitän des Säuretankers auf diesen Punkt wird auch der Kollege Goldmann noch „ENA 2“, der im letzten Jahr im Hamburger Hafen hava- näher eingehen – ein Fahrverbot verhängt wurde. Es rierte. 960 Tonnen Schwefelsäure liefen in die Elbe. geht nicht an, eine Situation zu schaffen, die zu Beein- Eine Blutprobe des Kapitäns ergab einen Blutalkohol- trächtigungen der Eingriffsmöglichkeiten der Wasser- wert von 2,2 Promille. schutzpolizei führt. Das darf nicht sein. Wir sind für ein zentrales Register. Ich hätte mir gewünscht, wir hätten Diese Beispiele zeigen, dass wir dringend den Alko- das beim Kraftfahrtbundesamt ansiedeln können, weil holmissbrauch in der Seeschifffahrt bekämpfen müssen. dort die Kompetenz vorhanden ist. Aber dazu ist es nicht Der Kollege Börnsen hat schon die Zahl von 126 festge- gekommen. stellten Alkoholmissbrauchsfällen genannt. Natürlich gibt es noch eine riesige Dunkelziffer. Mich macht die Ich appelliere an alle, die Freunde und Kollegen in Steigerung sehr besorgt. Diese Zahl 126 bedeutet eine anderen Parlamenten haben: Sorgen Sie dafür, dass diese Verdreifachung gegenüber dem vorherigen Berichtszeit- Frage von Finnland bis Italien aufgegriffen wird. Wenn raum. Diese Steigerung muss uns zum Handeln zwingen 16828 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Rainder Steenblock (A) und ich bin sehr froh, dass wir das zusammen schaffen Gerade weil es sich um einen fraktionsübergreifenden (C) werden. Antrag handelt, möchte ich mich zum Schluss bei der Kollegin Annette Faße und dem Kollegen Uwe (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Na!) Beckmeyer von der sozialdemokratischen Fraktion so- wie dem Kollegen Wolfgang Börnsen von der CDU/ Alkoholmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt, auch CSU für die sehr kollegiale Zusammenarbeit herzlich nicht in der Seeschifffahrt. Das Bild vom „drunken bedanken. So haben wir es gemeinsam geschafft, ein sailor“ mag für Seefahrerromantik und Nostalgie etwas sehr großes Problem der Seeschifffahrt zu lösen. Dass taugen; in der modernen Seeschifffahrt hat dieses Bild die FDP außen vor war, mag kein Signal für das Ergeb- jedenfalls nichts zu suchen. Das Risiko von Katastro- nis bei der Bundestagswahl sein. Aber es ist ein bisschen phen durch Havarie von Schiffen ist gerade bei Öltan- schade; denn es wäre, glaube ich, gut gewesen, wenn wir kern oder Chemietankern, wie „Erika“ oder „Prestige“ alle an dieser Stelle gemeinsam gehandelt hätten und gezeigt haben, immens. wenn nicht Kleinigkeiten so hochstilisiert worden wä- Zudem haben Schiffsunfälle gravierende Folgen für ren, dass wir nicht zu einer gemeinsamen Entscheidung, die wirtschaftliche Situation der betroffenen Menschen die von allen Fraktionen in diesem Hause hätte getragen an den Küsten. Die Tourismusindustrie und die Fischerei werden können, gekommen sind. sind häufig über Jahre, manchmal über Jahrzehnte, ge- Vielen Dank für die gute Zusammenarbeit. stört und geschädigt und die Kosten für die Schadensbe- seitigung – das haben wir gerade in Spanien erlebt – sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gigantisch. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs ist also ein wichtiger Punkt für mehr Sicherheit im Seeverkehr in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ganz Europa. Denn alljährlich werden zum Beispiel Jetzt hat der Abgeordnete Hans-Michael Goldmann 800 Millionen Tonnen Öl allein über die Häfen in der das Wort. Europäischen Union umgeschlagen. Zudem passieren zahlreiche Öltanker die Hoheitsgewässer der Europäi- (Zuruf von der SPD: Jetzt kommt der schen Union, ohne überhaupt einen ihrer Häfen anzulau- Fachmann!) fen. Das betrifft insbesondere die russischen Öltanker, die auf der Ostsee unterwegs sind. Das birgt bei der ho- Hans-Michael Goldmann (FDP): hen Verkehrsdichte auf der Nord- und der Ostsee ein er- Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- (B) hebliches Gefahrenpotenzial und Unfallrisiko und macht legen! „Jetzt kommt der Fachmann!“ Ich nehme das ein- (D) drastische Maßnahmen notwendig. Deshalb haben wir mal so an; denn in dieser Sache habe ich hundertprozen- uns für die Nullpromillegrenze bei Gefahrguttranspor- tig Recht. – Herr Kollege von der SPD, nicht immer ten mit hohem Risikopotenzial wie Tankschiffen und gleich brüllen! Schiffen, die radioaktive Stoffe befördern, eingesetzt und sie auch umgesetzt. Das Thema ist Alkoholmissbrauch in der Seeschiff- fahrt. Es geht aber nicht um Promillegrenzen – darin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind wir uns sicherlich einig –, sondern schlicht und er- greifend darum, was wir mit demjenigen machen, der Für alle sonstigen Schiffe und Sportboote werden wir betrunken ist und der eigentlich seinen „Lappen“ zu ver- eine Anpassung an die „normalen“ Werte im Straßenver- lieren hat. So simpel ist die Geschichte. Der jetzige kehr und in anderen Bereichen des Verkehrs vornehmen Schaden ist bei der Änderung des SUG entstanden. Das und die Grenze von 0,8 auf 0,5 Promille senken. Auch weiß Annette Faße genauso gut wie ich. die präventiven Maßnahmen werden durch Kontrollen in den Häfen und regelmäßige Blutuntersuchungen im (Beifall bei der FDP) Rahmen der Seetauglichkeitsuntersuchung verbessert. Der Schaden ist entstanden, weil es damals einen Minis- All dies ist notwendig. Schließlich müssen wir – das terialbeamten gab, der das unbedingt noch vor seinem haben wir bereits gemacht – die rechtlichen Vorausset- Ruhestand durchsetzen wollte. Alle an der Küste sind zungen für die vorläufige Anordnung des Ruhens von sich aber einig: Das neue SUG ist nicht gut genug, wenn Fahrerlaubnissen zur Klärung von Eignungszweifeln es darum geht, den Alkoholmissbrauch und seine Aus- schaffen. wirkungen einzudämmen. Trunkenheitsfahrten in der Seeschifffahrt müssen so Wir waren uns eigentlich einig, die entsprechende Re- weit wie möglich verhindert werden. Wir wissen zwar gelungslücke zu schließen und den Alkoholmissbrauch, genau, dass wir nie 100 Prozent erreichen können. Aber auch durch präventive Maßnahmen, besser zu bekämp- wir müssen zumindest das Drohpotenzial zur Verfügung fen. Das hat der Kollege Börnsen – genauso wie der Kol- haben, das möglich ist, um die präventive Funktion der lege Steenblock – vor nicht allzu langer Zeit dankens- Strafgesetzgebung zu realisieren. Wir müssen die Kon- werterweise erklärt. Er hat gesagt: Nun machen wir uns trollen verstärken. Die Grenzwerte, die wir nun festge- doch gemeinsam auf den Weg und sorgen wir für Ab- legt haben, bedeuten einen vernünftigen Schritt hin zu hilfe! Nun sagen Sie, Herr Börnsen: Ihr bösen Kapitäne, mehr Seesicherheit sowie mehr Schutz von Mensch und 126 von euch haben wir betrunken erwischt und eigent- Umwelt. lich sind es ja noch viel mehr. – Herr Börnsen, was Sie Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16829

Hans-Michael Goldmann (A) aber nicht sagen, ist, dass Sie mit der Regelung, die Sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (C) nun treffen, nur den deutschen Kapitän erwischen. Nur Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretä- bei einem deutschen Kapitän kann die Patentbehörde so- rin Angelika Mertens. zusagen einen Sofortvollzug vornehmen. Aber den Ukrainer, den Sie eben als Beispiel angeführt haben und Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- den ich erwischen will, bekommt man so nicht. Das ist desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: der springende Punkt. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der FDP) Es wäre schön, wenn wir „Fischköppe“ die Präsidentin auf den Geschmack gebracht hätten. Die Seeschifffahrt Es geht hier nicht um 0,5 oder 0,8 Promille. Vielmehr sucht gute Leute. geht es im Grunde genommen darum, was in der interna- tionalen Seefahrt an der Tagesordnung ist. Es gibt si- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: cherlich viele vernünftige Kapitäne. Aber wir haben spe- Ich bin demnächst frei. zielle Probleme mit dem einen oder anderen ausländischen Kapitän, der betrunken ist oder der sein (Heiterkeit) Kapitänspatent allem Anschein nach im Lotterieverfah- ren gewonnen hat. Sie wissen ganz genau, welche Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- Schwierigkeiten wir da haben. desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Wir haben das Problem, dass Sie diese Personen mit Es gibt auch Frauen in der Seeschifffahrt, zum Bei- den Änderungen, die Sie heute auf den Weg bringen, spiel sehr erfolgreiche weibliche Kapitäne. Also: Nur nicht erreichen. Eine Zeitung, die sich mit diesem zu! Thema intensiv beschäftigt, hat Recht, wenn sie schreibt Sicherheit in der Seeschifffahrt hängt nicht nur von – Herr Börnsen, hören Sie wenigstens einen Moment der Einhaltung hoher technischer Standards ab, sondern zu! –: „Erlaubt: Betrunken am Steuerrad“. Das schlimme natürlich auch von der Qualifikation und von der Zuver- Signal, das von dem heutigen Beschluss der Koalitions- lässigkeit der Schiffsführung. Gravierende Eignungs- fraktionen, also der SPD und des Bündnisses 90/Die mängel erhöhen das Unfallrisiko und haben oft verhee- Grünen, und der CDU/CSU-Fraktion ausgeht, ist, dass rende Folgen für Mensch und Umwelt. Alkohol am das zukünftig zumindest auf ausländische Kapitäne zu- Ruder ist deshalb konsequent zu bekämpfen. Wenn das trifft. geschieht, wird die Verkehrssicherheit insgesamt erhöht. Das ist ein wichtiges nationales, aber auch ein internatio- Dem wollen wir mit unserem Antrag entgegenwirken. nales Anliegen. (B) (D) (Beifall bei der FDP) Wie schon gesagt wurde, ist dieser Bereich im Stra- In unserem Antrag steht: Der „Lappen“ muss sofort ßenverkehr eindeutig geregelt: Wer einen Unfall unter weggenommen werden, wenn jemand betrunken ist oder Alkoholeinfluss verursacht, der wird dafür zur Rechen- deutlich zeigt, dass er im Grunde genommen nicht bereit schaft gezogen. ist, sich an unsere Spielregeln zu halten. Dass deren Ein- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der kriegt haltung dringend nötig ist, darüber besteht zwischen uns den „Lappen“ abgenommen!) Konsens. In punkto Seeschifffahrt ist in der Deutschen Bucht eine Menge los. Auch was die Ostsee angeht, sind Auch die, die keine Unfälle verursachen, sondern „nur“ wir uns einig. Um die dortigen Probleme zu lösen, müss- betrunken fahren, müssen mit ernsten Konsequenzen ten Sie unserem Antrag eigentlich zustimmen. Das wis- rechnen, bis hin zum Entzug der Fahrerlaubnis. sen Sie auch ganz genau; da bin ich hundertprozentig si- Aber wie in vielen anderen Bereichen gibt es in der cher. Schifffahrt Fälle von Alkoholmissbrauch. Alkoholmiss- Wir bleiben dabei: Hier geht es nicht um einen Kom- brauch ist ein Indiz für gravierende Eignungsmängel promiss, also darum, ob die Grenze nun bei 0,5 Promille beim seemännischen Personal. Ich will deshalb auf die oder bei 0,8 Promille liegt. Hier geht es schlicht und er- Eckpunkte eingehen. greifend darum, ob wir den ausländischen Kapitänen, die Die neue allgemeine Regelung, dass in der Seeschiff- sich auf unseren Gewässern bewegen, das Patent entzie- fahrt eine Grenze von 0,5 Promille gelten soll, wird an hen können. Genau das können wir nicht, weil es nicht die Grenzwerte im Straßenverkehr und in der Binnen- von einer deutschen Patentbehörde ausgestellt worden schifffahrt angeglichen. Das ist hierbei der größte Sank- ist. Unterhalten Sie sich mit allen, die mit der Anwen- tionsfaktor. dung des SUG zu tun haben, unterhalten Sie sich mit dem BSH und mit anderen! Sie alle sagen Ihnen das Durch die Verschärfung der Kriterien der persönli- Gleiche: Die Lösung, die heute auf dem Tisch liegt, ist chen Zuverlässigkeit schon bei der Erteilung von Paten- unzureichend. Unsere ist besser und deswegen stellen ten und von Fahrerlaubnissen tragen wir zu mehr Prä- wir sie zur Abstimmung. vention bei. Herzlichen Dank. Die Bundesregierung wird in einem ersten Schritt auf dem Verordnungswege die allgemeine Promillegrenze (Beifall bei der FDP – Uwe Beckmeyer [SPD]: für den Bereich der deutschen Seeschifffahrt und für den Das war hundertprozentig daneben!) Bereich deutscher Seeschiffe, die weltweit unterwegs 16830 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens (A) sind, herabsetzen. Das folgt klaren Regeln, es dient der Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- (C) Sicherheit und es ist gesellschaftlicher und rechtlicher desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Konsens. Ja, bitte. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Jawohl!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aus Sicht der Bundesregierung ist es sehr erfreulich, Bitte schön, Herr Börnsen. dass diese Beschlussempfehlung mit interfraktioneller Übereinstimmung zustande gekommen ist. Sie behandelt Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): sehr viele Punkte, die auch wir in unserem Sanktions- Frau Staatssekretärin, ich finde, Sie haben mit Recht und Präventionskonzept aufgeführt haben. auf einen Punkt aufmerksam gemacht, der von unserem Kollegen Goldmann sehr stark diskutiert worden ist, die Wir sagen auch eindeutig: Das gilt für alle, das gilt für Frage nämlich, ob wir mit unserer Regelung ausschließ- die gesamte Schiffsbesatzung während der Dienstzeit. lich deutsche Schiffsführer meinen, obwohl wir uns ei- Jeder Bordarbeitsplatz, ob im Brücken-, Maschinen- gentlich in dem Ziel einig sind – auch mit der FDP; des- oder Deckbereich, ist für die Sicherheit des Schiffes von wegen ist das mehr eine künstliche Diskussion –, dass Bedeutung. auch ausländische Schiffsführer einbezogen werden sol- (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto len, wenn wir jetzt zu einer neuen Regelung kommen. Solms) Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das verdeutlichen könnten. Zusätzlich soll – das haben wir auch gesagt – für be- stimmte Gefahrguttransporte auf deutschen Seeschiff- Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- fahrtstraßen künftig eine noch restriktivere Promille-Re- desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: gelung gelten. Frau Faße hat schon von Tankschiffen Herr Börnsen, Sie haben absolut Recht. Ausländische und gefährlichen Gütern gesprochen; ich glaube, Herr Schiffsführungen – so muss man sagen; es sind ja nicht Börnsen hat das auch gesagt. Ich nenne noch radioaktive nur die Kapitäne – sind auch betroffen. Stoffe. (Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] meldet Wir nehmen übrigens eine Anregung des Bundesrates sich zu einer Zwischenfrage – Uwe auf und prüfen, ob diese Regelung auch für Fahrgast- Beckmeyer [SPD]: Wir müssen doch keinen schiffe gelten sollte. Da sind wir im Moment in der Ab- Nachhilfeunterricht für Herrn Goldmann ma- stimmung mit den Ländern. chen! Der erzählt uns hier einen Unsinn nach dem anderen!) (B) Die neuen, verschärften Regelungen bedürfen einer (D) wirksamen Durchsetzung und Kontrolle. So werden wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen auf wirk- im Seeaufgabengesetz ein Fahrverbot auch außerhalb same Sanktionen und ein neues Präventionskonzept. konkreter Gefährdungen einführen. Vorläufige Maßnah- men wie das Ruhen der Fahrerlaubnis oder des Patentes Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: oder sofort vollziehbare Fahrverbote gegenüber Auslän- Frau Kollegin Mertens, erlauben Sie noch eine Zwi- dern dienen nicht nur einer effektiven Sanktionierung, schenfrage des Kollegen Goldmann? – Bitte schön, Herr sondern haben auch Abschreckungscharakter. Genau das Goldmann. ist auch gewollt. Dabei kommt es nicht, Herr Goldmann, zu einer Hans-Michael Goldmann (FDP): Kompetenzüberschneidung zwischen den Seeämtern Danke schön, Herr Präsident! – Geschätzte Staats- und den Wasser- und Schifffahrtsdirektionen. sekretärin, stimmen Sie mit mir darin überein, dass so- wohl der Antrag von SPD und Grünen als auch der von (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das habe CDU/CSU den Sofortvollzug der ausstellenden Patent- ich auch nicht behauptet!) behörde zuweist? Ich meine, da Sie in Ihrem Antrag im Grunde genommen eine Trennung der Verfahren in Eil- Auch folgenlose Trunkenheitsfahrten, wie es so schön entscheidung und Hauptsacheverfahren vornehmen, ist heißt, ziehen die Eignung in Zweifel und müssen die An- der Sofortvollzug bei einem ausländischen Kapitän, des- ordnung des Ruhens der Fahrerlaubnis als vorläufige sen Patent nicht von einer deutschen Behörde ausgestellt Maßnahme durch die patentausstellende Behörde nach wurde, nicht mehr möglich. sich ziehen. Auch gegenüber Ausländern sollen vorläu- fige Maßnahmen in Form eines Fahrverbots durch die (Uwe Beckmeyer [SPD]: Die Wasserpolizei nimmt den Jungen von Bord!) Schifffahrtspolizeibehörden angeordnet werden können.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das können Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- sie gar nicht! Sie haben zwei getrennte Verfah- desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: ren!) Ich habe Ihnen das eben schon beantwortet: Die schifffahrtspolizeilichen Behörden können auch gegen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: über einem ausländischen Kapitän eine vorläufige Maß- nahme ergreifen, das heißt, ein Fahrverbot aussprechen. Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Börnsen? (Zuruf von der SPD: So ist das!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16831

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens (A) Das wissen Sie eigentlich auch. – Darin steht genau das, was Gesetz werden soll. Aber (C) wenn wir eine Gesetzesänderung wollen, die Thematik Herr Goldmann, Sie wollen die SUG-Debatte wieder also nicht auf dem Verordnungswege geregelt wird, eröffnen. Das steht Ihnen auch zu. Sie haben ja damals, brauchen wir ein weiteres Verfahren. Insofern verstehe als wir das behandelt haben, eine klare Position bezogen. ich gar nicht, warum Sie hier den Teufel an die Wand Aber in diesem Fall irren Sie sich wirklich. Die schiff- malen. fahrtspolizeilichen Behörden haben die Befugnis, dieses Fahrverbot auszusprechen. Im Übrigen ist die Erklärung, die die Staatssekretärin gegeben hat, richtig: Man kann auch heute sofort den (Beifall bei der SPD – Hans-Michael Goldmann Führerschein entziehen. Das ist überhaupt keine Frage. [FDP]: Das stimmt nicht!) Wenn die Wasserschutzpolizei das macht, dann ist der Dann komme ich zum Schluss. Wir setzen auf wirk- Führerschein weg und dann kann die Person das Schiff same Sanktionen und ein neues Präventionskonzept. Wir nicht weiter führen, wenn die Regelungen so getroffen werden uns logischerweise auch bei der IMO dafür ein- werden. setzen – vielleicht beantwortet das auch ein bisschen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – das, was Sie gefragt oder gedacht haben, Herr Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der fährt am Goldmann –, dass weltweit verbindliche einheitliche Al- nächsten Tag weiter!) koholgrenzwerte festgelegt werden. Zu diesem Thema ist heute im Grunde genommen Ich bedanke mich noch einmal für den sozusagen in- schon alles ausgeführt worden. Wir alle gemeinsam sind terfraktionellen Antrag, bedanke mich also bei den in Sorge um die drastisch zunehmende Zahl von Trun- Koalitionsfraktionen und bei der CDU/CSU-Fraktion. kenheitsfahrten in der Seeschifffahrt. Die Statistiken sa- Was ich vorhin gesagt habe, gilt auch in diesem Fall, gen aus, dass sich die Zahl etwa verdreifacht hat. Die auch in diesem Monat noch: Wir werden das zügig um- möglicherweise gravierenden Folgen für die Küsten und setzen. Wir sind in dieser Angelegenheit mit dem Bun- die Seeschifffahrtsstraßen sind drastisch geschildert desrat schon sehr weit. Ich danke für die außerordentlich worden. Ich will nur an die Havarie der „ENA 2“ erin- nüchterne Debatte, die wir heute darüber geführt haben. nern, bei der 960 Tonnen Schwefelsäure in die Elbe ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten flossen sind. Das zeigt deutlich, welches Gefährdungs- der CDU/CSU – Wolfgang Börnsen potenzial von alkoholbedingten Schiffsunfällen ausgeht. [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist richtig! Nüch- Dass wir uns über die Promillegrenze haben einigen tern sind wir!) können – eine große Debatte zwischen den Fraktionen (B) war ja, wo man sie ansetzen soll –, halte ich für sehr gut. (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die gefundene Regelung, nach der bei besonderer Ge- Das Wort hat der Kollege Enak Ferlemann von der fährdung die Null-Promille-Grenze gilt, wie beim Flug- CDU/CSU-Fraktion. verkehr, und für Normalfahrten die Grenze wie auf Stra- ßen und Binnengewässern, nämlich 0,5 Promille, ist, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. denke ich, eine gute Sache. Hans-Michael Goldmann [FDP] – Hans- Michael Goldmann [FDP]: Der ist Betroffe- Auch der Fall des ukrainischen Kapitäns, der mit sei- ner! Ich meine, nur von der Örtlichkeit her!) nem Feederschiff MS Robert volltrunken – mit 2,4 Pro- mille – auf der Außenweser gestoppt wurde, hat uns si- Enak Ferlemann (CDU/CSU): cherlich sehr zu denken gegeben. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie ist das Herren! Herr Kollege Goldmann, wir haben Ihnen diese weitergegangen?) außerordentlich spannende und informative Debatte hier heute Abend zu verdanken. Insofern sind wir tatsächlich Auch dieser Fall war ein Hinweis darauf, dass bei der alle Betroffene dieser Angelegenheit. Gesetzesänderung, die wir vor einigen Jahren beschlos- sen haben, ein Fehler gemacht worden ist. Wir als Union Es stellt sich natürlich die Frage, ob Ihre Einlassun- haben schon damals kritisiert, das alte Seeunfalluntersu- gen hier korrekt waren. chungsgesetz sei besser gewesen als das nachfolgende Seesicherheits-Untersuchungs-Gesetz, das dann 2002 in (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) Kraft getreten ist. Auf diese Lücke haben wir mehrfach Sie wissen selbst, dass es sich zunächst einmal um einen hingewiesen. Ich finde es gut, dass die Koalition zugege- Antrag handelt, den wir hier beschließen. ben hat, dass damals ein Fehler unterlaufen ist, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Warum kor- rigiert sie es nicht?) Es ist noch nicht das Gesetzgebungsverfahren. Wenn Sie da etwas ändern wollen – – und gesagt hat: Diesen Fehler wollen wir korrigieren. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wollen Sie (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen damit sagen, dass in Ihrem Antrag nicht steht, (Bönstrup) (CDU/CSU) – Hans-Michael was ins Gesetz soll?) Goldmann (FDP): Warum tut sie es nicht?) 16832 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Enak Ferlemann (A) Darin sind wir uns einig. Das ist der richtige Ansatz. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- (C) Dass wir uns dabei auch über die Promillegrenzen haben schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf einigen können, halte ich für eine gute Sache. Drucksache 15/5514. Dass wir dann gemeinsam auch noch der Auffassung Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- sind, dass wir ein zentrales Überwachungsregister schlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen von SPD brauchen, ist ebenfalls gut. Nur, auf nationaler Ebene al- und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 15/4942 lein wird das nicht ausreichen. Das brauchen wir auf in- mit dem Titel „Verkehrssicherheit in der Seeschifffahrt ternationaler Ebene. Die IMO muss gebeten werden, das verbessern – Alkoholmissbrauch konsequent bekämp- konsequent fortzuführen, damit es nicht nur eine natio- fen“ in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt nale Regelung, sondern eine internationale Regelung für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage- gibt. Zumindest EU-weit müssen wir dafür sorgen, dass gen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist wir denjenigen, die mit solchen Trunkenheitsfahrten des mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/ Öfteren auffallen, die Erlaubnisse dauerhaft entziehen CSU-Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion an- können, ähnlich wie das durch das Kraftfahrtbundesamt genommen. möglich ist. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Das ist ein spannendes Thema, ein interessantes Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4383 mit Thema für alle diejenigen, die die Küstenschifffahrt und dem Titel „Promillegrenze in der Seeschifffahrt“ für er- die Seeschifffahrt nicht so kennen. Wir kennen diese ledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Problematik. Deswegen halte ich die gemeinsam gefun- fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- dene Regelung für sehr gut. Ich wundere mich, dass der schlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Kollege Goldmann da nicht mitmacht. Schließlich Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- kommt auch er, wie er sagt, von der Küste – obwohl Pa- ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags penburg sehr weit landeinwärts liegt und es dort nicht so der Fraktion der FDP auf Drucksache 15/3725 mit dem viel Küste gibt. Titel „Bessere Möglichkeiten im Kampf gegen Trunken- heitsfahrten in der Seeschifffahrt schaffen“. Wer stimmt (Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – [Bönstrup] [CDU/CSU] – Hans-Michael Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Goldmann [FDP]: Ein Seehafen ist das!) Stimmen der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU- – Die nennen sich Seehafen, für uns ist das aber fast Fraktion gegen die Stimmen der FDP-Fraktion ange- schon ein Binnenhafen; das sage ich Ihnen ganz ehrlich. nommen. (B) (D) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: (Hans-Michael Goldmann [FDP]: So große Schiffe, wie wir haben, habt Ihr in Cuxhaven Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia noch nie gesehen!) Nolte, Dr. Friedbert Pflüger, Peter Hintze, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU – So viele große Schiffe, wie bei uns in einer Stunde vor- beifahren, seht ihr bei euch nicht einmal an einem Tag. Für eine klare europäische Perspektive der Ukraine Dass Sie also nicht mitmachen, mag Profilierungs- gründe haben, die mit dem bevorstehenden Bundestags- – Drucksache 15/5021 – wahlkampf zu tun haben. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Quatsch! Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Ändern Sie doch das SUG!) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Wir werden sicherlich danach in anderer Funktion sehen, Technikfolgenabschätzung wie wir zu entsprechenden Regelungen kommen. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ich darf mich bei den Fraktionen von SPD und Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Bündnis 90/Die Grünen für die gute Zusammenarbeit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die bedanken. Wir werden Ihren Antrag heute im Sinne der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Seeschifffahrt und der Menschen an den Küsten gemein- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. sam verabschieden. Damit eröffne ich die Aussprache und erteile als ers- Herzlichen Dank. ter Rednerin der Kollegin Claudia Nolte von der CDU/ CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Claudia Nolte (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In- zwischen ist es ein halbes Jahr her, als uns die Bilder aus Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kiew erreichten, wo die Menschen mit viel Mut und Ich schließe die Aussprache. Ausdauer in der orangen Revolution für demokratische Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16833

Claudia Nolte (A) Grundrechte demonstriert haben und den Respekt vor formvorhaben jetzt erst einmal brachliegen wird, bis die (C) dem freien Willen der Wähler eingefordert haben. Die Wahl vorbei ist. Natürlich ist in erster Linie die Ukraine Menschen waren erfolgreich mit ihrem Protest. Seitdem selbst gefordert, die wichtigen Schritte zu unternehmen. bemühen sich der Präsident Juschtschenko und die Re- Aber wir bringen viel Expertise aus Transformationspro- gierung Timoschenko um eine Neuausrichtung der Poli- zessen mit. Deswegen können wir eigentlich vieles leis- tik. Die Richtung ist eindeutig: Sie weist nach Europa. ten. Unser Eindruck ist, dass die derzeitige Zusammen- Nicht nur die politische Elite in der Ukraine richtet ihre arbeit von deutscher Seite, aber auch vonseiten der EU Erwartungen auf uns, sondern gerade auch die Men- wie bisher läuft, nämlich sehr formalisiert und ohne En- schen in der Ukraine erhoffen sich Unterstützung und thusiasmus. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, reicht vor allen Dingen eine Verbesserung ihrer konkreten Le- nach unserer Auffassung nicht. benssituation durch die Europäische Union. (Beifall bei der CDU/CSU) Viele von uns mögen jetzt denken: zur Unzeit. Erst in den vergangenen Tagen haben die Franzosen und die Ich denke, das Mindeste ist, dass die EU das umsetzt, Niederländer in Referenden zum EU-Verfassungsvertrag was sie selber zugesagt hat. Dabei denke ich vor allen mit einem klaren Nein gestimmt. Nun mögen viele Dingen an die Anerkennung des Marktwirtschaftsstatus. Gründe dafür die Ursache gewesen sein, aber ganz si- Man mag da viele Bedenken ins Felde führen; aber ich cher auch der, dass man meint, die letzte Erweiterungs- finde, man darf nicht vergessen, wie man bei anderen runde war ein so großer Schritt, dass es jetzt erst einmal Ländern verfahren ist. Wir wissen, dass in vergleichba- angebracht wäre, innezuhalten und sich über die Frage ren Fällen eine politische Entscheidung getroffen wor- klar zu werden, welches Europa mit welchen Grenzen den ist. Deshalb hat auch die Ukraine darauf einen An- wir haben wollen. spruch. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das heißt, die EU ist aufgefordert, sich jetzt erst ein- der FDP) mal zu konsolidieren. Aber die Ukraine ist unbestritten ein europäisches Land. Gerade in dem EU-Verfassungs- Uns ist aber vor allem wichtig, unsere Hilfen sehr vertrag, den wir Deutsche so verteidigt haben, ist aus- konkret zu gestalten. Darauf haben wir uns in unserem drücklich für jedes europäische Land der Weg in die EU Antrag konzentriert. Damit meine ich den Aufbau von prinzipiell eröffnet. Wir haben bei den ehemaligen Bei- effizienten Strukturen in der Verwaltung – das ist in trittskandidaten und heutigen neuen Mitgliedsländern diesen Transformationsländern wichtig – und in der Jus- die Erfahrung gemacht, welch große Motivation gerade tiz. Das schaffen wir am besten, wenn Fachkräfte bei- diese Perspektive für die Durchsetzung von Reformen, spielsweise direkt vor Ort arbeiten können, wenn wir vor (B) die erst einmal schmerzhaft für die Menschen und in die- Ort Präsenz zeigen können. Wir können in diesen Län- (D) ser Zeit nicht gerade populär sind, schafft. Ich denke, dern vor allen Dingen Beratungstätigkeit leisten. Umso auch für die Ukraine wird der Weg Richtung Europa bedauerlicher finde ich, dass ausgerechnet jetzt die Fi- schwer. Die Voraussetzungen dafür sind längst noch nanzierung der bisherigen Wirtschaftsberatung, die wir nicht vorhanden. Deshalb braucht die Ukraine ein Si- vorgenommen haben, so heruntergefahren wird, dass das gnal. Ende schon in Sicht ist. Mit Präsident Juschtschenko ha- ben wir jemanden, der marktwirtschaftlich orientiert ist Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, weil die Sache und konzeptionell Wirtschaftsreformen durchführen so ist, wie sie ist – die EU ist noch nicht so weit, die will. Er wäre auf unsere Erfahrungen, auf unsere Exper- Ukraine ebenfalls noch nicht –, haben wir in unserem tise angewiesen. Deshalb halte ich die Einschränkung Antrag ausdrücklich nicht von Beitrittsperspektive ge- der Finanzierung für einen Fehler; hier sollten wir ge- sprochen. Jetzt ist nicht die Zeit, über einen Beitritt zu gensteuern. reden, sondern jetzt ist die Zeit, die Voraussetzungen für einen möglichen Beitritt zu schaffen. Nach meiner festen Neben der Verwaltung und der Wirtschaft gibt es Überzeugung meint europäische Perspektive deutlich viele weitere Felder für eine mögliche Zusammenarbeit, mehr als nur den Beitritt. Uns geht es ja nicht nur darum, Felder, von denen im Übrigen auch wir selber profitie- dass die Ukraine in Europa liegt, sondern sie muss auch ren. Solidarität und Hilfe müssen ja keine Einbahnstraße in ihrer inneren Verfasstheit ein europäisches Land sein, sein. Ich denke zum Beispiel an den Umweltbereich, die das heißt ein Land, das unsere Werte und Prinzipien teilt. Umsetzung des Kioto-Protokolls. Der große Modernisie- Dazu gehören Demokratie, Achtung der Menschen- rungsbedarf in der Ukraine – angesichts dessen, dass ein rechte, Medienfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und eine Großteil der Energie vergeudet wird und viel geleistet funktionstüchtige Marktwirtschaft. Die Schaffung dieser werden kann, um die CO2-Emission zu vermindern – Voraussetzungen trägt zur Annährung an die EU bei. bietet uns gute Felder der Kooperation und der Zusam- Was aber noch wichtiger ist: Sie dient auch zur Verbes- menarbeit. serung der Lebenssituation der Menschen. Ähnliches gilt sicherlich auch für die Zusammenar- Aber es wird nicht einfach sein, dies alles in kurzer beit im Bereich der Streitkräfte. Auch dort gibt es einen Zeit zu schaffen, schon gar nicht, wenn wir die nötige großen Modernisierungsbedarf. Wir haben Erfahrungen Unterstützung jetzt verweigern. Die Ukraine braucht vor mit der Verkleinerung unserer Streitkräfte sowie mit der allen Dingen unsere Hilfe, besonders vor dem Hinter- Frage der Grenzsicherung gewonnen. Auf diesen Fel- grund, dass schon bald Parlamentswahlen stattfinden dern können wir der Ukraine die von ihr benötigte und man befürchten muss, dass manch schwieriges Re- Unterstützung in ganz praktischer Weise geben. Nicht 16834 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Claudia Nolte (A) zuletzt könnte die Kooperation im Wissenschafts- und formen, Verfassungsreform und die europäische Per- (C) Forschungsbereich beiderseitigem Nutzen dienen. spektive der Ukraine diskutiert. Die ukrainische Delegation wurde vom Minister für europäische Integra- Ich wollte damit nur deutlich machen, dass es vielfäl- tion, Oleg Rybatschuk, der gleichzeitig Vize-Premiermi- tige Möglichkeiten der Unterstützung gibt, die sich auch nister ist, geleitet. In Politik und Medien der Ukraine hat auf viele Schultern verteilen lassen. Es ist nicht nur Re- die Veranstaltung eine sehr positive Resonanz gefunden. gierungshandeln gefordert. Auch die Wirtschaft, kom- munale Selbstverwaltungen und politische Stiftungen Nun zum Antrag der Union, der einen sehr an- können daran mitwirken. Dafür ist heute ganz sicher die spruchsvollen Namen hat. Erlauben Sie mir aber, Kolle- richtige Zeit. gin Nolte, Ihnen die Frage zu stellen, ob Sie selbst und Ihre Fraktion überhaupt eine klare europäische Perspek- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. tive haben. Bis jetzt habe ich eher den Eindruck gewon- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nen, dass bei Ihnen die Linke nicht weiß, was die Rechte bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- macht. Dabei spreche ich nicht einmal von der Türkei. NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ministerpräsident Peter Müller, CDU, hat Nachverhand- lungen mit Rumänien und Bulgarien verlangt, die An- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fang 2007 der EU beitreten sollen. Ihr Fraktionskollege und europapolitischer Sprecher Peter Hintze stellt dage- Das Wort hat die Kollegin Jelena Hoffmann von der gen den EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens grund- SPD-Fraktion. sätzlich infrage. (Gernot Erler [SPD]: Jetzt kommt die (Gernot Erler [SPD]: Hört! Hört!) Lenotschka!) Auch über die europäische Perspektive der Ukraine Jelena Hoffmann (Chemnitz) (SPD): wird in Ihrer Fraktion immer noch gestritten. In dem An- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und trag, den Sie am 8. März geschrieben haben, erwähnen Kollegen! Ich gebe zu, es ist nach den Nachrichten aus Sie ein EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine. Paris und Den Haag nicht einfach, über klare europäi- Am selben Tag bezeichnete Ihr Fraktionskollege sche Perspektiven zu sprechen. Das Abstimmungsver- Matthias Wissmann, der Vorsitzende des EU-Ausschus- fahren zur Verfassung muss aber weitergehen. Auch ses, eine „privilegierte Partnerschaft“ als einziges Ange- muss uns klar sein, dass wir jetzt noch mehr auf die bot in Richtung Ukraine. – So viel zur Klarheit Ihres An- Menschen und ihre Sorgen achten müssen und die Men- gebotes an die Ukraine, das, wie ich schon sagte, sehr schen von Helsinki bis Lissabon, von Dublin bis Athen genau in der Ukraine beobachtet wird. (B) (D) mitnehmen und von den Vorteilen des vereinten Europa (Beifall bei Abgeordneten der SPD) überzeugen müssen. Noch etwas irritiert mich an Ihrem Antrag: Viele Ihrer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vorschläge gehen in die richtige Richtung. Doch Sie tun des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) so, als ob Sie die Zusammenarbeit zwischen unseren bei- den Ländern erst gestern erfunden hätten, und fordern Trotzdem freue ich mich als Vorsitzende der Deutsch- die Bundesregierung auf, das zu tun, was sie längst Ukrainischen Parlamentariergruppe des Bundestages, macht. dass wir heute über die Ukraine sprechen. Ich weiß, dass diese Debatte für uns in Deutschland wichtig ist, um die (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Eben nicht! Das strategische Bedeutung unseres europäischen Nach- ist ja das Problem!) barn erneut in das Bewusstsein zu holen. Gleichzeitig, Frau Nolte, weiß ich aber, wie sensibel wir mit dem – Dann hätten Sie sich besser erkundigen müssen. – Da- Thema umgehen sollen, weil alle unsere Aussagen, Be- mit tragen Sie Eulen nach Athen. strebungen und Taten in der Ukraine sehr genau und auf- Entweder haben Sie sich nicht richtig informiert – Sie merksam aufgenommen werden. hätten auch schriftliche oder mündliche Anfragen stellen können – oder Sie haben diesen Antrag nur aus parteipo- Ich freue mich sehr, dass in der letzten Zeit in unserer litischem Interesse, aus rein innenpolitischen Gründen Gesellschaft viel Gutes für das deutsch-ukrainische Ver- gestellt. hältnis geschehen ist: Gerade am Montag hat zum zwei- ten Mal der Tag der Ukraine im Deutschen Bundestag (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: stattgefunden, worauf ich selbst sehr stolz bin, da diese Natürlich!) Veranstaltung unter der Regie der Deutsch-Ukrainischen Parlamentariergruppe geplant und durchgeführt worden Außerdem hätte sich ein Blick in unseren Ukraine-An- ist. trag vom Oktober letzten Jahres für Sie gelohnt. Darin sind die wesentlichen Forderungen Ihres Antrages be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten reits enthalten. Damals haben Sie unseren Antrag nicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der mittragen wollen. CDU/CSU) Sie haben höchstwahrscheinlich vergessen oder nicht Abgeordnete aus dem Bundestag und dem ukrainischen mitbekommen, dass sich die Bundesregierung schon seit Parlament sowie Wissenschaftler der beiden Länder ha- längerem für Freiheit, Selbstbestimmung und demokra- ben in Anwesenheit von 300 Gästen über Wirtschaftsre- tische Standards in der Ukraine einsetzt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16835

