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Sendung vom 27.4.2010, 20.15 Uhr

Hans Eichel Bundesminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-Forum. Unser heutiger Gast ist , er war u. a. Ministerpräsident des Bundeslandes Hessen und in den Jahren von 1999 bis 2005 Bundesminister der Finanzen. Ich freue mich, dass er hier ist, ganz herzlich willkommen, Herr Eichel. Eichel: Guten Tag, Herr Reuß. Reuß: Es gab Zeiten, da hat man Sie fast täglich im Fernsehen gesehen. Vor Ihren sechs Jahren als Bundesfinanzminister waren Sie 16 Jahre lang in Oberbürgermeister und acht Jahre Ministerpräsident in Hessen gewesen. "Es gibt auch ein Leben nach der Politik", hat Ihr Vor-Vorgänger im Amt des Bundesfinanzministers, , einmal gesagt. Wie sieht denn Ihr Leben nach der Politik aus? Was macht Hans Eichel heute? Eichel: Ein Leben vollkommen ohne Politik gibt es im "Leben nach der Politik" eigentlich nicht, wenn man ein wirklich politischer Mensch ist. Ich war das übrigens schon von klein auf: Ich habe mit der Zeitung lesen gelernt und habe meine erste Wahlrede als Quintaner, also als Sechstklässler, gehalten – damals noch für Konrad Adenauer. Ich bekam dann sogar noch vor ihm in meiner Klasse die absolute Mehrheit. Das waren halt Jugendsünden, die dann aber spätestens ab der Oberstufe zu Ende waren. Nein, man bleibt einfach immer ein politischer Mensch, und wenn man nicht mehr selbst Politik macht, dann erklärt man sie. Das mache ich jetzt als Leiter des Politischen Klubs der Evangelischen Akademie in Tutzing und als Arbeitskreisleiter bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Man analysiert die Politik auch heute noch ständig und versucht dann da und dort, indem man die eigene Meinung auch einmal schriftlich fixiert und publiziert, doch noch ein bisschen Einfluss zu nehmen auf das Denken der Menschen. Reuß: Ist manchmal auch ein Stück Erleichterung dabei, nicht mehr im Amt sein zu müssen, wenn Sie sich die heutigen Probleme so ansehen, wie sie z. B. der jetzige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat? Ist man da manchmal auch froh, von dieser Last befreit zu sein? Eichel: Nein, denn wenn man etwas mit Leidenschaft macht und wenn man sich für eine Aufgabe etwas vorgenommen hat, dann darf man nicht sagen: In guten Zeiten will ich das gerne machen, in schlechten Zeiten nicht. Wenn man so eine Einstellung hätte, dürfte man auch in guten Zeiten kein Minister sein. Solche Probleme, wie sie heute in der Tat in sehr großem Maße vorhanden sind, fordern einen ja auch heraus. Nein, befreit fühle ich mich da nicht. Reuß: "Politik ist die Kunst, Probleme zu lösen, ohne neue, größere zu schaffen", sagt der Volksmund. Und Ihr Nachfolger im Amt des hessischen Ministerpräsidenten, , meinte einmal: "Politik besteht aus Sache, Kopf und Bauch." Teilen Sie seine Einstellung? Oder was war, was ist Politik für Hans Eichel? Eichel: Politik ist zuallererst die Gestaltung der Lebensverhältnisse der Menschen. Wie gestaltet man ein Gemeinwesen? Als Sozialdemokrat sage ich da ganz dezidiert: Wie viel Freiheit, wie viel Gerechtigkeit gibt es in einem Gemeinwesen? Wie viel Solidarität? Was hält das Gemeinwesen zusammen? Ich glaube, das ist ein Thema, das uns heute wieder mehr umtreiben muss, denn die Gesellschaft driftet auseinander. Davon handelt gerade eine Tagung, die ich am Wochenende in Tutzing leite. Es geht also darum, die Verhältnisse in der Gesellschaft so zu gestalten, dass die Menschen eine Chance haben, ein glücklicheres, ein besseres Leben zu führen. Darum geht es und um nichts anderes. Reuß: Ein englischer Prediger sagte im 17. Jahrhundert einmal: "Die Politik ist die Kunst, dem lieben Gott so zu dienen, dass es dem bösen Teufel nicht missfällt." Ist also Politik oft ein Balanceakt? Eichel: Ja, sicher, weil man in der Politik oft zwischen zwei verschiedenen Möglichkeiten hindurch muss. Heute haben wir ja auch wieder so einen Fall: Wann beginnt man mit der dringend notwendigen Haushaltskonsolidierung? Fängt man damit zu früh an, dann würgt man dadurch möglicherweise die Konjunktur wieder ab. Fängt man zu spät an damit, hat man möglicherweise kaum eine Chance, mit der Konsolidierung voranzukommen, denn der nächste Abschwung kommt bestimmt. Ja, das sind solche Balanceakte: Da kann man sich täuschen oder man kann richtig liegen. Reuß: Man merkt bei allem, was Sie sagen, dass sie durch und durch ein Homo politicus sind. Der ehemalige Bundespräsident, Ihr Parteifreund , meinte einmal: "Mit der Politik ist das so wie mit den Erdnüssen. Man denkt, man will eine haben, dann kommt man auf den Geschmack und hört nicht mehr auf, bis die Schale leer ist." Ist das so, macht Politik auch ein ganz klein bisschen süchtig? Eichel: Nein, das ist ein Beruf wie ein anderer auch. Ich habe ja neben der Politik noch einen Traumberuf, nämlich die Architektur. Mich haben in der Tat meine Mitarbeiter bei weiten Flügen ins ferne Ausland oft dabei erwischt, dass ich da saß und ein Haus entworfen habe, wenn ich schon mal Zeit dafür hatte. Oder wenn ich am Abend ins Bett ging und von meiner Frau gefragt wurde, woran ich gerade denke, dann habe ich manchmal gesagt: "Ich baue gerade wieder einmal Häuser in meinem Kopf." Das macht also auch unbändig viel Spaß. Nein, es geht wirklich nicht um Sucht, wie ich glaube, es sei denn, es ist so wie in jedem anderen Beruf auch: Wenn man etwas gerne macht, dann denkt man selbstverständlich fast ständig daran, weil man sich überlegt: "So, was muss ich jetzt tun? Wie kann ich etwas besser machen?" Das ist also nicht anders als in anderen Berufen auch, die man gerne macht. Reuß: "Wer Politik betreibt, erstrebt Macht", schrieb Max Weber einst. Welches Verhältnis hatten Sie zu Macht? Eichel: Ich finde, das ist eine sehr abstrakte Debatte. Es geht darum, was man gestalten kann. Ich war ja fast 16 Jahre lang Oberbürgermeister: Das war die Zeit, in der ich am unmittelbarsten erleben konnte, was ich entschieden habe. Ich hatte ja soeben schon gesagt, dass ich eigentlich einen Traumberuf hatte, nämlich Architekt. Das waren bereits mein Vater und weitere fünf Generationen davor gewesen. Diese Reihe endete dann bei meinem Bruder und mir, denn wir wurden das nicht mehr. Aber es blieb ein Traumberuf und diesen Traumberuf konnte ich in der Kommunalpolitik wunderbar umsetzen. Ich habe z. B. für viele Wettbewerbe gesorgt und mir hat die Gestaltung der