Deutschland

„Steuererhöhungen sind in der jetzigen konjunkturellen Situation „Ich erwarte bei den gesetzlichen ökonomisch unsinnig, und deshalb ziehen Krankenkassen keine wir sie auch nicht in Betracht.“ Beitragserhöhung auf breiter Front.“ Bundeskanzler Gerhard Schröder am 26. Juli 2002 Gesundheitsministerin Ulla Schmidt am 8. August 2002

WAHLKAMPF Koch und Kanzler CDU-Ministerpräsident Roland Koch will die Hessen-Wahl zur Abstimmung gegen Rot-Grün stilisieren. Der von dem skandalerprobten Hardliner erfundene Lügen-Ausschuss verunsichert die Koalition. Offenbar war Finanzminister über die düstere Kassenlage gut informiert.

ie Rede des hessischen Ministerprä- Kochs Gesicht leuchtete – sofort änder- kompromissloser als beim Duell ums Kanz- sidenten plätscherte vor sich hin. te er den Redetext: Nun gebe es endlich ei- leramt will Koch vor den Landtagswahlen DErst klagte Roland Koch über rot- nen Beleg dafür, dass die Regierung ihre in Hessen und Niedersachsen Anfang Fe- grüne Fortschrittsverhinderer, dann empör- Wähler über den Zustand des Landes be- bruar auftreten und den Fehlstart von Rot- te er sich über den „missionarisch-ideolo- trogen habe, triumphierte er. Gleich nach Grün zur nationalen Katastrophe stilisie- gischen Eifer“ der Berliner Regenten. Eher seiner Wiener Rede rief er die CDU-Vor- ren. Das heimliche Motto: Rache für den routiniert referierte der Christdemokrat am sitzende an, um sie von sei- 22. September. Das strategische Ziel: Der vorvergangenen Mittwoch auf Einladung nem Plan zu überzeugen, dass nun ein Un- Hessen-Chef will sich selbst in Pose setzen der Österreichischen Volkspartei in Wien. tersuchungsausschuss im Bundestag her und – nach der eher betulichen Stoiber- Und dann das: Ein Mitarbeiter reichte müsse, um die mutmaßlichen Lügen von Kampagne – beweisen, dass ein konserva- dem Redner eine Agenturmeldung über Rot-Grün aufzudecken und anzuprangern. tiver Wahlkampf anders geführt werden Äußerungen des früheren Grünen-Finanz- Merkel zögerte – doch Koch organisier- kann: polarisierend und ohne Scheu vor politikers Oswald Metzger ans Pult. Der te sich mächtige Verbündete. CSU-Chef der Benennung von Alternativen. hatte im ZDF eingeräumt, das Finanzloch sicherte ihm in einem Te- Denn Koch ist kein Freund der sanften im Bundeshaushalt sei vor der Wahl be- lefonat seine Unterstützung zu. Auch Frak- Ansprache. „Solange ich politische Verant- wusst verschwiegen worden: „In einem tionsvize , ein eingefleisch- wortung trage, werden die Menschen von Abwägungsprozess, wollen wir weiter re- ter Gegenspieler Merkels, erklärte sich zum mir eine klare Position bekommen“, tönt er gieren, haben sich die SPD und die Bun- Mittun bereit. Die Sache war entschieden. immer wieder. Und so kündigte er mal an, desregierung und auch der Bundesfinanz- Und so ist der Wahlkampf, der mit dem „den härtesten Strafvollzug in Deutsch- minister fürs Weiterregieren entschieden Entscheid vom 22. September eigentlich land“ zu schaffen, mal behauptete er, die Fi- und gegen die Ehrlichkeit.“ beendet war, neu eröffnet. Härter und nanzaffäre der Hessen-CDU „brutalstmög-

22 der spiegel 48/2002 „Wir weichen nicht in Schulden aus.“ „Der Herbst wird ein Konjunkturfrühling.“

Finanzminister Hans Eichel am 1. September 2002 Arbeitsminister Walter Riester am 4. September 2002

