Plenarprotokoll 16/43

Deutscher

Stenografischer Bericht

43. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Abgeordneter und der Fraktion der nung ...... 3965 A FDP: Keine weiteren Steuererhöhun- gen Absetzung der Tagesordnungspunkte 16, 17, (Drucksachen 16/1501, 16/1654, 16/2012, 34 und 38 i ...... 3966 D 16/2028) ...... 3971 C Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 3967A Dr. (DIE LINKE) (zur Geschäftsordnung) ...... 3967 B Begrüßung des Parlamentspräsidenten der Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) Republik Indien, Herrn Chatterjee ...... 4013 A (zur Geschäftsordnung) ...... 3967 D Carl-Ludwig Thiele (FDP) Tagesordnungspunkt 3: (zur Geschäftsordnung) ...... 3968 C a) – Zweite und dritte Beratung des von (SPD) den Fraktionen der CDU/CSU und der (zur Geschäftsordnung) ...... 3969 D SPD eingebrachten Entwurfs eines (Köln) (BÜNDNIS 90/ Steueränderungsgesetzes 2007 DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) 3970 B (Drucksachen 16/1545, 16/2012, 16/2028, 16/2013) ...... 3971 B Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . 3972 A – Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 3974 A Bundesregierung eingebrachten Ent- (CDU/CSU) ...... 3975 C wurfs eines Steueränderungsgeset- zes 2007 Jürgen Koppelin (FDP) ...... 3977 A (Drucksachen 16/1859, 16/1969, Dr. (DIE LINKE) ...... 3977 C 16/2012, 16/2028, 16/2013) ...... 3971 C Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . 3980 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) ...... 3980 C – zu dem Antrag der Abgeordneten (BÜNDNIS 90/ Christine Scheel, , DIE GRÜNEN) ...... 3981 B Dr. , weiterer Abgeord- Gabriele Frechen (SPD) ...... 3983 D neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: (DIE LINKE) ...... 3986 A Steueränderungsgesetz 2007 zurück- Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 3986 C ziehen (CDU/CSU) ...... 3987 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 3989 C Dr. Volker Wissing, Dr. , Carl-Ludwig Thiele, weiterer Olav Gutting (CDU/CSU) ...... 3989 D II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Florian Pronold (SPD) ...... 3993 A Wolfgang Zöller (CDU/CSU) ...... 4001 B Volker Schneider (Saarbrücken) Dr. (DIE LINKE) ...... 4003 C (DIE LINKE) ...... 3990 C Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) ...... 3991 B DIE GRÜNEN) ...... 4004 D (CDU/CSU) ...... 3991 D (Münster) (FDP) ...... 4005 C Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 4006 C DIE GRÜNEN) ...... 3993 B Heinz Lanfermann (FDP) ...... 4008 B

Namentliche Abstimmung ...... 3994 B Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 4009 C Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 4011 D Ergebnis ...... 3994 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 4013 A Tagesordnungspunkt 4: Christian Kleiminger (SPD) ...... 4014 D a) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. (CDU/CSU) ...... 4015 C Ausschusses für Gesundheit zu dem An- Elke Ferner (SPD) ...... 4017 C trag der Abgeordneten Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Namentliche Abstimmung ...... 4025 A des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Dem Solidarsystem eine stabile Grund- Ergebnis ...... 4025 C lage geben – für eine nachhaltige Finan- zierungsreform der Krankenversiche- rung (Drucksachen 16/950, 16/2002) ...... 3997 B Tagesordnungspunkt 37: b) Zweite und dritte Beratung des von der b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Fraktion der LINKEN eingebrachten Ent- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- wurfs eines Gesetzes zur Änderung des ten Gesetzes zur Änderung des Be- Fünften Buches Sozialgesetzbuch triebsrentengesetzes (Drucksachen 16/451, 16/1753) ...... 3997 C (Drucksache 16/1936) ...... 4019 C c) Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, c) Erste Beratung des von der Bundesregie- , Dr. Thea Dückert, rung eingebrachten Entwurfs eines Ach- weiterer Abgeordneter und der Fraktion ten Gesetzes zur Änderung des Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: sicherungsaufsichtsgesetzes sowie zur Stärkung der Solidarität und Ausbau Änderung des Finanzdienstleistungs- des Wettbewerbs – Für eine leistungsfä- aufsichtsgesetzes und anderer Vor- hige Krankenversicherung schriften (Drucksache 16/1928) ...... 3997 C (Drucksache 16/1937) ...... 4019 D d) Erste Beratung des von der Bundesregie- in Verbindung mit rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der personellen Zusatztagesordnungspunkt 2: Struktur beim Bundeseisenbahnvermö- gen und in den Unternehmen der Deut- Antrag der Abgeordneten Daniel Bahr (Müns- schen Bundespost ter), Heinz Lanfermann, Dr. , (Drucksache 16/1938) ...... 4019 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für Nachhaltigkeit, Transparenz, e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Eigenverantwortung und Wettbewerb im rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Gesundheitswesen zes zu dem Vertrag vom 13. April 2005 (Drucksache 16/1997) ...... 3997 C zwischen der Bundesrepublik Deutsch- land und dem Königreich der Nieder- Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin lande über den Zusammenschluss der BMG ...... 3997 D deutschen Bundesstraße B 56n und der Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/ niederländischen Regionalstraße N 297n an der gemeinsamen Staatsgrenze DIE GRÜNEN) ...... 3998 C durch Errichtung einer Grenzbrücke Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 3999 D (Drucksache 16/1939) ...... 4020 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 III f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Sicherstellung der Religionsfreiheit rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten (Drucksache 16/1998) ...... 4020 D Gesetzes zur Änderung des vorläufigen Tabakgesetzes g) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, (Drucksache 16/1940) ...... 4020 A Ulla Lötzer, Hans-Kurt Hill, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der LINKEN: g) Antrag der Abgeordneten , Keine Weltbankkredite für Atomtech- Sevim Dagdelen, Dr. Hakki Keskin, wei- nologie terer Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksache 16/1961) ...... 4020 D LINKEN: Die Welt zu Gast bei Freun- den – Für eine offenere Migrations- und h) Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Flüchtlingspolitik in Deutschland und Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether in der Europäischen Union Dehm, weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 16/1199) ...... 4020 A Fraktion der LINKEN: Agrarbeihilfe- empfänger offen legen (Drucksache 16/1962) ...... 4021 A Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Antrag der Abgeordneten Tagesordnungspunkt 38: (Bremen), Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE des von der Bundesregierung eingebrach- GRÜNEN: Menschenrechte in Usbekis- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem tan einfordern Abkommen vom 8. Juni 2005 zwischen (Drucksache 16/1975) ...... 4020 B der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Schweizerischen b) Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, Bundesrat, handelnd im Namen des Thilo Hoppe, Dr. Uschi Eid, weiterer Ab- Kantons Schaffhausen, über die Erhal- geordneter und der Fraktion des BÜND- tung einer Straßenbrücke über die NISSES 90/DIE GRÜNEN: Eine Welt- Wutach zwischen Stühlingen (Baden- bank-Energiepolitik der Zukunft – Ja Württemberg) und Oberwiesen (Schaff- zu mehr Effizienz und erneuerbaren hausen) Energien, Nein zur Atomkraft (Drucksachen 16/1611, 16/1964) ...... 4021 A (Drucksache 16/1978) ...... 4020 B b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung c) Antrag der Abgeordneten Hans-Christian des von der Bundesregierung eingebrach- Ströbele, Volker Beck (Köln), Monika ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Lazar und der Fraktion des BÜNDNIS- kommen vom 8. Juni 2005 zwischen der SES 90/DIE GRÜNEN: Befragung von Regierung der Bundesrepublik Gefolterten und Nutzung von Folter- Deutschland und dem Schweizerischen erkenntnissen ausschließen Bundesrat, handelnd im Namen des (Drucksache 16/836) ...... 4020 C Kantons Aargau, über Bau und Erhal- d) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, tung einer Rheinbrücke zwischen Lau- Hans-Christian Ströbele und der Fraktion fenburg (Baden-Württemberg) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Laufenburg (Aargau) Indigene Völker – Ratifizierung des (Drucksachen 16/1612, 16/1965) ...... 4021 B Übereinkommens der Internationalen c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Arbeitsorganisation (IAO) Nr. 169 über des von der Bundesregierung eingebrach- Indigene und in Stämmen lebende Völ- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- ker in unabhängigen Staaten kommen vom 28. Juni 2004 zwischen (Drucksache 16/1971) ...... 4020 C der Bundesrepublik Deutschland und e) Antrag der Abgeordneten Burkhardt der Republik Singapur zur Vermeidung Müller-Sönksen, , Dr. Karl der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet Addicks, weiterer Abgeordneter und der der Steuern vom Einkommen und vom Fraktion der FDP: 7. Bericht der Bundes- Vermögen regierung über ihre Menschenrechtspo- (Drucksachen 16/1619, 16/1974) ...... 4021 C litik in den auswärtigen Beziehungen d) Zweite und dritte Beratung des von der und in Politikbereichen Bundesregierung eingebrachten Entwurfs (Drucksache 16/1999) ...... 4020 C eines Zweiten Gesetzes über die Bereini- f) Antrag der Abgeordneten Florian Toncar, gung von Bundesrecht im Zuständig- Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner keitsbereich des Bundesministeriums Hoyer, weiterer Abgeordneter und der des Innern Fraktion der FDP: Für die weltweite (Drucksachen 16/1620, 16/1979) ...... 4021 D IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 e) Zweite und dritte Beratung des von der in Deutschland und Europa weiterent- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs wickeln eines Fünften Gesetzes zur Änderung (Drucksache 16/1972) ...... 4024 A des Urheberrechtsgesetzes (Drucksachen 16/1107, 16/1173, 16/2019) 4022 A b)–k) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- f) Beschlussempfehlung und Bericht des schusses: Sammelübersichten 70, 71, 72, Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und 73, 74, 75, 76, 77, 78 und 79 zu Peti- Reaktorsicherheit zu der Unterrichtung tionen durch die Bundesregierung: Vorschlag (Drucksachen 16/1980, 16/1981, 16/1982, für eine Richtlinie des Europäischen 16/1983, 16/1984, 16/1985, 16/1986, Parlaments und des Rates über Luft- 16/1987, 16/1988, 16/1989) ...... 4024 B qualität und saubere Luft für Europa KOM (2005) 447 endg.; Ratsdok. 14335/05 (Drucksachen 16/288 Nr. 2.20, 16/1814) 4022 B Tagesordnungspunkt 5: g) Beratung der Zweiten Beschlussempfeh- a) – Zweite und dritte Beratung des von der lung des Wahlprüfungsausschusses zu 62 Bundesregierung eingebrachten Ent- gegen die Gültigkeit der Wahl zum wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung 16. Deutschen Bundestag eingegange- europäischer Richtlinien zur Ver- nen Wahleinsprüchen wirklichung des Grundsatzes der (Drucksache 16/1800) ...... 4022 C Gleichbehandlung h) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksachen 16/1780, 16/1852, Ausschusses für Ernährung, Landwirt- 16/2022, 16/2024) ...... 4027 B schaft und Verbraucherschutz zu dem An- – Zweite und dritte Beratung des von trag der Abgeordneten Undine Kurth den Abgeordneten Irmingard Schewe- (Quedlinburg), Bärbel Höhn, Ulrike Gerigk, Volker Beck (Köln) und der Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- GRÜNEN: EU-Kommission muss natio- nes Gesetzes zur Umsetzung europäi- nale Tierschutzbemühungen respektie- scher Antidiskriminierungsrichtli- ren nien (Drucksachen 16/549, 16/2008) ...... 4022 C (Drucksachen 16/297, 16/2022, 16/2024) 4027 B i) Beschlussempfehlung und Bericht des b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Rechtsausschusses schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Hans-Michael – zu dem Antrag der Abgeordneten Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Ilja Seifert, , Sevim Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abge- Dagdelen, weiterer Abgeordneter und ordneter und der Fraktion der FDP: BSE- der Fraktion der LINKEN: EU-Anti- Testpflichtaltersgrenze anheben diskriminierungsrichtlinien durch (Drucksachen 16/1170, 16/2001)...... 4022 D einheitliches Antidiskriminierungs- gesetz wirksam und umfassend um- k) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- setzen schusses: Übersicht 3 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten – zu dem Antrag der Abgeordneten Streitsachen vor dem Bundesverfas- Irmingard Schewe-Gerigk, Volker sungsgericht Beck (Köln), Markus Kurth, weiterer (Drucksache 16/1956) ...... 4023 A Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: m)–u) Keine Ausgrenzung beim Antidis- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- kriminierungsgesetz schusses: Sammelübersichten 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68 und 69 zu Petitionen – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksachen 16/1911, 16/1912, 16/1913, Mechthild Dyckmans, Sabine 16/1914, 16/1915, 16/1916, 16/1917, Leutheusser-Schnarrenberger, Jörg van 16/1918, 16/1919) ...... 4023 B Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Bürokratie schützt nicht vor Diskriminierung – Allge- Zusatztagesordnungspunkt 4: meines Gleichbehandlungsgesetz ist der falsche Weg a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ (Drucksachen 16/370, 16/957, 16/1861, DIE GRÜNEN: Ökologischen Landbau 16/2022) ...... 4028 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 V

Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 4028 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Dr. (FDP) ...... 4029 D Happach-Kasan, , Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ weiterer Abgeordneter und der Frak- DIE GRÜNEN) ...... 4030 C tion der FDP: Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft durch mündige (BÜNDNIS 90/ und aufgeklärte Verbraucher sicher- DIE GRÜNEN) ...... 4032 A stellen Dr. Guido Westerwelle (FDP) ...... 4032 B (Drucksachen 16/195, 16/111, 16/825, Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 4032 B 16/2009) ...... 4040 D Sevim Dagdelen (DIE LINKE) ...... 4034 B Ursula Heinen (CDU/CSU) ...... 4041 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 4045 A DIE GRÜNEN) ...... 4035 B Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 4046 B (SPD) ...... 4036 C Dr. (DIE LINKE) ...... 4048 A Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) ...... 4037 D Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 4039 A DIE GRÜNEN) ...... 4049 A Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 4050 A Namentliche Abstimmung ...... 4042 B (SPD) ...... 4052 B Ergebnis ...... 4042 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Tagesordnungspunkt 6: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- nen der CDU/CSU und der SPD: Lage am a) – Zweite und dritte Beratung des von Ausbildungsmarkt – Ausbildungspakt als den Fraktionen der CDU/CSU und der Chance für Unternehmen, junge Menschen SPD eingebrachten Entwurfs eines und den Arbeitsmarkt Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation Ernst Hinsken (CDU/CSU) ...... 4054 B (Drucksachen 16/1408, 16/2011). . . . . 4040 C Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 4055 C – Zweite und dritte Beratung des von der Nicolette Kressl (SPD) ...... 4057 A Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 4058 A nes Verbraucherinformationsgeset- (CDU/CSU) ...... 4059 B zes (VIG) (Drucksachen 16/199, 16/2011) . . . . . 4040 C Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 4060 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Wolfgang Grotthaus (SPD) ...... 4062 A schaft und Verbraucherschutz , Bundesminister BMWi ...... 4063 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter (SPD) ...... Bleser, Ursula Heinen, Gitta 4065 A Connemann, weiterer Abgeordneter Dr. , Bundesministerin und der Fraktion der CDU/CSU sowie BMBF ...... 4066 C der Abgeordneten Waltraud Wolff (Wolmirstedt), , Volker (SPD) ...... 4068 C Blumentritt, weiterer Abgeordneter (CDU/CSU) ...... 4070 A und der Fraktion der SPD: Lebensmit- telskandalen effektiv entgegenwir- ken – Verbraucher umfassend infor- Tagesordnungspunkt 7: mieren Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, – zu dem Antrag der Abgeordneten Joachim Günther (Plauen), Jens Ackermann, Ulrike Höfken, Bärbel Höhn, Cornelia weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Behm, weiterer Abgeordneter und der FDP: Recht der Sportwetten neu ordnen Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE und Finanzierung des Sports sowie anderer GRÜNEN: Konsequenzen aus den Gemeinwohlbelange sichern Fleischskandalen: Umfassende Ver- (Drucksache 16/1674) ...... 4071 B braucherinformation und bessere Kontrollen Detlef Parr (FDP) ...... 4071 C VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Klaus Riegert (CDU/CSU) ...... 4073 A zur Änderung des Dritten Buches Sozi- algesetzbuch Katrin Kunert (DIE LINKE) ...... 4074 C (Drucksachen 16/856, 16/1208) ...... 4089 B (SPD) ...... 4075 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu (BÜNDNIS 90/ dem Antrag der Abgeordneten Hartfrid DIE GRÜNEN) ...... 4076 D Wolff (Rems-Murr), Jens Ackermann, Dr. Dr. (SPD) ...... 4077 C , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Innere Sicherheit Detlef Parr (FDP) ...... 4077 D durch Regelungen zum Arbeitskampf- recht gewährleisten (Drucksachen 16/953, 16/1208) ...... 4089 C Tagesordnungspunkt 8: (SPD) ...... 4089 C a) Zweite und dritte Beratung des von der Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 4091 A Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Be- (CDU/CSU) ...... 4092 A steuerung von Energieerzeugnissen und (DIE LINKE) ...... 4093 D zur Änderung des Stromsteuergesetzes (Drucksachen 16/1172, 16/1347, 16/2007, Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ 16/2061, 16/2023) ...... 4078 D DIE GRÜNEN) ...... 4095 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- Namentliche Abstimmung ...... 4098 A ordneten Hans-Josef Fell, , Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordne- Ergebnis ...... 4098 C ter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN: Biokraftstoffe intelligent fördern – Steuerbegünsti- Tagesordnungspunkt 10: gung erhalten (Drucksachen 16/583, 16/2007, 16/2061) 4079 A a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten c) Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, (Hamm), , Klaus Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, wei- Brähmig, weiteren Abgeordneten und terer Abgeordneter und der Fraktion der der Fraktion der CDU/CSU sowie den LINKEN: Biokraftstoffe nachhaltig för- Abgeordneten Dr. , Doris dern Barnett, Klaus Barthel, weiteren Abge- (Drucksache 16/1895 (neu)) ...... 4079 A ordneten und der Fraktion der SPD Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 4079 B eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zum Abbau bürokratischer Dr. (SPD) ...... 4081 B Hemmnisse insbesondere in der mit- (FDP) ...... 4081 C telständischen Wirtschaft (Drucksachen 16/1407, 16/2017) . . . . 4096 B Norbert Schindler (CDU/CSU) ...... 4082 A – Zweite und dritte Beratung des von der Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 4083 C Bundesregierung eingebrachten Ent- Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/ wurfs eines Ersten Gesetzes zum Ab- bau bürokratischer Hemmnisse ins- DIE GRÜNEN) ...... 4084 B besondere in der mittelständischen Dr. (CDU/CSU) ...... 4085 B Wirtschaft (Drucksachen 16/1853, 16/1970, 16/2017) 4096 C Namentliche Abstimmung ...... 4086 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- Ergebnis ...... 4086 B gie zu dem Antrag der Abgeordneten , Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Statistikpflichten zu- Tagesordnungspunkt 9: rückführen – Bürokratiekosten senken a) Zweite und dritte Beratung des von den (Drucksachen 16/1167, 16/2017) ...... 4096 C Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU) ...... 4096 D Lafontaine und der Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Martin Zeil (FDP) ...... 4100 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 VII

Christian Lange (Backnang) (SPD) ...... 4101 D der Fraktion der FDP: Patientenverfügungen neu regeln – Selbstbestimmungsrecht und Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 4103 C Autonomie von nichteinwilligungsfähigen Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/ Patienten stärken DIE GRÜNEN) ...... 4104 B (Drucksache 16/397) ...... 4118 B Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 4118 D Tagesordnungspunkt 36: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Tagesordnungspunkt 14: schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker eines Gesetzes zur Umsetzung des Rah- Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, menbeschlusses über den Europäischen Marieluise Beck (Bremen), weiterer Ab- Haftbefehl und die Übergabeverfahren geordneter und der Fraktion des BÜND- zwischen den Mitgliedstaaten der Euro- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Presse- und päischen Union (Europäisches Haftbe- Meinungsfreiheit in Kuba einfordern fehlsgesetz – EuHbG) (Drucksachen 16/1024, 16/2015) ...... 4119 C – zu dem Antrag der Abgeordneten , Florian Toncar, Burkhardt – Zweite und dritte Beratung des von den Müller-Sönksen, weiterer Abgeordneter Fraktionen der CDU/CSU und der SPD und der Fraktion der FDP: Menschen- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes rechte in Kuba einfordern und die ku- zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses banische Zivilgesellschaft fördern über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den (Drucksachen 16/934, 16/945, 16/2006) 4105 C Mitgliedstaaten der Europäischen Christoph Strässer (SPD) ...... 4105 D Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz – EuHbG) Marina Schuster (FDP) ...... 4107 C (Drucksachen 16/544, 16/2015) ...... 4119 C Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 4108 B Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 4109 D BMJ ...... 4119 D Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Sabine Leutheusser-Schnarrenberger DIE GRÜNEN) ...... 4111 A (FDP) ...... 4120 C Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 4112 A Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) ...... 4121 C

Namentliche Abstimmung ...... 4116 A Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 4122 D Ergebnis ...... 4115 D Dr. Carl-Christian Dressel (SPD) ...... 4123 C

Tagesordnungspunkt 12: Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Antrag der Abgeordneten Sevim Dagdelen, desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ulla Jelpke, , weiterer Abgeordneter Gesetzes zur Umsetzung der neu gefassten und der Fraktion der LINKEN: Einbürge- Bankenrichtlinie und der neu gefassten rungen erleichtern – Ausgrenzungen aus- Kapitaladäquanzrichtlinie schließen (Drucksachen 16/1335, 16/2018, 16/2056) . . 4112 D (Drucksache 16/1770) ...... 4124 D Frank Schäffler (FDP) ...... 4113 A (CDU/CSU) ...... 4114 A Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Tagesordnungspunkt 13: desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rückgewin- Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, nungshilfe und der Vermögensabschöpfung Dr. , Sabine Leutheusser- bei Straftaten Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und (Drucksache 16/700, 16/2021) ...... 4125 A VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Zusatztagesordnungspunkt 6: Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 4126 C Antrag der Fraktionen der FDP und des (CDU/CSU) ...... 4127 D BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Demo- kratiebewegung in Belarus unterstützen (SPD) ...... 4129 C (Drucksache 16/1977) ...... 4125 B Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 4130 B Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 20: DIE GRÜNEN) ...... 4131 D a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: UN-Überprüfungskonferenz als Chance zur wirksamen Kontrolle Tagesordnungspunkt 22: des Handels mit Kleinwaffen und leich- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- ten Waffen nutzen schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- (Drucksache 16/1894) ...... 4125 C lung zu dem Antrag der Abgeordneten Peter b) Antrag der Abgeordneten Holger Haibach, Götz, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. , Carl-Eduard von Lippold, weiterer Abgeordneter und der Frak- Bismarck, weiterer Abgeordneter und der tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- Petra Weis, Sören Bartol, , ordneten Dr. Herta Däubler-Gmelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Christoph Strässer, , weiterer SPD: Stadtentwicklung ist moderne Struk- Abgeordneter und der Fraktion der SPD: tur- und Wirtschaftspolitik Den neuen Menschenrechtsrat der Ver- (Drucksachen 16/1890, 16/2004) ...... 4132 C einten Nationen zum Erfolg führen (Drucksache 16/1891) ...... 4125 C Tagesordnungspunkt 21: in Verbindung mit Erste Beratung des von den Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlin- burg), Hans-Josef Fell, weiteren Abgeordne- Zusatztagesordnungspunkt 7: ten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Antrag der Abgeordneten , Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundes- , Jürgen Trittin, weiterer Ab- naturschutzgesetzes (Urwaldschutzgesetz) geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- (Drucksache 16/961) ...... 4132 D SES 90/DIE GRÜNEN: Waffen unter Kon- trolle – Für eine umfassende Begrenzung und Kontrolle des Handels mit Kleinwaf- fen und Munition Tagesordnungspunkt 24: (Drucksache 16/1967) ...... 4125 D Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ in Verbindung mit DIE GRÜNEN: Für ein Ende der Gewalt in Norduganda (Drucksache 16/1973) ...... 4133 A Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Volker Beck in Verbindung mit (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Zusatztagesordnungspunkt 9: Den neuen Menschenrechtsrat der Verein- ten Nationen intensiv unterstützen Antrag der Abgeordneten Hüseyin-Kenan (Drucksache 16/1968) ...... 4125 D Aydin, Monika Knoche, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Für ein Ende der Gewalt in Nord- Tagesordnungspunkt 19: uganda (Drucksache 16/1976) ...... 4133 B Antrag der Abgeordneten Carl-Ludwig Thiele, Frank Schäffler, Dr. Hermann Otto Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . 4133 B Solms, weiterer Abgeordneter und der Frak- Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 4133 D tion der FDP: REITs – Real Estate Invest- ment Trusts in Deutschland einführen Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/1896) ...... 4126 B DIE GRÜNEN) ...... 4134 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 IX

Tagesordnungspunkt 23: ten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, Passgesetzes , Dr. Rainer Stinner, weiterer Abge- (Drucksache 16/2016) ...... 4136 C ordneter und der Fraktion der FDP: Gleiche Besoldung für alle Soldaten (Drucksache 16/587) ...... 4135 D Tagesordnungspunkt 26: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Tagesordnungspunkt 38: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Unterhaltsrechts j) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 16/1830) ...... 4136 D Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten – zu dem Antrag der Abgeordneten Gesetzes zur Änderung des Unterhalts- , , Dirk vorschussgesetzes Fischer (Hamburg), weiterer Abgeord- (Drucksache 16/1829) ...... 4137 A neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. , Uwe Beckmeyer, Sören Tagesordnungspunkt 27: Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Notschleppkon- Erste Beratung des von der Bundesregierung zept den veränderten Bedingungen eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset- der Seeschifffahrt anpassen zes zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft – zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksache 16/1828) ...... 4137 A Rainder Steenblock, Winfried Hermann, Peter Hettlich, weiterer Ab- , Bundesministerin BMJ . . . . 4137 B geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Notschleppkonzept an gestiegene (FDP) ...... 4138 B Herausforderungen anpassen Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 4139 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Hans-Michael Goldmann, Patrick DIE GRÜNEN) ...... 4141 C Döring, (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Frak- Dirk Manzewski (SPD) ...... 4142 B tion der FDP: Sicherheitskonzept für Nord- und Ostsee optimieren Tagesordnungspunkt 28: (Drucksachen 16/1647, 16/685, 16/1164, 16/2005) ...... 4136 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Versicherungsvermittler- Tagesordnungspunkt 25: rechts (Drucksache 16/1935) ...... 4143 C Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe- Gerigk, Volker Beck (Köln), , weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Tagesordnungspunkt 37: BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Selbstbe- stimmtes Leben in Würde ermöglichen – a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Transsexuellenrecht umfassend reformie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- ren zes zur Reform des Personenstands- (Drucksache 16/947) ...... 4136 C rechts (Personenstandsrechtsreform- gesetz – PStRG) (Drucksache 16/1831) ...... 4143 D in Verbindung mit

Nächste Sitzung ...... 4144 C Zusatztagesordnungspunkt 10:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Anlage 1 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Max Stadler, Jörg van Essen, weiteren Abgeordne- Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 4145 A X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Anlage 2 Anlage 7 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Abstimmung über den Entwurf eines Steu- Florian Pronold, Marco Bülow, Ulla eränderungsgesetzes 2007 (Tagesordnungs- Burchardt, , Dr. Carl-Christian punkt 3 a) Dressel, Petra Ernstberger, , Peter Friedrich, Angelika Graf Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 4145 B (Rosenheim), Gabriele Groneberg, , Reinhold Hemker, Frank Hofmann Siegmund Ehrmann (SPD) ...... 4145 C (Volkach), Lothar Ibrügger, Brunhilde Irber, Gabriele Frechen (SPD) ...... 4146 A Christian Kleiminger, Rolf Kramer, Anette Kramme, Jürgen Kucharczyk, Dirk (Essen) (SPD) ...... 4146 B Manzewski, Lothar Mark, Detlef Müller (Chemnitz), Heinz Paula, Maik Reichel, Dr. Bärbel Kofler (SPD) ...... 4146 D Gerold Reichenbach, Dr. Ernst Dieter Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) ...... 4147 A Rossmann, (Nürnberg), Heinz Schmitt (Landau), , (SPD) ...... 4147 C Dr. Angelica Schwall-Düren, Christoph Strässer, Jella Teuchner, Rüdiger Veit und (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 4147 C Dr. (alle SPD) zur nament- lichen Abstimmung über den Entwurf eines Dr. (CDU/CSU) ...... 4147 D Steueränderungsgesetzes 2007 (Tagesord- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) ...... 4148 A nungspunkt 3 a) ...... 4149 D

Anlage 3 Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Erklärung der Abgeordneten Klaus Hofbauer und Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung (beide CDU/CSU) zur namentlichen Abstim- über den Entwurf eines Gesetzes zur Ände- mung über den Entwurf eines Steuerände- rung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch rungsgesetzes 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a) 4148 A (Tagesordnungspunkt 4 b) ...... 4150 B

Anlage 4 Anlage 9 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Erklärung des Abgeordneten Jürgen Koppelin (Heidelberg), Dr. Frank (FDP) zur Abstimmung über die Beschluss- Schmidt und Gunter Weißgerber (alle SPD) empfehlung: Sammelübersicht 79 zu Peti- zur namentlichen Abstimmung über den Ent- tionen (Zusatztagesordnungspunkt 4 k) . . . . . 4150 B wurf eines Steueränderungsgesetzes 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a) ...... 4148 C Anlage 10 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Anlage 5 Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Umsetzung europäischer Richtlinien Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten zur Verwirklichung des Grundsatzes der , Dieter Grasedieck, Christoph Gleichbehandlung (Tagesordnungspunkt 5 a) Pries und Axel Schäfer (Bochum) (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Ent- Klaus Brähmig (CDU/CSU) ...... 4150 C wurf eines Steueränderungsgesetzes 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a) ...... 4149 A Veronika Bellmann (CDU/CSU) ...... 4150 C Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 4151 A Anlage 6 Henry Nitzsche (CDU/CSU) ...... 4151 B Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU) ...... 4151 B Michael Roth (Heringen), Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Joachim Poß, Ernst Kranz, Anita Schäfer (Saalstadt) Waltraud Lehn und Johannes Pflug (alle SPD) (CDU/CSU) ...... 4151 B zur namentlichen Abstimmung über den Ent- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) ...... 4151 D wurf eines Steueränderungsgesetzes 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a) ...... 4149 B Rolf Stöckel (SPD) ...... 5153 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 XI

Anlage 11 Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Innere Sicherheit durch Rege- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten lungen zum Arbeitskampfrecht gewährleisten Dr. Michael Fuchs, , Michael (Tagesordnungspunkt 9 a) ...... 4156 A Hennrich, Karl-Georg Wellmann, Kai Wegner, Joachim Hörster, Ernst Hinsken, Norbert Königshofen, Andreas G. Lämmel, Anlage 14 Gerhard Wächter, Stefan Müller (Erlangen), Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten , Dr. Karl Lamers (Heidel- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) zur Abstimmung berg), Bernward Müller (Gera), Volkmar Uwe über die Beschlussempfehlung zu den Anträ- Vogel, Dr. Rolf Koschorrek, Bernhard gen: Schulte-Drüggelte, Andreas Schmidt (Mül- heim), , Georg – Presse- und Meinungsfreiheit in Kuba ein- Fahrenschon, Hans Michelbach, Georg fordern Schirmbeck, Steffen Kampeter, Laurenz – Menschenrechte in Kuba einfordern und Meyer (Hamm), (Lübeck), die kubanische Zivilgesellschaft fördern Albert Rupprecht (Weiden), Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Dr. Joachim Pfeiffer, (Tagesordnungspunkt 36) ...... 4156 A , Daniela Raab, Dr. Günter Krings, Klaus-Peter Willsch, Carsten Müller Anlage 15 (Braunschweig), Klaus-Peter Flosbach, , Kurt Segner, Markus Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Grübel, , Philipp Missfelder, des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung Sibylle Pfeiffer, , Jens der neu gefassten Bankenrichtlinie und der Koeppen, , (Alt- neu gefassten Kapitaladäquanzrichtlinie (Ta- ötting), Susanne Jaffke, Andrea Astrid gesordnungspunkt 12) Voßhoff, , Olav Gutting, Nina Hauer (SPD) ...... 4156 B , Rita Pawelski, Franz Obermeier, Erika Steinbach, Monika Grütters, Dr. (DIE LINKE) ...... 4157 A (Konstanz), Ingbert Liebing, Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Marie-Luise Dött, Julia Klöckner, Ute DIE GRÜNEN) ...... 4157 C Granold, Michael Brand, Dr. , , Dr. Georg (Parl. Staatssekretär beim Nüßlein, (Heilbronn), Renate Bundesminister der Finanzen) ...... 4158 B Blank und Dr. Ole Schröder (alle CDU/CSU) zur namentlichen Abstimmung über den Ent- Anlage 16 wurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäi- scher Richtlinien zur Verwirklichung des Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Grundsatzes der Gleichbehandlung (Tages- des Antrags: Patientenverfügungen neu regeln – ordnungspunkt 5 a) ...... 4153 C Selbstbestimmungsrecht und Autonomie von nichteinwilligungsfähigen Patienten stärken (Tagesordnungspunkt 13) Anlage 12 (CDU/CSU) ...... 4159 A Erklärung nach § 31 GO zur namentlichen Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 4160 D Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Neuregelung der Besteuerung von Christoph Strässer (SPD) ...... 4161 B Energieerzeugnissen und zur Änderung des Joachim Stünker (SPD) ...... 4162 C Stromsteuergesetzes (Tagesordnungspunkt 8 a) Michael Kauch (FDP) ...... 4163 A Dr. (SPD) ...... 4151 B Irmingard Schewe-Gerigk Gabriele Groneberg (SPD) ...... 4151 D (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 4164 C Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) ...... 4151 D Anlage 17 Dr. Hermann Scheer (SPD) ...... 4155 A Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur Umsetzung des Dr. Wolfgang Wodarg (SPD) ...... 4155 C Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwi- schen den Mitgliedstaaten der Europäischen Anlage 13 Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz – EuHbG) (Tagesordnungspunkt 14) Erklärung des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 4165 A XII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Anlage 18 – Waffen unter Kontrolle – Für eine umfas- sende Begrenzung und Kontrolle des Han- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung dels mit Kleinwaffen und Munition des Antrags: Einbürgerungen erleichtern – Ausgrenzungen ausschließen (Tagesord- – Den neuen Menschenrechtsrat der Verein- nungspunkt 15) ten Nationen intensiv unterstützen Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) ...... 4166 B (Tagesordnungspunkt 20 a und b und Zusatz- tagesordnungspunkte 7 und 8) Rüdiger Veit (SPD) ...... 4167 B Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 4179 C Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 4168 C Sevim Dagdelen (DIE LINKE) ...... 4169 C Carl-Eduard von Bismarck (CDU/CSU) . . . . 4180 C Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD) ...... 4181 B DIE GRÜNEN) ...... 4170 B Christoph Strässer (SPD) ...... 4182 D Florian Toncar (FDP) ...... 4183 D Anlage 19 Michael Leutert (DIE LINKE) ...... 4185 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der DIE GRÜNEN) ...... Rückgewinnungshilfe und der Vermögensab- 4185 B schöpfung bei Straftaten (Tagesordnungs- punkt 18) Anlage 22 Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des (CDU/CSU) ...... 4171 A Antrags: REITs – Real Estate Investment Dr. Peter Danckert (SPD) ...... 4171 D Trusts in Deutschland einführen (Tagesord- nungspunkt 19) Jörg van Essen (FDP) ...... 4172 C Dr. Axel Troost (DIE LINKE) ...... 4186 B Sevim Dagdelen (DIE LINKE) ...... 4173 C Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Anlage 23 DIE GRÜNEN) ...... 4174 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär . . . . 4175 B der Beschlussempfehlung und des Berichts: Stadtentwicklung ist moderne Struktur- und Wirtschaftspolitik (Tagesordnungspunkt 22) Anlage 20 Peter Götz (CDU/CSU) ...... 4187 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Demokratiebewegung in Belarus Petra Weis (SPD) ...... 4188 D unterstützen (Zusatztagesordnungspunkt 6) Patrick Döring (FDP) ...... 4190 A (CDU/CSU) ...... 4176 A (DIE LINKE) ...... 4190 D (SPD) ...... 4176 D Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ Harald Leibrecht (FDP) ...... 4177 C DIE GRÜNEN) ...... 4191 C Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE)...... 4178 B Anlage 24 Marie-Luise Beck (BÜNDNIS/90 DIE GRÜNEN) ...... 4178 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- rung des Bundesnaturschutzgesetzes (Ur- Anlage 21 waldschutzgesetz) (Tagesordnungspunkt 21) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU) ...... 4192 C der Anträge: Marko Mühlstein (SPD) ...... 4194 A – UN-Überprüfungskonferenz als Chance (FDP) ...... 4195 C zur wirksamen Kontrolle des Handels mit Kleinwaffen und leichten Waffen nutzen Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 4196 B – Den neuen Menschenrechtsrat der Verein- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ ten Nationen zum Erfolg führen DIE GRÜNEN) ...... 4197 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 XIII

Anlage 25 (CDU/CSU) ...... 4208 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Gabriele Fograscher (SPD) ...... 4210 A der Anträge: Für ein Ende der Gewalt in Nord- uganda (Tagesordnungspunkt 24 und Zusatz- Jörg van Essen (FDP) ...... 4210 D tagesordnungspunkt 9) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Gabriele Groneberg (SPD) ...... 4198 B DIE GRÜNEN) ...... 4211 D Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 4199 B Anlage 29

Anlage 26 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Entwürfe: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Gleiche Besoldung für alle Sol- – Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts daten (Tagesordnungspunkt 23) – Erstes Gesetz zur Änderung des Unter- Monika Brüning (CDU/CSU) ...... 4200 A haltsvorschussgesetzes Susanne Jaffke (CDU/CSU) ...... 4200 D (Tagesordnungspunkt 26 a und b) Petra Heß (SPD) ...... 4201 B Ute Granold (CDU/CSU) ...... 4212 D Birgit Homburger (FDP) ...... 4202 A Christine Lambrecht (SPD) ...... 4214 C Katrin Kunert (DIE LINKE) ...... 4202 C Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ (FDP) ...... 4215 C DIE GRÜNEN) ...... 4203 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 4217 A Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 4204 A Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 4218 A Anlage 27 Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 4218 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Notschleppkonzept den veränderten Be- Anlage 30 dingungen der Seeschifffahrt anpassen Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des – Notschleppkonzept an gestiegene Heraus- Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Rege- forderungen anpassen lung des Urheberrechts in der Informationsge- sellschaft (Tagesordnungspunkt 27) – Sicherheitskonzept für Nord- und Ostsee optimieren Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) ...... 4219 C (Tagesordnungspunkt 38 j)

Enak Ferlemann (CDU/CSU) ...... 4204 C Anlage 31 Dr. Margrit Wetzel (SPD) ...... 4205 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 4207 A des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts (Tagesord- Dorothee Menzner (DIE LINKE) ...... 4207 D nungspunkt 28) Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 4208 B Kai Wegner (CDU/CSU) ...... 4220 C Christian Lange (Backnang) (SPD) ...... 4221 D Anlage 28 Martin Zeil (FDP) ...... 4222 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 4224 B – Antrag: Selbstbestimmtes Leben in Würde Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/ ermöglichen – Transsexuellenrecht umfas- DIE GRÜNEN) ...... 4225 A send reformieren – Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Passgesetzes Anlage 32 (Tagesordnungspunkt 25 und Zusatztagesord- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung nungspunkt 10) des Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des XIV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Personenstandsrechts (Personenstandsrechtsre- Gisela Piltz (FDP) ...... 4228 B formgesetz – PStRG) (Tagesordnungspunkt 37 a) Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 4229 C Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 4226 A (BÜNDNIS 90/ Gabriele Fograscher (SPD) ...... 4227 B DIE GRÜNEN) ...... 4230 C

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3965

(A) (C) Redetext

43. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin : Überweisungsvorschlag: Die Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Ausschuss für Gesundheit begrüße Sie sehr herzlich zu unseren heutigen sehr um- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit fangreichen Beratungen. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Christian Strö- bele, Volker Beck (Köln), Monika Lazar und der Fraktion des Bevor wir in die Tagesordnung einsteigen, darf ich BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Sie um Aufmerksamkeit für einige amtliche Mitteilun- Befragung von Gefolterten und Nutzung von Folter- gen bitten. erkenntnissen ausschließen Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene – Drucksache 16/836 – Tagesordnung um die in der vorliegenden Zusatzpunkt- Überweisungsvorschlag: liste aufgeführten Punkte zu erweitern: Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss (B) ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- Rechtsausschuss (D) SES 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu den Antworten der Bundesregierung auf die dring- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans- lichen Fragen Nr. 5 und 6 auf Drucksache 16/1959 Christian Ströbele und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ (siehe 42. Sitzung) DIE GRÜNEN ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr (Müns- Indigene Völker – Ratifizierung des Übereinkommens der ter), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad Schily, weiterer Abge- Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) Nr. 169 über ordneter und der Fraktion der FDP Indigene und in Stämmen lebende Völker in unabhängi- gen Staaten Für Nachhaltigkeit, Transparenz, Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen – Drucksache 16/1971 – – Drucksache 16/1997 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Gesundheit (f) Entwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (Ergänzung zu TOP 37) e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhardt Müller- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck Sönksen, Florian Toncar, Dr. Karl Addicks, weiterer Abge- (Bremen), Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- 7 Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik NEN in den auswärtigen Beziehungen und in anderen Politikberei- Menschenrechte in Usbekistan einfordern chen – Drucksache 16/1975 – – Drucksache 16/1999 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Bur- khardt Müller-Sönksen, Dr. , weiterer Abgeord- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo neter und der Fraktion der FDP Hoppe, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Für die weltweite Sicherstellung der Religionsfreiheit Eine Weltbank-Energiepolitik der Zukunft – Ja zu mehr – Drucksache 16/1998 – Effizienz und erneuerbaren Energien, Nein zur Atomkraft Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/1978 – Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 3966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Ulla k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (C) Lötzer, Hans-Kurt Hill, weiterer Abgeordneter und der Frak- (2. Ausschuss) tion der LINKEN Sammelübersicht 79 zu Petitionen Keine Weltbankkredite für Atomtechnologie – Drucksache 16/1989 – – Drucksache 16/1961 – ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU Überweisungsvorschlag: und der SPD: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Lage am Ausbildungsmarkt – Ausbildungspakt als Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Chance für Unternehmen, junge Menschen und den Arbeitsmarkt h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Ay- din, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordne- ZP 6 Beratung des Antrags der Fraktionen der FDP und des ter und der Fraktion der LINKEN BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Agrarbeihilfeempfänger offen legen Demokratiebewegung in Belarus unterstützen – Drucksache 16/1962 – – Drucksache 16/1977 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Auswärtiger Ausschuss Entwicklung (f) ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Alexander Bonde, Jürgen Trittin, weiterer Abgeordneter und Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Verbraucherschutz Waffen unter Kontrolle – Für eine umfassende Begren- ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache zung und Kontrolle des Handels mit Kleinwaffen und (Ergänzung zu TOP 38) Munition a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, – Drucksache 16/1967 – der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Ökologischen Landbau in Deutschland und Europa wei- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) terentwickeln Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 16/1972 – Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses Verteidigungsausschuss (2. Ausschuss) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sammelübersicht 70 zu Petitionen Entwicklung – Drucksache 16/1980 – Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), (2. Ausschuss) Marieluise Beck (Bremen), Alexander Bonde, weiterer Abge- (B) ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (D) Sammelübersicht 71 zu Petitionen NEN – Drucksache 16/1981 – Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses intensiv unterstützen (2. Ausschuss) – Drucksache 16/1968 – Sammelübersicht 72 zu Petitionen ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Ay- – Drucksache 16/1982 – din, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordne- e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ter und der Fraktion der LINKEN (2. Ausschuss) Für ein Ende der Gewalt in Norduganda Sammelübersicht 73 zu Petitionen – Drucksache 16/1976 – – Drucksache 16/1983 – ZP 10 Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine Leutheus- f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ser-Schnarrenberger, Dr. Max Stadler, Jörg van Essen, weite- (2. Ausschuss) ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Sammelübersicht 74 zu Petitionen Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Passgesetzes – Drucksache 16/1984 – – Drucksache 16/2016 – g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses Überweisungsvorschlag: (2. Ausschuss) Innenausschuss Sammelübersicht 75 zu Petitionen Die Tagesordnungspunkte 16, 17, 34 und 38 i sollen – Drucksache 16/1985 – abgesetzt werden. h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (2. Ausschuss) Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Sammelübersicht 76 zu Petitionen weit erforderlich, abgewichen werden. – Drucksache 16/1986 – Außerdem ist beabsichtigt, die Tagesordnungspunkte 11 i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses und 36, 19 und 20, 21 und 22 sowie 23 und 24 zu tau- (2. Ausschuss) schen. Zu den bisher ohne Debatte vorgesehenen Tages- Sammelübersicht 77 zu Petitionen ordnungspunkten 37 a – das ist die erste Lesung des Per- – Drucksache 16/1987 – sonenstandsrechtsreformgesetzes – und 38 j – dabei j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses handelt es sich um eine Beschlussempfehlung zu Anträ- (2. Ausschuss) gen zum Notschleppkonzept für die Nord- und Ostsee – Sammelübersicht 78 zu Petitionen wird eine Aussprache gewünscht. Der Tagesordnungs- – Drucksache 16/1988 – punkt 38 j soll nach dem Tagesordnungspunkt 23 und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3967

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) der Tagesordnungspunkt 37 a als letzter Punkt der heuti- Wir haben im kollegialen Miteinander in der vergan- (C) gen Sitzung aufgerufen werden. genen Woche Fristverzicht erklärt. Am gestrigen Tag fand eine Sitzung des Finanzausschusses statt. Es gab Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus- eine Beschlussempfehlung mit den Unterschriften der schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste Berichterstatter aller Fraktionen. Weil einer Landes- aufmerksam: regierung offenkundig ein Änderungsantrag nicht passte, Der in der 40. Sitzung des Deutschen Bundestages überwie- wurde gestern zu etwas sehr später Stunde sene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Aus- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Mitternacht!) Antrag der Abgeordneten Monika Lazar, Irmingard Schewe- Gerigk, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der erneut eine Sitzung des Finanzausschusses für heute früh Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN um 7 Uhr einberufen und diese Änderung kraft Mehrheit Rechtsextremismus ernst nehmen – Bundesprogramme durchgesetzt. Die Berichterstatter der Oppositionsfrak- Civitas und entimon erhalten, Initiativen und Maßnah- tionen haben dem widersprochen. men gegen Fremdenfeindlichkeit langfristig absichern Wir protestieren gegen dieses Verfahren. Ihr Parla- – Drucksache 16/1498 – mentsverständnis, meine Damen und Herren von der Überweisungsvorschlag: Koalition, hat mit Demokratie nichts mehr zu tun. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Innenausschuss (Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem Ausschuss für Bildung, Forschung und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Das, was hier passiert, ist Arroganz der Macht einer gro- Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ßen Koalition. Aber die Opposition lässt sich nicht zum Hampelmann machen. Der in der 40. Sitzung des Deutschen Bundestages überwie- sene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Aus- NIS 90/DIE GRÜNEN) schuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Diana Golze, Petra Wir beantragen deswegen die Absetzung der Be- Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN schlussempfehlung zum Steueränderungsgesetz von der Fortführung und Verstetigung der Programme gegen Tagesordnung. Rechtsextremismus Ich danke Ihnen. (B) – Drucksache 16/1542 – (D) Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der LINKEN, der FDP und dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Innenausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Das Wort in der Geschäftsordnungsdebatte hat nun Ausschuss für Kultur und Medien der Kollege Dr. Röttgen. Haushaltsausschuss Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre dazu keinen Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- Ich rufe dann die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b legen! Durch nichts wurde Ihre Alternativlosigkeit und auf. Fantasielosigkeit in der Sache (Widerspruch bei der LINKEN – Fritz Kuhn (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ich habe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na!) der Tagesordnung widersprochen!) bislang so deutlich wie heute Morgen. Sie wollen der – Davon weiß ich nichts. Sachdebatte offensichtlich ausweichen, indem Sie lä- Soeben erfahre ich, dass ein Antrag zur Geschäfts- cherliche Verfahrenskritik üben. ordnung der Fraktion Die Linke vorliegt. Das Wort hat (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Fritz Frau Dr. Enkelmann. Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nenne ich Arroganz der Macht! – Dr. Dagmar Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Enkelmann [DIE LINKE]: Wir wollen Demo- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die kratie!) Fraktion Die Linke widerspricht der Tagesordnung. Wir Wir müssen den Bürgern zeigen, dass wir über die widersprechen insbesondere der Aufsetzung des Tages- Sachprobleme reden und nicht darüber, dass morgens ordnungspunktes „Beschlussempfehlung zum Steuer- um 7 Uhr ein Ausschuss tagt. änderungsgesetz“. Abgesehen davon, dass man dieser deutlichen Mehrbelastung der Arbeitnehmerinnen und (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Arbeitnehmer nicht zustimmen kann, geht es hier um das GRÜNEN]: Wo ist denn Ihre Beschlussemp- Verfahren. fehlung? Ich habe sie ja noch nicht einmal!) 3968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Norbert Röttgen (A) Es gibt Bürgerinnen und Bürger in diesem Land, die Damit kann eigentlich kein Kollege oder keine Kollegin (C) morgens um 7 Uhr arbeiten müssen. intellektuell überfordert sein. Darum ist es richtig, heute darüber zu debattieren und eine Entscheidung zu treffen. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Hoffentlich macht ihr das beim BDI anders!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Das ist, glaube ich, gelegentlich auch Parlamentariern Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zuzumuten. Das Wort hat nun der Kollege Carl-Ludwig Thiele für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) die FDP-Fraktion.

