Deutschland

Wahlverlierer Schröder (am vergangenen Montag): Eine offizielle Große Koalition will im Moment niemand

KOALITION Aufbruch in die Blockade? Nach den fulminanten Wahlsiegen der CDU hält die Verunsicherung an: Welche Reformen bringt Gerhard Schröder in seinem eigenen Lager durch, wie weit hilft ihm die Union? Stürzt die Wirtschaft nach einem Irak-Krieg weiter ab, soll ein Notprogramm anlaufen.

er Kanzler hat einen Plan – sein Es ist höchste Zeit. In der vorigen Wo- ten ökonomischen Krisen der Nachkriegs- Name ist „Plan B“. Seit Monaten che kamen gleich zwei dramatische Ereig- zeit. Allenfalls ein Prozent Wachstum wird Dwird er in aller Stille vorbereitet, in nisse zusammen. Die SPD musste eine der in diesem Jahr erwartet, viel zu wenig enger Abstimmung mit den anderen schlimmsten Wahlniederlagen ihrer Ge- für neue Beschäftigung. Ein langer Krieg großen Industrienationen der G7. Kom- schichte verdauen. In Niedersachsen ver- im Irak könnte die Weltwirtschaft kip- mende Woche wollen die Finanzminister lor die Partei 14,5 Prozentpunkte, es war pen und in Deutschland die Zahl der Ar- auf ihrem Treffen in Paris noch einmal da- das Ende der Regierung von Ministerprä- beitslosen auf fünf Millionen hochschnellen rüber beraten. sident . In Hessen holte der lassen. Stürzt ein Krieg im Irak die Welt in eine Christdemokrat die absolute Ausgerechnet in dieser Phase steht die Wirtschaftskrise, werden die G7 ihre auf Mehrheit, während die Genossen 10,3 Pro- Republik vor einer politischen Blockade. Sparsamkeit ausgerichtete Finanzpolitik zentpunkte einbüßten. Seit den Schlägen von Hessen und Nie- beenden. Der Staat will kräftig investie- Drei Tage später meldete die Bundesan- dersachsen kann Schröder nicht mehr ohne ren, damit sich die Konjunktur belebt. stalt für Arbeit, dass im Januar 4,6 Millio- die Union regieren. Die Union hat im Bun- Auch der oberste Haushälter der Bundes- nen Menschen ohne Job dastanden – ein desrat nach dem Sieg von Christian Wulff republik, Hans Eichel, soll die Schleusen Anstieg um 400000 gegenüber dem Vor- in Hannover eine sichere Mehrheit, zu öffnen. monat. groß, um ein Land herauszukaufen. Der Mit Plan B will Schröder zeigen: Wir Spätestens jetzt müsste allen klar sein, Berliner Regierungschef muss nun den sind handlungsfähig, wir lassen das Land wie prekär die Lage ist. Wenn nichts pas- Schulterschluss mit dem politischen Geg- nicht in den Abgrund taumeln. siert, gleitet das Land in eine der schwers- ner suchen.

22 der spiegel 7/2003 Bundesrat Knappe Mehrheit für die Regierung Satte Mehrheit für die Opposition REGIERUNG OPPOSITION SPD- UNIONS- GEFÜHRTE GEFÜHRTE 306 297 Vermittlungsausschuss LÄNDER 21 41 LÄNDER 603 Pattsituation 69 * Mandate REGIERUNG OPPOSITION 7 Stimmen **jeweils 16 *Große Koalitionen mit SPD-Ministerpräsidenten Vertreter aus 16 16 Hat er noch die Kraft dazu? Ist die Uni- Bundesrat und – für den Kanzler fast eine Frage des poli- Bundestag on willens, sich vom Kanzler umarmen zu 32 tischen Überlebens. lassen? Das sind die großen Fragen, die Mitglieder** Und nun steht er vor einer harten Wo- sich nun stellen – existenzielle Fragen für che. Richtungsstreit? Lagerkampf? Welches Deutschland. Tempo ist das angemessene? Schon haben In der vorigen Woche fieberte das Re- Wichtige Gesetzesvorhaben, sich Linke und Rechte, Reformer und Tra- gierungsviertel, Gerüchte, Sondierungen, denen der Bundesrat zustimmen ditionsgenossen in ihren Stellungen fest Gespräche. Gibt es eine Große Koalition? muss. Kann dieser sich nicht eingegraben. Gibt Schröder auf? Und das alles vor dem einigen, wird der Vermittlungsaus- Für eine „gerechte Lastenverteilung“ Hintergrund einer drohenden militärischen schuss angerufen. und gegen den Glauben, Sozialstaatsrefor- Intervention am Golf. So viel Politik war Gesundheitsreform men führten das Land aus der wirtschaft- selten. Zuwanderungsgesetz lichen Rezession, wirbt ein neues Strate- Schröder braucht jetzt , Reform der Bundesanstalt für Arbeit giepapier der Linken. „Bei einem noch aber Angela Merkel braucht Schröder schnelleren Prozess kommen unsere An- nicht, im Moment jedenfalls nicht. Das ist Steuervergünstigungsabbaugesetz hänger nicht mehr mit“, mahnt auch die die Konstellation, in der in den nächsten Zusammenlegung von Arbeitslosen- stellvertretende Parteivorsitzende Heide- Wochen Entscheidungen gefällt werden. und Sozialhilfe marie Wieczorek-Zeul. Der Kanzler will die Vorsitzende der Andere sind mutiger, energischer. „Har- Union zu einem Spitzengespräch treffen, te Schnitte“ fordert etwa die schleswig-hol- aber sie sieht dafür keine Notwendigkeit. rung ja, aber zu viel dann doch nicht. Er steinische Ministerpräsidentin Heide Si- Er will mit ihr die Reformgesetze vorab hat womöglich weniger ein Reformprojekt monis. Der Thüringer SPD-Landesvorsit-