Stadt unglaublich viel Freude gemacht. Später war meine politische Arbeit im Hinblick auf meine Entscheidungen abstrakter; ich fand sogar, dass sie auf Landesebene abstrakter war als auf Bundesebene. Die meisten Menschen sehen das allerdings anders und sagen: "Der Bundesfinanzminister hat doch nur mit Zahlen zu tun." Aber diese Zahlen sind ja nur ein äußerlicher Ausdruck, denn in Wirklichkeit geht es bei der Finanzpolitik in ganz extremer Weise um Gesellschaftspolitik: Wem nehme ich über die Steuer Geld weg? Wem gebe ich es über die Ausgaben? Wie beeinflusse ich damit die Lebenssituation großer Gruppen und damit auch von einzelnen Menschen? Das ist in extremer Weise Gesellschaftspolitik: Schafft man Chancen? Für wen schafft man Chancen? Reuß: "Alles, was man sagt, muss wahr sein, aber nicht alles, was wahr ist, muss man sagen." Dieser schöne Satz stammt von Helmuth Graf von Moltke. Gilt das auch ein bisschen für die Politik? Wie offen, wie ehrlich kann man in der Politik sein? Es gibt ja immerhin die Fraktionsdisziplin, die Parteidisziplin: Wie offen konnten Sie in Ihren Funktionen sein? Eichel: Wenn man so ein Amt bekleidet, dann ist man natürlich auch in die Solidarität, in die Loyalität einer Gruppe eingebunden. Das ist immer so, in jeder Partei. Das heißt nicht, dass man mit allem übereinstimmen müsste. Aber wie man die eigene Nicht-Übereinstimmung äußert, das kann man auf verschiedene Arten machen. Ich habe das immer so gemacht, dass es meiner eigenen Partei nicht geschadet hat. Denn wozu wäre ich in einer Partei, wenn ich sage, ich möchte meiner Partei schaden? Auch wenn man im Kabinett sitzt, gibt es selbstverständlich eine Loyalität dem Kanzler gegenüber. Und es gibt auch eine Kabinettsdisziplin. Ich finde, der muss man auch gerecht werden. Das heißt nicht, dass man immer einer Meinung sein muss. Aber die unterschiedliche Meinung sollte man nur dort sagen, wo sie im Kabinett dann auch diskutiert werden kann, wo man auch zu gemeinsamen Ergebnissen kommen kann. Man sollte seine Meinung also nicht nach draußen posaunen, möglichst noch jeder in eine andere Richtung. Nein, das ist und wäre nicht die Aufgabe einer Regierung. Reuß: Fiel es Ihnen denn auch manchmal schwer, loyal zu sein und zu bleiben? Eichel: Nein, denn wenn einem das wirklich schwerfallen würde, dann würde irgendwann der Punkt kommen, an dem man sagen müsste: "Ich kann hier nicht mehr mitgehen!" Solche Punkte hat es natürlich auch in meinem Politikerleben gegeben. Aber als es damals z. B. um den Bundesbankpräsidenten ging und der Kanzler und ich unterschiedliche Vorstellungen hatten, habe ich gesagt, dass ich eine bestimmte Vorstellung von ihm nicht mittragen könnte. Und der Kanzler hat genau begriffen, dass das heißt: Wenn er diese Entscheidung durchsetzen möchte, dann muss er sich einen neuen Finanzminister suchen. Das wollte er aber nicht. Und damit blieb mir dieser Loyalitätskonflikt erspart. Reuß: "Ich finde es ganz schlimm, wenn ich die Frage höre: Wie verkauft sich ein Politiker? In der Demokratie sind wir dazu da, etwas für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Leute zu tun. Allein das ist unsere Aufgabe." So haben Sie das einst selbst formuliert. Aber wird man wirklich daran gemessen, was man konkret tut? Oder wird man in der heutigen Mediendemokratie nicht doch sehr häufig daran gemessen, was man sagt, wie man wirkt, wie man u. U. auf den Gegner eindrischt? Ist das nicht ein Problem in der Politik? Eichel: Dieses Problem wird von Stufe zu Stufe größer. Kassel ist eine Stadt mit 200000 Einwohnern und ich war dort nicht nur Oberbürgermeister, sondern davor auch schon fünf Jahre lang Fraktionsvorsitzender der Mehrheitsfraktion. Wenn man in der Kommunalpolitik tätig ist, hat man meiner Meinung nach noch die Chance, von den Menschen auch wirklich unmittelbar und nicht nur vermittelt durch die Medien wahrgenommen zu werden. Das geht in der Landespolitik nicht mehr – soviel man da auch im Land unterwegs sein mag, so viele Versammlungen man besuchen mag. Und auf Bundesebene geht das überhaupt nicht mehr: Da geht alles nur noch vermittelt über die Medien. Das ist in der Tat ein Problem: Wie kommt man da noch authentisch rüber? Und wenn die Medien, das habe ich selbst so erlebt, erst einmal ein bestimmtes Bild von einem haben – aus meiner Sicht waren das manchmal durchaus auch Vorurteile –, dann ergibt das eine Fläche, auf die man projiziert wird. Es ist dann nicht ganz so einfach, damit umzugehen. Wenn man sagt, dass das und das die eigene Meinung ist, weiß man ganz genau, dass die Medien trotzdem eine ganz bestimmte Auffassung projizieren von der Person, die da spricht. Ja, das ist schwierig. Das kann auch dazu führen, dass einen die Politik ein Stück weit denaturiert und die Politiker verständlicherweise nicht zuallererst daran denken, wie die Menschen über das denken, was man sagt, sondern zuallererst daran, was die Medien daraus machen und wie die darüber denken. Ich habe auch wirklich Situationen erlebt, von denen man sagen muss: Da ist die Trennlinie nicht mehr vorhanden gewesen. Da wusste man wirklich nicht mehr, wer die Politik eigentlich macht und wer der Sprecher ist. Wenn der Politiker manchmal nur noch der Sprecher ist und die Politik aus den Medien kommt, dann ist das nicht die Aufgabe der Medien. Die Medien sind Mittler: Ich finde, dass sie das neutral tun müssen, und darüber hinaus können sie auch kommentieren. Das ist die Freiheit jeder Zeitung, jedes Rundfunk- und jedes Fernsehsenders: über Kommentare die eigene Meinung zu verbreiten. Aber die Berichterstattung muss neutral sein. Das ist sie aber leider nicht immer. Reuß: Setzt das nicht sogar noch ein Stück weiter vorne an? Ist nicht die Medientauglichkeit heute sogar ein Kriterium für die Auswahl des politischen Personals? Erhard Eppler, Ihr Parteifreund und ehemals Bundesminister unter Kanzler , sagte einmal: "Man darf fragen, ob die Gaben, die heute nötig sind, Bundeskanzler zu werden, dieselben sind, die man braucht, um Bundeskanzler zu sein." Das Amt ist in dieser Aussage vermutlich austauschbar. Hat Erhard Eppler nicht ein bisschen Recht? Eichel: Ja, sicher, diese Gefahr besteht. Ich will das noch einen kleinen Schritt weiter treiben. Sie haben vorhin den Satz mit dem "verkaufen" zitiert. Ich empfinde das ja als geradezu pervers, aber ich würde ihn sogar noch auf die Medien ausweiten. Denn, und das