Regierungsfähigkeit fängt damit an, dass man morgens Carl-Ludwig Thiele (FDP): früh aufstehen kann. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kolleginnen und Kollegen! Heute soll in erster Lesung der SPD – [DIE LINKE]: Da- das Steueränderungsgesetz 2007 beraten werden. Dazu mit man beim BDI arbeiten kann, oder wie?) möchte ich etwas erklären, weil das nicht jeder wissen kann: Es handelt sich hierbei um ein Artikelgesetz. Die Bürger haben doch Erwartungen in der Sache an Wenn es um ein solches Artikelgesetz geht, können im uns. Laufe des Verfahrens Teile des Gesetzes herausgenom- men oder Teile hinzugefügt werden. In diesem Fall ist (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Oh ja! Erst seitens der Mehrheit dieses Hauses bzw. des Finanzaus- recht bei diesen Beratungen!) schusses ein Passus über die Steuerstatistik in das Gesetz Bei diesem Gesetz geht es darum, dass Bund und aufgenommen worden. Das ist der Punkt, der die techni- Länder wieder auf eine solide finanzielle Grundlage ge- schen Probleme, auf die ich zu sprechen kommen werde, stellt werden, dass wir die Verschuldungspolitik beenden auslöst. und dass unser Staat, unser Gemeinwesen, unser Land Über dieses Gesetz wurde gestern im Finanzaus- handlungs- und gestaltungsfähig wird, damit wir wieder schuss abschließend abgestimmt; es ist eine Bericht- Politik machen können. Dafür sind Maßnahmen notwen- erstattung erfolgt. Aufgrund der Vorteile, die Handys dig, die es erfordern, dass die Menschen einen Beitrag bieten, erhielt ich um 23 Uhr in der letzten Nacht die leisten. Wir können nicht die moralisch, politisch und Nachricht, dass heute Morgen um 7 Uhr eine Sitzung des ökonomisch nicht mehr vertretbare Verschuldung been- Finanzausschusses stattfinden soll. Herr Kollege Rött- den wollen gen, die Opposition war anwesend. (B) (D) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist doch (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ja, na- eine Farce, Herr Kollege! Reden Sie endlich türlich! Das ist doch selbstverständlich! – zum Verfahren! – Gegenruf des Abg. Hans Mi- Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Sehr gut!) chelbach [CDU/CSU]: Schreien Sie nicht so! – Gegenruf des Abg. Dr. Guido Westerwelle Wir haben an der Beratung teilgenommen, weil wir uns [FDP]: Ich schreie hier, soviel ich will!) selbst einem unüblichen Verfahren nicht automatisch entziehen. und gleichzeitig alle bestehenden Steuerbegünsti- (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem gungstatbestände erhalten. Darum geht es heute Morgen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bitte Sie bzw. fordere Sie auf, der Sachdebatte nicht auszuweichen. Legen Sie Alternativen vor! Darüber Wir haben in der Sache beraten. kann geredet werden. Aber üben Sie keine lächerliche Bei diesem Gesetz gibt es aber nicht nur ein Mitei- Verfahrenskritik. nander, sondern es ist auch ein förmliches Gesetzge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bungsverfahren zu beachten. Der Deutsche Bundestag neten der SPD – Dr. Guido Westerwelle hat sich selbst eine Geschäftsordnung gegeben. In dieser [FDP]: Das sind vielleicht Parlamentarier! Geschäftsordnung sind gewisse Regeln enthalten. Eine Meine Güte!) dieser Regeln lautet, dass jeder Abgeordnete – auch wenn er Mitglied eines nicht mit dem Gesetzgebungs- In der Sache geht es ja nicht darum, dass einem Ge- verfahren befassten Ausschusses ist – die Möglichkeit setz ein Punkt hinzugefügt worden ist. Dann könnten Sie haben muss, den Inhalt eines Gesetzes vor der Abstim- sagen: Damit konnten wir uns noch nicht beschäftigen. mung zur Kenntnis zu nehmen. Es fehlte die Zeit, sich damit auseinander zu setzen. – Wenn dem so wäre, wäre Ihre Kritik berechtigt. Nein, es (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem geht lediglich darum, dass aus einem Gesetz eine iso- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lierte Regelung zur Behördenzuständigkeit herausge- Deshalb sieht diese Regel vor – das ist in der Geschäfts- nommen wurde, wodurch sich an der Sache nichts än- ordnung verankert –, dass die entsprechenden Unterla- dert. gen jedem Abgeordneten 24 Stunden vor der Debatte zur Verfügung gestellt werden müssen. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na, na! Sie haben sich wohl nicht mit der Sache be- Wir als Opposition haben erklärt, dass wir angesichts schäftigt!) des Zeitdrucks aufgrund der morgigen Abstimmung über Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3969

Carl-Ludwig Thiele (A) die Föderalismusreform auf Fristeinrede verzichten. Sicht in wesentlichen Teilen einer Mehrheitsentschei- (C) Aber das kann nicht dazu führen, dass gesagt wird, dass dung des Bundestages. für das, was heute im Finanzausschuss behandelt wurde, (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem keine Berichterstatter der Opposition gebraucht würden, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sie würden nur stören. Denn es gab Berichterstatter und der alte Beschluss des Finanzausschusses musste aufge- Damit wäre das Gesetz als solches „infiziert“. Ange- hoben werden, um hier eine neue Beschlussgrundlage zu sichts der verfassungsrechtlichen Probleme dieses Ge- bekommen. setzes – um es einmal sehr vorsichtig auszudrücken; in- haltlich werden wir noch darüber debattieren – steht es Nach meinen Informationen hat die Steuerstatistik ein durchaus zu erwarten, dass der eine oder andere Bürger Bundesland gestört. Die übrigen 15 Bundesländer haben gegen dieses Gesetz vor Gericht ziehen wird. gesagt, sie störe sie auch. Da bin ich schon etwas über- rascht, dass in einem geordneten Gesetzgebungsverfah- ren die Koalition wie in einem Studentenparlament Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: agiert Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem Carl-Ludwig Thiele (FDP): BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. und sagt, sie habe gar keine andere Möglichkeit, sie Weil es zu einem ordnungsgemäßen Gesetzgebungs- müsse das jetzt durchziehen und wenn die Opposition verfahren gehört, bestimmte Regeln einzuhalten, bitte störe, müsse sie raus. So kann es nicht laufen; denn auch ich Sie, Ihr Vorgehen zu überprüfen. Ansonsten laufen die Opposition ist gewählt. Sie Gefahr, auch unter rechtsförmlichen Gesichtspunk- (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem ten, ein Gesetz zu beschließen, welches richterlich keine BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Anerkennung finden wird. Die Opposition trägt dazu bei, auch mit Kritik und An- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und merkungen – die Mehrheit ist ja gesichert –, dass das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Verfahren vernünftig stattfindet. Dieses heute prakti- Deshalb stimmen wir als FDP dem Antrag der Linkspar- zierte Verfahren ist abenteuerlich. Ich habe so etwas in tei zu. meiner Parlamentszeit, die immerhin seit 1990 währt, noch nicht erlebt. (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Es gäbe zwei andere Möglichkeiten: Die Koalition (D) hat zum Beispiel die Möglichkeit, heute in zweiter Le- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sung einen entsprechenden Änderungsantrag zu stellen; Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Olaf dann wäre das Formelle überhaupt kein Problem. Ich Scholz. verstehe nicht, warum die Koalition diese Möglichkeit nicht nutzt. Olaf Scholz (SPD): Ich habe im Finanzausschuss ein weiteres Verfahren Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will vorgeschlagen: Das Gesetz könnte so verabschiedet wer- es ganz kurz machen: Die Aufregung, die wir hier ver- den, wie es gestern vom Finanzausschuss beschlossen mittelt bekommen, hat mit dem Inhalt, um den es geht, wurde. Ich möchte dann doch mal sehen, ob die Herren nichts zu tun. Ministerpräsidenten es wagen, dieses Gesetz, welches Mehreinnahmen für die öffentliche Hand bringen soll, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) indem die Bürger bei der Entfernungspauschale schlech- Ich glaube, das ist eine bemerkenswerte Erkenntnis. ter gestellt werden und der Sparerfreibetrag gekürzt wird, im Bundesrat wegen einer technischen Frage zu Es geht um eine Veränderung von Steuerstatistiken; stoppen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich glaube das das kann man machen, man kann es auch lassen. Ich nicht. Andernfalls: Wenn sie es stoppen, ginge es in den glaube wie der Kollege Röttgen, dass man sich schnell Vermittlungsausschuss. Über dessen Ergebnis könnte überlegen kann, wie man sich in der Abstimmung dazu dann wieder abgestimmt werden. So könnte dieses Ge- verhalten will. Ich glaube, große Reden zu halten über setz in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ver- Demokratie, Parlamentarismus und Bruch von Rechten, abschiedet werden. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Genau Wir als Opposition haben somit mögliche Wege auf- darum geht es! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ gezeigt. Wir haben auch an den Beratungen im Finanz- DIE GRÜNEN]: Olaf, Olaf! – Undine Kurth ausschuss teilgenommen. An der Abstimmung haben [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir aber bewusst nicht teilgenommen, weil wir sie nach NEN]: Es geht um die Zeiten!) wie vor für unzulässig halten. ist im Verhältnis dazu, worum es eigentlich geht, völlig unangemessen. Ich habe eine Bitte an die große Koalition: Herr Kol- lege Kauder, Sie können die Sitzung auch unterbrechen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Denn diese Verfahrensfrage entzieht sich aus meiner CDU/CSU) 3970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Olaf Scholz (A) Es kann sein, dass Bürgerinnen und Bürger diese De- antworten. Diese Verantwortung treten Sie mit Ihrem (C) batte verfolgen Verfahren mit Füßen. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wenn Sie reden, schalten die Bürger wieder bei der FDP und der LINKEN) ab! Das ist sicher!) Wir als Opposition haben gesagt – das ist guter und, gerade weil hier große Reden gehalten werden, Brauch unter den Geschäftsführern –: Wenn die Vorlage überlegen: Was ist denn das wichtige Thema? Sie müs- am Vortag, am Mittwoch, im Ausschuss fertig ist und sen dann ganz enttäuscht feststellen, dass hier völlig un- abends verteilt wird, dann hat jeder am Abend noch die angemessene Reden gehalten werden. Möglichkeit, nachzulesen und Fragen, die sein Abstim- Was man hier aber noch einmal mitteilen muss: Alles mungsverhalten berühren, bis zum nächsten Morgen zu ist ordnungsgemäß. Deshalb hat auch niemand etwas an- klären. Als ich vorhin um 8.30 Uhr ins Haus kam, lagen deres vorgetragen. Das waren alles nur Erwägungen zum die Vorlagen beim Dienst noch nicht vor. Wie soll man Thema. aber wissen, was man hier tut, wenn man die Vorlagen nicht hat, über die man reden und entscheiden soll? Selbstverständlich kann im Finanzausschuss etwas Neues beschlossen werden. Das ist heute Morgen um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 7 Uhr in der Sitzung geschehen. Es kann eine Änderung bei der FDP und der LINKEN) vorgenommen werden, bevor die Vorlagen endgültig an Mit Ihrer Vorgehensweise stellen Sie auch den Kolle- die Abgeordneten verteilt werden. Etwas anderes ist ginnen und Kollegen der großen Koalition, die überwie- nicht erfolgt. Insofern entspricht das Verfahren, das wir gend gar nichts für ein solches Verfahren können, ein su- hier miteinander gewählt haben, der Geschäftsordnung perschlechtes Zeugnis aus. Sie sagen nämlich: Egal, was des Deutschen Bundestages und all unseren Regeln voll- in der Vorlage steht, unsere Leute stimmen dem ungele- ständig. Darum muss man auch nicht die Sorge haben, sen auf jeden Fall zu. dass es deswegen Prozesse geben wird; jedenfalls wer- den sie nicht erfolgreich sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN) Weil wir das Gesetz wirksam werden lassen wollen und deshalb auch nur angemessen kurze Reden zu dem Ich finde, als Mitglieder dieses Hauses sollten wir ein halten, worum es hier eigentlich geht, beende ich hiermit solches Verhalten der Fraktionsführungen der großen meinen Beitrag. Koalition gemeinsam zurückweisen. Die Bürgerinnen und Bürger draußen im Lande glauben doch nicht mehr, Wir lehnen diesen Antrag jedenfalls ab. (B) dass wir hier ernsthaft um Lösungen ringen und dass wir (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wissen und verantworten, was wir hier tun, wenn wir noch nicht einmal lesen können, was wir hier beschlie- ßen und worüber wir abstimmen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wenn Sie nun der Kollege Volker Beck das Wort. nicht lesen können, dann können wir Ihnen auch nicht helfen!) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir widersprechen nach § 20 Abs. 2 der Geschäfts- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der großen Ko- ordnung der Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes, alition! Auch die lieben Kolleginnen und Kollegen der da die Voraussetzungen nicht gegeben sind, und wir er- anderen Fraktionen seien gegrüßt! Das, was Sie vonsei- klären, dass der Fristverzicht, den wir für eine andere ten der Koalition hier vorgeführt haben, geht so nicht. Vorlage erklärt haben, zurückgezogen ist. Das ist nur noch Arroganz der Macht. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nein, das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, kann man nicht!) bei der FDP und der LINKEN) Ich komme nun noch zu dem, was Sie im Ausschuss Sie sagen für alle, dass parlamentarische Beratungsver- getan haben. Mit Ihrer Zweidrittelmehrheit können Sie fahren nicht mehr respektiert werden müssen. Sie kön- hier ja alles tun. Sie können uns auch gleich nach Hause nen sich nicht damit herausreden, dass es sich hier um schicken. keine wichtige Sache handele. Wenn es nicht um eine wichtige Sache gehen würde, würden wir Ihrem Verfah- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nicht so ren in der Sache nicht widersprechen. wehleidig und selbstgerecht! – [CDU/CSU]: Bleiben Sie noch ein bisschen!) In § 81 Abs. 1 der Geschäftsordnung ist vorgesehen, dass von der Verteilung der Vorlagen bis zur Beratung Dann treffen wir uns einmal im Jahr und führen die Ge- normalerweise zwei Tage vergehen müssen. Das hat ei- setzgebung durch, wobei Sie die Opposition aber nicht nen guten Grund, nämlich den, dass sich alle Kollegin- mehr mitreden lassen. – Sie haben die Berichterstatter nen und Kollegen hier im Hause eine Meinung bilden der Opposition im Finanzausschuss, weil sie Ihnen nicht können müssen, weil sie als Abgeordnete – und nicht als passten, nach Abschluss der Beratungen ihrer Ämter ent- Fraktionsmitglieder – verpflichtet sind, ihr Abstim- hoben, sie vor die Tür gesetzt und ihnen gesagt, dass sie mungsverhalten vor dem Volk, vor dem Wähler zu ver- keine Berichterstatterrechte mehr haben, dass nur noch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3971

Volker Beck (Köln) (A) die Herren und Damen von der großen Koalition das Sa- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (C) gen haben. Das ist eine Ungeheuerlichkeit. gierung eingebrachten Entwurfs eines Steuerän- derungsgesetzes 2007 (Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ein Un- sinn! Das war doch überhaupt nicht so! – Hart- – Drucksachen 16/1859, 16/1969 – mut Koschyk [CDU/CSU]: Sie waren doch aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- überhaupt nicht dabei! So etwas Lügenhaftes!) nanzausschusses (7. Ausschuss) Das ist unkollegial und unparlamentarisch. Deshalb ist – Drucksachen 16/2012, 16/2028 – das eine Schande für die große Koalition und für dieses Haus. Berichterstattung: Abgeordnete Olav Gutting (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Gabriele Frechen bei der FDP und der LINKEN) Kerstin Andreae Dr. Volker Wissing Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben nun fol- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung genden Sachverhalt: – Drucksache 16/2013 – Die Fraktion Die Linke hat einen Geschäftsordnungs- antrag auf Absetzung der Punkte 3 a und b von der Berichterstattung: Tagesordnung gestellt. Herr Beck von den Grünen hat Abgeordnete soeben Fristeinrede geltend gemacht. – Ich bitte die Ge- Dr. Gesine Lötzsch schäftsführer, zu mir zu kommen, um kurz über das wei- tere Abstimmungsverfahren zu beraten. Jochen-Konrad Fromme (Erfurt) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Sachverhalt konnte nicht endgültig geklärt werden. Die FDP-Frak- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- tion hat soeben den Antrag gestellt, die Beratungen da- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) rüber im Ältestenrat fortzusetzen. Darüber hinaus wurde – zu dem Antrag der Abgeordneten Christine mir mitgeteilt, dass die FDP eine Fraktionssitzung Scheel, Kerstin Andreae, Dr. Gerhard Schick, durchführt. weiterer Abgeordneter und der Fraktion des (B) Ich unterbreche die Sitzung. Sie werden über die Fort- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (D) setzung der Plenarsitzung informiert. Im Moment kann Steueränderungsgesetz 2007 zurückziehen ich nicht sagen, wie lange es dauern wird. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Volker Wis- (Unterbrechung von 9.23 bis 10.30 Uhr) sing, Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der FDP Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Keine weiteren Steuererhöhungen (Unruhe) – Drucksachen 16/1501, 16/1654, 16/2012, 16/2028 – – Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu Berichterstattung: nehmen und die Gespräche einzustellen. Abgeordnete Olav Gutting Gabriele Frechen Der Ältestenrat hat sich darauf verständigt, dass nun Kerstin Andreae über den Geschäftsordnungsantrag der Fraktion Die Dr. Volker Wissing Linke auf Absetzung dieses Tagesordnungspunkts abge- stimmt wird. Ich bitte um Handzeichen von denjenigen, Zum Entwurf des Steueränderungsgesetzes liegt ein die dem Antrag zustimmen wollen. – Wer ist dagegen? – Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor. Enthaltungen? – Dann ist der Antrag abgelehnt mit den Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich der FDP-Fraktion, der Fraktion des Bündnisses 90/Die sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Grünen und der Fraktion Die Linke. sen. Damit rufe ich die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b (Anhaltende Unruhe) auf: Ich eröffne die Aussprache und bitte Sie um Auf- a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- merksamkeit für den ersten Redner in dieser Debatte, nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten den Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück. Entwurfs eines Steueränderungsgesetzes 2007 (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Drucksache 16/1545 – der CDU/CSU) 3972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: steht, mit den späteren Beschlüssen – insbesondere de- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten nen von Genshagen – bestätigt. Das halte ich für wichtig Damen und Herren! Es ist knapp eine Woche her, dass und das halte ich auch für gut so; denn damit wissen die dieses Hohe Haus den Bundeshaushalt 2006 angenom- Bürgerinnen und Bürger genau, dass die steuerpoliti- men hat. schen Entscheidungen der Bundesregierung berechenbar und verlässlich sind, (Anhaltende Unruhe) (Lachen bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Minister, einen Moment bitte. – Kolleginnen und selbst dort, wo wir unpopuläre Maßnahmen zu treffen Kollegen, ich bitte Sie, wenn Sie der Debatte folgen wol- haben, um die sich zumindest ein Teil der Mitglieder der len, Platz zu nehmen und sich darauf zu konzentrieren, Oppositionsfraktionen drückt. und diejenigen, die etwas anderes zu tun haben, den Saal (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu verlassen. – So, Herr Minister, Sie haben das Wort. der CDU/CSU)

Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Mit dem vorliegenden Entwurf des Steueränderungs- Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich habe meine gesetzes 2007 setzt die Bundesregierung die auf allen Rede mit dem Hinweis begonnen, dass es knapp eine staatlichen Ebenen notwendige Konsolidierung der öf- Woche her, dass – – fentlichen Haushalte fort. Dies bedeutet eben, auch eine Reihe von Maßnahmen zu verabschieden, die keine La- (Zurufe: Lauter!) Ola-Wellen bei den Bürgerinnen und Bürgern auslösen. – Können Sie mich nicht verstehen? Soll ich das Mikro- Dabei war und bleibt es unrealistisch, anzunehmen, dass fon in die Hand nehmen? wir unseren ehrgeizigen, aber notwendigen Konsolidie- rungskurs ohne Einschnitte in sicher geglaubte Besitz- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Ja! – Jürgen stände vollziehen können. Zu dem von der Bundesregie- Koppelin [FDP]: Die Bürger verstehen Sie rung eingeschlagenen strikten Sparkurs sehe ich deshalb auch so nicht! – Beifall bei Abgeordneten der keine überzeugende Alternative. FDP) Die Bundesregierung verkennt nicht, dass diese not- – Die Bürgerinnen und Bürger verstehen mich eher als wendige Haushaltskonsolidierung in Einzelfällen auch Ihre Fraktion! mit spürbaren Einschnitten, mit Härten und mit Zumu- Können Sie mich jetzt verstehen? tungen verbunden ist. Umso mehr sind wir darum be- (B) müht, belastende Maßnahmen auch unter dem Gesichts- (D) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nicht wirklich! punkt der individuellen Leistungsfähigkeit und im Weder akustisch noch inhaltlich!) Ergebnis zumutbar auszugestalten. Dies gilt auch und Was mache ich mit der Technik? gerade für den vorliegenden Gesetzentwurf. Ich möchte dies zum Beispiel an der Pendlerpauschale noch einmal Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: deutlich machen. Es wird schon geregelt, Herr Minister; wir sind dabei. Ohne Einsparungen auch bei der Pendlerpauschale und bei anderen Maßnahmen werden wir nicht zu soli- Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: den Finanzen zurückkommen. Auch im Trommelfeuer Meine Damen und Herren! Es ist eine knappe Woche mancher Kritik ist gänzlich untergegangen, dass wir uns her, dass dieses Hohe Haus den Bundeshaushalt 2006 auch bei den Regelungen zur Pendlerpauschale von ei- angenommen hat. Denjenigen, die die Gelegenheit hat- ner, wie wir glauben, möglichst fairen Verteilung der Be- ten, meinen Ausführungen zu folgen, ist in Erinnerung, lastung leiten lassen. Fernpendler, also genau die Berufs- dass ich den Hinweis gegeben habe, dass dieser tätigen mit dem höchsten Aufwand, das heißt, mit dem Bundeshaushalt 2006 lediglich der Beginn eines langen, weitesten Weg zur Arbeit, werden im Rahmen der vorge- durchaus steinigen Weges ist. Er leitet einen Weg ein, sehenen Härtefallregelung in Zukunft immer noch einen der uns wieder zu dauerhaft tragfähigen öffentlichen Fi- erheblichen Teil ihrer Fahrtkosten in Ansatz bringen nanzen führen soll, einen Weg, der die finanziellen können. Spielräume des Bundes, aber auch der anderen Gebiets- körperschaften wieder erweitern soll und uns Spielräume Derselbe Gesichtspunkt gilt auch mit Blick auf den geben soll, mehr Zukunftsfinanzierung zu betreiben als Balkon derjenigen, die sich in den oberen Einkommens- bisher. etagen bewegen, also für die Reichensteuer. Auch hier geht es nicht um Symbolpolitik, wie es uns viele unter- Es ist deshalb Ausdruck der Zielstrebigkeit der gro- stellen, sondern es geht darum, dass dem Grundsatz ei- ßen Koalition, wenn wir jetzt, eine Woche später, das ner fairen Lastenverteilung Rechnung getragen wird; Steueränderungsgesetz 2007 einbringen. Das ist eine denn der Einkommensteuerzuschlag für Spitzenverdie- weitere, wichtige Etappe auf diesem Weg. Vor allem ist ner ist auch ein Beitrag zur verteilungspolitischen Ba- es der Beleg dafür, dass diese große Koalition konse- lance, unabhängig davon, welche Beträge dahinter ste- quent und entschlossen die finanzpolitische Agenda ab- hen. arbeitet, die wir uns vorgenommen haben. Wir haben Transparenz gezeigt und das, was im Koalitionsvertrag (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3973

Bundesminister Peer Steinbrück (A) – An dieser Stelle habe ich mich offenbar verständlich dem Abbau einer Steuersubvention eine Steuererhöhung (C) ausgedrückt. machen, um mit diesem Begriff auch im Publikum Re- flexe auszulösen, wenn wir sehr konkret an diese Arbeit (Jörg van Essen [FDP]: Aber nur da, Herr herangehen. Dies ist nicht sehr konsequent und schlüs- Minister!) sig. Ich bin überzeugt: Wenn sich die Schwaden der Ne- Eine solche Politik ist eher Klientelpolitik und das belkerzen, die jetzt gelegentlich geworfen werden, ver- krasse Gegenteil von dem, was die Bundesregierung an- zogen haben, dann werden auch die Bürgerinnen und strebt. Bürger die Vorzüge einer Steuer- und Finanzpolitik er- kennen, die versucht, für nachfolgende Generationen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der finanzielle Spielräume zu erhalten, anstatt ihren Kindern CDU/CSU – Jörg van Essen [FDP]: Zu Recht und Enkelkindern einfach nur einen Schuldenberg vor ein sehr dünner Beifall! – Dr. Guido Wester- die Füße zu kippen, und die Anstrengungen der Bundes- welle [FDP]: Zwei stimmen Ihnen jeweils zu!) regierung, einen solchen Pfad einzuschlagen, vielleicht etwas fairer würdigen, als dies in manchen begleitenden – Herr Westerwelle, ich bin mir ziemlich sicher, dass Kommentaren bisher der Fall ist. mehr zustimmen. Im Grunde stimmen Sie doch auch zu. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein, wirklich CDU/CSU) nicht!) Ich glaube, dass viele Bürgerinnen und Bürger bereit – Sie stimmen doch dem notwendigen Abbau von sind, einen solchen Kurs der Bundesregierung zu unter- Steuersubventionen zu oder nicht? stützen. Er wird als das akzeptiert, was er ist, nämlich (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Aber doch nicht ein notwendiger Beitrag, um langfristig zu tragfähigen zum Stopfen Ihrer Haushaltslöcher!) öffentlichen Finanzen und damit auch wieder zum Ver- trauen in die Verlässlichkeit der Haushalts- und Finanz- – Wozu denn dann? politik zu kommen. (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Um Steuer- Jeder Einzelne weiß doch, dass es ein privater Haus- sätze zu senken, Herr Minister!) halt auf Dauer nicht aushält, wenn seine Ausgaben nur zu 80 Prozent durch Einnahmen gedeckt sind. – Das ist doch völlig unmöglich. Dieser Dreizack funk- tioniert nicht. Die FDP verspricht Ihnen, meine Damen (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Und was tut er und Herren, die Nettokreditaufnahme zu senken, Investi- (B) dann?) tionen zu erhöhen und gleichzeitig die Steuern zu sen- (D) Das werden sie, die privaten Haushalte, sich nicht leisten ken. Das ist völlig irreal. können und die öffentlichen Haushalte können dies auf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Dauer ebenfalls nicht aushalten. Das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, nämlich die Der heute vorliegende Gesetzentwurf darf nicht iso- Steuersätze weiter zu senken, also eine weitere Steuer- liert betrachtet werden. Er ist ein weiterer wichtiger Be- entlastung, ist irreal. Man sollte Ihnen nicht von hier bis standteil des ausgewogenen steuerpolitischen Maßnah- zum nächsten Briefkasten glauben, weil Sie genau wis- menbündels der großen Koalition, mit dem wir auch sen, dass Sie in einer Regierungsverantwortung diesen steuerliche Ausnahmetatbestände und Subventionen Kurs nicht realisieren könnten. konsequent abbauen. Das haben wir bereits in einem er- heblichen Umfang getan. Ich halte daran fest: Wir brauchen einen Abbau von Steuersubventionen. Die Vorstellung, man könne darauf Ich möchte daran erinnern, dass die Bundesregierung verzichten, ist das Gegenteil von dem, was die Bundes- mit dem Gesetz zur Beschränkung der Verlustverrech- regierung anstrebt. Wir wollen zur Haushaltskonsolidie- nung im Zusammenhang mit Steuerstundungsmodellen, rung beitragen und diese vorantreiben. Wir wissen, dass mit dem Gesetz zum Einstieg in ein steuerliches Sofort- die damit verbundenen Einschnitte alles andere als popu- programm, mit dem Gesetz zur Abschaffung der Eigen- lär sind, aber sie sind im Ergebnis zumutbar. Wir brau- heimzulage und mit dem Gesetz zur Eindämmung miss- chen sie, wenn wir langfristig wieder auf einen soliden bräuchlicher Steuergestaltungen bereits ein ganzes Stück Haushaltskurs zurückfinden wollen, was insbesondere Weg zurückgelegt hat, um Steuersubventionen abzu- unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtig- bauen. keit von erheblicher Bedeutung ist, wenn wir unseren Anknüpfend an diese Ausführungen möchte ich des- Kindern und Enkelkindern nicht eine immense Steuerlast halb darauf hinweisen und an all diejenigen, die, wie ich buchstäblich aufbürden und einen Haushalt hinterlassen glaube, wenig schlüssige Vorschläge vorlegen, appellie- wollen, den sie eines Tages nur noch auf dem Weg von ren, dass dieser Weg des Abbaus von Steuersubventio- Steuererhöhungen oder erheblichen Leistungskürzungen nen nicht diskreditiert werden sollte. Es darf nicht pas- tragen können. Ich bitte deshalb um Unterstützung für sieren, dass zahlreiche Experten und fast alle Parteien diesen Entwurf des Steueränderungsgesetzes 2007. – auch die, die in diesem Hohen Hause vertreten sind – Vielen Dank. den Abbau von Steuersubventionen verlangen, aber in helle Aufregung verfallen und mir nichts, dir nichts aus (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 3974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nehmen und ohne Rücksicht auf die Verfassung. Die (C) Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Volker Reichensteuer, die Sie heute zum Beschluss vorlegen, ist Wissing das Wort. ebenso verfassungswidrig wie die willkürliche Kürzung der Pendlerpauschale. Es ist ungeheuerlich, wie CDU/ (Beifall bei der FDP) CSU und SPD mit dem Grundgesetz umgehen.

Dr. Volker Wissing (FDP): (Beifall bei der FDP) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für Sie ist der Bruch der Verfassung die Fortsetzung der zufolge hat Gerhard Schröder Deutsch- Politik mit anderen Mitteln. Wir haben heute Morgen in land zu einem Sanierungsfall gemacht. Dafür hält der der Geschäftsordnungsdebatte erlebt, mit welcher Arro- Fraktionschef der SPD ihn aber trotzdem für den besse- ganz der Macht Sie der Opposition begegnen. Ich kann ren Kanzler, weil Schröder mehr gehandelt und weniger Ihnen nur zurufen: Das wird Sie noch einholen. ausgelotet habe als Sie, Frau Bundeskanzlerin. Ich kann nur sagen: Herzlich willkommen im Tollhaus der großen (Beifall bei der FDP) Koalition! Mit der Reichensteuer beschränken Sie die Steuerbe- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lastungen ausschließlich auf Erwerbseinkommen. Das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Trotzdem wol- len Sie den Gesetzentwurf heute beschließen. Den Menschen in unserem Land wird erzählt, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer für die bevorstehenden Die Kürzung der Pendlerpauschale ist willkürlich von Reformen unabdingbar sei. Kurze Zeit später teilt uns Ihnen festgesetzt worden. Alle Experten haben Ihnen das der Vorsitzende der SPD-Fraktion in einem Interview in der Anhörung des Finanzausschusses unisono be- mit, dass man auf die größte Steuererhöhung in der Ge- scheinigt. Wie ich mir aber von meinen Kolleginnen und schichte unseres Landes auch hätte verzichten können, Kollegen im Finanzausschuss habe erklären lassen müs- wenn man bereit gewesen wäre, zu sparen. sen, sei das ein bisschen weniger verfassungswidrig als eine andere Lösung. „Ein bisschen verfassungswidrig“ (Beifall bei der FDP) gibt es aber ebenso wenig wie „ein bisschen schwanger“. Meine Damen und Herren, dass die große Koalition Wo leben wir denn, dass solche Abwägungen getroffen von Sparen nichts versteht und dass diese Bundesregie- werden? Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass die rung vom Schuldenmachen viel versteht, haben Sie mit Erkenntnis „verfassungswidrig ist verfassungswidrig“ der Vorlage des Bundeshaushaltes wahrlich bewiesen, bei Ihnen angekommen ist. (B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dieser hemdsärmelige Umgang mit dem Grundgesetz (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist unverantwortlich und im Grunde genommen nichts anderes als ein Beleg für Ihre hilflose Finanzpolitik, so nach dem Motto: Warum sollen wir sparen? Schulden Herr Steinbrück. Sie haben kein finanzpolitisches Kon- machen ist viel einfacher und Steuererhöhungen sind zept und picken wie ein blindes Huhn in unserem Steuer- noch leichter. – Die Politik der Steuererhöhungen ist system herum. Das ist keine nachhaltige Finanzpolitik. inzwischen das Markenzeichen dieser großen Koalition. So kommen wir in Deutschland nicht weiter. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Man kann ja über den Abbau von Steuervergünstigun- Frau Bundeskanzlerin, Sie sind die Kanzlerin der klei- gen reden, Herr Steinbrück, aber dann muss man die nen Schritte, aber bei den Steuererhöhungen geben Sie Menschen in Deutschland auch durch Tarifsenkungen Vo l lg a s. entlasten. Sie, meine Damen und Herren von der Union, (Beifall bei der FDP) haben das unisono im Wahlkampf gefordert und bleiben den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland die Entlas- Egal, was CDU/CSU und SPD anpacken, ohne Steuer- tungen schuldig. erhöhungen geht nichts: Haushaltskonsolidierung – via Steuererhöhungen; Auflage eines Wachstums- und Be- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Daut- schäftigungsprogramms, was nur Mitnahmeeffekte mit zenberg [CDU/CSU]) sich bringt – finanziert über Steuererhöhungen; Senkung Sie reden von Reformen und meinen Steuererhöhun- von Lohnnebenkosten – selbstverständlich über Steuer- gen. Sie reden von Haushaltskonsolidierung und meinen erhöhungen; Reform des Gesundheitswesens – ebenfalls Steuererhöhungen. Sie reden von Wachstum und Be- über Steuererhöhungen finanziert. Die große Koalition schäftigung, Frau Kanzlerin, und meinen immer nur steht für große Steuererhöhungen in unserem Land und Steuererhöhungen. Glauben Sie denn im Ernst, die Men- – hier können Sie, Frau Merkel, sogar einen Superlativ schen in Deutschland hätten nicht langsam gemerkt, dass vorweisen – die größte Steuererhöhung in der Ge- Sie sie hinter die Fichte führen? Ihre Politik ist doch eine schichte der Republik. Beleidigung für jeden denkenden Menschen in Deutsch- (Beifall bei der FDP) land. Sie erhöhen Steuern ohne Rücksicht auf die Men- (Florian Pronold [SPD]: Ihre Rede ist eine Beleidi- schen in unserem Land, ohne Rücksicht auf die Unter- gung für jeden denkenden Menschen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3975