lich“ aufzuklären (verstrickte sich dabei Michael Glos. Und Koch schäumte vor al- Umfrage, die einen Erdrutschsieg für Her- aber in eigene Lügen). Oder er spielte im len Mikrofonen: „Ein Jahr halten wir das ausforderer vorhersagt: 43 Bundesrat, bei der Abstimmung über das vielleicht aus, länger nicht, dann ist unser Prozent für die CDU und nur noch 34 Pro- Zuwanderungsgesetz, lautstark Theater. Wohlstand gefährdet.“ zent für den amtierenden SPD-Minister- Mit einem Lagerwahlkampf will der Das Auftrumpfen des CDU-Hardliners, präsidenten Sigmar Gabriel. nun seinen Ruf als harter Hund wei- der seine Ambitionen neuerdings unver- Die momentane Stimmung geben derar- ter festigen und sich als Kanzlerkandidat hohlen zur Schau trägt („Ich habe den Hes- tige Umfragen wohl tatsächlich wieder. für das Jahr 2006 empfehlen. Denn anders sen nie angedroht, mein ganzes Leben Mi- Denn landauf, landab machen sich Wut, als die oft zögerliche Merkel und der um nisterpräsident sein zu wollen“), kommt Kritik und Enttäuschung breit über die Flut sein soziales Image besorgte Stoiber könn- Schröder hochgradig ungelegen. Denn die der Steuer- und Abgabenerhöhungen, die te Koch sich als Problemlöser präsentie- Stimmung hat sich in Rekordzeit gegen den vor der Wahl niemand angekündigt hat. ren, der dem Land jene harten Einschnit- Kanzler und die SPD gewendet. „Kanzler, uns reicht’s“, titelt die „Bild“- te verpassen würde, die seit längerem von Fast die Hälfte der Menschen, die bei der Zeitung. Der frühere SPD-Chef Oskar La- einer Mehrheit ohnehin erwartet werden. Bundestagswahl für Schröder votierten, fontaine, offenbar von allen politischen Ins- Unterstützt von den Merkel-Gegnern in würden die SPD derzeit nicht wählen – sie tinkten verlassen, beschwört gar Weimarer Berlin, will der Ministerpräsident aus Wies- sind laut Forsa ins Lager der Nichtwähler Verhältnisse: Schröders Wirtschaftspolitik baden von seinen eigenen Skandalen ab- abgewandert. Aus Niedersachsen erreichte gleiche der von Reichskanzler Heinrich lenken und loskämpfen gegen eine SPD, den Kanzler am Freitag das Ergebnis einer Brüning, einem unfreiwilligen Wegbereiter die sich in ihr Traditionsmilieu verkriecht, von der CDU in Auftrag gegebenen Emnid- Adolf Hitlers (siehe Kasten Seite 24). anstatt Reformsehnsüchte zu be- Weiteres Ungemach droht. dienen. „Seit Mitte der neunziger „Mein Part ist erfüllt“, verkündet Jahre“, sagt Manfred Güllner, Chef ein vom Gezerre mit den Gewerk- des Umfrage-Instituts Forsa, „gibt Vorsätzlicher Wahlbetrug? schaften enttäuschter Peter Hartz, es die klare Erkenntnis bei der Fühlen Sie sich persönlich von der den Schröder stets als Kronzeugen Mehrheit der Wahlberechtigten, Regierung belogen? für seine Reformpolitik bemüht dass es wie bisher nicht weiter- (siehe Gespräch Seite 31). geht.“ Anhänger von CDU/ B’90/ Vor allem die sozialdemokrati- Koch und Co. möchten dieser Gesamt SPD CSU Grüne FDP PDS schen Wahlkämpfer in Wiesbaden Stimmung die Parolen liefern. und Hannover sind verzweifelt. Deutschland befinde sich „finanz- Ja 62 18 84 31 75 54 Über „enormen Gegenwind“ aus politisch im freien Fall“, behauptet Berlin klagt der hessische Koch- Fraktionsvize Merz. „Noch nie Nein 35 79 14 68 23 46 Herausforderer Gerhard Bökel: hat ein Kanzler so skrupellos sei- „Der Eindruck der Ziellosigkeit NFO-Infratest-Umfrage für den SPIEGEL vom 19. bis 21. November; rund 1000 ne Versprechungen gebrochen“, Befragte; Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: weiß nicht/keine Angabe muss beendet werden.“ Solch ei-