MARC-STEFFEN UNGER MARC-STEFFEN besprechen – sie wartet auf die Entwürfe im Blick als seine eigene Reputation. zende glaubt an eine der Bundesregierung, um sie dann im par- Was er jetzt tut, muss sowohl die Linken „klare Mehrheit für Reformen“. lamentarischen Prozess zu verändern. Es in der SPD-Fraktion an den Rand des Er- Aufs Tempo drängt desgleichen der sieht nicht so aus, als käme es bald zum träglichen führen als auch die Neoliberalen nordrhein-westfälische Landesvorsitzende großen Aufbruch. in der Union und die Ökoliberalen bei den Harald Schartau; die Eichel-Kommission Denn trotz der neuen Lage bleibt Schrö- Grünen. Er muss versuchen, den Punkt zu zur Gemeindefinanzierung müsse schnel- der der Alte. Auch jetzt hat er keine allzu finden, an dem alle drei Seiten unter ler vorankommen. Für Kleinbetriebe und klare Linie für seine Politik: Modernisie- großem Gemurre gerade noch zustimmen Existenzgründer will der ehemalige Ge- werkschafter das Arbeitsrecht und die Ar- beitsschutz-Vorschriften gründlich ent- rümpeln: „Wir müssen Risikobereitschaft belohnen und ernsthaft fragen, was für die- se Betriebe hinderlich und was relevant ist – ohne die Arbeitnehmer gleich in Angst und Schrecken zu versetzen.“ Und Schröder? Sein Programm, sowohl die Linken als auch die Rechten bei der Stange zu halten, steht in den Grundzügen fest. Mitarbeiter des Kanzlers schreiben derzeit einen „Masterplan“. Größere Um- wälzungen bleiben dabei allerdings aus. Eine grundsätzliche Reform des Ge- sundheitswesens wird es nicht geben – der Kanzler setzt auf Einsparungen, die das System um 25 Milliarden Euro entlasten sollen (siehe Seite 24). Neue Jobs sollen durch eine weitere Li- beralisierung des Arbeitsmarkts entstehen. Die Bürokratie wird reduziert, damit Fir- mengründer leichter und schneller zum Zuge kommen. Plan B wird umgesetzt, sobald die G7 die Weltwirtschaftskrise ausrufen. Die Bun- desregierung, in deren Etatplanung jetzt

UTA RADEMACHER UTA schon Löcher in Milliardenhöhe klaffen, Wahlsieger Koch, Merkel, Wulff: Wer regiert die CDU? will sich in der Not nicht verweigern. Im

der spiegel 7/2003 23 Reformerin Schmidt, Regierungsberater Rürup: Steilvorlage von der Opposition

kenkassen um bis zu sieben Milliarden Euro entlasten. Schon lange liebäugelt Schmidt im Ein- „Koalition der Vernunft“ klang mit den meisten Experten mit der Idee, die maroden Kassenfinanzen auf Kos- Gesundheitsministerin ten des Fiskus zu entlasten, war damit aber sucht nach Gemeinsamkeiten mit der Union. stets an Finanzminister Hans Eichel ge- scheitert. Nun darf sie hoffen, den Wider- inter den verschlossenen Türen des nach offizieller Regierungsversion in drei stand des Kassenwarts mit Hilfe der Union Bonner Abgeordnetenhauses ging Monaten zeigen. Bis dahin soll die von ihr brechen zu können. Die hatte vergangene Hes zu wie bei einer Gartenparty. eingesetzte Expertenkommission unter Woche gefordert, zahlreiche Kassenleis- Der Minister schleppte Salat und Kartof- Leitung des Darmstädter Ökonomen Bert tungen mit einer höheren Tabak- und Al- feln heran. Sein Gegenspieler von der Op- Rürup ihre Ergebnisse vorlegen. koholsteuer zu finanzieren. position ignorierte die Brandschutzbe- Doch was immer die Experten raten – Zudem arbeiten Schmidts Beamte an Plä- stimmungen, warf einen Grill an und wen- intern zeichnet sich längst ab, worüber nen, nach denen sich die Bürger gegen et- dete Holzfällersteaks. Schmidt mit der Opposition verhandeln liche Gesundheitsrisiken künftig privat ver- Es gab etwas zu feiern. Nach tagelangen wird, um sich die Zustimmung der unions- sichern sollen. Eine Steilvorlage lieferte ver- Verhandlungen hatten sich der damalige Ge- regierten Länder im Bundesrat zu sichern. gangene Woche die Union. Sie schlug vor, sundheitsminister von der Es geht um die Frage, was die gesetzli- die Bürger sollten für ihre Zahnarzt-Rech- CSU und SPD-Sozialexperte Rudolf Dreß- che Krankenversicherung künftig noch be- nungen künftig komplett selbst aufkommen. ler auf ein Spargesetz für das Gesundheits- zahlt und was nicht. Schmidt wäre bereit, Auch wenn Schmidt diese Idee zu weit wesen geeinigt – in einer „großen Koalition ein ganzes Bündel von Leistungen aus dem geht: Ihr Ministerium rechnet bereits durch, der Vernunft“, wie Seehofer jubelte. Katalog der Krankenkassen zu streichen – was es die Bürger kosten würde, eine Das war im Herbst 1992, und geht es wenn diese künftig von Steuerzahlern und private Pflichtversicherung für Brücken, nach dem Willen von Bundeskanzler Ger- Patienten übernommen werden. Jacketkronen und Zahnspangen abzu- hard Schröder, ist ein solches Bündnis bald Von versicherungsfremden Aufgaben schließen. wieder gefragt. Nach dem Wahldebakel der blieben AOK, Barmer und Co. demnach Festgehalten hat Schmidt an ihrer Idee, Genossen in Hessen und Niedersachsen künftig verschont. Nach Ansicht des Mi- Unfälle beim Sport, im Straßenverkehr beauftragte er seine Sozialministerin Ulla nisteriums könnte für Anti-Baby-Pillen, oder zu Hause künftig als Privatsache zu Schmidt, sich mit der Opposition auf ein Abtreibungen, künstliche Befruchtungen behandeln – auch wenn sie sich öffentlich gemeinsames Konzept zur Sanierung der und andere familienpolitische Leistungen derzeit bedeckt hält. Nach einem Plan des Krankenkassen zu einigen. Es gelte, so künftig der Staat aufkommen. Auch wenn Ministeriums soll sich künftig jeder Bür- Schröder, jedwede „Kooperationsbereit- Mütter mit ihrem Nachwuchs zur Kur ger gegen solche Freizeitrisiken selbst ver- schaft“ des politischen Gegners „offensiv fahren oder eine Haushaltshilfe benöti- sichern, zu einem angepeilten Einheitsbei- anzunehmen“. gen, würde die Kosten der Steuerzahler trag von etwa 20 Euro im Monat. Mit welchen Vorstellungen die Ministe- übernehmen. Nach Berechnungen von Unterm Strich, so kalkulieren Schmidts rin in die Verhandlungen geht, wird sich Schmidts Beamten könnte dies die Kran- Experten, könnten die Kassen am Ende