Jelena Hoffmann (Chemnitz) (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Gernot Erler [SPD]: Der hat eine westukraini- (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der sche Krawatte an!) FDP) Auch haben Sie wohl nicht mitbekommen, welch wich- Harald Leibrecht (FDP): tige Rolle die Bundesregierung bei der Erarbeitung des Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Aktionsplanes der EU für die Ukraine und beim zehn mit der Liebe ist mitunter eine schwierige Sache: Wie Punkte umfassenden so genannten Solana-Papier ge- findet man den richtigen Partner fürs Leben? Und noch spielt hat. schwieriger: Wie überzeuge ich meine Auserwählte, dass ich der Richtige bin? So wie es sicherlich jedem Ich muss Ihnen daher wohl noch einmal erklären, von uns im Leben ein- oder mehrmals geht, geht es im welche konkreten Maßnahmen unsere Bundesregie- Moment auch der Ukraine. Die Ukraine hat sich verliebt. rung gegenwärtig unternimmt, um die europäische Per- Sie hat sich in Europa verliebt. Das Dumme ist nur, dass spektive der Ukraine zu verbessern: Schon Ende Januar die Auserwählte, Europa, nicht weiß, ob sie diese Liebe hat das Auswärtige Amt mit allen Ressorts die Intensi- erwidern will. Sie zögert und sie zaudert. vierung der Zusammenarbeit mit der Ukraine abge- stimmt. Anlässlich des Besuches von Präsident (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: So ma- Juschtschenko in Berlin sind mit der Bundesregierung chen das Frauen manchmal!) für das Jahr 2005 25 Millionen Euro für die Zusammen- arbeit mit der Ukraine vereinbart worden. Vielleicht ist das Problem, dass die Ukraine derzeit nicht mit ausreichender Attraktivität und Ausstrahlung (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Ja!) aufwartet. Wie denn auch, nach all den Jahren des Kom- Zum Schluss möchte ich doch noch einmal auf das munismus und dann der Jahre unterdrückter Demokra- Solana-Papier eingehen, das auch Sie in Ihrem Antrag tie? erwähnen. In einem Punkt dieses Strategiepapiers wer- Was der Ukraine derzeit noch an Glanz zum Beispiel den echte Verhandlungen über Visaerleichterungen ge- im Bereich der Wirtschaft oder beim Aufbau demokrati- fordert. Dazu kann ich nur sagen: Der von Ihnen initi- scher Strukturen fehlt, macht sie durch Aufrichtigkeit ierte Visa-Untersuchungsausschuss lässt grüßen. und Zielstrebigkeit wett. Präsident Juschtschenko hat für (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das eine hat mit dem sein Land wiederholt und mit Nachdruck – auch hier im anderen nichts zu tun, Frau Hoffmann!) Deutschen Bundestag – zum Ausdruck gebracht, dass es eine feste Beziehung mit Europa möchte und dass es da- Einerseits haben Sie von der orangen Revolution für auch kämpft. Denn die Ukrainer sind Europäer. (B) geschwärmt; andererseits diffamieren Sie aus parteipoli- (D) tischen Gründen das ukrainische Volk für Ihre Zwecke (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie als Illegale, Schwarzarbeiter, Schwerkriminelle und des Abg. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/ Zwangsprostituierte. DIE GRÜNEN]) (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das machen Sie! Nun warten die Ukrainer zu Recht auf eine Reaktion Das ist ja nicht wahr!) der Europäischen Union. Wir müssen mit der Ukraine fair umgehen. Wir müssen ihr klar machen, welche Er- – Frau Nolte, ich sitze sehr häufig in diesem Untersu- folgschancen es gibt. Alles andere wäre falsch und un- chungsausschuss. Ich weiß, wovon ich rede. ehrlich. Warum aber zögert die Europäische Union? Hat (Beifall bei der SPD) sie kein Vertrauen in wirkliche Veränderungen in der Ukraine? Ist alle Begeisterung über die orange Revolu- CDU/CSU und FDP haben damit außenpolitisches tion schon verflogen? Glaubt die EU nicht an den Erfolg Porzellan zerschlagen und den Dialog zwischen unseren des neuen Kurses? Staaten schwer belastet. Es vergeht keine Unterhaltung mit Ukrainern, ohne dass diese Frage angesprochen Mir scheint, dass die EU derzeit etwas müde ist: müde wird. Dazu hätten Sie einen Antrag schreiben sollen. vom täglichen Kampf mit der ureigenen Bürokratie, aus- gezehrt von der letzten Erweiterungsrunde, die sicher- Übrigens, mich haben schon heute Mittag ukrainische lich sehr viel Kraft gekostet hat, und jetzt zusätzlich ge- Zeitungen angerufen. Sie haben sich dafür bedankt, dass schockt vom Ausgang der Referenden in Frankreich und wir die Arbeit des Visa-Untersuchungsausschusses nun in den Niederlanden. beenden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider geht es bei Was die Ukraine braucht, ist ein klares Signal. Mit Ih- der EU-Perspektive der Ukraine nicht nur um Emotio- rem Antrag verfehlen Sie dieses Ziel. nen, sondern auch um so nüchterne Fragen wie Auf- nahme- und Beitrittsfähigkeit. Deshalb kann das An- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sinnen der Ukraine jetzt noch keine sofortige und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) abschließende Antwort erhalten. Das wäre übereilt. Zum einen muss die Ukraine erst noch unter Beweis stellen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass sie wirklich willens und in der Lage ist, die euro- Der nächste Redner ist der Kollege Harald Leibrecht päische Neuausrichtung des Landes durch- und umzuset- von der FDP-Fraktion. zen. Zum anderen muss die EU erst wieder Kraft 16836 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Harald Leibrecht (A) sammeln und nach innen wachsen, bevor sie an eine Er- machen sehr deutlich, dass wir mit den Kriterien für den (C) weiterung denkt. Beitritt zur Europäischen Union sehr sorgfältig umgehen müssen, um nicht bei den Menschen, den Bürgerinnen (Beifall bei der FDP) und Bürgern in Europa, ein Glaubwürdigkeitsdefizit auf- Aber es wäre verheerend, deshalb die Türe für die zubauen. Deshalb schaden falsche Versprechungen, auch Ukraine voreilig zuzuschlagen: wenn sie gut gemeint sind, mehr als sie nützen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – verheerend für die mutigen Reformer und die gleicher- Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das gilt maßen reform- und europabegeisterten Menschen in der allerdings auch für die Türkei, Herr Kollege!) Ukraine; verheerend aber auch für die EU, die ein großes Interesse daran haben muss, die Reformen in der – Das gilt für alle Beitrittsländer, die an diesem Prozess Ukraine zu unterstützen, das Land einzubinden. beteiligt sind. Das haben wir immer deutlich gemacht. Die Einhaltung von Kriterien gilt für die Türkei in ganz Was die Ukraine jetzt braucht, ist ein klares Ziel auf besonderem Maße, dem Weg in die Zukunft und Geduld auf dem Weg dort- hin. Geben wir ihr beides: eine klare europäische Per- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: spektive und ausreichend Zeit, um die begonnenen Re- Natürlich!) formen umzusetzen. Dann – davon bin ich von ganzem weil die Aufmerksamkeit an dieser Stelle natürlich sehr Herzen überzeugt – wird die Ukraine ein Teil der euro- groß ist. päischen Erfolgsgeschichte. Für meine Fraktion und, wie ich glaube, auch für die Ich danke Ihnen. gesamte Koalition sage ich sehr deutlich: Als Politike- (Beifall im ganzen Hause – Gernot Erler rinnen und Politiker haben wir, insbesondere im Hin- [SPD]: Sie sollten Heiratsvermittler werden! – blick auf die aktuellen Ereignisse in der Türkei, die Ver- Heiterkeit) antwortung, diesen Prozess sehr kritisch zu beobachten und auch zu reagieren, wenn er sich in die falsche Rich- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tung entwickelt. Wir haben nie ein Hehl daraus gemacht, Das Wort hat jetzt der Kollege Rainder Steenblock dass wir diese Position vertreten. von Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Das ist et- (B) (D) NEN): was ernüchternder als vorher, aber gut!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die – Nein, ich glaube, wir haben immer politisch begründet, Ukraine ist flächenmäßig der größte rein europäische warum wir diesen Weg gehen und keine Illusionen oder Staat. Die Ukraine ist ein Land mit reichem kulturellen euphorischen Realitätsverleugnungen praktizieren wol- Erbe, mit einem hohen wirtschaftlichen Potenzial. Es len. liegt in unserem ureigenen politischen und ökonomi- schen Interesse und es liegt natürlich auch im gesamt- (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Wir wer- europäischen politischen und ökonomischen Interesse, den sehen!) eine wirklich starke, politisch eigenständige und demo- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn man sich an kratische Ukraine als engen Partner und guten Nachbarn die Debatte zum Thema Ukraine erinnert, die wir vor an unseren östlichen Grenzen zu haben. den dortigen Wahlen, im September oder Oktober letzten Dieser Partner braucht eine Perspektive. Das ist Jahres, in diesem Hause geführt haben, und sich vor überhaupt keine Frage. Da sind wir uns in diesem Hause, Augen führt, wie sich dieses Land seitdem entwickelt glaube ich, alle einig: Die Ukraine ist ein europäisches hat und welche Dynamik der Aufbruch nach Europa, den Land und braucht auch eine Perspektive in die Europäi- Juschtschenko symbolisiert, freigesetzt hat, dann kann sche Union. Dafür streiten wir alle. Da sollten wir uns man die Bevölkerung und die Regierung der Ukraine nur nichts gegenseitig unterstellen. beglückwünschen und diesen Prozess mit der Solidarität des Deutschen Bundestages unterstützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Harald (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leibrecht [FDP]) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, genauso klar ist, dass die Entscheidung, ob diese Perspektive Realität Wir brauchen ein Instrument, um dies politisch hand- wird, heute nicht zu treffen ist. Das hat nichts damit zu habbar zu machen; das ist völlig in Ordnung. Das Instru- tun, irgendjemand in der Ukraine zu diskriminieren. ment, das dafür genutzt werden muss, ist die europäi- Vielmehr hat es etwas mit der Glaubwürdigkeit von Po- sche Nachbarschaftspolitik. Seit Februar dieses Jahres litik der Europäischen Union zu tun. Denn der Beitritt ist im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik zur Europäischen Union ist an Kriterien geknüpft. Ge- der Aktionsplan für die Ukraine in Kraft. In zwei Wo- rade die Referenden, die wir jetzt erleben und erleiden chen findet das Treffen des Kooperationsrates und im mussten und auf die wir eine Antwort finden müssen, Oktober dieses Jahres der Gipfel statt. Diese Schritte Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16837

Rainder Steenblock (A) müssen, wenn wir vorankommen wollen, vernünftig und Das Signal an die Ukraine bedeutet: Es lohnt sich, den (C) handwerklich sauber vorbereitet werden. Demokratisierungsprozess, die beginnende Integration in die europäische Gemeinschaft, den Weg zu Men- Die Ukraine, Deutschland, das diesen Prozess massiv schenrechten und Gewaltenteilung weiterzugehen. Wir unterstützt, und die Europäische Union sind insgesamt müssen den Ukrainern aber auch sagen: Ihr müsst das auf einem guten Weg. Allerdings muss auch klar sein: nicht unseretwegen leisten. Nicht der EU wegen habt ihr Wir dürfen nach der orangen Revolution, die auch ein das zu leisten – und das ist kein Eintrittsbillet in die Medienereignis war, nicht den Fehler machen, die Ukra- europäische Staatengemeinschaft –, sondern ihr macht ine jetzt in der Mühsal der Ebenen allein zu lassen. das in erster Linie für eure Menschen. Wenn nicht mehr jeder Besuch in der Ukraine von einem großen Fernsehteam begleitet wird, ist dieses Land da- Die Frage ist: Was können wir – was kann Deutsch- rauf angewiesen, dass wir auch in diesem Hause unsere land –, was kann Europa dabei leisten? Hilfestellungen praktische Solidarität in konkreten Projekten weiterhin sind angesprochen worden. Das, was vereinbart worden unter Beweis stellen. Dafür werbe ich. ist, ist in Teilen bereits umgesetzt: der EU-Ukraine- Aktionsplan vom Beginn dieses Jahres. Nach einem Vielen Dank. Jahr wird gefragt werden: Was hat er gebracht, wie weit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sind wir? Er müsste fortgeschrieben werden, immer mit bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeord- dem Ziel, die Annäherung der Ukraine an die EU zu be- neten der CDU/CSU) schleunigen. Wir selbst, in Deutschland, sind beim Be- such von Präsident Juschtschenko einige Vereinbarun- gen eingegangen. Am zweiten Tag ist im Parlament Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: davon gesprochen worden, dass sich die Ukraine Das Wort hat jetzt der Kollege Manfred Grund von wünscht, dass wir durchaus mit mehr Herzenswärme da- der CDU/CSU-Fraktion. rangehen, dass wir es etwas konkreter untersetzen. Ich glaube, das Parlament kann ein bisschen dazu beitragen, Manfred Grund (CDU/CSU): dass diese Punkte untersetzt werden, Arbeitsgruppen eingesetzt werden und auch die Ukraine das Gefühl hat Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Europa – und nicht nur das Gefühl hat, sondern weiß –, dass sie befindet sich in keiner besonders guten Verfassung. In nicht allein gelassen wird. Frankreich und Holland ist der Verfassungsvertrag durch Volksentscheide abgelehnt worden. Damit scheint die Wir müssen den Menschen in der Ukraine allerdings Vertiefung der Europäischen Union vorläufig geschei- auch sagen: Seid nicht enttäuscht, wenn Europa euch tert zu sein. Auch wenn es unterschiedliche Ablehnungs- keinen Zeitpunkt für Beitrittsgespräche, für Annähe- (B) (D) gründe gegeben haben mag – in Frankreich waren sie rungsgespräche nennen kann. Wir haben eine gewisse stärker innenpolitisch motiviert, in Holland hatte man Verunsicherung: Bei manchen in Europa herrscht das möglicherweise die Sorge, dass ein kleines Land in einer Gefühl, dass sich die Europäische Union mit der Erwei- großen EU untergehen könnte –, scheint es doch so, als terung vor einem Jahr um zehn neue Mitglieder viel- seien die Europäer ihrer selbst unsicher geworden und leicht überhoben hat, vielleicht etwas verhoben hat. Es als wollten sie zu den Zielen Europas – der Entwicklung besteht die Sorge – das kommt in diesen Referenden eines einheitlichen, freiheitlichen, wirtschaftlich dyna- zum Ausdruck –, dass die Erweiterung der Europäischen mischen und sozial verantwortlichen Europas – auf Dis- Union um Bulgarien und Rumänien möglicherweise et- tanz gehen. was zu früh kommt, obwohl natürlich die ganzen Fort- schrittsberichte abzuwarten bleiben und es erst dann In genau diesen Wochen und Tagen diskutieren wir möglicherweise zur Ratifizierung von Beitrittsverträgen über einen Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion kommt. Klar sein muss aber auch: Bulgarien und Rumä- mit dem Titel „Für eine klare europäische Perspektive nien sind europäische Staaten, ebenso wie die Ukraine der Ukraine“. Zu Recht stellt sich die Frage: Ist diese ein europäischer Staat ist. Diskussion zeitgemäß? Auch wir haben einmal kurz in- negehalten und uns gefragt: Wollen wir diese Diskussion Eine weitere Sorge, die durchaus da sein könnte, ist, verschieben? Ich finde, die Tatsache, dass wir heute über dass wir mit der Erweiterung der Europäischen Union dieses Thema diskutieren – auch in dieser Breite der um die Türkei einen Automatismus bekommen, an des- Auffassungen –, ist ein Signal nach innen, also an uns sen Ende eine europäisch-asiatische, eine eurasische selbst, aber auch ein Signal nach außen. Freihandelszone stehen könnte und eben nicht die politi- sche Union, diese politische Europäische Union, auf Das Signal nach innen zeigt uns: Wir wollen an die- dem Weg, zu der die Ukraine ist. sem europäischen Weg, an dieser EU und an dieser frei- heitlichen, demokratischen, wirtschaftlich erfolgreichen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und sozialen Europäischen Union festhalten, und es Wir wollen die Ukraine ermutigen, ihren Weg der De- lohnt sich, daran zu arbeiten und dafür zu kämpfen. mokratisierung im eigenen Lande, ihre Reformen zur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gewaltenteilung, Rechtssicherheit und Unabhängigkeit neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/ von Justiz und Gerichten fortzusetzen. Dies ist eine der DIE GRÜNEN) Voraussetzungen für mehr Investitionen. Wir werden nämlich immer wieder gefragt: Warum gibt es so wenige Es gibt auch keine Alternativen dazu. Investitionen aus Deutschland, warum ist Deutschland in 16838 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Manfred Grund (A) der industriellen Fertigung so wenig präsent? Rechtssi- Im Übrigen ist die heutige Situation in der Ukraine (C) cherheit ist eine der wesentlichen Voraussetzungen. Ich durchaus ein wenig mit der in Deutschland vergleichbar. glaube, dass wir dann gemeinsam durchaus in der Lage Es gilt, in einem Reformprozess für das Zusammen- sein werden, der Ukraine diese europäische Tür zu öff- wachsen der Landesteile zu sorgen. Das ist eine riesige nen – wir sollten sie nicht zuhalten –, auch wenn wir Herausforderung für die junge Demokratie in der Ukra- heute nicht in der Lage sind, einen konkreten Termin da- ine. Wichtig ist dabei, dass auch der bisher russisch ori- für zu benennen. entierte Teil des Landes in diesem Prozess mitgenom- men und integriert wird. Schon dieser Fakt zeigt, dass Herzlichen Dank. die Ukraine einen langen und komplizierten Weg vor (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem sich hat. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Das Gleiche gilt auch für den Erweiterungsprozess geordneten der FDP) der Europäischen Union. Die Integration der zehn neuen Mitgliedstaaten bleibt eine große Herausforderung beim Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zusammenwachsen von Europa. Nicht zuletzt von die- Das Wort hat der Kollege Jörg Vogelsänger von der sem Prozess hängt es ab, ob es irgendwann zu einer Er- SPD-Fraktion. weiterung der Europäischen Union über Rumänien und Bulgarien hinaus kommen wird. Jörg Vogelsänger (SPD): Trotz all dieser Schwierigkeiten sollten wir eines Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen nicht vergessen: Unser Europa ist ein Kontinent des und Herren! Derzeit macht Europa Schlagzeilen, die sich Friedens und der Sicherheit geworden. bis auf einige Politiker von Union und PDS nur wenige (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE hier im Bundestag wünschen. GRÜNEN]: Sehr richtig!) Engagiert haben wir gemeinsam parteiübergreifend Wir in Deutschland sind nur noch von Freunden umzin- für die europäische Verfassung gekämpft. Diese ist mit gelt. Zu unseren Freunden gehört auch die junge Demo- großer Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat verab- kratie in der Ukraine. Diese werden wir in ihrem schiedet worden. Der deutsche Hauptwiderstand kam Reformprozess – das kann man mit Sicherheit partei- von der PDS in Mecklenburg-Vorpommern und von Tei- übergreifend sagen – entschieden unterstützen. len der Christlich Sozialen Union. Wir haben in Deutschland den Weg freigemacht für eine moderne Vielen Dank. europäische Verfassung, für ein modernes Europa. Lei- (B) (Beifall im ganzen Hause) (D) der ist dies in den Niederlanden und in Frankreich noch nicht gelungen. Trotz dieses Rückschlages ist in Europa gerade seit 1989 Großartiges geschehen; das sollten wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht vergessen. Ich schließe die Aussprache. Einen entscheidenden Anteil daran haben die friedli- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf chen Revolutionen. Diese haben Diktaturen beseitigt. Drucksache 15/5021 an die in der Tagesordnung aufge- Das trifft auf Deutschland genauso wie auf die Ukraine führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- zu. Unser größter Respekt gilt der friedlichen Revolution verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung in Orange unter Führung des jetzigen Präsidenten Viktor so beschlossen. Juschtschenko. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Die Ukraine ist auf unsere europäische Landkarte der Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- demokratischen Staaten zurückgekehrt. Sie braucht eine richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu europäische Perspektive. Hier haben die Antragsteller dem Antrag der Abgeordneten Ingrid Arndt- durchaus Recht. Niemand kann heute aber sicher sagen, Brauer, Norbert Barthle, Veronika Bellmann, wie sich diese Perspektive ganz konkret entwickeln Lothar Binding (Heidelberg), Renate Blank und wird. Die Europäische Union hat der Ukraine Verhand- weiterer Abgeordneter lungen über einen Aktionsplan angeboten, dessen zehn Punkte den Reformprozess politisch und wirtschaftlich Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht stabilisieren helfen sollen. von Geburt an – Drucksachen 15/1544, 15/4788 – Der politische Neuanfang in Kiew erfordert jetzt ent- schiedene Reformen und vor allem einen langen Atem. Berichterstattung: So ehrlich muss man sein. Dies liegt auch in unserem ei- Abgeordnete Barbara Wittig genen Interesse; denn die Ukraine ist aufgrund ihres er- Beatrix Philipp heblichen wirtschaftlichen Potenzials als Partner für Josef Philip Winkler Deutschland von großem Interesse. Dadurch können Klaus Haupt auch in Deutschland Arbeitsplätze gesichert werden. Herr Kollege Grund ist darauf schon eingegangen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Fraktion der SPD 18 Minuten, die Fraktion der CDU/ Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16839

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) CSU 18 Minuten, die Fraktion des Bündnisses 90/Die alles Ziele, die jeder von uns richtig findet und sicher (C) Grünen sieben Minuten und die Fraktion der FDP sechs auch unterstützt. Die Frage ist nur, ob ein Wahlrecht von Minuten erhalten sollen. – Ich höre keinen Widerspruch. Geburt an dorthin führt. Im Ziel bin ich mir mit den Be- Dann ist so beschlossen. fürwortern des Wahlrechtes von Geburt an einig. Das Mittel halte ich allerdings aus den verschiedensten Grün- Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die den, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, für Kollegin Barbara Wittig von der SPD-Fraktion das Wort. falsch.

Barbara Wittig (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ina Lenke Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Lob- [FDP]: Was ist denn Ihre Alternative?) byarbeit der Anhänger eines Wahlrechtes von Geburt an „Was ist der Rechtsgewinn für Kinder, wenn unter ist bemerkenswert, ja, geradezu beeindruckend. dem Strich für sie ein symbolisches Recht herauskommt, Nach meiner Rede zu diesem Thema im Rahmen der das ihnen eigentlich nichts bringt?“ „Familienwahlrecht ersten Lesung im Plenum habe ich viele Zuschriften aus ist auch kein Königsweg zur Erreichung wünschenswer- allen Teilen Deutschlands erhalten; denn ich hatte mich ter Ziele, sondern ein demokratietheoretischer Irrweg.“ ja bereits in der ersten Lesung als Gegnerin dieses Wahl- Dies sind nur zwei Zitate aus dem Expertengespräch, das rechtes von Geburt an geoutet. wir im Dezember 2004 durchgeführt haben. Viele von Ihnen waren dabei; doch der Reihe nach. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dorothee Die Initiatoren des Gruppenantrages „Mehr Demo- Mantel [CDU/CSU]) kratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an“ versprechen sich davon sehr viel. Mit ihrem Antrag – Danke. – Viele haben meine Argumente für plausibel möchten sie erreichen, dass der Bundestag die Bundes- gehalten, andere wiederum konnten sie nicht verstehen regierung auffordert, einen entsprechenden Gesetzent- oder einfach nicht akzeptieren. Das ist normal. Wir ha- wurf vorzulegen, Art. 38 des Grundgesetzes zu ändern. ben uns damit auseinander gesetzt. Zudem möge die Bundesregierung weitere Vorschriften Das hat mir aber auch gezeigt, dass viele Menschen vorlegen. Wie soll das aussehen? Kinder sollen von Ge- aus allen politischen Lagern eine noch stärkere Berück- burt an Inhaber eines solchen Wahlrechtes werden, das sichtigung der Interessen von Kindern, Jugendlichen aber bis zur Volljährigkeit treuhänderisch von den Eltern und Familien in unserer Gesellschaft für dringend gebo- bzw. den Erziehungsberechtigten als den gesetzlichen ten halten. Sie erwarten von den Abgeordneten des Vertretern ausgeübt werden soll. Deutschen Bundestages, dass sie als Vertreter des gan- Die Initiatoren führen unter anderem zur Begründung (B) (D) zen Volkes, so wie es in Art. 38 unseres Grundgesetzes an, dass der Ausschluss der jungen Generation vom festgeschrieben ist, in ihrem Zuständigkeitsbereich auch Wahlrecht ihre angemessene Berücksichtigung im politi- im Sinne von Kindern, Jugendlichen und Familien han- schen Willensbildungsprozess vereitle. Sie führen außer- deln. dem an, dass gemäß Art. 20 Abs. 2 unseres Grundgeset- Dass wir gemeinsam mit der Bundesregierung auf zes die gesamte Staatsgewalt vom deutschen Volk diesem Gebiet einiges erreicht haben, darf an dieser ausgehe und deshalb alle dazu gehörenden Menschen in Stelle nicht unerwähnt bleiben. das Wahlrecht einbezogen werden müssten. Schließlich sagen sie, der allgemein anerkannte Grundsatz der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Höchstpersönlichkeit, auf den ich nachher noch einmal BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zu sprechen komme, sei zwar bei Wahlen von Geburt an nicht berücksichtigt, aber in der Verfassung stehe er auch Der vom Bundesverfassungsgericht am 10. November nicht ausdrücklich. Überdies werde davon bei der Brief- 1998 festgestellten steuerlichen Benachteiligung von Fa- wahl sowieso abgewichen. Auch dazu sage ich später milien wurde ein Ende gesetzt. Kinderfreibetrag, Kin- noch etwas. dergeld und Kinderzuschläge beim Aufbau einer priva- ten Rentenversicherung sind dabei die wichtigsten Bei oberflächlicher Betrachtung klingen diese Argu- Punkte. mente vielleicht sogar schlüssig. Doch das bereits er- wähnte Expertengespräch vom Dezember 2004 be- (Ina Lenke [FDP]: Die Freibeträge haben Sie leuchtete schließlich die gesamte politische und gekürzt!) rechtliche Dimension. Gemeinsam mit den Experten er- Länder, Landkreise und auch Kommunen müssen natür- örterten wir sowohl die von den Initiatoren erhofften lich ebenfalls zur weiteren Verbesserung der Situation Ziele als auch eine Vielzahl von Problemen der prakti- von Kindern und Jugendlichen in Familien ihren Beitrag schen Umsetzung, vor allem der rechtlichen Aspekte ei- leisten, und zwar mit dem, was ihnen als Aufgaben zuge- nes Wahlrechtes von Geburt an. wiesen wurden. Einer der Experten stellte fest – ich zitiere wieder –: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Im Recht ist es üblich, dass ich von Rechten nur Zurück zu unserem Wahlrecht von Geburt an. Die Zu- spreche, wenn ich sie einklagen, wenn ich sie ir- kunft unserer Gesellschaft zu sichern, eine familien- und gendwie kontrollieren kann und wenn das Recht kinderfreundliche Politik durchzusetzen, Belange der verletzt wird, dass es auch Sanktionen gibt. Das jungen Generation angemessen zu berücksichtigen sind gibt es aber beim Elternwahlrecht nicht. Es gibt nur 16840 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Barbara Wittig (A) die Hoffnung, die Eltern werden schon im Interesse Sofern Eltern für ihre Kinder zusätzliche Stimmen er- (C) des Kindes wählen. hielten, verfügten sie außerdem gegenüber anderen Wahlberechtigten über ein wesentlich stärkeres Stim- Recht hat er. mengewicht. Das wiederum wäre – viertens – ein Ver- Kommen wir aber nun zu diesen rechtlichen Ein- stoß gegen die Gleichheit der Wahl. Der Gleichheits- wendungen. Die Befürworter eines Wahlrechtes von grundsatz verlangt aber nun gerade, dass alle Wähler mit Geburt an gehen davon aus, dass minderjährige Kinder den Stimmen, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf in zivilrechtlichen Angelegenheiten von ihren Eltern das Wahlergebnis haben. Deshalb hat das Bundesverfas- vertreten werden. Diesen Sachverhalt kann man aber sungsgericht auch klargestellt – ich zitiere das Bundes- nicht einfach auf eine Wahl übertragen; denn eine Wahl verfassungsgericht –: ist kein Rechtsgeschäft. Bei Wahlen für ein Parlament daß es angesichts der in der demokratischen Grund- handelt es sich um eine politische Willensentscheidung ordnung verankerten unbedingten Gleichheit aller und nicht um ein spezielles Privatinteresse. Ein Wahl- Staatsbürger bei der Teilnahme an der Staatswil- ausgang hat auch immer nachhaltige Auswirkungen auf lensbildung gar keine Wertungen geben kann, die es das gesamte Staatsvolk. zulassen würden, beim Zählwert der Stimmen zu (Ina Lenke [FDP]: Das wollen wir ja auch!) differenzieren. Festzuhalten ist also: Ein Wahlrecht von Geburt an ist Eine zivilrechtliche Minderheitenvertretung kann dem- mit den Grundsätzen der allgemeinen, der gleichen, der nach nicht mit einer solchen bei öffentlichen Wahlen freien, der unmittelbaren und der geheimen Wahl, wie es gleichgesetzt werden. Nicht umsonst haben die Mütter der Art. 38 im Grundgesetz vorschreibt, überhaupt nicht und Väter des Grundgesetzes für Wahlen Grundsätze zu vereinbaren. festgelegt. Hier ist noch einmal der Art. 38 zu erwähnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Sehen wir uns erstens an, was mit dem Wahlgrund- CDU/CSU) satz der Unmittelbarkeit zusammenhängt. Wenn wir von der Unmittelbarkeit, die im Grundgesetz festge- Ich muss noch auf Ihr Argument eingehen, bereits bei schrieben ist, ausgehen, dann müssen wir feststellen: der Briefwahl werde das Höchstpersönlichkeitsprinzip Zwischen das an und für sich wahlberechtigte Kind oder durchbrochen. Ich kann Ihnen das leider nicht ersparen. den Jugendlichen und dem Wahlbewerber wäre eine Die Briefwahl ist nämlich das allerschwächste Argument dritte Person geschaltet. Es wäre außerdem überhaupt für Ihr Anliegen. Es ist nicht stichhaltig. Wer schon ein- nicht sichergestellt, dass der unverfälschte Wille des mal an der Briefwahl teilgenommen hat – ich vermute, das trifft auf einige von uns zu –, der müsste sich eigent- (B) Wahlberechtigten zum Durchbruch käme. Zudem stellte (D) sich die Frage, von welchem Willen der Kinder die El- lich daran erinnern, dass Briefwähler auf dem Wahl- tern eigentlich ausgehen sollten. schein an Eides statt erklären müssen, dass der Stimm- zettel persönlich gekennzeichnet wurde. Nehmen wir zweitens den Grundsatz der geheimen Wahl. Auch der wäre verletzt, da sich der Wahlberech- Bei Wählern, die des Lesens unkundig oder durch tigte und der Vertreter grundsätzlich austauschen müss- körperliche Gebrechen gehindert sind, den Stimmzettel ten. Die Initiatoren erwarten geradezu, dass sich die El- zu kennzeichnen, und sich deshalb bei der Urnen- oder tern mit den schon verständigen Kindern austauschen Briefwahl eines Helfers bedienen, gilt grundsätzlich und die Wahlentscheidung besprechen. nichts anderes. Es handelt sich dabei lediglich um eine technische Hilfeleistung bei der Kundgabe des Wähler- Es handelte sich drittens auch nicht um eine freie willens. Das ist auch allgemein bekannt. Wahl, da sich die Eltern auch gegen den Willen der schon verständigen Kinder und Jugendlichen an der Das Gebot der höchstpersönlichen Stimmabgabe ist Wahl beteiligen oder vielleicht auch nicht beteiligen zwar nicht ausdrücklich im Grundgesetz festgeschrie- könnten. Zudem ist überhaupt nicht auszuschließen, dass ben, aber nicht umsonst heißt es in Art. 38 Abs. 3: „Das im Rahmen dieser Eltern-Kind-Gespräche eine Beein- Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.“ Genau das tut das flussung – womöglich im Sinne der Elternentschei- Bundeswahlgesetz. Es konkretisiert die in Art. 38 ge- dung – vorgenommen werden könnte. nannten Grundsätze. Deshalb schreibt § 14 Abs. 4 des Bundeswahlgesetzes vor, dass jeder Wahlberechtigte In diesem Zusammenhang kann ich auch nur vermu- sein Wahlrecht nur einmal und nur persönlich ausüben ten, dass die Befürworter des Wahlrechtes von Geburt an kann und eine stellvertretende Stimmabgabe unzulässig mit 14- bis 18-Jährigen entweder kaum oder vielleicht ist. gar keinen Kontakt hatten; denn sonst wäre ihnen wohl des Öfteren gesagt worden, was diese jungen Leute von Neben den rechtlichen Einwänden muss auch auf einem Wahlrecht halten, das ihre Eltern stellvertretend nahe liegende technische Schwierigkeiten und den enor- für sie ausüben sollen. Ich habe mich sehr viel umgehört. men bürokratischen Aufwand hingewiesen werden. Sie finden das unmöglich und halten überhaupt nichts (Ina Lenke [FDP]: Wieso das denn? – Klaus davon. Ich kann das verstehen. Haupt [FDP]: Schauen Sie nach Fulda! Schauen Sie nach Aachen! Österreich!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Klaus Haupt [FDP]: Kommt darauf an, wie Sie es ih- Vor jeder Wahl müsste behördlich festgestellt und doku- nen erklären!) mentiert werden, wer zu der Zusatzstimmengruppe ge- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16841

Barbara Wittig (A) hört. Welche Behörde oder welches Gericht sollte zum (Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster] (C) Beispiel in Zweifelsfällen entscheiden? Ich vermute, [FDP] – Zuruf von der FDP: Dann müssen wir dass die Wahl vorbei wäre, ehe diese Frage geklärt ist. ihnen das Wahlrecht geben!) (Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster] Für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an [FDP]) politischen Entscheidungen wäre das Wahlrecht von Ge- burt an ein deutlicher Rückschritt und kein Fortschritt. Schließlich bleibt immer noch die sachliche Grundfrage, ob nicht davon ausgegangen werden muss, dass Eltern (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit der zusätzlichen Kinderstimme einfach ihrer eigenen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Wahlentscheidung doppeltes Gewicht verleihen. CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Daniel Bahr Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: [Münster] [FDP]) Das Wort hat die Kollegin Beatrix Philipp von der CDU/CSU-Fraktion. Einer der Experten brachte es in dem Gespräch im Dezember auf den Punkt. Er bezeichnete ein Wahlrecht (Beifall bei der CDU/CSU) von Geburt an als unpraktisch, unpraktikabel Beatrix Philipp (CDU/CSU): (Ina Lenke [FDP]: Demokratisch!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich und verfassungswidrig. Es verstieße gegen die nur, weil ich den, wenn auch leisen, Zwischenrufen habe Zählwertgleichheit und Kinder und Jugendliche hätten entnehmen können, dass eine saubere Argumentation, keinen Rechtsgewinn durch ein Wahlrecht von Geburt dass Fakten, dass die Meinungen von Sachverständigen, an. Das sagt ein Experte. Dem kann ich nur zustimmen. dass die einschlägige Fachliteratur, dass namhafte Staatsrechtler usw. den von Ihnen vorgeschlagenen Weg (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten als einen ungangbaren bezeichnen, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) (Zuruf der Abg. Ina Lenke [FDP] – Klaus Haupt [FDP]: Das ist eine einseitige Wahrneh- Interessant sind auch die Voten der Ausschüsse, die mung!) über das Wahlrecht von Geburt an zu befinden hatten. Sowohl die mitberatenden Ausschüsse – der Ausschuss und weil diese Argumentation, so wie jetzt auch, Frau für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, der Lenke, überhaupt nicht zieht, mache ich mir die Mühe, Rechtsausschuss und der Ausschuss für Familie, Senio- noch einmal, wenn auch mit ähnlichen Argumenten wie (B) (D) ren, Frauen und Jugend – als auch der federführende In- die Frau Kollegin, deutlich zu sagen, warum der hier nenausschuss, für den ich als Berichterstatterin vortrage, vorgeschlagene Weg nicht gangbar ist. haben den Antrag fraktionsübergreifend mit deutlichen Mehrheiten abgelehnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Ina Lenke [FDP]: Sagen Sie aber auch das Posi- (Ina Lenke [FDP]: Deshalb muss es noch längst tive!) nicht richtig sein! Das sagt gar nichts!) Frau Lenke, ich stimme Ihnen zu und ich stimme mit Doch zurück zum Ausgangspunkt, Frau Lenke: Für der Intention des Antrages völlig überein, dass für die mich ist es wichtig, Kinder und Jugendliche zu stärken, Familie, für Familienpolitik insgesamt und insbeson- ihnen mehr Möglichkeiten zu geben, ihre Anlagen zu dere für Familien mit Kindern mehr getan werden muss. entfalten und sich für ihre eigenen Belange einzusetzen, (Ina Lenke [FDP]: Und für Jugendliche!) und sie zu ermuntern, sich selber aktiv zu beteiligen. Darin sind wir uns ganz schnell und völlig einig. Ich (Ina Lenke [FDP]: Wie denn? Wie ist denn Ihre Al- finde das bemerkenswert in einer Zeit, in der man Besu- ternative? Immer nur Nein sagen!) chergruppen eigentlich immer erzählen muss, dass wir Meine Alternative besteht darin, ihnen Gelegenheit zu uns hier nicht nur zanken, sondern dass es auch große geben, demokratische Verhaltensweisen einzuüben. Gemeinsamkeiten gibt wie zum Beispiel in einem sol- chen Fall. (Ina Lenke [FDP]: Wie denn?) Wir sind uns eigentlich auch schnell darüber einig, – Das habe ich doch gerade gesagt. dass die Familie das Fundament einer solidarischen Ge- Aus der Überschrift des Antrages muss meiner Mei- sellschaft ist, auch wenn wir unterschiedliche Auffassun- nung nach eine Frage werden: „Mehr Demokratie durch gen darüber haben, was wir unter Familie verstehen. So ein Wahlrecht von Geburt an?“ stimmen wir zum Beispiel der Definition der SPD über- haupt nicht zu, die sagt: Familie ist da, wo Kinder sind. (Ina Lenke [FDP]: Nein! Wir wollen das Aus- rufezeichen!) (Ina Lenke [FDP]: Das sagen wir auch!) Meine Antwort ist einfach: Wir brauchen keine Damit kann ich mich überhaupt nicht einverstanden er- Fremdbestimmung durch ein Stellvertreterwahlrecht, klären. Wenn ich aus dem Fenster gucke und einen sondern mehr Selbstbestimmung von Kindern und Ju- Sandkasten sehe, in dem Kinder spielen, komme ich gendlichen. nicht auf die Idee zu sagen, das sei eine Familie. 16842 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Beatrix Philipp (A) (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Diese Sätze stammen, wie gesagt, aus der Rede von (C) DIE GRÜNEN) Herrn Professor Kirchhof, in der er natürlich auch darauf hingewiesen hat, dass die Verschuldung unseres Staates, Ich glaube, dass Familie auf Dauer angelegt ist, etwas der Städte und Gemeinden sowie der Länder und des mit Zuverlässigkeit und mit Verantwortung auf Dauer zu Bundes, eine unzulässige Verlagerung von Lasten auf tun hat, auch wenn ich natürlich weiß, dass das in der die kommenden Generationen ist. Realität nicht immer so von allen eingehalten werden kann. Ich teile also die Besorgnis der Initiatoren des An- trags für mehr Generationengerechtigkeit und eine Ich finde auch die Kolleginnen und Kollegen sowie bessere Familienpolitik von ganzem Herzen. den amtierenden Präsidenten, der zu den unterzeichnen- den Antragstellern gehört, (Ina Lenke [FDP]: Aber Sie haben keine Alter- native und nur das Nein!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) – Frau Lenke, wenn die ganze Fachliteratur und die Ex- sehr sympathisch, aber Sympathie allein reicht leider perten in der Anhörung der Meinung sind, dass es so nicht aus. Wir können nicht das Grundgesetz ändern, nur nicht geht – Sie mussten ja hinnehmen, dass eigentlich weil uns etwas sympathisch ist. Deswegen müssen Sie alle Vorschläge Punkt für Punkt von den Verfassungs- sich jetzt der Mühe unterziehen, sich noch einmal anzu- richtern auseinander genommen wurden –, dann muss hören, warum wir diesem Antrag nicht zustimmen kön- man sagen: Ich würde es gern so haben, aber es geht lei- nen. der nicht. Ich finde, dass das ebenfalls zur Lauterkeit bzw. zur Wahrheit gehört. Ich zitiere aus der Begründung des Antrages, weil diese Begründung richtig ist: Erstens: zur Überschrift „Wahlrecht von Geburt an“. Es geht keineswegs um ein Kinderwahlrecht, sondern Immer noch sind Kinder, insbesondere mehrere, ei- um ein Mehrfachstimmrecht für Eltern, also um ein Plu- nes der größten Armutsrisiken in Deutschland, vor ralwahlrecht. allem für Alleinerziehende. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Die Begründung ist richtig, aber der Weg, den Sie be- SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN schreiten wollen, ist eben ein nicht gangbarer. Ich will und der FDP) das noch mit ein paar Beispielen begründen. Selbst wenn man dieses Mehrfachstimmrecht hinter ei- Im Übrigen wäre ja auch einmal interessant darüber ner elterlichen Stellvertretung versteckt, ändert das nachzudenken, warum die Antragsteller glauben, diesen (B) nichts an der Tatsache. Kinder sollen nicht einen Tag frü- (D) Druck von außen aufbauen zu müssen. Ich sage für her wählen können als bisher. Sie haben auch keinerlei meine Fraktion: Wir haben immerhin angefangen mit Kontrolle über das Wahlverhalten der Eltern. Wie soll der Anerkennung von Erziehungszeiten im Rentenrecht denn gewählt werden, wenn es in der Familie – das und mit anderen familienpolitischen Initiativen. Viel- könnte ja einmal sein; dafür gibt es prominente Beispie- leicht haben wir ja ab September ein bisschen mehr le – unterschiedliche Auffassungen über politische Rich- Spielraum, um Familienpolitik wieder in den Mittel- tungen gibt? Ich könnte mir vorstellen, dass Kinder ab punkt zu rücken. 14, also mit dem Eintritt der Religionsmündigkeit, eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Möglichkeit zur Kontrolle des Wahlverhaltens der Eltern erhalten. Es ist ja möglich, dass sich Kinder von diesem Trotzdem denke ich, dass sicherlich nicht alle diesen Alter an schon selbst zu politischen Sachverhalten äu- Druck von außen, der hier aufgebaut werden soll, brau- ßern. Ich stelle jedenfalls fest: Der Antrag stellt keinen chen. echten Rechtsgewinn für Minderjährige dar. Ich würde auch gern Herrn Professor Kirchhof zitie- Zweitens: der Verstoß gegen die Zählwertgleichheit. ren, dem in meiner Heimatstadt Düsseldorf der „Bergi- Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl ist fundamental sche Löwe“ verliehen wurde und der in seiner Rede aus- mit unserem Demokratieprinzip verbunden – darauf hat geführt hat: die Kollegin schon hingewiesen – und aufgrund der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes Die veröffentlichte Meinung scheint den Verzicht einer Veränderung nicht zugänglich. Die Schaffung eines der jungen Menschen auf das Kind zum Wertewan- faktischen Mehrfachstimmrechts für Eltern eröffnete del zu erklären. Dies ist eine normative Todsünde. aber die Argumentation für ein neues Klassenwahlrecht Im Übrigen ist die These von einer Verschiebung auch in anderen Bereichen, Frau Lenke. Warum sollten der Werte in der Vorstellung der Beteiligten empi- dann zum Beispiel nicht auch Frauen eine zusätzliche risch nicht belegt. Aktuelle Umfragen ergeben, dass Stimme erhalten, um die zweifellos noch immer vorhan- die jungen Menschen in der Liste ihrer dringlichs- denen Benachteiligungen auszugleichen? Warum soll- ten Wünsche an erster Stelle Kinder ten zum Beispiel nicht Umweltaktivisten wegen der be- – im Plural – sonderen Bedeutung der Umwelt ein doppeltes Stimmrecht erhalten? Das ist nicht albern, sondern das benennen und ältere Menschen wünschen sich am meine ich ganz ernst. Immer dann, wenn man Benachtei- dringlichsten Enkelkinder. Ich denke, diesen Men- ligungen feststellt, kann man doch den Betroffenen nicht schen kann geholfen werden. ein doppeltes oder dreifaches Stimmrecht einräumen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16843