ist wirklich wörtlich zu nehmen, welche Nachrichten verkaufen sich denn am besten? Wenn man das dann noch einen Schritt weiter treibt, dann sieht man, dass Journalisten oft danach bezahlen werden, was man von ihnen sendet oder was von ihnen gedruckt wird. Da überlegt man sich als Journalist natürlich schon: "Womit habe ich eine Chance, gesendet oder gedruckt zu werden?" Da ist man dann sehr oft recht schnell an diesem Punkt: Je reißerischer man ist, umso größer ist die Chance gedruckt zu werden, umso größer ist die Chance, dass die Auflage steigt, dass die Zuschauerquote steigt, was wiederum mehr Geld bringt. Und mit einem Mal ist man dann an dem Punkt angelangt, wo Pressefreiheit eigentlich nur mehr Gewerbefreiheit ist und die Politiker dann eben in dieser "Gewerbefreiheit" funktionieren müssen. Das ist in der Tat ein ganz schwieriges Kapitel und man muss sehr aufpassen dabei. Ich denke, hier haben die Medien genauso eine Verantwortung wie die Politiker. Die Politiker haben die Verantwortung, sich daran möglichst nicht anzupassen. Und die Medien haben die Aufgabe, strikt darauf zu achten, dass Pressefreiheit etwas anderes und vor allem mehr ist als Gewerbefreiheit, die ja alle haben. Reuß: Es gibt ja auch eine Art von Symbiose zwischen Politik und Journalismus. Sie haben einmal gesagt: "Die Sorgfalt ist mir wichtiger als das Tempo!" Es gibt diesbezüglich auch den schönen Satz von Rita Süssmuth, die einmal gesagt hat: "Früher machten die Politiker Politik und die Medien berichteten darüber. Heute machen die Medien Politik und die Politiker führen sie aus." Das mag vielleicht etwas zugespitzt sein ... Eichel: Ja, das ist zugespitzt. Reuß: ... aber ist man als Politiker nicht doch auch manchmal ein von der Berichterstattung Getriebener? Erwarten die Medien, und damit die sogenannte Öffentlichkeit, nicht sehr häufig selbst für komplexe Probleme eine schnelle, einfache Lösung? Eichel: Ich kann Ihnen dazu ein Beispiel erzählen, das ich nie vergessen werde. Richard von Weizsäcker hat doch ein Buch geschrieben, in dem dieser berühmt-berüchtigte Satz von der Machtvergessenheit und der Machtversessenheit der Politiker vorkommt. Ich bekam damals von der Presse einen Anruf, weil ich dazu Stellung nehmen sollte. Darauf habe ich meinem Referenten gesagt, er solle doch bitte mal dieses Buch besorgen. Er zog los und kam zurück mit der Meldung, dass es dieses Buch überhaupt noch nicht zu kaufen gäbe. Ich habe mir dann gedacht: Wenn ich dieses Buch noch nicht lesen kann, wenn ich also den Zusammenhang gar nicht kenne, in dem dieser Satz steht, dann kann ich darauf auch nicht antworten. Am anderen Tag schlug ich die Zeitungen auf und ungezählte Kolleginnen und Kollegen aus der Politik hatten diese Aussage dennoch bereits kommentiert – obwohl keiner von denen dieses Buch gelesen hatte. Aber das läuft einfach nach dem Motto: "Wenn du nicht sofort Stellung nimmst, dann kommst du zu spät!" Ich sagte ja, hier haben beide eine Verantwortung: Die der Politiker besteht darin, solche Ansinnen abzuweisen, und diejenige der Medien, solche Ansinnen erst gar nicht zu stellen. Reuß: "Er tanzt nicht wie Fred Astaire und singt nicht wie Caruso", meinte der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder einmal über Sie. Weiter sagte er: "Dafür glänzt Hans Eichel durch seine ungemein sachkundige, präzise und ehrliche Arbeit." Fühlen Sie sich damit richtig beschrieben? Eichel: Es hat mich gefreut, dass er das so gesagt hat. Wer hört sich nicht gerne mal gelobt? Reuß: "Die Wähler erwarten von den Gewählten alles und halten von ihnen nichts", schrieb einmal die "Die Welt". Und sagte: "Politik muss in ihrem Gestaltungsanspruch bescheidener werden." Gibt es insgesamt zu wenige politikfreie Räume? Anders gefragt: Wo sehen Sie denn die Grenzen staatlich-politischen Handelns? Eichel: Man darf nicht so tun, also ob man als Politiker z. B. die Wirtschaft so ohne Weiteres lenken könnte, als ob man als Politiker, als ob man als Staat Arbeitsplätze schaffen könnte. Aber man kann natürlich Bedingungen schaffen, unter denen es für Unternehmen leichter ist, Arbeitsplätze zu schaffen. Man kann Bedingungen schaffen, unter denen Menschen menschenwürdigere Arbeit finden. Ein typisches Thema, das wir momentan diesbezüglich zu Recht diskutieren, ist die Leiharbeit, die nicht per se falsch ist, aber die missbraucht wird, um Lohndrückerei zu betreiben. Diesen Missbrauch muss man bekämpfen. Das kann man auch, und zwar indem man bestimmte Regeln einführt und sagt: "Nach einer bestimmten Zeit der Einarbeitung bekommt jemand selbst dann, wenn er in einem Betrieb Leiharbeiter ist, dasselbe, was derjenige bekommt, der dieselbe Arbeit macht, aber kein Leiharbeiter ist." Damit ist der Anreiz für bestimmte Unternehmen, so etwas zu machen, verschwunden. Und so etwas machen ja durchaus nicht alle Unternehmen. Wir haben doch gerade den berühmten Skandal im Unternehmen "Schlecker" mitbekommen: In diesem Unternehmen wird die Leiharbeit einfach nur dazu genutzt, um die Löhne zu drücken. Dieser Anreiz wäre weg, wenn man eine solche Regel einführen würde. Oder man kann auch das Zahlenverhältnis zwischen der Belegschaft in Dauerarbeitsverhältnissen und solcher, die in Leiharbeit ist, festlegen. Denn Leiharbeit war ursprünglich wirklich nur dafür gedacht, Spitzen abzudecken. Die Unternehmen haben ja bisher mit gutem Grund immer so argumentiert: Wenn plötzlich z. B. mehrere sehr große Aufträge hereinkommen, dann muss es möglich sein, dass man eine bestimmte Anzahl von Leuten nur für eine bestimmte Zeit einstellt – weil man ja absehen kann, dass diese extreme Auftragslage nicht den Normalzustand darstellt –, sodass man sich von ihnen dann auch wieder trennen kann. Das heißt, das Ganze diente nur dazu, die Spitzen abzufangen. Aber man muss sagen, dass es dafür eigentlich auch noch ganz andere Möglichkeiten der Flexibilisierung innerhalb des Betriebs selbst gäbe. Volkswagen hat dafür mal ein sehr schönes Beispiel gegeben, andere Unternehmen ebenso. Ich glaube, an solchen Stellen zeigt sich dann, dass Politik sehr wohl etwas leisten kann. Aber sie kann nicht einfach sagen: "Ich löse euch alle Probleme!" Denn das wäre Unsinn. Reuß: Wir kommen später noch einmal auf die Politik zurück, aber ich würde hier gerne eine kleine Zäsur machen und unseren Zuschauern den Menschen Hans Eichel näher vorstellen. Sie sind an Heiligabend geboren, also