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Auftrag des Kanzlers arbeiten die Beamten Sigmar Gabriel, vor kurzem noch Jung- im Finanzressort bereits an einem Ret- star in Niedersachsen, spielt dagegen kei- der Verhandlungen mit der Opposition tungspaket. ne Rolle mehr. Er hat einen Wahlkampf schlagartig um bis zu 25 Milliarden Eu- Einig ist man sich, dass die letzte Stufe gegen den Berliner Regierungschef geführt ro entlastet werden. Dabei veranschlagen der Steuerreform, die eigentlich für 2005 – eine offenbar ziemlich unverzeihliche sie den Spareffekt des bereits in der ver- geplant war, nicht schon auf den Anfang Sünde. gangenen Woche vorgestellten Reform- des nächsten Jahres vorgezogen werden ist die Kraft, auf die pakets für Ärzte, Apotheker und Kran- soll. Bürger und Unternehmen würden so Schröder am meisten setzt. Zwar war er kenkassen auf maximal zehn Milliarden um rund 20 Milliarden Euro entlastet – nicht so glücklich darüber, dass der Wirt- Euro. Die Ausgrenzung von Kassenleis- doch die Wirkung ist Schröder zu unsicher, schaftsminister den Kündigungsschutz tungen könne etwa 15 Milliarden Euro da ein Teil des Geldes auf die Sparkonten lockern will, aber insgesamt gefällt ihm einbringen. wandern könnte. Stattdessen sollen mit fri- dessen Reformpolitik. Der durchschnittliche Kassenbeitrag schen Krediten finanzierte staatliche Aus- Das gilt auch für die Kollegin vom würde von derzeit 14,3 Prozent des Brut- gabenprogramme die lahme Wirtschaft in Sektor Gesundheit, Ulla Schmidt, obwohl tolohns auf etwa 12 Prozent sinken – zum Fahrt bringen. die im Gegensatz zu Clement nur vor- Vorteil von Wachstum und Beschäftigung. Ein solches Projekt hätte gleich zwei sichtig erneuern möchte. Schmidt bedient Weil die Unternehmen geringere Lohn- politische Vorteile: Es befriedigt die sozial- das sozialdemokratische Herz, Clement nebenkosten tragen müssen, könnten neue demokratische Sehnsucht nach dem für- den wirtschaftsliberalen Verstand – eine Arbeitsplätze entstehen. sorglich eingreifenden Staat, zum anderen dem Kanzler augenscheinlich willkom- Dies käme auch den Vorstellungen der erspart es dem regierenden Bündnis das mene Arbeitsteilung. Die angeblich neue Union entgegen. Deren Verhandlungsfüh- kleinliche Gefeilsche mit der Opposition Politik läuft aber wohl eher auf das alte rer Seehofer hatte in der vergangenen Woche noch einmal gefordert, den Arbeit- geberbeitrag zur Krankenversicherung ein- zufrieren. Chancenlos ist hingegen das Lieblings- modell von Schmidts Kommissionschef

MARCO-URBAN.DE Rürup, der fordert, einen einheitlichen Pauschalbeitrag für alle Versicherten ein- zuführen. Kanzler Schröder, Finanzminis- ter Eichel und SPD-Fraktionschef Franz Müntefering stehen dem Konzept skeptisch gegenüber. Gering- und Durchschnittsver- diener, so die Begründung, würden über Gebühr belastet. Besonders deutlich hatte vor einigen Wo- chen bereits Fraktionsvize seiner Ministerin klar gemacht, was er von dem Vorschlag ihres Chefberaters hält. Das sei doch, so Stiegler bündig, bloß „Profes- sorengeschwätz“. Alexander Neubacher, Michael Sauga BERND WÜSTNECK / DPA BERND WÜSTNECK Mögliche Leistungsstreichungen Demonstration gegen Gesundheitspolitik (in Rostock): Altes Lavieren der gesetzlichen Krankenkassen in Millionen Euro um Steuerparagrafen im Vermittlungsaus- Lavieren zwischen diesen beiden Polen Ausgaben 2001: schuss. hinaus. Zahnersatz 3700 Über die Milliarden, die sich Eichel bei Als Nächstes will Schröder – am Mon- den Banken zusammenpumpt, könnte der tagabend dieser Woche – die SPD-Frak- Kieferorthopädie 1122 Bund zudem frei verfügen. Geplant ist, ein tion auf sich einschwören. Er ist nicht gern Sterbegeld 770 kommunales Investitionsprogramm aufzu- bei den Parlamentariern, deren Widerstand Empfängnisverhütung, 159 legen und die Initiative für mehr Ganz- oder oftmals nur grummelnde Zustimmung Schwangerschaftsabbruch, tagsschulen zu forcieren. er spürt. Sterilisation Nebenbei würde die Drei-Prozent-Ober- Doch jetzt braucht er sie. Das haben die grenze für das Staatsdefizit elegant ausge- Abgeordneten Angela Merkel zu verdan- Mütterkuren 400 (Vorsorge und Reha) hebelt. Wer wollte dann dem Retter der ken, die den Kanzler geradezu in die Frak- Konjunktur vorwerfen, dass er schon wie- tion hineintreibt, indem sie sich nicht auf Mutterschaftsgeld 592 der die Latte reißt? Kungelrunden mit ihm einlässt. Sie will Krankengeld bei 107 Um seine Ziele durchsetzen zu können, genüsslich zusehen, wie sich Schröder im Erkrankungen von Kindern sortiert der Kanzler derzeit sein Personal. Kampf mit der eigenen Belegschaft auf- Entbindungsgeld 16 Wer kann ihm helfen? Wer nicht? reibt. Erst über konkrete Gesetzesentwür- Zunächst hat er Hans Eichel darauf ein- fe, so die CDU-Chefin, werde man ver- Haushaltshilfe für Mütter 63 geschworen, nicht mehr so auf dem Geld handeln. Herausnahme von zu sitzen wie früher. Der oberste Kassen- Der Anführer der SPD-Fraktion im Bun- Freizeitunfällen 8000 wart soll die Schleusen öffnen, um Plan B destag, Franz Müntefering, kann mit allzu finanzieren zu können – und Eichel scheint forschen Reformen freilich nichts anfan- gesamt 14,9 Mrd. ¤ klug genug zu sein, sich nicht zu wehren. gen. „Der Fortschritt muss Sache der SPD Er möchte schließlich noch eine Weile im bleiben“, sagt er, „aber der Prozess muss Amt bleiben. das richtige Tempo haben. Man darf die