Dr. Volker Wissing (A) Sie wollen nicht sparen, erwarten aber genau das von Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der (C) den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland. Die Men- Union, was Sie im Wahlkampf bekämpft haben, setzen schen in Deutschland müssen Ihre Politik des kleinsten Sie jetzt, da Sie in der Regierungsverantwortung sind, gemeinsamen Nenners künftig bei jedem Einkauf mit ei- um. Das gilt für die Reichensteuer genauso wie für das nem Zuschlag in Höhe der 3 Prozentpunkte finanzieren. Antidiskriminierungsgesetz, das Sie jetzt nicht mehr als Sie sollten übrigens bei dem Begriff „Merkel-Steuer“ rot-grünes, sondern als schwarz-rotes Gesetz mit einem bleiben. Das erspart der SPD das Umdenken und ist neuen Etikett verabschieden. Man könnte die Aufzäh- überaus zutreffend. lung beliebig fortsetzen. Die versprochenen Entlastun- gen sind alle ausgeblieben. Nur die Belastungen stehen (Beifall bei der FDP) bei Ihnen schnell im Gesetz. Sie küssen die rote Kröte Wissen Sie eigentlich, was Sie mit dieser Politik an- bis zum Gehtnichtmehr richten? Wir haben eine desolate Binnennachfrage. Sie aber entziehen den Menschen unentwegt Kaufkraft in (Florian Pronold [SPD]: Kröten sind schwarz Milliardenhöhe und gefährden Arbeitsplätze in diesem und nicht rot!) Land. Das ist in hohem Maße unsozial, meine lieben und wundern sich, dass am Ende kein edler Prinz vor Ih- Kolleginnen und Kollegen von der SPD. nen steht. Ich kann Ihnen nur sagen: Alles Lieben und (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Mit dem Herzen wird Ihnen nicht weiterhelfen. Aus dieser roten Begriff „sozial“ kennt ihr euch nicht aus!) Kröte wird kein Prinz. Sie beschließen mit der Mehrwertsteuererhöhung die (Beifall bei der FDP) höchste Steuererhöhung in der Geschichte unseres Lan- des. Sie legen uns heute einen Gesetzentwurf vor, der zu Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: weiteren Belastungen der Bürgerinnen und Bürger in Das Wort hat nun der Kollege Otto Bernhardt für die Milliardenhöhe führt, und planen bei der Gesundheitsre- CDU/CSU-Fraktion. form – ja, was denn wohl? – weitere Steuererhöhungen. (Beifall bei der CDU/CSU) Kürzlich habe ich Sie gefragt, Herr Steinbrück, ob Sie ausschließen können, dass es bei der Gesundheits- reform zu weiteren Steuererhöhungen kommt. Die Ant- Otto Bernhardt (CDU/CSU): wort lautete: Ich werde den Teufel tun. – Wie vom Teu- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und fel geritten kommt dann die SPD mit der Forderung nach Herren! Die große Koalition hat die Ziele ihrer Finanz- zusätzlichen Steuerbelastungen in Höhe von 40 Milliar- politik ganz klar im Koalitionsvertrag formuliert. Wir (B) den Euro für die Bürgerinnen und Bürger daher. Das wollen und müssen gleichzeitig zwei Ziele verfolgen: (D) kann in Deutschland nicht so weitergehen. nachhaltige Sanierung der öffentlichen Finanzen und Stärkung der Beschäftigung. Alle Maßnahmen, die wir (Beifall bei der FDP) bisher in den Bundestag eingebracht haben und die auch Große Steuererhöhungen, kleine Reförmchen, bei den heute zur Diskussion stehen, dienen diesen beiden Zie- Steuererhöhungen klotzen, beim Sparen kleckern und len. beim Schuldenmachen kräftig zugreifen: Das ist Ihre Ich will das Problem aufzeigen, weil die Rede meines Finanzpolitik. Dabei sind die Einnahmen gar nicht das Vorredners von der FDP den Eindruck erweckt hat, hier Problem, Herr Steinbrück. Das wissen Sie auch. Wir er- gebe es keine Probleme. In diesem Jahr – wir haben den zielen Steuereinnahmen in Rekordhöhe. Sie sprudeln Haushalt verabschiedet – werden wir neue Schulden in geradezu. Die Äußerung Ihres Fraktionsvorsitzenden Höhe von 38 Milliarden Euro machen. Diesen Schulden – er ist gerade nicht anwesend; er entzieht sich offenbar stehen Neuinvestitionen in der Größenordnung von dieser Debatte –, 23 Milliarden Euro gegenüber. Es ist unser Ziel, im (Jörg Tauss [SPD]: Es lohnt sich ja nicht, zu- nächsten Jahr nicht nur einen Haushalt vorzulegen, der zuhören!) den Maastrichtkriterien entspricht – das ist eine nicht ganz so schwierige Aufgabe –, sondern wir sind ent- die Mehrwertsteuererhöhung sei überflüssig gewesen, schlossen und haben das im Koalitionsvertrag niederge- kann man anhand der hohen Steuereinnahmen in legt, im nächsten Jahr einen Haushalt vorzulegen, der Deutschland sehr gut begründen. Aber Sie tun nicht das, dem Art. 115 des Grundgesetzes gerecht wird. Das heißt, was nötig ist. Sie erkennen die Realität nicht an. Deswe- dass die Neuverschuldung etwa 15 Milliarden Euro we- gen kommen Sie mit einer solchen Politik nicht weiter. niger betragen muss. Unsere Haushaltspolitiker haben es Ihnen vorge- Das ist unser Ziel. Die hier wieder zitierte Erhöhung macht. Mit dem liberalen Sparbuch haben sie Ihnen kon- der Mehrwertsteuer macht bezogen auf dieses Ziel krete Einsparvorschläge vorgelegt, die Sie alle abgelehnt 7 Milliarden Euro aus. Sie wissen, dass von den 3 Pro- haben. Damit haben Sie unter Beweis gestellt, dass Sie zentpunkten der Mehrwertsteuererhöhung 1 Prozent- nicht zu Einsparungen bereit sind. So leicht kann man es punkt für den Abbau der Lohnnebenkosten verwendet sich machen: dem Bürger in die Tasche greifen und vom wird, 1 Prozentpunkt für die Sanierung der Länderfinan- Sparen sprechen, aber selbst keinen einzigen Beitrag zen und 1 Prozentpunkt für die Sanierung der Bundes- dazu leisten. finanzen. Das bedeutet, dass wir außer dieser Summe (Beifall bei der FDP) noch Einsparungen in Höhe von 8 Milliarden Euro oder 3976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Otto Bernhardt (A) höhere Einnahmen brauchen. Wir konzentrieren uns auf schale anzutasten. Das hätte allerdings indirekte (C) Einsparungen. Steuererhöhungen für jeden und höheren Bürokratieauf- wand bedeutet. (Lachen des Abg. Hellmut Königshaus [FDP]) Wir haben uns in der großen Koalition letztlich zu fol- Das Gesetz, um das es heute geht, umfasst neun Maß- gender Haltung durchgerungen: Die höchsten Belastun- nahmen. Diese Maßnahmen werden bereits im nächsten gen haben diejenigen zu tragen, die von ihrem Arbeits- Jahr ein Volumen von gut 2 Milliarden Euro ausmachen platz besonders weit entfernt wohnen. Deshalb sollen die – davon je etwa die Hälfte für den Bund und für die Län- knappen Mittel den Fernpendlern zugute kommen; sie der – und in den folgenden Jahren etwa 4 Milliarden erhalten weiterhin 30 Cent pro Kilometer. Ich glaube, Euro. Wir diskutieren also heute über einen Abbau der dies ist eine vernünftige Lösung. Wir haben im Aus- Neuverschuldung, Herr Kollege von der FDP, der in die- schuss über die Verfassungsrechtlichkeit lange disku- ser Legislaturperiode eine Größenordnung von etwa tiert. Wie Sie wissen, hat die Regierung klar gesagt: Ver- 10 Milliarden Euro hat. Es spricht für den Mut der gro- fassungsrechtlich ist das in Ordnung. ßen Koalition, dass wir zum Teil sehr unpopuläre Maß- nahmen – ich werde gleich zwei Punkte besonders er- Hier wird der Eindruck erweckt, die große Koalition wähnen – ergreifen; denn wir meinen es wirklich ernst sei sozusagen ein Bündnis für mehr Steuern. mit der nachhaltigen Sanierung der öffentlichen Finan- zen. Ich stimme dem Minister zu: Zu dieser Politik gibt (Jürgen Koppelin [FDP]: Sehr wahr!) es keine Alternative. Diese Aussage ist so nicht richtig. Sie müssen alle Mosa- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) iksteine sehen; Sie dürfen sich nicht einen heraussuchen. Um die Beschäftigung zu stärken, werden wir an zwei Ich will die beiden Punkte herausgreifen, die auch ganz wichtigen Punkten umfangreiche Steuersenkungen mein Vorredner angesprochen hat. Der eine ist der Zu- vornehmen. schlag von 3 Prozent auf das Einkommen so genannter Besserverdienender. Bei Alleinveranlagung greift diese Die große Koalition wird sicherstellen, dass ab dem Maßnahme ab einem Einkommen von 250 000 Euro, bei 1. Januar kommenden Jahres beim Übergang einer gemeinsamer Veranlagung ab einem Einkommen von Firma an die nächste Generation unter bestimmten Vo- 500 000 Euro. Wenn jemand 300 000 Euro verdient und raussetzungen überhaupt keine Steuern anfallen. Das ist allein veranlagt wird, dann zahlt er für die Differenz zu ein wichtiger Beitrag zur Sicherung von Arbeitsplätzen, 250 000 Euro, also 50 000 Euro, eine in der Presse so insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft. genannte Reichensteuer in Höhe von 1 500 Euro. Bezo- (Beifall bei der CDU/CSU) gen auf sein gesamtes Einkommen ist das 0,5 Prozent. (B) (D) Das kann natürlich jeder leisten, der ein solches Einkom- Wir befinden uns zudem mitten in der Diskussion um men hat. Die Frage ist nur – darüber haben wir uns inten- eine Neuordnung der Unternehmensbesteuerung. Wir siv unterhalten –: Ist das das richtige Signal? Teile der haben hier Diskussionsbedarf. Das kann bei einem sol- Koalition sagen: Das ist das richtige Signal; denn der chen Thema nicht überraschen. Aber an einem Punkt Normalbürger muss manches ertragen und unter dem sind wir uns – das können Sie allen Äußerungen entneh- Gesichtspunkt der Solidarität sollten die, die besonders men – im Grundsatz einig: Wir müssen die steuerliche viel verdienen, einen besonderen Beitrag leisten. Das ist Belastung deutscher Firmen deutlich reduzieren, damit die eine Argumentation. wir im internationalen Wettbewerb, insbesondere inner- halb der EU, konkurrieren können. Sie alle wissen, dass Die andere Argumentation lautet: Dies könnte dazu wir mit knapp 39 Prozent Gesamtbelastung – Körper- führen, dass noch mehr gut Verdienende in Deutschland schaftsteuer, Solidaritätszuschlag und Gewerbesteuer – gar keine Steuern mehr zahlen. Dann wäre es sicher ein die Spitzenposition in Europa haben, und zwar nicht, falsches Signal. Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich: weil wir die Steuern erhöht haben, sondern weil die an- Große Koalition heißt, dass man aufeinander zugehen deren sie schneller gesenkt haben. Hinzu kommt, dass und Kompromisse schließen muss. Diese Maßnahme ha- die EU Länder mit sehr niedrigen Steuersätzen aufge- ben wir im Koalitionsvertrag nun einmal vereinbart. Für nommen hat. einige Sozialdemokraten handelt es sich hierbei um Ka- viar. Für mich handelt es sich eher um eine Kröte. Ich Jetzt diskutieren wir darüber, dass diese Steuerbelas- stelle aber klar: Wir stehen zu diesem Punkt und wir tra- tung von bisher circa 39 Prozent in Richtung 29 Prozent gen ihn mit. gesenkt werden soll. Das, was selbst einige Journalisten als eine Senkung um 10 Prozent bezeichnen, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Auch Kröten legen Eier!) (Florian Pronold [SPD]: Nominal!) Die Änderung der Pendlerpauschale – der zweite ist in Wirklichkeit eine Senkung um rund 25 Prozent. Punkt, den ich ansprechen will – hat natürlich erhebliche Das heißt, diese Koalition hat die Absicht – die FDP Auswirkungen auf Millionen von Arbeitnehmern. Damit sollte einmal sehr aufmerksam zuhören –, die größte die Größenordnung klar ist – unser Ziel ist die Haus- Steuersenkung für Betriebe vorzunehmen, die es nach haltssanierung –: Es geht um 2,5 Milliarden Euro im dem Kriege gegeben hat. Jahr. Natürlich haben wir unterschiedliche Modelle dis- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kutiert. Einige haben 15 Cent für jeden Kilometer emp- fohlen. Andere haben empfohlen, die Arbeitnehmerpau- Hier geht es uns um die Sicherung von Arbeitsplätzen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3977

Otto Bernhardt (A) Vor diesem Hintergrund zeigt auch dieses Gesetz, das Es gibt keine gesunde Volkswirtschaft in Europa, die (C) wir heute verabschieden werden, dass die große Koali- diesem Ziel nicht eine große Bedeutung gegeben hat. tion den Mut hat, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen, Das werden wir tun. dass sie ein ausgewogenes Konzept hat: Steuersenkung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dort, wo dringend erforderlich, Abbau von Subventio- nen, auch wenn unpopulär. Mit diesem Konzept werden wir das erreichen, was wir uns vorgenommen haben, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nämlich endlich wieder einen Haushalt vorzulegen, der Das Wort hat der Kollege Dr. Gregor Gysi für die sowohl den EU-Kriterien als auch dem Grundgesetz ent- Fraktion Die Linke. spricht. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): An diesem Problem arbeiten wir. Das ist gut und wich- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wol- tig. len heute leider wieder ein Steuergesetz beschließen, das (Beifall bei der CDU/CSU) mit sozialer Gerechtigkeit und mit wirtschaftlichem Auf- schwung nichts zu tun haben wird; ganz im Gegenteil. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich werde versuchen, das zu begründen. Ich habe mir Herr Kollege, gestatten Sie – Sie hätten noch Zeit – dazu vier Punkte herausgesucht. eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin? Sie wollen die steuerliche Absetzbarkeit der Aufwen- dungen für Arbeitszimmer stark reduzieren. Sie ver- Otto Bernhardt (CDU/CSU): sprechen sich dadurch Mehreinnahmen von 300 Millio- Immer. nen Euro. Das trifft in erster Linie Lehrerinnen und Leh- rer, aber auch andere Berufsgruppen. Das bedeutet für sie natürlich eine Nettolohnkürzung und nichts anderes. Jürgen Koppelin (FDP): Sie haben kein einziges Argument genannt, das die Net- Kollege Bernhardt, da man bei Ihrer Rede merkte, tolohnkürzung rechtfertigen würde, zumal die Betroffe- wie schwer Sie sich bei dem tun, was wir heute diskutie- nen seit Jahren kaum Lohnsteigerungen erlebt haben. ren, folgende Frage: Gibt es nicht Alternativen? Sie kommen aus Schleswig-Holstein und waren Mitglied Sie haben außerdem vor, beim Kindergeld und Kin- des Schleswig-Holsteinischen Landtags. Ich will Ihnen derfreibetrag zu sparen, und zwar dergestalt, dass man ein Zitat vortragen. Es stammt vom früheren schleswig- das nur noch bis zum 25. Lebensjahr und nicht mehr bis (B) holsteinischen Wirtschaftsminister Peer Steinbrück. Er zum 27. Lebensjahr erhält. Es ist interessant, das mit ei- (D) erklärte damals: ner anderen Zahl zu vergleichen. Das durchschnittliche Alter der Studierenden zu dem Zeitpunkt, zu dem sie ih- Die Steuer- und Abgabenquote ist eindeutig zu ren Abschluss machen, liegt bei 28 Jahren. Das heißt, hoch. drei Jahre lang stellen Sie die Leute ohne Einnahme. (Beifall bei der SPD, der CDU und der F.D.P.) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Übergangsre- Sie ist aus der Perspektive der Arbeitgeber zu hoch … gelung!) Sie ist zu hoch aus Sicht der Arbeitnehmer … Was heißt das konkret? Das heißt, dass Sie die Aus- Ich füge hinzu – ganz deutlich! –: Die Staatsquote bildungszeit nicht verkürzen, sondern verlängern, ist auch zu hoch. Sie ist zu hoch. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD, der CDU und der F.D.P.) weil die Betroffenen nebenbei arbeiten müssen, um ihr Vor diesem Hintergrund ein konsensorientiertes Er- Studium überhaupt noch absolvieren zu können. gebnis hinzukriegen, wie man Jahr für Jahr, nicht (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Haben Sie den bruchartig, sondern schrittweise, davon wieder run- Gesetzentwurf überhaupt gelesen?) terkommt, halte ich des Schweißes der Edlen wert. Jetzt sollen noch Studiengebühren der Universitäten da- Wäre das nicht der richtige Weg? zukommen. Jeder kann sich ausrechnen, wohin das führt. Das wird eine ganz elitäre Geschichte. Otto Bernhardt (CDU/CSU): (Beifall bei der LINKEN) Herr Kollege Koppelin, Sie wissen, dass die Staats- quote in Deutschland Gott sei Dank rückläufig ist. Sie Die Kinder von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern kennen die Zahlen des Statistischen Bundesamts. Sie haben kaum noch Chancen, zu studieren. Das ist damit wissen, dass wir durch die Senkung der Lohnnebenkos- verbunden! ten oder Lohnzusatzkosten – was immer der bessere Davon versprechen Sie sich Mehreinnahmen von Begriff ist – erstmalig die Chance haben, da unter 534 Millionen Euro – schon eine ganze Menge. 40 Prozent zu kommen. Das zeigt: Die große Koalition ist auch auf diesem Gebiet auf dem richtigen Weg. Dort Dann reduzieren Sie den Sparerfreibetrag. Jemand, werden wir weiterarbeiten. Ich sage noch einmal: Die der allein stehend ist, hat bisher einen Sparerfreibetrag Sanierung der Staatsfinanzen ist ein grundlegendes Ziel. von 1 370 Euro, Verheiratete haben einen solchen von 3978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Gregor Gysi (A) 2 740 Euro. Das reduzieren Sie auf 750 Euro bzw. nahme in Höhe von 2,5 Milliarden Euro. Übrigens be- (C) 1 500 Euro. Das machen Sie in einer Zeit, in der Sie trifft das auch diejenigen, die den öffentlichen Nahver- selbst beschließen, dass man die gesetzliche Rente später kehr benutzen. Auch diese dürfen Entfernungen bis zu erst mit 67 Jahren bekommt, in der Sie selbst sagen, dass 20 Kilometer nicht mehr geltend machen. So müssen sie die Rente verringert werden wird. In dieser Situation re- auch die Preissteigerungen im öffentlichen Nahverkehr, duzieren Sie den Sparerfreibetrag. In einer Zeit, in der die es in fast jeder Kommune gibt, künftig alleine tragen. Sie den Leuten jeden Tag erklären, sie müssten privat All das wollen Sie hier beschließen. vorsorgen, greifen Sie gleichzeitig mit der Steuer zu. Sie Selbst die Union will sich so entscheiden, obwohl sie haben nicht einmal die Fähigkeit zu einer gewissen Lo- doch sonst immer vom flexiblen Arbeitsmarkt redet und gik. Man kann nicht beides miteinander verbinden. sagt, man kann sich nicht mehr aussuchen, in welcher (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Stadt man arbeitet, sondern muss auch größere Entfer- neten der FDP) nungen in Kauf nehmen. Zugleich sagen Sie aber, bei Entfernungen von bis zu 20 Kilometern erstatten wir Nehmen wir es konkret: Bei einer Verzinsung von nichts mehr. 5 Prozent bedeutet das, dass jemand schon bei einem Sparguthaben von 16 020 Euro Steuern bezahlen muss; Ich halte das auch für grundgesetzwidrig, und zwar bisher waren es 32 040 Euro. unter anderem deshalb, weil wir das Nettolohnprinzip haben und weil das Bundesverfassungsgericht schon (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wo bekom- entschieden hat, dass die Aufwendungen, die man hat, men Sie das denn?) um ein Arbeitsentgelt zu erzielen, abzugsfähig sein müs- – Es kommen auch wieder bessere Zeiten. Sie wollen sie sen. Sie sagen aber, sie sollen nicht mehr abzugsfähig doch schaffen. Also glauben Sie doch wenigstens an sein. Ich denke, dazu werden wir eines Tages eine Ent- eine Verzinsung von 5 Prozent, auch wenn wir im Au- scheidung des Bundesverfassungsgerichts erleben, die genblick davon weit entfernt sind. Ihnen möglicherweise nicht gefällt. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Leo (Beifall bei der LINKEN) Dautzenberg [CDU/CSU]: Wolkenkuckucks- Wenn ich das Ganze zusammennehme, komme ich heim!) auf eine Kaufkraftreduzierung um über 4 Milliarden Das heißt, schon bei der Hälfte des bisherigen Betrages, Euro nächstes Jahr. Das müssen die Lehrerinnen und der auch schon ein lächerliches Sparguthaben für eine Lehrer, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Altersvorsorge darstellte, müssten Steuern gezahlt wer- die Kleinsparer aufbringen. Das würde auch wirtschaftli- che Folgen haben: Das Ergebnis wird sein, dass kleine (B) den. (D) und mittlere Unternehmen Insolvenz anmelden müssen, Dann kommt der dickste Brocken: die Entfernungs- weil sie weniger Waren bzw. Dienstleistungen verkau- pauschale. Da erhoffen Sie sich Mehreinnahmen von fen. Dann werden wir mehr Arbeitslose haben. Ich sehe 2,5 Milliarden Euro. Das heißt, dieses Geld nehmen Sie schon, wie dann von Ihnen Anträge kommen, auf welche den Leuten weg, sonst könnten Sie nicht mit solchen Weise man Arbeitslose stärker drangsalieren und ihnen Mehreinnahmen rechnen. Mittel kürzen kann. Das wird die Folge sein. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) 15 Millionen Steuerpflichtige machen derzeit die Entfer- Zum Schluss gibt es dann noch ein Tröpfchen, die nungspauschale geltend. Die Hälfte davon erhält sie Reichensteuer. Sie haben Recht, Herr Bundesminister nach Ihrer Neuregelung nicht mehr, weil sie Entfernun- Steinbrück, mit symbolischer Handlung hat das nichts zu gen von bis zu 20 km bisher geltend gemacht hat, die tun. Das ist weniger als ein Witz. dann nicht mehr geltend gemacht werden dürfen. Aber auch die andere Hälfte bekommt deutlich weniger: Je- (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) mand, dessen Entfernung zur Arbeitsstätte 50 Kilometer Ich muss das wirklich einmal erklären: Unter Helmut beträgt, erhält nicht mehr einen Ersatz für diese 50 Kilo- Kohl gab es einen Einkommensteuerspitzensatz von meter, sondern nur noch für 30 Kilometer. 53 Prozent. Union und FDP haben sich tapfer bemüht, Das kostet die Steuerzahler richtig Geld; wir haben diesen zu senken, aber damals standen die SPD und auch das ausgerechnet. Nehmen wir einmal ein Ehepaar mit andere dagegen; einem Kind, das heute täglich 20 Kilometer hin und zu- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Herr Lafontaine!) rück zur Arbeitsstätte fährt: Bei einem Jahreseinkommen von 48 000 Euro hieße das, dass es zusätzlich 516 Euro deshalb fiel es Ihnen schwer. Bis zu Kohls Abgang aufwenden muss, bei einem Jahreseinkommen von wurde ein Steuersatz von 53 Prozent auf Einkommen 60 000 Euro wären es sogar 565 Euro. über 60 000 Euro bei Alleinstehenden bzw. über 120 000 Euro bei Verheirateten erhoben. Dann kam Ger- (Florian Pronold [SPD]: Weil Sie den Arbeit- hard Schröder; die Welt änderte sich. Der Spitzensteuer- nehmerpauschbetrag mit einrechnen!) satz bei der Einkommensteuer wurde um 11 Prozent auf 42 Prozent für all diejenigen gesenkt, die mehr als Das ist die Wahrheit. Das müssen die Leute hergeben 60 000 Euro bzw. 120 000 Euro verdienten. bzw. es fällt weg, weil sie es nicht mehr geltend machen können. Auf diese Weise erzielen Sie Ihre Mehrein- (Otto Fricke [FDP]: 11 Prozentpunkte!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3979

Dr. Gregor Gysi (A) – Okay. – Das haben Sie ja wahnsinnig gefeiert. Was ha- 7 Milliarden Euro durch die Senkung des Spitzensteuer- (C) ben die Haushalte dadurch an Geld verloren – diese Zahl satzes bei der Einkommensteuer geschenkt haben. ist ja auch einmal interessant –: 7,2 Milliarden Euro we- (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei niger Einnahmen aufgrund der Senkung des Spitzensteu- der SPD) ersatzes der Einkommensteuer! Jetzt stellen Sie sich hin und verlangen von Lehrerinnen und Lehrern, von Klein- Wenn man das Ganze dann noch in Verbindung mit sparern und von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der Mehrwertsteuererhöhung in Höhe von 3 Prozent- über 4 Milliarden Euro zurück, weil Sie damals den Bes- punkten im nächsten Jahr setzt – sie trifft doch auch die ser- und Bestverdienenden reichlich darüber hinaus, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und alle ande- nämlich über 7 Milliarden Euro, gegeben haben. Diesen ren – und wenn man dann noch hört, dass Sie jetzt am Zusammenhang muss man einmal herstellen. Wochenende beschließen, dass die Gesundheitsreform aus Steuermitteln bezahlt werden muss, dann bekommt (Beifall bei der LINKEN) man wieder den Eindruck, dass 250 Millionen Euro an Belastungen für die Reichen kommen und viele, viele Nun sagen Sie zwar, jetzt müssen auch diese irgend- Milliarden Euro für die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- wie zur Kasse gebeten werden. Da fällt Ihnen aber nur nehmer und die anderen. Dadurch machen Sie diese Ge- eine Zusatzsteuer in Höhe von 3 Prozent ein, und zwar sellschaft nicht nur grob sozial ungerechter, sondern das für Leute, die als Alleinstehende mehr als 250 000 Euro wird auch verheerende wirtschaftliche Folgen haben. bzw. als Verheiratete mehr als 500 000 Euro verdienen. Der Kaufrausch, von dem jetzt in den Zeitungen zu Sie dürfen das aber nicht aus Gewinnen erwirtschaf- lesen ist, wenn man ihn überhaupt so bezeichnen kann ten, also nicht als Unternehmerin oder Unternehmer, – er hat übrigens nichts mit der Fußballweltmeisterschaft auch nicht aus der Forst- und Landwirtschaft, auch nicht zu tun; das ist Blödsinn! –, hat damit zu tun, dass die aus einem Gewerbebetrieb: Es bleiben praktisch nur die Leute Angst vor den Steuererhöhungen im nächsten Jahr Festangestellten übrig. Deshalb ist Ihr Argument, dass haben. 3 Prozentpunkte Mehrwertsteuererhöhung ist na- sie alle weggehen könnten, ziemlicher Blödsinn. Selbst türlich eine Menge. Da entscheiden sich viele, lieber wenn sie weggingen, würden andere eingestellt. Diese jetzt zu kaufen. Im nächsten Jahr wird es dann den Rein- würden das Geld dann verdienen. Das Argument zieht fall und wieder eine höhere Arbeitslosenzahl geben. hier also gar nicht. Dann stehen Sie wieder hier und machen Gesetzent- würfe – leider nicht gegen die Arbeitslosigkeit, sondern (Beifall bei der LINKEN) gegen Arbeitslose. Das Ganze ist nicht hinnehmbar. Es ist auch nicht vertretbar. Die Zusatzsteuer dieser kleinen Gruppe liegt bei (B) 3 Prozent. Jetzt muss ich einmal erklären, was das heißt. Ich sage Ihnen noch einmal: Wir haben keine Illusio- (D) Es geht ja um das steuerpflichtige Einkommen. Das be- nen und sind nicht einfach nur dagegen. Wir machen Ih- deutet, ein Ehepaar muss viel mehr als 500 000 Euro nen auch Vorschläge. Wir haben gesagt: Wir brauchen verdienen, damit es auf ein steuerpflichtiges Einkommen eine gerechte Körperschaftsteuer. Wir haben über eine von 500 000 Euro kommt – da gibt es ja Freibeträge und internationale Börsensteuer geredet. Wir haben darüber alles Mögliche. Wenn dann alles abgezogen ist, dann ha- geredet, wie eine gerechte Einkommensteuer aussehen ben sie zum Beispiel noch 505 000 Euro. Dann sagen kann. Aber zu all diesen Wegen sind Sie nicht bereit. Sie im Ernst, Herr Steinbrück: Als wichtiges Signal Die Deutsche Bank macht ihre Pressekonferenz und müssen sie für die letzten 5 000 Euro 3 Prozent mehr berichtet von wunderbaren, tollen Gewinnen. Danke Steuern zahlen. Das ist weniger als ein Witz; sie werden schön, Gerhard Schröder! Wir entlassen gleich einmal darüber lachen. Ich weiß nicht, ob sich überhaupt je- wieder 8 000 Leute. mand bereitfindet, deswegen zum Bundesverfassungsge- richt zu gehen. Der nächste Konzern macht seine Pressekonferenz, bedankt sich auch für den größten Gewinn seiner Ge- (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) schichte und entlässt 10 000 Leute. Allianz macht jetzt eine Pressekonferenz, hatte den größten Gewinn im letz- Hier hat die FDP leider nicht Unrecht; denn es gibt ten Jahr und sagt: 7 500 Leute werden wir jetzt entlas- ein verfassungsrechtliches Argument. Es hat einen Zug sen. – Das Versprechen, dass die Steuergeschenke an von Willkür, wenn man sagt: ab 500 000 Euro. Wieso Konzerne zu mehr Arbeitsplätzen führen, ist widerlegt. nicht vorher? Wieso verlassen Sie plötzlich die Geradli- Das gilt ebenso für die Geschenke an die Reichen und nigkeit in der Steuergesetzgebung und machen einen die Bestverdienenden. Riesensprung, der überhaupt nicht nachvollziehbar ist? (Beifall bei der LINKEN) Was versprechen Sie sich für eine Mehreinnahme? Sie müssten den Mut haben, auch einmal von den 250 Millionen Euro. Ich möchte das einer anderen Zahl Konzernen, Reichen und Bestverdienenden mehr Steu- gegenüberstellen. Sie sagen, die Reichen – zumindest ern zu fordern. Sie wollen das nicht. Ihnen fehlt der Mut. ein ganz kleiner Teil der Reichen – sollen 250 Millionen Das ist das Problem der Koalition. Deshalb geht Ihr He- Euro und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Klein- rumeiern immer zulasten derselben Gruppen: der Rent- sparer, Lehrerinnen und Lehrer 4,084 Milliarden Euro nerinnen und Rentner, der Arbeitslosen und der Arbeit- zahlen. Das ist Ihre Art von Gerechtigkeit, die Sie orga- nehmerinnen und Arbeitnehmer. nisiert haben, nachdem Sie den Best- und Besserverdie- nenden, wie ich es vorhin begründet habe, über (Beifall bei der LINKEN) 3980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: schwierigen haushaltspolitischen Bedingungen nicht (C) Zur unmittelbaren Erwiderung auf diese Rede erteile möglich, eine Regelung zu finden, nach der wir Fern- ich das Wort dem Bundesminister Peer Steinbrück. pendler weiter unterstützen – (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: NEN]: Fangen Sie doch bei Ihrem eigenen Job Ich mache es kurz, meine sehr geehrten Damen und und Ihrem Weg zum Arbeitsplatz an! Gehen Herren. Aber man darf die Demagogie und auch manche Sie mit gutem Beispiel voran!) Aussage auf Klippschulenniveau so nicht stehen lassen; – ja, ich komme mit dem Fahrrad, wenn es sein muss –, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Re- aber die, die im Nahbereich tätig sind, an den notwendi- nate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gen Konsolidierungsschritten, die wir unternehmen müs- Parlamentarismus in einem freien Land! Wa- sen, teilhaben lassen? rum liegen denn die Nerven bei Ihnen so blank?) Fazit – um die Intervention nicht zu sehr in die Länge zu ziehen –: Ihre Reden zeichnen sich immer dadurch denn sonst könnte sich, auch bei denjenigen, die uns zu- aus, dass Sie sich punktuell etwas herausgreifen, was hören, der Eindruck verfestigen, wir hätten plötzlich eine aber mit der Bandbreite der Wirklichkeit in unserer Ge- verkehrte Welt. sellschaft und unserer Wirtschaft nichts zu tun hat. Ich Herr Gysi, Sie wären noch beeindruckender, wenn Sie, finde, das muss gelegentlich korrigiert werden. insbesondere im Zusammenhang mit den Einkommen- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) steuerreformen in der Vergangenheit, berücksichtigen würden, dass nicht nur der Spitzensteuersatz abgesenkt worden ist, sondern vor allen Dingen der Eingangsteuer- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: satz, nämlich von 26 Prozent auf 15 Prozent. Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Gregor Gysi. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Die Freibeträge für die Geringst- und Geringverdiener Herr Bundesminister, lassen Sie mich als Erstes einen sind deutlich erhöht worden, mit dem Effekt, dass je- Satz zu den Lehrern sagen. Natürlich unterrichten Lehre- mand, der verheiratet ist und zwei Kinder hat, unter An- rinnen und Lehrer an der Schule; aber die ganze Vorbe- rechnung des Kindergeldes bis zu einem Verdienst von reitung, die Korrektur von Klassenarbeiten etc. müssen 37 000 Euro in Deutschland keine Steuern zahlt. sie zu Hause erledigen, da sie in der Schule alle kein (B) Büro haben. Deshalb ist das häusliche Arbeitszimmer (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der immer anerkannt worden. CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Das heißt, was Sie mit Blick auf die Effekte der Steuer- reformschritte der letzten Jahre dargestellt haben, korres- Zweitens. Der Weg von der Wohnung zur Arbeit pondiert überhaupt nicht mit den Fakten. Es ist reine De- und von der Arbeit zur Wohnung gehörte in Deutsch- magogie, die Sie da verbreiten. land, im Unterschied zu anderen Ländern, immer zur Ar- beitswelt. Das hat eine jahrzehntelange Tradition und ist (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) vom Bundesverfassungsgericht das letzte Mal 2002 aus- Dasselbe gilt, wenn Sie sich populär geben – mein drücklich dahin gehend bestätigt worden, dass der Auf- Sohn würde sagen: sich ranwanzen – und zum Beispiel wand, um ein Einkommen erzielen zu können, in Bezug beim Thema Arbeitszimmer auf die Lehrer abheben. auf die Steuer absetzungsfähig sein muss. Wenn Sie das Das maßgebliche Steuerkriterium bezieht sich auf den heute anders regeln, dann kürzen Sie damit nichts ande- Ort der hauptberuflichen Tätigkeit. Ich habe den Ein- res als die Nettolöhne, reduzieren die Kaufkraft, schaf- druck, der Ort, wo die Lehrer tätig sein sollten, ist nicht fen soziale Ungerechtigkeit und schädigen die Wirt- ihr häusliches Arbeitszimmer, sondern die Schule. schaft. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/ (Beifall bei der LINKEN) CSU – Widerspruch bei der LINKEN) Drittens zur Einkommensteuer; das war ja Ihr wich- Das ist ein Abgrenzungskriterium. Um das ganz deutlich tigster Einwand. Es stimmt, auch die Eingangsteuersätze zu machen: Die Steuergelder der Bürgerinnen und Bür- sind gesenkt worden. Aber die Steuerausfälle sind ganz ger sollen nicht dazu dienen, jedwede Entscheidung be- überwiegend durch die Senkung des Spitzensteuersatzes züglich einer teilweise beruflichen Tätigkeit zu Hause zu um 11 Prozentpunkte entstanden. Das hat zu dieser subventionieren. Dieses Abgrenzungskriterium ist von wahnsinnigen Einbuße geführt. uns eingeführt worden. Dazu noch ein Hinweis. Wir können das gerechter Dasselbe gilt mit Blick auf die Pendlerpauschale. In machen. Ich kenne die Beispiele. Jemand von der CDU/ allen anderen europäischen Steuersystemen ist der Weg CSU hat wieder gesagt, dann würden die Leute das Land vom Wohnort zum Arbeitsort nicht Bestandteil der Ar- verlassen. Wie gesagt, bei Festangestellten ist das gar beitswelt. Warum soll es in Deutschland anders sein? kein Argument, aber bei anderen. Machen wir das doch Warum ist es in Deutschland unter den obwaltenden nach amerikanischem Recht! Wissen Sie, wie das dort Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3981

Dr. Gregor Gysi (A) geregelt ist? Übertragen auf Deutschland hieße das, dass Fraktionsvorsitzende der SPD, also eines Koalitionspart- (C) ein deutscher Staatsangehöriger, wenn er in einem ande- ners, dass dies eigentlich nicht notwendig gewesen wäre. ren Land lebt und dort Steuern zahlt, seine Steuererklä- Mit einer vernünftigen Einsparpolitik hätte man es auch rung und seinen Steuerbescheid ebenfalls in Deutschland schaffen können. Bingo! Wie muss das bei der Bevölke- einreichen muss. Wenn dann festgestellt wird, dass er in rung draußen im Lande ankommen? Deutschland mehr Steuern hätte zahlen müssen, muss er die Differenz zahlen. Denn solange er die deutsche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Staatsangehörigkeit hat, sind wir für ihn verantwortlich. sowie bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Sie sagen außerdem, dass wir eine Unternehmen- steuerreform brauchen. Das ist zwar unstrittig. Aber Sie Wenn er irgendwo entführt wird, geben wir Geld aus, um wollen eine Entlastung in Höhe von 8 Milliarden Euro. ihn zu retten. Das ist in Ordnung; aber dann müssen Das heißt im Klartext: 1 Prozentpunkt der Mehrwert- deutsche Staatsangehörige auch Pflichten gegenüber steuererhöhung geht für die Entlastung der Unternehmen Deutschland haben. Dann könnte Schumi in der Schweiz im Zuge der von Ihnen geplanten Reform drauf. Herr Fi- vereinbaren, was er will; er müsste seine Steuererklä- nanzminister, Sie sagen übrigens nie klar, worauf sich rung nach Deutschland schicken und im Falle einer Dif- die 8 Milliarden Euro beziehen. Ist diese Summe dem ferenz diese bezahlen. Dann hätten Sie gar keine Time Lag geschuldet, weil die Verbreiterung der Bemes- Schwierigkeiten, bei der Einkommensteuer einen ge- sungsgrundlage nicht sofort greift, oder meinen Sie tat- rechten Spitzensteuersatz einzuführen. sächlich, dass es eine Entlastung in Höhe von 8 Milliar- (Beifall bei der LINKEN) den Euro gibt? Darüber haben Sie uns bisher völlig im Unklaren gelassen, weil Sie mit einer Doppelstrategie arbeiten: Diejenigen, die gerne eine Entlastung haben Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wollen, sollen 8 Milliarden Euro hören und diejenigen, Herr Minister, wollen Sie erwidern? die dies nicht so gerne wollen, sollen hören, dass dies nur vorübergehend sei. So können Sie die Öffentlichkeit Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: nicht täuschen. Nein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Außerdem wollen Sie die Krankenversicherungs- Dann erteile ich dem Kollegen Fritz Kuhn von der beiträge und damit die Lohnnebenkosten senken. Sie Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen das Wort. sprechen davon, dass Sie allein für die Finanzierung der kinderbezogenen Leistungen mindestens 16 Milliarden (B) (Beifall der Abg. Renate Künast [BÜND- (D) bis 24 Milliarden Euro aus Steuermitteln brauchen. Sie NIS 90/DIE GRÜNEN]) sagen bislang in der Diskussion aber nicht, welche Steu- ern um wie viel erhöht werden sollen. Vorläufig haben Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie im Gesundheitswesen ein noch ganz anderes Pro- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! blem. Denn die 4,2 Milliarden Euro aus der Tabaksteuer Herr Steinbrück, wenn ich mir anschaue, wie Sie agie- werden nicht mehr als Zuschuss für die gesetzliche ren, dann kann ich nur sagen, dass die kühle Souveräni- Krankenversicherung verwendet, sondern in den Haus- tät, mit der Sie gestartet sind, allmählich einer gewissen halt eingestellt. Dadurch werden die Krankenversiche- Dünnhäutigkeit gewichen ist. Das zeigt sich auch heute rungsbeiträge um 4,2 Milliarden Euro steigen. Was Sie daran, wie Sie auf die Einwände im Rahmen der Debatte da machen, ist organisiertes Chaos. reagieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erst gehen die Beiträge hoch, dann sagen Sie, dass die Sie und Frau Merkel haben in den Debatten der letz- Beiträge durch Steuererhöhungen wieder sinken sollen. ten Wochen versucht, folgendes Bild zu zeichnen: Die Da können Sie doch nicht davon sprechen, dass Sie ei- Opposition übt sich im Einbringen von unbedeutenden nen Plan haben, wie es insgesamt in Deutschland weiter- Anträgen – mal hier eine Einsparung, mal dort eine Ein- gehen soll. sparung –, aber das stimmige, verlässliche und berechen- bare Gesamtkonzept kommt von der großen Koalition, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Solch eine Auf- wie Sie auch eben wieder sagten. Wenn ich mir die cha- regung an seinem Geburtstag!) otische Diskussion der letzten Tage anschaue und mir Zu dem Thema Sanierungsfall, den Frau Merkel aus- vor Augen führe, was jetzt gemacht wird und was noch gerufen hat: Sie haben keine klare Konzeption, wie die alles kommt, dann kann ich nur feststellen, dass Sie den Sanierung Deutschlands aussehen soll. Sie reden nur da- nie vorhandenen Überblick jetzt endgültig verloren ha- von, dass Sie ein stimmiges Konzept haben. Aber wenn ben. Ich will Ihnen aufzeigen, an welchen Punkten dies ich mir die Verteilungswirkungen anschaue, dann kann deutlich wird. ich nur sagen: Es sind die kleinen Leute, die im Großen Man sagt, dass wir zur Haushaltskonsolidierung drin- und Ganzen die von Ihnen geplante Sanierung bezahlen gend 24 Milliarden Euro aus der Erhöhung der Mehr- müssen. Denn tatsächlich werden durch die Mehr- wertsteuer brauchen. Sie beschließen diese Erhöhung wertsteuererhöhung oder Maßnahmen, die im Steuerver- mit Ihrer Mehrheit im Parlament. Aber dann sagt der änderungsgesetz 2007, über das wir heute diskutieren, 3982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Fritz Kuhn (A) enthalten sind, vor allen Dingen Menschen mit geringen Nötige und – das betone ich – Richtige gesagt. Und so (C) Einkommen getroffen. An dieser Tatsache kommen Sie etwas nennt ihr – das sage ich vor allem an die Genos- nicht vorbei. sinnen und Genossen von der SPD gerichtet – Reichen- steuer! Ihre Politik kann ich nur als Murks bezeichnen. Die Merkel-Regierung ist eine Murksregierung, weil sie kei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nen Gesamtüberblick hat. Herr Steinbrück, wenn Sie das Joachim Poß [SPD]: Das ist nicht unsere Wort- bestreiten – Sie schreien ja gerade auf, als würde es Ih- wahl!) nen wehtun –, dann sagen Sie einmal, wie die Belas- – Aber ihr verkauft es so. Herr Poß, wenn Sie in Ihrem tungswirkungen auf welche Einkommensgruppen in Kreisverband in Nöten sind und Ihnen gar nichts mehr Deutschland am Ende, also nach der Gesundheitsreform, einfällt, dann kommt die ominöse Reichensteuer, mit der aussehen. Haben Sie je eine Belastungsrechnung in die- Sie den Kopf aus der Schlinge ziehen wollen, was Ihnen sem Haus vorgelegt? Haben Sie gesagt, diese Einkom- aber nicht gelingt. mensgruppe trifft es so und jene so? Haben Sie ein Ge- samtkonzept für die Sanierung der Bundesrepublik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland vorgelegt? Nein, Sie haben es nicht. Sie sowie bei Abgeordneten der LINKEN) machen es einmal so und einmal so, einmal rauf mit den Sie wissen genau, dass diese Steuer in der vorliegen- Beiträgen und einmal runter mit den Beiträgen. So etwas den Form nicht verfassungskonform ist. Sie argumentie- bezeichne ich als gezielte Desinformation der Öffent- lichkeit ren: Wenn das Ganze ein Jahr lang nicht verfassungs- konform ist, dann ist das nicht so schlimm. Dann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) machen wir es anders. und nicht als berechenbaren, nachvollziehbaren und je- (Joachim Poß [SPD]: Der Begriff kam von der derzeit verlässlichen Plan. Sie haben heute in Ihrer Rede „Bild“-Zeitung!) wieder einen Selbstbeweihräucherungsakt unternom- – Jetzt beruhigen Sie sich, Herr Poß. Bei Ihnen gibt es men. ein ganz sicheres Gesetz: Wenn Poß laut wird, dann tut Wir sagen: Das ist Murkspolitik. Die Merkel-Regie- es weh, weil irgendein Unsinn, den er mitbeschlossen rung macht organisierten Murks, übrigens auch deshalb, hat, von diesem Rednerpult aus aufgedeckt wird. weil sie sich um die wirtschaftlichen Folgen dessen, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sie da macht, nicht kümmert. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das stimmt So werden wir das auch weiter handhaben. (B) doch nicht!) (D) Die Verfassungskonformität interessiert Sie also Die Wirkungen der einzelnen Maßnahmen auf die Kon- nicht. junktur scheinen sie nicht zu interessieren und der Wirt- schaftsminister kommt in diesen Debatten gar nicht vor. Die Verteilungswirkung hat Herr Gysi richtig be- schrieben: Das Aufkommen wird am Anfang, wenn Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Glück haben, maximal 124 Millionen Euro betragen. wie des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE] – Aber dies ist doch kein Ausgleich für die soziale Schief- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lage, die die Einsparpolitik, die Sie betreiben, bewirkt! NEN]: Wo ist er denn?) Ich muss die SPD nach Ihrer Zustimmung zu dieser Bon- Es gibt in diesem Kabinett keine Stimme, die danach sai-Reichensteuer wirklich fragen: Können Sie Ihr fragt, welche Auswirkungen die Maßnahmen, die Sie in schlechtes Gewissen, das Sie wegen der Mehrwertsteuer- der Haushaltspolitik und in der Finanzpolitik veranstal- erhöhung haben, mit solch einer Nummer einfach beru- ten, auf die Wirtschaft und die Konjunktur haben. Da- higen und fröhlich aus diesem Haus gehen und in die Fe- bei wissen wir doch, dass wir, wenn wir in Deutschland rien fahren? Sind Sie mit einer solchen Minimalsteuer so einen wirklich nachhaltigen Aufschwung wollen, nicht billig zu kaufen? nur den Umfang des Exports, so wie er sich zurzeit dar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellt, erhalten müssen, sondern auch die Binnenkonjunk- sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- tur zu einem stabilen Element des Wirtschaftswachstums KEN) in Deutschland machen müssen. Die Maßnahmen, die Sie hier präsentieren, sind das exakte Gegenteil. Es ist doch absurd. Herr Finanzminister, wenn Sie von der SPD einigermaßen seriös wären, dann würden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie sagen: Wir führen zuerst eine Unternehmensteuerre- Deswegen betone ich: Mit der Schröpf-die-Bürger-Poli- form durch, die es möglich macht, über die Frage zu re- tik, die Sie hier betreiben, machen Sie eine Antiwachs- den, was diejenigen, die mehr verdienen – egal ob sie tumspolitik, die spätestens im nächsten Jahr positive Ef- Angestellte oder Gewerbetreibende sind –, zu zahlen ha- fekte wieder reduzieren wird. ben. Nach einer Belastungsanalyse beschließen wir dann ein konsistentes System. Zu drei Punkten, die heute zur Abstimmung stehen, will ich kurz etwas sagen. Der erste Punkt ist die Rei- Ich betone noch einmal: Über Belastungsfragen reden chensteuer. Kollege Gysi hat, was den Begriff und die Sie gar nicht. Die versteckt der Finanzminister hinter all- tatsächlichen Verteilungswirkungen angeht, schon das gemeinen Sätzen, die lauten: Wir müssen einsparen. – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3983