Beatrix Philipp (A) Drittens. die Stellvertretungsfeindlichkeit des Wahl- Wir können zweifellos über die Absenkung des Wahl- (C) rechts. Das Wahlrecht ist ein höchstpersönliches Recht, alters reden. Auch damit hätte ich zwar meine Probleme. bei dem eine Stellvertretung absolut unzulässig ist. Der Das steht hier aber nicht zur Debatte. Verweis auf die Briefwahl und auf Wahlhelfer für ge- Eine bessere Familienpolitik und die Vertretung der brechliche Personen ist nicht geeignet, diesen Vorbehalt Interessen der Kinder und Jugendlichen sind angesichts zu entkräften; denn dabei handelt es sich um technische unserer äußerst problematischen demographischen Ent- Hilfestellungen. Nun wird behauptet, dass das vielleicht wicklung von herausragender Bedeutung. Die Beförde- nicht immer so sei. Aber ein möglicher Missbrauch – das rung dieses Themas muss – völlig unabhängig von Ihrem lehrt uns ein bisschen die Lebenserfahrung – kann doch Antrag – eine Selbstverständlichkeit für alle Abgeordne- kein Grund für einen Gesetzentwurf oder eine Änderung ten sein. Ich wünschte mir in diesem Bereich mehr inter- des Grundgesetzes sein. fraktionelle Gemeinsamkeit. Einer Grundgesetzände- Viertens. Wählen ist kein Rechtsgeschäft. Darauf ist rung bedarf es hierzu nicht. schon hingewiesen worden. Wenn man sein Kind an ei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ner Schule oder bei einem Sportverein anmeldet, dann ist das nicht mit einer Bekundung im Rahmen der Staats- Ich sage in aller Bescheidenheit: Meine Fraktion hat, willensbildung gleichzusetzen. wie ich eben schon erwähnt habe, zur Besserstellung der Familie erheblich beigetragen. Mir ist klar, dass diese Fünftens. Bei der elterlichen Vertretung im Sinne des Besserstellung noch nicht ausreichend ist. Vielleicht ha- Zivilrechts, etwa bei der Wahl der Religion, sind die ben wir ab September wieder mehr Entscheidungsspiel- Wirkungen ausschließlich auf das einzelne Kind be- raum. schränkt. – Es ist wie in der Anhörung: Sie hören nicht zu und folgen meiner Argumentation nicht. Das macht (Lachen der Abg. Karin Kortmann [SPD]) es schwierig, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Auf diese Zeit, Frau Kortmann, hoffen die meisten Men- schen in unserem Lande, meine Fraktion und auch ich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Danke schön. Ich befasse mich ja mit der Argumentation der Befür- worter. Wenn Sie sich aber die Schuhe zumachen oder in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Luft schauen, während ich jedes einzelne Argument auseinander klamüsere und Ihnen sage, warum es nicht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: möglich ist, dann kann ich mir das eigentlich sparen. Das Das Wort hat die Frau Kollegin Irmingard Schewe- wäre aber schade; denn ich glaube, dass die Bevölkerung Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen. (B) zunächst aus dem Bauch heraus sagen wird: Da die Fa- (D) milien nach vorne gebracht werden müssen, ist es ei- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE gentlich ganz logisch, dass derjenige, der viele Kinder GRÜNEN): hat, viele Stimmen hat. Aber der Teufel steckt wie im- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! mer im Detail. Das müssen Sie sich nun einmal anhören. Mehr Demokratie wagen, das wollen die Verfasserinnen und Verfasser des Gruppenantrages. Aber eine echte De- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mokratieinnovation ist das nicht. Davon könnte man ei- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE gentlich nur sprechen, wenn es ein originäres Wahlrecht GRÜNEN) für Kinder gäbe, wie es zum Beispiel die Berliner Kin- Wenn man für seine Kinder entscheidet, welcher Reli- derrechtsgruppe K.R.Ä.T.Z.Ä. fordert, aber nicht so. gionsgemeinschaft sie angehören oder welche Schule sie Ihnen, liebe Antragstellerinnen und Antragsteller, besuchen sollen, dann sind die Wirkungen dieser Ent- geht es eigentlich nicht um das Prinzip „Kinder an die scheidungen ausschließlich auf die eigenen Kinder be- Macht“; denn Sie wollen kein Wahlrecht für Kinder. Was schränkt. Wenn man aber eine Wahlvertretung zuließe, Sie wollen, ist ein zusätzliches Wahlrecht für die Eltern. dann hätte das Folgen für die Allgemeinheit. Das darf nicht sein. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Für ihre Bereitschaft, Kinder zu bekommen, sollen sie Sechstens. Es gibt kein Grundrecht auf Wahlteil- mit einer zusätzlichen Stimme bei den Parlamentswah- nahme von Geburt an. Es war für mich schon bemer- len belohnt werden, also mit einer Art parlamentari- kenswert, dass in der Anhörung argumentiert wurde, es schem Kindergeld. handele sich um ein „verfassungswidriges Verfassungs- recht“, das geändert werden müsse. Die schwierigen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ausführungen dazu überlasse ich gerne denjenigen, die SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ noch folgen werden. CSU und der FDP) Siebtens. die Diskursfähigkeit des Wahlberechtigten. Da Sie aber kein originäres Elternwahlrecht fordern Auch das ist ein Grundsatz, von dem wir nicht abrücken können, fordern Sie eben ein abgeleitetes. Genau das ist können. vom Grundgesetz aber nicht gewollt. Der Grundsatz der Allgemeinheit und der Gleichheit der Wahl schließt es Deshalb kann der Antrag von uns keine Unterstüt- aus, ein Stimmengewicht von Gruppen verschieden zu zung erfahren. bewerten. Das Dreiklassenwahlrecht von Preußen mit 16844 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Irmingard Schewe-Gerigk (A) seiner unterschiedlichen Stimmengewichtung nach dem litischen Spektrums bedeutet. Mehr Demokratie wagen, (C) jeweiligen Stand wurde bereits 1918 abgeschafft. Also aber dabei bitte keine großen Veränderungen – das ist die versuchen wir doch jetzt nicht, es für Eltern wieder ein- konservative Grundhaltung, von der der Antrag geprägt zuführen. ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Wenn wir die Interessen von Kindern und Jugendli- CSU und der FDP) chen tatsächlich mehr berücksichtigen wollen, sollten wir endlich das Wahlalter auf 16 Jahre absenken, wie Für Kinder und Jugendliche ergeben sich durch ein wir Grüne das schon seit Jahren fordern. Wahlrecht ab Geburt keinerlei Rechte – das wurde in der Anhörung sehr deutlich –; denn von Rechten kann man Die Einführung eines Familienwahlrechts ist in jeder nur dann sprechen, wenn man sie einklagen und bei ihrer Hinsicht der falsche Weg. Er ist verfassungswidrig, le- Verletzung Sanktionen durchsetzen kann. All das gibt es bensfremd und unpraktikabel. Darum bitte ich Sie, der bei einem Elternwahlrecht nicht. Beschlussempfehlung zuzustimmen und den Antrag ab- zulehnen. Wer garantiert eigentlich dafür, dass die Eltern das Wahlrecht „treuhänderisch für das Kind“ ausüben? Nie- Recht herzlichen Dank. mand! Gerade bei älteren Kindern und Jugendlichen ist es doch fast schon der Regelfall, dass die politische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Meinung der Eltern von der ihrer Kinder abweicht. Dass und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der sich die politische Meinung der Kinder tatsächlich im FDP) Stimmverhalten der Eltern widerspiegelt, ist nicht mehr als eine vage Hoffnung. Ich glaube, dass die Eltern die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Stimmen ihrer Kinder dazu benutzen, um so zu wählen, Das Wort hat der Kollege Klaus Haupt von der FDP- wie sie es selbst für richtig halten; durch das Elternwahl- Fraktion. recht haben sie dann eben mehr Stimmen. Das ist kein Wahlrecht für Kinder. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP) Klaus Haupt (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Das Wahlrecht ist ein höchst persönliches Recht. Es ist erste Lesung des fraktionsübergreifenden Gruppenan- nicht übertragbar und es duldet keine Stellvertretung. trags für ein Wahlrecht ab der Geburt war für mich eine kleine Sternstunde des Parlaments. Wir haben damals (B) Der Vergleich mit dem Wahlhelfer bei Menschen mit (D) Behinderung zieht nicht. Zu diesem Vergleich muss ich fair und sachlich eine sicher mutig quer gedachte Initia- sagen: Dieser Vergleich hinkt; denn die Wahlhelfer sind tive jenseits von Fraktionsgrenzen und fest gefügten Ri- an die Weisungen des Wählers oder der Wählerin gebun- tualen debattiert, was ich heute nicht ganz so beobachte. den, Eltern sind das nicht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Intention des Antrags ist und bleibt – auch das der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE wurde hier schon gesagt – richtig: Unser Land muss kin- GRÜNEN) derfreundlicher werden. Jungen Menschen müssen Hin- Es handelt sich eben um kein parteipolitisches Thema, dernisse und Risiken aus dem Wege geräumt werden, Frau Wittig, sondern um ein gesamtgesellschaftliches damit sie wieder mehr Freude haben, Kinder zu bekom- Thema. men. Die Aufgabe der Politik ist, die entsprechenden Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen. (Beifall bei der FDP) Die rot-grüne Bundesregierung hat mit ihren Investi- Die Bundestagsberatungen wurden von einer breiten tionen in den Ausbau von Ganztagsschulen und Kinder- Diskussion in Verbänden und Vereinen begleitet, die sich tagesstätten ganz neue Maßstäbe gesetzt, und das ohne Sorgen um die Zukunft unserer Gesellschaft machen. ein Elternwahlrecht. Ein Elternwahlrecht ist der falsche Der Deutsche Familienverband startete eine große Un- Weg zu mehr und besserer Familienpolitik. Es ist doch terschriftenaktion. Der Verfassungsrechtler von Arnim hanebüchen, zu glauben, dass Eltern grundsätzlich mehr sprach von einer echten Innovation für die deutsche De- als andere darauf achten, dass Politik die Interessen der mokratie. Die „Financial Times“, die ja nun kein sozial- Kinder und der jüngeren Generation vertritt. Das ist eine romantisches Blättchen ist, schrieb als Abschluss eines reine Hypothese. Genauso könnten wir behaupten, eine freundlichen Kommentars: Worauf es jetzt ankommt, weibliche Kanzlerin mache automatisch Interessenpoli- sind der Mut und die Beharrlichkeit der Reformer. Recht tik für Frauen. hatte sie. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP) DIE GRÜNEN und bei der SPD) In der Expertenanhörung erkannten auch die von den Interessant finde ich übrigens, dass Sie zum einen Antragsgegnern nominierten Experten an, dass der An- mehr demokratische Rechte und eine andere Politik for- trag wesentliche Fragen für die Zukunft unserer Gesell- dern, und in Ihrer Begründung zugleich kalkulieren, dass schaft thematisiert, und unbestreitbar sehen heute Ver- diese Ausweitung keine Verschiebung innerhalb des po- fassungsjuristen die Kinder als Träger von Grundrechten Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16845

Klaus Haupt (A) von Geburt an. Wahlrecht ist ein entscheidendes Bürger- Hans-Olaf Henkel sagte dazu, er fände diese Idee (C) recht. Kinder sind Bürger. nicht nur richtig, sondern überfällig in einer Situation, wo der Populismus auf Kosten der kommenden Genera- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tion neue Triumphe feiert. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Unser Rechtssystem sieht, soweit Rechtsfähigkeit und Herr Haupt, kommen Sie bitte zum Schluss. Geschäftsfähigkeit auseinander fallen, die Möglichkeit der Stellvertretung vor und weist diese im Falle von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kindern den geborenen Vertretern zu, die nun einmal die Eltern sind. So wollen wir das auch beim Wahlrecht. Klaus Haupt (FDP): Selbstverständlich muss man darüber diskutieren, ab Ich komme zum Schluss. wann junge Menschen das Wahlrecht selber ausüben. Mir fehlt leider die Zeit, darauf näher einzugehen. Ich darf noch einmal Hans-Olaf Henkel zitieren: Wir leiden in Deutschland nicht an einem Zuviel so genann- Das Kinderwahlrecht bringt nicht Privilegien für Fa- ter Schnapsideen, sondern daran, dass zu vieles so be- milien oder für die Eltern, sondern beseitigt eine beste- zeichnet wird. Deshalb verlieren wir viel Zeit. hende Diskriminierung und beendet die Benachteili- gung der Kinder. Ich bitte Sie: Geben Sie der Zukunft eine Stimme! (Beifall bei der FDP) Danke. Ich halte es für ungerecht, dass heute ein kinderloses (Beifall bei der FDP) Paar an der Urne doppelt so viele Stimmen hat wie eine Alleinerziehende mit zwei Kindern. Ich will: jeder Bür- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ger eine Stimme. Das Wort hat die Kollegin Antje Vollmer vom Bünd- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nis 90/Die Grünen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Dr. Antje Vollmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der von den Antragsgegnern, also der Gegenseite, nomi- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nierte Professor Dr. Pechstein – das ist interessant – hielt Wenigstens hat diese Debatte, so wie sie jedenfalls bis dementsprechend den Vorwurf der Verfassungswidrig- jetzt verlaufen ist, den Vorteil, dass nicht Wahlkampf- keit gegenüber unserem Antrag für eine Argumentation (D) (B) reden mit Blick auf den möglichen Wahltermin auf, wie er sagte, schwankendem Boden. Das bestätigen 18. September gehalten werden, wie wir das den Nach- übrigens auch die zahlreichen renommierten Verfas- mittag über erlebt haben, sondern dass es irgendwie zur sungsjuristen, die sich für eine solche Reform ausge- Sache geht. sprochen haben. Frau Philipp, ich nenne die ehemalige Justizsenatorin Frau Peschel-Gutzeit, ich nenne den Ver- Trotzdem habe ich, als ich gerade die Kritiker dieses fassungsrechtler Professor Kirchhof, Vorschlags gehört habe, eine ganze Zeit lang etwas irri- tiert gedacht: Man merkt doch auch hier, dass wir uns (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Nein, er distan- faktisch schon ganz gut im Closedshop der älteren Ge- ziert sich davon!) sellschaft eingerichtet haben und ich nenne den ehemaligen Bundespräsidenten (Beifall bei Abgeordneten der FDP) . und das Bohrende und auch Irritierende dieses Vor- Meine Damen und Herren, solange sich unsere Ge- schlags kaum erkennen. Dass man bei aller gut gemein- sellschaft auf Pump finanziert und damit trotz Sonntags- ten Familien- und Kinderpolitik bisher so dramatisch reden Belastungen in die Zukunft verschiebt, wird die schlechte Ergebnisse bekommen hat, sollte uns zu der junge Generation um Zukunftschancen beraubt. Ich Frage führen, ob nicht doch etwas dramatischere Vor- glaube, wir können die Zukunft der Familien und damit schläge gemacht und etwas grundsätzlichere Überlegun- unserer ganzen Gesellschaft nur sichern, wenn wir das gen angestellt werden müssten. politische Gewicht von Familien und Kindern ihrer ge- sellschaftlichen Bedeutung entsprechend durch ein (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Mir können Sie Wahlrecht ab Geburt erhöhen. das wirklich nicht unterstellen! Meine Tochter hat vier Kinder!) (Beifall bei der FDP) Ein Gutteil der Argumente, die gegen diesen Vor- Mit einem Drei-Generationen-Wahlrecht geben wir schlag des Wahlrechts von Geburt an angeführt worden der Zukunft eine Stimme, verwirklichen wir das Prinzip sind, erinnert mich sehr an Argumentationen aus frühe- „Jeder Mensch eine Stimme“ und verändern wir die ren Phasen der Veränderung des Wahlrechts, zum Bei- Prioritäten in der Politik, und zwar nicht nur in der Fami- spiel an die Debatten gegen oder für das Frauenwahl- lienpolitik, sondern auch in der Bildungs-, der Finanz- recht. und der Umweltpolitik – übrigens zum Wohl der gesam- ten Gesellschaft. (Beifall bei der FDP) 16846 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Dr. Antje Vollmer (A) Das miteinander zu vergleichen ist wirklich wunderbar. anfangen, zu akzeptieren, dass Kinder Bürger sind. Ich (C) Ich habe das mal sehr intensiv studiert. glaube, da besteht, jedenfalls in Bezug auf das Wahl- recht, noch eine gewisse Unklarheit. In Wahrheit handelt es sich im Kern doch um die Frage: Wer soll an der Formierung des politischen Wil- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) lens und der Repräsentanz eines Gemeinwesens teilha- ben? Das heißt, es geht im Kern um die Frage: Wen be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: trachten wir als Bürger dieser Gesellschaft? Das wichtigste Recht von Bürgern, das wichtigste Bürger- Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach meiner Kennt- recht, ist eben diese Teilhabe an der Bildung der politi- nis ist vereinbart, dass von jeder Fraktion ein Redner, der schen Machtrepräsentanz. dafür ist, und ein Redner, der dagegen ist, benannt wurde. Ich höre jetzt, dass von der CDU/CSU-Fraktion Da hat es immer genau diese Entwicklung gegeben. zwei Redner benannt wurden, die dagegen sind. Im alten Athen, der ersten Fast-Demokratie, waren alle diejenigen ausgeschlossen, die keinen Besitz hatten. Es (Klaus Haupt [FDP]: Das ist gegen die Spiel- waren die Frauen ausgeschlossen. Es waren die Kinder regeln!) ausgeschlossen. Es waren die Sklaven ausgeschlossen. Das kann ich nicht zulassen. Wenn es bei der CDU/ Es waren auch die Hetären ausgeschlossen. Es war also CSU-Fraktion einen Redner gibt, der dafür sprechen ein sehr kleiner Kreis, der die Macht unter sich aus- will, bitte ich ihn, das Wort zu nehmen. Ansonsten über- machte. springe ich die nächste Rednerin. Nach der bayerischen Verfassung von 1818 – übri- (Dorothee Mantel [CDU/CSU]: Wo steht das?) gens auch eine Verfassung! – verfügten nur männliche Angehörige einer christlichen Konfession ab 30 Jahre – Das ist nach meiner Kenntnis so zwischen den Fraktio- über das Wahlrecht. Auch ein sehr interessantes Modell. nen vereinbart worden. Das ist im Übrigen fair. Ich bin der amtierende Präsident und entscheide das so. Bis 1918 besaßen die Frauen kein Wahlrecht und in der Schweiz, wie man weiß, hat der letzte Kanton das Zur Geschäftsordnung, bitte schön. Wahlverbot für die Frauen erst 1990 aufgehoben. Bei all diesen Reformen der Verfassung, um das Ilse Falk (CDU/CSU): Wahlrecht zu ändern, stand im Kern die Frage dahinter: Herr Präsident, ich akzeptiere, dass Sie das Wort er- Wen betrachten wir als relevante Bürger unseres Ge- teilen. Ich möchte aber doch darauf hinweisen, dass es meinwesens? Immer dann, wenn das Verhältnis nicht ge- hier widersprüchliche Meinungen gibt. Uns gegenüber (B) stimmt hat, immer dann, wenn sich unter der bestehen- wurde ganz klar die Aussage getätigt, dass es eine solche (D) den Verfassungswahlrechtsordnung Ungerechtigkeiten Vereinbarung nicht gibt. Wir haben vor diesem Hinter- eingeschlichen haben, wurde am Ende das Wahlrecht grund die Rednerin, die jetzt dran wäre, gemeldet. verändert. Über genau diese Ungerechtigkeiten reden wir. Das ist Gegenstand der Initiative. Ich möchte nur ankündigen, dass wir diese Frage im Ältestenrat klären lassen. Wir verzichten darauf, jetzt (Beifall bei der FDP) eine Sitzungsunterbrechung zu beantragen und den Äl- testenrat einzuberufen. Wir werden das dann aber bei der Die Frage ist, ob die Gleichheit aller Staatsbürger nächsten Gelegenheit klären lassen. wirklich noch gewährleistet ist, wenn ein Fünftel des Staatsvolkes – selbstverständlich sind Kinder Teil des Staatsvolkes – an dieser Bildung des politischen Ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: meinwesens nicht teilnehmen kann. Um diese Ungerech- Selbstverständlich. Das ist Ihr gutes Recht. tigkeit aufzuheben, ist diese Initiative entstanden. (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Nennen Sie Ich wäre froh, wenn sich die Gegner dieser Initiative doch einmal die Paragrafen der Geschäftsord- etwas mehr anstrengen würden, um dann ihrerseits pro- nung!) duktive Vorschläge zu unterbreiten, – Bemühen Sie sich bitte selbst um die Geschäftsord- (Ina Lenke [FDP]: Ja, genau!) nung. Da steht drin, dass der amtierende Präsident das Wort erteilt, je nach Meinungsäußerung. Im Übrigen ha- zum Beispiel das Wahlalter zu senken. Da hätten Sie ben die anderen Fraktionen das ja auch so entschieden. uns alle, die wir für das Wahlrecht von Geburt an sind, Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen. Außerdem sofort auf Ihrer Seite. Es wäre jedenfalls ein Schritt in ist es ein reiner Akt der Fairness, dass bei einer solchen die richtige Richtung. überparteilichen und überfraktionellen Debatte jeweils (Ina Lenke [FDP]: Keine Vorschläge! Immer ein Redner, der dafür ist, und ein Redner, der dagegen nur Nein!) ist, das Wort erhalten. In Ihrer Fraktion gibt es ja eine ganze Reihe von Abgeordneten, die sich dafür ausge- Darüber, ab wann die Kinder dann selber wählen, ist sprochen haben. Von diesen hätte sich ja einer zu Wort zu diskutieren. Ich finde den möglichen Streit in den Fa- melden können. milien wunderbar, wenn die Kinder sagen: Ich will schon ab zehn Jahre wählen. – Ich wäre jederzeit dafür. (Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Das Genau das ist offen gehalten. Aber man muss erst einmal ist nicht in Ordnung!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16847

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Damit hat nun der Kollege Daniel Bahr von der FDP- recht wahrnehmen, möglicherweise eine andere politi- (C) Fraktion das Wort. sche Partei präferieren und nicht das Signal, was ich durch die Präferenz für eine politische Organisation ge- Daniel Bahr (Münster) (FDP): setzt habe, setzen wollen? Das heißt, hier wird nicht der politische Wille von mir als Minderjährigem vertreten, Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- sondern hier bestimmt in erster Linie der Wille der El- gen! Ich bedauere, dass das jetzt ein bisschen einen tern. Insofern erreichen Sie damit Ihr eigentliches Ziel Schatten auf die Debatte wirft. Ich bedauere auch, dass nicht. diese Debatte in der Tat parteipolitischer geführt wird, als es erfreulicherweise in der ersten Lesung der Fall (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und war. Ich würde mir wünschen, dass wir uns wirklich an des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Sache und an den Inhalten orientieren. Meine Damen und Herren, ich habe sehr viel Sympa- Ich möchte den Initiatoren dieses Antrages sehr herz- thie dafür und kämpfe dafür, dass Minderjährige, Kinder lich danken. Ich bin Gegner dieses Antrages, aber ich und Jugendliche, politische Beteiligung erlangen. Des- finde es gut, dass wir diese Debatte führen. Auch die Ini- wegen halte ich es für richtig, dass auf kommunaler tiatoren weisen ja darauf hin, dass wir in Deutschland in Ebene ein Wahlrecht ab 16 Jahren eingeführt wird, der Tat auf ein Problem zusteuern. Wenn die Alterspyra- mide kippt und wir immer mehr ältere und immer weni- (Beifall der Abg. Jutta Dümpe-Krüger ger jüngere Menschen haben werden, dann wird das [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Auswirkungen auf fast alle Politikbereiche in Deutsch- dass wir in den Kommunen Jugend- und Kinderräte land haben. Insofern ist die Frage, die die Initiatoren hier schaffen, dass wir gerade dort vor Ort eine höhere Betei- stellen, berechtigt. Sie gehen aber mit einem falschen ligung von Kindern und Jugendlichen erreichen. Ansatz an sie heran. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem Die Initiatoren sagen – wenn das stimmte, wäre das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ein Armutszeugnis –, dass sich Politik allein an den Be- völkerungsgruppen orientiert, die in der Alterspyramide Da muss viel mehr geschehen. In meiner Heimatstadt am stärksten vertreten sind. Sind wir Politiker in diesem Münster wird das gerade erst aufgebaut, obwohl wir da- Hause denn wirklich so schwach, dass wir uns danach rüber seit vielen Jahren diskutiert haben. richten, welche Altersgruppe besonders stark ist und dementsprechend auch mehr Stimmen bei einer Wahl (Zuruf von der SPD) bringt? Es ist doch heute schon so, dass die ältere Bevöl- – In anderen Städten gibt es das schon länger; Sie haben (B) kerung stärker an den Wahlen teilnimmt. Es ist doch vollkommen Recht. (D) heute schon so, dass die ältere Bevölkerung insofern überrepräsentiert ist. Aber trotzdem bin ich doch als Po- Aber wir müssten das Grundprinzip verankern. Dafür litiker und Abgeordneter für das ganze Volk verantwort- ist der Antrag gut. Wie schaffen wir es, mehr Nachhal- lich. In Art. 38 des Grundgesetzes steht, dass wir Abge- tigkeit in die Politik zu bekommen? Wie schaffen wir es, ordnete Vertreter des ganzen Volkes sind. zu erreichen, dass die Interessen von nicht geborenen Generationen, von kommenden Generationen berück- (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, sichtigt werden? Das schaffen wir nicht mit Ihrem Vor- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE schlag, sondern das schaffen wir, indem wir uns als Poli- GRÜNEN) tiker selbst verpflichten, den Schuldenaufbau zu Insofern vertrete ich als Abgeordneter auch die Interes- beenden und Lasten nicht immer weiter auf kommende sen der Minderjährigen in diesem Parlament. Generationen zu verschieben, indem wir anfangen, die Probleme zu lösen, angesichts der demographischen Herr Kollege Haupt, ich schätze Sie sehr. Aber auf Ih- Entwicklung vor allem die der Sozialversicherungssys- ren eben getätigten Ausspruch, Sie wollten verwirkli- teme, und Familienpolitik in den Mittelpunkt zu stellen. chen, dass jeder Mensch eine Stimme hat, muss ich Ih- Das ist nicht der Inhalt Ihres Antrages; aber ich danke nen sagen: Das stimmt nicht. Eine Mutter oder ein Vater Ihnen trotzdem für Ihre Initiative, weil sie uns wieder eines minderjährigen Kindes bzw. Jugendlichen hätte einmal Gelegenheit zu einer Debatte über diese Pro- dann zwei Stimmen und nicht eine Stimme. Das heißt, bleme gegeben hat. das Prinzip „Jeder Mensch eine Stimme“ wird hier ver- letzt. Sie schaffen nicht ein Kinderwahlrecht, sondern Ein letzter Satz. Die jungen Abgeordneten dieses Par- Sie schaffen ein Elternwahlrecht. Genau den Vorwurf lamentes haben eine ähnliche Initiative geplant, nämlich müssen Sie sich gefallen lassen. die Verankerung der Nachhaltigkeit im Grundgesetz. Morgen hätten wir sie gerne vorgestellt; leider hat uns (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, die Ankündigung der Neuwahlen einen Strich durch die der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Rechnung gemacht. Aber heute ist nicht das Ende aller GRÜNEN) Tage; wir kommen wieder, keine Frage. In der nächsten Legislaturperiode werden wir jungen Abgeordneten Was machen wir denn, liebe Kolleginnen und Kolle- diese Initiative einbringen und damit die Debatte voran- gen, wenn jemand wie in meinem Fall schon mit 15 oder bringen. 16 Jahren in einer politischen Jugendorganisation poli- tisch aktiv wird, aber die Eltern, die für mich das Stimm- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 16848 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Daniel Bahr (Münster) (A) (Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD, (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Das ist doch un- (C) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE bestritten!) GRÜNEN) Das wollen wir natürlich, wie der Kollege Bahr richtig gesagt hat, in dieser Demokratie flächendeckend veran- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kern. Als letzter Redner hat der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-Fraktion das Wort. Es gibt einige Modelleinrichtungen, Schulen und Kin- dergärten, die etwa nach dem italienischen Reggio-Kon- zept demokratische Beteiligung einüben. Aber das sind Rolf Stöckel (SPD): Ringeltauben. Ansonsten herrscht gegen besseres Wis- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der In- sen, was die sozialen Lernerfolge angeht, in den meisten nenausschuss empfiehlt mit einer Gegenstimme einmü- Bildungsanstalten tote Hose in Sachen Partizipation. tig, weiterhin ein Fünftel des Staatsvolkes, nämlich die dritte Generation, von der Geburt bis zum (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Beatrix Philipp 18. Lebensjahr vom wichtigsten Recht in der Demokra- [CDU/CSU]: Selbst das stimmt nicht!) tie, nämlich dem Wahlrecht, auszuschließen. Wir, die wir Ich sage damit nicht, dass diese Initiative keine Unter- als Sozialdemokraten mit insgesamt 41 Kolleginnen und stützung bei der Mehrheit der Abgeordneten der Fraktio- Kollegen dieses Hauses die fraktionsübergreifende Ini- nen finden würde, dass hier eine schlechte Jugend- oder tiative ergriffen haben, respektieren selbstverständlich Familienpolitik gemacht würde. Vielleicht haben ich und die demokratische Mehrheit, die ein von den Eltern meine Mitunterzeichner da teilweise eine andere Mei- wahrgenommenes Stellvertreterwahlrecht ablehnt. Aber nung. Aber es geht doch überwiegend um Geld und um bei aller Ablehnung und auch allem Spott: Immerhin hat Elternförderung. Die Frage der demokratischen Rechte der Ältestenrat die heutige, vorläufig abschließende Be- von Kindern und Jugendlichen ist aber eine zentrale schlussfassung nicht wie die erste Lesung vor über ei- Wertefrage in einer demokratischen Gesellschaft, die nem Jahr auf den 1. April gelegt. Zukunft gewinnen will. (Klaus Haupt [FDP]: Das ist schon mal gut!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Das ist ja schon ein kleiner Fortschritt. Wir werden be- DIE GRÜNEN und der FDP) stimmt auch in der nächsten Wahlperiode wieder einen Deswegen bin ich dafür, dass alle Kinder und Jugendli- Versuch starten. chen, die dies wollen, wählen können und von Politikern und Parteien ernst und angenommen werden. Das stell- (B) Die kleine Expertenanhörung im Innenausschuss hat (D) übrigens, wie auch die Literatur zu diesem Thema, zu- vertretend von den Eltern wahrgenommene Wahlrecht mindest ein ausgewogenes Verhältnis von Argumenten betrachte ich jedenfalls nur als einen Einstieg in eine sol- che Entwicklung der Demokratie. gebracht. Die Argumente waren nicht, wie das hier zum Teil dargestellt worden ist, eindeutig und sind es auch Wovor haben wir eigentlich Angst, meine Damen und nicht. Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- Herren? Vor Missbrauch durch Eltern, vor Beeinflussung gerichts ist, etwa was das Stellvertreterwahlrecht angeht, von Kindern? Vor mangelnder Urteilsfähigkeit oder ein- widersprüchlich. seitigen Vor- und Nachteilen für die eine oder andere Partei? Vor einer Übermacht der Familieninteressen? Ich Mehr als die klare Ablehnung enttäuscht mich per- halte das eigentlich für Anmaßung und Bevormundung sönlich aber, dass keinerlei Initiativen vorgeschlagen des Staatsvolkes durch diejenigen, die in unserer Demo- wurden, weder für eine Wahlalterssenkung, die das Pro- kratie genau zu wissen glauben, was für die Menschen blem allerdings nur teilweise lösen würde, noch für politisch richtig und falsch ist. praktische Verbesserungen und eine Ausweitung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen in den (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Angelegenheiten, öffentlichen Räumen und Institutio- DIE GRÜNEN und der FDP) nen, die sie direkt betreffen, mit und in denen sie auf- wachsen, leben und lernen müssen. Ich halte dies sogar für Quatsch, weil die Realität eine Unvollkommenheit bei allen Wählergruppen zeigt. Die (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Risiken sowie die Vor- und Nachteile wären auf alle Par- teien gleich verteilt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Es wird immer wieder auf die Partizipation in den Ju- auch Experten können irren. gendverbänden hingewiesen. Wir können heute Zu- schauer und Zuschauerinnen aus den Jugendparlamenten Eine mutige Demokratie, die noch wachsen will, in Hattingen, Witten und Herdecke begrüßen, würde sich darüber freuen, dass in den Familien und Schulen altersgemäß und zunehmend über politische Zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des sammenhänge und Interessen gesprochen würde und tat- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der sächlich alle im Staatsvolk eine Stimme hätten. FDP) Schade drum und auf ein Neues! die wissen: Partizipation von Kindern und Jugendlichen heißt, dass Erwachsene einen Teil der Macht an sie abge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ ben müssen, dass sie sie mit ihnen teilen müssen. DIE GRÜNEN und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16849

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (C) Ich schließe die Aussprache. Drucksache 15/5106 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung schusses auf Drucksache 15/4788 zu dem Antrag der so beschlossen. Abgeordneten Ingrid Arndt-Brauer, Norbert Barthle, Veronika Bellmann und weiterer Abgeordneter mit dem Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Titel „Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Geburt an“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Drucksache 15/1544 abzulehnen. Wer stimmt für diese Wohnungswesen Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (14. Ausschuss) gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. – zu dem Antrag der Fraktionen der SPD, der Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tagesord- CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nung um die erste Beratung des vom Bundesrat einge- NEN und der FDP brachten Gesetzentwurfs zur Sicherung der Unterneh- mensnachfolge, Drucksache 15/5604, zu erweitern und Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsi- diesen jetzt gleich als Zusatzpunkt 8 ohne Aussprache cherung abschließen aufzurufen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. – zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert Dann ist so beschlossen. Königshofen, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ich rufe den soeben aufgesetzten Zusatzpunkt 8 auf: tion der CDU/CSU Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Maßnahmen zur Kapitalprivatisierung der Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Un- Deutschen Flugsicherung GmbH ternehmensnachfolge – zu dem Antrag der Abgeordneten Horst – Drucksache 15/5604 – Friedrich (Bayreuth), Birgit Homburger, Hans- Überweisungsvorschlag: Michael Goldmann weiterer Abgeordneter und Finanzausschuss (f) der Fraktion der FDP Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Leitlinien für die Privatisierung der Deut- (B) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schen Flugsicherung – Gesamtkonzept zur (D) Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Neuordnung der Flugsicherung Wir kommen gleich zur Überweisung. Interfraktionell – Drucksachen 15/5342, 15/4829, 15/4670, 15/ wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 5519 – 15/5604 an die aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Berichterstattung: Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Abgeordnete Reinhard Weis (Stendal) Norbert Königshofen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Albert Schmidt (Ingolstadt) Horst Friedrich (Bayreuth) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen Strobl (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und werden. Es handelt sich um die Redebeiträge der Kolle- der Fraktion der CDU/CSU gen Reinhard Weis, SPD, Norbert Königshofen und Dirk Fischer, CDU/CSU, Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Verbot des Führens von Anscheinwaffen Grünen, Horst Friedrich, FDP, und für die Bundesregie- – Drucksache 15/5106 – rung der Parlamentarischen Staatssekretärin Iris Gleicke.2) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Rechtsausschuss schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Drucksache 15/5519. Der Ausschuss empfiehlt unter Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An- Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Re- trags der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/ debeiträge der Kollegen Gabriele Fograscher, SPD, Die Grünen und FDP auf Drucksache 15/5342 mit dem Kristina Köhler und Dorothee Mantel, CDU/CSU, Silke Titel „Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsiche- Stokar von Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen, Ernst rung abschließen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Burgbacher, FDP, und für die Bundesregierung des Par- fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – lamentarischen Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper.1) Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.

1) Anlage 4 2) Anlage 5 16850 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Überweisungsvorschlag: (C) Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 15/4829 mit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und dem Titel „Maßnahmen zur Kapitalprivatisierung der Entwicklung (f) Auswärtiger Ausschuss Deutschen Flugsicherung GmbH“ für erledigt zu erklä- Finanzausschuss ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und lung ist einstimmig angenommen. Landwirtschaft Haushaltsausschuss Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- ner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der Die Reden hierzu sollen ebenfalls zu Protokoll ge- FDP auf Drucksache 15/4670 mit dem Titel „Leitlinien nommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kol- für die Privatisierung der Deutschen Flugsicherung – legin Karin Kortmann, SPD-Fraktion, sowie der Kolle- Gesamtkonzept zur Neuordnung der Flugsicherung“ gen Peter Weiß (Emmendingen), CDU/CSU-Fraktion, ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für die Be- Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen, und Markus schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Löning, FDP-Fraktion.2) gen? – Das ist einstimmig so beschlossen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Drucksache 15/5455 an die in der Tagesordnung aufge- Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Ortel, Sören Bartol, Dr. Herta Däubler-Gmelin, verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so beschlossen. sowie der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Kurth (Quedlinburg), Volker Beck (Köln), weite- rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- NISSES 90/DIE GRÜNEN richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- Die Situation der Fischerei durch nachhaltige sammenarbeit und Entwicklung (18. Ausschuss) Bewirtschaftung verbessern zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Weiß (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, Dr. Ralf – Drucksache 15/5587 – Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und der Frak- Überweisungsvorschlag: tion der CDU/CSU Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) Chance zum demokratischen Neubeginn in (B) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (D) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haiti unterstützen Ausschuss für Tourismus – Drucksachen 15/2746, 15/4973 – Auch die Reden hierzu sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Berichterstattung: Holger Ortel, SPD, Gitta Connemann, CDU/CSU, Abgeordnete Dr. Sascha Raabe Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen, und Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Christel Happach-Kasan, FDP.1) Thilo Hoppe Markus Löning Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 15/5587 zur federführenden Beratung an Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen den Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Landwirtschaft und zur Mitberatung an den Ausschuss Dr. Sascha Raabe, SPD-Fraktion, Peter Weiß (Emmen- für Wirtschaft und Arbeit, den Ausschuss für Umwelt, dingen), CDU/CSU-Fraktion, Christian Ströbele, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie an den Aus- Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Karl Addicks, FDP- schuss für Tourismus zu überweisen. Gibt es anderwei- Fraktion.3) tige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- wicklung auf Drucksache 15/4973 zu dem Antrag der Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Chance zum de- Weiß (Emmendingen), Dr. Christian Ruck, mokratischen Neubeginn in Haiti unterstützen“. Der Aus- Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer Abgeordneter und schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 15/2746 in der Fraktion der CDU/CSU der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für Mikrofinanzierung und Finanzsystementwick- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – lung zur nachhaltigen Armutsbekämpfung Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den und Mittelstandsförderung ausbauen Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der FDP-Frak- tion, die sich enthält, angenommen. – Drucksache 15/5455 –

2) Anlage 7 1) Anlage 6 3) Anlage 8 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 2. Juni 2005 16851

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Die Grünen, und Horst Friedrich (Bayreuth), FDP-Frak- (C) tion.1) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Blank, Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Drucksache 15/5456 an die in der Tagesordnung aufge- CDU/CSU führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Zügige Verwirklichung der ICE-Trasse Nürn- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- berg–Erfurt (VDE-Schiene Nr. 8.1) ordnung. – Drucksache 15/5456 – Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Überweisungsvorschlag: destages auf morgen, Freitag, den 3. Juni 2005, 9 Uhr, Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) ein. Haushaltsausschuss Die Sitzung ist geschlossen. Die Reden hierzu werden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Heinz Paula, (Schluss: 20.49 Uhr) SPD-Fraktion, und Renate Blank, CDU/ CSU-Fraktion, Albert Schmidt (Ingolstadt), Bündnis 90/ 1) Anlage 9

Berichtigung 177. Sitzung, Seiten III und 16703, Anlage 7 und 8: Der Name „Marion Caspers-Merk“ ist durch „Franz Thönnes“ zu ersetzen.