sozusagen ein Christkind, und zwar am 24. Dezember 1941. Eichel: Ich habe immer gesagt, ich bin Vaters Geschenk an Mutter, bevor er in den Krieg ging bzw. wieder in den Krieg ging. Reuß: War das für Sie eher ein Vorteil oder eher ein Nachteil? Denn man denkt ja immer, dass so jemand ein armes Kind ist, das weniger Geschenke bekommt. War das so? Eichel: Nein, das haben die Leute drei Mal gesagt und von da an war das für meine Eltern völlig ausgeschlossen: Es wurde wirklich sehr genau getrennt zwischen Weihnachten und Geburtstag. Am Morgen gab es die Geburtstagsgeschenke und am Abend die Weihnachtsgeschenke. Ich bin nie zu kurz gekommen. Aufgrund der Vermutung meiner Eltern, ich könnte vielleicht zu kurz kommen, bin ich immer eher ein bisschen besser weggekommen. Das Einzige, was wirklich schade war, war die Tatsache, dass da halt beide Feiern zusammenfielen. Aber das war nun einmal so. Reuß: Ihr Vater war Diplomingenieur und Architekt. Wie sind Sie aufgewachsen, wie würden Sie Ihre Kindheit und Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern beschreiben? Eichel: Ach, das war eine sehr harmonische Zeit, aber wir Kinder wurden auch viel gefordert. Ich bin ja in der Nachkriegszeit aufgewachsen: Auch in unserer Straße waren viele Häuser zerbombt und es gab lange Zeit jede Menge Trümmerberge, in denen wir natürlich gespielt und unsere Höhlen gebaut haben. Und es gab damals selbstverständlich viel Selbstversorgung, d. h. auf dem Grundstück bei uns gab es eigenen Kartoffelanbau, Bohnen und Erbsen und Möhren usw. Diesen Garten haben mein Großvater, mein Bruder und ich bestellt. Wir hatten auch Hühner und eine Gans, eine Pute, ein Kaninchen, die wir hüten mussten. Damit bin ich also groß geworden und ich muss sagen, dass wir Kinder diese Not so gar nicht empfunden haben. Die Eltern hatten eher das Problem: Wie bringen sie ihre Familie über die Runden? Aber wir als Kinder haben das gar nicht so stark gemerkt. Reuß: Sie haben in Kassel das Wilhelmsgymnasium besucht. Wenn ich es richtig nachgelesen habe, dann hat es bereits mehrere Berühmtheiten gegeben, die dieses Gymnasium besucht haben: Peter Scholl-Latour und auch Friedrich Paulus, der spätere Oberbefehlshaber in Stalingrad, waren auf diesem Gymnasium. Sie haben Ihr 1961 gemacht: Waren Sie ein guter Schüler? Eichel: Ja, ja, sicher, das war ich schon. Meine schlechteste Note war in Sport, ich war einfach schlecht in Sport. Ich werde nie vergessen, wie damals ebenfalls in der Quinta der Direktor unserer Schule gerade mein Zeugnis unterschrieb und dann meine Mutter angerufen hat, um ihr zu sagen: "Wissen Sie, bei Ihrem Sohn ist alles prima. Aber der Sport! Im Sport ist er schlecht, wirklich schlecht. Wir müssten ihm mindestens eine Vier geben. Aber wissen Sie, das machen wir nicht. Er bekommt eine Drei. Aber wir brauchen dringend einen Cellisten fürs Orchester." Diesen Wink hat meine Mutter selbstverständlich verstanden, weswegen meine Eltern mir dann ein 7/8-Cello gekauft haben. Ich habe Unterricht genommen und bin dann ins Orchester gegangen, denn diese Schule hatte ein großes Orchester. Wir waren insgesamt 550 Schüler und hatten ein Orchester, das in Spitzenzeiten fast 100 Mann groß war – mit zehn Celli. Ich bin aber nur bis zum zweiten Pult vorgestoßen, sehr zur Enttäuschung unseres Direktors, denn er meinte, ich würde ein richtiger Cellist werden. Aber das Cello war nicht so mein Instrument, ich habe lieber Klavier gespielt. Aber die Schule hat sich wirklich an diese damalige Abmachung gehalten: Ich habe bis zum Abitur im Sport eine Drei bekommen. Und das war immer meine schlechteste Note im Zeugnis. Reuß: Sie haben es vorhin schon gesagt, dass Sie als Jugendlicher auch Wahlkampf für Konrad Adenauer gemacht haben. Was hat Sie denn damals an Adenauer fasziniert? Eichel: Ach, das war vielleicht nicht einmal so sehr Adenauer, das war einfach mein Elternhaus. Ich bin nämlich der erste Sozialdemokrat in meinem Elternhaus gewesen. Mein Vater hingegen war, wie ich immer sage, der "ewige Oppositionelle": Er war am Ende der Weimarer Republik von ihr völlig enttäuscht gewesen und erzählte mir später immer wieder, dass damals der Wahlzettel 36 Parteien aufführte und dass das deswegen alles nicht gut gehen konnte. Er hat damals dann die NSDAP gewählt. Kaum war die NSDAP dran, ist er aus dem "Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps" ausgetreten und niemals in die NSDAP eingetreten, weil er das dann alles ganz schlimm fand. In den 50er Jahren war er dann sicherlich CDU- Anhänger, meine Mutter war ebenfalls CDU- oder vielleicht noch FDP- Anhängerin. Ich glaube, mein damaliges Faible für Adenauer kam eher daher, denn mein Thema war kein bundespolitisches, sondern ein kommunalpolitisches, das wiederum mit dem Elternhaus zu tun hatte. In Kassel gab es ein großes Staatstheater, das Anfang des 20. Jahrhunderts, also noch zu Kaiser Wilhelms Zeiten, gebaut worden war. Im Zweiten Weltkrieg hat es viele Treffer abbekommen, aber es hätte wieder aufgebaut werden können. Die damalige Stadtverwaltung – das waren Sozialdemokraten – wollte es abreißen und hat es letztlich auch abgerissen. Mein Vater war stellvertretender Vorsitzender der größten Bürgerinitiative, die es je in Kassel gegeben hat und die für den Wiederaufbau das Wilhelminischen Theaters eintrat. Das war dann das Thema meiner Wahlrede unter den Sechstklässlern: Damit habe ich dann spontan die absolute Mehrheit bekommen. Reuß: Sie haben nach dem Abitur Germanistik, Politologie, Philosophie und Geschichte studiert, und zwar in und . Sie haben auf Lehramt studiert und auch beide Staatsexamina abgelegt. Und Sie waren, was ich mit Interesse gelesen habe, Gymnasiallehrer an Ihrer alten Schule, also am Wilhelmsgymnasium in Kassel. War das von Anfang an ein Ziel gewesen? Was hat Sie wieder zurückgezogen an dieses Gymnasium? Eichel: Ach, ich habe einfach an dieser Schule gehangen. Das gilt bis heute. Ich glaube, das ist auch ganz natürlich: Ich habe mich dort außerordentlich wohlgefühlt. Ich war in meiner Schulzeit zunächst Klassenbuchführer: Das war eher problematisch, weil meine Schrift zwar schön, aber kaum lesbar war – zu dieser Zeit. Später war sie nicht mehr schön und immer noch kaum lesbar. Ich war dann auch Schulsprecher in der Unterprima, also in der 12. Klasse, und ich war in der 13. Klasse Klassensprecher. Ich habe meine Schulzeit zwar nicht