Fritz Kuhn (A) Auch wir wissen, dass wir einsparen müssen; deswegen – ich betone: aufbaut und nicht abbaut –, kann man an (C) legen wir auch Alternativen vor. Aber wir müssen beim folgendem Beispiel sehen: Nach der Finanzausschusssit- Einsparen darauf Acht geben, dass es gerecht erfolgt und zung am 9. Mai hat es noch einen parlamentarischen die Konjunktur nicht ganz kaputtgeht, weil wir sonst die Abend gegeben. Im Zuge dessen haben Sie großzügig Spirale nach unten weiterdrehen und keine Effekte errei- eine Steuerbegünstigung für Gabelstaplerfahrer an den chen. Güterumschlagplätzen der Seehäfen in Höhe von 25 Millionen Euro beschlossen. Die Dankesschreiben Der zweite Punkt ist die Entfernungspauschale. Wir sind schon bei der Koalition eingetroffen. Also von we- als Grüne teilen die Auffassung, dass man hier Subven- gen Subventionsabbau: Sie reden davon, bauen jedoch tionen abbauen muss. Wir haben aber einen anderen Vor- systematisch neue auf, wo es Ihnen gerade recht ist. schlag gemacht; dieser ist verfassungskonform. Bei Ih- rem Vorschlag mahnt der Bundesrat schon an, ob er denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verfassungskonform sei. Wir würden die Entfernungs- pauschale um die Hälfte kürzen; sie aber für alle Entfer- Deswegen, Herr Finanzminister, machen Sie keine nungen gelten lassen. Denn eines muss man sagen: Der berechenbare, verlässliche, auf das große Ziel der Kon- Schritt, die Entfernungspauschale bis zum 20. Kilometer solidierung ausgerichtete Politik, sondern Sie veranstal- zu streichen, ist die reine Willkür. Erklären Sie einmal ten Steuermurks. jemanden, der in einer Entfernung von 19 Kilometer zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) seinem Arbeitsplatz gebaut hat, was Sie da veranstalten! Oder betrachten Sie die Zukunftswirkung! Die Wirkung solcher Gesetze wird sein, dass die Leute sagen: Dann Präsident Dr. : ziehe ich gleich weiter weg; denn die Baupreise sind dort Bevor die Kollegin Gabriele Frechen für die SPD- sowieso niedriger und ich bekomme dann noch etwas Fraktion als Nächste das Wort erhält, möchte ich darauf vom Finanzminister. – Das heißt, Sie werden den Pro- hinweisen, dass wir nach einer vorhin in der Ältesten- zess der Zersiedelung und des Weit-weg-Wohnens vom ratssitzung getroffenen Vereinbarung über den Verfah- Arbeitsplatz mit solchen idiotischen Maßnahmen för- rensablauf bei den Abstimmungen am Schluss dieses Ta- dern. gesordnungspunktes eine namentliche Abstimmung haben werden und eine Zweidrittelmehrheit erforderlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sein wird. sowie bei Abgeordneten der FDP – Hans Mi- chelbach [CDU/CSU]: So ein Quatsch!) (Otto Fricke [FDP]: Der Anwesenden!) Ich frage Sie: Wollen Sie das? Dann sagen Sie, dass Sie Ich mache jetzt schon darauf aufmerksam, damit die (B) das wollen. Dann übernehmen Sie aber auch die Verant- Dispositionen für die Verfügbarkeit im Plenum rechtzei- (D) wortung für die Zersiedelung, die damit einhergeht. tig getroffen werden können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun hat Frau Kollegin Frechen das Wort. Zum Sparerfreibetrag ist das Notwendige gesagt worden. Das ist eine sowohl konjunkturpolitisch als Gabriele Frechen (SPD): auch mit Blick auf die Alterssicherung ganz fragwürdige Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Maßnahme. Diese Regelung betrifft besonders die Men- Kollegen! Lieber Herr Dr. Wissing, Sie haben eben ge- schen, die zum Zwecke der Alterssicherung eine Woh- sagt: Aus einer roten Kröte wird kein Prinz. Ich will gar nung im Wert von 200 000 Euro oder 300 000 Euro kau- kein Prinz werden und solange Sie mir nicht versprechen fen wollen; denn diese müssen dann darauf Steuern können, dass man auch eine Prinzessin werden kann, zahlen. Ich frage Sie: Wollen Sie das wirklich, und zwar bleibe ich doch lieber eine rote Kröte. besonders vor dem Hintergrund der sozialen und kon- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – junkturellen Auswirkungen? Ich kann dazu nur sagen: Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Sie sind keine Sie haben nicht genügend hingeschaut und eine sozial Kröte, Frau Kollegin! Sie sind eine Prinzes- und wirtschaftlich falsche Maßnahme beschlossen. sin!) Noch einmal: An dieser Stelle braucht dieses Kabinett Sie erzählen uns immer, was Sie alles richtig und besser endlich einen Wirtschaftsminister, der den Finger auf die machen, und zwar vor allem im Bereich der Steuern. Ich wirtschaftlichen Fragen legt, und keinen, der sich in den genieße es immer – auch wenn der Herr Westerwelle das entscheidenden Momenten drückt. gar nicht gerne hört –, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ich habe ge- Sie haben aber schon begriffen, dass Sie dort eine signi- sagt: Sie sind eine Prinzessin!) fikante Schwachstelle haben. Ihnen die Aussagen der Gutachter zu Ihrem Steuermo- Wir von den Grünen haben viele Vorschläge zum dell vorzutragen. Alle Gutachter, alle Länderfinanz- Subventionsabbau gemacht. Herr Steinbrück, ich bitte minister, waren sich einig, dass Ihr Modell zu einer er- Sie, einfach zu sagen, dass Sie die nicht wollen. Sie sa- heblichen sozialen Schieflage führt. Wenn Sie hier von gen immer, es gehe nicht und es gebe keine Alternative „sozial“ sprechen, muss man Ihnen immer wieder vor- zu Ihrer Politik. Es gibt aber Alternativen. Wie schnell halten, dass Sie mit Ihrer Steuerreform eine Verschie- im Übrigen die große Koalition Subventionen aufbaut bung von unten nach oben vorgesehen haben, und das 3984 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Gabriele Frechen (A) noch mit Steuereinnahmeverlusten in Höhe von gen, innere Sicherheit, Infrastruktur und vielen mehr für (C) 20 Milliarden Euro. die Menschen Aufgaben erfüllen kann. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein!) (Beifall bei der SPD) Erzählen Sie uns also nicht, wie es geht, und auch nicht, Doch dafür braucht man nun einmal so etwas Trivia- wie es besser gehen sollte. les wie Geld. Ich will keinen fetten Staat, aber auch kei- nen ausgehungerten. (Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Welches Gesetz meinen Sie denn?) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Darum haben Sie auch Wahlkampf gegen die Mehrwertsteuerer- Eine zentrale Aufgabe der großen Koalition ist die höhung gemacht!) Konsolidierung der Staatsfinanzen. Wir werden in 2007 die Regelgrenze des Art. 115 des Grundgesetzes und die Das Steueränderungsgesetz ist ein weiterer Schritt auf Maastrichtkriterien einhalten. Dazu bedarf es trotz er- dem Weg, die im Koalitionsvertrag vereinbarten Konso- heblich gestiegener Steuereinnahmen und trotz der guten lidierungsziele zu erreichen. Prognosen erheblicher Anstrengungen auf allen staatli- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Rekordverschul- chen Ebenen. Wir müssen weiter Subventionen abbauen, dung!) Ausgaben kürzen und die Einnahmen verbessern. Das alles geht nicht ohne Einschnitte. Ich bin mir aber ganz Als Nordrheinwestfälin, die fest zum Braun- und sicher, dass die Menschen erkennen, dass Einschnitte zur Steinkohleabbau steht, muss und werde ich hier heute Haushaltskonsolidierung notwendig sind, und dass sie die Abschaffung der Bergmannsprämie vertreten. auch bereit sind, ihren Beitrag dazu zu leisten, wenn sie Diese Prämie, die vor 50 Jahren als reine Subvention einsehen, dass die Forderungen nicht nur gerechtfertigt, eingeführt wurde, um Männern den Beruf des Berg- sondern auch gerecht sind. Wenn Sie aber immer wieder manns schmackhaft zu machen, wird mit diesem Gesetz behaupten, Subventions- und Ausgabenabbau wären ab 2008 gestrichen. Hiermit gehen wir – das muss ich reine Steuererhöhungen, dann springen Sie zu kurz. Das trotzdem sagen – ein ganz erhebliches Stück über die im ist, gelinde gesagt, unredlich. Koalitionsvertrag getroffene Vereinbarung hinaus, die nur die Abschaffung der Steuerfreiheit vorsieht. Ich hätte (Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing mich in diesem Punkt gerne an den Koalitionsvertrag ge- [FDP]: Die Deutschen merken doch, dass es halten. bei ihnen weniger wird! Entscheidend ist doch, dass die Menschen bei Ihrer Politik weniger Wir werden die Altersgrenze für den Bezug von Kin- im Geldbeutel haben!) dergeld in zwei Schritten auf 25 Jahre absenken. Außer (B) in Luxemburg wird nirgendwo in Europa so lange Kin- (D) Die Menschen bekommen eine Leistung vom Staat. dergeld gezahlt wie in Deutschland. In den meisten Län- Sie fordern diese Leistung zu Recht ein. Wir müssen uns dern wird es nur bis zum 18. Lebensjahr gezahlt. Wer natürlich fragen – Herr Dr. Wissing, das gilt auch für Sie –, den Bezug von Kindergeld im 26. und 27. Lebensjahr was der Staat heute noch leisten kann, was er in Zukunft für den Mittelpunkt aller familienpolitischen Aktivitäten leisten muss und was er dann noch leisten kann. hält, der verkennt die Realität vollkommen. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie haben doch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rekordeinnahmen!) der CDU/CSU) – Leider Gottes haben wir aber auch Rekordschulden. Wir haben uns Bildungs- und Forschungspolitik auf die Fahne geschrieben. Bildungs- und Forschungspolitik (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nicht „leider fängt aber nicht auf der Universität und nicht mit dem Gottes“, sondern das ist Ihre Politik! – 25. Lebensjahr an. Wir fördern Familien auf allen staatli- Dr. Volker Wissing [FDP]: Weil Sie Schulden chen Ebenen – Elterngeld, Kindertageseinrichtungen, machen!) Abzugsfähigkeit von Betreuungskosten, offene Ganz- – Sie würden es sich ganz einfach machen: Sie würden tagsschulen und dritthöchstes Kindergeld in Europa für die Zuschüsse zur Rentenversicherung um ein paar Mil- die Dauer von 25 Jahren – mit insgesamt rund 100 Mil- liärdchen kürzen. Dass das für Rentnerinnen und Rent- liarden Euro pro Jahr. Das Kindergeld für 26- und 27-jäh- ner Konsumverzicht und geringere Lebensqualität be- rige Kinder macht 0,5 Prozent davon aus. deuten würde, wäre Ihnen doch völlig schnuppe, diese In der Anhörung wurden kaum grundsätzliche Beden- Leute gehen Sie doch gar nichts an. ken gegen die Absenkung der Bezugsdauer geäußert. Problematisiert wurde vielmehr die Möglichkeit, bis (Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing zum 25. Lebensjahr in Deutschland ein Studium zu be- [FDP]: Wer hat Ihnen denn dieses Märchen er- enden. zählt?) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Können Sie Wir brauchen einen leistungs- und handlungsfähigen nicht überall!) Staat. Wir müssen überlegen, wie wir das in dieser Zeit hinbekommen. Ich bekenne mich dazu, dass ich einen Umso wichtiger war das Ergebnis der Nachverhandlun- aktiven und aktivierenden Staat will, der in den Berei- gen zur Föderalismusreform unseres Fraktionsvorsitzen- chen Forschung und Bildung, Familie, soziale Leistun- den Peter Struck. Mit dem neu aufgenommenen Begriff Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3985

Gabriele Frechen (A) Wissenschaft, der neben Forschung auch Studium und (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) (C) Lehre umfasst, können Vorhaben in diesem Bereich mit- finanziert werden. Für mich sind 50 000 Euro mit Sicherheit nicht lächer- lich. Ich glaube, auch für viele Menschen, von denen Sie (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE behaupten, dass Sie sie hier vertreten, sind 50 000 oder GRÜNEN]: Und bei der Schule?) auch 32 000 Euro nicht lächerlich. Dadurch können Gelder des Bundes eingesetzt werden, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten um im Rahmen des Hochschulpakts gemeinsam mit den der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE Ländern dringend benötigte Studienplätze zu schaffen, LINKE]: Sie hätten zuhören müssen!) um Warteschleifen für Studierende zu vermeiden. – Ich habe ihn schon richtig verstanden. Ich habe ihm (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zugehört. Folgewirkungen aus der Absenkung der Bezugsdauer Kosten für ein häusliches Arbeitszimmer werden in des Kindergeldes haben wir, wo es uns sinnvoll, notwen- Zukunft nur noch dann steuerlich absetzbar sein, wenn dig und machbar erschien, ausgeschlossen: Die Absen- dieses Arbeitszimmer den Mittelpunkt der beruflichen kung wird nicht auf das Waisengeld oder auf die Wai- Tätigkeit darstellt. Moderne Arbeitsformen wie Heim- senrente übertragen. oder Telearbeitsplätze bleiben natürlich von der Verän- derung unberührt. Im deutschen Steuerrecht gilt der (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Aber Ar- Grundsatz: Gemischte Kosten, also Kosten, die sowohl beitslosengeld! Riesterrente! Eigenheimzu- privat als auch beruflich veranlasst sein können, werden lage!) grundsätzlich der privaten Sphäre zugeordnet. Hier bleibt es beim 27. Lebensjahr. Auch bei bestehen- den Verträgen zur Altersversorgung wird es keine Ver- Außerdem schließen wir eine weitere Besteuerungs- änderung geben. lücke. Wir haben uns in der letzten Legislaturperiode und in Fortsetzung in der großen Koalition auf die Fahne Für Studierende, die einer Beihilferegelung unterlie- geschrieben, dass wir Lücken schließen, wo immer wir gen, haben wir Übergangsregelungen für die Kranken- sie antreffen. Diese Lücke betrifft nun die Steuerpflicht versicherung geschaffen. Sie haben ihre Entscheidung von Mitarbeitern des Bordpersonals von inländischen für die Beihilfe und gegen die gesetzliche Studentenver- Fluggesellschaften im internationalen Luftverkehr, die sicherung auf der Grundlage des geltenden Rechts ge- ihren Wohnsitz im Ausland haben oder ins Ausland ver- troffen und genießen deshalb Vertrauensschutz, weil legt haben. Nach dem OECD-Musterabkommen und den diese Entscheidung nicht rückgängig gemacht werden entsprechenden Doppelbesteuerungsabkommen steht (B) kann. Ein Wechsel in die studentische Krankenversiche- Deutschland hier das Besteuerungsrecht zu. Dieses wer- (D) rung ist nicht möglich. Die Studierenden, die ihr Stu- den wir auch wahrnehmen. dium im nächsten Jahr aufnehmen, treffen ihre Entschei- dung auf der Grundlage des neuen Rechts. Schließlich – das ist heute schon öfter angeklungen – werden wir den Steuersatz von 42 auf 45 Prozent bei Die in diesem Gesetz vorgesehene Beschränkung der Einkommen über 250 000 Euro bzw. 500 000 Euro an- Entfernungspauschale auf Fahrten von mehr als heben. Wir rechnen mit Steuereinnahmen in Höhe von 20 Kilometer zur Arbeit hat die größten finanziellen 250 Millionen Euro. Wir rechnen in der Folge in den Auswirkungen. Wir haben auch andere Varianten bera- nächsten Jahren mit Steuereinnahmen in Höhe von ten – nicht nur hinter verschlossener Tür –, aber letztlich 1 Milliarde Euro. Da redet Herr Gysi davon, dass das war unter den gegebenen Umständen keine Veränderung noch nicht einmal ein Witz sei. Er sollte einmal sein Ver- in diesem Punkt möglich. hältnis zu Geld überdenken. Der Sparerfreibetrag ist eine lieb gewonnene Aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nahme vom Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfä- CDU/CSU) higkeit. Unter rein steuersystematischen Gesichtspunk- ten – ich betone das – hätten wir diese Ausnahme Diese Erhöhung um 3 Prozentpunkte ist ein Beitrag zur streichen müssen. Aus Rücksicht auf Kleinsparer – bei sozialen Balance und zur Ausgewogenheit. einem Sparguthaben von rund 50 000 Euro bei Ehepaa- (Lachen bei der LINKEN – Volker Schneider ren – haben wir diesen Betrag nicht gestrichen, aber wir [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Das ist doch der werden ihn auf 750 Euro für Ledige und 1 500 Euro für Gipfel!) Verheiratete kürzen. – Moment, eine Sekunde Geduld, Herr Kollege. Ich möchte Kollegen Gysi – er ist leider nicht mehr anwesend – einmal bitten, dass er, wenn er das nächste Mal in seinem Ortsverein, Stadtverband oder wie auch Präsident Dr. Norbert Lammert: immer das bei der PDS genannt wird Also im Augenblick hat hauptsächlich die Kollegin Frechen das Wort und die Fraktionen kommen gleich mit (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Linkspartei!) ihren Beiträgen zur Geltung. mit den Menschen redet, sie einmal fragt, ob 32 000 Euro oder 50 000 Euro wirklich ein lächerliches Gabriele Frechen (SPD): Sparguthaben sind. Zumindest habe ich noch das Mikrofon. 3986 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Gabriele Frechen (A) Aber es ist nicht der einzige Beitrag des Gesetzes. Carl-Ludwig Thiele (FDP): (C) Alle Kürzungsmaßnahmen treffen selbstverständlich auf Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten alle gleichermaßen zu: auf Arbeitnehmer, die einen Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Gesetz, welches Dienstwagen haben, genauso wie auf Arbeitnehmerin- „Steueränderungsgesetz 2007“ heißt, wird die Steuer- nen und Arbeitnehmer, die mit ihrem privaten PKW zur erhöhungspolitik von Schwarz-Rot fortgesetzt. Das ist Arbeit fahren, und genauso auf die Unternehmer, die mit das, was die Bürger wissen sollen. ihrem betrieblichen PKW zur Arbeit fahren. Dasselbe gilt für den Sparerfreibetrag und das Arbeitszimmer. (Gabriele Frechen [SPD]: Nein! Das ist das, Jede Streichung wirkt sich aufgrund der Progression von dem Sie wollen, dass sie es glauben!) gleich aus: auf die höheren Einkommen mehr, auf die Das ist das, was hier passiert. Genau das soll heute be- niedrigeren Einkommen weniger. Hier gilt: Starke schlossen werden. Dabei ist man nicht etwa stringent an Schultern tragen mehr. das Steuerrecht herangegangen, sondern punktuell sind einzelne Regelungen herausgenommen worden. Durch Präsident Dr. Norbert Lammert: das Streichen bestimmter Regelungen bei Gleichbleiben Frau Kollegin Frechen, gestatten Sie eine Zwischen- der Steuersätze kommt es zu einer Mehrbelastung der frage des Kollegen Ernst? Bürger. Genau dies soll heute beschlossen werden. (Beifall bei der FDP) Gabriele Frechen (SPD): Ja, selbstverständlich. Die Bundeskanzlerin hat selbst gesagt: „Deutschland ist ein Sanierungsfall.“ Herr Finanzminister Steinbrück, (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wo ist denn der Sie haben zu Beginn Ihres Debattenbeitrags gefragt: Was Herr Gysi?) macht man, wenn man einen Haushalt hat, dessen Aus- gaben nur zu 80 Prozent durch Steuereinnahmen ge- Klaus Ernst (DIE LINKE): deckt sind? Das waren Ihre Worte. Frau Kollegin, Sie haben gerade angesprochen, dass diese Maßnahmen alle treffen sollen. Vom Herrn Finanz- Dann haben Sie erklärt – das hat mich überrascht; ich minister haben wir gehört, Lehrer bräuchten kein halte das nämlich für den falschen Weg –, warum der Arbeitszimmer, weil ihr Arbeitsplatz eigentlich die Staat den einzigen Ausweg darin sieht, sich die Einnah- Schule ist. Der Arbeitsplatz des Abgeordneten ist ja das men selbst zu holen, und zwar zulasten der Bürger, zu- Parlament. Heißt das – Ihre Maßnahmen sollen ja für lasten der Wirtschaft und damit letztlich zulasten der Be- alle gelten –, dass auch unsere Büros abgeschafft wer- schäftigung in unserem Lande. Das verstehe ich nach wie vor nicht. Das ist aus meiner Sicht der Grundfehler (B) den? Denn wenn das so ist, brauchen auch wir sie nicht (D) mehr. Ihrer Politik. Um noch einmal das Beispiel des Haushalts aufzu- Gabriele Frechen (SPD): greifen: Ein privater Haushalt – das war das Bild, das Sie Herr Kollege, wenn Sie Ihr häusliches Arbeitszimmer benutzt haben –, der 20 Prozent seiner Ausgaben nicht für Ihre Abgeordnetentätigkeit absetzen, dann begehen gedeckt hat, kann sich nicht so verhalten. Man kann Sie schlicht und ergreifend Steuerhinterziehung. Wir nicht zu seinem Arbeitgeber sagen: Erhöhe mir meinen dürfen das nämlich nicht. Tarif um 20 Prozent. Man kann nicht zu seinen Kunden sagen: Zahlt mir 20 Prozent mehr. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich komme zum Schluss. Es muss unser gemeinsames Ein privater Haushalt muss das machen, was wir Freie Anliegen sein, den Staatshaushalt in Ordnung zu bringen Demokraten vom Staat verlangen: die Ausgaben und und die Staatsverschuldung zu verringern. Vieles hätten Aufgaben auf den Prüfstand stellen. Das ist der einzige wir früher haben können. Aber das ist vergossene Milch. Weg, wie das Gemeinwohl im Interesse der öffentlichen Wir brauchen Spielraum für Zukunftsinvestitionen und Hand, aber auch im Interesse der Bürger unseres Landes wir dürfen den folgenden Generationen nicht die Mög- gefördert werden kann. lichkeit nehmen, ihre Entscheidung auf der Höhe ihrer Wir dürfen nicht die Einnahmen des Staates zulasten Zeit zu treffen. Deshalb müssen wir das Notwendige tun. der Bürger erhöhen, sondern wir müssen die Ausgaben „Das Einzige, was man ohne Geld machen kann, sind des Staates zugunsten der Bürger reduzieren, damit den Schulden.“ So lautet das Zitat eines unbekannten Verfas- Bürgern von dem, was sie selbst erarbeitet haben, das sers. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir verbleibt, was sie brauchen, um ihre eigenen Ausgaben unseren Kindern doch wohl nicht antun. und ihr eigenes Leben finanzieren zu können. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Hier unterscheiden wir uns schon im Grundansatz. Im Wahlkampf – die Situation der öffentlichen Haushalte Präsident Dr. Norbert Lammert: war bekannt – wurde von der Union wie auch vonseiten der FDP ein Steuerrecht gefordert, das niedriger, einfa- Nächster Redner ist der Kollege Carl-Ludwig Thiele cher und gerechter sein sollte. Aber jetzt wird das Steu- für die FDP-Fraktion. errecht an dieser Stelle komplizierter. Wenn man den Ta- (Beifall bei der FDP) rif nicht senkt, aber Ausnahmen streicht, wie bei der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3987

Carl-Ludwig Thiele (A) Pendlerpauschale und beim Sparerfreibetrag geschehen, lem über Einzelmaßnahmen. In der Tat gibt es Einzel- (C) dann führt das zu massiven Steuererhöhungen für die maßnahmen, über die gestritten werden kann. Aber das Bürger. Herr Finanzminister Steinbrück erklärt, er könne ändert doch nichts daran, dass der eingeschlagene Weg nicht sparen, weil das die Konsumfreude der Bürger re- der richtige ist. duziert. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Diese Steuer- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) erhöhung geht genauso zulasten des Konsums der Bür- ger; denn das, was den Bürgern vom Staat zusätzlich Seit Jahren treibt die expansiv betriebene Ausgaben- abgenommen wird, steht den Bürgern für ihren Konsum, politik die Neuverschuldung nach oben. Obwohl Finanz- für sich selbst, eben nicht mehr zur Verfügung. experten immer wieder vor der Gefahr der Schuldenfalle warnen, hat keine der bisherigen Bundesregierungen (Beifall bei der FDP) diese Warnungen wirklich ernst genommen und entspre- Einige grundsätzliche Anmerkungen. Nicht jeder hat chend reagiert. die große Koalition gewollt. Einige bezeichnen sie nach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wie vor auch als „Koalition von Union und SPD“; denn eine große Koalition wäre zu einem großen Wurf in der Alle Fraktionen hier im Deutschen Bundestag waren an Lage. Was die große Koalition momentan betreibt, ist dieser Politik beteiligt. Dabei will ich auch frühere eine Politik der Desillusionierung. Dabei hatten die Unionsregierungen nicht ausnehmen: Auch wir als Leute nach der Wahl gehofft: Jetzt werden die Probleme Union haben unseren Beitrag zu dieser immensen unseres Landes angegangen, jetzt werden grundsätzliche Staatsverschuldung geleistet. Umso mehr sehe ich Reformen beschlossen. Stattdessen: Stückwerk. Es geht mich als Mitglied der Unionsfraktion heute in der Ver- der Koalition ausschließlich um die Erhöhung der Ein- antwortung, diese Verschuldung zu stoppen. nahmen des Staates. Die Zustimmung zur großen Koali- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Es ist mir tion sinkt, weil die Bürger sich mehr von ihr versprochen nicht bekannt, dass die Linksfraktion daran be- haben. Nun merken sie, diese Versprechungen werden teiligt war!) von Ihnen nicht eingelöst. Wir erleben momentan eine Koalition des kleinsten gemeinsamen Nenners, ohne – Frau Höll, Sie waren nicht dabei: Sie haben als SED zentrale Linie, ohne Perspektive für die Bürger unseres die DDR ruiniert – dafür zahlen wir heute noch. Landes. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich sage ganz persönlich, obwohl ich zur Opposition neten der SPD) gehöre: Ich wünsche mir sogar, dass die große Koalition Die große Koalition ist seit langem die erste Bundes- Erfolg hat: weil Deutschland Erfolg benötigt. Mit Ihrer regierung, die nicht bereit ist, diesen Weg in den Schul- (B) (D) Politik der Belastung der Bürger vergeben Sie diese denstaat fortzusetzen. Chance. Mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in un- serem Land wird es mit diesem Kurs der Koalition nicht (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geben. So sinkt die Zahl der sozialversicherungspflichti- NEN]: Das stimmt einfach nicht!) gen Arbeitsplätze weiter. Wir brauchen für Deutschland Die Erkenntnis, die wir heute haben, dass sich die Haus- eine Vision. Wir brauchen einen neuen Anlauf. Die halte von Bund, Ländern und Gemeinden und vor allem große Koalition ist dazu leider nicht geeignet. die sozialen Sicherungssysteme in einer äußerst ernsten Herzlichen Dank. Lage befinden, ja sogar ein Sanierungsfall sind, ist we- der neu noch originell, aber sie ist leider wahr. (Beifall bei der FDP) (Florian Pronold [SPD]: Sie können doch nicht die Kanzlerin kritisieren!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile das Wort dem Kollegen Olav Gutting, Meines Erachtens hinken wir mit der Informierung der CDU/CSU-Fraktion. Öffentlichkeit über die Notwendigkeit von Sparmaßnah- men seitens der öffentlichen Hand leider immer noch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hinterher. der SPD) Präsident Dr. Norbert Lammert: Olav Gutting (CDU/CSU): Darf die Kollegin Höll Ihnen eine Zwischenfrage stel- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen len? und Kollegen! Ich stehe hier wie im letzten halben Jahr zum wiederholten Male, um über einen kleinen Schritt in Olav Gutting (CDU/CSU): die richtige Richtung zu sprechen. Zwischenzeitlich summieren sich diese kleinen Schritte zu einer ganz er- Nein, hier nicht. – Die Politik hat es bisher versäumt, heblichen Strecke. in aller Deutlichkeit über die Notwendigkeit der Konso- lidierung der öffentlichen Haushalte aufzuklären. Dazu Mit dem Entwurf des Steueränderungsgesetzes 2007 gehört auch, dass man sich die astronomischen Schul- kommen wir dem Ziel einer Begrenzung der staatlichen denstände dieses Staates vor Augen führt. Der Bund der Ausgaben und eines ausgeglichenen Haushaltes wieder Steuerzahler hat errechnet, dass der aktuelle Schulden- ein Stückchen näher. Wie immer, wenn ein solcher Kata- stand von Bund, Ländern und Gemeinden bei 1,5 Billio- log vorgelegt wird, kommt es zu Streitigkeiten, vor al- nen Euro liegt. 3988 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Olav Gutting (A) (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- günstigungen und mit dem Subventionsabbau immer (C) NEN]: Da kann man ruhig noch etwas drauf- auch eine Senkung der Steuersätze einhergehen muss. legen!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Liberalen, Das heißt, dass auf jeden einzelnen Bürger in Deutsch- natürlich wäre es wünschenswert, wenn wir die Mehr- land 18 200 Euro an öffentlichen Schulden entfallen. Be- einnahmen, die durch die Beseitigung der einzelnen Ver- sonders plastisch wird die drohende Schuldenfalle, wenn günstigungen hereinkommen, in Form einer allgemeinen man bedenkt, wie schnell dieser gigantische Schulden- Steuersatzsenkung an die Menschen zurückgeben berg wächst, nämlich um 2 113 Euro pro Sekunde. Schon könnten. allein während meiner Redezeit hier an diesem Pult wird (Zuruf von der FDP: Das haben Sie ja auch sich die Staatsverschuldung um weitere 1,2 Millionen immer gefordert!) Euro erhöhen. Dies ist aber nicht möglich, weil diese Rückflüsse be- (Florian Pronold [SPD]: Dann hören Sie reits durch das jahrzehntelange Leben über unsere Ver- schnell auf! – [CDU/CSU]: hältnisse aufgezehrt sind. Mehreinnahmen müssen daher Aber nicht deshalb, weil du geredet hast!) zur Eindämmung und, wenn möglich, zur Verringerung der bestehenden Staatsverschuldung eingesetzt werden; – Nicht deswegen. (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der Bund muss bereits jeden fünften Euro, den er NEN]: Dann tut das doch!) durch Steuern einnimmt, nur für Schuldzinsen ausgeben. Würde man ab sofort keine Schulden mehr aufnehmen denn wir wollen ja auch nachfolgenden Generationen ei- und würde die öffentliche Hand gesetzlich verpflichtet, nen finanziell handlungsfähigen Staat hinterlassen. jeden Monat 1 Milliarde Euro an Schulden zurückzuzah- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- len, also zu tilgen, so würde der Prozess zum Abbau des neten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜND- gesamten Schuldenberges über 110 Jahre dauern. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sich dann noch einmal so verschuldet?) NEN]: Warum haben Sie das nicht bei der Wie eng die Handlungsfähigkeit bereits heute ist, se- Haushaltsverabschiedung erzählt?) hen wir jetzt bei der Unternehmensteuerreform. – Warten Sie es ab. (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wo war die Erkenntnis in der letzten Die laufenden Ausgaben liegen zum Teil dramatisch Woche, als es um den Haushalt ging?) über den regelmäßig fließenden Einnahmen. Wir haben (B) das vorhin schon vom Bundesfinanzminister gehört. Al- Wir haben kaum die Möglichkeit, eine vernünftige Un- (D) lein beim Bundeshaushalt gibt es eine strukturelle De- ternehmensteuerreform vorzufinanzieren. Schon heute ckungslücke in einer Größenordnung von rund 60 Mil- sind wir also eingeengt und es wird immerzu schlimmer liarden Euro. Durch den demografischen Wandel wird werden, wenn wir nichts ändern. Die große Koalition hat der Druck auf die öffentlichen Haushalte unweigerlich sich deshalb in ihrer Koalitionsvereinbarung zu Recht noch weiter erhöht. darauf verständigt, die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zur zentralen Aufgabe für die nächsten Jahre In der Vergangenheit hat jeder Finanzminister, der das zu machen. schwere Erbe seines Vorgängers angetreten hat, den Vor- satz gehabt, die Verschuldung der öffentlichen Haushalte (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zurückzufahren. Es gab Finanzminister und Regierun- NEN]: Groß ist die Koalition nur im Geldaus- gen, die anfänglich Erfolge hatten, zum Beispiel unter geben!) der Union Anfang und Mitte der 80er-Jahre. Letztend- Dem haben sich alle anderen politischen Wünsche unter- lich gab es am Ende aber immer wieder die gleichartige zuordnen. bedrohliche Bilanz: Der Schuldenstand des Bundes er- höhte sich. Von einer Rekordverschuldung ging es zur Ein kleiner Mosaikstein in diesem gesamten Konzept nächsten. ist das Steueränderungsgesetz 2007, das im Zusammen- spiel mit anderen Maßnahmen zu sehen ist. Der Bundes- (Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- finanzminister hat zum Beispiel schon das Gesetz zur NEN]: Genau!) Eindämmung missbräuchlicher Steuergestaltungen ge- nannt. Die Änderungsanträge, die die Opposition hier Steigende Staatsverschuldung heißt zunächst, dass ein vorbringt, werden den finanzpolitischen Herausforde- immer größer werdender Anteil des Etats für Zinsen rungen in diesem Lande einfach nicht gerecht. Unsere aufgebracht werden muss. Dadurch wird die politische haushaltspolitischen Probleme lassen sich eben nicht Handlungsfähigkeit des Staates natürlich aufgezehrt. einseitig durch Ausgabenkürzungen lösen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Haben Sie das beim Haushalt NEN]: Damit kann man aber schon einmal et- nicht bemerkt?) was tun!) Deshalb muss in der derzeitigen prekären Haushalts- Wir dürfen die mittlerweile doch erfreuliche wirt- situation auch das Junktim unserer Fraktion ausgesetzt schaftliche Entwicklung nicht aufs Spiel setzen, sondern werden, dass mit der Streichung von steuerlichen Ver- wir müssen sorgfältig darauf achten, dass wir mit dem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3989

Olav Gutting (A) Bündel der von uns getroffenen Maßnahmen nicht über (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) das Ziel hinausschießen und dem konjunkturellen Auf- neten der SPD) schwung letzten Endes nicht entgegenwirken. Dieses Bemühen kommt auch in den getroffenen Einzelmaß- nahmen dieses Gesetzentwurfs zum Ausdruck. Nehmen Präsident Dr. Norbert Lammert: wir zum Beispiel die Kürzung der Pendlerpauschale. Zu einer Kurzintervention erhält das Wort die Kolle- Die Umstellung auf das Werktorprinzip bei der Pendler- gin Dr. Höll, Fraktion Die Linke. pauschale ist richtig. Der Weg zur Arbeit ist Privatsache und muss nicht von der Allgemeinheit mitfinanziert wer- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): den. Herr Kollege, könnte es sein, dass, wenn Sie hier an (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das ist früher die Information der Öffentlichkeit appellieren, das ehrli- aber anders gesagt worden!) cherweise mit einschließen sollte, auch aufzuzeigen, wo- her die Staatsverschuldung kommt, unter anderem eben Wo man wohnt, ist schließlich die private Entschei- durch die Steuergeschenke, die Sie in den letzten Jahren dung jedes Einzelnen. zu verantworten hatten? Würde sich daraus nicht ablei- Ich habe an dieser Stelle bereits gesagt, dass man nor- ten, dass das eigene Wissen als Voraussetzung für wei- malerweise konsequenterweise die Ausnahme für Fern- tere politische Entscheidungen doch begründet sein pendler ab dem 21. Kilometer hätte streichen sollen. Die sollte? große Koalition hat sich jedoch entschlossen, diese mög- lichen Härten bei Fernpendlern abzufedern. Damit Vor diesem Hintergrund hätte ich Sie gerne gefragt, beweisen wir das Augenmaß, mit dem die Koalitionspar- wie Sie Ihr gestriges Verhalten erklären, was ja auch zu teien die Ausarbeitung der Einzelmaßnahmen vorge- der Verzögerung heute Morgen geführt hat. Wir haben nommen haben. im Ausschuss mit Mehrheit beschlossen, dass die Infor- mationspflichten in der Bundesrepublik verstärkt werden Ähnliches gilt für die Absenkung der Altersgrenze müssen, weil, wie Sie selber sagen, Informationen eine für den Kindergeldbezug. Die Kollegin Frechen hat es wichtige Grundlage sind, um die Unternehmensteuer- bereits erklärt. Wir haben uns entschieden, die jungen reform und die Erhebung der Erbschaftsteuer neu gestal- Erwachsenen, die sich 2006, 2007 in der Ausbildung be- ten zu können. Herr Minister Steinbrück hat ja vorhin finden, von dem Gesetzesvollzug auszunehmen und es ausgeführt, dass diese Regelung ansteht. bei ihnen bei der alten Regelung zu belassen. Jetzt haben Sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ge- Allein an diesen beiden Beispielen kann man erken- sagt, dass Sie diese Informationen nicht mehr brauchen. nen, dass es sich die Koalition, was die Größenordnung (B) Ist das für die Öffentlichkeit so zu verstehen, dass Sie se- (D) der Belastung und damit die Zumutbarkeit der getroffe- nen Maßnahmen angeht, in der Tat nicht leicht gemacht henden Auges eine Politik betreiben, für die Ihnen die hat. Datengrundlage fehlt, von der Sie nicht wissen, wie die Auswirkungen sein werden, und bei der Sie trotzdem Wir wissen, dass unsere Haushalts-, Steuer- und den Unternehmen heute schon eine weitere Entlastung in Finanzpolitik unseren Bürgerinnen und Bürgern einiges Höhe von 8 Milliarden Euro in Aussicht stellen? an Zumutungen abverlangt. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das kann man wohl sagen!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Aber wir müssen die Haushaltssanierung konsequent Zur Erwiderung hat der Kollege Gutting das Wort. fortsetzen. Das ist unsere Verantwortung und das, was wir zukünftigen Generationen schlicht schuldig sind. Nur wenn wir eine Gesundung der Staatsfinanzen errei- Olav Gutting (CDU/CSU): chen, haben wir die Chance auf eine dauerhafte Kon- Werte Kollegin, zunächst der Hinweis, dass ich Mit- junkturbelebung. Damit verbunden sind der Abbau der glied der Unionsfraktion bin. Wir waren in den letzten Arbeitslosigkeit und das Ziel einer nachhaltigen staatli- Jahren nicht an der Regierung beteiligt. chen Investitionspolitik gerade in den Bereichen Bildung und Forschung, um damit die Zukunftsfähigkeit unseres Zum Vorgehen hat bereits heute Morgen unser parla- Staates und unserer gesamten Gesellschaft zu sichern. mentarischer Geschäftsführer alles gesagt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Was die Datenerhebung anbelangt, ist in dem vorlie- neten der SPD) genden Gesetzentwurf nicht geregelt, dass wir keine Da- ten erheben; es wurden lediglich Änderungen vorgenom- Präsident Dr. Norbert Lammert: men. Die Daten werden selbstverständlich erhoben und Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit. wir benötigen sie auch für die Vorbereitung der entspre- chenden Gesetzentwürfe und Reformen. Olav Gutting (CDU/CSU): (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Jetzt haben Zeigen Sie deshalb Verantwortungsbewusstsein! Sie gelogen! Sie nehmen genau diese Erhe- Seien Sie verantwortungsbewusst und stimmen Sie dem bung heraus! – Zurufe von der SPD: Vorsicht! – Gesetzentwurf zu! Was heißt „gelogen“?) 3990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): (C) Das Wort hat nun der Kollege Florian Pronold für die Herr Kollege, würden Sie mir erstens zustimmen, SPD-Fraktion. dass Lehrer in ihren Arbeitszimmern zu Hause zu einem erheblichen Teil Arbeiten erledigen, die für den Schul- Florian Pronold (SPD): unterricht dringend geboten sind, wie Unterrichtsvorbe- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für reitung und die Korrektur von Klassenarbeiten? die steuerpolitische Debatte gilt: Sachkenntnis schadet Zweitens. Würden Sie mir des Weiteren zustimmen, dem Populismus. dass es normalerweise Sache des Arbeitgebers ist, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Fritz Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass einem Arbeit- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das nehmer die Arbeitsbedingungen zur Verfügung stehen, sagt der Richtige!) die er zur Erledigung seiner Arbeit und zur Erfüllung – – Wenn ich berücksichtige, wie zum Beispiel von Herrn (Widerspruch bei der SPD – Hans Michelbach Gysi die Regelung zur steuerlichen Absetzbarkeit eines [CDU/CSU]: Das hat er doch gesagt!) Arbeitszimmers dargestellt wird, dann muss ich wie – Lassen Sie mich doch zu Ende reden! Ich weiß, warum meine Vorrednerin darauf hinweisen, dass es sich dabei Sie so herumpöbeln. Es ist mir klar, welch schlechtes nicht um eine Regelung nur für Lehrerinnen und Lehrer Gewissen Sie in diesem Punkt haben. handelt, sondern für alle. Es geht darum, dass dabei ge- mischte Aufwendungen entstehen. Das bedeutet, dass Würden Sie mir des Weiteren zustimmen, dass es Sa- das Arbeitszimmer sowohl privat als auch beruflich ge- che des Arbeitgebers ist, die Voraussetzungen zu schaf- nutzt wird. Das gilt nicht nur für Lehrerinnen und Leh- fen, dass ein Arbeitnehmer seinen Arbeitsvertrag erfül- rer, sondern auch für Selbstständige, Rechtsanwälte und len kann? andere. Wer kein anderes Arbeitszimmer hat, kann sein häusliches Arbeitszimmer steuerlich absetzen. Drittens. Sind Sie vor diesem Hintergrund nicht der Auffassung, dass es fast schon eine Unverschämtheit ist, Die gemischten Aufwendungen sind mit einem gro- zu behaupten, es würden private Arbeitszimmer subven- ßen Kontroll- und Bürokratieaufwand und vielen Steuer- tioniert? Sorgen durch diese Regelung nicht eher umge- gestaltungsmöglichkeiten verbunden. In diesem Punkt kehrt Lehrer dafür, dass staatliche Mittel nicht in den treffen wir nun eine klarere Regelung. Bau von Lehrerbüros in den Schulen fließen müssen? Wenn Sie einwenden, dass die Lehrer dann kein Ar- beitszimmer mehr zur Verfügung haben, dann muss ich Florian Pronold (SPD): (B) darauf hinweisen, dass es nicht die Aufgabe des Bundes Ich weiß nicht, welche Schulgebäude Sie kennen. (D) ist, entsprechende Steuervergünstigungen zu bieten; Diejenigen, die ich kenne, bieten nachmittags meistens vielmehr müssen die Länder, die die Lehrer beschäfti- relativ viel Platz. Ich glaube nicht, dass man zusätzliche gen, entweder einen Zuschuss zum häuslichen Arbeits- Büroräume anbauen müsste, damit Lehrerinnen und zimmer gewähren oder in den Schulen Räumlichkeiten Lehrer dort arbeiten können. zur Verfügung stellen. Es ist aber nicht die Aufgabe der Allgemeinheit, aus Steuermitteln eine entsprechende Re- Wenn Sie mir zugehört hätten, dann wüssten Sie, dass gelung zu finanzieren. ich genau das gesagt habe: Der Arbeitgeber ist dafür ver- antwortlich – das bezieht sich auf Ihre zweite Frage –, (Beifall bei der SPD – Abg. Volker Schneider die entsprechenden Arbeitsbedingungen bereitzustellen. [Saarbrücken] [DIE LINKE] meldet sich zu ei- Wenn dies nicht der Fall ist – wie einige vorbringen –, ner Zwischenfrage) dann muss man darüber reden, inwiefern der Arbeitge- – Sofort. Ich führe noch einen Gedanken aus. ber Abhilfe schaffen kann, aber doch nicht der Steuer- zahler. Es geht auch nicht um die Lehrerinnen und Was die Senkung der Steuersätze für die unteren und Lehrer; es geht vielmehr um die Frage, ob für ein Ar- mittleren Einkommensgruppen in den letzten Stufen der beitszimmer eine gemischte Nutzung besteht. Dazu Steuerreform angeht, sollten Sie ehrlicherweise feststel- müsste vonseiten der Finanzverwaltung kontrolliert wer- len, dass wir in den letzten Jahren für die Arbeitnehme- den, ob in einem Arbeitszimmer zum Beispiel ein Bett rinnen und Arbeitnehmer höhere Reallohnzuwächse steht durch Steuerentlastungen als durch tarifliche Lohnerhö- hungen erzielt haben. Das kann man doch nicht einfach ( [SPD]: Oder ein Sofa!) leugnen. Man muss auch die Fakten zur Kenntnis neh- men. bzw. ob es als Gästezimmer genutzt wird. Es geht da- rum, eine klare Abgrenzung zu schaffen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wie ich sehe, haben Sie sich bereits gesetzt. Ich habe Ihre Fragen jetzt beantwortet. Sie waren ein bisschen Präsident Dr. Norbert Lammert: voreilig – nicht nur bei der Fragestellung, sondern auch Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen beim Hinsetzen. Schneider? (Beifall des Abg. Jörg-Otto Spiller [SPD]) Florian Pronold (SPD): Ich bin Herrn Gutting für seinen Redebeitrag dankbar, Sehr gerne. weil er deutlich gemacht hat, dass die Union die Pend- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3991