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taine hieß: „Da war die Poli- aus verzichten – sofern er sich mit der tik der Bundespartei in sich Union einigt. stimmiger und gradliniger.“ Dass die Union mitredet, kann er nicht Mit solchen Sätzen im verhindern. Eine offizielle Große Koalition Rücken kommen die Parla- will im Moment niemand. Man wird es mentarier dann zurück nach zunächst mit Absprachen versuchen. , um dort ähnlich zu re- Bevor die Union regieren kann, muss den. Ludwig Stiegler, der als aber erst geklärt werden, wer die Union stellvertretender Fraktions- regiert. Schröder will einen starken Ver- chef die Themen Wirtschaft handlungspartner. Könnte das Angela und Arbeit betreut, polterte Merkel sein, die Partei- und Fraktions- am vergangenen Montag im chefin? Roland Koch, der Ministerpräsi- geschäftsführenden Fraktions- dent von Hessen? Oder doch noch Ed- vorstand gegen die „Neo- mund Stoiber, der CSU-Vorsitzende und liberalen“ in den eigenen Regent von Bayern? Reihen. Zugleich warnte er Stoiber findet, die beiden Parteiführer vor der „stillen Großen Koa- seien zuständig: „Es ist eine ideale Kon-

MICHAEL URBAN / DDP MICHAEL URBAN lition“, die jetzt den Sozial- stellation – mit Frau Merkel als CDU-Vor- Reformpartner Merz, Clement: Vorwurf der Kungelei staat abschaffen wolle. Mün- sitzender im Bundestag und mir als CSU- tefering sagte nichts. Chef im Bundesrat erreichen wir eine enge Fahne nicht zu weit vor der Truppe her- Kann es da verwundern, dass Schrö- inhaltliche Verzahnung unserer Arbeit.“ tragen.“ der und Clement solche Traditionsduse- Das gefällt Koch nicht, der sich nach sei- Und in der Tat: Wenn die Bundestags- lei lästig ist? Andererseits brauchen sie nem Wahlsieg als nächster Kanzlerkandi- abgeordneten am Wochenende von Berlin den zusehends verknöchernden Partei- dat der Union sieht. Fraktionsvize Fried- in ihre Wahlkreise kommen, müssen sie freund: Müntefering ist der Einzige, der rich Merz musste sich eifersüchtiger Vor- sich vor allem bei den Kollegen aus der die SPD-Linke integrieren kann. Seit würfe erwehren, er würde mit Wolfgang Gewerkschaft der Frage stellen, was sie für Lafontaines Abgang wächst er sogar mehr Clement kungeln. Vielen Konservativen sie getan hätten. Sollen sie sagen, dass sie und mehr in die Rolle des heimlichen war übel aufgestoßen, wie ausdauernd den Kündigungsschutz aufgelockert, den Vorsitzenden – als Mann für die Seele Merz den Superminister lobte. Flächentarifvertrag abgeschafft oder mehr der SPD. Vergangenen Donnerstag kamen die Eigenbeteiligung im Gesundheitssystem „Was heißt denn Reformen?“, polterte er CDU/CSU-Anführer in der hessischen eingeführt haben? am vergangenen Montag im Präsidium. Landesvertretung in Berlin zusammen. Sie An der Basis hören sie Sätze wie jenen, Der Begriff sei bei der Mehrheit der Leu- redeten sechs Stunden lang und suchten den in der vergangenen Woche zum Bei- te, die Angst vor Sozialabbau und Jobver- einen Weg, wie sie mit Schröder umgehen spiel der Bezirksvorsitzende von Hessen- lust hätten, „negativ besetzt“. sollen. Man tat sich schwer. Der Reform- Nord, Manfred Schaub, in Richtung Haupt- Schröder muss Müntefering fürchten, kurs ist in der Union genauso umstritten stadt formulierte: „Wenn die Partei das Ideal könnte zugleich aber auf den einen oder wie in der SPD. der sozialen Gerechtigkeit aufgibt, fühlen anderen Abweichler in der Fraktion durch- Die Atmosphäre war erst friedlich, wur- sich die Leute nicht mehr vertreten.“ Sein de dann aber eisig. Es sei ein „absolutes südhessischer Kollege Gernot Grumbach Unding“, fuhr der CSU-Vorsitzende Stoi- erinnerte sich unterdessen wehmütig an Zei- Niederschmetternd ber seinen Stellvertreter Horst Seehofer ten, als der Vorsitzende noch Oskar Lafon- Korrektur der Wachstums- an, „dass ein Papier der Gesundheitspoli- prognosen 2003 Wirtschafts- forschungs- Regierung institute* Januar 2003 +300 Eine Plage kehrt zurück +333000 Frühjahr 2002 2,5% 2,4% Monatliche Veränderung der Arbeitslosen- ZUNAHME zahl in Deutschland gegenüber Vorjahr Sommer 2002 2,5% 2,2% +200 in Tausend Herbst 2002 1,5% 1,4% Arbeitslose im Anfang 2003 1,0% 1,0% Jahresdurchschnitt +100 *Mittelwert