genossen, denn das wäre nicht der richtige Ausdruck, aber ich habe sie doch ganz intensiv erlebt. Alles in allem habe ich sie als eine sehr schöne Zeit empfunden. Natürlich hat es auch Lehrer gegeben, die wir nicht gemocht haben, aber wir Schüler waren schon auch sehr widerspenstig – was ich durchaus als Vorteil empfinde. Das war eine Schule, die eigentlich relativ streng war, aber im Gegenzug waren wir Schüler, wenn wir etwas als ungerecht empfanden, auch sehr aufsässig. Und das fand ich gut. Reuß: Lehrer haben mit Politikern gemein, dass man als Dritter schnell Zustimmung ernten kann, wenn man auf beide Berufsgruppen eindrischt und sie kritisiert. Häufig ist diese Kritik auch sehr ungerecht. Was war denn Ihr Selbstverständnis als Lehrer? Anders gefragt: Was macht einen guten Lehrer aus? Eichel: Er darf unter den Schülern keine Angst verbreiten. Aber ich denke, das gilt nicht nur bei Lehrern gegenüber Schülern, sondern das gilt auch überhaupt im Arbeitsleben: Angst zu verbreiten ist falsch. Autorität hingegen ist etwas anderes. Ich gehörte ja auch zu den 68ern und bekenne mich auch heute noch dazu. Aber damals haben so manche von uns das mit der Autorität etwas falsch verstanden. Man ist als Lehrer einfach nicht der Kamerad der Schüler, das wäre auch nicht richtig. Nein, man ist Lehrer. Und man sollte daher auch eine ganz natürliche Autorität als Lehrer haben – und nicht nur eine Kraft des Amtes. Aber man sollte nicht Angst und Schrecken verbreiten. Denn das setzt niemals kreative Fähigkeiten frei. Die Menschen sind nun einmal dann am kreativsten und produktivsten, wenn sie an etwas Spaß haben, wie man ohne Weiteres an sich selbst feststellen kann. Wenn man einen Beruf gerne macht, ist man doch ganz anders dabei, als wenn man – und diese Menschen tun mir wirklich leid – morgens zur Arbeit geht und sagt: "Um Gottes willen, eigentlich will ich das doch gar nicht!" Das müssen auch Chefs wissen und in dem Sinne ist auch ein Lehrer ein Chef: Er fördert seine Schüler am besten dadurch, wenn es ihm gelingt, die Schüler Spaß an der Sache finden zu lassen. Selbstverständlich müssen dabei aber auch Regeln eingehalten werden und deswegen muss man als Lehrer dann auch u. U. ganz deutlich sein und sehr klare Ziele stecken – und dafür sorgen, dass diese ernst genommen werden. Reuß: Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Lehrer einmal als "faule Säcke" bezeichnet. Eichel: (lacht) Reuß: Hat Sie das als ehemaliger Lehrer gekränkt? Haben Sie mal mit ihm darüber gesprochen? Eichel: Ach, wissen Sie was, die Welt ist so voller Vorurteile und die Lehrer sind eben auch Zielobjekt jeder Menge von Vorurteilen. Es gibt wohl den einen oder anderen Lehrer, der dieses Vorurteil verdient. Wenn am letzten Schultag das Auto des Lehrers bereits fix und fertig gepackt auf dem Lehrerparkplatz steht, damit er noch schnell den letzten Schultag 'rum bekommt und dann in den Urlaub abdüsen kann, dann haben wir das als Schüler auch nicht so besonders toll gefunden. Ja, das gibt es alles – so wie überall. Aber ich denke, dass wir als Gesellschaft hier einen großen Fehler machen: Es gibt doch nichts Wichtigeres, als die Erziehung unserer Kinder, und so müssten wir doch auch die Personen betrachten, die dafür verantwortlich sind, die dafür Sorge tragen. Dementsprechend müssten wir doch auch die Lehrerinnen und Lehrer auswählen. Deswegen ist dieser Spott über Lehrer nicht sehr hilfreich. Das hat nichts damit zu tun, dass ich selbst Lehrer gewesen bin, denn das liegt nun schon so weit zurück, dass ich diesbezüglich immer nur sage: "Bitte, kommt mir nicht immer mit meiner 'Jugendsünde' an!" Ich stand im Frühjahr 1975 zum letzten Mal vor einer Klasse, das ist nun 35 Jahre her! Nein, damit hat das nichts zu tun, sondern damit, dass ich davon überzeugt bin, dass Lehrer nicht nur gegenüber den Schülern diese bestimmte Form von Autorität und Ansehen brauchen, sondern auch innerhalb der Gesellschaft. Dies zu erwerben, ist zuerst einmal ihre eigene Sache. Aber es ist auch die Frage, wie die Gesellschaft das sehen möchte. Und hier haben wir durchaus nicht immer alles richtig gemacht. Das gilt für beide Seiten! Reuß: Sie sind 1964 im Alter von 23 Jahren in die SPD eingetreten. Ich glaube, das war auch das Jahr, in dem SPD-Bundesvorsitzender wurde. Sie haben sich dann auch sehr schnell konkret politisch engagiert: Sie waren später stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos, als Karsten Voigt Bundesvorsitzender war. Eichel: Ja, das war dieser berühmte radikale Bundesvorstand, der damals im Jahr 1969 auf dem Münchner Juso-Kongress gewählt worden war. Reuß: Sie sind dann ins Stadtparlament von Kassel gewählt worden und waren dort auch Fraktionsvorsitzender, und zwar bereits mit 29 Jahren. Eichel: Mit 28 Jahren! Reuß: Mit 33 Jahren wurden Sie dann zum damals jüngsten Oberbürgermeister einer Stadt in der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Eichel: Wenn man es präzise ausdrücken möchte, muss man sagen: Ich wurde zum jüngsten hauptamtlichen Oberbürgermeister gewählt, denn der Jüngste war damals Herbert Schmalstieg in Hannover, den ich damals bereits recht gut kannte. Als ich zum Oberbürgermeister gewählt wurde und alle Medien davon sprachen, ich sei der jüngste Oberbürgermeister, bekam ich von ihm einen Brief, in dem er mir seine Geburtsdaten mitteilte und sagte, er sei doch der Jüngste. Die Sache war aber die, dass er "nur" ehrenamtlicher Oberbürgermeister war, denn damals gab es in Niedersachsen noch eine andere Kommunalverfassung als heute. Er war damals eher so etwas, was wir heute in der hessischen Gemeindeordnung den Stadtverordnetenvorsteher nennen. Ich habe ihm also zurückgeschrieben: "Du hast recht. Das war wieder einmal eine dieser Vereinfachungen, die in den Medien nun einmal vorkommen. Aber ich tröste mich mit meinem Amtsgehalt." Denn er bekam als Ehrenamtlicher ja nur eine Aufwandsentschädigung, während ich als Oberbürgermeister ein richtiges Amtsgehalt hatte. Reuß: Es gibt von Hermann Schmitt-Vockenhausen, dem Verleger und SPD- Politiker, den schönen Satz: "Die Gemeinden sind der eigentliche Ort der Wahrheit, weil sie der Ort der Wirklichkeit sind." Sie haben es vorhin bereits selbst gesagt: In der Kommunalpolitik ist man am nächsten dran an den Menschen und macht Politik, die sich unmittelbar auswirkt. Ist die Kommunalpolitik auch eine gute Schule für spätere