Florian Pronold (A) lerpauschale eigentlich komplett streichen wollte. Auch luste für den Bundeshaushalt bedeutet, sondern Einnah- (C) Herr Bernhardt hat schon dargestellt, dass es unter- men von 2,5 Milliarden Euro gebracht hätte und trotz- schiedliche Ansichten in der Koalition gibt. Wir als SPD dem besser und gerechter für die Pendlerinnen und sind auch im Wahlkampf dafür eingetreten, dass die Ar- Pendler wäre, und dass Sie es waren, die diesen Vor- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Belastungen schlag nicht umsetzen wollten? weiterhin absetzen können. Es ist schön, dass Sie uns zu- gestehen, dass wir wenigstens dies für die Fernpendler (Dr. Volker Wissing [FDP]: Aha! – Abg. erkämpft haben. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Ich bin aber schon überrascht – das gehört zur Wahr- haftigkeit –, dass Herr Kalb vor wenigen Tagen in der Präsident Dr. Norbert Lammert: Zeitung erklärt hat, es seien Änderungen möglich. Er ist Haushaltsexperte der CSU und, so glaube ich, auch für Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unter Berück- Erbschaftsangelegenheiten zuständig. Herr Hofbauer sichtigung der von uns selbst vereinbarten Debattenzeit von der CSU hat gestern im Verkehrsausschuss Tränen möchte ich vorschlagen, dass der Kollege Pronold seine geweint, weil bei der Pendlerpauschale keine Änderun- Rede zu Ende führt. Danach haben wir einen weiteren gen mehr möglich seien. Die Wahrheit ist, dass die CSU- Redner und dann kommen wir zu den Abstimmungen. Staatsregierung von Bayern im Bundesrat Bedenken we- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gen einer möglichen Verfassungswidrigkeit geäußert hat. Wenn die Staatsregierung hustet, dann wird doch die Landesgruppe im Bundestag schwer krank. Sie macht, Florian Pronold (SPD): was die Staatsregierung will. Warum diesmal nicht? Wir machen uns mit diesem Gesetz handlungsfähiger. Es ist eine schwierige Aufgabe, die wir zu bewältigen Wir von der SPD haben ein Modell angeboten, das haben. Aber den Populismus der FDP, der darin besteht, gerechter wäre, das verfassungsfester wäre – ich erin- dass sie einerseits die Steuern senken will, andererseits nere an all die Bedenken, die in der Anhörung vorge- aber mehr Geld ausgeben und mehr investieren will, bracht wurden – und das trotzdem die Einsparungen in gleichzeitig aber nie sagt, wie das gehen soll, können wir Höhe von 2,5 Milliarden Euro erbracht hätte. Sie haben uns nicht zu Eigen machen. Wir haben die Verantwor- Ihre Zustimmung verweigert. tung dafür, dass wir den Haushalt konsolidieren und in- (Beifall bei der SPD) vestieren. Mit diesem Gesetz gehen wir diesen Weg. Es mag schön sein, für diesen Populismus Beifall zu krie- Auch das gehört zur Ehrlichkeit. Es geht nicht an, dass gen, aber die Lösung der wirklichen Probleme wird man (B) wir immer die Kohlen aus dem Feuer holen und Sie sich mit Sonntagsreden nicht erreichen. Vielmehr bedarf es (D) hinstellen und behaupten, Sie hätten mit den unangeneh- konkreten Handelns. Das tun wir mit diesem Gesetz. men Dingen nichts zu tun. (Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Ich sage nur „Merkel-Steuer“!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege Pronold, gestatten Sie eine Zwischen- frage des Kollegen Kalb? Präsident Dr. Norbert Lammert: Letzter Redner ist der Kollege Hans Michelbach für Florian Pronold (SPD): die CDU/CSU-Fraktion. Selbstverständlich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Kollege Pronold, weil Sie gerade auf mich abge- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten zielt haben: Darf ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, zur Kolleginnen und Kollegen! Zum Abschluss der Debatte Kenntnis zu nehmen, dass mich das Verhalten der Minis- über das Steueränderungsgesetz stelle ich für die CDU/ terpräsidenten, insbesondere Ihres Parteivorsitzenden CSU fest: Die große Koalition kommt heute einen weite- Beck, im Bundesrat zur Frage der Regionalisierungsmit- ren Schritt auf dem Weg zur Sanierung unseres Landes tel und das Entgegenkommen des Bundesfinanzminis- voran. Die große Koalition ist damit eine Koalition der ters gegenüber den Ländern, das ich persönlich für eine neuen Chancen für mehr Wachstum und Beschäftigung. gravierende Abweichung vom Koalitionsvertrag halte, zu meiner Reaktion veranlasst haben? Ich bin der Mei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nung, dass den Pendlern in den ländlichen Gebieten in gleicher Weise hätte entgegengekommen werden müs- Natürlich ist der Abbau von Steuersubventionen im- sen. mer ein unpopulärer und für die Betroffenen schwerwie- gender Schritt. Für solch einen Schritt braucht man Mut und keinen Populismus. Ich muss schon sagen, Herr Pro- Florian Pronold (SPD): nold: Ihre Flucht aus der Verantwortung kann ich nicht Ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Sie, Herr akzeptieren. Kalb, versucht haben, das in diesem Kontext zu sagen. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir einen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vorschlag eingebracht haben, der keine weiteren Ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 3992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Hans Michelbach (A) Ohne Schärfe in diese Debatte bringen zu wollen: Es ist halt werden ebenfalls wesentliche Ausgabenkürzungen (C) die Vorlage Ihres eigenen Bundesfinanzministers; die vorgenommen. Das tun wir auch heute. Dieses Vorgehen CDU/CSU hat sich bei der Pendlerpauschale in keiner dient langfristig den Menschen in unserem Land; denn Weise verweigert. Ich kann Ihnen sagen: Sie stehen ein klarer Sparkurs ist das Beste. Wir weisen jeden Vor- heute nach den Berichterstattungen, nach den Briefen, wurf, wir reduzierten Ausgaben nicht, von uns. die Sie in Bayern geschrieben haben, nackt da. Sie müs- sen einmal anerkennen, dass es so ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Die Menschen sehen, dass wir im nächsten Jahr den Dr. [CDU/CSU]: Sehr gut! europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt einhalten Gib’s ihm!) wollen. Diesen Pakt hat im Übrigen die Union mit Theo Waigel hart erkämpft. Ich glaube, es ist der Erfolg einer Wir verfolgen – ich hoffe, gemeinsam – ein zielfüh- neuen und zuverlässigen Politik, dass man klare Ziele rendes Konzept für mehr Wachstum und Beschäftigung. formuliert und alle denkbaren Wege beschreitet, um Unter dem Motto „Sanieren, investieren, reformieren“ diese Ziele zu erreichen. verfolgt diese große Koalition ein finanz- und steuerpoli- tisches Gesamtkonzept, das darauf abzielt, den europäi- Es ist auch eine Tatsache, dass dadurch die Stimmung schen Stabilitätspakt und die Verschuldungsgrenze nach in Deutschland besser geworden ist. Dabei sagen wir na- Art. 115 des Grundgesetzes im nächsten Jahr einzuhal- türlich ehrlich: Nur mit Anstrengung und Leistung ten und die Weichen für eine dauerhafte, tragfähige schaffen wir neue Chancen für die Menschen. Zur Ehr- Finanzpolitik zu stellen. lichkeit in diesem Bereich gehört, zu erklären: Dieser Weg wird allen Opfer abverlangen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der Rückgriff auf die Verbreiterung der Bemessungs- Sparen, reformieren und investieren, das ist das Ge- grundlage und die Steuererhöhung sind dabei unaus- bot. Der Kurs dieser großen Koalition ist auf eine Ver- weichlich. Entscheidend ist, dass wir mit einem Drittel besserung der Konjunktur, auf mehr Wachstum und der zusätzlichen Einnahmen sofort die Senkung der mehr Beschäftigung ausgerichtet. Das ist der richtige Lohnnebenkosten finanzieren. Auch das ist die Wahr- Kurs. Wir werden ihn einhalten. Ich hoffe, dass wir ihn heit: dass wir Arbeit verbilligen und dass sich Arbeit auch in der Zukunft gemeinsam verfolgen. wieder mehr lohnt. Deswegen haben wir hier den richti- gen Ansatz. Sozusagen eine Umfinanzierung zur Erhö- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hung der Wettbewerbsfähigkeit bei den Arbeitskosten (B) Es ist so: Wegen eines falschen Politikansatzes wurde schafft mehr Beschäftigung in Deutschland. (D) in der Vergangenheit zu oft verkündet, die Ausgaben des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Staates seien nicht durch seine Einnahmen, sondern wie der Abg. Gabriele Frechen [SPD]) durch die wachsenden Aufgaben zu bestimmen. Diese Denke war verhängnisvoll. Seitdem man ihr folgt, ist un- Solide Staatsfinanzen sind eine wesentliche Voraus- ser Staat überfordert, leben wir zulasten der Zukunft und setzung für die Steigerung von Wachstum und Beschäfti- ist die Leistungskultur in Deutschland auf der schiefen gung. Umgekehrt können ohne erhöhtes Wirtschafts- Ebene. Das müssen wir so sehen. wachstum der Abbau der Arbeitslosigkeit, die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme und die Mittlerweile leben 7 Millionen Menschen von Konsolidierung der öffentlichen Haushalte natürlich Hartz IV. Gleichzeitig ist die Zahl der Beschäftigten auf nicht gelingen. unter 26 Millionen gesunken. Diejenigen, die von ihrer Arbeit leben, sind bereits in der Minderheit. So hat un- Die große Koalition verbindet die notwendige Haus- sere Gesellschaft keine Zukunft. Unsere Reformen sind haltssanierung deshalb mit kurzfristig wirkenden notwendig. Wir beschließen sie heute als Teilkonzept. Wachstumsimpulsen in Höhe von 25 Milliarden Euro (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) für den Zeitraum bis 2009: deutlich steigende Investitio- nen in Forschung und Entwicklung, gezielte Verbesse- Wir müssen natürlich deutlich machen: In dem Jahr, rungen für den Mittelstand, Ausweitung der Verkehrsin- in dem diese Regierung ins Amt kam und die große Ko- vestitionen, Verbesserung der Familienleistungen. Das alition ihre Arbeit aufnahm, lag das strukturelle Defizit ist der Ansatz: sparen, reformieren, investieren. Ein Ge- zwischen den laufenden Einnahmen und den Ausgaben samtkonzept, das die Menschen voranbringt und ihnen bei rund 60 Milliarden Euro. Mit anderen Worten: Jeder dient, ist die Grundlage. fünfte Euro, den der Bund ausgibt, ist nicht von entspre- chenden Einnahmen gedeckt. Man muss selbstverständ- Demagogie, wie sie bei dieser Debatte heute von lich deutlich machen: Das kann so nicht weitergehen. Herrn Gysi, von Herrn Kuhn und anderen an den Tag ge- Das Defizit muss in den nächsten Jahren entschlossen legt worden ist, hilft uns nicht weiter. Das mit der Ge- zurückgeführt werden, um künftigen Generationen keine rechtigkeit in Deutschland ist nämlich ganz anders, als größeren Lasten aufzubürden. sie verkünden. Die 10 Prozent, die die höchsten Steuern zahlen, erbringen in unserem Land über 50 Prozent des Die Bundesregierung spart bis zum Jahr 2007 ein- Steueraufkommens. Für die gewerblichen Gewinne schließlich 35 Milliarden Euro. Wer sagt, es würden nur wurde die Bemessungsgrundlage in den letzten Jahren Erhöhungen vorgenommen, erzählt Märchen. Im Haus- immer wieder erhöht, nicht gesenkt. Dagegen wurden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3993

Hans Michelbach (A) die unteren Einkommen über den niedrigen Eingangs- er deswegen der Abstimmung fern geblieben ist, weil (C) steuersatz, wie auch Herr Steinbrück verdeutlicht hat, er- ihm klar war, dass das ein verfassungswidriger Vorgang heblich begünstigt. So tragen heute die unteren ist. Ich sehe aber, dass auch aus der Union in dieser 50 Prozent der Steuerzahler unter 10 Prozent der Steuer- Frage ähnliche Äußerungen getätigt wurden, es also belastung. Das ist die Wahrheit über die Steuergerechtig- auch von dieser Seite zum Thema Ausgestaltung der keit in Deutschland. Entfernungspauschale Kritik an der Regierungsvorlage gegeben hat. Damit haben sowohl Abgeordnete der SPD Der Neidfaktor, den Sie immer wieder in die Debatte als auch der Union mit ihrer großen Mehrheit etwas be- einführen, schadet unserem Land, weil er die Menschen schlossen, was sie in ihren jeweiligen Wahlkreisen völlig in die falsche Richtung führt. Das ist die Situation. anders darstellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deswegen meine ich schon, dass die Öffentlichkeit der SPD) insgesamt wissen sollte, dass einzelne Kolleginnen und Zur Neiddemagogie von Herrn Gysi, weiteren Linken Kollegen, vor allen Dingen aus dem Finanzbereich, in und anderen, die hier dazu gesprochen haben, kann ich den jeweiligen Ländern, an Stammtischen oder bei Ver- nur ein altes Sprichwort anführen: Neid ist genauso alt anstaltungen, wie sie die CSU und andere durchführen, wie Unfähigkeit. eine ziemlich große Klappe riskieren, aber jedes Mal dann, wenn es darum geht, sich dementsprechend zu ent- Wir müssen in Deutschland wieder die Fähigkeit ge- scheiden, einknicken und hier sogar etwas tun, von dem winnen, Wachstum und Beschäftigung zu erreichen, da- sie wissen, dass es nicht verfassungskonform ist. mit wir aus der Talsohle herauskommen und wieder mehr Steuereinnahmen generieren – aus der Gerechtig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keit heraus, dass alle ihren Beitrag für dieses Land leis- sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- ten sollen. Deshalb müssen wir mit dem Gesamtkonzept, KEN) das heute mit einer Teillösung umgesetzt wird, den Weg der Reformen weitergehen. Wenn wir das tun, dann wer- Präsident Dr. Norbert Lammert: den wir vorankommen und die Ernte einfahren, die darin Ich schließe die Aussprache. besteht, dass es den Menschen in Deutschland wieder besser geht. Wir kommen nun zu den Abstimmungen. Ich bitte ei- nen Augenblick um Aufmerksamkeit, weil wir, wie je- Herzlichen Dank. dermann heute Morgen ja feststellen konnte, eine etwas (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kompliziertere Verhandlungslage haben als gewöhnlich. (B) neten der SPD) (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE (D) GRÜNEN]: Frau hat es auch festgestellt!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Nun erhält die Kollegin Scheel das Wort zu einer Wir haben uns vorhin im Ältestenrat unbeschadet der Kurzintervention und danach, so hoffe ich, können wir natürlich unterschiedlichen politischen Bewertung der abstimmen. Gesetzentwürfe und auch der damit verbundenen Ver- fahrensabläufe auf einen Ablauf verständigt, den ich nun (Unruhe) – verbunden mit dem ausdrücklichen Dank an alle Betei- ligten, sich trotz der unterschiedlichen politischen Be- – Ich schlage im Übrigen vor, liebe Kolleginnen und wertungen darauf geeinigt zu haben – erläutern möchte. Kollegen, dass Sie dafür Platz nehmen – die Prozedur Wir werden zunächst in zweiter Lesung über die Be- wird ein bisschen Zeit in Anspruch nehmen –; das macht schlussempfehlung des Finanzausschusses zu dem von die Veranstaltung dann wenigstens eine Idee gemütli- der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Steu- cher. eränderungsgesetzes 2007 abstimmen. Im Übrigen lie- Bitte schön, Frau Kollegin Scheel. gen hierzu – darauf will ich bei der Gelegenheit schon hinweisen – eine ganze Reihe von persönlichen Erklä- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rungen zur Abstimmung vor, die wir dem Protokoll in 1) Danke schön, Herr Präsident, für den Hinweis auf die der üblichen Weise beifügen. Gemütlichkeit. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Ich habe von Herrn Pronold die Begründung für die GRÜNEN]: Das schlechte Gewissen!) Änderung bei der Entfernungspauschale gehört. Die Öf- Wir werden dann nach der vorhin im Ältestenrat ge- fentlichkeit sollte wissen, finde ich, dass die SPD- troffenen interfraktionellen Vereinbarung über den so- Finanzexperten, namentlich auch Florian Pronold, in fortigen Eintritt in die dritte Beratung mit dem Erforder- verschiedenen Medien gesagt haben, dieser Vorschlag nis einer Zweidrittelmehrheit abstimmen und dazu eine sei verfassungswidrig. namentliche Abstimmung durchführen. Das hängt – um Mein Vorredner Hans Michelbach hat darauf hinge- das nur in wenigen Sätzen zu erläutern – damit zusam- wiesen, dass sich Florian Pronold nicht aus der Verant- men, dass wir eine bestimmte, seit Jahren praktizierte wortung stehlen könne. Ich kann die Abwesenheit von Handhabung über Fristverzicht haben, für die es aber Herrn Pronold bei der Abstimmung im federführenden Finanzausschuss über diese Frage nur so beurteilen, dass 1) Anlagen 2 bis 7 3994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) eine präzise Festlegung in der Geschäftsordnung nicht zelne Gegenstimmen auch aus den Reihen der SPD- (C) gibt. So haben wir uns vorhin wiederum einvernehmlich Fraktion gegeben hat. darauf verständigt, den Geschäftsordnungsausschuss um eine Klärung dieses Sachverhaltes zu bitten und eine (Volker Kauder [CDU/CSU]: Na, na, jetzt mögliche Regelung für die Geschäftsordnung zu erarbei- aber! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE ten, wie in solchen Fällen künftig verfahren werden soll. GRÜNEN]: So fängt es immer an! – Weitere Zurufe) Wir haben uns vorhin darauf verständigt, dass wir heute so verfahren, wie unsere Geschäftsordnung es für – Das ist doch kein Grund zur Aufregung. Niemand be- den Fall vorsieht, dass es in zweiter Lesung Änderungen zweifelt die Mehrheitsentscheidung, die ich gerade fest- gibt. Über diese kann nämlich nur dann sofort in dritter gestellt habe. Lesung abgestimmt werden, wenn der Bundestag dies Nun entscheiden wir über den sofortigen Eintritt in mit Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder des die dritte Beratung unter der vorhin erläuterten Voraus- Bundestages beschließt. Wir können deswegen alle mög- setzung, dass zwei Drittel der anwesenden Mitglieder lichen Zweifelsfragen dadurch ausräumen, dass eine sol- des Bundestages das beschließen. Dazu ist interfraktio- che Verfahrensentscheidung mit einer Mehrheit von nell eine namentliche Abstimmung vereinbart. zwei Dritteln getroffen wird. Danach findet die einfache Abstimmung in dritter Le- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die sung statt. Darauf folgen eine Reihe von Abstimmungen vorgesehenen Plätze einzunehmen, damit wir diese na- zu Entschließungsanträgen. mentliche Abstimmung durchführen können. – Sind alle Plätze besetzt? – Das scheint der Fall zu sein. Dann er- Ich bitte Sie darum, sozusagen die ganze Schönheit öffne ich die Abstimmung. dieses Verfahrens in vollen Zügen mitzuverfolgen, nach- dem nun hoffentlich jeder weiß, dass und warum so ver- Ist noch jemand im Saal, der seine Stimme nicht ab- fahren wird, wie gerade erläutert. gegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Ich rufe zunächst die Beschlussempfehlung des Fi- Schriftführer, das Ergebnis auszuzählen. Bis zur Be- nanzausschusses auf, Drucksache 16/2012. Er empfiehlt kanntgabe des Ergebnisses – danach finden die weiteren unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, die ge- Abstimmungen statt – unterbreche ich die Sitzung. nannten Gesetzentwürfe zusammenzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die (Unterbrechung von 12.35 bis 12.42 Uhr) dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – (B) Präsident Dr. Norbert Lammert: (D) Wer enthält sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in zwei- Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das von men. den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Er- gebnis der namentlichen Abstimmung über den soforti- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Da waren ei- gen Eintritt in die dritte Beratung bekannt: Abgegebene nige Gegenstimmen der SPD! – Unruhe – Stimmen 585. Mit Ja haben gestimmt 425, mit Nein ha- Dr. Peter Struck [SPD]: Weiter!) ben gestimmt 159, Enthaltungen eine. Damit ist der so- – Wenn das so ist, dann machen wir das nicht per Zuruf, fortige Eintritt in die dritte Beratung mit der erforderli- sondern nehmen ausdrücklich zu Protokoll, dass es ein- chen Mehrheit beschlossen.

Endgültiges Ergebnis Ernst-Reinhard Beck Gitta Connemann Dr. Michael Fuchs Abgegebene Stimmen: 585; (Reutlingen) Leo Dautzenberg Hans-Joachim Fuchtel Veronika Bellmann Dr. davon Dr. Thomas Dörflinger Dr. Jürgen Gehb ja: 425 Otto Bernhardt Marie-Luise Dött nein: 159 Clemens Binninger Maria Eichhorn enthalten: 1 Carl-Eduard von Bismarck Anke Eymer (Lübeck) Ralf Göbel Renate Blank Georg Fahrenschon Dr. Reinhard Göhner Josef Göppel Ja Dr. Hans Georg Faust Peter Götz Jochen Borchert Enak Ferlemann Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU Wolfgang Börnsen Hartwig Fischer (Göttingen) Ute Granold (Bönstrup) Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Hermann Gröhe Klaus Brähmig Klaus-Peter Flosbach Michael Grosse-Brömer Michael Brand Markus Grübel Thomas Bareiß Helmut Brandt Dr. Hans-Peter Friedrich Manfred Grund Dr. (Hof) Monika Grütters Dr. Monika Brüning Erich G. Fritz Karl-Theodor Freiherr zu Günter Baumann Jochen-Konrad Fromme Guttenberg Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3995

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Olav Gutting Dr. Gerd Müller Marco Wanderwitz (C) Holger Haibach Hildegard Müller Kai Wegner Gerda Hasselfeldt (Bremen) Iris Gleicke Ursula Heinen Henry Nitzsche Peter Weiß (Emmendingen) Günter Gloser Uda Carmen Freia Heller Michaela Noll Gerald Weiß (Groß-Gerau) Renate Gradistanac Dr. Georg Nüßlein Karl-Georg Wellmann Angelika Graf (Rosenheim) Jürgen Herrmann Franz Obermeier Anette Widmann-Mauz Dieter Grasedieck Bernd Heynemann Eduard Oswald Klaus-Peter Willsch Ernst Hinsken Willy Wimmer (Neuss) Rita Pawelski Elisabeth Winkelmeier- Gabriele Groneberg Robert Hochbaum Dr. Peter Paziorek Becker Achim Großmann Klaus Hofbauer Ulrich Petzold Wolfgang Grotthaus Franz-Josef Holzenkamp Dr. Joachim Pfeiffer Dagmar Wöhrl Wolfgang Gunkel Joachim Hörster Sibylle Pfeiffer Wolfgang Zöller Hans-Joachim Hacker Anette Hübinger Dr. Friedbert Pflüger Willi Zylajew Bettina Hagedorn Hubert Hüppe Klaus Hagemann Susanne Jaffke SPD Alfred Hartenbach Dr. Daniela Raab Michael Hartmann Dr. Hans-Heinrich Jordan Dr. Lale Akgün (Wackernheim) Andreas Jung (Konstanz) Hans Raidel Nina Hauer Bartholomäus Kalb Dr. Peter Ramsauer Hans-Werner Kammer Peter Rauen Niels Annen Reinhold Hemker Steffen Kampeter Ingrid Arndt-Brauer Rolf Hempelmann (Potsdam) Dr. Barbara Hendricks Bernhard Kaster Klaus Riegert (Neuruppin) Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Heinz Riesenhuber Dr. Hans- Peter Bartels Petra Heß Schwenningen) Franz Romer Sören Bartol Gabriele Hiller-Ohm Volker Kauder Johannes Röring Sabine Bätzing Petra Hinz (Essen) Kurt J. Rossmanith Gerd Höfer Jürgen Klimke Dr. Norbert Röttgen Uwe Beckmeyer (Wismar) Julia Klöckner Dr. Christian Ruck Klaus Uwe Benneter Frank Hofmann (Volkach) Albert Rupprecht (Weiden) Dr. Axel Berg Eike Hovermann Kristina Köhler (Wiesbaden) Peter Rzepka Klaas Hübner Manfred Kolbe Anita Schäfer (Saalstadt) Christel Humme Norbert Königshofen Hermann-Josef Scharf Lothar Binding (Heidelberg) Lothar Ibrügger (B) Dr. Rolf Koschorrek Dr. Wolfgang Schäuble Brunhilde Irber (D) Hartmut Koschyk Hartmut Schauerte Johannes Jung (Karlsruhe) Thomas Kossendey Dr. Annette Schavan Gerd Bollmann Dr. Andreas Scheuer Dr. Johannes Kahrs Gunther Krichbaum Karl Schiewerling Klaus Brandner Ulrich Kasparick Dr. Günter Krings Norbert Schindler Willi Brase Dr. h.c. Susanne Kastner Dr. Martina Krogmann Georg Schirmbeck Ulrich Kelber Johann-Henrich Bernd Schmidbauer (Hildesheim) Christian Kleiminger Krummacher Christian Schmidt (Fürth) Hans-Ulrich Klose Dr. Hermann Kues Andreas Schmidt (Mülheim) Marco Bülow Dr. Bärbel Kofler Dr. Karl A. Lamers (Berlin) Fritz Rudolf Körper (Heidelberg) Dr. Martin Burkert Karin Kortmann Andreas G. Lämmel Dr. Ole Schröder Dr. Michael Bürsch Rolf Kramer Dr. Norbert Lammert Bernhard Schulte-Drüggelte Anette Kramme Katharina Landgraf Uwe Schummer Marion Caspers-Merk Ernst Kranz Dr. Max Lehmer Wilhelm Josef Sebastian Dr. Peter Danckert Nicolette Kressl Paul Lehrieder Dr. Herta Däubler-Gmelin Volker Kröning Ingbert Liebing Kurt Segner Karl Diller Angelika Krüger-Leißner Dr. Klaus W. Lippold Bernd Siebert Martin Dörmann Dr. Hans-Ulrich Krüger Patricia Lips Dr. Carl-Christian Dressel Jürgen Kucharczyk Dr. Michael Luther Elvira Drobinski-Weiß Helga Kühn-Mengel Stephan Mayer (Altötting) Ute Kumpf Wolfgang Meckelburg Erika Steinbach Detlef Dzembritzki Dr. Uwe Küster Dr. Christian Freiherr von Stetten Siegmund Ehrmann Christine Lambrecht Dr. Angela Merkel Christian Lange (Backnang) Laurenz Meyer (Hamm) Andreas Storm Dr. Maria Michalk Petra Ernstberger Waltraud Lehn Hans Michelbach Thomas Strobl (Heilbronn) Karin Evers-Meyer Gabriele Lösekrug-Möller Philipp Mißfelder Michael Stübgen Annette Faße Dirk Manzewski Dr. Eva Möllring Elke Ferner Lothar Mark Dr. Hans-Peter Uhl Gabriele Fograscher Carsten Müller Rainer Fornahl (Braunschweig) Volkmar Uwe Vogel Gabriele Frechen Hilde Mattheis Stefan Müller (Erlangen) Andrea Astrid Voßhoff Dagmar Freitag Bernward Müller (Gera) Gerhard Wächter Peter Friedrich Petra Merkel (Berlin) 3996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Ulrike Merten Hans-Jürgen Uhl Patrick Meinhardt Dr. Ilja Seifert (C) Dr. Rüdiger Veit Jan Mücke Dr. Ursula Mogg Simone Violka Burkhardt Müller-Sönksen Frank Spieth Marko Mühlstein Jörg Vogelsänger Hans-Joachim Otto Dr. Kirsten Tackmann Detlef Müller (Chemnitz) Dr. Marlies Volkmer (Frankfurt) Dr. Axel Troost Michael Müller (Düsseldorf) Hedi Wegener Detlef Parr Franz Müntefering Andreas Weigel Jörn Wunderlich Dr. Rolf Mützenich Petra Weis Gisela Piltz Sabine Zimmermann Gunter Weißgerber Jörg Rohde Frank Schäffler BÜNDNIS 90/DIE Holger Ortel (Wiesloch) Dr. Konrad Schily GRÜNEN Heinz Paula Dr. Rainer Wend Marina Schuster Johannes Pflug Lydia Westrich Dr. Hermann Otto Solms Kerstin Andreae Joachim Poß Dr. Margrit Wetzel Dr. Max Stadler Marieluise Beck (Bremen) Christoph Pries Andrea Wicklein Dr. Rainer Stinner Volker Beck (Köln) Dr. Wilhelm Priesmeier Heidemarie Wieczorek-Zeul Carl-Ludwig Thiele Cornelia Behm Florian Pronold Dr. Dieter Wiefelspütz Florian Toncar Birgitt Bender Dr. Engelbert Wistuba Christoph Waitz Matthias Berninger Mechthild Rawert Dr. Wolfgang Wodarg Dr. Guido Westerwelle Grietje Bettin (Cottbus) Waltraud Wollf Dr. Claudia Winterstein Alexander Bonde Maik Reichel (Wolmirstedt) Dr. Volker Wissing Ekin Deligöz Gerold Reichenbach Heidi Wright Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Thea Dückert Dr. Carola Reimann Uta Zapf Martin Zeil Dr. Ursula Eid Christel Riemann- Manfred Zöllmer Hans Josef Fell Hanewinckel Brigitte Zypries DIE LINKE Sönke Rix Hüseyin-Kenan Aydin Katrin Göring-Eckardt Rene Röspel Nein Karin Binder Anja Hajduk Dr. Dr. Britta Haßelmann Karin Roth (Esslingen) SPD Heidrun Bluhm Winfried Hermann Michael Roth (Heringen) Klaus Barthel Eva Bulling-Schröter Priska Hinz (Herborn) Dr. Martina Bunge Ulrike Höfken Anton Schaaf FDP Dr. Axel Schäfer (Bochum) Sevim Dagdelen Bärbel Höhn Bernd Scheelen Jens Ackermann Dr. Diether Dehm Thilo Hoppe Dr. Hermann Scheer Dr. Karl Addicks Werner Dreibus Ute Koczy (B) Dr. Dagmar Enkelmann Sylvia Kotting-Uhl (D) Daniel Bahr (Münster) Klaus Ernst Fritz Kuhn (Aachen) Wolfgang Gehrcke Renate Künast Silvia Schmidt (Eisleben) Rainer Brüderle Diana Golze Undine Kurth (Quedlinburg) Angelika Brunkhorst Dr. Gregor Gysi Renate Schmidt (Nürnberg) Markus Kurth Heike Hänsel Dr. Frank Schmidt Monika Lazar Patrick Döring Lutz Heilmann Heinz Schmitt (Landau) Dr. Reinhard Loske Carsten Schneider (Erfurt) Mechthild Dyckmans Hans-Kurt Hill Jörg van Essen Cornelia Hirsch Anna Lührmann Olaf Scholz Jerzy Montag Otto Fricke Inge Höger-Neuling Kerstin Müller (Köln) Reinhard Schultz Paul K. Friedhoff Dr. Barbara Höll (Everswinkel) Horst Friedrich (Bayreuth) Ulla Jelpke Winfried Nachtwei (Spandau) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Lukrezia Jochimsen Brigitte Pothmer Ewald Schurer Dr. Dr. Hakki Keskin Hans-Michael Goldmann Elisabeth Scharfenberg Dr. Angelica Schwall-Düren Miriam Gruß Monika Knoche Christine Scheel Dr. Martin Schwanholz Joachim Günther (Plauen) Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Christel Happach-Kasan Katrin Kunert Dr. Gerhard Schick Rita Schwarzelühr-Sutter Heinz-Peter Haustein Oskar Lafontaine Rainder Steenblock Wolfgang Spanier Elke Hoff Michael Leutert Silke Stokar von Neuforn Dr. Margrit Spielmann Birgit Homburger Ulla Lötzer Hans-Christian Ströbele Jörg-Otto Spiller Dr. Werner Hoyer Dr. Gesine Lötzsch Dr. Harald Terpe Dr. Ditmar Staffelt Michael Kauch Ulrich Maurer Jürgen Trittin Andreas Steppuhn Dr. Heinrich L. Kolb Dorothee Menzner Wolfgang Wieland Hellmut Königshaus Kornelia Möller Margareta Wolf (Frankfurt) Rolf Stöckel Gudrun Kopp Kersten Naumann Christoph Strässer Jürgen Koppelin Wolfgang Neskovic fraktionslos Dr. Peter Struck Heinz Lanfermann Dr. Joachim Stünker Petra Pau Gert Winkelmeier Dr. Rainer Tabillion Harald Leibrecht Bodo Ramelow Jörg Tauss Ina Lenke Elke Reinke Enthalten Jella Teuchner Sabine Leutheusser- Paul Schäfer (Köln) Dr. h.c. Schnarrenberger Volker Schneider CDU/CSU Jörn Thießen Markus Löning (Saarbrücken) Franz Thönnes Horst Meierhofer Dr. Herbert Schui Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3997

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut! – Zu- b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion (C) ruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aber der LINKEN eingebrachten Entwurfs eines knapp!) Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch Wir kommen nun zur – Drucksache 16/451 – dritten Beratung Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- und Schlussabstimmung. – Herr Lafontaine, es würde ses für Gesundheit (14. Ausschuss) zur Komplettierung des Protokolls beitragen, wenn Sie in den Reihen Platz nähmen, die der Entscheidung der – Drucksache 16/1753 – Wähler entsprechen. Berichterstattung: (Heiterkeit) Abgeodneter Dr. Rolf Koschorrek Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt vorhin festgestellten Fassung zustimmen wollen, sich zu Bender, Matthias Berninger, Dr. Thea Dückert, erheben. – Wer stimmt gegen den Gesetzentwurf? – Wer weiterer Abgeordneter und der Fraktion des möchte sich der Stimme enthalten? – Damit ist der Ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN setzentwurf mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen bei eini- Stärkung der Solidarität und Ausbau des gen Gegenstimmen aus den Reihen der SPD-Fraktion Wettbewerbs – Für eine leistungsfähige Kran- und einer Enthaltung aus der SPD-Fraktion mit der not- kenversicherung wendigen Mehrheit angenommen. – Drucksache 16/1928 – Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- Überweisungsvorschlag: schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf der Ausschuss für Gesundheit Drucksache 16/2014. Wer stimmt für diesen Entschlie- ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich Bahr (Münster), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad der Stimme? – Der Entschließungsantrag ist mit Mehr- Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion heit abgelehnt. der FDP Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 b. Hier geht Für Nachhaltigkeit, Transparenz, Eigenver- es um Abstimmungen über die Beschlussempfehlung des antwortung und Wettbewerb im Gesundheits- Finanzausschusses auf der Drucksache 16/2012. Der Aus- wesen (B) schuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussemp- (D) fehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion des – Drucksache 16/1997 – Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1501 mit Überweisungsvorschlag: dem Titel „Steueränderungsgesetz 2007 zurückziehen“. Ausschuss für Gesundheit (f) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Die Über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke wer- Beschlussempfehlung ist angenommen. den wir zu einem späteren Zeitpunkt namentlich abstim- Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp- men. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für FDP-Fraktion auf Drucksache 16/1654 mit dem Titel diese Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. – „Keine weiteren Steuererhöhungen“. Wer stimmt für Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – schlossen. Enthaltungen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- nächst der Parlamentarischen Staatssekretärin Marion Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie Caspers-Merk. den Zusatzpunkt 2 auf: 4 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- Bundesministerin für Gesundheit: schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Thema Gesundheit bewegt die Menschen. Gesunde Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Menschen haben natürlich viele Wünsche. Kranke Men- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN schen haben eigentlich nur einen Wunsch, nämlich den, gesund zu werden. Deswegen ist klar, dass die Gesund- Dem Solidarsystem eine stabile Grundlage heitspolitik ein Politikfeld ist, das die Menschen wie geben – für eine nachhaltige Finanzierungs- kein zweites beschäftigt. reform der Krankenversicherung Insofern ist es eine gute Gelegenheit, heute zu den – Drucksachen 16/950, 16/2002 – Leitlinien der Gesundheitspolitik Stellung zu nehmen Berichterstattung: und die Anträge der Oppositionsparteien im Deutschen Abgeordnete Hilde Mattheis Bundestag zu würdigen. Es ist Ihr gutes Recht – das sage 3998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk (A) ich zu den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen –, Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) etwas einzufordern. Was Sie einfordern, wird aber ei- Frau Staatssekretärin, gestatten Sie eine Zwischen- gentlich schon getan. Sie fordern uns nämlich auf, einen frage der Kollegin Wolf? Gesetzentwurf zum Thema „Strukturreformen in der Ge- sundheitspolitik“ vorzulegen. Vielleicht ist den Kolle- Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der ginnen und Kollegen ja entgangen, dass genau dies im Bundesministerin für Gesundheit: Moment erarbeitet wird. Selbstverständlich. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Bei einem Ge- setzentwurf sind Sie noch nicht! Sie haben Präsident Dr. Norbert Lammert: noch nicht einmal Eckpunkte!) Bitte, Frau Wolf.