4,3 Mio. 4,1 Mio. 3,9 Mio. 3,9 Mio. 4,1 Mio. 0

–100 ABNAHME –200

–300 1998 1999 2000 2001 2002

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tiker an die Öffentlichkeit lanciert wird. Das ist nicht abgestimmt gewesen“. Die Union dürfe sich nicht auf einen „Einzel- vorschlagwettbewerb“ einlassen. Prinzip Hoffnung Unsicherheit herrscht, wie lange sich eine Ablehnungsfront aufrechterhalten Finanzminister Eichel glaubt fest daran, dass die Unions-Länder lässt. „Schröder muss in drei bis vier Wo- seine Streichliste im Bundesrat nicht scheitern lassen. chen Konzepte vorlegen“, drängt Stoiber. Wie schwierig solche Vorgaben zu er- inanzminister Hans Eichel übt sich füllen sind, musste der CSU-Chef selbst in Zweckoptimismus. Die Unions- erfahren. Seine Idee, SPD- und Unions- FLänder, so verbreitet er Zuver- länder sollten gemeinsam nach Einspar- sicht, würden seinem „Steuervergünsti- möglichkeiten suchen, wurde in den eige- gungsabbaugesetz“ schon zustimmen, nen Reihen missverstanden. „Wir wollen denn: „Die brauchen das Geld auch.“ uns nicht von Bayern vorschreiben lassen, In seinem Heimatland Hessen zum wie gespart werden soll“, zürnte ein Minis- Beispiel habe Finanzminister Karlheinz terpräsident. Weimar (CDU) 140 Millionen Euro Ein- „Wir müssen an zwei, drei Punkten kon- nahmen aus diesem Gesetz in seinen kret werden“, forderte Merz am Donners- Haushalt für 2003 eingebucht, obwohl tag. Nur so könne die Union dem Vorwurf sämtliche Granden der Union, von der Blockade entgehen. Aber Einig- CDU-Chefin Angela Merkel bis Roland keit herrscht bei CDU/CSU nur über Koch es im Bundesrat scheitern lassen Grundsätzliches – mehr Eigenverantwor- wollen. In Eichels Augen ein glatter Be- tung im Gesundheitssystem, Deregulierung weis dafür, dass die Kritik der Unions- am Arbeitsmarkt, keine Steuererhöhun-

Länder nur Wahltaktik war. DARCHINGER MARC gen. Sobald es konkret wird, gibt es Streit. Vor allem aber ist Eichel selbst darauf Finanzminister Eichel Das zeigt sich vor allem bei den The- angewiesen, dass die Länder mitspielen. „Die brauchen das Geld auch“ men Kündigungsschutz und Tarifautono- Bis zum 21. Mai muss er, dazu haben mie. Nach heftigen Debatten hatten die ihn EU-Kommission und Finanzminis- Einigkeit besteht nur in einem von Wirtschafts- und Sozialpolitiker der Frak- terrat verpflichtet, ein Konsolidierungs- mehr als 40 Punkten. Rot-grüne Koali- tion unter Führung von Merz vor zwei programm vorlegen, weil Deutschland tion wie Union wollen Unternehmen Wochen einen Entwurf erarbeitet. Kern- das Defizitkriterium von drei Prozent wieder kräftiger zur Kasse bitten, weil punkte: Das Vetorecht der Tarifparteien überschritten hat. die Einnahmen aus der Körperschaft- bei betrieblichen Vereinbarungen wird ab- Die Maßnahme ist Bestandteil des steuer komplett einbrachen. Dennoch geschafft. Neu angestellte Arbeitnehmer förmlichen Strafverfahrens, wie es für bleibt eine Lücke bei Bund und Län- sollen wählen können zwischen Kündi- Etatsünder nach dem so genannten dern von jeweils 1,5 Milliarden Euro. gungsschutz und einer gesetzlich festge- Maastricht-Vertrag fällig wird. „Davon Zwar kündigte Bayerns Ministerprä- legten Abfindung. kommen wir nicht runter“, sagt ein Ei- sident (CSU) ein Uni- Nach massivem Protest unter anderem chel-Mitarbeiter. Zumal sich Währungs- ons-Sparpaket an, doch in den eigenen von Seehofer entschärfte Merz die Vor- kommissar Pedro Solbes und Eichels Reihen stößt der Plan auf Vorbehalte. schläge teilweise. Ein Papier, das für die Ministerkollegen auch nicht mit bloßen Stoiber habe sich nur wieder in Erinne- Klausursitzung des Fraktionsvorstands am Absichtserklärungen oder Willensbe- rung bringen wollen. Die CDU-Minis- vergangenen Sonntag ausgearbeitet wer- kundungen zufrieden geben werden. terpräsidenten signalisierten den Uni- den sollte, wurde schon im Rohtext zurück- „Die Maßnahmen müssen bis dahin be- onsspitzen, ihre Länder würden dieses gezogen. „Seehofer erkauft sich die Zu- schlossen und wirksam sein.“ Jahr auch ohne die Einnahmen aus Ei- stimmung der Sozialausschüsse zu seiner Eichel und seine Leute hoffen, dass chels Streichliste überstehen. Gesundheitspolitik damit, dass er bei den sich die Opposition dieser Verantwor- Die Finanzministerialen setzen auf betrieblichen Bündnissen für Arbeit ein- tung nicht entziehen kann. „Wenn wir das Prinzip Hoffnung, obwohl sie nur knickt“, giftete CDU-Präsidiumsmitglied das nicht zu Stande bekommen, wäre zu genau wissen, dass am Ende doch Hildegard Müller. das eine peinliche Blamage für Deutsch- allein der Bund gegenüber Brüssel im Unbeeindruckt legte der Chef der Sozial- land und seine politische Klasse“, heißt Obligo steht. Wenn die Opposition das ausschüsse Hermann-Josef Arentz nach. es in Eichels Umgebung. „StVergAbG“, so die amtliche Abkür- Sein „Positionspapier für mehr Arbeit und zung, scheitern lässt, muss Eichel das Gerechtigkeit“, das er an alle Teilnehmer Geld allein auftreiben – durch neue der Klausur verschickte, ist eine Kampf- Haushaltsplanung 2003 Sparmaßnahmen oder durch zusätz- ansage an die Modernisierer um Merz. Ein Ausgaben des liche Einnahmen, die der Bund allein Vetorecht der Tarifparteien, heißt es da, Bundeshaushalts 247,9 Mrd. ¤ beschließen darf, zum Beispiel die Mi- sei „unverzichtbar“. Abgelehnt wird auch (Entwurf) neralölsteuer. der Vorschlag, „generell für alle Arbeit- Für das größte Loch in Eichels Streich- nehmer den Kündigungsschutz durch Ab- geplante Netto- konzept hat sein Chef persönlich gesorgt. findungsregelungen zu ersetzen“. Das von neuverschuldung 18,9 Mrd. ¤ Kanzler Gerhard Schröder stellte in Aus- der Fraktion geforderte Einfrieren der Ar- sicht, dass die Steuer auf die Nutzung beitgeberbeiträge zur Krankenversiche- Deckungslücke von Dienstwagen nun doch nicht um 50 rung? Im Ergebnis „absolut unerwünscht“, durch Wegfall des 1,5 Mrd. ¤ Prozent erhöht wird. Die Folge: Dem so Arentz. Steuerpakets Fiskus werden dann in diesem Jahr Viel Arbeit kommt da auf Angela Mer- schon 450 Millionen Euro fehlen. kel zu. Sie muss nicht nur ihre Fraktion zusammenhalten, sondern sich auch ih- rer innerparteilichen Konkurrenz erweh-