GEORG J. LOPATA / AXENTIS.DE (L.); MARC-STEFFEN UNGER (M. L.); HANS-GÜNTHER OED (M. R.); KARL-BERND KARWASZ (R.) UNGER (M. L.); HANS-GÜNTHER OED (M. R.); KARL-BERND / AXENTIS.DE KARWASZ (L.); MARC-STEFFEN LOPATA GEORG J. dröhnt CSU-Landesgruppenchef nen schwachen Start habe er nicht

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sagt auch sein Kollege Lothar Gall, Wei- mar-Experte aus am Main. 1930, als der Zentrumspolitiker Brü- „Auf die Barrikaden“ ning Reichskanzler wurde, befand sich die erste deutsche Republik bereits in Doris Schröder-Köpf und ihrem Todeskampf. Außenpolitisch war der Weltkriegsverlierer Deutschland iso- streiten über die deutsche Geschichte. liert, auf den Straßen lieferten sich Na- tionalsozialisten und Kommunisten bluti- ie zwei wichtigsten Regeln des po- Kanzlergattin, bisher als Historikerin ge Kämpfe, die Weltwirtschaftskrise hielt litischen Überlebens in Deutsch- nicht aufgefallen, meldete sich zu Wort. das Land seit dem Schwarzen Freitag an Dland lauten: Wer mit der Flugbe- Am Dienstagmittag griff sie zum Tele- den Börsen 1929 im Würgegriff. reitschaft der Luftwaffe Freunde oder fon. Erregt diktierte sie dem befreunde- Weil er über keine Mehrheit im Reichs- Verwandte im Ausland besucht, braucht ten Journalisten Hartwig von Sass von tag verfügte, regierte Brüning mit quasi einen guten Reisegrund („dienstlicher der Deutschen Presse-Agentur in Han- diktatorischen „Notverordnungen“ des Charakter“), und vor allem: nover ihre Wut in den Block. Reichspräsidenten Paul von Hindenburg Hände weg von der jüngeren Lafontaine verhalte sich „un- am Parlament vorbei. Mit einer „Politik deutschen Vergangenheit! historisch und unsolidarisch“, der nackten Not“ wollte Brüning dem Verstöße gegen diese beiden schimpfte sie. Er solle endlich Ausland beweisen, dass Deutschland un- Gebote werden unnachsichtig aus der Partei austreten. fähig war, die Reparationen für den Ers- geahndet – mit öffentlicher Die morgendliche „Bild“- ten Weltkrieg weiter aufzubringen. Empörung und Rücktritts- oder Lektüre hatte Schröder-Köpfs Anders als heute fuhr der Staat seine Austrittsforderungen im Stun- Adrenalin-Pegel weiter nach Investitionen fast auf null zurück, Löhne dentakt. Am Montag voriger oben getrieben. Dort hatte sich und Gehälter wurden gekürzt, die Wirt- Woche war es wieder so weit. Zeitgeschichtler Baring – mei- schaft geriet in eine Abwärtsspirale. Die Der Delinquent hieß diesmal nungsstark wie immer – an den Preise sanken, aber die Bürger gaben kein Oskar Lafontaine, der schon historischen Parallelen zu Wei- Geld mehr aus. Das Land litt unter einer

vor zwei Jahrzehnten sein his- KEYSTONE mar abgearbeitet. schweren Deflation. torisches Urteilsvermögen un- Kanzler Brüning Die Symptome des wirt- Unter Brüning stieg die Arbeitslosig- ter Beweis gestellt hatte: Hel- „Nackte Not“ schaftlichen und politischen keit von rund drei auf über sechs Millio- mut Schmidt, sagte er damals, Zerfalls seien ähnlich wie vor nen, eine Quote von 30 Prozent – ganze vertrete „Sekundärtugenden“, mit denen 70 Jahren, so sein Befund, der Bundestag Städte verelendeten. Als der Kanzler 1932 „man auch ein KZ betreiben“ könne. habe abgedankt: „Unser Land braucht von Hindenburg entlassen wurde, war In der „Bild“-Zeitung verglich der vor allem Hoffnung und Mut zu einem Deutschland reif für Hitler. Die Mehrheit frühpensionierte Weltökonom aus Saar- völligen Neuanfang.