Landes- und Bundespolitiker? Was kann man von der Kommunalpolitik lernen? Eichel: Man lernt dabei vor allem eine Sache: dass man den Menschen unmittelbar gegenübertreten muss. Ansonsten finde ich den Satz von Hermann Schmitt-Vockenhausen nicht richtig: Der Ort der Wahrheit ist jeder Ort. Aber in der Kommunalpolitik – jedenfalls in einer Stadt in der Größenordnung von Kassel –, wo man fast jeden Abend in einer Versammlung sitzt, wo es jede Menge Bürgerversammlungen gibt, wo man den Menschen auf der Straße oder abends in der Kneipe direkt begegnet, hat man es eben mit den Menschen unmittelbar zu tun: Da lernt man, nicht auszuweichen. Wenn eine Demonstration vors Rathaus zog, dann konnte ich nicht sagen, ich bleibe jetzt in meinem Dienstzimmer. Nein, da bin ich dann eben hingegangen. Das ist übrigens nicht nur in der Politik ein Problem: Ganz viele, die diese Schule nicht mitgemacht haben und auf einer anderen Ebene in die Politik einsteigen, also gleich auf Landes- oder Bundesebene, drücken sich dann nämlich vor der unmittelbaren Konfrontation. Denn sie kommen damit einfach nicht richtig zurecht. Das ist aber ein Fehler. Das heißt, das muss man lernen. Deswegen glaube ich, dass die Kommunalpolitik eine gute Schule für die Politik ist, weil sie einen zwingt, Auge in Auge mit den Menschen zu diskutieren. Wenn die Gemeinde noch kleiner ist und der Bürgermeister z. B. eine Erhöhung der Kanalbenutzungsgebühren durchsetzen muss, was ja nie eine populäre Angelegenheit ist, dann muss er das Auge in Auge mit den Menschen tun, die das bezahlen. Das ist dann eben nicht wie im , dass man da "nur" die Hand heben würde, sondern das muss man dann direkt mit den Menschen ausdiskutieren, weil man z. B. abends im Wirtshaus darauf angesprochen wird. Das muss man erst einmal lernen. Das ist aber auch für alle anderen Ebenen wichtig: Man muss das können, in so einer Situation nicht auszuweichen. Das ist die Schule der Kommunalpolitik. Reuß: Mit Blick auf die Uhr springe ich jetzt ein bisschen. Ich will lediglich der Chronistenpflicht genügen und kurz sagen, dass Sie fast 16 Jahre lang Oberbürgermeister gewesen sind. Sie haben, wenn ich mich nicht täusche, auch die erste rot-grüne Koalition in einer bundesdeutschen Großstadt gebildet. Und Sie haben auch als erster Kommunalpolitiker überhaupt Ihren Magistrat, also die Stadtregierung, zur Hälfte mit Frauen besetzt. 1989 wurden Sie dann als Landesvorsitzender der SPD in Hessen Nachfolger von Hans Krollmann. Sie wurden dann auch Spitzenkandidat Ihrer Partei für die Landtagswahl 1991. Das war für einen SPD-Politiker ungewohnt, denn Sie mussten aus der Opposition heraus Wahlkampf machen, während bis dato in Hessen immer die SPD die Regierung gestellt hatte. 1987 jedoch hatte sie die Wahl verloren und von der CDU regierte von da an dieses Bundesland. Bei der Wahl 1991 haben Sie für die SPD das Wahlergebnis leicht verbessern können, während die CDU stark verloren hat, weswegen Sie dann eine rotgrüne Landesregierung bilden konnten. War das Ihre Wunschkonstellation? Das war ja nicht ganz so einfach, denn die Grünen und insbesondere hatten ja bereits in den Jahren vor 1987 in der Regierung von Holger Börner Regierungserfahrung gesammelt. Für Sie war das dann im Amt des Ministerpräsidenten jedoch etwas Neues: War das schwierig? Eichel: Ja, das war meine Wunschkonstellation. Ich mache auch keinen Hehl daraus, dass das bis heute meine Wunschkonstellation ist, wenn man mit der eigenen Partei keine absolute Mehrheit erringen kann. Ja, es war am Anfang für mich quasi als Newcomer schwierig. Joschka Fischer war eben bereits bei Holger Börner im Kabinett gewesen und mir hat dann der damalige Innenminister Herbert Günther, der ja ebenfalls schon ein alter Fahrensmann in der Landespolitik gewesen ist, sehr geholfen. Das war eine sehr loyale Zusammenarbeit. Joschka Fischer war natürlich wie immer vielfach medienwirksamer. Aber das ist seine Art, meine ist da wieder etwas anders. Wir haben jedoch, wie ich sagen muss, sehr gut zusammengearbeitet. Meine diesbezügliche Unerfahrenheit hat sich dann auch ziemlich rasch gegeben, denn man lernt in jedem Amt sehr schnell sehr viel hinzu. Nein, das war dann kein Problem mehr. Reuß: Ihre Regierung wurde dann bei der ersten Wiederwahl auch bestätigt. Die zweite Wahl, die Sie hätten bestehen müssen, fand allerdings unter ganz merkwürdigen Vorzeichen statt. 1998 war es ja auf Bundesebene zu einem Regierungswechsel gekommen: Gerhard Schröder wurde Bundeskanzler und es kam zur ersten rot-grünen Bundesregierung überhaupt. Sie hatten dann im Februar 1999 eine Landtagswahl zu bestehen. Der Start der Bundesregierung war ein bisschen holprig verlaufen, wie man wohl sagen darf. Alle Auguren hatten damals der SPD in Hessen vorausgesagt, dass sie die Wahl gewinnen wird, dass sie stark zulegen wird und dass die CDU nur ein bisschen zulegen wird. Es kam aber ganz anders, als die Wahlforscher das vorausgesagt hatten. Die SPD legte leicht zu, aber die CDU legte ihrerseits sehr stark zu und wurde stärkste Partei, während die Grünen sehr stark verloren. Daraufhin kam es dann in Hessen zu einer schwarz-gelben Koalition mit Roland Koch als neuem Ministerpräsidenten. Hatten Sie dieses Wahlergebnis erwartet? Es gab damals ja auch eine gewisse Kampagne, die das möglicherweise beschleunigt hat? Oder haben auch Sie diesen Voraussagen geglaubt? Eichel: Nein, ich habe dieses Wahlergebnis zunächst nicht erwartet. Aber die CDU hat mit ihrer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft auch Ängste mobilisiert. Ich fand das unschön, wie ich sagen muss. Es gab dann nämlich diese Unterschriftenaktion, bei der viele Leute sagten: "Kann ich hier gegen die Ausländer unterschreiben?" Das ist ein Punkt, den ich bis heute nicht akzeptiere. Denn ich finde, dass eine Partei, und insbesondere eine Volkspartei, nicht einzelne Gruppen der Gesellschaft gegeneinander hetzen darf oder es auch nur billigend in Kauf nehmen darf, dass das die Konsequenz ihrer Politik ist. Wir haben sehr wohl gesehen, dass diese Kampagne die CDU-Anhänger oder Leute, die so denken, gewaltig mobilisiert. Aber bis kurz vor Schluss haben die Wahlforscher nichts in dieser Richtung gesehen. Ich bekam erst am Donnerstag vor der Wahl nachmittags die ersten Hinweise von Wahlforschern, dass die Wahl kippen könnte. Das war nicht so ganz einfach, weil die Schlusskundgebung gerade