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16853

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 parteiisch auf die Seite der serbisch-orthodoxen Kirche gestellt hat (siehe „Unterrichtung des Parlaments“ durch Liste der entschuldigten Abgeordneten das BMVg vom 4. Mai 2005). Die Berichte der Bundesregierung an den Deutschen entschuldigt bis Bundestag geben außerdem nur Auskunft darüber, dass Abgeordnete(r) einschließlich die KFOR-Truppen Überwachungsaufträge zum Schutz ethnischer Minderheiten und Kulturgüter durchführen Andres, Gerd SPD 02.06.2005 sowie die Grenzen zu den Nachbarstaaten überwachen. Die Bundesregierung erwähnt in ihrem Antrag – Druck- Göppel, Josef CDU/CSU 02.06.2005 sache 15/5428 – nicht, in welchem Zeitraum der Einsatz im Kosovo beendet werden kann. Zur Beendigung des Koschyk, Hartmut CDU/CSU 02.06.2005 Einsatzes deutscher Soldaten im Kosovo gibt es keine ausreichenden diplomatischen Aktivitäten und somit Laumann, Karl-Josef CDU/CSU 02.06.2005 keine Perspektive zur Beendigung des Einsatzes für die deutschen Soldaten. Piltz, Gisela FDP 02.06.2005 Ich werde daher der Fortsetzung der deutschen Betei- Dr. Pinkwart, Andreas FDP 02.06.2005 ligung an der internationalen Präsenz nicht zustimmen.

Scharping, Rudolf SPD 02.06.2005 Anlage 3 Dr. Scheer, Hermann SPD 02.06.2005 Erklärung nach § 31 GO Scheffler, Siegfried SPD 02.06.2005 der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Ursula Sowa, Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, Dr. Schwanholz, Martin SPD 02.06.2005 Friedrich Ostendorff, Albert Schmidt (Ingol- stadt), Grietje Bettin, Thilo Hoppe, Kerstin Strothmann, Lena CDU/CSU 02.06.2005 Andreae, Hans-Josef Fell, Claudia Roth (Augs- burg), Cornelia Behm, Petra Selg, Jerzy (B) (D) Vaatz, Arnold CDU/CSU 02.06.2005 Montag, Peter Hettlich, Monika Lazar, Werner Schulz (Berlin), Ulrike Höfken, Anna Lührmann, Winfried Nachtwei, Marianne Anlage 2 Tritz, Jutta Dümpe-Krüger, Volker Beck (Köln), Jutta Krüger-Jacob, Dr. Thea Dückert, Erklärung nach § 31 GO Franziska Eichstädt-Bohlig, Fritz Kuhn, Christa Nickels, Silke Stokar von Neuforn, Anja des Abgeordneten Jürgen Koppelin (FDP) zur Hajduk, Rainder Steenblock, Dr. Ludger namentlichen Abstimmung über die Beschluss- Volmer, Alexander Bonde, Winfried Hermann, empfehlung und den Bericht: Fortsetzung der Undine Kurt (Quedlinburg), Hans-Christian deutschen Beteiligung an der Internationalen Ströbele und Birgitt Bender (alle BÜNDNIS 90/ Sicherheitspräsenz im Kosovo zur Gewährleis- DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung tung eines sicheren Umfeldes für die Flücht- über die Beschlussempfehlung und den Bericht: lingsrückkehr und zur militärischen Absiche- Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der rung der Friedensregelung für das Kosovo auf Internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des zur Gewährleistung eines sicheren Umfeldes für Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom die Flüchtlingsrückkehr und zur militärischen 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Absicherung der Friedensregelung für das Ko- Abkommens zwischen der Internationalen Si- sovo auf der Grundlage der Resolution 1244 cherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- der Bundesrepublik Jugoslawien und der Repu- nen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch- blik Serbien (jetzt: Serbien und Montenegro) Technischen Abkommens zwischen der Interna- vom 9. Juni 1999 (Tagesordnungspunkt 5) tionalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien Am 9. Mai 2001, vor über vier Jahren, beschloss der und der Republik Serbien (jetzt: Serbien und Deutsche Bundestag auf Antrag der Bundesregierung Montenegro) vom 9. Juni 1999 (Tagesordnungs- den Einsatz deutscher Soldaten im Kosovo. Wenn auch punkt 5) gewisse demokratische Fortschritte im Kosovo zu erken- nen sind, so trägt auch der Einsatz ausländischer Kräfte Mit Unverständnis habe ich die Vereinbarung zwi- zu Spannungen im Kosovo bei. So ist zum Beispiel die schen Bundesinnenministerium und den Bundesländern Wahrnehmung der Kosovo-Albaner, dass UNMIK sich mit der UN-Interimsverwaltung zur Abschiebung von 16854 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) Angehörigen ethnischer Minderheiten in ein noch nicht Wir teilen Ihre Sorgen über die zunehmende Verbrei- (C) befriedetes Kosovo zur Kenntnis genommen. Die getrof- tung dieser Anscheinwaffen. Allerdings wird dieses Pro- fene Vereinbarung zwischen Bundesinnenministerium blem nicht allein durch ein Verbot aus der Welt ge- und UNMIK-Verwaltung vom 25. April 2005 steht im schafft. Gegensatz zum Beschluss der Bundesregierung vom 4. Mai 2005 über eine weitere Beteiligung der Bundes- Aus Ihrem Antrag geht nicht hervor, was Sie nun wehr an der KFOR-Mission, alles für die Stabilisierung wirklich wollen: Wollen Sie ein Verbot von Anschein- des Kosovo zu tun. Deutschland gibt allein für die kriegswaffen oder auch von Imitaten ziviler Waffen? nächsten zwölf Monate 202 Millionen Euro für einen Wollen Sie die Bundesregierung zu einer Gesetzesinitia- Bundeswehreinsatz aus, der die Stabilität der Region si- tive oder zu exekutivem Handeln auffordern? Auch ist chern soll. Ihre Feststellung, die Novellierung des Waffenrechts sei ursächlich für das Wachsen des Marktes von Anschein- Die zwangsweise Rückführung insbesondere von waffen, falsch. Es ist richtig, dass Anscheinkriegswaffen Minderheitenangehörigen führt zu einer weiteren Desta- unter das alte Waffengesetz fielen. Dieses Verbot wurde bilisierung der Region, da die Abgeschobenen keinerlei auch auf Forderung der Kriminalpolizei abgeschafft. Perspektiven im Kosovo haben. Die Möglichkeiten zur Grund dafür war, dass die praktische Anwendung der Arbeitsaufnahme sind begrenzt und nur noch selten sind Vorschrift äußerst schwierig war. Nachahmungen von zi- Familien vor Ort, von denen sie Unterstützung erwarten vilen Waffen fielen auch nicht unter das alte Waffen- können. Die Stabilität des Kosovo ist nach wie vor durch recht. Bei der Novellierung des Waffenrechts wurde über hohe Kriminalität, ethnische Gegensätze und politischen eine Ausweitung der Anscheinsregelungen intensiv dis- Extremismus gefährdet. Die gewaltsamen Auseinander- kutiert, aber als unpraktikabel und kontraproduktiv im setzungen im März vergangenen Jahres haben dies ein- Bundesrat verworfen. deutig belegt. Die Sicherheitslage ist zerbrechlich und unberechenbar. Ich halte gesetzliche Führungsbeschränkungen für notwendig und richtig. Sie sollten sich allerdings auf das Obgleich Fortschritte zu erkennen sind, sind die dort Verbot von Anscheinkriegswaffen beschränken. Imitate lebenden Minderheiten in ihren Lebensbedingungen und ziviler Schusswaffen gibt es schon sehr lange und wird ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Angehörige von es wohl auch immer geben. Dazu gehören zum Beispiel Minderheiten, deren zwangsweise Rückführung jetzt die Spielzeugwaffen für Kinder beim Karneval oder die möglich ist, sind nach wie vor der Gefahr ethnisch moti- Zierwaffen von Trachtenvereinen. Diese zu verbieten vierter Zwischenfälle und Repressalien ausgesetzt. kann auch nicht in Ihrem Sinne sein. Die politische Gestaltung des Kosovo ist in diesem Sie begründen Ihre Verbotsforderung zum einen da- (B) Jahr in eine entscheidende Phase gekommen. Der lau- mit, dass die Verwechselung mit echten Waffen sehr (D) fende Prozess zur Klärung der Statusfrage für das Ko- groß sei und es so zum Beispiel bei Polizeieinsätzen zu sovo muss in einem sicheren und stabilen Umfeld statt- Situationen kommen könne, dass ein Polizist aufgrund finden. Jede Form der Destabilisierung würde den einer angenommenen Notwehrsituation von seiner fragilen und unberechenbaren Frieden im Land stören. Dienstwaffe Gebrauch macht, obwohl die auf ihn gerich- Die Konsequenz sollte nunmehr – nach Jahren der tete Waffe nur eine „Spielzeugpistole“ ist. Es bleibt in Duldungen für den Personenkreis der Minderheitenange- diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Verwen- hörigen aus dem Kosovo – die Gewährung eines recht- dung einer Anscheinwaffe bei einer kriminellen Hand- mäßigen Aufenthaltes in Deutschland und damit die Er- lung sich bereits jetzt strafverschärfend auswirkt, weil möglichung einer Zukunftsperspektive sein. Dies gilt diese Waffen als Nötigungsmittel anerkannt sind. Dabei insbesondere für die vielen Kinder und Jugendlichen, die ist es unerheblich, ob es sich um eine „echte“ Waffe oder in Deutschland geboren oder aufgewachsen sind. Die eine Attrappe handelt. Spielzeugwaffen, die echten Vereinbarung zwischen Bundesinnenministerium und Waffen zum Verwechseln ähnlich sind, können bei Poli- UNMIK vom April 2005 unterstreicht die Notwendig- zeieinsätzen zu Putativnotwehrlagen – Selbstgefähr- keit, eine Altfallregelung für langjährig in Deutschland dungsituationen – führen. Dabei ist es jedoch völlig un- lebende Minderheitenangehörige aus dem Kosovo zu be- erheblich, ob die Anscheinwaffe mit einer geringen schließen. In diesem Sinne sollte sich der Bundesinnen- Energie zum Beispiel Plastikkügelchen verschießen minister intensiv gegenüber seinen Länderkollegen und kann oder ob die Waffe völlig schussunfähig ist. Würde der Innenministerkonferenz einsetzen. man nun die Anscheinwaffen mit einer geringen Ge- schossenergie verbieten, so würde sich der Markt auf reine Attrappen im Militarylook verlagern. Das Drohpo- tenzial und eine eventuelle Putativnotwehrgefahr bliebe Anlage 4 immer dieselbe. Zu Protokoll gegebene Reden Zum anderen behaupten Sie, dass von diesen An- zur Beratung des Antrags: Verbot des Führens scheinwaffen ein erhebliches Verletzungsrisiko ausgehe. von Anscheinwaffen (Tagesordnungspunkt 14) Ab einer Energieleistung von mehr als 0,5 Joule greift das Waffengesetz und stellt das Führen solcher Waffen Gabriele Fograscher (SPD): Gegenstand der heuti- unter einen Erlaubnisvorbehalt. Geschossspielzeug unter gen Debatte ist der Antrag der CDU/CSU, das Führen 0,5 Joule, sogenannte Softairwaffen, haben kein erhebli- von so genannten Anscheinwaffen zu verbieten. ches Verletzungsrisiko, so wie es in dem Unionsantrag Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16855

(A) behauptet wird. Ernsthafte Gesundheitsbeeinträchtigun- Diese Waffen als Spielzeug zu kategorisieren, ist (C) gen sind hier nicht zu erwarten. Auch zu Zeiten des alten schlicht absurd. Es ist ebenso absurd wie das Parade- Waffenrechts waren diese Waffen nur im Spielzeugrecht stück von Loriot, in dem ein Atomkraftwerk-Bausatz mit – Spielzeugrichtlinie der EU vom 3. Mai 1988 – rege- dem Namen „Wir bauen ein Atomkraftwerk“ zu Weih- lungsbedürftig. Waffen unterhalb von 0,08 Joule sind nachten verschenkt wird, der auch tatsächlich ein biss- noch nicht einmal im Spielzeugrecht geregelt. chen explodieren kann. Das Waffengesetz vom April 2003 ist aber Realität und keine zur Belustigung er- Sowohl der Regierungskoalition als auch der Bundes- dachte Persiflage. regierung ist bewusst, dass es beim Thema Anschein- kriegswaffen Handlungsbedarf gibt. Und die Bundes- Vor der Neufassung des Waffengesetzes waren An- regierung ist in diesem Bereich bereits vor Einbringung scheinwaffen bereits verboten. Ihrer Gefährlichkeit Ihres Antrags tätig geworden. Das Bundesinnenministe- wurde früher im Waffengesetz ausdrücklich Rechnung rium prüft in Zusammenarbeit mit dem Bundesjustiz- getragen. Jetzt aber, nach der Novellierung des Waffen- ministerium ein ordnungsrechtliches Führungsverbot im rechts, ist das Führen von den Airsoftwaffen erlaubt. Sie Waffengesetz. Gleichzeitig laufen Gespräche mit den In- gelten offiziell nicht als Waffen. nenministern der Länder, die gefahrenabwehrrechtliche Nun ließe sich argumentieren, ein Gerät, aus dem Einziehung dieser Waffen in das Polizeirecht aufzuneh- höchstens kleine rote Farbkügelchen zu erwarten sind, men. Bei der Innenministerkonferenz, die in diesem sei auch keine Waffe, ganz gleich, wie es aussieht. Die Monat stattfinden wird, wird dieses wieder auf der Definition einer Waffe würde einfach nicht passen, wes- Tagesordnung stehen. halb das Waffengesetz für ein Verbot schlicht der falsche Ort sei. Dieses Argument halte ich indes für nicht son- Neben diesen rechtlichen Möglichkeiten, die Gefahr, derlich scharfsinnig. Zweck des Waffengesetzes ist doch die von Anscheinwaffen ausgeht, einzudämmen, bedarf ganz offenbar, einen verantwortlichen Umgang sicherzu- es aber auch flankierender Maßnahmen der Öffentlich- stellen und dadurch den Bürger vor fatalem Missbrauch keitsarbeit zur Sensibilisierung der Bevölkerung. Dazu zu schützen. Das ist der Schutzzweck des Gesetzes. So hat die Bundesregierung bereits eine Ächtungskampagne ein Missbrauch kann aber auch mit Airsofts betrieben gestartet. Sie verfolgt das Ziel, Waffen im Militarylook werden. Daher gehört ihr Verbot in dieses Gesetz. als Mittel der Gewaltverherrlichung zu ächten. Neben dem BMI und dem BMJ sind das BMWA, das BMFSFJ, Bereits Kinder können kleinere dieser Waffen erwer- das BMVEL und das BKA mit diesem Thema befasst. ben – übrigens auch für relativ wenig Geld. Und große Auch werden die Hersteller-, Jagd- und Schießsportver- Airsofts mit einer extrem hohen Schussweite und bände eingebunden. Schusskraft können mit achtzehn Jahren völlig frei er- (B) worben und mit sich geführt werden – natürlich auch (D) Um eine wirkliche Lösung der zunehmenden Verbrei- ohne Waffenschein oder Waffenbesitzkarte. Es ist damit tung von Anscheinwaffen zu erzielen, bedarf es mehr als jedermann möglich, mit einer solchen Waffe in der Öf- das im Unionsantrag geforderte Verbot. fentlichkeit spazieren zu gehen. Deshalb fordere ich Sie auf, beteiligen Sie sich und Wird die Waffe tatsächlich benutzt, besteht zum einen vor allem Ihre Länderinnenminister konstruktiv an der eine nicht zu unterschätzende Verletzungsgefahr. Die Lösung des Problems der Anscheinwaffen und versu- kleinen Kügelchen, die verschossen werden, sind gerade chen Sie nicht wieder, mit unausgegorenen Vorschlägen für den Gesichtsbereich und die Augen besonders ge- Populismus zu betreiben. fährlich. Sie können zu schweren Augenverletzungen führen – von Perforationen der Hornhaut, Netzhautablö- sungen und grünem Star bis zur Blindheit. Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): Das Massaker im Erfurter Gutenberg-Gymnasium liegt nun Das Problem ist aber nicht nur die Gefährlichkeit der zwei Jahre zurück, das Entsetzen über diese Tat ist ge- Geschosse, sondern die gravierenden Gefahren, die sich blieben. Das Waffengesetz wurde daraufhin stringenter aus der Verwechslung solcher Waffen ergeben. Selbst ausgestaltet. Fachleute können Airsoftwaffen nicht von echten Waf- fen unterscheiden. Die Verwechslungsgefahr ist damit Nur frage ich mich: Weshalb qualifiziert eben dieses unermesslich hoch. Das Szenario, das sich daraus ergibt, Waffengesetz, das eine Antwort auf die Bluttat von Er- liegt auf der Hand. So kann es durchaus dazu kommen, furt sein sollte, bestimmte Waffen als Spielzeug, obwohl dass der Polizist den Bankräuber erschießt, obwohl von sie ganz offensichtlich in kein Kinderzimmer gehören? ihm keine tatsächliche Bedrohung ausging. Oder der zö- Ich rede hier von Anscheinwaffen, von so genannten gernde Polizist vertraut auf die Verwendung einer Airsoftwaffen. Hinter dieser Bezeichnung verbergen Airsoftwaffe, verteidigt sich entsprechend nicht richtig sich halb- oder vollautomatische Kriegswaffen, Maschi- und wird Opfer einer tödlichen Kugel. nenpistolen und Pistolen. Es gibt mittlerweile genügend Beispiele, wo Derarti- Die Waffen sehen genau so aus wie ihr tödliches Ori- ges passiert ist: So ist in Nürnberg ein flüchtender Dieb ginal, sie haben das gleiche Gewicht und die gleiche erschossen worden. Er tankte, ohne zu bezahlen. Als die Funktionsweise. Lediglich die Kugel ist nicht tödlich – Polizisten ihn daraufhin stellen konnten, bedrohte er sie sie ist zumeist mit roter Farbe gefüllt, damit der Gegner mit einer Airsoftwaffe. Die Polizisten erschossen den wenigstens tödlich verletzt aussieht. Mann in Notwehr – der Unterschied zu einer echten 16856 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) Waffe war nicht erkennbar. Oder: Ein Mann ist auf einer sieht, und die Schüler ohne Waffengewalt überwältigen. (C) Halloweenparty erschossen worden, nachdem Polizisten Oder sie müssen davon ausgehen, dass sie sich selbst die Verkleidung mit einer Airsoftwaffe und seine Geste, verteidigen müssen, und richten womöglich ihre eigene auf die Polizisten zu zielen, als Bedrohung auffassen Waffe gegen die Schüler. Damit würde der Alptraum ei- mussten. nes jeden Polizisten wahr: im Einsatz einen Unschuldi- gen zu erschießen, im schlimmsten Fall einen minder- Wir reden hier nicht über die kleinen Streiche der jährigen Jugendlichen. Gehen sie aber davon aus, dass es kleinen Strolche. Ein Räuber- und Gendarm-Spiel mit sich um eine solche Anscheinwaffe handelt, werden sie Airsoftwaffen ist eben kein Spiel, weil Airsoftwaffen vielleicht mit einer echten Waffe von dem Täter verletzt, eben kein Spielzeug sind. Der Markt wird von diesen wahrscheinlich aber sogar getötet. Waffen überschwemmt – ich empfehle Ihnen mal einen Blick ins Internet auf die einschlägigen Homepages. Mir ist unerklärlich, dass wir zulassen, dass unsere Polizisten in eine derartige Situation gebracht werden Was ist also zu tun? Initiativen mit Präventionskam- können. Diese Situation besteht mit der Änderung des pagnen gibt es bereits. Sie sind ebenso gut gemeint wie Waffengesetzes nun schon seit über zwei Jahren. Daher fruchtlos. Natürlich ist es wichtig, an die Öffentlichkeit muss zumindest das Führen solcher Waffen in der Öf- zu appellieren. Natürlich ist es wichtig, gerade an Schu- fentlichkeit verboten werden. Das fordert selbst einer der len die Schüler, Lehrer und Eltern über das „Spielzeug“ führenden Importeure dieser Waffen. Das Fälschen von ihrer Kinder aufzuklären. Natürlich werden Empfehlun- Geld ist schließlich auch verboten – da kann das Fäl- gen immer auch bei einigen – wenigen – Gehör finden. schen von Waffen nicht erlaubt sein. Aber gutes Zureden allein erscheint mir hier doch ein Mir ist auch unerklärlich, wozu Waffen überhaupt wenig zu zaghaft, um diese Gefahr in den Griff zu be- originalgetreu nachgebaut werden müssen. Ich frage kommen. Wir müssen das Führen von Anscheinwaffen, mich, was ein Mensch beabsichtigt, der eine solche von Airsoftwaffen verbieten. Wir haben die Pflicht, Waffe kauft. Ein Spielzeug kann das wohl kaum sein. durch sinnvolle Gesetze die Bürger dieses Landes zu Spielzeug ist ungefährlich. Aber wenn dieses angebliche schützen und vor Schaden zu bewahren. Daher haben „Spielzeug“ in der Lage ist, Verletzungen wie zum Bei- wir hier die Pflicht, das Waffengesetz in diesem Punkt zu spiel den Verlust des Augenlichtes herbeizuführen, dann korrigieren. ist die Bezeichnung „Spielzeug“ wohl völlig unange- Mir ist bewusst, dass es gerade im Wahlkampf nicht messen. Um beispielsweise „Paintball“ zu spielen, besonders populär und auch nicht üblich ist, der Opposi- braucht man eine solche Waffe ebenso wenig. Solche tion Recht zu geben. Aber dieser Antrag ist schlicht ver- Waffen sind farblich gekennzeichnet und so von weitem (B) nünftig. Ich bitte Sie daher, im Interesse der Sache zuzu- als Imitate erkennbar. (D) stimmen. Ich frage mich daher schon, ob jemand, der eine sol- che Waffe kauft, zu Straftaten verleitet wird, weil er sich Dorothee Mantel (CDU/CSU): Waffen, die den An- damit mächtig fühlt. Über die Hälfte aller Raub- und schein erwecken, echt zu sein, müssen dringend verbo- Nötigungsdelikte wurden bisher mit Gas- oder Schreck- ten werden. Dringend, weil wir nicht warten können, bis schusspistolen begangen. Seit 2003 das Waffengesetz eine solche Waffe zum Tod eines Menschen führt. Natür- geändert wurde, nimmt der Verkauf dieser Waffen ab. lich können diese Waffen keinen Menschen direkt töten. Seitdem ist für den Besitz dieser Waffen der Kleine Waf- Aber sie können zu gefährlichen und missverständlichen fenschein notwendig. Gleichzeitig steigt der Absatz der Situationen führen und so indirekt Menschenleben kos- billigeren Softairwaffen. Offenbar weichen potenzielle ten. Täter auf diese Waffen aus. So war es möglich, dass während der letzten Weihnachtsfeiertage ein Mann hier Zuallererst denke ich dabei an unsere Polizisten. Wir in Berlin aus seiner Wohnung auf Passanten feuerte. alle haben noch die schrecklichen Bilder von Erfurt vor Augen, als ein 19-jähriger Schüler zum Amokläufer Ich sehe daher nicht, wen es trifft, wenn diese Waffen wurde und 16 Menschen tötete. verboten werden. Ich sehe aber, wem es hilft, wenn sie verboten werden: Kindern und Jugendlichen, die nicht Ein ähnliches Bild hatten die Polizisten in Karlsruhe mehr verletzt werden können, Polizisten, die nicht im vor Augen, als sie im vergangenen Jahr von verängstig- Unklaren gelassen werden und allen Menschen, die einer ten Lehrern gerufen wurden. Auf dem Hof einer Berufs- Bedrohung durch eine solche Waffe entgehen. schule befanden sich mehrere bewaffnete Jugendliche. Den herbeigerufenen Polizisten war es nicht möglich zu Mir ist es wichtig, dass wir, die wir als Politiker in ei- entscheiden, ob es sich bei den Waffen der Schüler um ner großen Verantwortung für Leib und Leben stehen, in scharfe Waffen oder bloße Attrappen gehandelt hat. Wie diesem Fall einmal handeln, bevor es zu spät ist. Präven- sich später herausstellte, bedrohten die Schüler ihre Leh- tion statt Reaktion, bevor es weitere Menschenleben rer mit Anscheinwaffen. Die Beamten müssten aber zu- trifft. nächst davon ausgehen, dass es sich um eine echte Waffe handelt. Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE Wie sollen sich unsere Polizisten in einer solchen Si- GRÜNEN): Das Verbot von Softairwaffen, das heißt tuation verhalten? Sie können darauf vertrauen, dass es Spielzeugwaffen, die wie echte scharfe Schusswaffen sich um eine Waffe handelt, die nur wie eine echte aus- aussehen, ist unbedingt erforderlich. Alarmierende Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16857

(A) Berichte in den Medien und nicht zuletzt der Polizei zei- Sicherheit muss gerade auch in der Alltagskriminali- (C) gen Handlungsbedarf an, der nicht ignoriert werden darf. tät ein hohes Gewicht tragen und wir sollten endlich auf die Warnungen und Forderungen aus der Polizei hören. Wir können es nicht zulassen, dass Leute ganz legal Mit meiner Fraktion ist hier jederzeit die erforderliche beim Einkaufsbummel ein Gerät mit sich herumtragen Gesetzesverschärfung machbar. Lassen Sie uns über den können, das wie eine Maschinenpistole aussieht. Aus gu- richtigen Weg im Innenausschuss beraten. tem Grund sind Kriegswaffen gesetzlich noch strenger verboten als andere Waffen. Ausgerechnet bei den Nach- ahmungen sind diese Kriegswaffen aber der große Ver- Ernst Burgbacher (FDP): Mit dem heute zu bera- kaufserfolg. Diese Waffen sind kein Spielzeug, sondern tenden Antrag verlangt die CDU/CSU-Fraktion die Än- ein gefährlicher Unfug, der andere Menschen ängstigt derung eines Detailpunktes aus dem neuen Waffengesetz und gefährdet. vom 1. April 2003. Im Zuge der damaligen Rechtsände- rungen ist das Verbot von so genannten Anscheinwaffen Bündnis 90/Die Grünen haben bei der Reform des weggefallen. Waffenrechts den Schutz der Menschen vor den Waffen Richtig ist, dass solche Scheinwaffen vom äußeren immer höher bewertet als die Interessen derer, die Waf- Anschein her mit echten Waffen verwechselt werden fen besitzen. Ich hätte mir gewünscht, dass gerade auch können. Daher sind Situationen, wie sie im Unionsantrag Union und Bundesländer hier mitgezogen hätten. Der geschildert werden, wonach Polizeibeamte sich einem Bundesrat ist aber erst nach der Tragödie von Erfurt er- vermeintlichen Angriff ausgesetzt sehen und sich ent- wacht. Bis dahin haben die Länder eine wenig konstruk- sprechend verteidigen, obwohl es tatsächlich nur um tive Rolle gespielt. Das gilt auch für die Unionsfraktion Scheinwaffen geht, nicht völlig auszuschließen. Den- im Bundestag. noch erscheint uns der Weg einer isolierten Behandlung So wäre bei der von uns immer wieder geforderten dieses einen Themas nicht richtig. Denn das neue Waf- stärkeren Beschränkung bei Erwerb und Besitz von Gas- fengesetz vom 1. April 2003 ist insgesamt nicht befriedi- und Schreckschusswaffen mehr möglich gewesen. We- gend ausgefallen. Es enthält viel Bürokratie, ist für die gen der Zustimmungspflicht des Gesetzes haben wir hier Praktiker schwer lesbar und damit auch nur schwierig zulasten der Sicherheit der Menschen dem unionsgeführ- anwendbar. ten Bundesrat Zugeständnis machen müssen. Einige Bestimmungen haben zu ungerechten Ergeb- nissen geführt. So ist es beispielsweise in Einzelfällen Es ist schon ein wenig scheinheilig, wenn die Union zum Entzug der Jagderlaubnis gekommen, weil der Be- jetzt versucht, einen Teilaspekt dieser von ihr selbstver- rechtigte lange vor In-Kraft-Treten des neuen Waffenge- schuldeten Schwächen der Neuregelung des Waffen- setzes sich eines Vergehens schuldig gemacht hat, das (B) (D) rechts herauszugreifen. keinerlei waffenrechtlichen Bezug gehabt hat. Damit In der Sache selbst ist unsere Position völlig klar: Be- wurde praktisch eine Art Rückwirkung eingeführt, die sitz und Gebrauch dieser nicht verbotenen Softairwaffen zwar juristisch unangreifbar ist, aber dennoch nicht ganz stellen eine große Gefahr für die öffentliche Sicherheit nachvollziehbar ist. Man sollte daran denken, den Ent- dar. Aufgrund der technischen Entwicklung sind Nach- zug des Waffenscheins und des Jagdscheins künftig wie- bildungen von scharfen Waffen, die unzutreffenderweise der nur bei solchen Straftaten vorzusehen, die einen in- unter die Bezeichnung „Spielzeugwaffen“ fallen, so täu- neren Bezug zur Benutzung von Waffen haben. schend echt, dass es überrascht, dass bisher noch nie- Insgesamt wäre es besser, eine Gesamtauswertung der mand verletzt oder getötet wurde, weil ihn zum Beispiel praktischen Erfahrungen mit dem seit zwei Jahren gel- ein Polizist irrtümlicherweise für einen schwer bewaff- tenden neuen Waffenrecht vorzunehmen und nicht iso- neten Täter gehalten hat. liert einzelne Punkte herauszugreifen. Es genügt nicht, zu glauben, dass Anscheinkriegs- waffen eine kriminalistische Randerscheinung sind. Sie Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- bergen ein erhebliches Gefahrenpotenzial wegen ihres desminister des Innern: Die Zielrichtung des Antrags ist kriminellen Missbrauchs. Sie sind wegen ihrer Größe im Grundsatz richtig. Allerdings ist es wichtig, ein klares und Beschaffenheit nicht nur für Laien schwer von und zutreffendes Regelungsziel zu verfolgen. Der An- scharfen Waffen zu unterscheiden. Das gilt gerade auch trag weist insofern einige Unklarheiten auf. für Opfer in besonderen Stresssituationen. Das Drohpo- Zunächst kommt es darauf an, sich zu verdeutlichen, tenzial dieser Waffen ist eine nicht hinnehmbare Bedro- worin genau der Handlungsbedarf besteht. Letztlich hung für Leib und Leben von Menschen. kann es nur um die Vermeidung von Störungen der öf- Ich habe Zweifel, ob der alte § 37 die geeignete fentlichen Sicherheit und Ordnung durch die Provoka- tion von Polizeieinsätzen durch das Zurschaustellen von Grundlage ist. Das Ziel ist aber ganz klar und unmissver- Anscheinwaffen in der Öffentlichkeit gehen. Alle ande- ständlich: Das Führen von Nachbildungen von Schuss- ren im Antrag genannten Regelungsmotive und -ziele waffen soll verboten werden und an dieser Stelle wün- sind nämlich bereits durch das geltende Recht hinrei- sche ich mir auch von unserem Bundesinnenminister chend und sachgerecht abgedeckt: mehr Entschlossenheit. Hier ist eine belegte Sicherheits- lücke und die grüne Fraktion hat das Bundesinnenminis- Dem Drohpotenzial bei dem kriminellen Missbrauch terium mehrfach angemahnt, diese Lücke durch eine Ge- einer Waffe als Nötigungsmittel wird mit dem Strafge- setzesänderung zu schließen. setzbuch begegnet. Dieses stellt die Verwendung von 16858 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) Scheinwaffen unter Strafe und führt – etwa im Rahmen Nicht zuletzt arbeitet das Bundesministerium des In- (C) des Raubes oder der räuberischen Erpressung – zu ent- nern im Zusammenwirken mit dem Bundesministerium sprechenden Strafschärfungen. Zudem sind die straf- der Justiz an einem Gesetzgebungskonzept, mit dem das rechtliche Einziehung und der Verfall als Tatmittel nach Führen von Anscheinkriegswaffen verboten und das Au- allgemeinen Bestimmungen möglich. ßerverkehrziehen solcher Gegenständen bei Verstößen hiergegen gewährleistet werden kann. Dabei ist Erfor- Der Verwendersicherheit für Kinder trägt das Spiel- dernissen des Bestimmtheitsgrundsatzes und der Ver- zeugrecht – differenziert nach starren oder elastischen hältnismäßigkeit Rechnung zu tragen. Aus der Sicht der Geschossen – Rechnung, indem das kindliche Hantieren Bundesregierung ist vor diesem Hintergrund ein repres- mit Waffen von einer Geschossenergie unter 0,5 Joule siver Ansatz mit Strafandrohungen nicht angemessen und dadurch ein relevantes Verletzungsrisiko unterbun- und zielführend, zumal er bei Kindern wegen fehlender den wird. Strafmündigkeit ohnehin ins Leere laufen würde. Erfolg- versprechend ist vielmehr ein ordnungsrechtliches Füh- Bei Softairwaffen mit 0,6 Joule und mehr rennt der rensverbot im Waffenrecht. Dieses muss aber flankiert Antrag bereits offene Türen ein, weil das Führen von werden von der Möglichkeit, diese Gegenstände unter Schusswaffen aller Art mit mehr als 0,5 Joule ohne Waf- dem Gesichtspunkt der Störung der öffentlichen Sicher- fenschein bei Strafe verboten ist. heit und Ordnung endgültig einzubehalten. Hier sind die Gesetzgeber des Bundes und der Länder unter dem Ge- Unklar bleibt der Antrag insofern, als er sich zwar im sichtspunkt der Gefahrenabwehr gleichermaßen gefor- Wesentlichen auf Anscheinkriegswaffen bezieht. Er lässt dert. Die Bundesregierung wird die Zeit zwischen den aber offen, ob er auch die Imitate ziviler Schusswaffen Legislaturperioden nutzen, die Ächtungskampagne ein- erfassen soll. schließlich der Ausarbeitung der gesetzgeberischen Komponente voranzutreiben. Hiervon kann nur abgeraten werden: Zum einen würde der Anwendungsbereich des Führensverbotes uferlos und unbestimmt. Zum anderen ist das Führen Anlage 5 von Spielzeugpistolen und -revolvern in verschiedenen Lebenszusammenhängen gang und gäbe. Ich nenne nur Zu Protokoll gegebene Reden den Karneval. Regelungen, die zu starr sind und auch so- zur Beratung der Anträge: zialadäquates Verhalten pauschal missbilligen oder durch x-fache Ausnahmen der Realität angepasst werden – Kapitalprivatisierung der Deutschen Flugsi- müssen, erzeugen Widerwillen in der Bevölkerung und cherung abschließen unnötige Bürokratie. (B) – Maßnahmen zur Kapitalprivatisierung der (D) Auf den sinnvollen Kern zurückgeführt, müssen aber Deutschen Flugsicherung GmbH umgekehrt auch bloße schussunfähige Attrappen im Mi- – Leitlinien für die Privatisierung der Deut- litarylook einbezogen werden. schen Flugsicherung – Gesamtkonzept zur Neuordnung der Flugsicherung Die Bundesregierung hatte das Anliegen des Antrags bereits vorher von sich aus aufgegriffen und eine Äch- (Tagesordnungspunkt 15) tungskampagne gegen Anscheinkriegswaffen initiiert. Dabei geht es nicht nur darum, gesetzgeberischen Hand- Reinhard Weis (Stendal) (SPD): Das ungeplante lungsbedarf auszuloten und entsprechende Regelungs- vorzeitige Ende einer Legislaturperiode gefährdet wegen vorschläge zu formulieren. Vielmehr bedarf es auch der Diskontinuität, der alle nicht abgeschlossenen parla- flankierender Maßnahmen zur Aufklärung der Bevölke- mentarischen Vorgänge unterliegen, so manches politi- rung über die im Antrag genannten Gefahren bei Polizei- sches Projekt. Ich bin deshalb froh, dass wir das Projekt einsätzen, die sich aus der Zurschaustellung von An- der Privatisierung der Deutschen Flugsicherung seit der scheinwaffen in der Öffentlichkeit ergeben können. Organisationsprivatisierung im Jahre 1992 als fraktions- Insgesamt gilt es aber auch, die merkwürdige Faszina- übergreifendes Projekt nicht nur parlamentarisch beglei- tion von Gegenständen im Militarylook zu hinterfragen ten, sondern über die Grenzen von Regierungskoalition und zur Bewusstseinsbildung vor allem bei jungen Men- und Opposition hinweg parlamentarisch vorantreiben. schen beizutragen. Die 10. und 11. Novelle des Luftverkehrsgesetzes und mehrere Entschließungsanträge machen dies deutlich, In diesem Sinne wirken bereits jetzt alle betroffenen nicht zuletzt auch unser interfraktioneller Antrag vom Bundesressorts zusammen, um unter Gesichtspunkten 20. April diesen Jahres. Wenn alle diese Beschlüsse des des Verbraucherschutzes und des Kinder- und Jugend- Deutschen Bundestages von den Regierungen Kohl und schutzes gegen die unbedachte oder missbräuchliche Schröder zeitnah umgesetzt worden wären, könnten wir Verwendung von Anscheinkriegswaffen vorzugehen. heute wahrscheinlich sogar einen Schritt weiter sein. Ich Die Waffenhandelsverbände betreiben bei ihren Kunden will aber nicht klagen. Meine Einleitung sollte eigentlich Aufklärung über die Gefahr, sich in prekäre Situationen darauf hinweisen, wovon ich überzeugt bin: Trotz der bei Polizeieinsätzen zu bringen. Diese positiven Ansätze wahrscheinlichen vorgezogenen Neuwahl wird dieses sollen auch in den allgemeinen Einzelhandel, den Spiel- Projekt nicht scheitern und nicht stocken. zeughandel und den Internethandel eingebracht werden. Multiplikatoren gerade auch im Kinder- und Jugend- So möchte ich begrüßen, dass unsere Bundesregie- schutzbereich werden angesprochen und sensibilisiert. rung diesen Weg jetzt konsequent angegangen ist. Ein Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16859