“ In der „Frankfurter der Bürger hatte das Vertrauen in die un- brücken nun Gerhard Schröder mit dem Allgemeinen“ steigerte sich Baring gar geliebte Republik endgültig verloren. Weimarer „Hungerkanzler“: „Es ist so, zu einem Aufruf zum Aufstand: „Bürger, Vor diesem Hintergrund wirkt der Ver- als wäre Heinrich Brüning wieder aufer- auf die Barrikaden! Wir dürfen nicht zu- gleich von damals zu heute absurd. Hans standen, der mit seiner Sparpolitik Mas- lassen, dass alles weiter bergab geht, hilf- Mommsen, einer der besten Kenner der senarbeitslosigkeit verursachte und Hitler lose Politiker das Land verrotten lassen.“ NS-Zeit, spricht denn auch von „frag- den Weg bereitete.“ Als sie das gelesen habe, sagte Schrö- würdigen historischen Unkenrufen“. Der Bundeskanzler also ein zweiter der-Köpf, sei ihr endgültig der Kragen ge- Bleibt noch die zweite Frage: Darf eine Brüning, Berlin ein zweites Weimar? platzt: „Den Eindruck zu erwecken, dass Kanzlergattin sich derart einmischen, ob- Treibt die rot-grüne Regierung das Land Millionen von Menschen vor Suppen- wohl sie kein politisches Mandat hat? in den Abgrund? Werden bald sechs Mil- küchen Schlange stehen – das ist un- lionen Arbeitslose hungernd und frierend glaublich.“ vor öffentlichen Suppenküchen um eine Die Wallungsdemokratie zeigte sich in warme Mahlzeit anstehen? Oder grassiert Hochform. Erregt diskutierte die Repu- eine „Hysterie“ („Süddeutsche Zei- blik, welcher der beiden prominenten tung“), haben wir „nicht mehr alle Tassen Hobby-Historiker denn nun Recht hat – im Schrank“ („Tagesspiegel“)? Lafontaine oder Schröder-Köpf? Aber Die Republik hatte ihr Thema, und je- auch: Darf sich des Kanzlers Doris auf der durfte mitdiskutieren – von dem Ber- diese Weise in den politischen Streit ein- liner Historiker Arnulf Baring („Es gibt mischen, selbst wenn sie Recht hat? Parallelen“) über SPD-Generalsekretär Zumindest die erste Frage scheint in- Olaf Scholz („fürchterliche Entgleisung“) zwischen weitgehend beantwortet – zu bis hin zu Joschka Fischer („historisch Gunsten der meinungsfreudigen Dame abwegig“). Die Debatte wäre wohl ver- aus Hannover. „Der Vergleich zwischen laufen wie viele vor ihr. Phase eins: öf- heute und damals ist absurd – echter Kla- fentliche Empörung. Phase zwei: Der An- mauk“, urteilt Heinrich August Winkler, stifter soll büßen müssen. Phase drei: all- Historiker an der Berliner Humboldt-Uni- mähliches Vergessen. versität. „Das ist ein Griff in die Ge-

Doch dann brachte ein überraschen- schichte ohne ihre eigentliche Kenntnis“, AFP der Stargast erst den richtigen Drive in Widersacher Schröder-Köpf, Lafontaine* den Streit: Doris Schröder-Köpf. Die * Beim SPD-Parteitag 1998 in Leipzig. „Unhistorisch und unsolidarisch“

24 der spiegel 48/2002 Pech nur, dass der Ifo-Ge- schäftsklima-Index, dem der erste von vier stolz nach oben weisenden Pfeilen auf dem Plakat galt, eine halbe Stunde vor der PR-Aktion heftig abgestürzt war. Münte- fering ließ die irrefüh- renden Poster trotzdem kleben. Das war nur der Auf- takt eines Wahlkampfs, in dem politische State- ments und die ökonomi- sche Realität immer wei-