Dieser Aufforderung hätte es also gar nicht bedurft. Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE Denn es ist seit langem Beschlusslage, dass die große GRÜNEN): Koalition einen Entwurf zur Reform des Gesundheits- Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, die Bundesregie- wesens vorlegen wird. rung hat die Gesundheitsstrukturreform zu dem Reform- (Unruhe) projekt erklärt. Ich stelle die Frage, warum uns die Mi- nisterin heute nicht selber Rede und Antwort steht, zumal sie doch im Plenum anwesend ist. Präsident Dr. Norbert Lammert: Einen Augenblick bitte, Frau Kollegin. – Ich darf die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – jenigen Kolleginnen und Kollegen, die dringend andere Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Weil euer An- Geschäfte zu erledigen haben, bitten, dies möglichst au- trag so billig ist!) ßerhalb des Plenarsaals zu tun, um die Konzentration für diese Debatte sicherzustellen. Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit: Frau Kollegin, Ihre Fachpolitikerinnen und Fachpoli- Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der tiker wissen, dass die Ministerin wegen der Verzögerung Bundesministerin für Gesundheit: der Debatte und der Gesundheitsministerkonferenz in Vielen Dank, Herr Präsident. – Die Aufgeregtheiten, Dessau nicht während der gesamten Debatte anwesend die aus Baden-Württemberg kamen und zu einer Verzö- sein kann. gerung der Abarbeitung der Tagesordnung beigetragen (B) haben, habe ich als Badenerin nicht verursacht und nicht (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) zu verantworten. NEN]: Sie sitzt doch da!) Der Respekt vor dem Parlament gebietet es, dass man (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dann, wenn man nicht während der gesamten Debatte Jetzt geht es wieder los!) anwesend ist, auch nicht das Wort ergreift. Das hätten Insofern ist klar, dass es etwas unruhig war. Sie dann nämlich auch kritisiert. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Geld aus Stuttgart ist aber schon recht!) Daran, dass sie trotzdem anwesend ist, sehen Sie, wie wichtig uns dieses Thema ist. Sie kann jedoch nicht die – Die Stuttgarter wehren sich. ganze Zeit bleiben und das ist Ihren Fachpolitikerinnen Es ist so, dass Union und SPD vor der Bundestags- und -politikern auch mitgeteilt worden. wahl sehr unterschiedliche Konzepte in der Gesundheits- (Zuruf von der CDU/CSU: Der Antrag wäre es politik angekündigt hatten. Deswegen ist jetzt ein auch nicht wert gewesen!) schwieriger, aber notwendiger Reformprozess zu bewäl- tigen. Diese Reform muss tragfähig sein und von beiden So viel Fairness sollte man im Umgang miteinander ha- Parteien und den Fraktionen, die die Regierung stellen, ben. verantwortet werden können. Ich denke, dass sowohl der Ich möchte noch einmal zu Ihren Anträgen kommen. Zeitrahmen als auch die Fragestellungen, um die es geht, Sie haben erstens gefordert, dass in Zukunft jeder versi- klar waren. chert sein soll. Dieses Erfordernis wird derzeit diskutiert und die beiden Fraktionen sind sich auch einig gewor- Das, was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den, dass ein Versicherungsschutz in Zukunft für alle Bündnis 90/Die Grünen, in Ihren Anträgen fordern, wird in Deutschland gelten soll. längst gemacht. Es wird auf der einen Seite die Finanzie- rungskonzeption auf eine neue, tragfähige Basis gestellt. Sie fordern zweitens, dass der Zugang zu medizini- Auf der anderen Seite wird klargezogen, dass eine nach- scher Versorgung künftig für alle gewährleistet sein haltige Entwicklung in der Gesundheitspolitik erforder- muss. Auch das ist erklärtes Ziel unserer Politik. Was lich ist. Sie fordern ein, dass diese Reform sicherstellt, also soll Ihr Antrag zum jetzigen Zeitpunkt? Sie wissen, dass künftig alle Bürgerinnen und Bürger versichert dass ein Reformkonzept vorgelegt wird. Sie kennen die sind. Genau das ist unser Ziel. Wir haben die Ziele der Zeitpläne. Sie hatten auch sehr wohl im Fachausschuss Reformpolitik auch deutlich gemacht. die Gelegenheit, sowohl die Finanzsituation als auch die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 3999

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk (A) einzelnen Bearbeitungsschritte, die vorgetragen wurden, An den Konzepten der Opposition ist eines interes- (C) zu diskutieren. Insofern bedarf es der Aufforderung in sant: Im Fachausschuss konnte sich die Opposition ges- Form Ihres Antrags nicht. tern nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Sie waren sich, glaube ich, nur bei einem Tagesordnungs- Dennoch gibt uns Ihr Antrag die Gelegenheit, über punkt einig, nämlich als es um das Verbot der Einfuhr die notwendigen Strukturreformen in der Gesundheits- von Wildvögeln ging. Darüber hat die Opposition ein- politik zu reden. Das tun wir sehr gerne, weil auch die heitlich abgestimmt. In der Gesundheitspolitik liegen Öffentlichkeit ein Interesse daran hat, zu erfahren, wel- Ihre Auffassungen hingegen weit auseinander. che Fragestellungen eigentlich erörtert werden. Ich erin- nere insbesondere die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, (Detlef Parr [FDP]: Gott sei Dank sind wir die damals an der Regierung beteiligt war, daran, dass weit auseinander!) wir das GMG aufgrund der Probleme damals gemeinsam mit einer hohen Einsparquote verabredet haben. Von der einen Seite wird immer wieder das Thema Kos- tenerstattung aufgerufen und von der Seite der Linken (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ja, das hört man außer einer allgemeinen Forderung nach der stimmt!) Bürgerversicherung – Sie sagen noch nicht einmal, wie Sie sie eigentlich ausgestalten wollen – sehr wenig. Wir haben die Ausgabenseite angepackt und auch Struk- turen verändert. Jeder weiß aber, dass Strukturverände- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das hat die rungen ein auf Dauer angelegter Prozess sind. Jeder SPD auch nicht gemacht!) weiß auch, dass die nachhaltige Finanzierung zwi- schen den Parteien strittig war. Deswegen ist es richtig, Insofern können wir unsere Reformen sehr gelassen dass in einer gemeinsamen Runde ein tragfähiger dritter vorantreiben und vorstellen. Wir haben Ihnen den Zeit- Weg, ein Modell entwickelt wird, das auch für die große plan mitgeteilt. Sie kennen ihn. Sie wissen auch, was die Koalition tragfähig ist. Grundüberlegungen dieser Reformpolitik sind. Welches sind die Elemente dieser tragfähigen Politik? (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zunächst einmal brauchen wir eine nachhaltige Finan- NEN]: Sollen wir uns jetzt auf den Boden wer- zierungsstruktur. Das bedeutet, dass wir Beitragsstabili- fen und Ihnen danken? Was ist eigentlich los?) tät brauchen. Wir brauchen aber auch zusätzliche Ein- Wir haben Ihnen die Möglichkeit gegeben, sich zu betei- nahmen im System. Es hat sich auch bis zur Opposition ligen. Sie werden sich aber noch ein bisschen gedulden herumgesprochen, dass derzeit über ein Fondsmodell müssen. Es ist das gute Recht der Opposition, hier Fra- diskutiert wird. Die vorgetragenen Kritikpunkte sind gen zu stellen und Anträge vorzulegen. Es ist aber auch nicht sehr substanziell. Ein Fonds ist weder gut noch (B) das gute Recht der Regierung, ihren Zeitplan in aller (D) schlecht. Er bietet aber die Chance, unterschiedliche Ruhe und Gelassenheit zu fahren; Finanzquellen zusammenzuführen und die Belastungen gerechter zu verteilen. Darum geht es im Moment. Sie (Zuruf von der FDP: Wissen Sie denn schon, werden sich gedulden müssen, bis die Eckpunkte der Re- wo Sie hinfahren?) form vorgelegt werden. denn die Bürgerinnen und Bürger haben es verdient, dass (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie eine Gesundheitspolitik aus einem Guss vorfinden. NEN]: Ach, Frau Oberlehrerin! Das ist doch Schönen Dank. keine Bildungsdebatte!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Die Termine standen fest und das wussten Sie auch, Frau CDU/CSU) Kollegin Künast. Wir wollen das Gesundheitswesen konkurrenzfähiger Präsident Dr. Norbert Lammert: und wettbewerbsorientierter machen. Wir glauben, dass Für die FDP-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege mehr Transparenz und Wettbewerb dringend überfäl- Daniel Bahr. lig sind. Wir wollen darüber hinaus, dass die Strukturen in den Institutionen klarer werden. Das ist überfällig. (Beifall bei der FDP) Derzeit haben wir im Bereich der Selbstverwaltung näm- lich eine intransparente Struktur. Das Aufbrechen der Daniel Bahr (Münster) (FDP): Verkrustungen ist dringend notwendig, um voranzukom- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! men. Wir brauchen natürlich eine modernere Selbstver- Frau Staatssekretärin Caspers-Merk, es ist schon ein waltung, die den Herausforderungen gerecht wird. starkes Stück, Darüber hinaus brauchen wir spürbare strukturelle (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des Reformen. Wir wollen – das ist klar – den Patientinnen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und Patienten mehr Wahl- und Wechselmöglichkeiten dass Sie erwarten, dass Ihnen die Opposition jetzt, wo eröffnen. Auch das haben wir Ihnen in den Grundzügen sich die große Koalition nicht in der Lage sieht, sich zu erläutert. einigen, diese Aufgabe abnimmt. Die Opposition legt (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hier eigene Konzepte vor, und zwar jede Fraktion für NEN]: Man wird ja noch einmal fragen dür- sich, weil sie unterschiedliche Ansätze haben. Die fen!) schwarz-rote Koalition hat aber den Wählerauftrag, für 4000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Daniel Bahr (Münster) (A) Veränderungen zu sorgen und endlich eine Reform vor- Hier stehen wir in der Tat vor einer Richtungsent- (C) zulegen. Und was machen Sie? Klammheimlich, wäh- scheidung: Wollen wir ein steuerfinanziertes staatliches rend der Fußball-WM, beraten Sie die Eckpunkte zur Gesundheitswesen oder wollen wir ein Gesundheitswe- Gesundheitsreform. sen, das auf Freiheit, auf Wettbewerb und auf Eigenver- antwortung der Versicherten baut? Wir von der FDP (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der möchten kein steuerfinanziertes staatliches Gesundheits- CDU/CSU und der SPD) wesen. All die Erfahrungen mit dem bisherigen Bundes- zuschuss zeigen doch, wie unsicher ein pauschaler Steu- Das Endspiel der Gesundheitsreform findet am Sonntag erzuschuss ist. Dann entscheidet der Finanzminister und statt. Das Parlament hat dann überhaupt keine Gelegen- die Verlässlichkeit geht verloren. Eine weit gehende heit mehr, vor der Sommerpause über die Eckpunkte die- Steuerfinanzierung kann angesichts der Haushaltslage ser Reform zu diskutieren. Die nächste Möglichkeit zur Gesundheit nach Kassenlage führen. Ich möchte das dafür würde sich erst im Herbst bieten. Daher ist es das nicht. gute Recht der Opposition, hier und heute eine Debatte über die Gesundheitspolitik zu führen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem Dann machen Sie Versprechungen, mit Steuergeldern BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Beiträge zu senken. Das alles haben wir schon vor Jahren erlebt. Oder ist Ihnen die Debatte über die Öko- Frau Caspers-Merk, Sie haben mir eine Steilvorlage steuer von 1998 nicht mehr in Erinnerung? geliefert: Es ist ja richtig, dass die letzte große Gesund- heitsreform von einer großen Koalition durchgeführt (Elke Ferner [SPD]: Wo wären dann die Ren- wurde, nämlich von der CDU/CSU, den Grünen und der tenversicherungsbeiträge nach Ihrer Begren- SPD. Was hat aber das Gesetz zur Modernisierung des zung gewesen?) Gesundheitssystems gebracht? Die letzte große Gesund- Damals wurde uns beigebracht, dass der Rentenbeitrag heitsreform ist gerade einmal zweieinhalb Jahre her. Sie bei mittlerweile 18,5 Prozent liegen müsste. Zusammen- sollte eine massive Beitragssatzsenkung bringen. Da- genommen sind seit dem Jahr 2000 85 Milliarden Euro mals lag der Beitragssatz im Schnitt bei 14,4 Prozent. aus der Ökosteuer in die Rentenkasse geflossen. Trotz- Versprochen wurde uns eine Senkung auf 13,0 Prozent dem muss der Rentenversicherungsbeitrag im nächsten inklusive Sonderbeitrag. Die Realität sieht heute aber Jahr auf 19,9 Prozent, also fast 20 Prozent, steigen. anders aus: Der Beitragssatz liegt bei durchschnittlich 14,2 Prozent. Die Reform brachte eine Senkung um (Elke Ferner [SPD]: Wo wäre er denn ohne 0,2 Prozent – das nenne ich eine große Jahrhundert- Ökosteuer?) (B) (D) reform! Zum 1. Januar und zum 1. Juli dieses Jahres Die Versprechung, dass durch Steuererhöhungen Lohn- wurden von zahlreichen Krankenkassen Beitragssatzer- zusatzkosten und Rentenbeiträge gesenkt werden, ist höhungen vorgenommen. doch Makulatur, wenn Sie sich die Erfahrung der Politik der letzten Jahre vergegenwärtigen. Das ist nicht der (Elke Ferner [SPD]: Man sollte auch einmal richtige Weg, um die Lohnzusatzkosten zu senken. fragen, warum, Herr Kollege!) (Beifall bei der FDP) 81 Krankenkassen haben immer noch Schulden in Höhe von insgesamt knapp 4 Milliarden Euro. Für 2007 er- Steuerzuschüsse ersetzen eben keine Strukturreform. warten wir ein Defizit von 8 Milliarden Euro. Sie haben weder den Mut noch die Kraft für eine grund- legende Reform. Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Re- Das ist das Ergebnis der letzten Reform einer großen gierungserklärung gesagt: Koalition in der Gesundheitspolitik. Das ist ein zutiefst Wir werden es grundlegend anders machen, damit blamables Ergebnis. Sie haben es nicht geschafft, an die es grundlegend besser wird. Strukturprobleme der Gesundheitspolitik heranzugehen. Die Bürger stellen aber hinsichtlich der Gesundheitspoli- (Beifall bei der FDP) tik immer mehr fest, dass es teurer wird, ohne besser zu werden. Die schwarz-rote Koalition kauft sich einen Schwarz-Rot hat das Defizit, das im nächsten Jahr Kompromiss mit dem Geld der Steuer- und Beitragszah- eintreten wird, selbst zu verantworten. Die Mehrwert- ler. steuererhöhung belastet die gesetzlichen Krankenversi- cherungen. Etwa 1,3 Milliarden Euro werden, zum Teil (Beifall bei der FDP) für Arzneimittel, zum Teil für Krankenhauskosten, mehr Frau Caspers-Merk hat eben gesagt, es sei das Ziel ausgegeben. Außerdem hat die schwarz-rote Koalition der Koalition, zu einer nachhaltigen Finanzierung zu beschlossen, den Bundeszuschuss in Höhe von 4,2 Mil- kommen. Ich kann nur feststellen, dass in den Debatten liarden Euro, finanziert aus der Tabaksteuererhöhung, über eine Gesundheitsreform das Thema „alternde Be- bis 2008 wieder auf null zu senken. Dabei wird die Ta- völkerung“ – wie bekommen wir mehr Nachhaltigkeit in baksteuererhöhung übrigens überhaupt nicht infrage die Finanzierung des Gesundheitswesens? – bisher über- gestellt. – Ein Steuerzuschuss für die gesetzliche Kran- haupt gar keine Rolle spielt. kenversicherung ist also gar nicht so neu. Jetzt plant die Koalition den nächsten, höheren Steuerzuschuss; er liegt (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto mittlerweile bei 16 bis 24 Milliarden Euro. Solms) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4001

Daniel Bahr (Münster) (A) Sie nennen als Beispiel den Gesundheitsfonds. Das müssen sich langsam entscheiden, wie Sie argumentie- (C) hört sich toll an. Gemeinhin denkt man, dass dort Geld ren. Man kann doch nicht ans Rednerpult gehen und sa- angespart wird für Zeiten, in denen man dieses Geld gen, die Regierung habe kein Konzept, und dann die ein- braucht. Aber der Gesundheitsfonds, wie Sie ihn planen, zelnen Punkte des angeblich nicht vorhandenen ist nichts anderes als eine gigantische Geldsammelstelle, Konzeptes kritisieren. Das passt nicht zusammen. bei der es nur darum geht, die Bürgerinnen und Bürger zu täuschen. Sie überlegen doch nur, aus welcher Tasche (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- man ihnen noch Geld nehmen kann und wie man es neten der SPD) möglichst großzügig auf die Krankenkassen umverteilt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Grünen Das ist keine Nachhaltigkeit, sondern die Fortsetzung ei- beginnen ihren Antrag mit den Worten: ner wenig nachhaltigen Finanzierung des Krankenver- sicherungssystems. So schieben Sie die Lasten weiterhin Auch acht Wochen nach Verhandlungsbeginn hat auf die kommenden Generationen. die große Koalition der Fraktionen der CDU/CSU und SPD noch kein gemeinsames Konzept für die (Beifall bei der FDP) Reform der gesetzlichen Krankenversicherung … Sie wollen – das ist mein Eindruck – den Weg in ein (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zentralistisch gesteuertes, staatliches Gesundheitswesen Ja! Genau richtig!) gehen. Ein Gesundheitsfonds kombiniert mit einem Bundeskrankenkassenverband, in dem die Krankenver- Ich kann Sie wirklich beruhigen. Wir halten uns an unse- sicherungen nur noch Befehlsempfänger dieser Dachor- ren Terminplan. Wie vorgesehen werden die Eckpunkte ganisation sind, und vorgeschriebene Mindestgrößen für am kommenden Sonntag festgelegt. Krankenkassen, wodurch gerade die kleinen, innova- Ich kann mich, was die Grünen betrifft, nicht des Ein- tiven Krankenkassen, die geringe Verwaltungskosten drucks erwehren, als wollten Sie vor der Sommerpause haben, zerstört werden sollen, bedeuten weniger Wett- unbedingt noch eine Show. Herr Fischer ist Ihnen abhan- bewerb, weniger Autonomie und weniger Selbstverwal- den gekommen. Jetzt brauchen Sie eine andere Show- tung. Das wird mehr Kosten und Bürokratie verursa- ebene. chen. Das ist der Weg in die Planwirtschaft im Gesundheitswesen. Wir wollen diesen Weg nicht mitge- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hen. NEN – Beifall bei Abgeordneten der CDU/ CSU) (Beifall bei der FDP) Aber dafür ist dieses Thema viel zu ernst. (B) Wir haben in unserem Antrag dargestellt, wie wir (D) mehr Freiheit im Gesundheitswesen wagen wollen, und Das deutsche Gesundheitswesen ist in den letzten zwar mit privaten Krankenversicherungen, die im Wett- Jahren wie selten zuvor in den Mittelpunkt sozialpoliti- bewerb zueinander stehen, mit Wahlmöglichkeiten für scher Diskussionen gerückt. Der stete Wechsel gesund- die Versicherten, sodass sie selbst auswählen können, heitspolitischer Rahmenbedingungen fand in immer kür- wie sie ihren Versicherungstarif gestalten, und mit Al- zeren Zeitintervallen statt. Deshalb habe ich größtes tersrückstellungen, wodurch Vorsorge für die alternde Verständnis dafür, dass die Akteure im Gesundheitswe- Bevölkerung betrieben wird. sen nach den vielen Reformen der letzten 15 Jahre nun endlich Planungssicherheit erwarten. Dies wird man Das Gesundheitswesen ist der größte Arbeitgeber in aber nur dann erreichen, wenn man die Hauptursache der Deutschland. Wenn es auch zukünftig ein Wachstums- Reformen der letzten Jahre, die Bindung der Finanzie- markt sein soll, dann darf hier nicht weiter staatlich rung an die Löhne, und damit die zusätzliche Belastung reglementiert werden, sondern dann muss es wie ein Ge- der Lohnkosten angeht. sundheitsmarkt verstanden werden, mit Freiheit, Wettbe- werb, Transparenz und Eigenverantwortung. (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/ CSU] – Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Und wer nicht So ist es!) zahlen kann, hat Pech gehabt!) Hier brauchen wir endlich eine nachhaltige Lösung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Nicht der Kostendruck, sondern der Wettbewerb und (Beifall bei der FDP) eine bessere Versorgung der Menschen müssen künf- tig die Leitgedanken von Reformen sein. Man muss al- lerdings auch zur Kenntnis nehmen, dass in keinem an- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: deren Bereich so viele Gefühle angesprochen bzw. so Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Zöller von viele Ängste ausgelöst werden und kaum ein politisches der CDU/CSU-Fraktion. Feld so komplex und vielschichtig ist wie unser Gesund- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- heitswesen. Deshalb habe ich überhaupt kein Verständ- neten der SPD) nis dafür, wenn man die Leute tagtäglich mit falschen Behauptungen und nicht zutreffenden Vermutungen ver- unsichert. Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nes muss sich die Opposition schon vorhalten lassen: Sie neten der SPD) 4002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Wolfgang Zöller (A) Wie sieht die Einnahmeseite der gesetzlichen Kran- sorgen müssen, nicht nur für mehr Eigenverantwortung (C) kenversicherung tatsächlich aus? Die Diskussion der der Versicherten, sondern auch für mehr Eigenverant- letzten Jahre verdeutlicht doch, dass wir im System wortung der am System Beteiligten. keine Versorgungskrise, sondern eine Finanzierungskrise haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Elke Ferner [SPD]) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein! Eine Koalitionskrise!) Die gesetzliche Krankenversicherung lebt von der So- lidarität der Beitragszahler. Uns ist die Einnahmeseite weggebrochen. Ich bin davon überzeugt, dass die Krankenversicherung künftig nicht (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das ist wohl mehr allein über die Arbeitslöhne finanziert werden wahr!) kann. Unser Gesundheitswesen wird schon aufgrund des Solidarität heißt zu Recht: Verantwortung für das Ganze. medizinisch-technischen Fortschritts und aufgrund der Solidarität darf aber nicht heißen: Verantwortung für steigenden Lebenserwartung mit zunehmenden Ausga- alles. Im Gegenteil: Solidarität verstanden als Daseins- ben belastet. vorsorge für die großen Risiken setzt auch voraus, dass Lassen Sie mich hierzu ein paar Zahlen nennen: Die kleinere Risiken eigenverantwortlich geschultert werden Einnahmeseite ist uns auch deshalb weggebrochen, weil können. wir in den letzten Jahren 1,5 Millionen sozialversiche- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rungspflichtige Arbeitsplätze verloren haben. Das be- der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE deutet einen Einnahmeverlust in Höhe von 6,5 Milliar- GRÜNEN]: Das hört sich ja sehr christlich den Euro. Auch ein anderer Aspekt ist viel zu wenig an!) beachtet worden: In den letzten Jahren haben ungefähr 1 Million bestausgebildete junge deutsche Menschen Die gemeinschaftliche Vorsorge für die großen Risiken Deutschland verlassen. Man muss fragen: Warum? Im- ermöglicht es dem Einzelnen ja erst, kleinere Risiken ei- mer wieder wird das Argument angeführt, die Bürokratie genverantwortlich zu übernehmen. in Deutschland sei zu hoch. Wenn das grüne Antidiskri- minierungsgesetz tatsächlich Realität geworden wäre, Wer Freiheit und Wohlstand will, muss auch bereit wären noch mehr Menschen ausgewandert. Wir müssen sein, sich von Überbetreuung und falscher Geborgenheit endlich die Ursachen dieser Entwicklung angehen. zu verabschieden. (Beifall bei der CDU/CSU – Irmingard (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (B) Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ideologie!) (D) NEN]: Glauben Sie eigentlich, was Sie da sa- In einer Gesellschaft, in der die Freiheit zur Selbstentfal- gen? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE tung und Selbstverwirklichung immer größer geworden GRÜNEN]: Aber im Wesentlichen kommt es ist, sollte es eigentlich nicht unmöglich sein, das Pendant doch!) zu dieser Freiheit zu neuem Leben zu erwecken, nämlich – Wenn Sie keine Redezeit haben, können Sie mir gerne die individuelle Selbstverantwortung. eine Frage stellen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In diesem Zusammenhang möchte ich etwas zitieren: Wenn Sie so einen Unsinn erzählen, müssen Sie Unruhe in Kauf nehmen!) Das Grundgesetz geht von dem freiheitlichen, selbstverantwortlichen Individuum aus; in der Rea- Mit unseren Vorschlägen werden wir erstmals das lität aber versperrt der Gesetzgeber durch dauernd Problem der Verschiebebahnhöfe in Angriff nehmen und steigende soziale Belastungen dem einzelnen Be- verhindern, dass sich ständig andere Sozialsysteme zu- schäftigten nicht nur die Möglichkeit, sondern auch lasten der gesetzlichen Krankenversicherung sanieren. den Antrieb zur individuellen Vorsorge. (Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz Diese Aussage stammt aus einem „Spiegel“-Interview [CDU/CSU]) von 1967, von dem ersten Sozialminister einer großen Die dadurch entstehenden Kosten belaufen sich inzwi- Koalition, Hans Katzer. Wir sehen, dass das Thema Ei- schen auf einen Betrag von jährlich 5 Milliarden Euro. genverantwortung nicht neu ist. Ein Aspekt muss in diesem Zusammenhang ebenfalls Ich will einen Punkt aus Ihrem Programm anspre- erwähnt werden: Unser Gesundheitssystem ist wesent- chen, meine sehr verehrten Damen und Herren von den lich besser, als es momentan in der Öffentlichkeit darge- Grünen: Wir brauchen auch weiterhin den Wettbewerb stellt wird. zwischen gesetzlicher und privater Krankenversiche- rung; dazu stehen wir. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Auch das ist richtig!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Da habt ihr doch noch gar nichts ange- Allerdings müssen wir ehrlich sagen, dass wir in diesem fangen! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE Bereich nach wie vor für mehr Eigenverantwortung GRÜNEN]: Auslese!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4003

Wolfgang Zöller (A) Die zusätzlichen Honorarzahlungen der privaten Versi- meinen Beitrag und deshalb haben Sie das gefälligst zu (C) cherungen bieten den Leistungserbringern, ob niederge- machen. lassenen Ärzten oder Ärzten im Krankenhaus, höhere Planungssicherheit. Wie viele Neuverfahren wurden zu- Ich habe diese beiden Beispiele gebracht, weil ich fest nächst in der PKV erstattet und kamen dann allen Versi- davon überzeugt bin: Ohne Moral fahren wir alle Sozial- cherten zugute! Wer Ärzten für ihre schwierige und ver- systeme an die Wand. antwortungsvolle Arbeit die angemessene Honorierung Vielen Dank. verweigert, schadet letztendlich der medizinischen Ver- sorgung der Patienten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Grünen behaupten in ihrem Antrag, die einkom- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mensstärksten 10 Prozent der Bevölkerung beteiligten Das Wort hat die Kollegin Dr. Martina Bunge von der sich nicht an der Finanzierung der gesetzlichen Kranken- Fraktion Die Linke. versicherung. (Beifall bei der LINKEN) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Stimmt ja nicht! Das ist Unsinn!) Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Annahme ist schlichtweg falsch. Mit den vorliegenden Oppositionsanträgen diskutieren (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wir zum wiederholten Mal in dieser Legislaturperiode über die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung. Aus einer falschen Grundannahme kann man aber keine Eine nachhaltige Finanzreform ist uns von den Koalitio- richtigen Schlüsse ziehen. Ich will Ihnen dazu nur einige nären angekündigt worden. Auf dem Tisch liegen aber Zahlen nennen: 55 Prozent der privat Versicherten haben nur Spekulationen, nicht mehr. ein Einkommen von unter 2 500 Euro im Monat. Ich habe langsam den Eindruck, wenn die Grünen „privat (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie müssen Versicherte“ hören, glänzen ihnen die Augen und sie schon noch bis Sonntag warten!) denken an Ackermann. Aber in der Privatversicherung Lassen Sie mich an Ihren Terminplan anknüpfen. Er sind auch kleine Beamte, Beihilfeempfänger, und das in ist nämlich etliche Male geändert worden. der überwiegenden Zahl. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der Termin- (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und plan noch nie!) (D) der FDP – Elke Ferner [SPD]: Woher kommt die Beihilfe? Aus dem Steuertopf!) Die seriös erscheinende Arbeitsphase bis Ostern ist in eine seit Wochen anhaltende Phase übergegangen, in der Wenn Sie von den Grünen in diesem Punkt ehrlich sind, wortwörtlich jeden Tag ein neuer Vorschlag – sei er noch müssen Sie zugeben: Es geht Ihnen hier nicht um die Sa- so skurril – durch die Medien gejagt wird. Die Macht- che. Sie schüren puren Sozialneid. Ich kann Ihnen sagen: verhältnisse lassen dies leider zu. Durch dieses Verfah- Wer die PKV kaputtmacht, löst damit kein einziges Pro- ren werden die Parlamentarierinnen und Parlamentarier blem der gesetzlichen Krankenversicherung. langsam genervt (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Lassen Sie mich an zwei Beispielen ein Problem an- sprechen, das wir gemeinsam viel stärker beachten soll- und die Versicherten und Patientinnen und Patienten zu- ten: Erstes Beispiel. Wir haben in den Krankenhäusern nehmend verunsichert. Aber auch die Akteure im Ge- eine, wie wir meinen, leistungsgerechte Vergütung ein- sundheitssystem sind erbost, weil sie außen vor bleiben. geführt. So gibt es zum Beispiel für eine normale Geburt einen festen Betrag; für etwas kompliziertere Fälle mit Gesundheit geht alle an, aber einige wenige meinen Kaiserschnitt gibt es einen wesentlich höheren Betrag. derzeit, alleine darüber befinden zu können. Plötzlich müssen wir feststellen, dass in etlichen Kran- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Genauso kenhäusern normale Geburten so gut wie nicht mehr ist es!) stattfinden und fast alles über Kaiserschnitte läuft. Das ist nicht in Ordnung. Dabei sind gegenwärtig sehr viele reformbereit und re- formwillig angesichts der Herausforderungen, vor denen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und das Gesundheitssystem durch die Alterung der Gesell- der FDP) schaft und durch den medizinischen Fortschritt steht. Das zweite Beispiel – auch ein tatsächlicher Fall –: Allein Ihre vermeintliche Verständigung auf einen Ein 25-Jähriger kommt zum Arzt und möchte eine neue Gesundheitsfonds hat enorme Energien freigesetzt. Die Hüfte. Der Arzt stellt fest, dass der Patient Aussicht, dass einzig den Arbeitgebern stabile, abge- 140 Kilogramm wiegt, und sagt: Wenn ich Ihnen eine senkte Beiträge von 6,5 Prozent versprochen werden, die neue Hüfte gebe, nützt das nichts. Sie müssten eigentlich Versicherten aber 7,5 Prozent aufgebrummt bekommen erst abnehmen. – Er bekommt zur Antwort: Ich bezahle und das gesamte Risiko für die Ausgabensteigerungen 4004 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Martina Bunge (A) über eine kleine Kopfpauschale tragen sollen, ist sozial Lassen Sie uns darüber reden, wie wir der so genann- (C) ungerecht und findet nicht unsere Zustimmung. ten Volkskrankheiten Herr werden und dabei seltene Krankheiten nicht vergessen; das kostet natürlich Geld. (Beifall bei der LINKEN – Elke Ferner [SPD]: Das habe ich auch nicht erwartet!) Lassen Sie uns die Ergebnisse neuer Versorgungsfor- men analysieren und in die Breite gehen; das bringt Effi- Das Bekenntnis zur gesetzlichen, beitragsfinanzierten zienz. Krankenversicherung und deren Grundprinzipien wie Solidarausgleich und Parität wächst. Herr Bahr, es gibt Lassen Sie uns gemeinsam beraten, welche Anforde- eben nicht nur die Alternative zwischen der staatlichen rungen zunehmende Demenz stellt, wie die Schmerzthe- Versorgung und der Freiheit für mehr Wettbewerb, rapie ausgestaltet werden muss und wie bedarfsgerechte geriatrische Versorgung Lebensqualität auch im hohen (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Doch!) Alter sichert. Lassen Sie uns endlich auch aus dem Me- sondern es geht um Solidarität, und zwar um Solidarität dikamentenwirrwarr eine Positivliste kreieren. pur. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Erst dann wäre es an der Zeit, über das Geld zu reden. Die gesetzliche Krankenversicherung ist nicht pleite. Sie Es besteht ein breiter gesellschaftlicher Konsens für wird schlechtgeredet, damit die Transformation in ein eine Bürgerversicherung, durch die die Versichertenba- neues System eingeleitet werden kann. Wir meinen, die sis und die Beitragsbasis verbreitert werden, faktisch finanziellen Grundlagen der GKV müssen verteidigt, eine Versicherung von allen für alle. aber auch weiterentwickelt werden. Wie geht es mit dieser wichtigen Reform weiter? Es (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Und die Lasten ist angekündigt worden, dass die Verhandlerinnen und auf die kommenden Generationen verschoben Verhandler in der nächsten Woche die Eckpunkte der wird!) Gesundheitsreform verkünden werden. Dann wird nicht Der Konsens ist groß, den Faktor Arbeit zu entlasten. nur im Parlament die Sommerpause eingeläutet. Medial Die Frage ist nur, wie. Unser Vorschlag, mittels einer wird die Debatte weitergehen, aber nicht hier und nicht Wertschöpfungsabgabe arbeitsintensive, zumeist kleine mit den Akteuren im und um das Gesundheitssystem. Unternehmen wie den Bäcker oder die Änderungsschnei- Der Gesetzentwurf wird in der Sommerpause im Minis- derei um die Ecke zu entlasten und die kapitalintensiven, terium zusammengezimmert und ab September drückt von Automatengreifarmen und Computersteuerung nur (B) die Zeit, sodass es keine solide parlamentarische Be- so strotzenden gewinnträchtigen Unternehmen wie Sie- (D) handlung mehr geben kann; denn das nächste Finanz- mens und Daimler-Benz stärker zu belasten, wäre zu dis- loch der GKV für 2007 ist durch die Gesetzgebung der kutieren. letzten Woche bereits vorprogrammiert. Durch das neue Finanzloch wird im Herbst zur Eile gedrängt. Durchpeit- (Beifall bei der LINKEN) schen führt aber zu Fehlern. Denken Sie an Hartz IV! Hören Sie auf, abhängig Beschäftigten, Rentnerinnen (Beifall bei der LINKEN) und Rentnern sowie Arbeitslosen immer stärker in die Tasche zu greifen! Holen Sie das Geld dort, wo es ist! Wir fordern Sie auf: Machen Sie ein Vorschaltgesetz Danke. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das Vorschalt- gesetz wird wohl kommen!) (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist es denn?) – warten wir das ab –, um die Kassenlage für 2007 zu stabilisieren, und stellen Sie dann die eigentliche Reform vom Kopf auf die Füße! Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Künast vom (Beifall bei der LINKEN) Bündnis 90/Die Grünen. Lassen Sie uns gemeinsam zuerst über die künftigen Aufgaben und Strukturen reden – ich habe nicht viel Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): von Strukturen gehört, sondern immer nur etwas von Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Cas- nachhaltiger Finanzierung – pers-Merk, dass Sie hier geredet haben und nicht die Mi- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Davon habe nisterin, habe ich verstanden. Aber das kann ja nicht da- ich nichts gehört!) ran gelegen haben, dass die Ministerin zur Gesundheitsministerkonferenz nach Dessau muss; denn und erst danach über das Geld! sie sitzt ja noch hier. Ich vermute, es hat daran gelegen, dass die Ministerin nichts sagen konnte und auch nichts Lassen Sie uns vorurteilsfrei darüber reden, wie man sagen wollte. Sie haben in Ihrem Beitrag ja auch nur ge- mit Gesundheitsförderung und Prävention von Kindes- sagt, dass wir das Recht haben, zu fragen. Das war, ehr- beinen an Krankheiten vermeiden, Wohlbefinden för- lich gesagt, ein Armutszeugnis. dern, aber auch Gesundheitskosten sparen kann; das muss man doch einkalkulieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4005

Renate Künast (A) Sie beschäftigen sich seit Monaten mit diesem Thema, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) aber herausgekommen ist nichts, außer, dass Sie netter- Das kann ich den Kolleginnen und Kollegen von der weise sagen, die Opposition dürfe hier einen Antrag stel- FDP nicht ersparen. Es fällt schon auf, wenn man immer len. wieder große Werbeanzeigen sieht, in denen Otto Graf Herr Zöller, Sie haben gesagt, die Koalition wäre am Lambsdorff dafür wirbt, dass die PKV weiter bestehen Sonntag fertig. Olaf Scholz hat aber gesagt, man könne bleibt. Mich interessiert daran nur, wie viel Geld der wahrscheinlich am Sonntag zu groben Eckpunkten kom- Mann dafür bekommt. Die PKV scheint offensichtlich men, zu viel Geld zu haben. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann warten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sie halt bis Montag früh!) Heinz Lanfermann [FDP]: Der versteht etwas von Versicherungen! Das scheinen Sie nicht zu von denen er hofft, dass sie den Sommer überdauern. Fa- tun!) zit: Sie haben eigentlich nichts außer monatelangen De- batten. Sie können es einfach nicht, Herr Zöller. Diese Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Koalition kann offensichtlich keine Gesundheitsreform rechnen, die bezahlbar ist, zu Wettbewerb führt und den Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Patientinnen und Patienten etwas bringt. Kollegen Daniel Bahr? – Bitte schön, Herr Bahr.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Daniel Bahr (Münster) (FDP): Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir haben in Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass sich unter den fünf Monaten mehr erreicht als Sie in sieben ehemaligen Politikern, die sich in diesen Anzeigen für Jahren!) ein privates Krankenversicherungssystem einsetzen, Es ist immer noch nicht klar, was mit der kleinen weil es mehr Nachhaltigkeit bietet – diese Zielsetzung Kopfpauschale ist, von der wir alle wissen, dass sie am verfolgen eigentlich auch die Grünen, indem sie für Al- Ende die AOK-Mitglieder treffen wird und nicht die tersrückstellungen und Vorsorge für die alternde Bevöl- Mitglieder in den privaten Krankenkassen. kerung eintreten –, auch der ehemalige grüne Politiker und Bundestagsabgeordnete Oswald Metzger befindet. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das zeigt Ihre Deshalb frage ich Sie: Glauben Sie nicht, dass es ange- Unkenntnis!) sichts der alternden Bevölkerung und der Lasten, die noch auf uns zukommen, sinnvoll ist, endlich Vorsorge Was ist mit dem Arbeitgeberbeitrag, den Sie – das hört zu betreiben, indem wir verstärkt Altersrückstellungen man ja – einseitig einfrieren wollen? (B) bilden, statt kurzfristig die bereits bestehenden Alters- (D) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Auch falsch!) rückstellungen sinnlos zu verbraten? Damit machen Sie eine Gesundheitsreform zulasten der (Beifall bei der FDP – Wolfgang Zöller [CDU/ Arbeitnehmer, die einzahlen. Das, Herr Zöller, ist nicht CSU]: Das kann man mit Ja beantworten!) gerecht. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Zuruf des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]) Herr Bahr, eine Krankenkasse, die sich aussuchen darf, wen sie aufnimmt, wird die Besserverdienenden, – Wenn Sie noch Redezeit haben, dann gehen Sie doch die Selbstständigen und die Beamten auswählen, näm- ans Rednerpult. Dann hören wir uns Ihre epischen Aus- lich all diejenigen, die – das zeigt ein Blick in die Sterbe- führungen noch einmal an. statistik – durchweg gesünder sind und weniger Kosten verursachen. Auch wenn Otto Graf Lambsdorff und Os- Was ist mit den privaten Krankenkassen? Herr Zöl- wald Metzger Werbung für die PKV machen: Fakt ist, ler, das C in CDU steht ja bekanntlich für „christlich“. dass die privaten Krankenversicherungen nicht wirklich (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Und CSU!) am Wettbewerb beteiligt sind und keinen Solidaraus- gleich betreiben, um die Risiken aller Mitversicherten – Und CSU. – Ich glaube, eines Tages werden Sie das C solidarisch mitzutragen. Das ist zu kritisieren. an Ihrer Parteizentrale einfach fallen lassen; denn die Art und Weise, wie Sie den privaten Krankenkassen in dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Republik eine systematische Rosinenpickerei erlauben, und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten rechtfertigt das C in Ihrem Namen überhaupt nicht. der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Die Reform ist uns immer wieder als große Gesund- Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie sind nicht heitsreform angekündigt worden. Ich stelle in diesem auf dem neuesten Stand!) Zusammenhang fest, dass wir Grüne in die peinliche Si- tuation kommen, uns in einigen Punkten auf der Seite Sie haben gesagt: „Wer die PKV kaputtmacht, …“ Es von Markus Söder und Roland Koch wiederzufinden. geht nicht um das Kaputtmachen. Es geht darum, dass Das ist wirklich unangenehm. Söder hat in Bezug auf die sie endlich Konkurrenz und einen echten Wettbewerb Mitversicherung der Kinder festgestellt, dass irgend- bekommen und dass es nicht eine Art Otto-Graf- wann die Schmerzgrenze erreicht sei, wenn die Lambsdorff-Schutzgesetz gibt. 16 Milliarden Euro aus Steuermitteln finanziert würden. 4006 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Renate Künast (A) Ich bin schon dankbar, dass bei Ihrer ewigen Steuererhö- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Man kann (C) herei überhaupt irgendjemand eine Schmerzgrenze hat. auch eine Frau nehmen!) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: – Oder auch die Frau; das ist mir egal. Es war Ihr Bei- Wer weiß, wie lange die hält!) spiel. Es kommt nicht auf das Geschlecht an. Noch lieber ist mir wundersamerweise an dieser Stelle Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass man mehr für Roland Koch, der heute klar gesagt hat, die Prävention tun muss. Es war aber die CDU/CSU, die im 16 Milliarden Euro für die Mitversicherung der Kinder letzten Jahr das Präventionsgesetz torpediert hat. Haben stufenweise über Steuerfinanzierung aufzubringen, wi- Sie doch endlich den Mut, bei den Kassen für Wettbe- derspreche dem CDU-Programm und sei konjunktur- werb und dafür zu sorgen, dass sie Prävention anbieten! schädlich. Statt in anderen Punkten sollten Sie sich aus- nahmsweise dieses Mal nach Roland Koch richten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie suchen sich Sagen Sie, dass wir ein Präventionsgesetz brauchen, das immer aus, wen Sie gerade zitieren können!) solche Dinge regelt! Sie entscheiden sich wieder einmal für den kleinsten (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie werden gemeinsamen Nenner. Der heißt bei Ihnen immer Murks. sich wundern!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihre Rede war Dann haben Sie eine ordentliche Reform. Bei Ihnen sehe der größte Murks heute!) ich aber nur Merkel-Murks. Sie fassen den Menschen in die Taschen und in die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Portemonnaies. Sie legen letzten Endes ein Konzept vor, bei dem Sie so tun, als hätten Sie etwas Gutes für die Kinder bewirkt. Aber in Wahrheit greifen Sie wieder den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Eltern ins Portemonnaie, indem Sie es letztlich doch Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Carola Reimann wieder über Steuererhöhungen finanzieren. Sie wissen von der SPD-Fraktion. offensichtlich nicht mehr, wie hoch die Belastungen der Menschen – von der Kürzung der Pendlerpauschale bis (Beifall bei der SPD) zur Mehrwertsteuererhöhung – in dieser Republik sind. Sie machen einen großen Fehler, weil Sie zu feige sind, Dr. Carola Reimann (SPD): an der Stelle die Ausgabenseite anzugehen. Die muss (B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur (D) man aber zuerst anpacken, bevor man über Steuererhö- Frage der Finanzierung haben wir in diesem Hause nicht hungen nachdenken kann. nur bei diesem Tagesordnungspunkt eine ganze Menge (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gehört, noch mehr haben wir in den letzten Tagen und SES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Zöller Wochen dazu gelesen. Die Frage, wer wie viel bezahlt, [CDU/CSU]: Wenn man keine Ahnung hat, wer sich an der Solidarität beteiligt, ob der Beitrag aus- dann kann man so reden wie Sie!) schließlich nach Leistungsfähigkeit oder auch nach dem Gesundheitszustand bemessen werden soll, beschäftigt Notwendig ist etwas anderes. Wir brauchen einen in den letzten Tagen nicht nur uns alle, sondern auch die echten Kassenwettbewerb und die Beteiligung der Medien und die Öffentlichkeit in mannigfaltiger Hin- Privatversicherten. An der Stelle ist ein Paradigmen- sicht. Das bietet Stoff für Spekulationen zuhauf. wechsel notwendig. Darin liegt Ihr Kardinalfehler. Alles, was wir in diesem Zusammenhang bisher von Ihnen ge- Die Schar derer, die auf äußerst spekulativer Grund- hört haben, sind – um das Unwort des Jahres 1994 zu lage, dafür aber umso lautstärker Kritik üben, ist erwar- verwenden – Peanuts. Gehen Sie endlich den Weg weg tungsgemäß groß. Um eine sachgerechte Darstellung vom Reparaturbetrieb und hin zu ernsthaften Reformen, geht es in den seltensten Fällen. Häufig arbeitet man sich bei denen es um Wettbewerb und Effizienzpotenziale nur an Reizwörtern und Begriffen ab. Sachkundige Kri- geht und nicht um die einseitige Belastung der Versi- tiker oder diejenigen, die sich als solche ausgeben möch- cherten! ten, heben sich dabei ganz gern von der Masse ab, indem sie darauf verweisen, dass es mit einer Finanzreform al- Wir müssen die Kartelle bei den Ärzten und Kassen leine nicht getan sei und man die eigentlichen Probleme aufheben. Wir müssen endlich Wettbewerb unter den nicht lösen könne, indem man mehr Geld in das System Pharmaunternehmen einführen. Wir müssen die zunft- pumpe. Mit der Forderung, man müsse zuerst einmal Lö- ähnlichen Strukturen im Arzneimittelhandel auflösen cher stopfen, bevor man neues Geld nachschütte, gibt und wir brauchen Marktwirtschaft beim Apotheken- man sich gern als vermeintlicher Kenner der Szene zu mehrbesitz. Diese Punkte müssen wir radikal anpacken, erkennen. Sie alle haben in einem Punkt Recht: Es bringt bevor man schon wieder dem kleinen Mann in die Ta- nichts, nur neues Geld in das Gesundheitssystem fließen sche fasst und seinen letzten Cent herausholt. zu lassen und die Versorgungsstrukturen außer Acht zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lassen. Herr Zöller, Sie haben vorhin das schöne Beispiel des (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 140-Kilo-Manns gebracht. NEN]: Aha!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4007