bevorstand und ich diesen Hinweis kurz davor bekam. So etwas motiviert einen natürlich nicht unbedingt. Ich habe mich dann vor diesem Hintergrund auch am Samstag nach dem Ende aller Kampagnen mit meinen zwei engsten Mitarbeitern zusammengesetzt und gesagt: "Was machen wir, was mache ich, wenn es morgen anders ausgeht?" Reuß: Gab es an diesem Samstag dann noch einmal neue Zahlen? Eichel: Ja, es verfestigte sich in diese Richtung. Das war schon eine außergewöhnlich schwierige Situation, auf die man sich zuerst einmal einstellen musste. Das habe ich dann auch gemacht. Aber es bleibt dabei: Ich habe diese Kampagne – legal war das selbstverständlich alles, das ist klar – für eigentlich nicht wirklich legitim gehalten. Denn im Grundgesetz steht ganz am Anfang – und ich finde, das ist eigentlich der schönste Artikel, der bereits alles sagt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das steht nicht: "Die Würde des deutschen Bürgers." Nein, da ist vom Menschen überhaupt die Rede. Ich finde, das ist der Leitsatz über allem für das, was wir als Politiker tun und wie wir als Menschen unser Zusammenleben gestalten sollten. Und dem entsprach das nicht. Reuß: Es ging ja dann trotzdem überraschend schnell weiter für Sie, denn es gab ein Ereignis, das niemand erwartet hatte: wurde nach der Wahl 1998 Bundesfinanzminister, trat aber bereits im März 1998 aus bis heute nicht restlos geklärten Gründen von diesem Amt zurück. Es hatte wohl Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm, dem Bundesparteivorsitzenden der SPD, und Gerhard Schröder, dem Bundeskanzler, gegeben. Oskar Lafontaine trat aber nicht nur vom Amt des Bundesfinanzministers zurück, sondern warf alle seine politischen Ämter hin und war dann auch tagelang für niemanden mehr zu sprechen. Hat Sie dieser Schritt von Lafontaine überrascht oder hatten Sie das erwartet? Eichel: Es gibt da zwei Aspekte. Der eine Aspekt ist, dass die Hessenwahl damals nicht in Hessen verloren wurde. Das sieht man an den Antworten der Leute, als sie am Wahlsonntag aus der Wahlkabine kamen und gefragt wurden, wer denn die Wahl gewinnen wird. Drei Viertel der Leute haben gesagt, die Regierung wird im Amt bleiben und Hans Eichel bleibt Ministerpräsident. Und das, obwohl sie anders gewählt haben! Ich habe damals zu Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine gesagt: "Der Grund für die Niederlage ist nicht in Hessen zu suchen, das hat mit euch zu tun!" Reuß: Haben die beiden diese Auffassung geteilt? Eichel: Ja, das haben sie durchaus akzeptiert. Ich habe ihnen darüber hinaus gesagt, dass ich jedoch noch nicht bereit sei, in Rente zu gehen. Ich war damals 57 Jahre alt: "Ich bin dafür viel zu sehr politisch engagiert, also überlegt euch mal was!" Später habe ich dann scherzhaft immer gesagt: "Dass Oskar Lafontaine das so ernst nimmt, das habe ich nicht gedacht!" So wurde ich dann Finanzminister. Als Gerhard Schröder anrief, war ich gerade nicht in meinem Dienstzimmer in der Staatskanzlei, sondern ich war oben in der Wohnung. Die Sekretärin rief mich dort an und meinte zu mir: "Der Bundeskanzler hat angerufen, er will Sie sofort sprechen." Ich habe instinktiv gewusst, worum es ging. Warum? Weil das für Leute, die genau hingesehen haben, absehbar gewesen ist. Wir hatten ein paar Tage zuvor am Anfang der Woche eine Parteivorstands- und Parteiratssitzung gehabt. Beide, Schröder und Lafontaine, saßen dabei nebeneinander, aber die Körpersprache und auch die Reden, die beide hielten, drückten für jemanden, der ganz genau hinsah und hinhörte, ganz klar aus: Da ist eine Mauer zwischen den beiden! Keiner hat zum jeweils anderen geredet. Da war mir schon klar, dass da ein dickes Problem vorhanden ist. Ich dachte mir aber, die beiden seien Profis genug, um das anders zu lösen. Insofern war ich überrascht. Aber dass da etwas zwischen den beiden nicht mehr zusammenging, war für den sensiblen Beobachter sichtbar. Insofern hat mich das nicht überrascht. Ich habe dann auch nicht sofort zurückgerufen. Stattdessen habe ich wie immer, wenn es um grundlegende Entscheidungen ging, zuerst einmal versucht, mit meinen engsten Mitarbeitern zu sprechen und mit ihnen zu besprechen, was ich machen soll, wenn dieses und jenes auf mich zukommt. Ich erreichte meine engsten Mitarbeiter aber nicht. Da ich den Kanzler ja schlecht noch länger warten lassen konnte, habe ich dann eben zurückgerufen. Und in diesem Gespräch hat er zu mir gesagt: "Du musst sofort nach Bonn kommen! Oskar Lafontaine ist von allen Ämtern zurückgetreten, du musst jetzt das Finanzministerium übernehmen!" Ich habe mich einen Moment lang dagegen gesträubt und gemeint, dass ich ja im Übrigen in Hessen – das hing mit der Verfassung zusammen – vor Anfang April noch gar nicht weg könne. Er aber meinte, das mache nichts, ich könne offiziell auch erst Anfang April das Amt übernehmen. Gut, ich habe mich dann breitschlagen lassen, zuerst einmal nach Bonn zu fahren. Wir haben dann in Bonn eine Weile lang miteinander diskutiert und um viertel vor acht abends – das werde ich auch nie vergessen – sagte er zu mir: "Du, ich muss jetzt runter in die Pressekonferenz. Wir müssen" – und damit wären wir wieder bei den Medien – "in der 'Tagesschau' sagen, was nun passieren wird. Kann ich sagen, dass du das Finanzministerium übernimmst?" Und da habe ich ja gesagt. Reuß: Sie hatten dann am Anfang auch sehr große Erfolge: Sie haben eine Steuerreform durchgebracht – und zwar gegen eine Mehrheit im Bundesrat. Diese Leistung von Ihnen wurde damals auch sehr anerkannt. Dennoch kam es dann nach einer Zeit der Konsolidierung des Haushalts, in der es so aussah, als ob Sie es schaffen würden, den Haushalt auszugleichen, zu einer wirtschaftlichen Flaute, in der dieses Ziel in weite Ferne rückte. Es gab die Milliardenschäden durch die Jahrhundertflut; es gab die Auslandseinsätze der Bundeswehr, die dann doch teurer wurden; es wurde zusätzlich eine Familienförderung beschlossen usw. Das heißt, man kam auf Bundesebene dann doch plötzlich wieder in eine höhere Verschuldung hinein. War das etwas, das Sie eigentlich geärgert hat? Denn Sie hatten ja zunächst das Image als "Haushaltskonsolidierer", als "Sparkommissar" – und plötzlich lief das dann aber doch ein bisschen aus dem Ruder. Eichel: Nein, das ist nicht "aus dem Ruder gelaufen". Ich muss hier ausdrücklich die Kollegen im Kabinett und vor allem den Kanzler in Schutz