AKG ter auseinander drifteten: Arbeitslose in der Weimarer Republik (in Hannover, um 1930): Warme Mahlzeit aus der Suppenküche Schröder, aber auch sein Herausforderer Stoiber, Sie darf – glaubt zumindest Doris für möglich gehalten, klagt auch der nie- taten so, als sei genug Geld in der Kasse, Schröder-Köpf, die sich als erste Frau dersächsische Kabinettschef Gabriel. Der um teure Wahlgeschenke zu finanzieren – eines Kanzlers auch politisch äußert. Mainzer Ministerpräsident dabei zeigten die Pfeile längst nach unten: „Ich würde wahrscheinlich krank wer- schob im Kreis von Genossen nach: „Man Steuereinnahmen, Wachstumszahlen, Kon- den, wenn ich nicht dann, wenn ich et- wählt niemanden, der selbst nicht weiß, sumstimmung. was besonders schlimm finde, meine wohin er will.“ Wie schlecht es um die Staatsfinanzen Meinung äußern könnte“, sagte sie dem Vor allem die SPD-Bundestagsabgeord- bestellt ist, war spätestens am 25. Juli klar: SPIEGEL. „Das war in früheren Frauen- neten, die derzeit für zwei Wochen durch Da veröffentlichte das Finanzministerium Generationen vielleicht anders.“ Ihren ihre Wahlkreise touren, leiden. „Die Stim- die Steuereinnahmen für das erste Halb- Mann müsse sie vorher nicht um Er- mung ist beschissen“, berichtet etwa der jahr, über zehn Milliarden Euro Minus ge- laubnis fragen. Erfurter Abgeordnete Carsten Schneider. genüber dem Vorjahr – doch Eichel mahn- Der nimmt es zur Kenntnis, wenn Es sei „fürchterlich“, stöhnt seine Düssel- te zur Ruhe: Man solle die Ausfälle nicht die Journalistin seines Vertrauens wie- dorfer Kollegin Karin Kortmann. „zu hoch bewerten“. der einmal selbstbewusst Entlastungs- Da wirkte es eher matt, dass der Kanz- Nur SPD-Ministerpräsidentin Heide Si- angriffe startet: zum Beispiel Anfang ler den geplanten Lügen-Ausschuss seiner monis aus Kiel muckte auf: Steuererhö- des Jahres gegen die Nachrichtenagen- Gegner als „Klamauk“ abtat. Richtig ist hungen dürften nunmehr „nicht grundsätz- tur ddp, die über die angeblich gefärb- zwar: In früheren Zeiten beschäftigten sich lich tabu sein“, sagte sie acht Wochen vor ten Haare ihres Mannes berichtet hat- parlamentarische Untersuchungsausschüs- der Wahl. Ein starkes Wort zur falschen te; oder gegen Late-Night-Talker Ha- se mit handfesten Skandalen: vom Fall Zeit, befand der Kanzler. So etwas sei rald Schmidt, der sich zu ausführlich Neue Heimat über den Plutonium-Schmug- „ökonomisch unsinnig“, verkündete er per mit dem Umzug der Kanzlerfamilie in gel bis hin zu illegalen Parteispenden. Fernsehinterview. Ende der Debatte. ein Reihenhaus beschäftigt hatte. Aber genauso richtig ist: Die Fragen, die Im Bundesfinanzministerium hatten die Die Genossen in der Berliner SPD- der Ausschuss „Vorsätzlicher Wahlbetrug“ Beamten längst ausgerechnet, was die ver- Zentrale nehmen die Doris-Attacken beantworten soll, stellen sich viele in heerenden Steuerzahlen bedeuteten: neue ergeben zur Kenntnis – und unter- Deutschland, auch wenn es für die Beant- Schulden nämlich. Ende Juli hatte Eichel drücken ihr Grummeln. Wer will schon wortung keiner monatelangen Untersu- zwei Milliarden Euro mehr gepumpt, als gern gegen die Frau des Parteivorsit- chung bedürfte. Was wusste die Regierung der Plan für das gesamte Jahr 2002 vorsah. zenden Position beziehen? Doch dieses von den gigantischen Steuerausfällen? Wie „Spätestens zu diesem Zeitpunkt“, sagt Mal, finden etliche, habe sie einen Feh- konnten Kanzler und Finanzminister noch Experte Metzger, „muss dem Bundes- ler gemacht. Ohne ihre Intervention im September behaupten, der Schulden- wäre Lafontaines Brüning-Vergleich abbau ginge wie geplant