Dr. Carola Reimann (A) Wer die Forderung jedoch in einer Art und Weise erhebt, Laut einer Studie des Fritz-Beske-Instituts – es steht be- (C) dass man den Eindruck bekommen könnte, hier würde stimmt nicht im Verdacht, zu den Mietmäulern der GKV nichts getan, entpuppt sich ganz schnell als ein weniger zu gehören – hat Deutschland im internationalen Ver- guter Kenner der Gesundheitspolitik der letzten Jahre. gleich ein überaus effizientes Gesundheitssystem. In die- sen Tagen hat das schwedische Unternehmen Health (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Consumer Powerhouse – es ist komplett unabhängig – Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie eine Studie vorgelegt, die ebenfalls zu dem Ergebnis fordern in den vorliegenden Anträgen Strukturrefor- kommt, dass das deutsche Gesundheitssystem aus Sicht men, die für mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit sorgen der Patientinnen und Patienten im Hinblick auf Transpa- können. An dieser Forderung ist grundsätzlich nichts renz, Service und Qualität zu den Spitzenreitern in auszusetzen. Vor drei Jahren – zu Zeiten der rot-grünen Europa gehört. Koalition – haben wir gemeinsam, auch unter der Betei- ligung unserer heutigen Koalitionspartner, mit dem (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Noch!) GKV-Modernisierungsgesetz den Weg in Richtung mehr Dieses hohe Versorgungsniveau im Interesse der Patien- Wettbewerb, Qualität und Wirtschaftlichkeit eingeschla- tinnen und Patienten zu erhalten und auszubauen, das ist gen. unsere Aufgabe und nicht die Sanierung eines maroden (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es! Haufens, auch wenn die eine oder der andere diesen Ein- Da waren Sie von den Grünen noch dabei!) druck hier gern einmal erwecken möchte. Zu dieser Richtungsentscheidung stehen wir. Sie war da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der mals richtig und gut und ist es auch heute noch. CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Mit dem Arzneimittelversorgungs-Wirtschaftlich- keitsgesetz, das am 1. Mai in Kraft getreten ist, haben Die Staatssekretärin hat es gesagt: Reformen sind ein wir auch in dieser Legislaturperiode einen weiteren Prozess. Deshalb werden wir diesen Weg fortsetzen. Die Schritt getan. Wie wir bereits heute sehen, war es ein Struktur der Versorgung zählte deshalb auch zu den ers- wirksamer Schritt. Mit diesem Gesetz ist die Absenkung ten Themen der zurzeit noch laufenden Gesundheitsge- der Festbeträge, aber auch die Möglichkeit der Zuzah- spräche. Wir wollen klarere Strukturen. Wir wollen In- lungsbefreiung bei besonders preisgünstigen Arzneimit- strumente und Elemente für mehr Effizienz und mehr teln vorgesehen. Wettbewerb. Deshalb werden wir konsequent mehr Ver- tragsmöglichkeiten zwischen den Leistungsanbietern Als Reaktion auf die Möglichkeit einer solchen Zu- schaffen. Insofern rennen Sie mit Ihren Forderungen bei zahlungsbefreiung haben zahlreiche Arzneimittelherstel- (B) (D) uns offene Türen ein. ler ihre Preise bereits stark gesenkt; weitere Preissenkun- gen sind angekündigt. Damit werden wir bei gleicher (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Qualität Einsparungen für Patientinnen und Patienten, Na also!) aber auch für Kassen realisieren. Die Liste ist ab 1. Juli, Die Agenturmeldung dieser Woche – das muss ich al- also ab diesem Wochenende, auf der Homepage des Mi- lerdings auch sagen –, in der Ihre Kollegin, Frau Roth, nisteriums, aber auch bei den Spitzenverbänden der ge- mit der Äußerung zu vernehmen war, das Herangehen setzlichen Krankenversicherung einsehbar. der Koalition an die Ausgabenseite sei völlig unambitio- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Und die niert, kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. kleinen Unternehmen gehen kaputt!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Elke Fer- Ich will an dieser Stelle alle Ärztinnen und Ärzte und ner [SPD]: Ich auch nicht!) alle Patientinnen und Patienten aufrufen, von dieser Die große Koalition ist seit etwas mehr als einem halben neuen Möglichkeit Gebrauch zu machen. Jahr im Amt und steht kurz vor dem Abschluss der Ver- handlungen über eine unzweifelhaft weit reichende Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sundheitsreform. Ich würde das nicht als unambitioniert CDU/CSU) bezeichnen wollen. Schauen wir uns doch lieber die Fak- Diesen Weg werden wir weitergehen. ten an. Wenn wir über Fakten reden, will ich zu allererst sagen, dass wir aufhören sollten, das System der gesetz- Sie, meine verehrten Kollegen von der Opposition, lichen Krankenversicherung in Deutschland schlechter müssen sich nun, auch wenn es schwer fällt, noch einige zu reden, als es ist. wenige Tage gedulden, bis die Vorschläge vorliegen und wir sie dann auch diskutieren können. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Richtig!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das können wir doch gar nicht! Wann denn?) Bei aller Reformnotwendigkeit erscheint es mir dringend notwendig, sich gelegentlich ins Gedächtnis zu rufen, Es ist natürlich Ihr gutes Recht, eine Debatte über Kon- dass es hier darum geht, die Funktionsfähigkeit eines der zepte einzufordern. Ich möchte dann allerdings, dass Sie besten Gesundheitssysteme der Welt zu erhalten, und um Konzepte vorlegen. nichts anderes. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Daniel (Beifall bei der SPD) Bahr [Münster] [FDP]: Tun wir auch!) 4008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Carola Reimann (A) Sie haben hier beantragt, die Praxisgebühr abzuschaffen. nenden gezeichnet, denen man nur in die dicke (C) Um die Kollegen von der FDP nicht ganz leer ausgehen Brieftasche greifen muss, um endlich die soziale Ge- zu lassen: rechtigkeit auf Erden herzustellen. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr nett!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: „Parasiten“ hat Herr Lauterbach gesagt!) In der Überschrift Ihres Antrags ist die übliche Wort- hülse „Eigenverantwortung“ enthalten. Damit meinen Das geht so weit, dass der Kollege Lauterbach ver- Sie die finanzielle Alleinverantwortung und die totale kündet hat, die Privaten seien die Parasiten der gesetzli- Privatisierung aller Lebensrisiken. chen Kassen. Das ist eine abstoßende Sprache, mit der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch nicht irgendwelche anonymen Institutionen getrof- fen werden; davon werden vielmehr 8,5 Millionen Men- Das wollen Sie mit dem Etikett „Freiheit und Wettbe- schen getroffen. Es sind Bürger, die ganz normal Versi- werb“ verkaufen. cherungsverträge abschließen, Beiträge – durchaus auch (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das stimmt hohe Beiträge – zahlen, die Leistungen von Ärzten und doch gar nicht!) Krankenhäusern gut bezahlen und am Ende von ihrer Versicherung die Kosten erstattet bekommen. Anschlie- Ein Konzept ist das nicht. ßend werden sie von Frau Künast hier noch beschimpft. (Heinz Lanfermann [FDP]: Erst lesen und (Beifall bei der FDP) dann kritisieren!) Diesen Bürgern den Vorwurf zu machen, sie verhielten – Ja, das habe ich getan. In Ihrem Antrag steht nichts. sich damit parasitär, ist schlichtweg eine Unverschämt- Kollege Lanfermann, Sie haben gleich Gelegenheit, das heit und in der Sache auch falsch. zu erläutern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir werden in Kürze die Reformeckpunkte vorlegen, der CDU/CSU) um unser bewährtes solidarisches Gesundheitssystem weiter zu stärken. Dazu werden wir nicht nur Effizienz- Das vom Kollegen Lauterbach als Begründung vorge- reserven heben, sondern auch in puncto Strukturen und brachte Argument, die Praxiseinrichtung der Ärzte und Wettbewerb die notwendigen Rahmenbedingungen ver- die Ausstattung der Kliniken würden weitgehend über bessern, damit unser Gesundheitssystem den veränder- die Einnahmen aus den gesetzlichen Kassen finanziert, ten und ohne Zweifel steigenden Ansprüchen gerecht geht völlig daneben. Wenn 90 Prozent der Patienten ge- wird. setzlich versichert sind, kommt der numerisch größere (B) Teil der Einnahmen natürlich von den Krankenkassen. (D) Ich danke. Weil aber jeder der 10 Prozent privat versicherten Pati- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) enten höhere Honorare und Rechnungen zahlt, ist ihr proportionaler Anteil an den Einnahmen von Ärzten und Krankenhäusern höher als bei den gesetzlich Versicher- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ten. Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz Lanfermann von der FDP-Fraktion. (Elke Ferner [SPD]: Sehr wirtschaftlich, mehr zu bezahlen, als man muss! – Renate Künast (Beifall bei der FDP) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie gnädig! Brosamen vom Tisch der Reichen!) Heinz Lanfermann (FDP): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- – Das müssen Sie pro Kopf rechnen, Frau Ferner, nicht ren! Zuerst mit Staunen, aber jetzt doch mehr mit Entset- in der Summe! zen schauen die Bürger auf die verzweifelten Versuche Diese 10 Prozent tragen schon jetzt bis zu 40 Prozent der Koalition, sich irgendwie zu einigen. Kein Vorschlag der Kosten in den Praxen. Viele Praxen wären ohne Pri- ist töricht genug, um nicht in die Öffentlichkeit lanciert vatpatienten überhaupt nicht lebensfähig. zu werden. Aber offensichtlich ist, dass keines der struk- turellen Probleme durch eine neue Umverteilungsbüro- (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: In kratie oder gar neue Steuern gelöst wird. den Ballungsräumen, aber nicht auf dem Land!) (Elke Ferner [SPD]: Sie müssen es ja wissen!) Manches teure Gerät im Krankenhaus steht nur deswe- Was bleibt, ist der starre Blick auf die Einnahmeseite. gen dort und damit allen Patienten zur Verfügung, weil Sie wollen noch mehr Geld in das Fass ohne Boden seine Finanzierung über die Einnahmen von den Privat- schütten, das jetzt mit „Fonds“ bezeichnet wird. Dabei patienten gesichert wird. Die Zahlen sind bekannt: Es richten sich die begehrlichen Blicke bei der SPD, aber sind in jedem Jahr 9,5 Milliarden Euro, die die privat auch bei den Grünen und bei den Linken vor allem auf Versicherten mehr zahlen, als es ihrem Anteil entspricht. die private Krankenversicherung. Zum einen schielt man auf die Rücklagen von mittlerweile fast Auch die Behauptung, bei den 8,5 Millionen privat 100 Milliarden Euro; zum anderen hält man die Privat- Versicherten handele es sich nur um Besserverdiener, versicherten für geeignete Melkkühe. Es wird das Zerr- ist eine Luftblase. Natürlich gehört ein kleinerer Teil der bild von den egoistischen, unsolidarischen Besserverdie- privat Versicherten auch zu den höher Verdienenden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4009

Heinz Lanfermann (A) Das liegt schon daran, dass Sie den meisten Menschen kaum etwas davon. Das sollte uns zu denken geben. Des- (C) verbieten, eine private Versicherung abzuschließen. wegen sind wir der Meinung, dass es ein System, das funktioniert, leistungsstark und zukunftssicher ist, nicht (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Richtig! verdient, hier angegriffen zu werden; eher muss man es Öffnen Sie es doch!) zur Grundlage der Überlegungen dazu machen, wie wir Lassen Sie mich zwei Zahlen nennen: Erste Zahl. insgesamt ein besseres Gesundheitssystem bekommen Nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des können. Statistischen Bundesamts für 2003 hatte der durch- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. schnittliche PKV-Versicherte in diesem Jahr etwas über 28 800 Euro zur Verfügung. Das sind im Monat (Beifall bei der FDP) 2 404 Euro. Zweite Zahl. In diesem Jahr lag die Bei- tragsbemessungsgrenze bei 41 400 Euro. Von den privat Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Versicherten haben aber 78 Prozent weniger als Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Widmann- 40 000 Euro verdient. Das verwundert auch nicht. Die Mauz von der CDU/CSU-Fraktion. Hälfte der privat Versicherten sind Beamte, davon die al- lermeisten gering oder mittelmäßig besoldet. Bei den (Beifall bei der CDU/CSU) Selbstständigen gibt es inzwischen eine immer höhere Zahl von Geringverdienern. Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Es geht nicht nur um Zerrbilder, die zur Stimmungs- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! mache eingesetzt werden; es geht auch um Vertrauens- Die Berichterstattung und die heutige Debatte hier im schutz, um geschützte Rechtsgüter, um mit eigenen Mit- Parlament verwirren die Menschen mehr, als dass sie teln erworbene Ansprüche und Anwartschaften. Man aufklären. kann nicht erst über Jahrzehnte für viele Millionen Men- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – schen zwei voneinander unabhängige, unterschiedliche, Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in der Risikofrage und im rechnerischen Aufbau ver- NEN]: Woran das wohl liegt?) schiedene Systeme schaffen und dann, wenn das eine gut und das andere schlecht funktioniert, einfach über den Frau Künast, wenn sich draußen jemand heute von Ihnen Zaun greifen und sich bedienen. Sie können es drehen Aufklärung im Sinne von Verbraucherinformation er- und wenden, wie Sie wollen: Man heilt einen Kranken hofft hat, dann wurde er nur noch einmal mehr ent- nicht dadurch, dass man einen Gesunden krank macht. täuscht. Das, was Sie hier abgeliefert haben, war wider- sprüchlich. Ich nenne es Desinformation, was Sie heute (Beifall bei der FDP) (B) Morgen betrieben haben. (D) Wenn Sie überlegen, wie eine Versicherung aussehen (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast soll, dann schauen Sie bitte in den Antrag auf [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren Drucksache 16/1997, der die wesentlichen Elemente des immer schon nervös, wenn Sie mich getroffen FDP-Modells vorstellt, und werfen Sie dann bitte einen haben! – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE Blick auf die Fragen, die wirklich wichtig sind: Wollen GRÜNEN]: Das müssen Sie mal begründen!) wir mehr Transparenz, soll also zum Beispiel jeder Pa- tient bei allen Behandlungen wissen, was es kostet? Soll Die Union will die Strukturen des Gesundheitswesens jeder Bürger die Wahl zwischen verschiedenen Tarifen wettbewerbsfähiger, transparenter und effizienter gestal- haben, ten. Unser Ziel ist es, die Versorgung über den Wettbe- werb effizienter zu gestalten und daneben auch die (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ja!) Wachstumspotenziale, die im Gesundheitssektor vorhan- bei denen er eine mehr oder weniger hohe Eigenbeteili- den sind, zu erschließen, ohne die Lohnnebenkosten gung an den Kosten trägt? Sollen die Beiträge konjunk- ständig weiter ansteigen zu lassen. Wir wollen, dass das turunabhängig und damit beständiger sein? Sollen die System transparenter wird, um den Versicherten mehr Beiträge vom Arbeitslohn unabhängig sein, um die Einflussmöglichkeiten auf ihre gesundheitliche Versor- Lohnkosten zu senken? Soll es auch möglich sein, medi- gung zu geben. zinischen Fortschritt und Innovationen zu nutzen? Vor (Frank Spieth [DIE LINKE]: Eigenbeteili- allem, auch mit Blick auf Frau Künast: Soll sich das Ver- gung!) sicherungssystem möglichst selbst tragen und auch zukunftsfest sein? Soll es die Problematik höherer Heute weiß doch der Patient überhaupt nicht, ob seine Krankheitskosten im Alter und der demografischen Ent- Kasse zu dem festgesetzten Beitragssatz eine kosten- wicklung – schrumpfende Bevölkerung mit immer wei- günstige Versicherung anbietet oder nicht. Er kann doch ter steigendem Altenanteil – gewachsen sein? Auf alle heute nicht ermessen, welche Leistungen sein Arzt mit diese Fragen kann man verantwortungsbewusst doch nur seiner Krankenkasse verrechnet oder, um es anders aus- mit Ja antworten. zudrücken, was der Arzt für die einzelne Behandlung überhaupt erhält. Unser Ziel ist es deshalb, die Struktu- (Beifall bei der FDP) ren aus der Sicht der Versicherten neu zu ordnen. Wir Dann stellt sich die Frage, welche Versicherung dies wollen anstelle des bevormundeten oder zwangsbe- alles leistet. Die Antwort ist klar: Die privaten Versiche- glückten Patienten den aufgeklärten, mündigen Patien- rungen erfüllen diese Bedingungen, die gesetzlichen ten stellen. Diese Mündigkeit geht eben einher mit 4010 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Annette Widmann-Mauz (A) einem Kostenbewusstsein für die Inanspruchnahme me- hen, damit Wahltarife und damit ein Angebot für die (C) dizinischer Leistungen. Versicherten überhaupt entwickelt werden kann. (Beifall bei der CDU/CSU) Man liest ja immer wieder und auch heute in der De- batte bringen Sie es immer wieder ein, die Koalition Deshalb wollen wir bei der ambulanten und bei der stemme sich gegen Änderungen an den Strukturen und zahnärztlichen Versorgung auch das Sachleistungsprin- es finde zu wenig Wettbewerb statt. Dies ist schlicht und zip durch das Prinzip der Kostenerstattung ersetzen. ergreifend falsch. Schauen Sie doch einmal im Gesetz (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Da macht nach – ein solcher Blick ist manchmal hilfreich –, wel- die SPD mit?) che vertraglichen Möglichkeiten es seit 2004 gibt. Kran- kenkassen und Leistungserbringer könnten sie konse- Auf der Grundlage einer neuen, verlässlichen und leis- quent wahrnehmen, aber sie tun es nicht, denn im tungsgerechten ärztlichen Vergütung in der gesetzlichen bestehenden System hat niemand wirklich Interesse da- Krankenversicherung sollte es doch dem Arzt möglich ran. sein, dem Patienten Auskunft über die erbrachten medi- zinischen Leistungen und die damit verbundenen Kosten Denken Sie an das AVWG, das wir erst vor einigen zu geben. Wir von der Union sind zuversichtlich, dass Monaten hier verabschiedet haben. Darin haben wir zu eine Kostenerstattung in Verbindung mit Selbstbehalt- Beginn des Jahres Rabattverträge zwischen Kassen und tarifen eine positive Steuerungswirkung entfalten würde. Arzneimittelherstellern vorgesehen. Bereits durch die Absenkung der Festbeträge und die Möglichkeit der Zu- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das wird zum zahlungsbefreiung bei besonders preiswerten Generika Regelfall?) ist es zu einer erheblichen Dynamik im Markt gekom- men. Bereits zum 1. Juli werden Tausende von Präpara- Wir wissen auch, was uns immer entgegengehalten wird: ten wie einige Betablocker zum Beispiel zuzahlungsfrei Härtefälle, die durch hohe Rechnungen oder bei einkom- gestellt. mensschwachen Menschen auftreten. Dafür können un- bürokratische Ausnahmeregelungen vorgesehen werden. Schauen Sie heute in die Zeitung! Weitere Preissen- kungen wurden angekündigt, zum Teil um 40 Prozent. Der mündige Versicherte soll darüber hinaus auch in Wir wollen weitere Vertragsmöglichkeiten bei Preisver- der Lage sein, das Angebot der einzelnen Kasse sowohl handlungen zwischen Arzneimittelherstellern und Kran- nach der Leistung als auch nach dem Preis beurteilen zu kenkassen, damit mehr Wettbewerb in Schwung kommt, können. Das ist doch wichtig. Er muss schließlich wis- mehr Markt möglich wird und die Versicherten zu einem sen, bei welcher Krankenkasse er sich am besten ver- günstigeren Preis Arzneimittel erhalten können. (B) sorgt fühlt. Ein Gesundheitsfonds wäre doch ein Instru- (D) ment, um diese Ziele zu erreichen: Die Beiträge von (Beifall bei der CDU/CSU) Arbeitgebern und Arbeitnehmern könnten von einer Stelle erhoben werden, Steuergelder könnten hinzukom- Um eine angemessene Grundlage für Preisverhandlun- men und diese Einnahmen auf die Zahl der Versicherten gen und damit für Wettbewerb zu erhalten, brauchen wir umgelegt werden. Auf dieser Basis erhält die jeweilige auch stärkere Bewertungen und Beurteilungen von Arz- Kasse einen Betrag pro Versicherten zur Verfügung ge- neimitteln und von anderen Therapieformen. stellt. Damit sichert die einzelne Krankenkasse den ge- Ein weiterer Punkt, an dem gerne die Frage, ob wett- setzlichen Leistungskatalog. Bei der Fondslösung kann bewerbliche Strukturen vorhanden sind oder nicht, fest- ein Versicherter daran, ob seine Kasse einen Aufschlag gemacht wird, ist die Frage nach dem Erhalt der Kassen- verlangt oder – dieser umgekehrte Fall ist genauso denk- ärztlichen Vereinigungen. Auch heute wurde sie bar – auch einmal Geld an die Versicherten zurückgege- wieder aufgebracht. Für die Grünen sind es die „Atom- ben werden kann, sehen, ob sie mit dem für ihn bereitge- kraftwerke“ in der Gesundheitspolitik, die abgeschaltet stellten Beitrag auskommt. werden müssen. So wie in der Energiepolitik niemand (Frank Spieth [DIE LINKE]: Sie lassen die Ri- ernsthaft glaubt, den Strombedarf der Bundesrepublik ganz ohne Atomkraftwerke decken zu können, gibt es siken dabei vollkommen außer Acht!) auch in der gesundheitspolitischen Fachwelt niemanden, Ich sage Ihnen: Jeder Versicherte kann dann prüfen, ob der wirklich glaubt, gänzlich auf Kassenärztliche Verei- er mit dem Angebot, das die Kasse ihm macht, zufrieden nigungen verzichten zu können, ist. Wenn er Preissensibilität spürt, wird er zum ersten (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal auch wirklich ein Interesse haben, günstigere Tarife, Wie kommen Sie auf den Blödsinn?) die die Kassen anbieten, auch anzunehmen. höchstens Lobbygruppen, Herr Kuhn, die sich erhebli- (Beifall bei der CDU/CSU) che Vorteile von ihrer Monopolstellung im System ver- Solche Überlegungen setzen natürlich zweierlei sprechen. Die würden sicherlich mächtig davon profitie- Dinge voraus: Zum einen, dass unterschiedliche Risiken ren. wie zum Beispiel Alter und Geschlecht auch weiter vor (Beifall bei der CDU/CSU) der Ausschüttung des Pauschalbeitrages an die Kassen berücksichtigt werden und zwischen den Kassen ausge- Selbst Krankenkassen halten dies nicht für wün- glichen werden, und zum Zweiten, dass für Kassen und schenswert. Wer sollte denn ansonsten die Qualitätssi- Leistungserbringer mehr Vertragsmöglichkeiten beste- cherung bis in die einzelne Arztpraxis hinein vorneh- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4011

Annette Widmann-Mauz (A) men? Wer sollte denn sonst die Versorgung in der Mit einem Fonds muss er nur noch einen Beitrag und (C) Uckermark oder im Bayerischen Wald sicherstellen? eine Kontonummer im Kopf haben. Das ist doch eine Wer sollte denn sonst dafür geradestehen, dass Leistun- deutliche Verschlankung. gen nicht uferlos erbracht werden? Oder wer sollte dem Zum Thema Risikostrukturausgleich gäbe es noch Arzt, der in Managementfragen keine Ausbildung erfah- viel zu sagen. Es gibt wohl keinen Bereich, meine Da- ren hat, weil er eben Medizin und nicht Betriebswirt- men und Herren, in dem in den letzten Jahren so viel schaftslehre studiert hat, die entsprechende Beratung ge- Geld eingespart worden ist wie im Gesundheitssektor. ben? All diese Fragen bleiben bei Ihnen unbeantwortet. Mit dem Reformgesetz von 2004 konnte die angestrebte Umgekehrt wagen sich dieselben Leute, die hier Beitragssatzsenkung wegen der höheren Verschuldung große ideologische Schlachten schlagen, nicht an die der Kassen als angenommen nicht vollständig erreicht Kostenerstattung heran, obwohl damit die Kassenärztli- werden; aber die Beiträge blieben in den meisten Fällen stabil. Außerdem wurden die Kassen entschuldet. Insge- chen Vereinigungen mit ihren Aufgaben wesentlich ver- samt hat dieses Gesetz 8 Milliarden Euro Schulden bei schlankt werden könnten. den Kassen abgebaut und Ausgabensteigerungen in Die große Koalition wird die Kassenärztlichen Verei- Höhe von 6 bis 8 Milliarden Euro abgefangen. Es soll nigungen nicht abschaffen. Das haben wir im Koali- mir einmal jemand hier ein anderes Sozialversicherungs- tionsvertrag festgelegt. Sinnvoll wäre es aber sehr wohl, system nennen, das eine Einsparung in dieser Dimension die Vertragsmöglichkeiten für die Kassen zu erweitern. aus sich selbst heraus erbracht hat. Das heißt, es muss nicht alles kollektiv, gemeinsam und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) einheitlich erfolgen, vielmehr müssen mehr Möglichkei- ten zum Abschluss von Einzelverträgen geschaffen wer- All diejenigen, die ständig fordern, wir müssten mehr den. Dabei können auf Kassenseite einzelne Kassen han- tun, sollten zuerst die Hausaufgaben in ihren Systemen deln oder sich in Gruppen zusammenschließen. Auf der machen. Ärzteseite können neben einzelnen oder Gruppen von (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ist das jetzt an Ärzten auch Kassenärztliche Vereinigungen Vertrags- die Haushälter der eigenen Fraktion gerich- partner sein. Das wäre eine zukunftsweisende Struktur- tet?) reform. Dann wären wir schon deutliche Schritte weiter. (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir werden noch mehr auf den Weg bringen, als Sie Kommen Sie bitte zum Schluss. sich heute vorstellen können. Lassen Sie mich einmal (B) das Thema Bürokratieabbau ansprechen. Wenn es um (D) die DMPs geht, haben wir enorme Möglichkeiten, Büro- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): kratieabbau bei den Kassen und in den Praxen zu be- Meine Damen, meine Herren, die Anträge der Oppo- schleunigen. Auch darum geht es bei dieser Reform. sition, die heute zur Beratung vorliegen, tragen nicht wirklich zur Problemlösung bei. Sie sind gut gemeint, (Beifall bei der CDU/CSU) bleiben aber weit hinter dem zurück, was getan werden muss, um den Wettbewerb in der gesetzlichen Kranken- Schauen wir uns den Fonds an! Die Befürchtung, ein versicherung zu forcieren, die Transparenz zu erhöhen Fonds sei ein bürokratisches Monster, entbehrt jeder und die Wahlmöglichkeiten der Versicherten auszuwei- Grundlage. Der Beitragseinzug kann unbürokratisch ge- ten. Wir werden nach der Sommerpause genügend Gele- staltet werden. Das wissen offenbar mittlerweile auch genheit haben, einen guten Gesetzentwurf für eine die Kassen und ziehen gegen den Fonds oder das, von grundlegende Reform des deutschen Gesundheitswesens dem sie meinen, dass es ein Fonds sein könnte, dramatisch zu beraten. zu Felde. Warum denn? Von den 160 000 Beschäftigten Herzlichen Dank. bei den Krankenkassen sind allein 30 000 mit dem Bei- tragseinzug beschäftigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wenn wir dies in Zukunft etwas einfacher und mit ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ringerem bürokratischem Aufwand machen könnten, Das Wort hat der Kollege Frank Spieth von der Frak- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das bleibt tion Die Linke. doch!) (Beifall bei der LINKEN) dann wäre das im Interesse der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und muss nicht von vornherein als tabu Frank Spieth (DIE LINKE): erklärt werden. Für die Arbeitgeber könnte ein solches Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ob der Verfahren auch erhebliche Erleichterungen mit sich brin- Entwurf, der uns vorgelegt werden wird, gut ist, werden gen. Heute muss ein Unternehmer mit seiner Personalab- wir sehen. Hoffentlich wird den Menschen in diesem teilung alle Beiträge der 250 Kassen im Kopf haben, um Land dabei nicht schlecht. Die Gefahr ist nach dem, was die Beiträge auch korrekt abführen zu können. ich vorhin von Herrn Zöller gehört habe, sehr groß. Er hat gesagt: Solidarität für die großen Risiken, Eigenver- (Elke Ferner [SPD]: Die haben die in einer Ta- antwortung für die kleinen Risiken. – Damit meinte er: belle, nicht im Kopf!) Privatisierung der Lebensrisiken. 4012 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Frank Spieth (A) Wir haben deshalb – leider ist bisher dazu wenig ge- 25 Jahren zum neoliberalen Standardrepertoire und zur (C) sagt worden – einen Antrag eingebracht, mit dem wir politischen Begleitmusik von Gesundheitsreformen in eine weitere Privatisierung dieser Lebensrisiken, dieser Deutschland. Gesundheitsrisiken beenden wollen, und zwar durch die (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Oh!) Abschaffung der Eintrittsgebühr. Damit – das hat die FDP vorhin wieder gezeigt – feiert (Beifall bei der LINKEN) die Idee von der so genannten Eigenverantwortlichkeit Wir wollen eben keinen Gesundheitsfonds für Gesunde; und dem Rückzug des solidarischen und sozialen Aus- wir brauchen eine gesetzliche Krankenversicherung, die gleichs fröhliche Urständ. die Leistungen bereitstellt, die Menschen benötigen, Neben zusätzlichen Einnahmen sollen Zuzahlungen wenn sie krank werden. – das war immer die Aussage – eine Steuerung des Ver- (Beifall bei der LINKEN) haltens der so genannten Verbraucherinnen und Verbrau- cher auf dem Gesundheitsmarkt bewirken, indem mit ih- Genau dazu sind die Vorschläge zum Gesundheitsfonds, nen die vermeintlich überzogene Inanspruchnahme die bisher öffentlich geworden sind, nicht eindeutig. kostenfreier Leistungen eingedämmt werden soll. Damit sollen die Versicherten zu einer rationaleren Nutzung des (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt ja gar nicht!) medizinischen Angebots bewegt und eine nicht näher Die Eintrittsgebühr für die Inanspruchnahme eines bestimmte Effizienz des Gesundheitswesens gesteigert Arztes, Zahnarztes oder Psychotherapeuten, auch Pra- werden. xisgebühr genannt, hat das eigentliche Ziel der damali- Doch bei näherem Hinsehen entpuppt sich dieses gän- gen übergroßen Koalition nicht erreicht. Sie wollte auch gige Credo als grober Unsinn. Das einseitige Menschen- durch die Eintrittsgebühr erreichen, dass die Lohnneben- bild vom Homo oeconomicus erklärt allenfalls einen kosten gesenkt und damit Arbeitsplätze geschaffen wer- kleinen Teil des Verhaltens der so genannten Verbrau- den. Aber millionenfach können wir jetzt nachvollzie- cher am Gesundheitsmarkt. Die Erhebung von Selbstbe- hen: Dies ist nicht realisiert. Millionen Arbeitslose teiligungen und vor allen Dingen die Einführung von können eine andere Erfahrung schildern. Befreiungsregelungen erzeugen auf der anderen Seite (Beifall bei der LINKEN) zusätzlichen Verwaltungsaufwand und Kosten. Die pos- tulierte Unterscheidung zwischen sinnvoller und über- Im aktuellen „Gesundheitsmonitor“ der Bertelsmann- flüssiger Inanspruchnahme ist nach meiner Auffassung Stiftung wird festgestellt – das ist die letzte Erhebung unsinnig und realitätsfremd und ist nirgendwo auf der vom April 2006 –, dass die Anzahl der Arztkontakte Welt wirksam geworden. nach einem deutlichen Rückgang im Jahre 2004 und im (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) Frühjahr 2005 seit dem Herbst 2005 wieder angezogen hat, allerdings mit deutlichen Differenzen in den unter- Eigenbeteiligungen setzen beim Verbraucherverhal- schiedlichen Einkommensgruppen. Man kann bilanzierend ten an. Die wichtigsten kostentreibenden Faktoren neben feststellen, dass die Eintrittsgebühr und die Zuzahlungs- dem medizinisch-technischen Fortschritt sind allerdings regelungen eine nach unserer Auffassung sozialstaatlich – das sagt jeder Experte – das Anbieterverhalten und die nicht vertretbare Fehlentwicklung bewirken, sodass Honorierung der Anbieter. Patientenzuzahlungen wirken Menschen mit geringem Einkommen und hohen Ge- vor allem auf den Erstkontakt mit dem Gesundheits- sundheitsrisiken Arztkontakte vermeiden oder aufschie- wesen und auf einfachere, preisgünstige Leistungen. ben. Dies gilt vor allem für die Einkommensgruppen bis Weitergehende Untersuchungen und vor allem teure 500 und bis 1 000 Euro im Monat. Diagnostik und Therapie erfolgen danach. Eigenbeteili- gungen führen nicht zum erwünschten Verzicht auf ärzt- Eine Arbeitslosengeld-II-Empfängerin in Weimar liche Behandlung oder medikamentöse Therapie. schilderte mir auf bedrückende Art und Weise, dass sie schon mehrfach vor der Entscheidung gestanden habe, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: für sich und ihre Tochter Lebensmittel zu kaufen oder Kommen Sie bitte zum Schluss. die Eintrittsgebühr beim Arzt zu bezahlen. Nach den Beratungen im Gesundheitsausschuss befürchte ich, dass Sie den Antrag der Linksfraktion zur Abschaffung der Frank Spieth (DIE LINKE): Praxisgebühr heute gemeinsam niederstimmen. Dies Ich komme zum Ende. wird bei den Betroffenen mit Sicherheit eine große Ent- Zuzahlungsbefreiungen sind aufwendig. Sie ver- täuschung auslösen; denn es bestand die Hoffnung, dass schlingen einen Teil der Mehreinnahmen und können die der Sachverstand möglicherweise doch größer als die erzeugten Ungerechtigkeiten nur teilweise und allenfalls politische Engstirnigkeit ist. nachholend ausgleichen. Optimale Zuzahlungen – das kann man mit Blick auf die in der Fondslösung angedeu- (Beifall bei der LINKEN) teten Maßnahmen sagen – sind Elfenbeintürme. Sie sind Nach den vorhin gemachten Ausführungen befürchte extrem aufwendig und beruhen zudem auf falschen Prä- ich, dass Sie, meine Damen und Herren von der großen missen. Koalition, mit dem Gesundheitsfonds einen weiteren Ich wünsche mir, dass Sie unserem Antrag zustim- großen Schritt in Richtung Zuzahlungen und Privatisie- men. rung der Gesundheitskosten gehen werden. Direktzah- lungen der Patientinnen und Patienten zählen seit (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4013

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das wird doch (C) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentri- geändert!) büne hat soeben der Parlamentspräsident der Repu- und keine Risiken mitbringen. blik Indien, Herr Chatterjee, mit seiner Delegation Platz genommen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Warten Sie doch noch zwei Tage!) (Beifall) Schaffen Sie doch endlich Wettbewerb und entspre- Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deut- chende Rahmenbedingungen, damit die Versicherten schen Bundestages begrüße ich Sie sehr herzlich. Herr von einer Versicherung zur anderen, so wie sie es wol- Präsident, es ist uns eine große Freude, Sie und Ihre Be- len, wandern können. Stattdessen verteidigen Sie, fröh- gleitung zu einem offiziellen Besuch zu Gast zu haben. lich sekundiert von der FDP, die derzeitige Arbeitsweise Der Deutsche Bundestag misst der Zusammenarbeit un- der PKV. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Wozu führt serer Parlamente große Bedeutung bei. denn die Tatsache, dass die private Krankenversicherung Für Ihren Aufenthalt und für Ihr weiteres parlamenta- bessere Arzthonorare zahlt? Das führt dazu, dass es sehr risches Wirken begleiten Sie unsere besten Wünsche. viele Ärzte am Starnberger See gibt. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Stutt- (Beifall) gart!) Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle- Aber versuchen Sie einmal, in Berlin-Neukölln einen gin Birgitt Bender vom Bündnis 90/Die Grünen. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zu finden! Das heißt, die private Krankenversicherung bietet eine Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Medizin für die Reichen und Schönen. Da gibt es Über- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer versorgung. Die anderen bekommen den Rest. Das ist großen Koalition soll angeblich richtig zugepackt wer- doch keine akzeptable Steuerungswirkung in einem so- den. zialen Sicherungssystem! (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wer sagt das?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was erleben wir? Seit neun Wochen wird verhandelt und Wettbewerb wäre in der Tat gut. Es geht um den rich- jeden Tag wird eine neue Sau durch die Presselandschaft tigen Suchmechanismus für Innovationen in der getrieben. Gesundheitsversorgung. Was höre ich stattdessen schon wieder von der Union? Die Ärztekartelle seien (B) (Iris Gleicke [SPD]: Aber nicht von uns! Sie gut. (D) sind ja bloß traurig, dass Sie nicht mehr dabei sind!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie machen beim Zuhören Fehler!) Das heißt, es gibt nach wie vor keine Einigung. Da mag man fast die alten Zeiten loben. Damals hat Rot-Grün Frau Widmann-Mauz, wenn Sie das gleich mit einem sich mit der Union zusammengesetzt. Wir haben drei Bekenntnis zur Atomkraft verbinden, kann man dazu nur Wochen lang verhandelt und dann hatten wir ein Ergeb- sagen: Sie haben eine Vorliebe für Dinosaurier, zeigen nis. Nehmen Sie sich mal ein Beispiel an unserer damali- aber keine Reformbereitschaft. gen Arbeitsmoral! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber das Er- Ich höre von Frau Merkel immer „Mehr Freiheit wa- gebnis ist nicht so gut, Frau Bender, oder?) gen!“ und das Bekenntnis zur Marktwirtschaft. Dann fangen Sie doch einmal an! Setzen Sie die Fachärzte Was ist bisher zustande gekommen? Ich höre gewisse doch der Marktwirtschaft aus und schaffen Sie in den Worte, die mir gefallen, etwa: Wettbewerb. Mehr Wett- Apothekenzünften endlich einmal Marktwirtschaft! So bewerb solle es geben. In der Tat, darum geht es uns. können Sie die Worte von Frau Merkel realisieren und Aber was hören wir gleichzeitig, Herr Zöller? Sie vertei- brauchen nicht nur große Worte zu schwingen. Aber ich digen den Schutzzaun um die private Krankenversiche- sehe nicht, dass das passiert. rung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie machen beim Zuhören Fehler!) Statt den frischen Wind des Wettbewerbs in das Ge- sundheitswesen zu bringen, diskutieren Sie über mehr Dort gibt es doch gerade keinen Wettbewerb. Nicht alle Staat. Jetzt wird – wir haben es gehört – ein Fonds ge- können sich aussuchen, in welche Versicherung sie ge- schaffen. hen. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da haben Sie (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Warten Sie doch Recht!) mal ab, bis Sie unseren Entwurf sehen!) Da wird erst einmal der Beitragseinzug verstaatlicht, Es gibt einen Schutzzaun um die PKV. Die sucht sich übrigens mit der Folge, dass dies doppelt so viel kostet, die Leute danach aus, ob sie auch gesund genug sind und die Beitragshöhe staatlich festgesetzt, was früher die 4014 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Birgitt Bender (A) Kassen gemacht haben. Dann soll noch eine Mindestzahl Steuererhöhungen nicht zum nächsten Ersten greifen. (C) von Versicherten festgelegt werden, die eine Kasse ha- Zum nächsten Ersten haben Sie jedoch ein Finanzloch in ben muss. der Krankenversicherung in der Größenordnung von vo- raussichtlich 7 Milliarden Euro. Ich möchte einmal wis- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wo sen, wie Sie das stopfen wollen. haben Sie das wieder her?) Ich höre immer Herrn Ramsauer und andere, die Stellen Sie sich einmal vor, das würden wir mit den plötzlich darüber philosophieren, welche Leistungen Bäckern machen! Nennt man so etwas etwa Marktwirt- man aus dem Angebot der Krankenversicherungen raus- schaft? Schließlich wollen Sie noch einen Einheitsdach- nehmen könnte, die die Versicherten dann privat absi- verband der Krankenkassen schaffen, damit sie auch chern können, so zum Beispiel Risikosportarten. Ich wirklich als Einheitsfront sprechen. Nennt man so etwas sage Ihnen dazu eines: Die am weitesten verbreitete Ri- etwa Marktwirtschaft und Wettbewerb? sikosportart in unserer Gesellschaft ist was? – Der Fuß- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nein, das ist ball. Wir reden hier nicht über die Wade von Michael Planwirtschaft!) Ballack, sondern über die Vereine, in denen junge Män- ner und zunehmend auch junge Frauen – zum Beispiel Das ist doch Etatismus pur, was Sie da vorhaben. als Kinder von Migranten – in diese Gesellschaft aufge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – nommen werden und einen Platz finden. Sie wollen wo- Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- möglich das Signal setzen, das sei ein Luxus, der Solida- NEN]: Das ist Sozialismus!) rität nicht verdient habe. Dazu sage ich nur: Pfui, das ist keine Reform. Was bewirkt denn Ihr Gesundheitsfonds, der nach Aussagen der Frau Staatssekretärin angeblich zu einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nachhaltigen Finanzierung beitragen soll? Er schafft und bei der LINKEN – Wolfgang Zöller mehr Bürokratie. [CDU/CSU]: Einen solchen Schwachsinn hätte ich nicht einmal Ihnen zugetraut!) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Von welchem Fonds reden Sie denn?) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dann wird zusätzlich eine so genannte kleine Kopf- Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Kleiminger pauschale eingeführt. Das heißt, es gibt mehr Verwal- von der SPD-Fraktion. tungsaufwand und eine größere soziale Belastung der Versicherten. So etwas hat den Namen „Reform“ nicht (Beifall bei der SPD) (B) verdient. (D) Christian Kleiminger (SPD): (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie kennen die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Reform nicht, sagen aber, sie habe den Namen Wenn wir heute darüber reden, wie das solidarische Ge- „Reform“ nicht verdient!) sundheitssystem auch in Zukunft nachhaltig finanziert Schließlich wird jeden Tag darüber diskutiert, welche und gesichert werden soll, dann muss man natürlich Steuer man jetzt wieder erhöhen könnte: erst die Mehr- auch über eine effiziente Nutzung der vorhandenen Fi- wertsteuer – das haben Sie schon beschlossen –, dann nanzmittel sprechen. Dabei geht es nicht allein um die die Einkommensteuer. Das weiß man natürlich nicht so Kosten, sondern darum, wie man den Betroffenen am genau; denn hier hat Rot-Grün gerade erste Reformen besten helfen kann. durchgeführt und eigentlich wollte die Union die Tarife (Beifall bei der SPD) weiter senken. Dann kam man auf einen Gesundheits- soli. Jetzt haben wir schon den Soli für den Osten; ein Unsere Idee, die starren Grenzen zwischen stationärer Soli für die Hüfte wäre vielleicht verfassungsrechtlich und ambulanter medizinischer Versorgung aufzuwei- schwierig. Jetzt lese ich: Wir stricken uns eine neue chen, zieht sich dabei wie ein roter Faden durch alle ge- Steuer. Diese neue Steuer muss allein dem Bund und sundheitspolitischen Überlegungen. Ein variableres Ver- darf nicht den Ländern zustehen. Sie darf die Betriebe sorgungsangebot wird die Qualität erheblich verbessern. nicht belasten und nicht mit Absetzmöglichkeiten ver- bunden sein. Mir ist es wichtig, in diesem Zusammenhang ein Thema anzusprechen, mit dem wir uns leider in der Ge- Was machen Sie da eigentlich? Sie sind ein Kränz- sellschaft, aber auch hier im Parlament, noch zu wenig chen, in dem man sagt: Wir häkeln uns einen Geldsack. auseinander setzen. Es geht mir um die Hospizarbeit und die Palliativmedizin. Die Koalition hat dieses wich- Soll man so etwas etwa eine Reform nennen? tige Thema erkannt und deshalb auch bereits im Koali- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie tionsvertrag Verbesserungen vereinbart, um Menschen des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]) ein Sterben in Würde zu ermöglichen. Wenn alle Betrof- fenen wissen, dass Sterben ohne Schmerzen durch best- Ich sagen Ihnen noch etwas: Auch wenn Sie jetzt be- mögliche Versorgung Lebensqualität bis zum Schluss schließen, der Krankenversicherung Steuermittel in grö- wahren kann, werden auch die Diskussionen um die ak- ßerem Umfang – Sie haben der Krankenversicherung ge- tive Sterbehilfe verstummen. rade erst 5 Milliarden Euro genommen – wieder zukommen zu lassen, werden die dafür notwendigen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4015