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„Schlechtwetterfonds“ zu installieren. Dazu sollen wiederum nur Länder mit Der Segen der Regel niedrigem Schuldenstand berechtigt sein. In schlechten Zeiten, wenn sich das Eine Gruppe europäischer Ökonomen will den Stabilitätspakt Defizit der Obergrenze nähert, dürfen die Regierungen dieser Länder auf den reformieren. Politiker sollen weniger zu sagen haben. Pufferfonds zurückgreifen, um die Fol- gen der Konjunkturschwäche, wegbre- ür Hans-Werner Sinn, den Chef des erlaubte Defizit. Ein Land wie Deutsch- chende Steuereinnahmen und höhere Münchner Ifo-Instituts für Wirt- land mit einem Schuldenstand von rund Kosten für die Arbeitslosigkeit, ab- Fschaftsforschung gilt eine eherne 62 Prozent vom BIP dürfte danach im- zufedern. Gespeist werden sollen die Erkenntnis: Schlimmer als keine Regeln mer noch ein Defizit von höchsten 3 Pro- Schattenetats, die sich in einigen US- sind solche Regeln, an die sich niemand zent einfahren, ganz so wie heute. Bundesstaaten und kanadischen Pro- mehr hält. Der Niederlande, die mit einem Schul- vinzen schon bewährt haben, aus über- Genau das aber geschieht derzeit mit denstand von der Hälfte des BIP we- planmäßigen Einnahmen oder sogar dem so genannten Stabilitäts- und sentlich günstiger dasteht, wären 3,5 Pro- durch Kredite. Wachstumspakt, beobachtet Beide Vorschläge würden der Wirtschaftsprofessor vol- nach den Vorstellungen der ler Sorge. Das Vertragswerk Sinn-Truppe dafür sorgen, soll die Teilnehmerländer an dass die Regierungen in bes- der Europäischen Währungs- seren Zeiten mehr sparen union zu sparsamer Haus- und den Schuldenberg ent- haltsführung verpflichten, da- schlossener als bisher abtra- mit der Euro nicht gefährdet gen, damit sie in schlechten wird. Zeiten einen größeren Spiel- Tatsächlich wird es aber raum haben. immer mehr unterlaufen. Vor Unzufrieden sind die Wis- allem Politiker aus den bei- senschaftler zudem mit der den größten Volkswirtschaf- Art und Weise, wie politische ten des Eurolands, Deutsch- Kungeleien in Brüssel die land und Frankreich, geben Wirksamkeit des Pakts ein- sich alle Mühe, den Pakt und schränken. So konnte die seine berühmte Obergrenze Bundesregierung nur durch für das Staatsdefizit von politischen Druck erreichen, höchstens drei Prozent des Wirtschaftsforscher Sinn: Defizit abhängig vom Schuldenberg dass Deutschland 2002 kei- Bruttoinlandsprodukts (BIP) nen blauen Brief aus Brüssel auszuhebeln. bekam. „In der gegenwärtigen Si- Einige von Eichels Kolle- tuation die Vorschriften zu gen im Finanzministerrat ga- lockern würde die Glaub- ben nur allzu gern nach. würdigkeit aller finanzpoliti- Schließlich könnten auch sie schen Beschränkungen auf irgendwann einmal auf das EU-Ebene untergraben“, war- Entgegenkommen Deutsch- nen Sinn und acht seiner lands angewiesen sein. „Die Kollegen aus ganz Europa, Wurzel des Problems besteht die sich vor einem Jahr zur darin, dass die Überwachung European Economic Advi- der finanziellen Lage in den sory Group, einer Art eu- einzelnen Ländern von ge- ropäischem Sachverständi- nau jenen Politikern vorge- genrat, zusammengeschlos- nommen wird, die für die Zu- sen haben, in ihrem jüngs- stände verantwortlich sind“, ten, noch unveröffentlichten kritisieren die Forscher.

Gutachten. (U.) / MODUSPHOTO.COM MONASSE M. WEBER (O.); WOLFGANG Als Ausweg empfehlen Die Forschertruppe hat ein EU-Kommissar Solbes: Der Pakt wird unterlaufen Sinn und Co. eine „Entpoli- Modell entwickelt, wie der tisierung“ des Verfahrens. Stabilitätspakt reformiert und damit ge- zent erlaubt. Finnland mit rund 42 Pro- Die Bewertung der Finanzpolitik soll rettet werden könnte. Mit ihrem Vor- zent Staatsschulden dürfte neue Kredi- allein Sache der EU-Kommission, also schlag will sie das häufig als zu strikt und te in Höhe von 4 Prozent des BIP auf- von Währungskommissar Pedro Solbes, starr kritisierte Vertragswerk flexibler nehmen. Für nahezu schuldenfreie Län- sein, assistiert von unabhängigen Exper- machen. „So könnte es Ländern mit ei- der wie Luxemburg läge die Grenze bei ten. Auch die Entscheidung darüber, ob nem geringen Schuldenstand erlaubt 5 Prozent. Sanktionen fällig werden, würden sie werden, ein Defizit von mehr als drei Als Alternative schlagen die Wissen- gern dem politischen Einfluss entziehen. Prozent zu machen“, schreiben sie. schaftler vor, die Drei-Prozent-Grenze Am besten, so die Forscher, sollten dafür Dabei soll die Maxime gelten: Je nied- für alle Länder beizubehalten, neben die Richter am Europäischen Gerichtshof riger der Schuldenberg, desto höher das dem regulären Staatshaushalt aber einen zuständig sein. Christian Reiermann

32 der spiegel 7/2003 Pflicht.“ Man könnte es auch so nennen: Machterhalt durch Anpassung. Damit sind die Rebellen von einst er- pressbar wie selten zuvor. Die Fraktions- chefin im Bundestag, , hört nun häufig von der Basis die Befürchtung, „die Grünen könnten jetzt untergebuttert werden“. Unsinn, beruhigt sie ihre Partei- freunde: „Wir sitzen immer mit am Tisch. Ohne uns geht nichts.“ Schöne Worte. Soll- ten sich nun Schröder und Merkel an einen Tisch setzen, wären die beiden unter sich. Deshalb könnte nun mancher Grüne versucht sein, die schwarz-grüne Karte ins Spiel zu bringen. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie in der Biopolitik sind die beiden Parteien einander oft näher als jeweils zur SPD. Zwar wird dieser mögliche Trumpf zunächst nicht offen vorgezeigt, er soll aber in der Hinterhand bleiben, falls sich die Sozialdemokraten zu dreist über die Grünen hinwegsetzen.