(A) Gesetzentwurf, der sich kurz vor Abschluss der Ressort- Unternehmen auch für Investoren attraktiv zu machen, (C) abstimmung befindet, macht dies genauso deutlich wie gehört auch die Frage nach der Beleihung mit der Zu- das Bekenntnis zu einem straffen Zeitplan, der uns von ständigkeit für den ganzen deutschen Luftraum. Dabei der Bundesregierung und der Geschäftsführung der geht es nicht um die Frage, ob das möglich ist, sondern Deutschen Flugsicherung im Ausschuss für Verkehr, um das Aufzeigen der Möglichkeiten für das wie und Bau- und Wohnungswesen vorgestellt wurde. den denkbaren Zeithorizont. Wir wissen natürlich, dass mit der Vorstellung zwischenstaatliche Verträge berührt Das Parlament wird sich wegen der aktuellen Ent- werden, für deren Veränderung erst Voraussetzungen zu wicklungen um den angestrebten vorzeitigen Wahlter- schaffen sind. min aus diesem Prozess vorübergehend verabschieden. Formal sind wir auch noch nicht in der Beratung des ge- Ich sprach von den zu schützenden Hoheitsrechten, nannten Gesetzentwurfes, weil dies ja erst nach einer für deren Durchsetzung Eingriffsrechte zum Beispiel des Kabinettbefassung möglich sein wird. Diese Debatte zu Bundesministers der Verteidigung verankert werden unserem gemeinsamen Antrag und zur Beschlussemp- müssen. Diese staaatlichen Vorgaben stellen möglicher- fehlung des federführenden Ausschusses für Verkehr, weise erhebliche Beeinträchtigungen unternehmerischen Bau- und Wohnungswesen gibt mir daher die Gelegen- Handelns dar und müssen deshalb kalkulierbar formu- heit, noch einmal deutlich zu machen, welche Inhalte liert werden. Überzogene Vorstellungen werden einen und Stoßrichtungen wir Parlamentarier in dem Gesetz- Privatisierungsprozess oder Erlöserwartungen erheblich entwurf der Bundesregierung erwarten. Ich will damit beeinträchtigen. Wir erwarten deshalb einen ausgewoge- auch deutlich machen, welche Richtung der Weiterbear- nen Katalog für Eingriffsrechte mit akzeptablen Defini- beitung des Projektes ich vom 16. Deutschen Bundestag tionen von Krisenszenarien, die dies rechtfertigen. erwarte. Privatisierungsprozesse sind immer mit Verunsiche- Ich hoffe, dass trotz des Wahlkampfes, den die Parla- rungen der betroffenen Belegschaft verbunden. Ich mentarier führen müssen, die Sacharbeit in den Häusern möchte deshalb für meine Fraktion ausdrücklich die ein- weitergeht. Dies erwähne ich so ausdrücklich, weil die zigartige Diskussionskultur der Belegschaft der Deut- Fristen, die uns die EU gesetzt hat, ja unabhängig von schen Flugsicherung mit der Geschäftsführung würdigen. der politischen Pause in Deutschland weiter bestehen. Die Belegschaftsstruktur ist wegen der Zusammenset- Der neue Bundestag und die neue Bundesregierung ste- zung, zu der neben den „eigenen“ Mitarbeitern der DFS hen deshalb in der Pflicht, bei der Umsetzung der Aufga- auch „dienstüberlassene“ Mitarbeiter aus der Bundes- ben zur Schaffung des einheitlichen europäischen Luft- wehr und eine Gruppe verbeamteter ehemaliger Anghöri- raumes, die Termine für die nationale Umsetzung zu ger der „alten Behörde“ Flugsicherung gehören, nicht (B) beachten und den Prozess so zu steuern, dass unser inter- einfach. Umso berechtigter ist wegen der konstruktiven (D) national anerkanntes deutsches Flugsicherungsunterneh- Begleitung des Prozesses durch die Belegschaft deren Er- men gestärkt und unternehmerisch optimal positioniert wartung, dass zum Beispiel Mitbestimmungsfragen und in den Wettbewerb um die länderübergreifenden Flug- die Fortschreibung von Vorruhestandsregelungen für sicherungsaufgaben entlassen wird. ausscheidende Beamte fair geregelt werden. Wir werden dies ausdrücklich im parlamentarischen Verfahren bear- Dazu gehört natürlich die gesetzliche Rahmensetzung beiten, wenn der Gesetzentwurf hierzu noch keine Vorga- für den Privatisierungsprozess, der übrigens auf dem ben macht. Weg zur Stärkung der Wettbewerbsstellung der Deut- schen Flugsicherung ein entscheidenes Mittel zum So viel zu dem Gesetzentwurf, mit dem der Rahmen Zweck ist. Privatisierung ist hier kein Selbstzweck und der Privatisierung beschrieben sein wird. Es gibt aber nicht in erster Linie ein Vorgang, bei dem einmalig für noch zwei andere Komplexe, deren kurzfristige Abarbei- den Bundeshaushalt eine Einnahme generiert werden tung wir parallel zur Gesetzgebungsarbeit erwarten. Da soll. Es geht um die nachhaltige Stärkung eines erfolg- es hierbei um Verwaltungshandeln geht, sollten diese reichen deutschen Unternehmens, das wir aus der staatli- Entscheidungen, die das Unternehmen stärken, sogar chen Obhut und Bevormundung den Wettbewerb entlas- kurzfristig getroffen werden. Ich meine die Gründung sen wollen. In dem Privatisierungsgesetz müssen die der „Tower GmbH“ und die überfällige Entscheidungen europäischen Vorgaben umgesetzt werden – und zwar in zur Eröffnung weiterer Geschäftsfelder durch bereits einer Zeitspanne, die verhindert, dass die EU uns das vorbereitete Beteiligungen an anderen Unternehmen, die Heft des Handelns aus der Hand nimmt. Wir wollen den ich aus Zeitgründen hier nicht noch einmal aufzählen Prozess nach unseren Vorstellungen gestalten und wol- will. len auch darauf achten, dass wir der DFS als privatisier- tem Unternehmen nicht mehr aufbürden, als europa- Gestatten Sie mir abschließend ein paar persönliche rechtlich und zur Wahrung der nationalen hoheitlichen Sätze. Wer aufmerksam zugehört hat, wird vielleicht den Aufgaben notwendig ist. Eindruck gewonnen haben, dass da jemand gerade einen Schlussstrich gezogen hat. Das ist richtig. Freunde und Wir erwarten in dem Gesetzentwurf Festlegungen nahe Mitstreiter wissen, dass ich nach dieser Legislatur- zum neuen Gebührensystem, weil dies eine wichtige periode nicht mehr für den Bundestag kandidieren will. Grundlage zur Abschätzung der wirtschaftlichen Per- Durch die wahrscheinlich vorgezogene Neuwahl ist die- spektiven für Investoren sein wird. Nach meiner Kennt- ser Zeitpunkt unerwartet früh gekommen und dies ist nis ist dieser Teil des Entwurfs –, der in der Ressorab- jetzt meine letzte Rede vor dem Plenum des Deutschen stimmung ist, noch nicht enthalten. Zu der Aufgabe, das Bundestages. Ich nutze deshalb die Gelegenheit, mich 16860 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) ganz ausdrücklich, für die gute Zusammenarbeit in unse- rechte der Aufsichtsbehörde oder der Bundeswehr (C) rem Ausschuss über die Grenzen der Fraktionen hinweg müssen im Gesetz klar und transparent für beide Seiten zu bedanken. Gerade in der Zeit, während der ich Vorsit- geregelt sein. Der Investor muss wissen, auf was er sich zender unserer Arbeitsgruppe in der SPD-Fraktion war, im Einzelnen einlässt, ohne von nachfolgenden Verwal- habe ich eine faire und freundschaftliche Zusammenar- tungsvorschriften zur Regulierung überrascht zu werden. beit mit unserem Ausschussvorsitzenden Eddi Oswald, Zweitens. Die DFS muss für einen angemessen lan- mit Ali Schmidt, Dirk Fischer und Horst Friedrich erle- gen Zeitraum und für den gesamten deutschen Luftraum ben dürfen. Ich scheide ohne Groll und Wehmut aus dem beliehen werden. Dies schafft Planungssicherheit im Deutsche Bundestag, bedanke mich auch bei meinen Ar- Hinblick auf die langen Investitionszyklen des Unter- beitsgruppenkollegen für die Zusammenarbeit und hoffe, nehmens. dass ich eine kleine Spur hinterlassen habe, die ich mei- nen Wählern als Dank für ihr Vertrauen vorweisen kann. Drittens. Die Kapitalprivatisierung muss sich konse- quent an den EU-Vorgaben orientieren, das heißt darüber Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Der Luftver- hinausgehende nationale Regelungen zulasten deutscher kehr – und mit ihm die DFS – hat das Tal der Tränen Dienstleister darf es nicht geben. durchschritten. Der terroristische Anschlag auf das Viertens. Der DFS müssen Beteiligungen ermöglicht World Trade Center am 11. September 2001, die Lun- werden, um neue Märkte erschließen zu können, in genseuche SARS, der Irakkrieg sowie die allgemeine Deutschland ebenso wie im Ausland. konjunkturelle Entwicklung haben den internationalen Ziel der Gesetzgebung zur Kapitalprivatisierung der Luftverkehr und damit auch das Geschäftsergebnis der DFS muss es also sein, einerseits größtmögliche unter- DFS schwer beeinträchtigt. Nach zwei verlustreichen nehmerische Freiheit für die DFS und ihre zukünftigen Jahren geht es seit dem Jahr 2003 für die DFS wieder Investoren zu schaffen, sodass die DFS frei von rigiden deutlich aufwärts. Zwängen als „normales“ Unternehmen agieren kann, an- Nun geht es darum, den nationalen Ordnungsrahmen dererseits sicherzustellen, dass die hoheitlichen Aufga- für die DFS weiter zu verändern und die DFS fit für die ben der DFS und die damit verbundenen internationalen Anforderungen eines einheitlichen Luftraums über Eu- Verpflichtungen durch die Privatisierung nicht beein- ropa zu machen. Künftigen Anbietern von Flugsiche- trächtigt werden. rungsleistungen wird durch diesen Luftverkehrsmarkt Die Anforderungen aus dem „Single European Sky“ die Grundlage für einen diskriminierungsfreien Markt- – SES – an die Flugsicherheitsorganisationen und an die zugang geboten und eine Optimierung der Preis-, Quali- nationalen Aufsichtsbehörden gelten bereits ab Januar täts- und Kostengestaltung ermöglicht. Deswegen ist es (B) 2006 verbindlich. Sind bis dahin die europäischen Ver- (D) notwendig, auch für die DFS die erforderlichen rechtli- ordnungen nicht in deutsches Recht umgesetzt worden, chen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sie in die- fehlt es an Rechtssicherheit und -klarheit, würden die sem Markt bestehen kann. Aussichten der DFS auf ein nationales und europäisches Vor diesem Hintergrund ist die zügige Kapitalprivati- Engagement geschmälert und würde die internationale sierung der DFS ein wichtiger und begrüßenswerter Zusammenarbeit der Flugsicherungsorganisationen ver- Schritt und ich unterstütze die Absicht der Bundesregie- zögert. rung, die DFS in Höhe eines Anteils von 74,9 Prozent zu Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird daher auch veräußern. Durch die Weiterentwicklung der Privatisie- nach einer etwaigen Regierungsübernahme im Herbst rung wird es zu einer zusätzlichen Effizienzsteigerung dieses Jahres für die Einhaltung des ehrgeizigen Zeit- bei der DFS kommen. Zudem kann der Bund einen wei- plans für die DFS-Kapitalprivatisierung eintreten. Dies teren Bereich privaten Anbietern überlassen, den diese ist nicht nur im Interesse der Deutschen Flugsicherung. ebenso gut, wenn nicht besser erledigen können. Damit Die gesamte deutsche Luftverkehrswirtschaft wird da- wird eine Politik fortgesetzt, die bereits 1992 mit der Or- von profitieren. ganisationsprivatisierung der Flugsicherung begonnen wurde. Norbert Königshofen (CDU/CSU): Die Luftver- Im Rahmen des nunmehr bevorstehenden Transak- kehrswirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten zu einem tionsprozesses sind zwei Punkte für die Zukunft der DFS immer wichtigeren Wirtschaftsfaktor geworden. Mittler- von besonderer Bedeutung: Die ordnungs- und wirt- weile ist sie eine echte Schlüsselindustrie für unsere schaftspolitischen Rahmenbedingungen müssen für die Volkswirtschaft. Sie ist heute eine der wenigen Jobma- DFS so gestaltet werden, dass ihre Attraktivität für In- schinen, die wir in Deutschland haben. Das gilt in zwei- vestoren erhöht wird. Die DFS muss für den liberalisier- erlei Hinsicht: Zum einen schafft sie Jobs in ihrem urei- ten europäischen Flugsicherheitsraum größtmöglich ge- genen Umfeld, an Flughäfen und bei Fluggesellschaften. stärkt werden. Zum anderen sichert sie mit ihren Kapazitäten Arbeits- plätze in unserer Exportwirtschaft, denn wertmäßig wer- Die Voraussetzungen sind: den rund 40 Prozent der deutschen Ausfuhren per Luft- fracht abgewickelt. Erstens. Als Herzstück der Kapitalprivatisierung muss Investitionssicherheit für zukünftige Investoren ge- Als Dienstleister für Flugsicherheit und Flugabwick- schaffen werden. Die Grundsätze der ökonomischen Re- lung hat die Deutsche Flugsicherung mit dazu beigetra- gulierung, aber auch die Eingriffs- und Durchgriffs- gen, die Voraussetzungen für das rasante Wachstum des Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16861

(A) Luftverkehrs zu schaffen. Sie war in der Vergangenheit aufgaben soll sie sich auch andere Geschäftsfelder (C) stets in der Lage, auf neue Herausforderungen des Mark- erschließen, sich an anderen Unternehmen beteiligen tes erfolgreich und flexibel zu reagieren. Auch interna- können. Die Kapitalprivatisierung ist dafür die zwin- tional hat sie sich mit ihren Leistungen an der Spitze eta- gende Voraussetzung. Wir freuen uns, dass das Finanz- bliert. Nicht umsonst bekam sie 2000 für ihre Leistungen ministerium mittlerweile unsere Meinung teilt. bei Sicherheit, Pünktlichkeit und Kostenbewusstsein den „Eagle Award“ als beste Flugsicherungsorganisation der Umgekehrt erfolgt die Kapitalprivatisierung – und Welt verliehen. hier sollten wir alle ehrlich sein – natürlich auch aus ei- nem haushälterischen Interesse. Sie soll natürlich auch Gleichzeitig hat sich die Deutsche Flugsicherung mit Geld in die klammen Kassen des Bundes bringen. Das diesen neuen Herausforderungen selbst gewandelt. Sie geht nur, wenn man die DFS für Interessenten so attrak- ist heute kein reiner Dienstleister für diesen Markt mehr. tiv wie möglich macht. Investoren schauen auch auf die Sie ist mittlerweile ein aktiver Teil dieses dynamischen zu erwartende Rendite. Mit Blick auf diese Tatsache Luftverkehrsmarktes geworden. Sie ist integraler Be- hätte ich mir in unserem gemeinsamen Antrag eine et- standteil der „Schlüsselindustrie Luftverkehr“. Sie ist was deutlichere Formulierung gewünscht. Ich hätte mir jetzt selbst Teil der so wichtigen „Jobmaschine Luftver- ein deutlicheres Bekenntnis dazu gewünscht, die DFS kehr“. Dass dies so ist, ist vor allem ein Verdienst des mit dem gesamten deutschen Luftraum zu beleihen. Die Deutschen Bundestages. Wir haben 1993 die Vorausset- Zuständigkeit für die Kontrolle des gesamten deutschen zungen für den Markteintritt der Deutschen Flugsiche- Luftraums ist nach unserer Auffassung eine wesentliche rung geschaffen. Unter Führung der Union wurde mit Voraussetzung für ihren unternehmerischen Erfolg. Des- der FDP die so wichtige Organisationsprivatisierung der halb ist die hier im gemeinsamen Antrag gewählte For- Flugsicherung in Deutschland initiiert und – mit Zustim- mulierung nach unserem Geschmack etwas wachs- mung der damaligen Oppositionspartei SPD – auch weich – auch wenn wir letztlich damit leben können. durchgesetzt. Das Gleiche gilt für den Beleihungszeitraum. Wie im Die Union war es auch, die 2003 erneut die Initiative Antrag steht, soll die „Aufgabenzuordnung der DFS we- ergriff. Sie war es, die als Erste die Konsequenzen aus der unbefristet noch endgültig sein“. Das würde sich den sich rasant verändernden Marktbedingungen zog. auch nicht mit den Verordnungen zum Einheitlichen Eu- Sie forderte als Erste, die Deutsche Flugsicherung durch ropäischen Luftraum vertragen. Dennoch ist für zukünf- eine Kapitalprivatisierung wirtschaftlich und organisato- tige Investoren die Dauer der Beleihung wichtig. Je kür- risch neu aufzustellen. Dass es dann Anfang 2004 ge- zer sie ist, desto weniger ist man bereit, in die lang, einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen zu for- „Infrastruktur“ zu investieren. Uns ist klar, dass man in mulieren, ist mittlerweile gute Tradition unter den (B) einem Antrag keine abschließenden Aussagen machen (D) Luftverkehrspolitkern dieses Hauses. Es ist ein wichti- kann. Uns geht es aber darum, hier bei der Bundesregie- ges gemeinsames Signal der Politik an den Markt, dass rung für diesen nicht ganz einfachen Sachverhalt Sensi- wir alles tun, um den Luftverkehrsstandort Deutschland bilität zu erzeugen. weiter nach vorne zu bringen. Letztlich entscheidend für einen Investor ist aber vor Es liegt in der Natur der Sache, dass gemeinsame An- allem eine Frage: Wie wird die Einnahmesituation des träge auch immer Kompromissanträge sind. Schließlich Unternehmens sein, in das ich mich einkaufe? Das wird muss sich jede der hier vertretenen Fraktionen mit ihren vor allem davon abhängen, welche kostenwirksamen Tä- Grundpositionen wiederfinden können. So ist es jetzt bei tigkeiten ökonomisch reguliert werden. Hier sollte jede dem hier vorliegenden gemeinsamen Antrag in dem ge- Bundesregierung im dazugehörigen Gesetz über die Ka- fordert wird, die Kapitalprivatisierung der Deutschen pitalprivatisierung der DFS Regelungen finden, die für Flugsicherung abzuschließen. Auch er kam erneut auf Investoren kalkulierbare Bedingungen schafft. Initiative der Union zustande. Erneut war sie es, die mit einem eigenen Antrag den Anstoß gab. Mit unserem gemeinsamen Antrag zur Kapitalprivati- sierung der DFS bleiben wir Luftverkehrspolitiker einer Worum geht es konkret? Konkret geht es um die Ver- Tradition treu: Wichtige Dinge bringen wir im Interesse äußerung von 74,1 Prozent der Gesellschaftsanteile der des Landes gemeinsam voran. Als Vertreter der Fraktion, bis heute zu 100 Prozent in Bundesbesitz befindlichen aus deren Reihen in wenigen Monaten die erste deutsche Deutschen Flugsicherung GmbH. Der Rest der Anteile Bundeskanzlerin hervorgehen wird, biete ich Ihnen unter soll als Sperrminorität beim Bund verbleiben, da die umgekehrten Vorzeichen an, dieser Tradition nach Mög- DFS auch weiterhin mit hoheitlichen Aufgaben befasst lichkeit auch zukünftig treu zu bleiben. sein wird. Nur durch diese Kapitalprivatisierung – und hier sind wir alle vorbehaltlos einer Meinung – kann die DFS die aktuellen und künftigen Herausforderungen des Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE Luftverkehrsmarktes meistern. Das gilt insbesondere für GRÜNEN): Es kommt im parlamentarischen Geschehen die Herausforderungen, die durch die EU-Verordnungen nicht häufig vor, dass sich alle Parteien unter einem ge- zum einheitlichen europäischen Luftraum – Single Euro- meinsamen Antrag finden – selbst dann nicht, wenn sie pean Sky – eingeleitet worden sind. eigentlich einer Meinung sind. Gleichzeitig soll die DFS nun leichter und konse- Der Antrag zur Kapitalprivatisierung der Deutschen quenter als aktives Unternehmen am wachsenden Luft- Flugsicherung, den wir heute abschließend beraten, bil- verkehrsmarkt partizipieren können. Neben ihren Kern- det insofern eine rühmliche Ausnahme. Das Thema 16862 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) eignet sich nicht für den Parteienstreit, selbst nicht in 1998 Zwischenschritte zu einer weiteren Privatisierung (C) diesen politisch aufregenden und mitunter aufgeregten und Flexibilisierung der Flugsicherung aufgezeigt. Diese Tagen im Vorwahlkampf. Schritte sind leider bis heute von der ausführenden Gewalt nicht – zumindest nicht ausreichend – umgesetzt Zum Thema: Wir sind uns als Verkehrspolitiker einig, worden. Jetzt wird die politische Hauptaufgabe sein, dass der DFS im so genannten Single European Sky eine deutlich zu machen, dass die Deutsche Flugsicherung in gute Wettbewerbsposition verschafft werden muss. Die einen hoheitlichen Teil und in einen privatwirtschaftli- Gesetzgebung muss daher den Weg für eine Kapitalpri- chen Teil aufzutrennen ist. Der privatwirtschaftliche Teil vatisierung der DFS freimachen. Das Unternehmen soll muss die volle Flexibilität eines Wirtschaftsunterneh- frei von den Zwängen der Bundeshaushaltsordnung am mens am Kapitalmarkt haben. Das bedeutet für uns, dass Markt agieren können, zum Beispiel durch die Grün- nicht durch ministerielle Entscheidungen unternehmeri- dung eines Tochterunternehmens, das auch im europäi- sche Abläufe verzögert oder gar behindert werden, dass schen Ausland oder auch weiterhin auf deutschen Regio- nalflughäfen Flugsicherungsdienste anbieten kann. Der Eingriffsrechte des Staates sich ausschließlich auf die öffentlich gewidmete Teil der DFS-Aufgaben darf und hoheitlichen Aufgaben der Flugsicherung beziehen und wird darunter nicht leiden. dass vor allen Dingen im leidigen Bereich der Gebühren die mit dem letzten gemeinsamen Beschluss dieses Hau- Die ökonomische Regulierung der Kapitalprivatisie- ses angemahnte Flexibilität für die Flugsicherung ge- rung muss sowohl den regulierten Unternehmen als auch schaffen wird. Private Investoren werden sich nur finden ihren Nutzern gerecht werden. Die Grundsätze der Re- lassen, wenn klar ist, zu welchen Bedingungen die In- gulierung sollten bereits im Gesetz festgelegt werden, vestition sich rechnet bzw. mit welchen Eingriffsrechten als Leitplanken für die durch die Nationale Aufsichtsbe- des Staates der Investor rechnen muss. Davon hängt hörde zu gestaltenden Verordnungen. nicht zuletzt auch der Preis ab, der für ein Unternehmen am Markt zu erzielen ist. Die Bundesrepublik Deutsch- Die Vision europäisch integrierter Unternehmen nach land muss aus unserer Sicht zunächst ein Interesse daran dem Vorbild EADS, in denen die DFS als größter euro- haben, langfristige Investoren zu gewinnen. Dies ist nur päischer Dienstleister eine führende Rolle spielen kann, dann zu gewährleisten, wenn die Flugsicherung entspre- zeichnet sich am Horizont ab. Dies hilft Arbeitsplätze in chend lange für eine angemessene Kapitalrendite sorgen Deutschland zu sichern und neue entstehen zu lassen. kann. Daraus abgeleitet ergibt sich dann zwangsläufig Wir begrüßen diese Vision und wollen sie nach Kräften auch die Forderung nach einer Beleihung der DFS für unterstützen. den gesamten deutschen Luftraum während eines ange- messenen Zeitraums, um auch die entsprechenden Inves- (D) (B) Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Nach längeren titionszyklen des Unternehmens zu berücksichtigen. Verhandlungen und zwischenzeitlichen Irritationen ist es erneut gelungen, in Sachen der weiteren Privatisierung Wichtig zur Sicherung der Interessen eines Investors der Deutschen Flugsicherung einen fraktionsübergrei- ist in gleichem Maße, die Eingriffsrechte Dritter, vor al- fenden Konsensantrag auf den Weg zu bringen, der die lem der Bundeswehr, berechenbar zu machen. Es sollte Bundesregierung erneut auffordert, im Hinblick auf die aus unserer Sicht bereits jetzt aus dem Gesetz hervorge- sich abzeichnende Wettbewerbslandschaft auch inner- hen, welche Eingriffs- und Durchgriffsrechte die Deut- halb der Flugsicherungen die DFS maßgerecht in den sche Flugsicherung dem Bundesverteidigungsminister Wettbewerb zu stellen. Wenn die FDP allein hätte ent- im Friedensfall zu gewähren hat. Aus Sicht der FDP sind scheiden können, wäre dieser Antrag sicherlich in eini- über die jetzigen, seit langer Zeit optimal funktionieren- gen Punkten konkreter gewesen. Das vorliegende ge- den Regelungen hinaus stärkere Anforderungen nur meinsame Papier verbaut aber zumindest nicht den Weg dann notwendig, wenn offiziell der Spannungs- bzw. der für weitere Schritte. Verteidigungsfall ausgerufen wird. Es kommt für uns deshalb darauf an, dass die nationale Aufsichtsbehörde Der Prozess der DFS-Kapitalprivatisierung ist be- als zwischengeschaltetes Korrektiv im Gleichrang auch kanntermaßen eingebettet in die Schaffung von Regelun- die verkehrspolitischen Belange des Verkehrsministe- gen zur bestmöglichen Anwendung der Single-Euro- riums sicherstellt, so wie es im Moment direkt durch das pean-Sky-Verordnungen. Diese Anforderungen gelten Bundesverkehrsministerium selbst gewährleistet wird. ab Januar 2006 verbindlich; die Durchführungsvor- Angesichts der angekündigten Überlegungen zu Neu- schriften für Zertifizierung und Benennung sind voraus- wahlen zum vorgezogenen Zeitpunkt ist zu erwarten, sichtlich ab Oktober 2006 anzuwenden. Vor diesem Hin- dass der gemeinsame Antrag aller Fraktionen zwar als tergrund ist es Aufgabe der nationalen Parlamente, Grundlage für die Gesetzesarbeit dient, aber vor der Rechtssicherheit und Klarheit zu schaffen, damit die Aussichten der DFS GmbH auf ein diversifiziertes natio- Bundestagswahl nicht mehr Eingang in Gesetze findet. nales und europäisches Engagement nicht geschmälert Die bei der Bundestagswahl 2005 – soweit sie denn statt- und die internationale Zusammenarbeit der Flugsiche- findet – gewählte neue Mehrheit im Verkehrsbereich ist rungsorganisationen nicht weiter verzögert, wenn nicht deshalb aufgefordert, dann unverzüglich an die Arbeit zu gar gefährdet werden. gehen, um die oben beschriebenen Zeitabläufe nicht zu gefährden. Die hat die Flugsicherung als „Kind des Par- Bereits die damalige Bundesregierung von CDU/CSU lamentes“ in der Positionierung im europa- und weltwei- und FDP hat in einer elften Novelle zum Luftfahrtgesetz ten Wettbewerb der Flugsicherungen verdient. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16863

(A) Iris Gleicke, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- Seit Festlegung der Eckpunkte zur Kapitalprivatisie- (C) minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Es ist rung ist es in nur fünf Monaten gelungen, den Referen- jetzt fast genau ein Jahr her, dass dieses Haus mit der tenentwurf für ein Flugsicherungsgesetz zu erarbeiten Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD, CDU/ und in die derzeit laufende Ressortabstimmung zu ge- CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP gemäß ben. Zentrales Element bilden die notwendigen Kon- Drucksache 15/2393 „Wirtschaftliche und organisatori- trollrechte der Regierung, die Sicherheitsaufsicht und sche Strukturen der Deutschen Flugsicherung dauerhaft die ökonomische Regulierung durch das Bundesauf- verbessern“ die Maßnahmen der Bundesregierung zur sichtsamt für Flugsicherung – BAF – mit circa 70 Mitar- Durchführung der entscheidenden Phase der Kapitalpri- beitern und geplanter Arbeitsaufnahme am 1. Januar vatisierung der DFS Deutsche Flugsicherung GmbH 2006. Zum Bereich der ökonomischen Regulierung kön- nen wesentliche Erkenntnisse durch Vergleich mit dem nachdrücklich unterstützt hat. in Großbritannien bereits seit einigen Jahren praktizier- Was waren die Beweggründe für den Schritt zur Kapi- ten System gewonnen werden. Mit dieser Regulierung talprivatisierung, nachdem die rein äußerliche Organisa- wird sicherzustellen sein, dass die Gewinne der DFS als tionsprivatisierung von 1993 mit Gründung der DFS zu Monopolanbieter in einem vertretbaren Rahmen bleiben, den bekannten Erfolgen der vergangenen 12,5 Jahre die Effizienz des Unternehmens gesteigert wird und die Interessen der Nutzer an marktgerechten Gebührenstruk- geführt haben? Ein wichtiger Auslöser sind die Verände- turen gewahrt werden. rungen im europäischen Umfeld. Dabei stellen die euro- päischen Verordnungen zur Einführung eines Einheitli- Im Verlaufe des Projektes waren und sind zu vielen chen Europäischen Luftraums, die so genannten SES- Einzelthemen umfangreiche Fragen zu klären. Insbeson- Verordnungen – Single European Sky –, die absehbare dere sind die nationalen hoheitlichen Interessen an der Konsolidierung innerhalb des europäischen Luftraums, Flugsicherung durch geeignete Durchgriffsrechte abzu- erwartete Effizienzsteigerungen und die Möglichkeit der sichern und gleichzeitig die effizienzorientierte wirt- DFS zu Beteiligungen im In- und Ausland die maßgebli- schaftliche Handlungsfähigkeit der DFS als wesentli- chen Einzelfaktoren dar. chem Kriterium für potenzielle Investoren in einem ausgewogenen Verhältnis zu gewährleisten. Ausgehend von ersten Überlegungen im Dezember Nach Abschluss des Gesetzgebungsprozesses wird 2003 hat die Bundesregierung im August 2004 eine der Transaktionsprozess mit Unterstützung durch einen ressortübergreifende Projektstruktur unter Leitung des Finanzberater beginnen. Die Auswahl des Beraters ist Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungs- angelaufen. Für die Bundesregierung ist wichtig, dass wesen eingerichtet. Nach umfangreichen Grundlagenar- auch eine geeignete Mitarbeiterbeteiligung geprüft wird. (B) beiten konnte die Bundesregierung bereits Mitte Dezem- Als potenzielle Investoren kommen strategische Investo- (D) ber 2004 die Eckdaten zur Kapitalprivatisierung ren, Private-Equity-Gesellschaften und längerfristig ori- verabschieden: 74,9 Prozent der Gesellschaftsanteile der entierte Infrastrukturfonds mit geringerer Renditeerwar- DFS werden zum Verkauf angeboten. Die Kapitalpriva- tung infrage. Auch Konsortiallösungen sind denkbar. tisierung wird auf der Grundlage eines Beleihungsmo- dells zur Durchführung der hoheitlichen Tätigkeiten um- Der Zeitplan war bisher sehr ehrgeizig und ist mit ho- hem Engagement verfolgt worden. Er war auf einen Ab- gesetzt. Die erfolgreiche und nahezu einzigartige zivil- schluss der Kapitalprivatisierung bis Juni 2006 ausge- militärische Integration in der überörtlichen Flugsiche- richtet und sollte keinesfalls unnötig verzögert werden. rung wird fortgesetzt. Nach den Vorgaben der SES- Im Hinblick auf vorgezogene Neuwahlen dieses Hauses Verordnungen wird eine unabhängige Aufsichtsinstanz, im September des Jahres bleibt ein Kabinettsbeschluss das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung, eingerichtet. noch im Sommer dieses Jahres möglich. Zusätzlich wird für die DFS vom Vollkostendeckungs- prinzip auf ökonomische Regulierung umgestellt, da die Betonen möchte ich, dass unabhängig von den zeitli- DFS im Streckenflugbereich auf absehbare Zeit – 20 Jah- chen Verschiebungen diejenigen Arbeiten unverändert re – Monopolanbieter bleiben wird und daher keine durchzuführen sind, die das BAF wie geplant zum 1. Ja- direkten Marktkräfte wirken können. Die Möglichkeit nuar 2006 seine Arbeit aufnehmen lassen. Die ökonomi- der Beleihung für den gesamten deutschen Luftraum sche Regulierung kann und soll ebenfalls unverändert wird hinsichtlich rechtlicher Vereinbarkeit mit bestehen- und unabhängig vom Gesetzgebungsverfahren einge- führt werden. Hier wird es wesentlich auf den neuen den internationalen Abkommen und Verträgen geprüft. Haushalt ankommen, um mit größtmöglicher Flexibilität Im Bereich der Flugplatzkontrolle soll die DFS an die notwendigen Voraussetzungen zu gewährleisten. den 17 internationalen Verkehrsflughäfen im Interesse Vor einem Jahr musste ich bei dieser Gelegenheit des Bundes für die nächsten 16 Jahre die Verantwortung noch auf Verkehrseinbrüche und die gesunkene Eigenka- behalten, damit sie die sich aus dem QTE-Lease erge- pitalquote der DFS eingehen. Heute sind wir wieder mit benden Verpflichtungen erfüllen kann. Wettbewerb wird wachsendem Luftverkehrsaufkommen konfrontiert und es hingegen um die Flugplatzkontrolldienste, insbeson- die Gesundheit und Stärke der DFS spiegeln sich nicht dere an den Regionalflughäfen, geben, wo der Bund zuletzt an massiven Gebührensenkungen im Strecken- schon bisher den Anträgen der Flugplatzbetreiber ge- sowie im An-/Abflugbereich von 2004 auf 2005 wider. folgt ist. Die SES-Verordnungen machen hier lediglich Auch alle Investoren betrachten die DFS als ein wertvol- Vorgaben, die zu organisatorischen Veränderungen füh- les, exzellent gemanagtes Unternehmen, das eine hohe ren. Attraktivität für Investoren besitzt. 16864 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) Ich bitte daher, der Beschlussempfehlung auf Druck- In Europa gibt es nach meiner Auffassung eine ein- (C) sache 15/5519 zu folgen, dass heißt Annahme des An- zige Frage, die über allem steht: Wie erhalten wir die trags der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Fischbestände in den Meeren? Denn diese sind drama- Grünen und FDP gemäß Drucksache 15/5342 „Kapital- tisch gefährdet. Dabei hat nicht nur der jahrzehntelange privatisierung der Deutschen Flugsicherung abschlie- hohe Schadstoffeintrag zum Bestandsniedergang beige- ßen“ und Erledigterklärung des Antrages von Abgeord- tragen, sondern auch die Fischereiwirtschaft. neten der CDU/CSU-Fraktion gemäß Drucksache 15/4829 „Maßnahmen zur Kapitalprivatisierung der Deutschen Die Weltmeere sind gnadenlos überfischt. Der Kabel- Flugsicherung GmbH“ sowie des Antrags von Abgeord- jau in der Nordsee, der Dorsch in der Ostsee, der See- neten der FDP-Fraktion auf Drucksache 15/4670 hecht in den westbritischen Gewässern – all diese Be- „Leitlinien für die Privatisierung der Deutschen Flug- stände sind schon zusammengebrochen oder sie stehen sicherung – Gesamtkonzept zur Neuordnung der Flug- kurz davor. sicherung“. Aus biologisch-wissenschaftlicher Sicht ist eine fischereiliche Nutzung wie bisher nicht mehr zu verant- Ich vertraue auf die breite Unterstützung dieses Hau- worten. Die Situation ist dramatisch. Deswegen besteht ses, jetzt und nach den Neuwahlen, die Kapitalprivatisie- die größte Herausforderung für die gemeinsame Fische- rung der DFS – Deutsche Flugsicherung GmbH – so reipolitik darin, endlich zu einer wirklich nachhaltigen zügig wie möglich abzuschließen und damit die Rah- Bewirtschaftung der Fischbestände zu kommen. menbedingungen für den Luftverkehr in Deutschland weiter zu verbessern. Nun ist „Nachhaltigkeit" ja in den letzten Jahren zum Modewort geworden und darf in keiner Rede fehlen. Die Grundidee ist aber ebenso klug wie simpel: „Nicht mehr Anlage 6 Holz schlagen, als Bäume nachwachsen!“; denn der Be- griff kommt aus der Forstwirtschaft. Kluge Förster be- Zu Protokoll gegebene Reden herzigen das Prinzip seit Jahrhunderten, weil sie wissen, dass sie ihre Lebensgrundlage bald verlieren werden, zur Beratung des Antrags: Die Situation der Fi- wenn sie zu viele Bäume abschlagen. Deswegen wissen scherei durch nachhaltige Bewirtschaftung ver- sie auch, dass es gar keinen Unterschied gibt zwischen bessern (Tagesordnungspunkt 17) ihren Wirtschaftsinteressen und den Interessen des Na- tur- und Artenschutzes. Denn der Artenschutz von heute Holger Ortel (SPD): Vor drei Wochen haben wir hier garantiert ihnen morgen ihr Einkommen. (B) im Deutschen Bundestag beschlossen, die europäische Das gleiche, so kluge wie simple Prinzip, muss die (D) Verfassung zu ratifizieren. Aus diesem Anlass haben wir Grundlage der gemeinsamen Fischereipolitik sein: Nicht eine Debatte erlebt, wie es um die Einflussmöglichkeiten mehr Fisch fangen, als nachwachsen kann. Die EU- des Bundestages auf europäische Politik bestellt ist. Kommission hat sich mit dem Grünbuch von 2001 die- Viele finden es problematisch, dass wir hier im Parla- sem Ziel verpflichtet und beschreibt eine Reihe von ment mehr und mehr nur noch Beschlüsse umsetzen, die Maßnahmen, um zu einer wirklich nachhaltigen Bewirt- aus Brüssel hier auf den Tisch flattern, ohne aber in vie- schaftung der Fischbestände zu kommen. Allerdings ist len Bereichen noch substanziell politisch Einfluss neh- die Umsetzung lange noch nicht so weit, wie sie sein men zu können. müsste, und wir sind weit davon entfernt, Entwarnung geben zu können. Die SPD-Fraktion begrüßt daher, dass Heute reden wir hier über Fischereipolitik, seit den die Bundesregierung sich in Brüssel zu einem Motor der Kindertagen der europäischen Zusammenarbeit eine rein neuen, der Nachhaltigkeit verpflichteten Fischereipolitik europäische Kompetenz. Die Fraktionen von SPD und gemacht hat. Bündnis 90/Die Grünen legen hier einen Antrag vor, in dem wir die Grundsätze der Fischereipolitik für die Ich will hier nur vier Probleme herausgreifen, die wir nächsten Jahre aus deutscher Sicht benennen wollen. nachhaltig lösen müssen: Eine der größten Ursachen der Dieser Antrag gibt der Bundesregierung ein klares politi- negativen Bestandsentwicklung ist die noch immerzu sches Mandat für die zukünftigen Verhandlungen im geringe Selektivität der Fischerei. Häufig werden Jung- europäischen Rat. Wir zeigen damit, wie man den Ein- fische mitgefangen, die gar nicht angelandet werden dür- fluss des Deutschen Bundestages wahrt und konkret mit fen. Für diese so genannten Discards besteht eine EU- Leben erfüllt, wenn es darum geht, europäische Politik rechtliche Verpflichtung, diesen Fisch wieder über Bord langfristig zu gestalten. zu werfen; fatal; denn dieser Fisch ist meist tot oder dann nicht mehr überlebensfähig. Fatal ist auch, dass Wir müssen somit meines Erachtens über zwei As- man die Menge der Discards nicht richtig erfassen kann. pekte reden. Der eine ist: Welche Anforderungen formu- Diese Zahlen fehlen bei wissenschaftlichen Erhebungen, lieren wir an die Gemeinsame Fischereipolitik der Euro- die wir wiederum dringend brauchen, um Empfehlungen päischen Union? für die Zukunft zu erarbeiten. Die zweite Frage, die uns als nationales Parlament zu Es ist deshalb sehr wichtig, dass wir in der EU auf Re- interessieren hat, ist: In welcher besonderen Situation gelungen hinwirken, die dafür sorgen, dass durch Selek- findet sich die deutsche Fischereiwirtschaft wieder und tiergitter, Fluchtfenster etc., der Fang von zu kleinen und wie beantworten wir sie? jungen Fischen verhindert wird. Ganz gravierend sind Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16865