weiter? Wurde die wohl schnell vergessen worden. miserable Lage verschwiegen, um die Endstation Bundesrat? Doch Schröder-Köpf lässt sich nicht Wahlkampfdramaturgie nicht zu stören? Geplante Maßnahmen der Regierung und beirren. Am Freitag legte sie im Nach- Koch und Merz wollen den Beweis ihre Chancen in der Länderkammer richtenkanal N24 noch einmal nach. Sie führen, dass die Mitglieder der Regierung habe Angst, dass die Kritik an ihrem sich „systematisch verabredet haben, die Pauschale Steuer auf Mann zu handfesten Auseinanderset- Wähler zu täuschen“, dass es also eine Art Aktien- und Immobiliengewinne zungen führen könnte: „Meine Sorge Verschwörung gab, mit Absprachen, Ge- Höhere Besteuerung ist, dass die verbale Hetze irgendwann heimtreffen und Papieren. von Dienstwagen in körperliche Angriffe mündet.“ Zumindest Indizien liegen vor, dass die Für Gegenspieler Lafontaine, den rot-grüne Regierung schon im Sommer Geringere Abschreibungen sie am Montag telefonisch nicht errei- über die wahre Situation der Staatsfinan- auf Immobilien chen konnte, weil sie die falsche Num- zen und der Sozialkassen informiert war – Aufhebung des mer gehabt habe, empfindet die Kanz- und trotzdem schwieg. Bankgeheimnisses lergattin inzwischen fast nur noch Mit- „Der Aufschwung kommt. Alles zeigt leid: „Ich glaube, er ist einsam. Isoliert nach oben“, verkündeten Finanzminis- Höhere Umsatzsteuer z.B. für Zahn- ist er auf jeden Fall – innerhalb der ter Hans Eichel und der damalige SPD-Ge- prothesen, Düngemittel, Blumen SPD.“ Roland Nelles neralsekretär Franz Müntefering noch im Höhere Besteuerung von Frühjahr, als sie das entsprechende Wahl- Konzerngewinnen kampfplakat der SPD veröffentlichten.

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finanzminister klar gewesen sein, dass er satz gefettet hervorgehoben: Die Ver- einen Nachtragshaushalt braucht.“ schlechterung habe „keinen negativen Ba- Hochrangige Fachleute im Finanzminis- siseffekt“ für das laufende Jahr: „Aller- terium, auch das gehört zur Wahrheit dazu, dings bestehen die bekannten Risiken für befassen sich ohnehin den ganzen Tag mit das Defizit 2002 unverändert fort.“ Die wa- Planabweichungen im Steueraufkommen ren dem Minister schließlich gerade erst und den Folgen für das Staatsbudget. An- dargelegt worden. „Die bekannten Risi- fang August, noch vor der Flut, erkannten ken“, das ist die Chiffre für die bereits im sie, dass das Maastricht-Kriterium nicht Non-Paper skizzierten Steuerausfälle in zu halten sein würde, also jene Grenze, Milliardenhöhe und für die Mehrausgaben die als höchste zulässige Marge für die bei der Arbeitslosigkeit, die den Schul- Staatsverschuldung im Stabilitätspakt der denstand nach oben drücken. EU enthalten ist, durchbrochen wird. Die Das Finanzministerium mag die Existenz Fachbeamten teilten dem Minister ihre Be- der Papiere weder bestätigen noch de- fürchtungen mit – Stoff, für den sich mentieren. „Es gab aus dem Ministerium der Untersuchungsausschuss interessieren völlig widersprüchliche Signale“, erklärt dürfte. eine Sprecherin. „Der Minister kann sich Da es sich um eine delikate Angelegen- nur auf Grund verlässlicher Daten äußern heit handelte, bekam das Schriftstück, an- – und die waren erst mit der Abrechnung ders als üblich, kein Aktenzeichen. In dem der Steuereinnahmen für September ge- „Non-Paper“ erklärten die Beamten, dass geben.