MICHAEL SCHWARTZ Mit Schwierigkeiten rechnen sie insbe- Unternehmerdemonstration (in Hamburg): „Hohes Konfliktpotenzial“ sondere auf ihren klassischen Aktionsfel- dern. In der Energiepolitik, bei Umwelt- ren. Alles, was sie und Roland Koch jetzt Gegen den Hessen spricht sein konser- und Naturschutz und vor allem in der In- sagen und tun, dient nur zu einem Teil der vatives und wenig sympathisches Image. nen- und Gesellschaftspolitik könnten Modernisierung der Deutschland AG. Es Stolz präsentierte CDU-Generalsekretär die Sozialdemokraten der Union entge- geht zugleich immer um die Frage, wer der am Dienstag im Konrad- genkommen, um wirtschafts- und sozial- nächste Kanzlerkandidat der Union wird. Adenauer-Haus in kleiner Runde die neu- politische Kompromisse zu erreichen. Dem Die Landtagswahlen haben Merkel und este Umfrage, nach der 49 Prozent der Zuwanderungsgesetz wird in seiner ur- Koch gleichermaßen gestärkt. Stoiber da- Deutschen Merkel für die bessere Kandi- sprünglichen Form kaum noch eine Chance gegen ist erst einmal ausgeschieden, glau- datin halten – und nur 27 Prozent Koch gegeben. ben manche und könnten sich irren. den Vorzug geben. Sogar im di- Es sind Kleinigkeiten, die zeigen, wie rekten Vergleich mit dem Amts- sehr die Parteivorsitzende an Selbstbe- inhaber liegt die CDU-Vorsit- wusstsein gewonnen hat: Ob er das bitte zende zurzeit vorn. 47 Prozent abstellen könne, herrschte sie ihren Erz- der von Infratest dimap Befrag- feind am vergangenen ten votierten für eine Regie- Montag im Präsidium an, als der während rungschefin Merkel, nur 37 Pro- ihrer Rede demonstrativ die „Bild“-Zei- zent stimmten für Schröder. tung hochhielt. Doch wenn sich die wirt- Merkels entscheidender Vorteil gegen- schaftliche Lage Deutschlands über dem Rivalen Koch: Als CDU-Chefin nicht verbessert, könnte die muss sie ihren Anspruch auf die Kanzler- Stimmung zu Kochs Gunsten kandidatur nicht begründen. Wenn Koch umschlagen. Dann wäre, ge- keinen Anlass findet, sie bei der Neu- nau wie bei der Entscheidung wahl der Parteispitze Ende 2004 abzulö- für Stoiber Anfang 2002, die sen, so ihre Überlegung, kann er ihr den ökonomische Kompetenz aus- Führungsanspruch nicht streitig machen. schlaggebend. Ihr Machtwille hat allerdings eine Kehr- Weil derzeit alle Blicke auf

seite: Ausgeprägte inhaltliche Überzeu- die Volksparteien gerichtet sind, / VISUM DENIZ SAYLAN gungen sagt ihr niemand nach. „Figaro scheint fast vergessen, dass in Ausländer in Deutschland*: Altes Gesetz ohne Chance hier, Figaro dort“, mokierte sich Branden- Berlin eigentlich eine Koalition burgs CDU-Chef Jörg Schönbohm. Mer- regiert, Rot-Grün. Zwar geben sich die Ein Nachteil wird nun sein, dass die Grü- kel kann einen Vortrag vor den Sozialaus- Grünen nach außen gelassen. Aber intern nen in der Innenpolitik keine starke Per- schüssen halten und eine halbe Stunde spä- herrscht durchaus Sorge, zermahlen zu sönlichkeit vorzeigen können, die es mit ter bei der Mittelstandsvereinigung zum werden, sollten sich die beiden Volkspar- dem Schwergewicht aufnehmen gleichen Thema referieren – und beiden teien nun fest umarmen. könnte. Das bisschen Macht verteilt sich den Eindruck vermitteln, sie sei auf ihrer Käme es formal zu einer Großen Koali- auf je zwei Fraktions- und Parteichefs, und Seite. Insofern fände der Kanzler in ihr tion, würden die Grünen völlig an den wahre Macht hätte ohnehin nur Joschka Fi- eine kongeniale Verhandlungspartnerin. Rand gedrängt. So sind sie derzeit vor allem scher, aber der kümmert sich um die inner- Peinlich achtet Rivale Koch darauf, dass damit beschäftigt, einen Kurs zu finden, der deutschen Angelegenheiten kaum noch. er seine Ambitionen in Sachen Kanzler- die gereizte SPD nicht vergrätzt. Das Interesse des Außenministers gilt kandidatur nicht verrät. Aber: „Dass die- „Wir müssen uns mütterlich um die Ge- derzeit fast ausschließlich dem drohenden se Frage im Raum schwirrt, ist auch ein nossen kümmern“, sagt ein führender Krieg im Irak. Hier kämpft er für eine Stück Anerkennung“, freut er sich. „Die Funktionär der Grünen. So verständigte friedliche Lösung, durchaus im eigenen In- Leute finden den Gedanken nicht uninter- sich der Parteirat vergangenen Montag auf essant.“ die Leitlinie: „Ruhe ist die erste Grünen- * Türkische Kinder in Stuttgart.

der spiegel 7/2003 33 allem von Bundestag und Bundesrat. Der Politikwissenschaftler und Verfassungs- rechtler Wilhelm Hennis sieht in dieser Machtkonstellation den „konstruktiven Kardinalfehler“ des Grundgesetzes. Nicht der Föderalismus sei schuld an den Blocka- den der Republik, erläutert Hennis, son- dern die „Übernahme des Bismarckschen ‚Exekutivföderalismus‘ in ein parlamentari- sches Regierungssystem“. Wie zur Zeit des Eisernen Kanzlers sind nicht Parlamente im Bundesrat vertreten, sondern Regierungen. Gewinner sind Hennis zufolge die Bun- desparteien, „die eigentlichen Profiteure“ aber die Ministerpräsidenten: „Heute sind sie die wahren ,Bundesfürsten‘ und nicht anders als ihre Vorgänger im Bismarck-