nehmen, der da nicht quer geschossen hat. Dass er am Anfang mit sehr viel mehr Emphase hinter meinen Zielen stand als später, das ist wahr. Das Problem war ganz einfach zu beschreiben: Am Anfang ging es konjunkturell aufwärts, und nur dann, wenn es konjunkturell aufwärtsgeht, hat man eine Chance, den Haushalt zu konsolidieren. In der Aufschwungphase in den Jahren 1999 und 2000 haben wir auch tatsächlich eine Haushaltskonsolidierung gemacht. Sie war langfristig angelegt und das war auch gut so. Deswegen habe ich sogar im ersten Krisenjahr 2001 eine niedrigere Neuverschuldung gehabt als im Jahr zuvor. Aber dann brach eben die Konjunktur ein. Im Herbst 2000 war der Ölpreis steil nach oben gegangen, was die Konjunktur schwer beeinträchtigt hat. Dann platzte die berühmte Blase am Neuen Markt an den Börsen. Und schließlich kam auch noch der 11. September 2001 dazu. Durch all das fiel die Konjunktur in den Keller. Wenn die Konjunktur nach unten geht, brechen – mit etwas Zeitverzug – die Steuereinnahmen weg. Zusätzlich steigt auch noch die Arbeitslosigkeit. In der momentanen Krise ist das aufgrund kluger Entscheidungen wie z. B. durch die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes Gott sei Dank nicht so passiert. Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, muss man natürlich auch mehr Geld für den Sozialbereich in die Hand nehmen. Damit ist die Konsolidierung in dem Sinne, dass die Neuverschuldung Jahr für Jahr geringer wird, nicht mehr machbar. Diesen Zusammenhang haben viele Leute nicht verstanden und ich selbst habe vielleicht auch den Fehler gemacht, zu einseitig den Rückgang der Schulden zu betonen. Aber das geht eben nur bei einem konjunkturellen Aufschwung. Und der war da eben nicht mehr da. Ich glaube, dass wir es anschließend dann aber doch noch richtig gemacht haben, denn wir haben jedenfalls keine unsinnigen Geldausgaben gemacht, sodass wir dann später, als die Konjunktur im Jahr 2005 wieder angezogen hat, so schnell wieder aus dem Loch herausgekommen sind wie niemals vorher. Das galt dann übrigens auch für die Arbeitslosenzahlen, was eben auch mit der zu tun hatte. Was immer man von der Agenda von Schröder halten mag, und ich war ja dabei und habe das alles mitbeschlossen: Es war sicherlich nicht alles richtig kommuniziert worden, es hatte auch da und dort Fehler gegeben, es waren vielleicht auch Härten dabei, aber alles in allem war das richtig gewesen. Das sieht man auch daran: Wir sind niemals von einer hohen Arbeitslosigkeit von über fünf Millionen so schnell wieder runtergekommen auf drei Millionen. Wir sind auch nie so schnell konjunkturell wieder nach vorne gekommen. In all den Jahren vorher hatte immer gegolten: Nach jedem Konjunkturabschwung ist die Sockelarbeitslosigkeit höher als davor. Genau das war in den Jahren nach 2005 eben nicht der Fall! Deswegen glaube ich: Wir hätten das viel intensiver diskutieren müssen, wir hätten das den Leuten viel eindringlicher erklären müssen. Ja, wir hätten sicherlich auch den Kampf gegen die Steuerflucht noch härter führen können. Aber damals hatte man diesbezüglich international noch keine Chance als Regierung. Ich habe das ja versucht, aber es gab da noch so gut wie keine Möglichkeiten. Insofern haben wir es, wie ich glaube, alles in allem schon richtig gemacht. Aber der Ruf des Haushaltskonsolidierers war weg, denn die Schulden waren wieder gestiegen. Dieser kompliziertere Zusammenhang ist ja auch nur schwer zu vermitteln. Reuß: Wenn man sich die heutige Entwicklung anschaut, dann muss man sagen, dass das damals ja noch ganz kleine Beträge gewesen sind, die Sie da zu verantworten hatten. Eichel: Ja, sicher. Reuß: Wenn man auf Ihr Wirken zurückblickt, dann ist klar, dass Sie eigentlich auf allen drei Ebenen außerordentlich erfolgreich gewesen sind. Sie waren Oberbürgermeister auf der Kommunalebene, Sie waren Ministerpräsident auf der Landeseben und Sie waren Finanzminister auf der Bundesebene. Dennoch: Würden Sie heute im Rückblick etwas anders machen? Eichel: Im Detail sicher. Ich sage z. B. heute, dass ich damals der Meinung war, deswegen so sehr auf das Sparen drängen zu müssen, um überhaupt zuerst einmal die allgemeine Meinung diesbezüglich zu ändern. Aber das ist eben das Missverständnis, dem ich da quasi unterlegen war: Sparen ist nicht alles! Und auch Schuldenfreiheit wäre, selbst wenn sie je erreicht werden sollte, nicht alles. Stattdessen spart man doch, um endlich das Geld zu haben, damit man die richtigen Zwecke fördern kann. Ich sage daher heute: Auch unterlassene Investitionen können eine bittere Hypothek sein. Wenn wir nicht genügend in die Bildung unserer Kinder investieren, dann mögen wir ihnen zwar in zehn, 20 Jahren einen schuldenfreien Haushalt hinterlassen, aber sie werden trotzdem keine gute Zukunft haben. Das heißt, man muss ganz genau wissen, dass das nicht der einzige Zweck ist, dass das Sparen an sich eigentlich überhaupt nicht das eigentliche Ziel ist. Sondern das Ziel ist, der nächsten Generation den Weg so zu ebnen, dass sie selbst erneut gut entscheiden kann, dass sie selbst die Chance auf ein gutes Leben hat. Das heißt, man darf nicht heute alles verfrühstücken und dann sagen: "Die nächste Generation darf das einst bezahlen!" Wenn sie schon Schulden bezahlen muss, dann muss sie wenigstens in die Lage versetzt werden, dieses Geld auch wirklich erarbeiten zu können. Und das wiederum geht eben nur, wenn sie auch richtig gut ausgebildet ist. Auf diesem Gebiet sind wir hier in Deutschland aber längst nicht so gut, wie wir eigentlich sein müssten. Reuß: Das ist ein wunderschönes Schlusswort, zumal in einem Bildungskanal. Ganz herzlichen Dank, Herr Eichel. Ich würde gerne mit zwei kurzen Zitaten über Sie enden, das eine stammt aus der "Zeit" und lautet: "Hans Eichel weiß immer, was sich gehört. Er bezeugt auch dem Andersdenkenden Respekt." Und die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb einmal: "Hans Eichel ist ein Politiker, der sich selbst nicht in den Vordergrund drängt, sondern in stiller und steter Arbeit seinem Ziel zustrebt." Dem ist nichts hinzuzufügen. Noch einmal ganz herzlichen Dank, Herr Eichel. Verehrte Zuschauer, das war unser alpha-Forum, heute mit dem ehemaligen Bundesfinanzminister Hans Eichel. Herzlichen Dank für Ihr Interesse, fürs Zuschauen und Zuhören und auf Wiedersehen.

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