“ Kanzler Schröder, Widersacher Koch*: Härter das deutsche Staatsdefizit in diesem Jahr Je näher die Wahl rückte, desto weniger auf bis zu 3,5 Prozent steigen könnte. In war die Regierung bereit, einen Offenba- Seine Leute lieferten dafür Anfang kleinster Runde folgten mündliche Erläu- rungseid öffentlich zu leisten – schon gar September absurde Begründungen. We- terungen. Mit dabei: Finanzminister Eichel. nicht gegenüber Brüssel. So hätte Eichel gen der Flutkatastrophe mangele es an Diese Unterredung wurde nicht proto- am 30. August eigentlich eine aktualisier- Personal, behauptete der Ministeriums- kolliert. Dennoch findet sich in den Ak- te Prognose für die Entwicklung des Defi- sprecher. Die zuständigen Beamten, die tenschränken des Ministeriums eine Spur zits an die EU-Kommission schicken müs- wie gewohnt an der Wilhelmstraße in Ber- des Vorgangs. sen. Seine Beamten hatten ihm zwei glei- lin ihren Dienst versahen, mussten sich In einem Vermerk vom 22. August, mit chermaßen schöngerechnete Varianten zur von ihren hämischen Kollegen fragen las- dem Eichel und seine Staatssekretäre über Auswahl vorgelegt: 2,6 Prozent oder 2,9 sen, was sie denn in Berlin trieben – sie sei- das nach oben korrigierte Defizit für das Prozent. Doch Eichel entschied, vorerst Jahr 2001 unterrichtet wurden, ist ein Ab- gar keine Zahl zu melden. * Am 8. November im Bundesrat. „Wir werden in diesem Jahr die Höchst- eindeutige Daten, die solche Sparpläne grenze von drei Prozent schrammen. Im rechtfertigen würden. Von geplanten schlechten Fall liegen wir sogar darüber.“ drastischen Einschnitten kann daher Die SPD grollte, der Finanzminister keine Rede sein. ebenfalls. Dennoch wiederholte Metzger Sieben Tage nach der Wahl räumte die in seiner Abschiedsrede im Bundestag sei- SPD dann ein: Ja, es sei für 2002 ein Nach- ne delikate Prognose – um zugleich die tragshaushalt nicht auszuschließen. Ja, im kostspieligen Wahlversprechen der Union nächsten Jahr fehlt ein zweistelliger Mil- zu geißeln: „Wenn wir das tun, was Sie liardenbetrag. Und wieder zwei Wochen wollen, dann liegen wir bei einer Defizit- später gestand der Finanzminister ein: quote von fünf Prozent.“ Maastricht ist passé. Zu dieser Zeit hatten im Finanzministe- Erst in dieser Woche will Eichel die ganze rium längst die Vorbereitungen für die Wahrheit verkünden: In den Unterlagen für Koalitionsverhandlungen begonnen – und den Finanzplanungsrat von Bund und Län- dafür brauchte Eichel vor allem Klarheit dern wird das Defizit für 2002 mit 3,75 Pro- über die wahre Finanzlage. Jeden Dienstag zent angegeben, das für 2003 mit 2,75. tagte das Kollegium, die Runde der Staats- Verdrängen und abwiegeln: Nach die- sekretäre mit Eichel. Am Dienstag, dem sem Motto verfuhr aber auch Eichels ehe- 17. September, wurde in diesem Gremium, maliger Kabinettskollege Walter Riester. In

MARC DARCHINGER DARCHINGER MARC wie Beamte berichten, auch über eine der staatlichen Renten- und Arbeitslosen- und kompromissloser „Giftliste“ von Haushaltsstaatssekretär versicherung war die Schieflage ebenfalls Manfred Overhaus debattiert. Overhaus vor der Wahl absehbar. Riester wies kon- en doch zum Sandsackschleppen abge- habe vorgerechnet, dass Einsparungen in krete Warnungen stets als „Panikmache“ ordnet. Milliardenhöhe nötig seien, um das sich oder „Miesmacherei“ zurück. Nur einer aus der Koalition zeigte vor abzeichnende Etatloch zu schließen. Dabei meldete der Vorstand