J. H. DARCHINGER J. Reich frei von jeder politischen Verant- Große Koalition in Bonn*: Stunde der außerparlamentarischen Opposition wortung – niemand kann sie für ihre ,Mit- wirkung‘ an der Bundespolitik zur Re- teresse. Wenn Deutschland bei Kriegsbe- nehmerrechten oder weit reichende Ein- chenschaft ziehen.“ ginn vollkommen isoliert wäre, würde das schnitte in den Sozialstaat diskutieren, wer- Franz Josef Strauß war der erste Lan- sein Renommee als Außenminister schwer de es „gesellschaftliche Gegenwehr geben, despolitiker, der sich traute, den Bundes- beschädigen. dass es knallt“, kündigt Sommer an. rat als Dauerbremse für seine parteipoliti- Sollte es Schröder gelingen, die eigene Im Prinzip reicht schon die Drohung von schen Ziele zu missbrauchen. Fraktion zu bändigen, die Grünen in Interessenverbänden, um Reformen zu ver- Seinen Freunden von der CSU-Landes- Schach zu halten und die Union auf seine hindern. Deutlich wurde dies jüngst, als gruppe hämmerte der bayerische Partei- Seite zu ziehen, muss er sich noch der Clement seine Fachleute um Vorschläge chef im November 1974 in Sonthofen ein, außerparlamentarischen Opposition er- für den geplanten Bürokratieabbau in der wie die Union die sozialliberale Koalition wehren, deren Stunde zu Zeiten einer Wirtschaft bat. Insgesamt 33 Maßnahmen kaputtblockieren könne: „Es (Staat, Wirt- Großen Koalition schlägt. Die neue Apo listeten ihm seine Beamten auf. schaft und Gesellschaft) muss wesentlich könnten die Gewerkschaften sein. Sie mochten ihrem Dienstherrn aber tiefer sinken, bis wir Aussicht haben, poli- Michael Sommer guckte noch ein wenig kaum einen der Vorschläge empfehlen, tisch mit unseren Vorstellungen, Warnun- ernster als sonst, als er am vergangenen sahen sie doch vielfach „hohes“ oder „sehr gen und Vorschlägen gehört zu werden.“ Donnerstag das langjährige Lieblingspro- hohes Konfliktpotenzial“. Die Hand- Um das zu erreichen, dürfe die Opposition jekt des Bundeskanzlers abmoderieren der Regierung nicht helfen. musste. Für das Bündnis für Arbeit gebe es Im Gegenteil: „Nur anklagen derzeit „keine Gesprächsgrundlage“, sag- und warnen, aber keine kon- te der DGB-Chef und schob schwere Vor- kreten Rezepte nennen.“ würfe an die Unternehmerverbände nach. „Sonthofen“ war ein Bu- Schlechte Nachrichten, auch für Sommer merang. Die „Mutter aller selbst. Allzu gern hätte der Gewerkschafts- Blockaden“ („Süddeutsche chef gemeinsam mit Wirtschaftsminister Zeitung“) wurde der Union Clement und Arbeitgeberpräsident Dieter als Brunnenvergiftung ange- Hundt eine neue Konsensrunde gestartet. lastet. Nun steht der DGB erst einmal im Abseits. Diesen Fehler wird die Plötzlich gelangen Themen auf die Ta- Union kaum wiederholen. gesordnung, die Sommer überhaupt nicht Obwohl die CDU die Wahlen gefallen. CDU-Fachmann Merz verlangt öf- am 2. Februar gewonnen hat, fentlich, den Gewerkschaftseinfluss zurück- sitzt sie nun in der Zwick-

zudrängen. In der rot-grünen Koalition, so PRESS / ACTION GRABKA THOMAS mühle. Torpedieren Mer- weiß Sommer, werde sogar schon darüber Unionspolitiker, Schröder*: Umarmen lassen? kel, Koch und Stoiber die nachgedacht, wie die Position von Ge- Reformpläne des Kanzlers, werkschaftsvertretern in den Konzern-Auf- werksordnung entrümpeln? Keine Chance, wird Schröder bald „Sonthofen“ rufen, sichtsräten geschwächt werden könne. weil mit „extremem Widerstand des Hand- und die Union stünde als Partei der Ver- Dass solche Tabus fallen, will Sommer werks“ zu rechnen sei. Die Zwangsmit- hinderer da. mit einer Doppelstrategie verhindern. Zum gliedschaft in Industrie- und Handelskam- Macht die Union brav mit, und die Re- einen sollen die Gewerkschaftsfreunde in mern aufheben? „Nicht realisierbar“ gegen formen zeigen Wirkung, dann wird Schrö- der SPD-Fraktion mobilisiert werden, um die Funktionäre der Wirtschaftsverbände. der den Ruhm des Retters einheimsen. So Projekte wie eine Reform des Kündigungs- Den Ladenschluss freigeben? Nicht mög- könnte aus seiner Niederlage ein Sieg bei schutzes schon im Ansatz zu stoppen. Zum lich wegen des zu erwartenden Vetos von der nächsten Bundestagswahl werden. anderen will der DGB-Chef in Gesprächen Gewerkschaften und Kirchen. Auch deshalb wirkt er derzeit recht ge- mit den Unionsgranden für einen möglichst So blockiert sich die Politik durch voraus- lassen. Seine Lage beschreibt der Kanzler moderaten Reformkurs bei den anstehen- eilenden Gehorsam. Dazu kommt die mit einem Satz von Hegel: „Freiheit ist die den Allparteienverhandlungen über Ge- Handlungsunfähigkeit der Institutionen, vor Einsicht in die Notwendigkeit.“ sundheit und Sozialhilfe werben. Petra Bornhöft, Horand Knaup, Und dann gibt es ja noch die Opposition * Oben: das Kabinett Kiesinger/Brandt am 5. Juli 1967 im Roland Nelles, Ralf Neukirch, Garten des Kanzleramts; unten: Merz, Stoiber, Merkel am Hartmut Palmer, Christian Reiermann, auf der Straße. Sollten Union und SPD 23. Mai 2002, als US-Präsident George W. Bush eine Rede Christoph Schult tatsächlich über Abstriche bei den Arbeit- im Bundestag hielt.

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