(A) die Beifänge zum Beispiel bei Kiemennetzen in Vogel- stofftankern schützen. Denn wir werden nur dann ge- (C) schutzgebieten. In besonders sensiblen Gebieten muss sunde Fischbestände haben, wenn wir das Meer als Le- man deshalb darüber nachdenken, den Einsatz solcher bensraum der Fische vor Schadstoffen zu schützen. Geräte gänzlich zu verbieten. Nachdem wir unsere Anforderungen an die europäi- Außerdem muss man über ein Discardverbot nach- sche Fischereipolitik formuliert haben, liegt es aber auch denken, das heißt gefangene Fische sollten allesamt an- in unserer Verantwortung hier im Deutschen Bundestag, gelandet und auf die jeweilige Quote angerechnet wer- uns mit der spezifischen Situation der Fischereiwirt- den. schaft hier in Deutschland auseinanderzusetzen. Im Un- terschied zu anderen EU-Staaten ist die Bedeutung der Ein zweites großes Problem für den Rückgang der Fischerei in unserem Land ja eher begrenzt. Fischbestände ist die illegale Fischerei und damit ver- bunden auch die Schwarzanlandungen. Die Kontrollen Das darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass in vielen Mitgliedstaaten sind nach wie vor unzurei- dieser Sektor, wenn man die vor- und nachgelagerten chend, oft wird über die zugelassene Fangquote hinaus Bereiche mit einbezieht, gerade in den strukturschwa- gefischt und angelandet. Auch das hat fatale Folgen: Der chen Küstenregionen an der Nord- und Ostsee durchaus betroffene Bestand wir gefährdet, die Statistik wird ver- eine wichtige wirtschaftliche Funktion hat. Die Politik fälscht und, was besonders schlimm ist, der illegal ge- hat daher die Pflicht, den Strukturwandel in dem Bereich fangene Fisch wird zu Dumping-Preisen angeboten, und wirksam zu unterstützen. das schadet den Fischern und ihrem Einkommen. Ich möchte zwei Beispiele herausheben, welche die Auch hier muss europa- und weltweit etwas passie- Potenziale im Fischereibereich deutlich machen. Da ist ren. Wir unterstützen deshalb ein Kontrollverfahren, bei zum einen der Bereich der Aquakulturen. Das Wachstum dem alle Staaten gleichermaßen die Fangmengen und im Angebot von Fischprodukten geht in den letzten Jah- Größen der an Land gebrachten Fische überwachen. Es ren fast ausschließlich auf die Zunahme der Aquakultur müssen außerdem Sanktionen her, die Betrügern klar zurück. Da die Nachfrage nach Fisch ungebremst ist und machen, dass sie damit nicht durchkommen. Ganz wich- in einigen Ländern sogar steigt, ist hier noch erhebliches tig dabei: Die Sanktionen müssen in allen Staaten gleich Potenzial vorhanden. sein! Das ist leider noch nicht der Fall. Schon jetzt übersteigt die Zahl der Arbeitsplätze hier Wir begrüßen es deshalb sehr, dass die Kommission die Beschäftigtenzahl in der Hochsee- und Küstenfische- damit begonnen hat, eine Fischereikontrollagentur ein- rei. Der von uns vorgelegte Antrag fordert die Bundesre- zurichten. Auch die Einführung der Satellitenkontrolle gierung auf, hier Schwerpunkte zu setzen und die geeig- (B) wird es Betrügern künftig deutlich schwerer machen, neten Rahmenbedingungen zu schaffen. (D) schwarz zu fischen. Was wir also brauchen ist nicht nur eine über Ländergrenzen hinweg einheitliche Verschär- Der zweite, nicht zu unterschätzende Bereich ist der fung der Sanktionen, sondern auch eine Harmonisierung Tourismus. Die Küstenregionen gewinnen durch die der Kontrollen. Und hier sind wir auf dem richtigen Fischerei erheblich an Attraktivität. Vermutlich erwirt- Weg. schaftet ein Fischkutter sogar mehr indirekt dadurch, dass er Touristen anzieht, als durch die eigentliche Ich komme zu einem dritten großen Kernproblem: Fischerei. Touristen legen zudem großem Wert darauf, Die Fangflotte ist zu groß. Und auch das betrifft nicht frischen Fisch und Meeresfrüchte als regionaltypische nur Deutschland. Es ist ein europaweites, aber auch Produkte direkt vom Kutter zu erwerben. Indirekt trägt weltweites Thema. Grundsätzlich ist es zwar sehr erfreu- die Fischerei also zum Erhalt von Arbeitsplätzen im lich, dass sich auch die Technik immer weiter fortent- Tourismus bei. Die Fischerei hat also für die struktur- wickelt. Doch der technische Fortschritt hat die Fang- schwachen Küstenregionen eine große, nicht zu unter- flotten derart verbessert, dass jährlich bis zu 5 Prozent schätzende wirtschaftliche Bedeutung. mehr Fischereiaufwand betrieben werden kann. Wir fordern in unserem Antrag deshalb, die Küsten- Wir unterstützen es deshalb sehr, dass Überkapazitä- regionen als komplexe ökologisch wertvolle Gebiete be- ten nachhaltig abgebaut werden müssen. Eines ist klar: sonders zu schützen. Das Integrierte Küstenzonenma- Das darf nicht zum Nachteil der Fischer geschehen. nagement liefert hier einen guten Ansatz: Es fördert alternative Einkommensquellen zur Fischerei und ver- Schließlich dürfen wir bei der Betrachtung des ringert damit die wirtschaftliche Abhängigkeit allein von schlechten Zustandes der Fischbestände die Umweltbe- der Fischerei. Ein guter Ansatz, wie ich meine; denn dies lastungen nicht außer acht lassen. Denn Schuld an der gibt den Familien die Möglichkeit, notwendige Schutz- negativen Bestandsentwicklung haben auch die Umwelt- maßnahmen wie Fangverbote oder Fangbeschränkungen belastungen in den Küstengewässern, der Lebensraum wirtschaftlich zu verkraften. für die Fischbestände. Wir müssen uns deshalb nach- drücklich dafür einsetzen, dass – angesichts der weiter Sie werden jetzt feststellen, dass das Thema „Angler“ zurückgehenden Bestände – auf europäischer Ebene weder im Antrag, noch in meinen Ausführungen vor- Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit uneinge- kommt. Das hat seinen Grund. Denn ich halte das Thema schränkt in den Vordergrund der politischen Entschei- „Angler" auch im Hinblick auf die soziale Komponente dungen gerückt werden. Es ist wichtig, dass Maßnahmen für so wichtig, dass wir es in einem gesonderten Antrag ergriffen werden, die vor Havarien von Öl- und Gefahr- thematisieren werden. 16866 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) Der von uns vorgelegte Antrag zur Situation der Wir hätten aber gerne etwas über die Auseinanderset- (C) Fischerei bietet eine klare Orientierungslinie für die Zu- zung der ostfriesischen Krabbenfischer mit der nieder- kunft. Unsere Forderungen lauten: Wir müssen in ländischen Kartellbehörde und der EU bezüglich der Europa Nachhaltigkeit durchsetzen. Gleichzeitig müssen Fangquoten gelesen. Ostfriesische, dänische und nieder- wir in Deutschland den Strukturwandel intelligent und ländische hatten in jahrelanger Zusammenarbeit Abspra- kreativ begleiten. Ich bitte Sie deshalb, diesen Antrag zu chen zur Bestandsschonung und zur Preisregulierung ge- unterstützen. troffen. Diese Vorgehensweise war auf den Widerstand der niederländischen Kartellbehörde getroffen, unsere Gitta Connemann (CDU/CSU): Fischer wurden mit einem hohen Bußgeld belegt. Diese Situation bedrohte die heimische Fischerei in ihrem „Manntje’ Manntje, Timpe Te, Kern. Die Bundesministerin Künast hatte zwar vollmun- Buttje‘ Buttje in der See, dig angekündigt, sie werde sich der Sache annehmen. Meine Frau, die Ilsebill, Wer aber die Geschichte dieser Bundesregierung ver- Will nicht so, wie ich gern will.“ folgt hat, der weiß, dass das mehr eine Drohung als ein Versprechen gewesen ist. Mittlerweile ist das Ministe- So wie der Fischer in dem Märchen der Gebrüder rium zwar tätig geworden, das Bußgeldverfahren Grimm müssen sich auch die Fischer heute in Deutsch- schwebt aber immer noch wie ein Damoklesschwert land fühlen, nur dass in diesem Fall nicht „Frau Ilsebill“, über unseren Fischern! sondern „Frau Renate“ keine Rücksicht auf die Bedürf- nisse unserer Fischer nehmen will. Wir hätten gerne etwas über den Fortbestand der so Dies wird einmal mehr mit dem Antrag „Situation der genannten Schollenboxen in Ihrem Antrag gelesen. Dies Fischerei durch nachhaltige Bewirtschaftung verbes- ist ein ganz aktuelles Problem. Die ostfriesischen Kutter- sern“ unter Beweis gestellt, den die Koalitionsfraktionen kapitäne müssen hierbei wieder einmal um ihre Existenz hier in einer Nacht- und Nebel-Aktion vorgelegt haben. fürchten. Vertreter von niederländischen Großkuttern Dabei weckt der Titel des Antrages zunächst noch große machten bei der Europäischen Union einen Vorstoß, die Erwartungen. Man erwartet eine detaillierte Darstellung Schutzzone für Plattfische vor der deutschen Küste auf- der Situation der Fischereiwirtschaft. Man erwartet eine zulösen. In dieser Schutzzone dürfen nur kleine Kutter, genaue Beschreibung der Ausgangslage, eine Analyse wie sie die Ostfriesen haben, Nordseekrabben fischen. der Probleme und daran anschließend das Aufzeigen Die Europäische Union hat diese Schutzzone eingerich- möglicher Lösungen, kurzum: Man erwartet nichts we- tet, um die Schollen und Seezungen zu schonen. Die niger als ein Konzept für die zukünftige Fischereipolitik. „Schollenbox“ schützt aber auch die Fischer. Denn in der Schutzzone dürfen die niederländischen Großkutter (B) Doch was steht zur Situation unserer Fischer wirklich mit ihren starken Motoren nicht fischen. Die großen (D) in ihrem Antrag? Nur einige wenige dürre Sätze auf Kutter können mit ihrem schweren Geschirr den Meeres- immerhin zehn Seiten! Darunter Sätze wie, ich zitiere: boden regelrecht umpflügen. Für die kleinen deutschen „ …, die bestehende Förderpolitik für die Fischerei an- Kutter, die ihre Haupterträge aus der „Schollenbox“ ho- zupassen und dabei einen integrierten Gesamtansatz zu len, wäre dann kein Platz mehr. Und für den Granat, der wählen, der gezielt ein zweites wirtschaftliches Stand- ihr Einkommen sichert, auch nicht. Das sehen übrigens bein der Fischerei ermöglicht.“ – Allerhand! auch die Besatzungen der kleinen niederländischen Kut- ter so: Sie kritisieren ihre Landsleute scharf. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, was sollen die Betroffenen von solch einem Satz halten? Die Bundesregierung hat in dieser Angelegenheit an- Ein Satz, der unter dem Strich nichts anderes bedeutet gekündigt, sich für den Erhalt der „Schollenbox“ einzu- als: „Hier ist nichts mehr zu holen, such‘ Dir besser ei- setzen. Wir werden sie an ihren Ankündigungen messen! nen anderen Job!“ Ist es das, was Sie den Menschen sa- gen wollen? Aber halt, ich muss mich korrigieren: Sie Wir hätten auch sehr gerne etwas über die Vorverle- haben es ja bereits gesagt! Bundesministerin Künast hat gung des Sommerfangverbotes für Dorsch in Ihrer Initia- ja den Fischern beispielsweise klar gemacht, dass sie für tive gelesen. Dieser Entscheidung, die der Fischereirat sie keine Zukunft mehr sieht. Sie hat in diesem Zusam- im Dezember 2004 gefällt hat, hatte die Bundesregie- menhang ja auch schon empfohlen, Kutter zu Fremden- rung auf Verlangen der südlichen EU-Länder zuge- verkehrszimmern umzubauen. Zynischer kann man mit stimmt. Das Fangverbot gilt somit für die Zeit vom den ihr anvertrauten Menschen kaum umgehen. 1. März bis zum 30. April statt wie bisher vom 15. Juni bis 15. August eines Jahres. Im Januar und Februar kön- Wir haben es doch nicht nur mit Statistiken über nen die in Holstein und Mecklenburg-Vorpommern be- Fangquoten und Bestände zu tun. Hier geht es um Exis- heimateten Kutter witterungsbedingt nicht fahren. Und tenzen, um Menschen, die hart für ihren Lebensunterhalt daran schließt sich nun unmittelbar diese zweimonatige arbeiten. Um diese Schicksale scheint sich die Koalition Zwangspause an. Damit haben die Fischer 4 Monate keine Gedanken gemacht zu haben. Dabei gäbe es eine keine Einnahmen. Die Tatsache, dass die Betriebe dafür Menge über die Lage unserer Fischereiwirtschaft zu be- im Sommer durchfischen dürfen, bietet jedoch keinen richten – leider nicht nur Gutes. Denn vielen unserer Ausgleich. Die verarbeitenden Betriebe in Dänemark Fischer steht das Wasser bis zum Hals. Allein die Küs- sind nämlich in diesem Zeitraum geschlossen. tenfischer in meiner ostfriesischen Heimat können ein Lied davon singen. Doch davon steht nichts in diesem Von dieser Maßnahme sind mehr als 1 000 heimische Antrag. Familienbetriebe betroffen, während in den östlichen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16867

(A) Ländern immer noch keine wirkungsvollen Kontrollen räume. Auch als Wirtschaftsfaktor ist die Bedeutung der (C) stattfinden. Angelfischerei unübersehbar. Potenziale für den Angel- tourismus in Deutschland sind nicht zuletzt in den Küs- Wir hätten auch gerne etwas von Ihnen über die in der tenländern noch entwicklungsfähig. Wo, frage ich Sie, ausschließlichen Wirtschaftszone – AWZ – vorgesehene tauchen die Angler in Ihrem Papier auf? Sie spielen in Ausweisung von FFH- und Vogelschutzgebieten erfah- Ihren Überlegungen offenbar keine Rolle. Im Gegenteil: ren. In diesem Zusammenhang wäre es wichtig gewesen, Die Angelfischer werden von Gewässern in Schutzge- wenn Sie sich zu dem zurzeit unter der Federführung des bieten in der Regel verdrängt. Das ist kontraproduktiv. Bundesverkehrsministeriums laufenden Raumordnungs- verfahren für Nord- und Ostsee eingelassen hätten. Wie Die Fischerei muss genügend freien Raum erhalten, wollen Sie hier die Fanggebiete gegenüber den anderen um ihrem Gewerbe nachgehen zu können. Denn die Fi- Nutzungsarten sichern? Das Bundeslandwirtschaftsmi- scherei in Deutschland ist – vor allem für die Küstenre- nisterium ist ja an diesem Raumordnungsverfahren be- gionen Nord- und Ostsee – von großer Bedeutung. Sie teiligt. Doch auch hierzu: Schweigen. ist in an Nordsee und Ostsee seit Jahrhunderten gewach- sen. Generationen von Menschen haben diese harte Ar- Ich könnte noch weitere Beispiele anführen, die in Ih- beit im Einklang mit der Natur verrichtet. Die Fischerei rem Antrag gar nicht oder nur am Rande erwähnt wer- ist auch heute noch für die Wirtschaftskraft vieler Ge- den, wie zum Beispiel die im Entstehen begriffenen biete sehr wesentlich. Sie bietet in vielen wirtschaftlich Windparks für die Windenergiegewinnung oder die fort- benachteiligten Küstengebieten Arbeitsplätze. gesetzten unkontrollierten Anlandungen von Dorsch in der östlichen Ostsee. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Zulie- ferindustrie, auf Abnehmer und Verarbeiter und vor allen Für unsere Fischer ist in all diesen Fällen nur eines si- Dingen auch auf den Tourismus. Die Fischerei gehört cher: Auf diese Bundesregierung ist kein Verlass. zur Landeskultur. Sie ist nicht Folklore, sie ist professio- Insbesondere die zuständige Fachministerin legt hier nell, kompetent und bewegt sich im Umgang mit dem eine merkwürdige Teilnahmslosigkeit an den Tag. Wenn Lebensmittel „Fisch“ auf höchstem Niveau. Auch die es aber darum geht, unsere Fischer in ihrer internationa- Touristen sind nicht an musealen Darbietungen, sondern len Wettbewerbsfähigkeit zu beschränken, wird Frau an einer modernen, aktiven Fischereiwirtschaft in den Künast schwer aktiv. Bei solchen Gelegenheiten über- kleineren Fischereihäfen interessiert. schlägt sich „Frau Renate“ geradezu, möglichst viele Immerhin wird die wirtschaftliche Bedeutung der Fi- Regelungen und Verbote zur Belastung unserer Fischer scherei für die Küstenregionen von Ihnen wenigstens er- „herauszuschlagen“. Durch die vielen Detailvorschriften wähnt. Aber was folgt für Sie daraus? Sie haben wenig (B) und überbordende Bürokratie wird die Fischerei aber zu Konkretes vorzuweisen, das geeignet wäre, die Wettbe- (D) stark behindert. Die Fischereiflotten werden so in ihrer werbsfähigkeit der deutschen Fischerei zu stärken. Wirtschaftlichkeit getroffen und ruiniert. Immerhin haben Sie überhaupt eingeräumt, dass es Auch Binnenfischerei und Aquakultur leiden unter ei- Wettbewerbsverzerrungen für die deutsche Fischerei im ner Vielzahl von bürokratischen Hemmnissen. Erfolg europäischen Vergleich gibt. Ich gratuliere zu dieser Er- versprechende Entwicklungen sind so nahezu ausge- kenntnis. Auch wenn Sie sich darüber ausschweigen, schlossen. Wo ist das Engagement der Bundesregierung wie die Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen sei, ist im Bereich Aquakultur, von dem in Ihrem Antrag die dies schon einmal ein Fortschritt. Von einem völligen Rede ist? Ich kann es nicht erkennen. Innovationen ent- Verbot von Fischerei in FFH-Gebieten scheinen Sie auch stehen in diesem Bereich nur im Ausland und können Abstand genommen zu haben. Na also, Sie können doch, nur im Einzelfall durch die hiesige Wirtschaft eingesetzt wenn Sie wollen! Wir nehmen dies allerdings mit einer werden. Die politische Ausrichtung auf die Kreislaufan- gewissen Skepsis zur Kenntnis. Auch wir setzen uns für lagentechnologie hat beeindruckende Misserfolge er- eine Nachhaltigkeit bei der Ressourcenbewirtschaftung zeugt. Dies ist auch das Ergebnis einer Ressortfor- ein. Insoweit findet auch dieser Aspekt Ihres Antrages schungspolitik, die zu einem großen Verlust von unsere Zustimmung. Ebenso wie das Bekenntnis zu Forschungskapazitäten geführt hat. Im Bereich der mari- mehr Kontrolle und Sanktionen in allen Mitgliedstaaten, nen Aquakultur mangelt es in der gesamten Forschungs- immerhin ein zarter Wink, wie ein Stück weit Wettbe- landschaft an Auftragnehmern zur Verwertung bereitge- werbsfähigkeit wieder herzustellen sein könnte. stellter Forschungsmittel. Traditionell erfolgreiche Zweige der Meeresaquakultur wie die Muschelwirt- Insgesamt aber ist Ihr Antrag eine einzige Enttäu- schaft werden bundespolitisch nicht beachtet und sind schung. Das ist nicht gut, noch nicht einmal gut gemeint! nicht einmal Gegenstand der Ressortforschung. Darüber Meine Damen und Herren von der Koalition, das war hinaus macht sich in allen Fischereisparten das Fehlen kein großer Fang. einer fischereibezogenen Forschung in Deutschland als Wettbewerbsnachteil bemerkbar. Die Seefischerei benötigt stabile, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze, damit die Küstenregion nicht weitere Ein weiterer Punkt betrifft die Angelfischerei. Diese Wirtschaftskraft verliert und nur vom Tourismus abhän- bewirtschaftet mit über 1 Million Mitgliedern die über- gig ist. Wenn die deutsche Fischereiflotte durch eine wiegende Zahl der Binnengewässer in Deutschland. Un- restriktive Politik mehr oder weniger zur Aufgabe ge- sere Angler sind kompetente und zuverlässige Partner zwungen wird, entfallen diese Arbeitsplätze. Das wird für den Schutz und die Pflege der aquatischen Lebens- sich jedoch mit Sicherheit nicht auf den Fischbestand 16868 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) auswirken. Die Fischereibetriebe der Nachbarstaaten gen entwickeln. Außerdem erhalten wir dann eine bes- (C) wie Dänemark, Holland und Polen werden diese Lücke sere Datengrundlage, um zukünftig die erlaubten Fang- leicht ausfüllen können. mengen zuverlässiger festlegen zu können. Somit wird die Fischereipolitik nicht nur für die Die EU-Fischereiflotte ist im Vergleich zu den be- Fischer, sondern für alle Menschen in Küstenregionen grenzten Fischbeständen viel zu groß. Deshalb bekommt zum Bumerang. Die deutschen Fischer haben von Ihnen die EU das Problem der Überfischung auch mit strengen ohnehin nichts Gutes zu erwarten. Vorschriften nicht in den Griff. Denn wenn die Schiffe offiziell nicht mehr fischen dürfen, dann können sie im- Das, was Sie hier heute vorgelegt haben, ist nur die mer noch illegal fischen. Die Hinweise darauf, dass dies Verwaltung des Niederganges. Tragfähige Zukunftsper- in erheblichem Umfang geschieht, verdichten sich. Wir spektiven für unsere Fischerei haben Sie nicht. müssen davon ausgehen, dass es illegale Fischerei und Oder um es mit dem Fischer zu sagen: Schwarzanlandungen in inakzeptablem Ausmaß gibt. Daher brauchen wir sowohl effektivere Kontrollen und „Manntje‘ Manntje, Timpe Te, strengere Sanktionen als auch die deutliche Verkleine- Buttje’ Buttje in der See, rung der EU-Fischereiflotte. Die Regelungen, die die EU Nicht mal die Frau Ilsebill hier bisher beschlossen hat, reichen hinten und vorne Will, was Frau Renate will.“ nicht aus.

Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Wir brauchen weiterhin die Einrichtung von Schutz- dem vorliegenden Antrag bekennt sich die rot-grüne zonen und die Ausweitung von Schonzeiten, damit sich Koalition zur Fischerei und zu den Arbeitsplätzen in der die Fischbestände regenerieren können. Die rot-grüne Fischereiwirtschaft. Wir bekennen uns zu einer wirt- Koalition spricht sich daher für ein globales Schutzge- schaftlich lebensfähigen Fischereiwirtschaft – von der bietsnetz auf See aus. In den meisten Mitgliedstaaten Fischerei über die fischverarbeitende Industrie hin zum sind noch keine marinen Natura-2000-Gebiete ausge- Fischhandel und zur Fischgastronomie. wiesen. Die EU muss dafür sorgen, dass dies so schnell wie möglich nachgeholt wird. In Deutschland müssen in Eines muss den Akteuren dabei klar sein: Eine florie- den ausgewiesenen Natura 2000-Gebieten zügig die not- rende Fischwirtschaft gibt es nur, wenn die Lebensräume wendigen Maßnahmen zur Sicherung des Schutzstatus der wirtschaftlich genutzten Arten vor schädlichen Ein- ergriffen werden. Konkret sind das die noch ausstehen- flüssen geschützt werden. Und nur eine bestandserhal- den Schutzgebietsverordnungen und Managementpläne. tende Fischerei sichert die Arbeitsplätze in Fischerei und Fisch verarbeitender Industrie. Aus diesem Grund setzen Und nicht zuletzt brauchen wir ein international gülti- (B) (D) wir konsequent auf eine nachhaltige Fischereipolitik, die ges Verbot der Grundschleppnetzfischerei, das auch die geleitet ist von der Grundüberzeugung, dass die Meeres- die internationalen Gewässer umfasst. Denn die Grund- ressourcen nicht übernutzt werden dürfen. schleppnetzfischerei zerstört den Lebensraum der Fische auf dem Meeresgrund total – nur um einmal Fisch fan- Tatsächlich aber ist ein Rückgang der Fehlbestände gen zu können. Das ist alles andere als nachhaltig! Die durch Meeresverschmutzung und Überfischung festzu- EU muss sich in den internationalen Gremien daher für stellen. Es ist für alle neutralen Beobachter unfassbar, ein Verbot der Grundschleppnetzfischerei einsetzen – wie sich eine Branche selbst den Ast absägt, auf dem sie ohne jede Einschränkung. sitzt. Es ist kaum zu verstehen, warum die Fischerei- lobby in vielen EU-Mitgliedstaaten genau die Maßnah- Um die Ziele einer nachhaltigen Fischereipolitik er- men bekämpft, die den Erhalt der Fischbestände und reichen zu können, muss auch die bestehende Förderung damit der Lebensgrundlage für die Fischerei gewährleis- der Fischerei angepasst werden. Dabei gilt es zum einen ten. Leider haben sie damit Erfolg: Die EU-Fischerei- dafür zu sorgen, den Einsatz der Fördermittel aus dem politik weißt aufgrund des Agierens einiger pseudo- Europäischen Fonds für die Fischerei zukünftig aus- fischereifreundlicher Mitgliedstaaten nach wie vor er- schließlich für die Entwicklung eines nachhaltig arbei- hebliche Defizite auf. tenden Fischereisektors einzusetzen. Nur noch Investi- tionen in tierschutz- und umweltgerechte Technik dürfen Mit unserem Antrag fordern wir eine deutlich stärkere zukünftig förderfähig sein. Ausrichtung der EU-Fischereipolitik am Vorsorgeansatz und am Ökosystemansatz. Vorsorge heißt, die Fangmen- Zum Zweiten ist im Einklang mit der Umorientierung gen auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse recht- der Förderpolitik im ländlichen Raum auf die integrierte zeitig und vorsorglich niedrig anzusetzen. ländliche Entwicklung auch bei der Förderung der Küs- tenregionen und der Fischereiwirtschaft ein integrierter Die Beifänge von nicht genutzten Meerestieren sind Gesamtansatz zu wählen. Dabei geht es darum, den zurzeit viel zu hoch. Wenn diese Tiere ins Meer zurück- Strukturwandel in die Küstenregionen zu unterstützen geworfen werden, dann sind sie fast alle nicht mehr le- und den Fischern ein zweites wirtschaftliches Standbein bensfähig. Wir sprechen uns daher für ein Verbot von zu ermöglichen. Wer sich nicht mehr ausschließlich von Rückwürfen aus. Das heißt, dass alle Fische, die gefan- den Erträgen aus dem Fischfang ernähren kann, braucht gen werden, zukünftig angelandet und auf die erlaubten alternative Einkommens- und Beschäftigungsmöglich- Fangmengen angerechnet werden müssen. Um mög- keiten. Vielfach ist es der Tourismus, der diese Alterna- lichst viel Fisch der Zielarten anlanden zu können, wird tive bietet. Aber auch die Verbesserung der Verarbeitung die Fischerei so ein Eigeninteresse an niedrigen Beifän- vor Ort und die Entwicklung und Markteinführung neuer Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16869

(A) Produkte können die Wertschöpfung in den Küstenregio- dass sowohl der Verteilungsrahmen, in dem die zulässige (C) nen verbessern. Das zentrale strukturpolitische Instru- Gesamtfangmenge auf die Länder verteilt wird – Rela- ment für diese integrierte Förderung ist das Integrierte tive Stabilität –, erhalten bleibt und weiterhin der Bei- Küstenzonenmanagement (IKZM). fang von Kabeljau in der Küstenfischerei auf Plattfische möglich ist. Fischerei und Fisch verarbeitende Industrie haben Zu- kunft, wenn die Politik die entsprechenden Rahmenbe- Der Abbau von Forschungskapazitäten im Bereich dingungen schafft und wenn die beteiligten Branchen die der Fischereiforschung ist dramatisch. Daher ist die im Spielregeln einhalten. Dazu gehört aber auch, dass die Antrag immer wieder erhobene Forderung nach Ent- Arbeitnehmer in den Branchen eine gute, aktuelle Aus- scheidungen „auf der Grundlage wissenschaftlicher bildung erhalten können. Nur eine auf den modernsten Empfehlungen“ bald nicht mehr erfüllbar. wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Ausbil- dung ermöglicht es, den Herausforderungen der Zukunft Für eine nachhaltig betriebene Fischerei in Nord- und gerecht zu werden. Und den Arbeitgebern sei ins Ostsee ist die Beendigung der Industriefischerei unab- Stammbuch geschrieben: Nur Mitarbeiter, die sich auf dingbar. Die FDP hat dies mehrfach gefordert. Es ist der die Einhaltung der in Deutschland errungenen Sozial- Regierung nicht gelungen, sich in der EU durchzusetzen standards verlassen können, sind motivierte Mitarbeiter. und die noch immer in Nord- und Ostsee betriebene In- Und nur motivierte Mitarbeiter leisten auf Dauer Arbeit, dustriefischerei zu beenden. die allen Qualitätsansprüchen genügt. Und die Qualität Für die Fischerei in Deutschland ist auch die Binnen- der Produkte und Leistungen wird in Zukunft zum ent- fischerei von Bedeutung. Sie bleibt unerwähnt. Außer scheidenden Wettbewerbsvorteil werden. Betrieben der Aquakultur gibt es in Deutschland eine re- gional unterschiedlich bedeutsame Teich-, Fluss- und Wir Bündnisgrüne sind überzeugt, dass sich durch Seenfischerei. Die Umsetzung der EU-Wasserrahmen- eine nachhaltige Bewirtschaftung nicht nur die Situation richtlinie verfolgt das Ziel, die Struktur der Fließgewäs- der Fischbestände verbessert, sondern auch die Situation ser naturnah zu gestalten. Dies ist von Bedeutung für die der Fischerei. Daran sollte die deutsche und europäische Wiederherstellung von Laichgewässern heimischer Fischereipolitik gegen alle Widerstände weiterarbeiten. Fischarten.

Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die Koali- Für verschiedene, auch fischereilich bedeutende tionsfraktionen haben zum Ende der Legislaturperiode Fischarten gibt es Programme zu ihrem Schutz oder zur die vom Ministerium im Oktober 2003 veröffentlichten Wiederansiedlung, beispielsweise des Störs. Auf europäi- „Grundsätze einer neuen Fischereipolitik des BMVEL“ scher Ebene wird insbesondere die Stabilisierung der (B) zu einem Antrag umgestrickt. Für die Entwicklung eige- Bestände des europäischen Aals verfolgt. Die Problema- (D) ner Vorstellungen fehlten wohl Zeit und Lust. tik des Kormorans wird offensichtlich von den Regie- rungsfraktionen nicht erfasst. Der Artenschutz ist nicht Der Antrag kann nicht verdecken, dass für die Regie- betroffen, denn der Kormoran ist in Europa nicht gefähr- rung wie auch für die Koalitionsfraktionen die Fischerei det. nur eine nachrangige Bedeutung hat. Wichtige fischerei- politische Themen bleiben unerwähnt oder werden ober- Durch die Politik der Bundesregierung ist dagegen flächlich behandelt. Das entspricht der Beobachtung, der Fortbestand der schon stark zurückgegangenen Zahl dass die Interessen der deutschen Fischer in Brüssel fischereiwirtschaftlicher Betriebe in Gefahr. Die Über- durch diese Bundesregierung schlecht vertreten werden. motorisierung gerade der Niederländer in den Plattfisch- Es ist der Regierung nicht gelungen, die EU auf den Weg zonen der Nordsee ist ein großes Problem, ebenso die einer effizienten Durchführung einer kohärenten ge- Schwarzanlandungen in Ostseehäfen durch die neuen meinsamen Fischereipolitik zu bringen. Diese ist erfor- EU-Mitgliedsländer. Eine Lösung ist nicht in Sicht. derlich, um die Fischbestände gemeinsam nachhaltig zu bewirtschaften und der deutschen Fischereiwirtschaft mit den vor- und nachgelagerten Bereichen wirtschaftli- Anlage 7 che Perspektiven zu eröffnen. Zu Protokoll gegebene Reden Die Verfehlungen gegen EU-Recht sind nach den Be- zur Beratung des Antrags: Mikrofinanzierung richten der EU zahlreich, die Ahndung erfolgt in den und Finanzsystementwicklung zur nachhaltigen einzelnen Ländern völlig unterschiedlich. Das ist für die Armutsbekämpfung und Mittelstandsförde- Fischer völlig unbefriedigend. Immerhin ist mit dem rung ausbauen (Tagesordnungspunkt 16) Aufbau einer Fischereikontrollagentur durch die Kom- mission eine Verbesserung in Sicht. Karin Kortmann (SPD): Im Rahmen unserer letzten Das große Problem der Anpassung der Fischereiflot- Delegationsreise des entwicklungspolitischen Ausschus- ten an die Minderung der Fisch-Bestände in Nord- und ses besuchten wir in Vietnam eine Bank zur Vergabe von Ostsee wird mit diesem Antrag nicht gelöst. Das Ziel der Mikrokrediten. Es war beeindruckend zu sehen, wie bei Wiederauffüllung der Kabeljaubestände ist wichtig und der regionalen Zusammenkunft die einzelnen Frauen- wird auch von der FDP unterstützt, aber die erforderli- gruppen, die bereits Kredite erhalten haben, über ihre chen Maßnahmen dürfen nicht einseitig die deutsche Fi- Verwendung und Rückzahlung Rechenschaft ablegten scherei belasten. Es muss darauf hingewirkt werden, und mit welcher Verantwortung in den sieben- bis 16870 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) zehnköpfigen Frauengruppen über Neuvergaben ent- Finanzdienstleistungen über spezielle Banken für die Ar- (C) schieden wird: Bekommt Frau Jang einen Zuschuss, um men zugewandt und finanzielle und technische Hilfe endlich das Rind für das weitere Zuchtvorhaben kaufen beim Aufbau derartiger Finanzsituationen geleistet. Das zu können, erhält ihre Nachbarin das Geld, um den Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit Schulbesuch für ihre Kinder finanzieren zu können, und und Entwicklung unterstützt Mikrofinanzierung über die unterstützt die Gruppe eine Bäuerin beim Aufbau einer staatlichen Einrichtungen der KfW und der GTZ und kleinen Schweinezucht. über den Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisen- verband und die Sparkassenstiftung. Es wird geprüft, welche Möglichkeiten der Rückzah- lung gegeben sind. Bei Kreditzusage tritt die gesamte Studien belegen, dass dieses Geld gut angelegt ist: Gruppe in eine Bürgschaft ein, tritt wöchentlich zu Zins- Kommt es neben einem erhöhten Einkommen dank der rückzahlungsterminen zusammen und kann mit Efolg Mikrokredite zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur vermelden, dass es keine säumigen Kreditnehmerinnen Abfederung von Risiken und Ersparnisbildung, können gibt. Weltweit ist bei der Mikrofinanzierung eine 95-pro- unregelmäßige Einkommen und Ausgaben ausgeglichen zentige Rückzahlungsquote feststellbar. Es handelt sich werden und damit das knappe Haushaltsbudget besser um ein Erfolgsmodell, das seit vielen Jahren Schule eingesetzt werden. Es kommt damit nachweislich durch macht. die Mikrofinanzierung zu einer Armutsreduzierung, wie auch die Anhörung im AWZ im März dieses Jahres Die UN hat das Jahr 2005 zum Jahr des Mikrokredits durch die Sachverständigen belegt hat. erklärt und weist damit auf die große Bedeutung dieses Instruments in der Armutsbekämpfung hin. Circa 3 Mil- Die Sachverständigenanhörung hat deutlich gemacht, liarden Menschen müssen mit 2 US-Dollar pro Tag ihr dass die Notwendigkeit einer staatlichen Regulierung Leben bestreiten. Sie brauchen Geld für Nahrung, Was- bzw. Schaffung rechtlicher Voraussetzungen für Mikro- ser, Unterkunft, für Gesundheitsvorsorge und Bildung. finanzierung besteht. Ebenso wurde die Notwendigkeit Mit 2 Dollar sind sie aber bei keiner der herkömmlichen der Bankenaufsicht betont. Banken kreditwürdig; Bürgschaften und Sicherheiten, So ist ein Förderansatz der KfW die Stärkung von Fi- die Banken einfordern, sind nicht vorhanden. nanz-NRO bzw. nicht lizensierten Mikrofinanzorganisa- Aruna Devi aus dem südindischen Dorf Kottupatti er- tionen mit personeller Unterstützung, Eigenkapital und klärt: Früher kamen die Geldverleiher aus der Stadt mit Refinanzierung, sodass diese kleinen Institute eine Fahrrädern ins Dorf. Für einen Kredit verlangten sie Banklizenz erhalten und dann in größerem Umfang zur 5 bis 10 Prozent Zinsen im Monat. Für uns war das die Ersparnismobilisierung beitragen können. Als erfolgrei- einzige Möglichkeit, an Geld zu kommen. Später kamen che Beispiele sind zu nennen: die Transformation der (B) sie auf Motorrädern, denn sie wurden immer reicher und FEFAD in die Pro-Credit-Bank in Albanien, die Unter- (D) wir immer ärmer. stützung der Mikrofinanzinstitution ACLEDA in Kam- bodscha und die Stärkung der mongolischen Credit Heute existieren in Indien mehr als 1 Million Selbst- Mongol in der Mongolei. hilfegruppen, die Mikrokredite vergeben. Mit rund 16 Millionen Mitgliedern, wovon die meisten Frauen In einigen Entwicklungs- und Transformationslän- sind, gehören sie mit zu den erfolgreichsten wirtschaftli- dern kann bei den lokalen Geschäftsbanken Interesse an chen und sozialen Netzwerken – soziales Kapital, das so der Mikrofinanzierung geweckt werden und ist Interesse wichtig ist, um Entwicklung zu ermöglichen und zu geweckt worden. Die Finanzielle Zusammenarbeit un- steuern. terstützt solche Institute mit Refinanzierungen in Lokal- und Fremdwährung sowie personeller Unterstützung Es hat sich bewährt, Frauen die Finanzverantwortung beim Aufbau eigener Mikrofinanzabteilungen oder Mi- zu übertragen. Sie zahlen pünktlicher und zuverlässiger krofinanzfilialen. ihre Schulden zurück, tragen Sorge für ihre Familie und durch die Bürgschaft in der Gruppe auch für die anderen Zur Weiterentwicklung fördert das BMZ intensiv For- Teilnehmerinnen am Kreditprogramm. Durch die schungen im Bereich der Mikrofinanzierung und der Kleinstkredite erhalten sie erstmals die Möglichkeit, sich Finanzentwicklung. Das betrifft Themen wie beispiels- selber eine Existenz aufzubauen und zum Einkommen weise Mikrofinanzierung und Informations- und Kom- der Familie beizutragen. Ihre soziale Stellung in der Fa- munikationstechnologien, Mikroversicherungen, Kredit- milie und in der Dorfgemeinschaft wird gestärkt. garantieinstrumente und es geht um Forschungsarbeiten zum Aufbau und zur Stärkung lokaler Finanzmärkte. So gaben 60 Prozent aller Kreditnehmerinnen eines Projektes in Nepal an, dass dadurch das Bewusstsein der Im vergangenen Jahr hat das BMZ das Sektorkonzept Bedeutung einer gleichberechtigten Behandlung von Finanzsystementwicklung aktualisiert. Darin wird als in- Töchtern gewachsen sei; 45 Prozent gaben an, Ehemann novatives Förderinstrument die Möglichkeit, Mikrofi- und Ehefrau würden besser zusammenarbeiten und das nanzinstitutionen durch selbst verwaltete regionale oder hätte entscheidend zu mehr Gleichberechtigung und Mit- nationale Fonds zu unterstützen, hervorgehoben. Ethisch verantwortung von Frauen beigetragen. motivierte private Investoren interessierten sich zuneh- mend für Investitionen in privat und öffentlich getrage- Es sind kleine Kredite mit großer Wirkung! nen Mikrofinanzierungsfonds. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich als eines Diese von EZ-Durchführungsorganisationen bzw. Ge- der ersten Geberländer der Förderung des Zugangs zu bern, NROs und Privatinvestoren getragenen Fonds Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16871