der Nürn- der Wahl Sinn für die Wahrheit: der Grü- Eine SPIEGEL-Meldung, die am Freitag berger Bundesanstalt für Arbeit bereits An- ne Oswald Metzger, der nichts mehr zu vor der Bundestagswahl über Overhaus’ fang August, dass die Behörde im laufen- verlieren hatte, da er von seiner Parteiba- Giftliste berichtete, wurde offiziell zurück- den Jahr ein gigantisches Defizit habe. sis nicht für einen aussichtsreichen Listen- gewiesen. Begründung damals: Während die Einnahmen in den ersten sie- platz nominiert worden war. In einem In- Sowohl der laufende Etat 2002, als auch ben Monaten um knapp 0,5 Prozent terview, das einen Tag vor der Haushalts- der Entwurf 2003 sind solide gerechnet: schrumpften, legten die Ausgaben um fast debatte im Bundestag in der „Süddeut- Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es 5 Prozent zu, wie der interne Finanzent- schen Zeitung“ erschien, räumte er ein: weder einen begründeten Anlass, noch wicklungsbericht der Behörde ausweist, Deutschland der auch an die zuständigen Die Union macht sich der- Beamten des Arbeitsminis- weil Gedanken, wen sie alles teriums ging. in den Zeugenstand berufen Doch als Anstaltschef Flo- wird: Minister, Staatsse- rian Gerster öffentlich ein kretäre und Fachbeamte ste- Defizit von rund 3,5 Milliar- hen auf der stetig wachsen- den Euro prognostizierte, den Liste, der Abgeordnete wies Riester solche Aussagen Peter Altmaier soll die Un- als „sachlich falsch und un- tersuchung leiten. zulässig“ zurück. Heute ist Doch auch die Regierung klar: Das tatsächliche Minus sammelt Beweise – und will wird bei mindestens fünf Mil- darlegen, dass die Union ih- liarden Euro liegen. rerseits über das wahre Aus- Nicht viel anders schum- maß der Misere informiert melte der Minister bei der war. „Jeder hat die Zahlen Rentenversicherung. Noch im gekannt“, behauptet Eichel Frühjahr hatte Riester ver- heute und verweist auf die sichert, es bleibe bei einem veröffentlichten Datensamm- Beitragssatz von 19,1 Prozent. lungen seines Ministeriums. Dabei taxierte Finanzminis- Auch innerhalb der Union ter Eichel den notwendigen gibt es erste Stimmen, die Rentenbeitrag in seinem Etat hamburger morgenpost nicht zu Kochs Krawallkurs bereits auf 19,3 Prozent. passen wollen: „Die Länder Selbst das werde nicht reichen, versuchten Ob es sinnvoll ist, die Mogeleien der kannten die Situation sehr wohl“, räumte die Chefs der Rententräger Riester wenige Regierenden in einem Untersuchungs- beispielsweise Bremens Finanzsenator Wochen später in mehreren Gesprächen klar ausschuss auszubreiten, wird selbst von Hartmut Perschau (CDU) ein. zu machen. Denn die Reserve in der Ren- Kanzler Schröder sonst wenig zugeneig- Der grüne Ex-Haushälter Metzger ist tenkasse war deutlich unter die gesetzlich ten Wirtschaftsvertretern bezweifelt. Ihn deswegen überzeugt, dass die Strategie der erlaubte Mindestmarke von 80 Prozent einer habe der Vorschlag, so BDI-Hauptge- Union im Untersuchungsausschuss nicht Monatsausgabe geschrumpft. Eine deutliche schäftsführer Ludolf von Wartenberg, aufgehen wird. „Das Ganze“, prophezeit Anhebung der Beiträge war damit unver- überrascht: „Ich dachte, die CDU/CSU er, „wird für Koch ein echter Rohrkrepie- meidlich geworden, warnte Franz Ruland, blickt nach vorn, anstatt nach hinten zu rer.“ Horand Knaup, Ralf Neukirch, Chef des Verbands der Rentenversicherer. schauen.“ Christian Reiermann, Ulrich Schäfer