(A) bieten lokalen Mikrofinanzinstituten vor allem Zugang Eine größere Hebelwirkung lässt sich dagegen über (C) zu dem für ein nachhaltiges Wachstum so bedeutsamen internationale Programme, gegebenenfalls auch über un- Eigenkapital. Dies gilt insbesondere für Länder, in denen ter den Gebern vor Ort abgestimmte so genannte Sector der lokale Kapitalmarkt fehlt bzw. stark unterentwickelt Wide Approaches erreichen, bei denen die Reform des ist. Finanzsektors in die Konditionalitäten aufgenommen sind. Lokale Mikrofinanzinstitutionen werden seit vielen Jahren über das BMZ als Vorbilder für die Entwicklung Vieles von dem, was die Union in ihrem Antrag for- und Ausdifferenzierung des Finanzsektors gefördert. dert, ist längst Praxis des BMZ. Ich freue mich darüber, SEWA, CARD oder die Grameenbank sind zum Syno- dass das BMZ dem Mikrofinanzbereich diesen hohen nym für erfolgreiches Mikrokreditwesen geworden. Bei Stellenwert eingeräumt hat. Damit greift es auch die CARD hat sich im Auftrag des BMZ die Sparkassenstif- Empfehlungen aus der Enquete-Kommission „Globali- tung für internationale Kooperation über viele Jahre en- sierung“ und die gemeinsame Beschlussempfehlung des gagiert. Deren positive Erfahrungen aus den Philippinen AWZ aus der 13. Legislaturperiode auf. Ich möchte werden heute in Vietnam angeboten. Der anfangs von schließen mit einer Aussage des UN-Generalsekretärs mir erwähnte Projektbesuch in Vietnam wird von CARD Kofi Anan: Mikrofinanzierung ist keine Wohltätigkeit. und der Sparkasse in Essen unterstützt. Sie ist die Anerkennung, dass arme Menschen nicht das Problem, sondern die Lösung sind; ein Weg, auf ihren Im Bereich deutscher nicht staatlicher Träger haben Ideen, ihrer Energie und ihren Visionen aufzubauen, eine sich vor allem Institutionen hervorgetan, die mit dem Möglichkeit, produktive Unternehmen zu schaffen und deutschen Finanzsystem historisch verbunden sind: der das Gemeinwesen zum Blühen zu bringen. Wenn sich Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband und Unternehmen nicht entwickeln können, können die Län- die Sparkassenstiftung für internationale Kooperation. der es auch nicht. Kirchliche Hilfswerke und nicht kirchliche Nord-NROs sind, bis auf wenige Ausnahmen – Oikokredit –, nur be- grenzt aktiv. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Mit den Millenniums-Entwicklungszielen der Vereinten Na- Die Professionalisierung von Mikrofinanzinstitutio- tionen haben sich die Staats- und Regierungschefs der nen wird in dem zuvor erwähnten Finanzsektorkonzept Welt die Aufgabe gestellt, die Armut auf der Welt bis des BMZ ausdrücklich als eines von vier identifizierba- zum Jahr 2015 zu halbieren. Wie schwierig dieser Weg ren Wegen zur Verbreitung und Vertiefung des lokalen ist, wissen wir alle. Das kann uns aber nicht davon ab- Finanzsystems betont. Das so genannte „Upgrading“ halten, ihn auch aufrichtig zu beschreiten. von NROs in professionelle Mikrofinanzinstitutionen (B) kam insbesondere in Lateinamerika und in Afrika zum Der deutsche Beitrag zu den Millenniums-Entwick- (D) Einsatz. Allerdings zeigte sich, dass nur eine begrenzte lungszielen bleibt hinter den internationalen Erwartun- Anzahl von NROs in der Lage ist, in diesem Bereich tä- gen und den Postulaten der Bundesregierung deutlich tig zu werden. zurück. Ich will den Fokus in der heutigen Debatte von der ewigen Standardausrede der Bundesregierung, dass Zu kritisieren ist die Ankündigung der EU vom Fe- man angesichts der beschränkten finanziellen Ressour- bruar letzten Jahres, im Bereich der Mikrofinanzierung cen nicht mehr machen könnte, zu der Frage des Wie der zukünftig keine Kreditlinien mehr zu unterstützen und Armutsbekämpfung lenken. Wie füllen wir also den uns sich stattdessen auf technische Beratung zu konzentrie- zur Verfügung stehenden Gestaltungsspielraum aus? ren. Nach Protesten relativierte die Kommission bereits Welche Ansätze und Instrumente stehen uns zur Verfü- im vergangenen Jahr ihre Position und ist in einem inten- gung und welche Entscheidungen treffen wir in Hinsicht siven Dialog mit führenden NRO-Vertretern eingestie- auf deren Anwendung? gen. Allein mit Blick auf die jüngsten Entscheidungen zur Wir unterstützen das und fordern, dass das Kriterium Entwicklungszusammenarbeit, die in der Bundesregie- für die Wahl von Kooperationspartnern für EU-Pro- rung gefällt worden sind, ist festzustellen: Wir haben es gramme in Zukunft nicht die Herkunft und absolute mit Chaos und nicht mit Perspektive zu tun; es geht al- Größe der Organisation sein kann, sondern deren Fähig- lein noch um Kosmetik und Beschwichtigung der in der keit, professionelle Beiträge zum nachhaltigen Ausbau Entwicklungszusammenarbeit Engagierten, die den rot- von Finanzdienstleistungen für Arme, benachteiligte Be- grünen Anspruch, das größere Herz für die Armen dieser völkerungsgruppen, Klein-, Kleinst- und mittlere Unter- Erde zu haben, mittlerweile überwiegend nur noch als nehmen zu leisten. Anmaßung empfinden. Das Ringen um einen zumindest marginalen Stellenwert des BMZ und der Entwicklungs- Im Gegensatz zum CDU/CSU-Antrag sehen wir kei- ministerin unter den anderen Ressorts und die Kompe- nen Sinn darin, dass eine Förderung staatlicher und teil- tenzspielchen – jüngst mithilfe des Ankerländerkonzepts staatlicher Mikrofinanzbanken grundsätzlich an kon- ausgetragen – dürften uns immerhin aufgrund der aktuel- krete Zusagen der Regierung gekoppelt sein und der len politischen Entwicklungen bis zum Ende der Legis- Finanzsektor insgesamt mit gesetzlichen Regelungen latur weitgehend erspart bleiben. und Aufsichtsinstitutionen ausgebaut werden soll. Dies dürfte nur begrenzt wirksam sein, da weitere Geber be- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt diesem reitstehen, die Erfolg versprechenden Institutionen auch Trauerspiel eine strukturierte Herangehensweise an die ohne etwaige Regierungszusagen fördern. Armutsbekämpfung entgegen. Sie ist nicht vom 16872 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) Versteckspiel hinter den komplexen und langwierigen Mikrofinanzierung ist aber auch deshalb ein beson- (C) Mechanismen der internationalen Gemeinschaft gekenn- ders wichtiges und nachhaltiges Instrument der Entwick- zeichnet. Sie setzt stattdessen auf den Gesamt-bezugs- lungszusammenarbeit, weil hierdurch lokale Finanzmit- rahmen der Armutsbekämpfung und der Entwicklung tel an unterschiedlichen Stellen, in unterschiedlichen des politisch-ökonomischen Systems in den Ländern der Formen und durch unterschiedliche Akteure aktiviert Entwicklungszusammenarbeit. werden. Mittlerweile sind so unterschiedliche Akteure wie Selbsthilfegruppen, Spar- und Kreditgenossenschaf- Daher haben wir im Frühjahr auch die Anhörung zu ten, private und staatliche Banken, Nichtregierungsorga- „Armutsbekämpfung durch nachhaltiges Finanzwesen nisationen und Kirchen im Mikrofinanzbereich aktiv. und Mikrofinanzierung“ im Ausschuss für wirtschaftli- Dies ist nicht nur ein Ausweis der Tragfähigkeit und che Zusammenarbeit und Entwicklung initiiert, die be- Nachhaltigkeit von Mikrofinanzaktivitäten, sondern stätigt hat, dass es notwendig ist, bei den politisch-öko- auch für die Eigenständigkeit und das produktive Selbst- nomischen Rahmenbedingungen gemeinsam mit dem hilfepotenzial derjenigen, die diese Dienstleistungen be- Instrument Mikrofinanzierung entwicklungspolitisch an- anspruchen. Mikrofinanzierung ist Kleinunternehmer- zusetzen. Warum eigentlich Mikrofinanzierung? Drei und Mittelstandsförderung und somit ein bedeutender Milliarden Menschen haben nicht mehr als zwei Dollar Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung in unseren am Tag, um zu überleben. Dürre, Überschwemmungen, Partnerländern. Auch die Erweiterung des Spektrums Unfälle oder Krankheit bedrohen täglich ihre Existenz von Dienstleistungen im Mikrofinanzbereich bis hin zu und lassen sie Gefahr laufen, das wenige, was sie haben, Versicherungen und der Aufbau eines Mikrofinanz-Ver- auch noch zu verlieren. Um sich aus der Armut zu be- bandswesens in einigen Ländern sind hier ein positives freien und ihre Familien abzusichern, brauchen sie Geld, Zeichen. um zu investieren. Wer aber nur wenige Dollar am Tag verdient, bekommt üblicherweise keinen Kredit von ei- An diesem Punkt gilt es aber nicht stillzustehen. Viel- mehr muss zur Profilbildung der deutschen EZ im Mi- ner Bank. Denn selbst wenn ihre Einkommen ausrei- krofinanzbereich explizit die Förderung eines tragfähi- chend wären oder sie angemessene Sicherheiten bieten gen Mikrofinanzwesens als integraler Bestandteil des könnten, sind Kreditbeträge zwischen 5 und 10 000 Dol- Finanzsystems in den entsprechenden Ländern gehören. lar für traditionelle Banken nicht attraktiv genug. Als Entsprechende Erfahrungen bringen wir hier ja von den einziger Ausweg bleiben häufig nur die örtlichen Geld- deutschen kommunalen Sparkassen und genossenschaft- verleiher und Geldverleiherinnen mit ihren Wucherzin- lichen Instituten mit, deren Dachverbände international sen. Der Kreislauf aus Armut, Verschuldung und noch schon eine erfreuliche Arbeit leisten. Es gilt hier, sich mehr Armut kann somit kaum durchbrochen werden. besonders bei der Entwicklung von informellen zu for- (B) (D) Mikrofinanzierung bietet denjenigen Kredite an, die mellen Mikrofinanzinstitutionen zu engagieren, die wirt- vom traditionellen Bankensektor vernachlässig werden. schaftlichen Geschäftsprinzipien unterliegen. Denn auch Dazu zählen etwa die Schneiderin in Thailand, die sich wenn die Zahl wirtschaftlich tragfähiger Mikrofinanzin- stitutionen in den Ländern der Entwicklungszusammen- nun eine eigene Nähmaschine kaufen kann, der Bauer in arbeit beträchtlich zugenommen hat, arbeiten weltweit Afrika, der den Kredit in eine Wasserzisterne investiert nach wie vor viele Mikrofinanzeinrichtungen nicht kom- oder die Gemüseverkäuferin in Indien, die jetzt beim merziell, sondern werden privat oder öffentlich subven- Großhändler eine größere Menge zu einem günstigeren tioniert. Was hier als Aufforderung an Unternehmen zu Preis erwerben kann. Dadurch werden mehr Beschäfti- mehr Engagement im Mikrofinanzwesen zu verstehen gungsmöglichkeiten geschaffen, zusätzliche Einkommen ist, bedeutet gleichzeitig aber auch, dass vonseiten der erzielt und eine breitenwirksame wirtschaftliche Ent- Politik geeignete ordnungspolitische Rahmenbedingun- wicklung nachhaltig gefördert. Mikrofinanzierung kann gen geschaffen werden müssen. Hierauf muss sich die aber noch mehr leisten. Durch einen einfacheren Zugang deutsche EZ konzentrieren. zu Bank- und Finanzdienstleistungen können Arme er- wirtschaftete kleine Beträge besser sparen, ihre Familien Um den verstärkten Einsatz des Instruments Mikrofi- gegen Risiken versichern oder Geldüberweisungen von nanzierung gemeinsam mit der Stärkung des formellen im Ausland lebenden Verwandten erhalten. Finanzsektors und der Entwicklung der Finanzsysteme in den entsprechenden Ländern zu erreichen, haben wir Aus einer Untersuchung der Weltbank geht hervor, in unserem Antrag folgende Forderungen erarbeitet: das dass gerade extreme Armut durch Mikrofinanzierung von den Vereinten Nationen ausgerufene internationale sehr gut bekämpft werden kann und dass sich jährlich Jahr der Mikrofinanzierung dazu zu nutzen, die Anstren- etwa 5 Prozent der an Mikrofinanzprogrammen beteilig- gungen zum Ausbau eines funktionierenden Finanz- ten Haushalte aus der Armut befreien können. Aus Indo- dienstleistungssektors für ärmere Bevölkerungsschich- nesien, Indien und Brasilien kennen wir hierfür beson- ten in der Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen der ders erfolgreiche Beispiele, darunter auch für die bilateralen deutschen, der europäischen und der multila- erfolgreiche Bekämpfung extremer Armut unter Frauen. teralen Entwicklungszusammenarbeit zu verstärken; auf Die Wohlfahrtswirkung von Mikrofinanzaktivitäten europäischer Ebene darauf hinzuwirken, dass im Bereich wirkt sich zudem auch auf den Kreis der nicht beteiligten Mikrofinanzierung tätige NRO wieder verstärkt Gelder Haushalte positiv aus – ein Aspekt, der gerade im Ver- der Europäischen Union (EU) erhalten können; zum gleich mit anderen Instrumenten der Entwicklungszu- Zwecke der Beteiligung am Eigenkapital und an der Re- sammenarbeit besonders zu begrüßen ist. finanzierung – auch durch Garantien – von Mikrofinanz- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16873

(A) instituten die jährlichen Treuhandmittel der Kreditanstalt zum Thema Anfang des Jahres ergeben. Nur ich frage (C) für Wiederaufbau ohne Ausweitung des Gesamtplafonds mich, was dieser Antrag soll, wenn die Bundesregierung zu verdoppeln; für seitens der KfW in Mikrofinanz-Ins- bereits Hervorragendes leistet und nicht erst seit Beginn titute investierte Treuhand- oder Eigenmittel wohlwol- des VN-Jahres der Mikrofinanzierung. Im laufenden lend zu prüfen, ob auf Regierungsgarantien des Partner- Jahr werden voraussichtlich über 110 Millionen Euro in landes dann verzichtet werden kann, wenn diese Mittel diesem Bereich eingesetzt, mit jährlich zunehmenden im Rahmen einer „Public-Private-Partnership, (PPP)“ Steigerungsraten. Ich sehe keinen Anlass, einem über- investiert werden; in diesem Zusammenhang die Förde- flüssigen Antrag zuzustimmen, der darüber hinaus aber rung staatlicher und teilstaatlicher Mikrofinanzbanken in auch noch einige problematische Seiten hat, vor allem den entsprechenden Ländern an konkrete Zusagen der die, die auf die Finanzsystementwicklung abzielen. Regierungen zu koppeln, den Finanzsektor insgesamt Die Forderung nach Schaffung geeigneter Bedingun- mit gesetzlichen Regelungen und Aufsichtsinstitutionen gen für ausländische Direktinvestitionen hat nichts mit auszubauen; sich zur Stärkung des informellen Finanz- der Mitfinanzierung im engeren Sinne zu tun. Es geht und Wirtschaftssektors bei den Regierungen der Partner- bei der Mikrofinanzierung ja vor allem darum, die Hin- länder der Entwicklungszusammenarbeit stärker als dernisse zu überwinden, die durch Wucherzinsen priva- bisher für die Schaffung bzw. Weiterentwicklung finanz- ter Geldverleiher entstehen und das Fehlen des Zugangs wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, vor allem zu einer adäquaten institutionellen Finanzierung ausdrü- gesetzlicher Grundlagen für Mikrofinanzinstitutionen cken. und angepasster Regelwerke für unabhängige Zentral- banken einzusetzen; sich im internationalen Rahmen und Die Weiterentwicklung für Rahmenbedingungen von gegenüber den Kooperationspartnern dafür einzusetzen, unabhängigen Zentralbanken ist ein weiteres Beispiel. dass der Zugang zu Krediten nicht durch Zinsobergren- Müssen Zentralbanken generell und vollständig unab- zen beschränkt oder durch Zinssubventionen untergra- hängig sein? Die Geschichte der britischen oder ameri- ben wird; die Schaffung geeigneter internationaler und kanischen Zentralbanken zeigt, dass es viele graduelle nationaler Rahmenbedingungen für ausländische Direkt- Stufen von Einbindung in die staatliche Finanz- und investitionen in den Entwicklungsländern voranzubrin- Wirtschaftspolitik gibt, die sich auf die wirtschaftliche gen, damit diese Direktinvestitionen eine entwicklungs- Entwicklung nicht negativ ausgewirkt hat. Die Bundes- fördernde Wirkung entfalten können; nach dem Vorbild bank oder die Europäische Zentralbank kann in ihrer der Hermes-Bürgschaften im Außenhandel auch Bun- weitgehenden Unabhängigkeit nicht Modell für alle die des-Ausfallbürgschaften für politische Risiken bei In- speziellen Bedürfnisse von Entwicklungsländern sein. vestitionen in Mikrofinanzinstitute zu übernehmen. Nicht nachvollziehbar für mich ist auch die Forde- (B) Auf der internationalen Ebene wird der Mikrofinan- rung nach einem Forschungsprogramm für die Entwick- (D) zierung großes Gewicht beigemessen, erinnert man sich lung des Finanzleistungssektors; hier scheint mir eine in- etwa daran, dass die Vereinten Nationen 2005 zum Jahr dividuelle Interessengruppe einen Spiegelstrich in diesen der Mikrofinanzierung ausgerufen haben, um diesem In- Antrag gebracht zu haben, der in vielen seiner Aussagen strument den Auftrieb zu geben, den es verdient. Auch zur Mikrofinanzierung auf meine Zustimmung stößt, ein Teil unserer Kollegen im britischen Parlament hat aber wie gesagt, leider vor allem das fordert, was die bereits im vergangenen Jahr eine Aufforderung an den Bundesregierung bereits macht. damaligen Weltbankpräsidenten Wolfensohn gerichtet, Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat im die Ausgaben von etwa 1 Prozent auf den doppelten An- Bereich der Mikrofinanzierung in den vergangenen Jah- teil an den Weltbankausgaben zu heben. Es geht darum, ren eine Menge geleistet. Das Thema ist für die finan- nun ein glaubwürdiges und wirksames Profil der Mikro- zielle Zusammenarbeit wichtig und auch für die TZ. Die finanzierung durch die deutsche EZ herauszubilden. Sparkassenstiftung und der Deutsche Genossenschafts- Lassen Sie uns das von der UN ausgegebene Internatio- und Raiffeisenverband sind auf diesem Gebiet aktiv. nale Jahr der Mikrofinanzierung nutzen, um diesen Darüber hinaus gibt es eine große Zahl von revolvieren- wichtigen Beitrag zur direkten Armutsbekämpfung und den Fonds, die von NROs und Kirchen unterstützt wer- zur Formung eines heimischen Mittelstandes in den Ent- den. Die Zusagen für laufende Projekte erreichten zur- wicklungsländern einen entscheidenden Schritt voran- zeit 400 Millionen Euro. bringen! Mikrokredite sind für das Kleingewerbe in Entwick- Thilo Hoppe (BÜNDNIS/90 DIE GRÜNEN): Die lungsländer dort besonders wichtig, wo sie arme Men- große Bedeutung von Kleinkrediten zur Entwicklungsfi- schen erreichen. International wird davon ausgegangen, nanzierung ist unbestritten. Vor allem für die Bevölke- dass im vergangenen Jahr 60 Millionen Arme mit Klein- rungsschichten, die keinen Zugang zu Banken haben, ja krediten arbeiteten. Insbesondere im ländlichen Raum nicht mal über ein Bankkonto verfügen. Auch die bestehen aber noch viele Defizite, hier gilt es noch eine Mikrofinanzierung von Klein- und Mittelbetrieben hat ganze Menge in den Aufbau von Mikrofinanzierungs- enorme Potenziale. Sie ist armutsmindernd, indem sie systemen zu investieren. Vor allem der Zugang von ar- armen Menschen erlaubt ihr Einkommen zu erhöhen und men Frauen, die kein Land besitzen, sollte noch gezielter neue Geschäfte aufzubauen. verfolgt werden. Es gibt weltweit vielversprechende Er- fahrungen mit der Finanzierung von Frauen als Kleinun- Über all dies besteht bei den Fachpolitikern aller ternehmerinnen. Sie sind exzellente Kreditnehmerinnen Fraktionen kein Zweifel; dies hat auch unsere Anhörung mit hervorragenden Rückzahlungsquoten. 16874 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) Die Mikrofinanzierung leistet einen wichtigen Bei- ten Industrialisierung. Die Praxis hielt leider an, als die (C) trag zur Erreichung der Millenniumsziele, weil sie das zugrunde liegende Theorie längst diskreditiert war; denn Vertrauen der Menschen in die eigenen Ersparnisse för- sie bot ein unübertroffenes Alimentierungs- und Patro- dert und wichtige Wachstumsimpulse setzt. Die Grenzen nageinstrument. So müssen staatliche Banken weiterhin der Mikrofinanzierung sind aber auch stark von den Ma- staatliche Industrien alimentieren, die längst konkursreif krobedingungen von Wirtschaft und Finanzen vorbe- sind, und sie werden zur Kreditvergabe an politisch ein- stimmt. Wenn die Verschuldung eines Landes hoch ist flussreiche Gruppen wie Großbauern gezwungen. Die und die realen Zinssätze bei 30 Prozent liegen, dann Armen bleiben dabei auf der Strecke. Es ist kein Zufall, wird die Kreditaufnahme in einem Land immer sehr be- dass die Mutter der Mikrofinanzinstitutionen, die schränkt bleiben. Die Mikrofinanzierung kann dann Grameen-Bank, in Bangladesch entwickelt wurde, als keine Abhilfe schaffen. Nur Entschuldung, zusätzliche der gesamte Finanzsektor in staatlicher Hand war. Die Entwicklungsfinanzierung und Veränderung auf der Grameen-Bank war die erste Bank mit privater Kapital- Ebene von Handel und Finanzbeziehungen können die- beteiligung, die zugelassen wurde, und hat eine Vorrei- sen Ländern und den Menschen, die in ihnen leben, aus terrolle in der Liberalisierung des Finanzsektors gespielt. der Patsche helfen. Deshalb plädiere ich auch hier noch mal ausdrücklich, von dem einfachen Argumentations- Zweitens. Der Antrag der CDU/CSU ist leider ord- muster abzugehen und Mikrofinanzierung gegen zusätz- nungspolitisch nicht sauber konzipiert. Er unterstützt liche ODA-Mittel oder Entschuldung auszuspielen. Nur recht undifferenziert die Förderung staatlicher Mikrofi- wenn wir an all diesen Fronten vorankommen, haben wir nanzprogramme. Diese sind aber sehr oft deutlich eine Chance, erfolgreich Entwicklung zu befördern. schlechter als NRO-Programme oder private Mikro- finanzinstitutionen. Sie werden in vielen Ländern als politisches Patronageinstrument genutzt, bürokratisch Markus Löning (FDP): Es freut mich, dass wir noch geführt und sind von einem hohem Maß an Korruption einmal die Chance haben, auf so ein wichtiges entwick- gekennzeichnet. Dies gilt insbesondere für staatliche lungspolitisches Instrument wie die Mikrofinanzen ein- Agrarbanken. Diese sollten nur dann gefördert werden, zugehen. wenn ihre Autonomie erwiesenermaßen gesichert ist, sie eine privatwirtschaftliche Rechtsform haben und die Sehr geehrter Herr Weiß, ich weiß, wie viel Herzblut Mitarbeiter nicht aus der staatlichen Bürokratie stam- in Ihrem Antrag steckt. Er enthält auch vieles, was die men. Das Finanzwesen ist seiner Natur nach ein Bereich, FDP unterstützt; allerdings gehen einige der Forderun- der zu den Kernaufgaben des Privatsektors im weiteren gen in die falsche Richtung. Man muss auch die Grenzen Sinn, also inklusive NROen, Genossenschaften etc., ge- eines entwicklungspolitischen Instrumentes sehen und hört. Hier hat der Staat nur in Ausnahmefällen etwas zu darf es nicht überstrapazieren. Mikrofinanzsysteme sind (B) suchen und bei der Förderung des Mikrofinanzwesens (D) letztlich nur erfolgreich, wenn sie privat initiiert und ge- sollten das Setzen angemessener ordnungspolitischer tragen werden und wenn sie innerhalb einer gewissen Rahmenbedingungen sowie die Förderung privater An- Frist aus eigener Kraft Gewinne erwirtschaften. Nur sätze im weiteren Sinne im Vordergrund stehen. Staat- dann können sie langfristig bestehen. Die staatliche Ein- liche Kreditprogramme sollten dagegen höchstens in be- mischung muss sich auf die Bereitstellung von Mitteln gründeten Ausnahmefällen gefördert werden. für den Start und auf die Beratung bei der Professionali- sierung von Strukturen beschränken. Es ist mit diesem Antrag wie oft bei der CDU/CSU: eine ganze Reihe guter Ideen, die aber in keine klare Die FDP-Bundestagsfraktion sieht in richtig konzi- Richtung weisen. Es bedarf einer ordnungspolitisch kla- pierten Mikrofinanzprogrammen ein hervorragendes ren, liberalen Hand, damit die guten Ideen Kurs in Rich- marktwirtschaftliches Instrument zur Unterstützung von tung Erfolg nehmen können. Entwicklung. Man muss allerdings die Entwicklungsge- schichte zur Kenntnis nehmen und einen ordnungspoli- tisch sauberen, privaten Ansatz unterstützen, wenn sie erfolgreich sein sollen. Anlage 8 Erstens. Der Aufbau von Mikrofinanzprogrammen ist Zu Protokoll gegebene Reden eine Reaktion auf ein ordnungspolitisches Defizit. Viele zur Beratung des Antrags: Chance zum demo- Entwicklungsländer haben den Finanzsektor entweder kratischen Neubeginn in Haiti unterstützen (Ta- komplett verstaatlicht, wie zum Beispiel China, Indien gesordnungspunkt 18) oder Bangladesch, oder mit vielfaltigen Regulierungen überzogen und liberalisieren diesen nur zögerlich. Das hat dazu geführt, dass sich kleine dezentrale Banken Dr. Sascha Raabe (SPD): „Deye mon, gen mon“, so nicht entwickeln konnten. Die verstaatlichten Banken lautet ein haitianisches Sprichwort: „Wenn ein Berg er- hatten den perversen Effekt, dass sie Ersparnisse aus klommen ist, wartet dahinter schon der nächste“. Ich dem ländlichen Raum eingesammelt haben – etwa über finde, dass mit diesem Sprichwort die Stimmung in Haiti Postbanken –; diese Mittel wurden aber gemäß politisch treffend beschrieben wird. Die Frauen und Männer, Kin- determinierten staatlichen Prioritäten ausgegeben. Das der und Alte auf Haiti sind nach immerwährenden politi- war nicht immer unbeabsichtigt. Sozialistische Entwick- schen und sozialen Unruhen geprägt von Pessimismus lungstheorien forderten genau diese Abschöpfung ländli- und Hoffnungslosigkeit. Sie sehen sich vor hohen, im- chen Kapitals zur staatlichen Finanzierung einer forcier- mensen, unbesteigbaren Konfliktbergen. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16875

(A) Diesem Zitat möchte ich aber an dieser Stelle gerne Darüber hinaus ist das haitianische Land Empfänger (C) hinzufügen, dass sich Berge leichter gemeinsam bestei- von regionalen Vorhaben wie beispielsweise HIV/Aids- gen lassen. Mit unserer gemeinsamen, interfraktionellen Prävention in der Karibik mit 6 Millionen Euro und De- Beschlussempfehlung möchten wir den Menschen in sertifikationsbekämpfung mit 1 Million Euro. Ergänzend Haiti zeigen, dass sie nicht alleine sind. Wir als Bundes- hierzu sind auf multilateraler Ebene von deutscher Seite tagsabgeordnete im fernen Deutschland können die Gip- über 11 Millionen Euro bereitgestellt worden. Zusätzlich fel sehen, die es zu bewältigen gilt. Denn wir wissen, fördert das BMZ nichtstaatliche Organisationen in etwa wie hoch sie sind. 20 Vorhaben, hauptsächlich in den Bereichen Gesund- heit, Grundbildung, Ernährungssicherung und Berufsbil- Rein geographisch hat das karibische Land keine so dung. hohen Berge. Auch stellt man sich unter einer Karibik- insel normalerweise ein Touristenparadies vor – blaues Am Beispiel Haitis wird deutlich, dass die lateiname- Wasser, weiße Strande, exotische Früchte. Doch leider rikanischen Staaten eigenständig und verantwortungsbe- sieht die Wirklichkeit auf Haiti ganz anders aus. Seit Fe- wusst ihre Probleme in der Region lösen wollen. Seit bruar 2004 reißt die Welle der Gewalt in Haiti nicht ab. genau einem Jahr befindet sich die UN-Mission Die Übergangsregierung von Latortue hat den ersehnten MINUSTAH unter brasilianischer Führung im Land. Ihr Frieden nicht herbeigebracht. Noch immer liefern sich Mandat sieht vor, die Übergangsregierung bei der Schaf- Anhänger des vertriebenen Präsidenten Aristide mit fung von Sicherheit zu unterstützen, aber insbesondere Polizisten, Rebellen und UN-Streitkräften Gefechte. Der die friedlichen Rahmenbedingungen für die anstehende Wahl im November dieses Jahres zu schaffen. Interimspräsident steht zwischen den Fronten. Auf der einen Seite fordern die Anhänger Aristides die Rückkehr Brasiliens Rolle als zukünftige regionale Führungs- des früheren Präsidenten. Auf der anderen Seite steht die macht ist mit dem Gelingen dieser Mission verknüpft. Rebellengruppierung, die den Sturz Aristides hervorge- Von den 34 Ländern, die sich an der Mission beteiligen, rufen hat. sind sieben aus Lateinamerika. Diese UN-Mission kann den Beginn einer multilateral organisierten sicherheits- Die Mehrzahl der Haitianer lebt in Elend und bitterer, politischen Zusammenarbeit der lateinamerikanischen chronischer Armut. Laut UNDP-Daten lebt mehr als die Länder markieren. Denn hier nehmen sich diese Länder Hälfte der Bevölkerung in extremer Armut. Die Ent- eigenverantwortlich einer Staatskrise in der Region an. wicklungsindikatoren für Bildung, Gesundheit und Wirt- schaft haben sich in den letzten Jahren weiterhin ver- Doch bis zu den geplanten Wahlen im November die- schlechtert: Von den acht Millionen Einwohnern ist fast ses Jahres ist es noch ein langer, steiler Weg. Beobachter ein Drittel unterernährt. Und sechs Prozent der Bevölke- sehen nur wenige Anzeichen der Besserung und warnen vor einer Verschlechterung. Die neuesten Meldungen (B) rung sind mit dem HIV-Virus infiziert. Im Jahr 2015 (D) werden es bei gleich bleibenden Bedingungen circa von heute dokumentieren weiterhin Mord und Totschlag 10 Prozent sein. Fast ein Viertel der Kinder im Alter von auf der Insel. So ist der französische Honorarkonsul, sechs bis neun Jahren besuchen keine Schule. Paul-Henri Mourral, gestern Nacht an den Folgen meh- rerer Schusswunden in der Hauptstadt gestorben. Wei- Während der lateinamerikanische Kontinent mit samt tere Schreckenszenarien werden von Landesexperten seinen Karibikstaaten im Jahr 2004 ein Wirtschafts- prognostiziert. wachstum aufweisen konnte, ist hiervon auf der Halbin- sel nichts zu spüren. In ihrem letzten Jahresbericht be- Das Haupthindernis stellt zurzeit die Entwaffnung der richtet die Wirtschaftskommission der UN für gewaltbereiten Gruppierungen dar. Nachdem sich ges- Lateinamerika von einem durchschnittlichen Wachstum tern der Einsatz auf Haiti gejährt hat, ist er vom Sicher- von 5,5 Prozent in Lateinamerika und Karibik. Das ist heitsrat der Vereinten Nationen verlängert worden. In Haiti geht es erst einmal darum, praktische sicherheits- der höchste Wachstumswert der Region der letzten politische Probleme zu lösen. Dabei müssen strukturelle 25 Jahren. Diese gute Nachricht betrifft aber leider nicht Konfliktursachen überwunden werden. Erst auf dieser Haiti. Im Gegenteil, Haiti hat eine rückläufige Wachs- Grundlage werden andere Ziele wie Demokratisierung, tumsrate von 0,9 Prozent für das Jahr 2004 zu verzeich- Rechstaatlichkeit und Entwicklung – zu erreichen sein. nen. Unser Antrag möchte einen Beitrag zur friedlichen Vor diesem Hintergrund freue ich mich, dass es uns und demokratischen Entwicklung Haitis leisten. Wir gelungen ist, eine parteiübergreifende Beschlussempfeh- wünschen den Haitianern, dass sie eines Tages von ei- lung zu finden. Grundtenor des Antrages ist es, ein deut- nem Berggipfel aus wieder optimistisch in die Zukunft liches Zeichen zu setzen. Als deutsches Parlament blicken können. möchten wir zeigen, dass uns die Zukunft Haitis wichtig ist und wir der Gewalt- und Armutsspirale ein Ende set- zen möchten. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Seit die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Antrag „Chance Konkrete Schritte sind schon unternommen worden. zum demokratischen Neubeginn in Haiti unterstützen“ Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit wurde trotz im März 2004 erstmals eingebracht hatte, hat sich in Ha- der schwierigen Rahmenbedingungen in Haiti fortge- iti einiges ereignet. Das Land droht nach wie vor noch führt. Allein im Krisenjahr 2004 hat das Bundesministe- weiter ins Chaos abzugleiten. Eine echte Entwicklung rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- hin zur demokratischen Stabilisierung hat noch nicht lung 1,71 Millionen Euro an entwicklungsorientierter eingesetzt. Tatsächlich hat sich die Lage teilweise sogar Nothilfe/Wiederaufbau bereitgestellt. weiter zugespitzt. 16876 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) Der Hurrikan „Jeanne“ hat im September 2004 etwa Die haitianische Übergangsregierung muss durch ei- (C) 2 000 Todesopfer gefordert und Zehntausende Men- nen nationalen Koordinierungsplan, der insbesondere für schen obdachlos gemacht. Die humanitäre Situation in den Bereich Landwirtschaft klare Planungen und Ziele Haiti hat sich als Folge des Hurrikans noch einmal ver- verdeutlichen muss, und durch die Überwindung der Ka- schlechtert und die Bemühungen zur Stabilisierung der pazitätsengpässe bei der Mittelabfrage beweisen, dass Versorgung der Haitianer und zur infrastrukturellen Ent- sie alle Möglichkeiten der Unterstützung zur Stabili- wicklung zurückgeworfen. Nach der Eskalation der poli- sierung des Landes nutzt. Dazu gehören auch ein in tischen Krise im März 2004 konnte die Lage trotz der unserem Antrag gefordertes umfangreiches Entwaff- Anwesenheit der UN-Friedenstruppe MINUSTAH und nungsprogramm und die Einhaltung der Bürger- und der Bildung einer Übergangsregierung nicht stabilisiert Menschenrechte. Nach Aussage von Hilfsorganisationen werden. Gewalt und Bandenterror haben seitdem zuge- ist es gerade die Verschärfung der Sicherheitslage, die nommen. Immer wieder kommt es zu bewaffneten Aus- die Projektdurchführung auf dem Land, aber auch die Si- einandersetzungen zwischen Aristide-Anhängern und tuation in den Städten ganz drastisch erschwert hat. Die der haitianischen Polizei bzw. der internationalen Übergangsregierung zeigt hier zu wenig Engagement für Schutztruppe und zu Schießereien zwischen kriminellen die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der vor Ort Banden. Das Auswärtige Amt befürchtet die Zunahme Engagierten und der allgemeinen humanitären Lage. gewaltsamer Aktionen im Vorfeld der Kommunal-, Prä- Trotz der im Juli vergangenen Jahres gemachten Zu- sidentschafts- und Parlamentswahlen, die im Oktober sagen der internationalen Geberkonferenz für Haiti ist und November dieses Jahres stattfinden sollen. insgesamt noch nicht genug Wille zu erkennen, die Zu- Heute mussten wir in der Presse lesen, dass der fran- sagen auch einzuhalten. Dieses Problem leistet nicht nur zösische Honorarkonsul der Stadt Cap-Haitien, Paul- denjenigen Vorschub, die aus eigenen durchsichtigen Henri Mourral, in Port-au-Prince auf offener Straße nie- Motiven ein internationales Engagement für die Stabili- dergeschossen wurde und später seinen Verletzungen er- sierung Haitis ablehnen und verhindern wollen, sondern legen ist. Am selben Tag wurden in Port-au-Prince ein kann auch die Glaubwürdigkeit der Internationalen Ge- Kommissariat und ein Markt von Bewaffneten angegrif- meinschaft in Hinsicht auf humanitäre Hilfe untergra- fen. Dies alles verdeutlicht uns, wie notwendig es ist, das ben. Land bei der demokratischen Stabilisierung zu unterstüt- Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass zen. trotz der aufwendigen Verfahren bei der Europäischen Union die bereits bewilligten Mittel für Haiti schneller Der dieser Debatte zugrunde liegende Antrag wurde abfließen. Zudem muss sie über die derzeitige Bereitstel- im März vergangenen Jahres durch die CDU/CSU-Bun- lung von Mitteln für die humanitäre Hilfe hinaus auch (B) destagsfraktion in das parlamentarische Verfahren einge- (D) für die längerfristige Zusammenarbeit eine entspre- bracht, weil dem Verfall Haitis nicht länger zugesehen chende Vorgehensweise entwickeln. Die CDU/CSU- werden konnte und das Land dringend vom Rand der Bundestagsfraktion hatte deshalb in ihrem ursprüngli- Wahrnehmung durch die Weltgemeinschaft ins aktuelle chen Antrag gefordert, dass Haiti wieder in die Gruppe politische Bewusstsein und Handeln gebracht werden der Kooperationsländer der deutschen Entwicklungszu- muss. Ich freue mich, dass aus der Initiative der Union sammenarbeit aufgenommen wird, anstatt es ganz aus nach anfänglichen Widerständen und längeren Verhand- der deutschen Entwicklungszusammenarbeit auszuson- lungen nun eine gemeinsame Beschlussempfehlung der dern. Dieser Vorschlag war leider nicht mehrheitsfähig. Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Grünen geworden Wir fordern mit dem Antrag in der Fassung der gemein- ist. Der Bundestag setzt damit ein unmissverständliches samen Beschlussempfehlung zumindest, dass die Bun- Zeichen und formuliert klare Anforderungen an die Bun- desregierung nach einer demokratischen Konsolidierung desregierung. eine längerfristige Zusammenarbeit mit Haiti anstrebt. Angesichts der Schwierigkeiten bei der innenpoliti- Ebenso sind durch die Bundesregierung bei der EU- schen Stabilisierung Haitis dürfen wir nicht außer Acht Kommission Vorbereitungen für die Aufnahme der regu- lassen, dass die Situation auch nach außen schwierige lären Zusammenarbeit nach demokratisch legitimierten Probleme mit sich bringt: Haiti gewinnt als internatio- Wahlen anzumahnen. Für das Erreichen einer demokrati- naler Drogenumschlagplatz an Bedeutung, und das De- schen Stabilisierung Haitis ist es zudem wichtig, dass die stabilisierungspotenzial, das von Haiti für die Region, UN-Friedenstruppe auch tatsächlich in der vorgesehenen insbesondere für die Dominikanische Republik ausgehen Stärke in Haiti tätig sein kann. kann, muss eingegrenzt werden. In diesem Jahr wird bei einer Sonderversammlung der Solange die Arbeit der humanitären Hilfsorganisatio- Vereinten Nationen im September eine erste Bilanz auf nen in Haiti besonders wegen der Verschärfung der Si- dem Weg zur Umsetzung der Millenniumsziele erfolgen, cherheitslage nur unter schweren Bedingungen möglich die eine Halbierung der extremen Armut bis zum Jahr ist und auch das im Rahmen der internationalen Geber- 2015 versprechen. Diese großartige internationale Ver- konferenz für Haiti im Juni 2004 zugesagte Geld nicht einbarung kann nach den jetzt vorliegenden Berichten abfließen kann, müssen sich die haitianische Regierung und Analysen aber nur verwirklicht werden, wenn die und die Geber in die Pflicht nehmen lassen, ihr Engage- Entwicklungsländer ihre internen Strukturen reformieren ment für die Unterstützung der haitianischen Bevölke- und stärken und wenn zudem gerade auch die ärmsten rung deutlich zu erhöhen. Länder deutliche Entwicklungsfortschritte machen. Haiti Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16877

(A) ist eines der ärmsten Länder Lateinamerikas. Es ist ein seinem „freiwilligen“ Absetzen ins Ausland. Deshalb (C) trauriges Beispiel, dass durch lang anhaltende politische sollte die Rolle der CARICOM und der OAS, die ebenso Instabilität die Armut noch vergrößert wird. Wenn wir wie die EU die anstehenden Wahlen im November beob- die Millenniumsziele ernst nehmen, ist Haiti auch ein achten werden, gestärkt werden. Thema für uns, die wir diese Ziele mit unterschrieben haben. Mit Blick auf die Verpflichtungen aus den Der vorliegende Antrag benennt die katastrophale Si- Millenniumszielen verdient auch Haiti unsere besondere tuation in Haiti zutreffend. Im Antrag wird zu Recht ge- Solidarität. fordert, dass wir trotz der massiven Schwierigkeiten al- les tun sollten, um der Bevölkerung zu helfen. Die Situation des totalen Zerfalls darf kein Dauerzustand Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden. Der Antrag geht dahin, den entwicklungspoliti- NEN): Die Lage in Haiti ist dramatisch und besorgniser- schen Faden nicht abreißen zu lassen, nicht trotz, son- regend. Ich war noch nicht in Haiti, aber vor einiger Zeit dern gerade wegen der verheerenden Lage. Diese Inten- in der Dominikanischen Republik auf derselben Insel. sion unterstützen wir. Diese Frage stellt sich auch in Die politische und soziale Lage in der Dominikanischen anderen Regionen für andere Staaten. Ist es richtig, mit Republik ist im Vergleich zu Haiti stabil und die Men- einer Einstellung von Entwicklungsaktivitäten Druck schen scheinen geradezu wohlhabend zu sein, obwohl auszuüben? Aber gegen wen? Wir würden nur die ohne- auch dieses Land noch längst nicht ausreichend entwi- hin leidende Bevölkerung treffen. Oder erreichen wir ckelt ist. mehr mit der Fortsetzung bzw. in diesem Fall mit einer Das größte Problem der Bevölkerung in Haiti ist die möglichst frühen Wiederaufnahme von entwicklungspo- allgegenwärtige Gewalt. Die Situation nach dem Hurri- litischer Aktivität zugunsten der Bevölkerung? Die cane Jeanne war katastrophal. Der Sturm forderte Frage kann nicht immer gleich beantwortet werden. 2 000 Todesopfer und ließ Zehntausende obdachlos wer- den. Für kurze Zeit war das Land in den Schlagzeilen. In Haiti jedenfalls erreicht der Entzug entwicklungs- Das Entsetzen war groß. Inzwischen ist das Leid der Be- politischer Aktivitäten de facto keine Verbesserung der völkerung aus den Schlagzeilen und der internationalen Lage. Umgekehrt aber wird die Bevölkerung allein ge- öffentlichen Aufmerksamkeit fast völlig verschwunden. lassen. In Folge des totalen Zerfalles ist es bereits zum Seit Jahren wird die Bevölkerung terrorisiert von Ban- Worst Case gekommen. Weder die Regierung noch eine den und Gangs, von Regierungsbefürwortern und Regie- Institution ist auszumachen, auf die wir überhaupt Druck rungsgegnern. Berichte über Folter, Entführungen und ausüben könnten. Ich unterstütze deshalb den Antrag. Es Vergewaltigungen durch die Polizei bzw. das Ex-Militär würde keinen Sinn machen, wegen parteipolitischer Konkurrenz zu blockieren. In der Entwicklungspolitik (B) zeigen, dass die Bevölkerung hier auch kaum Schutz fin- (D) det. Der letzte Jahresbericht von Amnesty International kommt es immer mal wieder angesichts des Elends, mit beklagt ausführlich das korrupte Justizsystem und die dem wir in vielen Gegenden der Welt konfrontiert sind, exzessive Polizeigewalt. zu übereinstimmenden Einschätzungen und Forderungen der Parteien. Der Antrag zu Haiti betrifft einen entspre- Sogar die VN-Mission MINUSTAH, die seit dem chenden Fall. Deshalb ist es erfreulich, dass die Fachpo- 1. April 2004 helfen soll, Haiti zu stabilisieren, ist Vor- litiker aller Parteien des Ausschusses für wirtschaftliche würfen ausgesetzt, Vergewaltigungen und Folter zu be- Zusammenarbeit übereinstimmend dafür plädieren, im gehen. Die genaue Untersuchung dieser Vorwürfe gegen Falle Haitis ohne Vorbehalte so früh wie möglich und die UN-Mission ist notwendig, auch wenn dies Aufwand realistisch umsetzbar aktiv zu werden. Bündnis 90/Die und Geld kostet. Der Ruf der Vereinten Nationen steht Grünen stimmen dem Antrag zu. auf dem Spiel. Die UN müssen in Haiti – übrigens ebenso auch im Kongo – Untersuchungen durchführen und Konsequenzen ziehen. Sonst wird das Vertrauen in Dr. Karl Addicks (FDP): Seit September 2004 ha- VN-Missionen langfristig erschüttert und die UN wer- ben mindestens 400 Menschen bei gewaltsamen Ausei- den beschädigt. nandersetzungen zwischen Polizei, Rebellen und Ex- Militärs in Haiti ihr Leben verloren – seit März diesen Besonders verwerflich ist, dass die katastrophale hu- Jahres gehören nun auch zwei UN-Soldaten zu dieser manitäre und soziale Situation der Bevölkerung auch traurigen Bilanz. Es steht zweifelsfrei fest: Die Lage in ökonomisch ausgenutzt wird. Die Mütter der Plaza de Haiti ist außer Kontrolle geraten. Das Land droht in An- Mayo, die im Auftrag des VN-Sicherheitsrates die Situa- archie zu versinken. tion in den steuerfreien Gewerbezonen, besonders den Häfen, untersuchten, beschrieben die Arbeitszustände Nachdem Jean-Bertrand Aristide nach wochenlangen „sklavereiähnlich“. Die USA haben diese Regionen wie- Aufständen und vielen Todesopfern Ende Februar letz- derholt als ihren Hinterhof bezeichnet, und beansprucht, ten Jahres gestürzt worden ist, versucht nun die Über- dass sie ihre Vorstellung von Ordnung dort durchsetzen. gangsregierung unter Premierminister Gerard Latortue, Aber in Haiti haben sie immer wieder eine unrühmliche Herr der Lage zu werden, während Herr Aristide im Rolle gespielt, wie auch die Entwicklung des Präsiden- Ausland die Fäden des gewaltsamen Aufstandes in Haiti ten Aristide zeigt. Auf ihn hatte die Bevölkerung und die organisiert. Seit Anfang Juni 2004 sollte Haiti und die internationale Gemeinschaft zunächst große Hoffnungen Interimsregierung Unterstützung von 6 700 Blauhelm- gesetzt. Sie wurde bitter enttäuscht. Die USA tragen für soldaten im Rahmen der Haiti-Mission MINUSTAH er- diese Entwicklung Mitverantwortung, bis zuletzt, bis zu halten. 16878 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) Leider ist diese Friedenstruppe heute, fast ein Jahr Die Gesamtinvestitionskosten für dieses Verkehrspro- (C) später, immer noch nicht vollständig. Mich erschreckt jekt betragen circa 4 Milliarden Euro, davon entfallen die Meldung, dass Uruguay, Brasilien, Argentinien und auf die Ausbaustrecke 1,615 Milliarden Euro und auf die Chile – sie stellen die Hälfte der UN-Soldaten – damit Neubaustrecke 2,330 Milliarden Euro. Im November drohen, die Mission abzubrechen. Grund dieser Drohung 1997 wurden die ersten Finanzierungsvereinbarungen sind die nicht freigegebenen Gelder der internationalen abgeschlossen und die bestehende Finanzierungsverein- Gemeinschaft für den Wiederaufbau Haitis. barung zur Neubaustrecke wurde natürlich hinsichtlich der Kosten und der Bauzeit fortgeschrieben. Die Bundesregierung muss darauf hinwirken, dass diese Drohung nicht wahr gemacht wird. Die volle Für die Neubaustrecke besteht durchgehend Baurecht, Stärke der Friedenstruppe muss endlich erreicht wer- das für Teilabschnitte zum Beispiel auf weitere fünf den – wie es der vorliegende Antrag fordert. Nur so kann Jahre verlängert wurde. ein wirksames Tätigwerden dieser Truppe erreicht wer- Der „Baustopp“ wurde – bedingt durch immer wie- den. Deutschland ist im Begriff, sich nach den jüngsten derkehrende Fragen der Wirtschaftlichkeit seitens der Ereignissen auf voraussichtlich im September stattfin- Bahn oder großer ökologischer Bedenken etc. – im März dende Neuwahlen vorzubereiten. Man kann sagen: Der 2002 durch die Bundesregierung aufgehoben. Die Plan- Wahlkampf läuft. Auch in Haiti stehen Präsidentschafts- feststellungsverfahren aller neun Abschnitte der Neu- und Parlamentswahlen an, im November dieses Jahres. baustrecke Ebensfeld–Erfurt sind bereits abgeschlossen. Realisierbar sind diese Wahlen jedoch unter den heuti- Für die Ausbaustrecke Nürnberg–Ebensfeld wurden alle gen Bedingungen unter keinen Umständen. Wie soll man 13 Planfeststellungsverfahren bislang begonnen. Es lie- einen Wahlkampf führen, solange das Recht auf freie gen jedoch bisher nur fünf Beschlüsse (Ebensfeld-An- Meinungsäußerung nicht gilt und politische Konflikte schluss an Neubaustrecke, Nürnberg–Fürth, Stellwerk nicht wie hier verbal, sondern per Waffengewalt ausge- Erlangen, Bahnübergang Strullendorf und Hauptbahnhof tragen werden? Nürnberg) vor. Mit einem Baubeginn der Ausbaustrecke Es ist dringend notwendig, dass diese eskalierte Lage Nürnberg–Ebensfeld ist nach derzeitigem Stand nicht in Haiti mit internationaler Hilfe verbessert und beseitigt vor 2009 zu rechnen. Zusätzlich sollten für die Ausbau- wird. Nicht nur zugesagte Blauhelm-Soldaten, sondern strecke aus dem Anti-Stau-Programm 204 Millionen auch zugesagte technische und finanzielle Hilfe muss Euro bereitgestellt werden, um die gemeinsame Reali- gewährt und eingehalten werden. Die FDP-Fraktion un- sierung der Ausbaustrecke und der S-Bahn Nürn- terstützt die endgültige Fassung des Antrags. Offensicht- berg–Forchheim zu ermöglichen. Der Abschluss der lich schafft es die Interims-Regierung aus eigener Kraft hierfür erforderlichen Finanzierungsvereinbarungen so- wohl zwischen Bund und DB AG als auch zwischen (B) und ohne Hilfe nicht, das Land politisch und wirtschaft- (D) lich zu stabilisieren. Um eine solche Stabilisierung her- Freistaat und DB AG steht noch aus. beizuführen, die einen Wahlgang überhaupt erst möglich So weit die Fakten. Nun fordern die Unionsfraktionen macht, braucht Haiti schnellstens internationale Unter- einen zügig viergleisigen Ausbau des Abschnittes Nürn- stützung in jeder Hinsicht. Dazu rufe ich die Europäer berg–Fürth der Trasse Nürnberg–Ebensfeld im Zuge des auf. Lassen Sie uns schnell und beherzt diese Unterstüt- VDE Nr. 81 (Nürnberg–Erfurt) und erwarten von der zung bringen! Bundesregierung verbindliche Aussagen zum Zeithori- zont des Projektes. Abgesehen davon, dass der Antrag an die falsche Adresse gerichtet ist, ist eine konkrete Aus- Anlage 9 sage über den Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Ab- schnittes nicht möglich. Das kann ihnen vielleicht die Zu Protokoll gegebene Reden Bayerische Staatsregierung sagen – beste Kontakte da- hin hat die Opposition doch. zur Beratung des Antrags: Zügige Verwirkli- chung der ICE-Trasse Nürnberg–Erfurt (VDE- Die Bayerische Staatsregierung muss erst einmal ihre Schiene Nr. 8.1) (Tagesordnungspunkt 19) Hausaufgaben machen und unter anderem mit der Bahn die überfällige Finanzierungsvereinbarung bezüglich des S-Bahn-Baus abschließen. Schließlich bekommt der Heinz Paula (SPD): Es ist und bleibt unser erklärtes Freistaat von der Bundesregierung dafür Regionalisie- Ziel, die Schiene zu stärken – das gilt sowohl für den rungsmittel. Aber die Staatsregierung muss sich beeilen. Aus- und Neubau als auch für Erhaltungsmaßnahmen. Wenn man Dirk Fischer glauben darf, will die CDU im Dazu gehört der Neu- und Ausbau der Strecke Nürn- Falle eines Sieges bei der im Herbst geplanten Bundes- berg–Erfurt. Die Trasse ist Verkehrsprojekt Deutsche tagswahl die Mittel für den Verkehrswegebau vornehm- Einheit (VDE) Nr. 8.1, Ausbaustrecke/Neubaustrecke lich in den Aus- und Neubau von Straßen fließen lassen, Nürnberg–Erfurt; ist im vordringlichen Bedarf des wie er gegenüber der „Berliner Zeitung“ am 31. Mai Bedarfsplanes des Bundesschienenwegeausbaugesetzes 2005 versicherte. Und da könnten so wichtige Schienen- (SchWAbG) und im neuen BVWP 2003 als laufendes projekte wie das VDE Nr. 8 und die damit verbundene und fest disponiertes Vorhaben; ist Bestandteil eines der S-Bahn-Verbindung Nürnberg–Fürth auf den Sanktnim- 14 spezifischen Vorhaben des Transeuropäischen Ver- merleinstag verschoben werden. kehrsnetzes, denen der Europäische Rat am 9./10. De- zember 1994 in Essen eine besondere Bedeutung beige- Die Bundesregierung hat aufgrund der Bedeutung messen hat. dieser Nord-Süd-Trasse im Zusammenhang mit dem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16879

(A) 2-Milliarden-Euro-Programm beschlossen, das Vorha- Strecke bereits in einem früheren Bundesverkehrs- (C) ben VDE Nr. 8 insgesamt mit 120 Millionen Euro zu wegeplan, nämlich in dem von mir als Berichterstatterin verstärken. Die Mittelbereitstellung zum viergleisigen mitgestalteten aus dem Jahre 1992, enthalten war, von Ausbau des Abschnittes Nürnberg–Fürth wurde bereits Rot-Grün jedoch seit 1998 blockiert wird. im Rahmen der 66er-Liste und deren Zusatzvereinbarun- gen sichergestellt. Einer Bereitstellung weiterer Mittel Die ICE-Trasse Nürnberg–Erfurt, diese unendliche aus dem 2 Milliarden Euro starken Investitionspro- Geschichte, droht zu einem Trauerspiel und vor allen gramm bedarf es deshalb für diesen Abschnitt nicht. Dingen zu einem rot-grünen Verwirrspiel zu werden. Es lohnt sich angesichts schnelllebiger politischer Zeiten, Und dass wir nicht mehr Investitionsmittel zur Verfü- den Leidensweg des ICE-Projekts Nürnberg–Erfurt gung haben, hat unser Land vor allem der Blockadehal- nochmals zu skizzieren: tung der unionsgeführten Ländern im Bundesrat – zum Beispiel beim Abbau von Subventionen – zu verdanken. 9. April 1991: Der ehemalige CDU-Bundesverkehrs- 17,5 Milliarden stehen dadurch jährlich dem Bundes- minister Krause legt dem Kabinett das Programm Ver- haushalt nicht zur Verfügung. kehrsprojekte Deutsche Einheit mit 17 Projekten vor, un- ter anderem das bewusste VDE-Projekt Nr 8. Wären die im Bundesrat beschlossenen Kürzungen voll zulasten der Schiene umgesetzt worden, hätte allein Dezember 1991: Der Bundestag verabschiedet das im vergangenen Jahr für über 200 Millionen Euro weni- Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz als wich- ger gebaut werden können. Wir haben das nicht zugelas- tige Voraussetzung für die Infrastrukturentwicklung in sen und dafür gesorgt, dass die Kürzungen nicht allein den neuen Bundesländern. auf die Schiene umgelegt wurden, sondern auf alle Ver- 1992: Ausweisung der Verkehrsprojekte Deutsche kehrsträger. Einheit im vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrs- Nach Abschluss der notwendigen Finanzierungsver- wegeplanes. Geplante Fertigstellung des Teilabschnit- einbarungen zwischen dem Bund und der DB AG zur tes 8.1 Erfurt–Ebensfeld: 1999 Ausbaustrecke sowie zum Bau der S-Bahn in diesem 15. November 1993: Der Bundestag verabschiedet Abschnitt zwischen dem Freistaat Bayern und der mit den Stimmen der CDU/CSU-FDP-Koalition das DB AG kann unter Umständen noch in diesem Jahr, also Bundesschienenwegeausbaugesetz mit der Anlage l, in in 2005, mit dem Bau begonnen werden. Wir halten die dem das VDE Nr. 8 als vordringlicher Bedarf des Bun- Mittel für Schieneninvestitionen weiter auf hohem Ni- desverkehrswegeplanes festgestellt wird. Die Bundesre- veau – das gilt auch für Bayern. Das schaffen wir unter gierung hat das VDE-Projekt Nr. 8 als deutschen Beitrag anderem dadurch, dass die Einkünfte aus der LKW-Maut für die Herstellung einer europäischen Hochgeschwin- nicht nur der Straße, sondern auch der Schiene zugute (B) digkeitstransversale Rom–Stockholm bei der EU einge- (D) kommen. bracht. Hier betreibt die Opposition reinen Populismus. Sie 1994: Der Europäische Rat legt die Strecke als Teil der kann ihren Antrag nicht einmal als „Wahlkampfantrag“ transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsstrecke Nr. l für die Presse verwenden, denn sie will die Schienenin- Verona–München–Erfurt–Leipzig–Berlin–Stockholm fest. vestitionen ganz entschieden zurückfahren. Diese europäische Vorgabe bindet die nationalen Regie- Dieser Antrag ist deshalb überflüssig, wir lehnen ihn rungen. ab. 6. Dezember 1994: Nach dreijähriger Planung erster Planfeststellungsbeschluss für einen Neubauabschnitt im Renate Blank (CDU/CSU): Das Thema ICE-Trasse Projekt Nr. 8 (Bündelungstrasse Erfurt–Arnstadt). Nürnberg–Erfurt beschäftigt uns nicht nur wegen der Neubaustrecke sondern auch wegen der Ausbaustrecke 1996: Planfeststellungsbeschlüsse liegen für alle Teil- schon viele Jahre, und es gab und gibt dazu von uns viele abschnitte des VDE 8 vor. 1997 sind alle Klagen abge- Anträge, die von Rot-Grün allesamt abgelehnt wurden. wiesen; es liegt Baurecht für das gesamte Vorhaben vor. Heute legen wir erneut einen Antrag zu diesem wichti- April 1996: Beginn der Bauarbeiten am so genannten gen Projekt vor. Erst kürzlich, bei der Einweihung des Bündelungsabschnitt auf der Neubaustrecke Erfurt– neuen ICE-Bahnhofs in Erfurt, hat sich Bundesverkehrs- Ebensfeld (107 km). Für beide Neubaustrecken besteht minister Stolpe erneut positiv geäußert, weshalb ich ei- durchgehend Baurecht. gentlich davon ausgehe, dass die SPD unserem Antrag zustimmen wird. 7. Juli 1999: Verhängung des Baustopps durch den damaligen Verkehrsminister Franz Müntefering (der Hier handelt es sich, wie Sie wissen, um ein wesentli- Baustopp ist aber pro forma bereits 1998 eingetreten). ches Teilstück im Programm „Transeuropäisches Netz“. Seither beschränkten sich die Arbeiten auf die Fertigstel- Insoweit ist der Lückenschluss nicht nur von regionaler lung begonnener Maßnahmen im sächsischen Abschnitt Bedeutung, sondern auch von europäischer Bedeutung. Leipzig–Gröbers und im thüringischen Abschnitt Er- Die transeuropäische Magistrale Skandinavien–Berlin– furt–Arnstadt. Der Weiterbau wird für 2010 geplant. Das München–Oberitalien läuft über Erfurt. Die ICE-Strecke letzte Baurecht verfällt 2005. Nürnberg–Erfurt ist ein fest eingeplantes Vorhaben im ansonsten völlig unzureichenden Bundesverkehrswege- 10. März 2002: Bundeskanzler Schröder hebt anläss- plan 2003, der Anfang Juli 2003 von der Bundesregie- lich des Ostparteitages der SPD im Bundestagsvorwahl- rung beschlossen wurde. Ich darf erwähnen, dass diese kampf den Baustopp auf. 16880 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) September 2002: Spatenstich für den Augustusburg- furt–Stuttgart–Nürnberg–Erfurt–Leipzig–Berlin zu be- (C) Tunnel und die Geratal-Brücke im Abschnitt Erfurt– treiben, macht doch erst dann Sinn, wenn auch die letzte Arnstadt. Lücke geschlossen ist. Deswegen brauchen wir diesen Lückenschluss so früh wie möglich, lieber heute als 13. November 2002: Die Parlamentarische Staats- morgen. sekretärin Iris Gleicke, SPD, schätzt bei einer Frage- stunde im Deutschen Bundestag als Termin für die Es ist oft geprüft worden; zu dieser Trasse gab und durchgehende Realisierung des VDE-Projektes Nr. 8 gibt es keine Alternative, weder in ökonomischer noch „nicht vor 2015“. in ökologischer Hinsicht. Die amtierende Bundesregie- Juli 2003: Abschluss der letzten Finanzierungsverein- rung hatte zum Beispiel die Hochgeschwindigkeitstrasse barung zwischen Bund und Deutsche Bahn AG für die 1999 auf Eis gelegt, um eine Überprüfung der Überprü- Strecke 8.2. fung anzuordnen. Wertvolle Zeit wurde so verschwen- det. Die Kosten-Nutzen-Analysen zeigen, dass das Pro- Herbst 2003: Die Haushaltsansätze 2004 der Bundes- jekt Sinn macht und sinnvoll ist. Der Flächenstaat regierung für den Weiterbau der ICE-Neubaustrecke be- Bayern ist als Verkehrsdrehscheibe in besonderer Weise schränken sich zum großen Teil auf Baurecht erhaltende auf ein leistungsfähiges Verkehrsnetz angewiesen. Die Maßnahmen. Bei den derzeitigen Finanzierungstranchen Hochgeschwindigkeitsstrecke Nürnberg–Erfurt ist ein ist eine Realisierung vor 2020 nicht möglich. wichtiges und ein hierfür notwendiges Projekt. Es be- 26. November 2003: Bundesverkehrsminister Stolpe steht Baurecht, das keinesfalls verfallen darf. Unser Ziel bestätigt „Angstliste“ in seinem Ressort, in dem Kürzun- ist und bleibt, aus verkehrlichen und aus volkswirt- gen, Streichungen und Baustopps für den Fall eines fi- schaftlichen Gründen am Bau der Hochgeschwindig- nanziellen „Super-Gaus“ durchgespielt werden. keitsstrecke Nürnberg–Erfurt festzuhalten. Denn die ge- nannten Alternativprojekte sind nicht geeignet, eine 28. Januar 2004: Der Verkehrsexperte der Grünen leistungsfähige Hochgeschwindigkeitsstrecke sicherzu- Albert Schmidt rechnet mit „Begräbnis 3. Klasse“ für stellen. den ICE. 29. Januar 2004: Die Parlamentarische Staatssekretä- Trotz der knappen Haushaltsmittel des Bundes und rin Iris Geicke: „Totgesagte leben länger – ICE steht der Bahn muss dieses Projekt Nürnberg–Erfurt forciert nicht zur Disposition“2 und erteilt eine Absage an werden. Einen Baustopp wie von 1999 bis März 2002 „grüne Profilierungssucht“. darf es keinesfalls noch einmal geben; wir alle wissen, was dann passiert: Verfall des vorhandenen Baurechts. 7. Februar 2004: Bundesverkehrsminister Stolpe äu- Zumal die EU ja auch die Verkehrsinfrastruktur des (B) ßert anlässlich eines Treffens mit Ministerpräsident Transeuropäischen Verkehrsnetzes unterstützt. Der (D) in Südthüringen: „Die Strecke ist unver- Europäische Fonds für regionale Entwicklung sieht För- zichtbar.“ dermittel ausdrücklich auch für diesen Bereich vor. So 22. März 2004: Der Thüringer Verkehrsminister steht es schon in der EG-Verordnung Nr. 1783 aus dem Jürgen Reinholz stellt ein Ultimatum an BM Stolpe, um Jahre 1999. Zur Förderperiode 2007 bis 2013 sollen die bis Ende März 2004 Klarheit über den Weiterbau der Gemeinschaftszuschüsse im Rahmen der Investitionsför- Strecke zu bekommen. derung angehoben werden, womit eine deutliche Baube- schleunigung für das VDE Nr. 8.1 erreicht werden 23. März 2004: Die Bahn AG teilt dem Oberbürger- könnte. meister der Stadt Erfurt, Manfred Rüge, mit, dass die Ar- beiten am ICE-Bahnhof in zwei Wochen eingestellt wer- Die Förderanträge sind durch die DB AG beim den, wenn es nicht mehr Geld vom Bund gibt. Laut BMVBW zu stellen! Für Großvorhaben mit einer Förde- SPD-Landesvorsitzenden Matschie haben Schröder, rung über 50 Millionen Euro entscheidet die EU-Kom- Müntefering und Stolpe noch am 21. März ihm den zügi- mission auf Antrag des BMVBW. gen Weiterbau des ICE zugesagt. Der viergleisige Ausbau auf der Strecke Nürnberg– 26. März 2004: BMVBW-Staatssekretärin Gleicke Fürth ist Voraussetzung für die ICE-Trasse und einen zu- verkündet: „Kein Baustopp für ICE-Strecke Nürnberg– kunftsfähigen S-Bahn-Verkehr in der Metropolregion Erfurt“, „die ICE-Strecke zwischen Nürnberg und Erfurt Nürnberg. Dieses wichtige Projekt muss zügig vorange- wird weitergebaut“. trieben werden. In der Mittelfristplanung bis 2008 sind Für uns ist das ein unsägliches Gezerre um den Wei- für die Strecke Nürnberg–Ebensfeld nur 10 Millionen terbau! Allerdings ist dies ein Spiegelbild der gesamten Euro enthalten. Außerdem ist für diese geringe Summe rot-grünen Politik, die von Wankelmut, Unzuverlässig- der Abschluss der Finanzierungsvereinbarung von der keit und mangelndem Durchsetzungsvermögen geprägt DB AG noch nicht beantragt. Bahnchef Mehdorn hat im ist. Bayern ist als Verkehrsdrehscheibe in Europa auf Frühjahr gesagt, beim Abschnitt Nürnberg–Ebensfeld sei diese leistungsfähige Hochgeschwindigkeitsstrecke an- ihm die Tinte eingetrocknet. Mit dem Betrag von 10 Mil- gewiesen wie kein zweites Land. Diese Strecke ist aber lionen Euro ist der notwendige viergleisige Ausbau zwi- verkehrs- und strukturpolitisch auch für die neuen Bun- schen Nürnberg und Fürth, der etwa 120 Millionen Euro desländer von enormer Bedeutung. Als Fränkin darf ich kostet, erst einmal vom Tisch, weshalb es auf unabseh- sagen: Sie rückt die Zentren Nürnberg, München und bare Zeit keine Verbesserungen im Schienennahverkehr Berlin näher zusammen. Das Zukunftskonzept der DB der Region geben wird. Der S-Bahn-Bau ist damit aus- AG, eine ICE-Ringlinie Berlin–Hamburg–Köln–Frank- gebremst und Sie sind schuld! Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005 16881

(A) Diese Koalition hat zu verantworten, dass der Bau der stellung der Strecke. In der Folgezeit wollte sich Ver- (C) S-Bahn Nürnberg–Fürth–Erlangen schon seit über einem kehrsminister Stolpe des Weiterbaus annehmen. Auf die Jahr gestoppt ist, weil diese S-Bahn-Strecke unabweis- Einlösung dieser Versprechen warten wir in Thüringen lich mit der ICE-Trasse Nürnberg–Erfurt gekoppelt ist. und in Mitteldeutschland noch heute. Sie müssen sich zu Recht vorhalten lassen, dass Sie für den Schienenpersonennahverkehr – genauer: für den Versprochen – gebrochen. Von Weitblick der Regie- Bau einer S-Bahn – kein Geld zur Verfügung stellen, die rung Kohl keine Spur und konzeptionsloses Hin und zur Verfügung stehenden 10 Millionen Euro dienen le- Her, wohin man schaut. Das machen die Menschen in diglich der Aufrechterhaltung der Maßnahme, damit unserem Lande nicht mehr länger mit! keine Gelder an Europa zurückgezahlt werden müssen, Wie sonst, meine Damen und Herren leider noch in die bisher für die Projekte im Rahmen der Transeuropäi- Regierungsverantwortung, erklären Sie sich, dass Ihnen schen Netze geflossen sind. Wählerinnen und Wähler und sogar die eigenen Partei- Ich fordere im Namen der Unionsfraktion die Bun- mitglieder in Scharen davonlaufen? desregierung auf, sich in der ihr noch verbleibenden Zeit Wir durften es aus dem Munde des Kanzlers selbst für einen zügigen viergleisigen Ausbau des bisher zwei- vernehmen: Rot-Grün hat abgewirtschaftet. Der Mangel gleisigen Streckenabschnitts Nürnberg–Fürth im Rah- an Konzepten für den wirtschaftlichen Aufschwung liegt men der Umsetzung der ICE-Trasse Nürnberg–Erfurt auf der Hand. Da ist die Verkehrs- und Infrastrukturpoli- mit S-Bahn Nürnberg–Forchheim einzusetzen. Den voll- tik nur eines von vielen! Beispielen für das Versagen der mundigen Ankündigungen von Bundesverkehrsminister Bundesregierung. Und da hilft es auch wenig, wenn Sie Dr. in der Debatte vom 21. April 2005, versuchen, die Verantwortungslast umzukehren und auf den Verkehrsstandort Deutschland zu verbessern sowie die Union abzuwälzen. beschlossene Projekte zügiger zu realisieren und der jüngsten Entscheidung der Ministerkonferenz für Raum- Nicht „die Politik“, wie es etwa Herr Benneter zu for- ordnung, die Region Nürnberg in den Kreis der Metro- mulieren pflegt, muss Antworten und Lösungen finden. polregionen Europas aufzunehmen, müssen konkrete Ta- Sie selbst, die Regierung, hätten dies in den zurücklie- ten folgen. genden Jahren ihrer Regierungszeit tun müssen! CDU und CSU – haben Konzepte geliefert, die den Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Trotz der jüngs- Zug Deutschland aufs rechte Gleis hätten bringen kön- ten Entwicklungen: Das ICE-Projekt Nürnberg–Erfurt nen. Wir können die von Ihnen verschuldete Talfahrt ist keine Nebensächlichkeit. Vielmehr nimmt es eine jetzt nur noch stoppen und verhindern, dass die Bundes- Schlüsselstellung im Zusammenwachsen von alten und republik gänzlich international aufs Abstellgleis gerät! neuen Bundesländern ein. (B) Die Untätigkeit dieser Bundesregierung ist Fakt. Die (D) Die ICE-Trasse ist Teil eines Gesamtprojekts, das die Bauverzögerung der dringend erforderlichen ICE-An- Wirtschaftszentren Berlin, Leipzig/Halle, Erfurt, Nürn- bindung Nürnberg–Erfurt ist nur ein Beispiel dafür, dass berg und München verbinden wird. Als Hochgeschwin- verfehlte Politik unser Land Milliarden kostet. In meiner digkeitsstrecke für den Reise- und Güterverkehr wird sie Heimatregion bedeutet das, dass darüber hinaus wichtige einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Verkehrsin- regionale Verkehrsinfrastrukturprojekte und Verkehrsan- frastruktur in Mitteleuropa leisten. Gerade aus diesem bindungen beeinträchtigt werden: die Mitte-Deutsch- Grund brachte die Bundesregierung unter Helmut Kohl land-Schienenverbindung, die Sachsenmagistrale aber weitblickend dieses Schienenprojekt als deutschen Bei- auch die S-Bahn-Verbindung Nürnberg–Forchheim. trag für die Schaffung einer europäischen Transversale In diesem Zusammenhang ist der Bundesregierung Palermo–Rom–Berlin–Stockholm bei der Europäischen entgangen, dass sie auch wichtige regionale Bauvorha- Union ein. ben wie Brücken, Straßen und Ansiedlungen entlang der Ich muss vor diesem Hohen Hause nicht erklären, Bahnlinien blockiert. dass eine gut funktionierende Schieneninfrastruktur das Die Vorgängerregierung hat klug gehandelt: beste- Wirtschaftswachstum einer Region fördert. Dieser einfa- hende Strecken müssen zügig eingebunden und neue che Sachverhalt leuchtet jedem ein. Nicht so dem ersten Vorhaben zügig realisiert werden, damit das Baurecht der vier SPD-Verkehrsminister, die wir zwischen 1998 nicht verloren geht. Jetzt laufen wir massiv Gefahr, dass und 2002 erleben mussten: Franz Müntefering. Er auf weiten Streckenabschnitten das Baurecht endgültig stoppte 1999 den planmäßigen Weiterbau der ICE-Ver- verloren geht. Millionen Euro Planungskosten müssten bindung nach Erfurt bis Anfang 2002, obwohl das Vor- wir in den Wind schreiben. So muss beispielsweise der haben bereits auf gutem Weg war und obwohl er wusste: Bau des Blessbergtunnels im Thüringer Wald spätestens Für die neuen Bundesländer und besonders für meine 2005 beginnen. Heimat Thüringen ist diese Hochgeschwindigkeitstrasse ein Standortfaktor von europäischer Dimension. Wie soll es nun aus Sicht der CDU/ CSU weiterge- hen? Fast drei Jahre Baustopp. Das ist symptomatisch für die Stillstandspolitik seit 1998. Auch nach Jahren hat die Erstens. Wir werden bedarfsgerecht investieren. Bundesregierung diese Fehlentscheidung – wie so viele Deutschland ist Transitland. Es zeichnet sich bereits ab, andere – nicht revidiert. Was folgte, waren Ankündigun- dass das Verkehrsaufkommen im nächsten Jahrzehnt er- gen – ebenfalls bezeichnend für den rot-grünen Regie- heblich ansteigen wird. Daher müssen Infrastrukturkapa- rungsstil. Im Wahlkampf 2002 versprach Bundeskanzler zitäten aller Verkehrsträger nachfragegerecht und zu- Schröder aus welchen Gründen auch immer die Fertig- kunftsorientiert ausgebaut werden. 16882 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 178. Sitzung. Berlin, Donnertag, den 2. Juni 2005

(A) Zweitens. Wir werden die Mittel für Investitionen Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Zu nachtschla- (C) wieder erhöhen. Vonseiten des Bundesministeriums für fender Zeit berät der Deutsche Bundestag zum wie- Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, BMVBW gibt es derholten Male eine der im Sinne eines zügigen Fern- dazu nur Ankündigungen. Laut Pressemitteilung des verkehrs sicherlich wichtigen Trassen, die aber BMVBW soll Anfang 2006 ein Maßnahmenpaket für offensichtlich zur ungelösten Geschichte der Verkehrs- ausgewählte Projekte geschnürt werden, das unter ande- politik Deutschlands werden soll. Diverse Verkehrs- rem die Strecke Nürnberg–Erfurt einschließt. Aber das minister haben sich schon für sie ins Zeug gelegt. Ver- jüngst aufgelegte 2-Milliarden-Programm besteht nur schiedene Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bahn AG verbal. Nur erzählen reicht eben nicht. Das Erreichte haben erklärt, wie notwendig die Strecke sei, andere ha- zählt. Die Angleichung der Lebensverhältnisse in den al- ben sie als nicht notwendig bezeichnet. Die rot-grüne ten und neuen Bundesländern erfordert Handeln. Regierung hat die Strecke zunächst in einer ersten An- Drittens. Wir werden dafür sorgen, dass erzielte Ein- wallung als für beendet im Ausbau erklärt, um dann mit nahmen des Verkehrs in diesen zurückfließen. Schluss einem mächtigen Kanzlerwort im Bundestagswahlkampf mit Zweckentfremdung der Mittel! Zu diesem Zweck 2002 die Strecke wieder als bedeutend und wichtig zu wollen wir die schon bestehende Verkehrsinfrastruktur- erklären. Wie man sieht, ist dieser Versuch fehlgeschla- Finianzierungsgesellschaft, VIFG, so umstrukturieren, gen. Die Wähler in Thüringen haben das offensichtlich dass Mauteinnahmen in Zukunft wirtschaftlich vernünf- nicht so ernst genommen. tig verwaltet werden können. Wir werden Einnahmen Im neuen Bundesschienenwegeausbaugesetz vom zielgerichtet für die Erhöhung der Leistungsfähigkeit des Verkehrssystems und der Verbesserung der Schnittstel- September 2004 ist das Projekt 8.1 in Verbindung mit len zwischen einzelnen Verkehrsträgern einsetzen. den anderen Projektteilen 8.2 und 8.3 wiederum in den vordringlichen Bedarf eingestuft, sogar in der Einstu- Die VIFG muss außerdem genutzt werden, um fung „laufend und fest disponiert, Realisierung bis 2015 Public-Private-Partnership-Modelle, PPP, beim Ver- vorgesehen“. So weit, so schlecht. Für eine Realisierung kehrswegebau voranzubringen – auch auf der Schiene. bis 2015 würde ernsthaft nur dann etwas sprechen, wenn Erfahrungen im In- und Ausland zeigen die Vorteile die- die Finanzplanung des Bundes mit den Beschlüssen zum ser Zusammenarbeit: Die Umsetzung der Projekte er- Bundesschienenwegeausbaugesetz einigermaßen kon- folgt schneller und kostengünstiger. Leider hat es die form gehen würde. Tatsache ist, dass die noch gültige Bundesregierung versäumt, der Finanzierungsgesell- Mittelfristplanung für die Jahre 2005 ff. ein Absinken schaft entsprechende Kompetenzen zu übertragen. Das der investiven Mittel für die Schieneninvestitionen von werden wir ändern. 3,3 Milliarden Euro im Jahre 2005 auf nur noch 2,2 Mil- liarden Euro im Jahre 2007 vorsieht. Die tränen- und (B) Man verdeutliche sich die Zusammenhänge: Jede wortreichen Beteuerungen, dass diese Zahl nicht endgül- (D) Milliarde Euro, die im Verkehrswegebau investiert wird, tig sei und man die Zusage habe, dass wenigstens 1 Mil- schafft bzw. erhält rund 24 000 Arbeitsplätze. Wir wer- liarde mehr ausgegeben werden wird, mag man glauben den die Chancen, die sich daraus für die Ankurbelung oder auch nicht. Auch eine Aufstockung auf das Niveau des Arbeitsmarktes und für die Stärkung der Rolle Deutschlands als Wirtschaftsstandort in Europa ergeben, von 3,3 Milliarden würde nicht ausreichen, auch nur an- konsequent nutzen! nähernd den Verwirklichungshorizont 2015 zu erreichen. Diese Bundesregierung steht vor einem Scherbenhau- Wir unterstützen deshalb als FDP den Antrag der fen: Sie erhält die Quittung dafür, dass sie Konzeptions- Unionskollegen, für alle Beteiligten Klarheit zu erhalten. losigkeit zum Programm erklärt hat, dass sie Infrastruk- Es wird höchste Zeit, Perspektiven aufzuzeigen, die turfragen und Wirtschaftsthemen sträflich vernachlässigt finanziell und zeitlich realistisch hinterlegt sind. Der hat – mit verheerenden Folgen. Es macht wenig Sinn, Schienenweg zwischen Nürnberg und München wird von einer Bundesregierung, die ihren eigenen Abgesang wahrscheinlich im Jahre 2006, spätestens in 2007 für anstimmt, noch inhaltliche Schritte zu erwarten. den Verkehr freigegeben. Die Verbindung von Berlin über Leipzig nach Erfurt ist in weiten Bereichen eben- Seit Rot-Grün steht der ICE Nürnberg–Erfurt auf hal- falls in Angriff genommen, auch wenn hier noch Verbes- ber Strecke. Lassen Sie uns jetzt die Weichen richtig serungsarbeiten nötig sind. Es wird zwingend geboten stellen, die Rot-Grün falsch gestellt hat! sein, auch zwischen Nürnberg und Erfurt nun endlich Planungssicherheit herzustellen. Das gilt für die betrof- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE fenen Grundstückseigentümer genauso wie für die GRÜNEN): Gestern verkündete der verkehrspolitische DB AG, die nun wissen muss, auf welchen Schwer- Sprecher der Union, dass die CDU/CSU künftig vorran- punkttrassen sie ihren künftigen Schienenverkehr von gig in den Straßenbau investieren will. Heute fordert München nach Berlin konzentriert. Nur wenn die Fahr- seine Fraktionskollegin Renate Blank mit ihrem Antrag, zeit auf diesem bedeutenden Schienenwege annähernd in die milliardenschwere und in ihrer verkehrspolitischen der Lage ist, die Flugzeit von München nach Berlin zu Bedeutung höchst fragwürdige ICE-Neubaustrecke erreichen bzw. auch dem PKW einigermaßen Paroli zu Nürnberg–Erfurt umgehend weiterzubauen; Finanzbe- bieten, wird das politische Ziel, mehr Verkehr auf die darf mindestens 5 Milliarden Euro. Beides passt nicht Schiene zu bringen, umgesetzt werden können, insbe- zusammen, so wie auch sonst in den diversen Wahl- sondere im Schienenpersonenfernverkehr. Die Bundes- kampfaussagen der Unionspolitiker nichts zusammen- regierung bleibt also aufgefordert, ihren hehren Erklärun- passt. Der Antrag ist einfach nur Blank’scher Unsinn. gen nun endlich Fakten und Taten folgen zu lassen.

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