Christian Kleiminger (A) Bei meinen Besuchen in den ambulanten und statio- Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): (C) nären Hospizen – auch in meinem Wahlkreis – Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute wurde mir vermittelt, dass Anspruch und Wirklichkeit trifft uns unvermittelt die geballte Kraft der Opposition hier leider noch immer zu weit auseinander klaffen. Das zu Themen, die noch gar nicht auf dem Tisch liegen. Das müssen wir ändern und konkrete Rahmenbedingungen ist schon sehr interessant. für diesen Bereich schaffen. Bestmögliche palliative Versorgung darf in Zukunft nicht weiter vom Wohlwol- Uns liegen vier Anträge zu fast allem, was in der Ge- len der jeweiligen Krankenkassen und deren Medizini- sundheitspolitik in den letzten Jahren passiert ist, vor: scher Dienste abhängen. viel Papier, aber nichts Erhellendes. Die Fraktion der Linken beantragt die Abschaffung der Praxisgebühr. Die (Beifall bei der SPD) Grünen sind dafür, die Praxisgebühr beizubehalten. Sie beantragen die Einführung der Bürgerversicherung. Das Deshalb muss ein Ziel des großen Pakets, das wir ist ein altes Lieblingsprojekt der Grünen, das sie aber in schnüren, sein, einen flächendeckenden Zugang zu palli- den sieben Jahren, in denen sie das hätten machen kön- ativmedizinischer und pflegerischer Versorgung und ei- nen, nicht umgesetzt haben. In einem zweiten Antrag ge- nen individuellen Leistungsanspruch hierauf für alle ben sie vermeintlich gute, aber durchaus verzichtbare Menschen zu schaffen. Dieser Zugang muss auch ambu- Ratschläge für die aktuellen Verhandlungen über die Re- lant möglich sein, sodass schwer kranke und sterbende form der gesetzlichen Krankenversicherung und kritisie- Menschen länger und besser in ihrer häuslichen Umge- ren vorab, was sie nur vom Hörensagen kennen. Die bung versorgt werden können. Das ist der Wunsch vieler Fraktion der FDP schließlich beantragt heute, dass das Menschen. Gesundheitssystem zu reformieren sei, und sagt, nach (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten welchen Kriterien dies nach ihrer Auffassung erfolgen der CDU/CSU) sollte. Die bereits in Modellregionen – wie in Mecklenburg – (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Würde ich an erprobten Palliative-Care-Teams, die sich aus speziell Ihrer Stelle mit in die Verhandlungen neh- ausgebildeten Ärzten und Pflegern zusammensetzen, men!) konnten in der Vergangenheit bereits gute Erfahrungen – Dazu komme ich gleich. sammeln. Dabei geht es um ein Nebeneinander von am- bulant und stationär, von höchstem medizinischem und Im Gesundheitsausschuss besteht zwischen CDU/ pflegerischem Standard und ehrenamtlichem Engage- CSU, SPD, Grünen – das gilt weitgehend auch für die ment. FDP – ein breiter Konsens darüber, dass sich die Praxis- (B) gebühr seit ihrer Einführung vor zwei Jahren durchaus (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bewährt hat. Sie hat nicht nur eine finanzielle Entlastung Lassen Sie mich an dieser Stelle gerade Letzteres, das der Kassen um jährlich rund 2 Milliarden Euro erbracht, bürgerschaftliche Engagement der vielen Ehrenamtli- sondern auch die beabsichtigte Steuerungswirkung ent- chen, würdigen. Ohne sie wäre unsere Gesellschaft um faltet. Die Versicherten suchen vermehrt den Hausarzt einiges ärmer. als zentrale Anlaufstelle auf und die Zahl der Arztkon- takte wurde zugunsten einer zeitintensiveren und quali- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tativ besseren ärztlichen Beratung verringert. Die Praxis- der CDU/CSU und der FDP) gebühr führte offensichtlich dazu, dass die Versicherten die ärztlichen Leistungen bewusster in Anspruch neh- Die Zahl der sterbenden und schwer kranken Men- men. Studien des Wissenschaftlichen Instituts der AOK schen wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen. belegen dies eindeutig. Die Eigenverantwortung der Ver- Deswegen ist es wichtig, dass auch dieser Aspekt schon sicherten wurde gestärkt. Durch die Härtefallregelung ist heute in die Diskussion einfließt. An dieser Stelle sollten gleichzeitig sichergestellt, dass in Deutschland niemand wir uns fragen: Was sind uns Leben und Sterben in wegen der Praxisgebühr auf qualifizierte medizinische Würde wert? Ich bin der Auffassung, dass es uns viel Hilfe verzichten muss. wert sein muss. (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank. Die Realität ist: In Deutschland muss niemand auf den (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arztbesuch verzichten, weil er die Praxisgebühr nicht der CDU/CSU) aufbringen kann. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Kleiminger, ich gratuliere Ihnen zu Ih- Vorsorgeuntersuchungen sind ebenso wie die Unter- rer ersten Rede im Deutschen Bundestag. suchung und Behandlung von Kindern von dieser Ge- bühr gänzlich ausgenommen. Die Belastungsgrenze für (Beifall) die Praxisgebühr und die Zuzahlungen liegt bei 2 Pro- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Koschorrek zent des jährlichen Bruttohaushaltseinkommens. Im Jahr von der CDU/CSU-Fraktion. 2004 waren 6 643 362 erwachsene Personen von der Praxisgebühr und den Zuzahlungen, die über die gesetz- (Beifall bei der CDU/CSU) lich festgelegte Belastungsgrenze hinausgehen, befreit. 4016 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Rolf Koschorrek (A) Darunter waren zu 90 Prozent chronisch Kranke, für die Die Ehrlichkeit gebietet es, zu sagen, dass das Ge- (C) die Belastungsgrenze von 1 Prozent ihres Haushaltsein- sundheitswesen durch unsere Bevölkerungsentwicklung kommens gilt. Hinzu kommen über 12 Millionen Kin- und den Fortschritt in allen Bereichen der Medizin in der, die von den Gebühren und Zuzahlungen gänzlich Zukunft trotz aller Sparbemühungen nicht auf dem heu- befreit sind. tigen Ausgabenniveau zu halten sein wird. Es wird teu- rer werden. Die Bundeskanzlerin sagte dies auch in der Wir können zweieinhalb Jahre nach Einführung der vergangenen Woche in der Haushaltsdebatte, dass wir Gebühr sagen: Sie hat sich nicht nur als finanzielle Ent- zur Finanzierung des Systems die solidarische Grund- lastung der Kassen bewährt, sondern sie hat sich auch als lage verbreitern müssen. Zugleich müssen wir allerdings sinnvolles Instrument zur Stärkung der Eigenverantwor- auch nach Einsparmöglichkeiten suchen. Ob eine Sen- tung der Versicherten erwiesen. kung der Kosten in großem Umfang wirklich möglich Nach meiner Überzeugung wird die Eigenverant- sein wird, möchte ich jetzt dahingestellt sein lassen. Ich wortung im Gesundheitsbereich künftig, im Vergleich bin aber überzeugt, dass eine Begrenzung der künftigen zu den vergangenen Jahren, eine zunehmend wichtige Kosten, zum Beispiel durch eine obligatorische Selbst- Rolle spielen. So ist es auch im Koalitionsvertrag unter beteiligung der Versicherten, durch Rückerstattungen, der Überschrift „Soziale Sicherheit verlässlich und ge- durch mehr Transparenz und durch Kostenerstattungen recht gestalten“ vereinbart. Dort heißt es: im System nicht nur möglich, sondern durchaus anzu- streben ist. Eigenverantwortung und Eigeninitiative müssen gestärkt werden und Solidarität ist nicht nur inner- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- halb der einzelnen Generationen, sondern auch zwi- neten der FDP) schen den Generationen gefordert. Die Versicherten sind mündige und verantwortungs- (Beifall bei der CDU/CSU) bewusste Bürger. Es muss ihnen die Möglichkeit gege- ben werden, sich als solche zu verhalten. Es besteht in Vielfach wird suggeriert, Eigenverantwortung und meinen Augen kein Anlass, sie zum Beispiel in Un- Solidarität seien Gegensätze. Darum möchte ich hier kenntnis darüber zu lassen, wie hoch die Kosten für die ganz deutlich bewusst machen: Eigenverantwortung und medizinische Versorgung, die sie in Anspruch nehmen, Solidarität stehen nicht im Gegensatz zueinander. Viel- sind. Wir müssen die Versicherten zu einem bewussten mehr müssen sie sich im gesellschaftlichen Leben ergän- und verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Gesund- zen. Eigenverantwortung und Solidarität, ebenso wie heit, zu einem gesundheitsbewussten Leben, zur Prophy- Freiheit, sind gleichwertige Grundsätze unserer Gesell- laxe und zu einem bewussten Umgang mit der Inan- (B) schaft. spruchnahme medizinischer Leistungen motivieren. (D) Deswegen können die Fragen, die sich stellen, nur Wenige Tage vor Bekanntgabe des neuen Konzepts lauten: Wie weit geht die Eigenverantwortung des Ein- der Bundesregierung für die Reform unseres Gesund- zelnen? Wann kommen die Verpflichtung zur Solidari- heitssystems hat die Fraktion von Bündnis 90/Die Grü- tät und das Anrecht des Einzelnen auf Solidarität zum nen wieder den alten Hut der Bürgerversicherung her- Tragen? Eine der fundamentalen Grundüberzeugungen vorgeholt, die sie – ich muss mich leider wiederholen – der Politik der Union lautet: Die individuelle Verantwor- in den sieben Jahren, in denen sie selbst Verantwortung tung hat Vorrang gegenüber dem staatlichen Handeln. trug, nicht realisiert hat. Der Einzelne trägt nach seinen jeweiligen Fähigkeiten und Möglichkeiten, nach seiner individuellen Leistungs- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ein Glück!) fähigkeit Verantwortung für sich und für die Gesell- Warum haben Sie das damals nicht getan? Sie hatten es schaft. in der Hand. Was soll dieses Verhalten jetzt? Sie hängen (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist offensichtlich immer noch Ihrem alten Modell von ges- es!) tern und vorgestern nach. Er ist zunächst für sich selbst verantwortlich. Darüber (Elke Ferner [SPD]: Aber die Kopfpauschale hinaus hat er einen Anspruch auf Solidarität und ist zu- ist moderner oder wie?) gleich – so weit es in seinen Kräften steht – zur Solidari- Zugleich treten Sie hier als voreilige Bedenkenträger tät mit anderen verpflichtet. gegen das neue Konzept der großen Koalition auf, über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dessen Details erst in den nächsten Tagen entschieden wird. Einer Ihrer Hauptkritikpunkte ist, dass die Einrich- Dieses Grundprinzip hat ganz wesentlich mit dem C tung eines Gesundheitsfonds, wie er seit einigen in unserem Parteinamen zu tun. Unsere Basis ist das Wochen öffentlich im Gespräch ist, mit hohem Verwal- christliche Menschenbild und die Überzeugung, dass tungsaufwand verbunden wäre. Es ist doch eine Binsen- das staatliche Zusammenleben nach dem Subsidiaritäts- weisheit, dass alles Neue zunächst einmal mit organisa- prinzip zu organisieren ist. Das werden wir uns auch von torischem Aufwand, mit Arbeit und Unbequemlichkeit Ihnen, Frau Künast, mit Sicherheit nicht absprechen las- verbunden ist. sen. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU) Aha! Eingeständnis!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4017

Dr. Rolf Koschorrek (A) Das darf doch aber kein Grund dafür sein, sinnvolles Elke Ferner (SPD): (C) Neues abzulehnen und alles beim Alten zu lassen. Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Es ist eigentlich wie immer: Je näher eine Entscheidung (Beifall bei der CDU/CSU – Daniel Bahr rückt, umso größer werden die Spekulationen, nicht nur [Münster] [FDP]: Sehr richtig!) in der Presse, sondern auch im Deutschen Bundestag. Die große Koalition hat den Auftrag und die Ver- (Zuruf von der FDP: Vor allem in der pflichtung, das Gesundheitssystem gründlich zu refor- Koalition!) mieren und zukunftsfähig zu gestalten. Wir nehmen die- sen Auftrag ernst und sind bereit, uns von alten Zöpfen Es liegen einige Anträge vor, in denen es unter ande- zu trennen und etwas Neues in Angriff zu nehmen. Wir rem um die Finanzsituation der GKVen geht. Ich muss schauen nach vorn und sind sicher, dass die Bürger zu- sagen – das ist manchmal schon etwas merkwürdig –: sammen mit den Beschäftigten im Gesundheitswesen, Alle reden im Moment darüber, an welchen Stellen Aus- mit den Leistungserbringern und mit den Krankenkassen gaben gekürzt werden müssen. Herr Bahr hat eben da- flexibel genug sind, etwas Neues, Effektives auf den rauf hingewiesen, dass die versprochenen Beitragssatz- Weg zu bringen und die Akzeptanz dafür zu wecken. senkungen nicht durchgeführt worden sind. Das ist Kurz vor Toresschluss hat die FDP-Fraktion noch richtig. Sie haben dabei aber verschwiegen, dass sich die schnell und offensichtlich sehr eilig einen Antrag formu- Einnahmebasis der gesetzlichen Krankenversicherung liert, um ihn hier und heute auf die Tagesordnung setzen anders entwickelt hat, als man es, als es damals um das zu lassen. GMG ging, angenommen hatte. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt doch (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Tja, das waren Toresschluss? Ich dachte, wir fangen erst an! dann wohl zu optimistische Annahmen, Frau Das haben Sie gerade gesagt!) Ferner!) Ihr Antrag beinhaltet eine plakative Aufzählung von Das, sehr geehrter Herr Kollege, hat natürlich auch et- gängigen Schlagworten wie „Effizienz“, „Transparenz“ was mit der Entwicklung der sozialversicherungspflich- und „Nachhaltigkeit“. Aber die wichtigen Finanzie- tigen Beschäftigungsverhältnisse und mit den Tarifab- rungsfragen im Hinblick auf die Einnahmeseite der schlüssen zu tun. All das muss man mitberücksichtigen. GKV lässt die FDP völlig außen vor. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Daniel (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Überhaupt Bahr [Münster] [FDP]: Das war Ihre rot-grüne nicht!) Arbeitsmarktpolitik!) – Ich glaube nicht, dass das unsere Arbeitsmarktpolitik (B) Dieser Antrag der FDP sieht schwer nach einer Verle- (D) genheitslösung aus. Er demonstriert eigentlich nur Ihren war. Willen, auf plakative Weise eine Daseinsberechtigung (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Oh doch! Deswe- vorzutragen. gen wurde Rot-Grün ja auch abgewählt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das hängt auch damit zusammen, dass die Wirtschaft die der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das Angebote, die ihr gemacht wurden, nicht genutzt hat. glauben Sie doch wohl selbst nicht, Herr Ko- schorrek!) (Lachen des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]) Die CDU/CSU lehnt die vorliegenden Anträge der Opposition ab. Diese Anträge wenige Tage vor Bekannt- Trotz Steuersenkungen und trotz der Senkung der Lohn- gabe unseres Konzepts vorzulegen, ist allzu durchsich- nebenkosten sind keine zusätzlichen Arbeitsplätze ge- tig. Es liegt auf der Hand, dass die Oppositionsfraktio- schaffen worden und keine zusätzlichen Beschäftigungs- nen hier und heute schnell noch einmal Verunsicherung verhältnisse entstanden. streuen und vorab die Position der Koalitionsfraktionen (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ach was!) und der Bundesregierung austesten wollen. Hinzu kommt, dass, während die Beitragsleistungen Die Koalition ist sich über die Ziele der Gesundheits- aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung sin- reform einig. Über den Weg, wie wir diese Ziele errei- ken, die Einkünfte wie Mieten, Pachten, Zinsen, Divi- chen, verhandeln wir. Die Ergebnisse dieser Verhandlun- denden und Unternehmensgewinne steigen. Diese gen werden wir in wenigen Tagen bekannt geben. Einnahmen werden zur Mitfinanzierung des Gesund- Danke schön. heitswesens gegenwärtig noch nicht herangezogen. Wenn aber alle in dieser Republik Gesundheitsschutz ha- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ben sollen, wenn alle dann, wenn sie krank sind, die not- neten der SPD) wendige medizinische Behandlung erhalten sollen und wenn alle am medizinischen Fortschritt teilhaben sollen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dann darf man die Finanzierung dessen nicht auf immer Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt weniger und immer schmalere Schultern verteilen. Sie gebe ich das Wort der Kollegin Elke Ferner von der wollen das offensichtlich tun. SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. (Beifall bei der SPD) Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]) 4018 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Elke Ferner (A) Wir wollen eine gerechte und solidarische Finanzie- Ich möchte noch ein Wort zur privaten Krankenver- (C) rung unseres Gesundheitswesens. Jeder soll an dieser sicherung sagen, weil da in den letzten Wochen einiges Finanzierung nach seiner individuellen Leistungsfähig- an Fehl- und Desinformationen aufgetaucht ist. Wir ha- keit beteiligt werden. ben gehört, das PKV-System stütze das GKV-System fi- nanziell und deshalb sei eine Einbeziehung der PKV in (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber dann ist ein solches Fondsmodell nicht möglich; überdies dürfe es eine Steuer!) ein Steuerzuschuss nicht ausschließlich der GKV zuflie- Deshalb wollen wir als SPD den Einstieg in eine neue ßen, auch die PKV müsse davon etwas haben. Säule der Finanzierung. Wir wollen, dass das über eine Diese Behauptungen sind schlicht und ergreifend Steuer finanziert wird. falsch. Denn zunächst einmal ist es doch so: Die private (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! So ist das Krankenversicherung versichert die Einkommensstärke- also!) ren. Wenn man sich einmal anschaut, wie die Durch- schnittseinkommen der PKV-Versicherten und die der Da Frau Künast eben gesagt hat, Steuererhöhungen GKV-Versicherten aussehen, muss man feststellen, dass seien konjunkturschädlich, muss ich eine Gegenfrage erstere im Verhältnis über 63 Prozent höher liegen. Dann stellen. Was ist konjunkturschädlicher: die Steuern zu er- versichert die PKV auch noch die Gesünderen – die Risi- höhen und mit diesen Steuermehreinnahmen für alle die koselektion ist ja eben schon angesprochen worden – Beitragssätze zu senken, und in der PKV sind wesentlich weniger Ältere versi- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das tun Sie chert, wodurch die PKV weniger Belastungen zu tragen aber nicht!) hat, was ihre Ausgabenstruktur anbelangt. Hinzu kommt: Ohne die gesetzliche Krankenversicherung gäbe oder die gegenwärtige Höhe der Steuern und Beitrags- es in vielen Regionen dieser Republik für die privat Ver- sätze beizubehalten, allerdings unter der Maßgabe, dass sicherten keinen Arzt, keine Ärztin, kein Krankenhaus, das Beitragsaufkommen von sehr viel weniger Men- wo sie sich behandeln lassen können. schen erbracht werden muss? Ich glaube, die Lösung, die Frau Künast eben vorgestellt hat, ist nicht gerecht und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des nicht solidarisch. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wir haben eben über Steuern und Selbstverantwor- CDU/CSU) tung gesprochen und darüber, was die PKV-Versicherten alles selber bezahlen würden. Ich habe mir die Zahlen Nun komme ich zum zweiten Punkt, den ich anspre- herausgesucht – manchmal genügt ja einfach ein Blick (B) chen möchte. Da viel über das Fondsmodell diskutiert auf die Zahlen –: Nach eigenen Angaben geben die pri- (D) wird, sage ich noch einmal: Für uns ist nicht entschei- vaten Krankenversicherungen für Leistungen für ihre dend, was oben drauf steht, sondern was innen drin ist. Versicherten 16,5 Milliarden Euro aus. Wenn man sich Hier gibt es zwischen uns und der Union noch Differen- einmal anschaut, was die öffentliche Hand für Beihilfe zen. Es wäre falsch, das zu leugnen. Frau Widmann- ausgibt, stellt man fest, dass das im letzten Jahr Mauz hat sich eben für eine feste Prämie ausgesprochen. 8,5 Milliarden Euro gewesen sind. Und woher kommt Wir sind der Auffassung, man kann durchaus ein Finanz- die Beihilfe? Sie wird aus Steuern finanziert. strommodell innerhalb eines solchen Fonds entwickeln, ohne dass man am Ende eine feste Prämie braucht. Da (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des gibt es noch Diskussionspunkte; das braucht man nicht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) unter den Tisch zu kehren. Wenn man das einmal ins Verhältnis setzt, dann heißt (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wozu braucht das, dass zu dem, was die PKVs für Gesundheitsleistun- man denn dann den Fonds?) gen ausgeben, über die Hälfte aus Steuern zugeschossen wird. Deshalb kann ich die Frage, welches System hier – Wofür wir den Fonds brauchen? Wenn Sie ein bisschen welches stützt, nur so beantworten: Die gesetzlich Ver- nachdenken, dann kommen Sie darauf, lieber Herr sicherten stützen das Gesundheitssystem insgesamt, von Kollege: Wir haben heute zwischen den gesetzlichen dem die PKV-Versicherten profitieren, und die Steuer- Krankenversicherungen einen Ausgleich von lediglich zahler stützen das PKV-System zusätzlich. 92 Prozent. Über einen solchen Fonds könnte man einen Ausgleich zu 100 Prozent und einen risikoadjustierten, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des krankheitsbedingten RSA einführen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Na toll: noch Deshalb sind wir der Auffassung, dass bei einer neuen mehr Umverteilung!) Finanzierung das PKV-System einen Solidarbeitrag für das gesamte Gesundheitssystem leisten muss. – Stellen Sie mir doch eine Zwischenfrage, statt so her- umzuschreien. Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Es wer- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nein, lieber den ja immer gerne große Einsparvorschläge gemacht – nicht!) von denen, die sich auskennen, eher aber noch von de- nen, die sich nicht so gut auskennen. Wir haben – das hat – Gut, dann halten Sie sich etwas zurück mit Ihren Zwi- Frau Widmann-Mauz eben schon angesprochen – in den schenrufen. letzten Jahren Erhebliches geleistet: Im Saldo sind die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4019

Elke Ferner (A) Kassen schuldenfrei. Vieles mussten die Versicherten ses 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die (C) bzw. die Patienten alleine tragen. Insgesamt sind beim Linke angenommen. GMG und bei anderen Maßnahmen 13,2 Milliarden Euro mobilisiert worden. Wer sagt, das Einsparvolumen Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion aus Strukturveränderungen – die bekanntermaßen immer Die Linke zur Änderung des Fünften Buches Sozialge- erst nach einer gewissen Zeit greifen – sei immer noch setzbuch auf Drucksache 16/451. Der Ausschuss für Ge- zu klein, verkennt, dass wir nicht bei null anfangen. Es sundheit empfiehlt auf Drucksache 16/1753, den Gesetz- ist, wie gesagt, schon einiges getan worden in den letzten entwurf abzulehnen. Die Fraktion Die Linke verlangt Jahren; sonst wäre das alles viel weiter aus dem Ruder namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerin- gelaufen. nen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu- nehmen. – Sind jetzt alle Urnen mit Schriftführerinnen Wenn ich jetzt höre, private Unfälle sollten aus dem und Schriftführern besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne Leistungskatalog ausgegliedert werden – das habe ich die Abstimmung. diese Woche von Herrn Ramsauer gelesen; ich habe ge- Ist noch ein Abgeordneter anwesend, der seine lesen, die Unionsministerpräsidenten wollten das –, Stimme nicht abgegeben hat? – Ich schließe die Abstim- muss ich sagen: Das ist wirklich grober Unfug! mung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen. Das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) geben. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Man muss sich das einmal praktisch vorstellen: Be- den Drucksachen 16/1928 und 16/1997 an die in der Ta- kommt man einen Herzinfarkt im Bett, zahlt die Kran- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. kenkasse. Bekommt man einen Herzinfarkt nach einem Sind Sie damit einverstanden? – Es gibt keinen Wider- Unfall, dann soll die Unfallversicherung bezahlen. Erlei- spruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. det man einen Unfall, weil man einen Herzinfarkt hat, dann werden Heerscharen von Rechtsanwälten beauf- Wir kommen jetzt zu Überweisungen im verein- tragt. Wer so etwas vorschlägt, der versucht nicht, Kos- fachten Verfahren. ten zu sparen, sondern lediglich zu verschieben. Insofern kann ich die Union nur bitten, von diesem Vorschlag ab- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 b bis 37 g sowie zurücken. die Zusatzpunkte 3 a bis 3 h auf: 37 b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur (B) Ein Letztes zum Antrag der Linken. Sie wollen die Änderung des Betriebsrentengesetzes (D) Praxisgebühr abschaffen. Was heißt das denn? Diejeni- – Drucksache 16/1936 – gen, die heute ein niedriges Einkommen haben und die Überweisungsvorschlag: Belastungsobergrenze sehr schnell erreichen – die be- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) rühmten Empfänger von ALG II –, werden davon über- Finanzausschuss haupt nicht profitieren; es dauert lediglich etwas länger, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie bis die Belastungsobergrenze erreicht wird. Profitieren Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend würden aber diejenigen, die die Belastungsobergrenze c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nicht erreichen, was bekanntermaßen nicht diejenigen gebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur sind, die wenig verdienen, sondern diejenigen, die eher Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes viel verdienen. So viel zu Ihrem Thema Gerechtigkeit. sowie zur Änderung des Finanzdienstleis- tungsaufsichtsgesetzes und anderer Vorschrif- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ten (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Max – Drucksache 16/1937 – Straubinger [CDU/CSU]) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ich schließe die Aussprache. d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur schusses für Gesundheit auf Drucksache 16/2002 zu Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen personellen Struktur beim Bundeseisenbahn- mit dem Titel „Dem Solidarsystem eine stabile Grund- vermögen und in den Unternehmen der Deut- lage geben – für eine nachhaltige Finanzierungsreform schen Bundespost der Krankenversicherung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/950 abzulehnen. Wer – Drucksache 16/1938 – stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Überweisungsvorschlag: dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie der Fraktion der FDP gegen die Stimmen des Bündnis- Ausschuss für Arbeit und Soziales 4020 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- Christian Ströbele, Volker Beck (Köln), Monika trag vom 13. April 2005 zwischen der Bundes- Lazar und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ republik Deutschland und dem Königreich der DIE GRÜNEN Niederlande über den Zusammenschluss der deutschen Bundesstraße B 56n und der nieder- Befragung von Gefolterten und Nutzung von ländischen Regionalstraße N 297n an der ge- Foltererkenntnissen ausschließen meinsamen Staatsgrenze durch Errichtung ei- – Drucksache 16/836 – ner Grenzbrücke Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/1939 – Innenausschuss (f) Auswärtiger Ausschuss Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Hoppe, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion Änderung des vorläufigen Tabakgesetzes des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/1940 – Indigene Völker – Ratifizierung des Überein- Überweisungsvorschlag: kommens der Internationalen Arbeitsorgani- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) sation (IAO) Nr. 169 über Indigene und in Finanzausschuss Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Staaten Ausschuss für Gesundheit – Drucksache 16/1971 – g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jel- pke, Sevim Dagdelen, Dr. Hakki Keskin, weiterer Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Entwicklung (f) Die Welt zu Gast bei Freunden – Für eine offe- Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss nere Migrations- und Flüchtlingspolitik in Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Deutschland und in der Europäischen Union e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Burk- – Drucksache 16/1199 – hardt Müller-Sönksen, Florian Toncar, Dr. Karl (B) Überweisungsvorschlag: Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (D) Innenausschuss (f) der FDP Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss 7. Bericht der Bundesregierung über ihre Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Be- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ziehungen und in anderen Politikbereichen ZP 3a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marie- – Drucksache 16/1999 – luise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Birgitt Überweisungsvorschlag: Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Menschenrechte in Usbekistan einfordern Toncar, Burkhardt Müller-Sönksen, Dr. Werner – Drucksache 16/1975 – Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Für die weltweite Sicherstellung der Religions- Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss freiheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute – Drucksache 16/1998 – Koczy, Thilo Hoppe, Dr. Uschi Eid, weiterer Ab- Überweisungsvorschlag: geordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe SES 90/DIE GRÜNEN g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Eine Weltbank-Energiepolitik der Zukunft – Hänsel, Ulla Lötzer, Hans-Kurt Hill, weiterer Ab- Ja zu mehr Effizienz und erneuerbaren Ener- geordneter und der Fraktion der LINKEN gien, Nein zur Atomkraft Keine Weltbankkredite für Atomtechnologie – Drucksache 16/1978 – – Drucksache 16/1961 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Überweisungsvorschlag: Entwicklung (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Gesundheit Entwicklung (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4021

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hü- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (C) seyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (15. Ausschuss) der LINKEN – Drucksache 16/1965 – Agrarbeihilfeempfänger offen legen Berichterstattung: – Drucksache 16/1962 – Abgeordneter Winfried Hermann Überweisungsvorschlag: Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und lung empfiehlt auf Drucksache 16/1965, den Gesetzent- Entwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem zustim- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und men wollen, sich von ihrem Platz zu erheben. – Verbraucherschutz Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Tagesordnungspunkt 38 c: überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 i, 38 k eines Gesetzes zu dem Abkommen vom und 38 m bis 38 u sowie die Zusatzpunkte 4 a bis 4 k 28. Juni 2004 zwischen der Bundesrepublik auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorla- Deutschland und der Republik Singapur zur gen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Tagesordnungspunkt 38 a: Vermögen Zweite Beratung und Schlussabstimmung des – Drucksache 16/1619 – von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- 8. Juni 2005 zwischen der Regierung der Bun- schusses (7. Ausschuss) desrepublik Deutschland und dem Schweizeri- – Drucksache 16/1974 – schen Bundesrat, handelnd im Namen des Kantons Schaffhausen, über die Erhaltung Berichterstattung: einer Straßenbrücke über die Wutach zwi- Abgeordneter Georg Fahrenschon (B) (D) schen Stühlingen (Baden-Württemberg) und Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/1974, Oberwiesen (Schaffhausen) den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die – Drucksache 16/1611 – dem zustimmen wollen, sich von ihrem Platz zu erheben. – Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Auch dieser Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Tagesordnungspunkt 38 d: (15. Ausschuss) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 16/1964 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Berichterstattung: Gesetzes über die Bereinigung von Bundes- Abgeordnete Dorothee Menzner recht im Zuständigkeitsbereich des Bundesmi- nisteriums des Innern Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung empfiehlt auf Drucksache 16/1964, den Gesetzent- – Drucksache 16/1620 – wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- entwurf zustimmen wollen, sich von ihrem Platz zu schusses (4. Ausschuss) erheben. – Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. – Drucksache 16/1979 – Tagesordnungspunkt 38 b: Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Werner Kammer Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Maik Reichel von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Gisela Piltz eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Ulla Jelpke 8. Juni 2005 zwischen der Regierung der Bun- Silke Stokar von Neuforn desrepublik Deutschland und dem Schweizeri- schen Bundesrat, handelnd im Namen des Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Kantons Aargau, über Bau und Erhaltung ei- empfehlung auf Drucksache 16/1979, den Gesetzent- ner Rheinbrücke zwischen Laufenburg (Ba- wurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- den-Württemberg) und Laufenburg (Aargau) entwurf zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf – Drucksache 16/1612 – ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen aller 4022 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange- diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- (C) nommen. haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Dritte Beratung Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Frak- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem tion Die Linke und Enthaltung der FDP-Fraktion ange- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – nommen. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnis in dritter Beratung Tagesordnungspunkt 38 g: angenommen. Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung des Tagesordnungspunkt 38 e: Wahlprüfungsausschusses Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- zu 62 gegen die Gültigkeit der Wahl zum gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften 16. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahl- Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsge- einsprüchen setzes – Drucksache 16/1800 – – Drucksachen 16/1107, 16/1173 – Berichterstattung: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Abgeordnete Thomas Strobl (Heilbronn) schusses (6. Ausschuss) Klaus Uwe Benneter Jörg van Essen – Drucksache 16/2019 – Dr. Carl-Christian Dressel Berichterstattung: Dr. Wolfgang Götzer Abgeordnete Dr. Günter Krings Bernhard Kaster Dirk Manzewski Ulrich Maurer Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Petra Merkel (Berlin) Wolfgang Nešković Silke Stokar von Neuforn Jerzy Montag Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- empfehlung auf Drucksache 16/2019, den Gesetzent- lung ist einstimmig angenommen. wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte Tagesordnungspunkt 38 h: diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- (B) sung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegen- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (D) stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- zweiter Beratung einstimmig angenommen. schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu Dritte Beratung dem Antrag der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, Ulrike Höfken, wei- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – NISSES 90/DIE GRÜNEN Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. EU-Kommission muss nationale Tierschutz- bemühungen respektieren Tagesordnungspunkt 38 f: – Drucksachen 16/549, 16/2008 – Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Berichterstattung: und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Un- Abgeordnete Dr. Peter Jahr terrichtung durch die Bundesregierung Dr. Wilhelm Priesmeier Hans-Michael Goldmann Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Dr. Kirsten Tackmann Parlaments und des Rates über Luftqualität Undine Kurth (Quedlinburg) und saubere Luft für Europa Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf KOM (2005) 447 endg.; Ratsdok. 14335/05 Drucksache 16/549 abzulehnen. Wer stimmt für diese – Drucksachen 16/288 Nr. 2.20, 16/1814 – Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit Berichterstattung: den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim- Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz) men der Oppositionsfraktionen. Detlef Müller (Chemnitz) Angelika Brunkhorst Tagesordnungspunkt 38 i: Lutz Heilmann Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Sylvia Kotting-Uhl richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4023

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Tagesordnungspunkt 38 o: (C) Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) BSE-Testpflichtaltersgrenze anheben Sammelübersicht 63 zu Petitionen – Drucksachen 16/1170, 16/2001 – – Drucksache 16/1913 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Hans-Heinrich Jordan Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Dr. Wilhelm Priesmeier gen? – Sammelübersicht 63 ist mit den Stimmen der Ko- Hans-Michael Goldmann alitionsfraktionen und den Stimmen der FDP-Fraktion Dr. Kirsten Tackmann bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthal- Bärbel Höhn tung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ange- nommen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/1170 abzulehnen. Wer stimmt für diese Tagesordnungspunkt 38 p: Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ach! Das ist ja ausschusses (2. Ausschuss) bemerkenswert! Für BSE seid ihr jetzt auch! – Lachen bei der SPD!) Sammelübersicht 64 zu Petitionen Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den – Drucksache 16/1914 – Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Bündnisses 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP- hält sich? – Sammelübersicht 64 ist einstimmig ange- Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. nommen. Tagesordnungspunkt 38 k: Tagesordnungspunkt 38 q: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- ausschusses (6. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Übersicht 3 Sammelübersicht 65 zu Petitionen über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- (B) ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- – Drucksache 16/1915 – (D) gericht Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- – Drucksache 16/1956 – hält sich? – Sammelübersicht 65 ist mit den Stimmen al- ler Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion des Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- lung ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 38 r: Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Petitionsausschusses. ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 38 m: Sammelübersicht 66 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 16/1916 – ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 61 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Sammelübersicht 66 ist mit den Stimmen aller – Drucksache 16/1911 – Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 61 ist einstimmig ange- Tagesordnungspunkt 38 s: nommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 38 n: ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 67 zu Petitionen ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/1917 – Sammelübersicht 62 zu Petitionen – Drucksache 16/1912 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 67 ist mit den Stimmen der Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Koalitionsfraktionen und der Fraktion der FDP bei Ge- gen? – Sammelübersicht 62 ist einstimmig angenom- genstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des men. Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. 4024 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Tagesordnungspunkt 38 t: Zusatzpunkt 4 d: (C) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 68 zu Petitionen Sammelübersicht 72 zu Petitionen – Drucksache 16/1918 – – Drucksache 16/1982 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 68 ist mit den Stimmen der hält sich? – Sammelübersicht 72 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/ Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen- Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP und der Frak- stimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der tion Die Linke angenommen. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 38 u: Zusatzpunkt 4 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 69 zu Petitionen Sammelübersicht 73 zu Petitionen – Drucksache 16/1919 – – Drucksache 16/1983 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 69 ist mit den Stimmen der Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Opposi- hält sich? – Sammelübersicht 73 ist einstimmig ange- tionsfraktionen angenommen. nommen. Zusatzpunkt 4 a: Zusatzpunkt 4 f: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- ausschusses (2. Ausschuss) SES 90/DIE GRÜNEN Sammelübersicht 74 zu Petitionen Ökologischen Landbau in Deutschland und – Drucksache 16/1984 – (B) Europa weiterentwickeln (D) – Drucksache 16/1972 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 74 ist mit den Stimmen der Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Opposi- gen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist einstimmig an- tionsfraktionen angenommen. genommen. Zusatzpunkt 4 g: Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Zusatzpunkt 4 b: Sammelübersicht 75 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/1985 – Sammelübersicht 70 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 75 ist mit den Stimmen der – Drucksache 16/1980 – Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion des hält sich? – Sammelübersicht 70 ist einstimmig ange- Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. nommen. Zusatzpunkt 4 h: Zusatzpunkt 4 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 76 zu Petitionen Sammelübersicht 71 zu Petitionen – Drucksache 16/1986 – – Drucksache 16/1981 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 76 ist mit den Stimmen al- hält sich? – Sammelübersicht 71 ist ebenfalls einstimmig ler Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. angenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4025

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Zusatzpunkt 4 i: stimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der (C) Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses Zusatzpunkt 4 k: (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 77 zu Petitionen ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 79 zu Petitionen – Drucksache 16/1987 – – Drucksache 16/1989 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- hält sich? – Sammelübersicht 77 ist mit den Stimmen al- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- ler Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion des Bündnis- hält sich? – Sammelübersicht 79 ist mit den Stimmen der ses 90/Die Grünen angenommen. Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke, bei Enthaltung der FDP-Fraktion und der Fraktion des Zusatzpunkt 4 j: Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ich darf Ihnen zwischendurch das von den Schrift- ausschusses (2. Ausschuss) führerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den „Entwurf eines Sammelübersicht 78 zu Petitionen Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialge- – Drucksache 16/1988 – setzbuch“, der Fraktion Die Linke, Drucksachen 16/451 und 16/1753, bekannt geben: Abgegebene Stimmen 571. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Mit Ja haben gestimmt 53, mit Nein haben ge- hält sich? – Sammelübersicht 78 ist mit den Stimmen der stimmt 518, keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen- abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis Michael Leutert Peter Altmaier Herbert Frankenhauser Abgegebene Stimmen: 571; Ulla Lötzer Thomas Bareiß Dr. Hans-Peter Friedrich davon Dr. Gesine Lötzsch Norbert Barthle (Hof) Ulrich Maurer Dr. Wolf Bauer Erich G. Fritz ja: 53 Dorothee Menzner Günter Baumann Jochen-Konrad Fromme (B) nein: 518 Kornelia Möller Ernst-Reinhard Beck Dr. Michael Fuchs (D) Kersten Naumann (Reutlingen) Hans-Joachim Fuchtel Ja Wolfgang Neskovic Veronika Bellmann Dr. Peter Gauweiler Dr. Norman Paech Dr. Christoph Bergner Dr. Jürgen Gehb DIE LINKE Petra Pau Otto Bernhardt Norbert Geis Bodo Ramelow Clemens Binninger Eberhard Gienger Hüseyin-Kenan Aydin Elke Reinke Carl-Eduard von Bismarck Michael Glos Karin Binder Paul Schäfer (Köln) Peter Bleser Ralf Göbel Heidrun Bluhm Volker Schneider Antje Blumenthal Dr. Reinhard Göhner Eva Bulling-Schröter (Saarbrücken) Jochen Borchert Josef Göppel Dr. Martina Bunge Dr. Herbert Schui Wolfgang Börnsen Peter Götz Roland Claus Dr. Ilja Seifert (Bönstrup) Dr. Wolfgang Götzer Sevim Dagdelen Dr. Petra Sitte Wolfgang Bosbach Ute Granold Dr. Diether Dehm Frank Spieth Klaus Brähmig Reinhard Grindel Werner Dreibus Dr. Kirsten Tackmann Michael Brand Hermann Gröhe Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Axel Troost Helmut Brandt Michael Grosse-Brömer Klaus Ernst Alexander Ulrich Dr. Ralf Brauksiepe Markus Grübel Wolfgang Gehrcke Jörn Wunderlich Monika Brüning Manfred Grund Diana Golze Sabine Zimmermann Georg Brunnhuber Monika Grütters Dr. Gregor Gysi Gitta Connemann Karl-Theodor Freiherr zu Heike Hänsel BÜNDNIS 90/DIE Leo Dautzenberg Guttenberg Lutz Heilmann GRÜNEN Alexander Dobrindt Olav Gutting Hans-Kurt Hill Thomas Dörflinger Holger Haibach Cornelia Hirsch Dr. Harald Terpe Marie-Luise Dött Gerda Hasselfeldt Inge Höger-Neuling Maria Eichhorn Ursula Heinen Dr. Barbara Höll fraktionslos Anke Eymer (Lübeck) Uda Carmen Freia Heller Ulla Jelpke Gert Winkelmeier Georg Fahrenschon Michael Hennrich Dr. Lukrezia Jochimsen Ilse Falk Jürgen Herrmann Dr. Hakki Keskin Dr. Hans Georg Faust Bernd Heynemann Katja Kipping Nein Enak Ferlemann Ernst Hinsken Monika Knoche Hartwig Fischer (Göttingen) Peter Hintze CDU/CSU Jan Korte Dirk Fischer (Hamburg) Robert Hochbaum Katrin Kunert Ilse Aigner Dr. Maria Flachsbarth Klaus Hofbauer Oskar Lafontaine Peter Albach Klaus-Peter Flosbach Franz-Josef Holzenkamp 4026 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Joachim Hörster Dr. Peter Paziorek Dagmar Wöhrl Wolfgang Grotthaus (C) Anette Hübinger Ulrich Petzold Wolfgang Zöller Wolfgang Gunkel Hubert Hüppe Dr. Joachim Pfeiffer Willi Zylajew Hans-Joachim Hacker Susanne Jaffke Sibylle Pfeiffer Bettina Hagedorn Dr. Peter Jahr Beatrix Philipp SPD Klaus Hagemann Dr. Hans-Heinrich Jordan Ronald Pofalla Alfred Hartenbach Dr. Lale Akgün Andreas Jung (Konstanz) Daniela Raab Gregor Amann Michael Hartmann (Wackernheim) Bartholomäus Kalb Thomas Rachel Gerd Andres Hans-Werner Kammer Hans Raidel Niels Annen Nina Hauer Steffen Kampeter Dr. Peter Ramsauer Ingrid Arndt-Brauer Hubertus Heil Alois Karl Peter Rauen Rainer Arnold Reinhold Hemker Bernhard Kaster Eckhardt Rehberg Ernst Bahr (Neuruppin) Rolf Hempelmann Siegfried Kauder (Villingen- Klaus Riegert Dr. Hans- Peter Bartels Dr. Barbara Hendricks Schwenningen) Dr. Heinz Riesenhuber Klaus Barthel Gustav Herzog Volker Kauder Franz Romer Sören Bartol Petra Heß Eckart von Klaeden Johannes Röring Sabine Bätzing Gabriele Hiller-Ohm Jürgen Klimke Kurt J. Rossmanith Dirk Becker Petra Hinz (Essen) Julia Klöckner Dr. Norbert Röttgen Uwe Beckmeyer Gerd Höfer Jens Koeppen Dr. Christian Ruck Klaus Uwe Benneter Iris Hoffmann (Wismar) Kristina Köhler (Wiesbaden) Albert Rupprecht (Weiden) Dr. Axel Berg Frank Hofmann (Volkach) Manfred Kolbe Peter Rzepka Ute Berg Eike Hovermann Norbert Königshofen Anita Schäfer (Saalstadt) Petra Bierwirth Klaas Hübner Dr. Rolf Koschorrek Hermann-Josef Scharf Lothar Binding (Heidelberg) Christel Humme Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble Volker Blumentritt Brunhilde Irber Thomas Kossendey Hartmut Schauerte Gerd Bollmann Johannes Jung (Karlsruhe) Michael Kretschmer Dr. Annette Schavan Dr. Gerhard Botz Josip Juratovic Gunther Krichbaum Dr. Andreas Scheuer Klaus Brandner Johannes Kahrs Dr. Günter Krings Karl Schiewerling Willi Brase Ulrich Kasparick Dr. Martina Krogmann Norbert Schindler Bernhard Brinkmann Dr. h.c. Susanne Kastner Johann-Henrich Georg Schirmbeck (Hildesheim) Ulrich Kelber Krummacher Bernd Schmidbauer Edelgard Bulmahn Hans-Ulrich Klose Dr. Hermann Kues Andreas Schmidt (Mülheim) Marco Bülow Dr. Bärbel Kofler Dr. Karl A. Lamers Ingo Schmitt (Berlin) Ulla Burchardt Fritz Rudolf Körper (Heidelberg) Dr. Andreas Schockenhoff Martin Burkert Karin Kortmann (B) Andreas G. Lämmel Dr. Ole Schröder Dr. Michael Bürsch Rolf Kramer (D) Dr. Norbert Lammert Bernhard Schulte-Drüggelte Christian Carstensen Anette Kramme Katharina Landgraf Uwe Schummer Marion Caspers-Merk Ernst Kranz Dr. Max Lehmer Horst Seehofer Dr. Peter Danckert Nicolette Kressl Paul Lehrieder Kurt Segner Dr. Herta Däubler-Gmelin Volker Kröning Ingbert Liebing Bernd Siebert Karl Diller Angelika Krüger-Leißner Dr. Klaus W. Lippold Thomas Silberhorn Martin Dörmann Dr. Hans-Ulrich Krüger Patricia Lips Johannes Singhammer Dr. Carl-Christian Dressel Jürgen Kucharczyk Dr. Michael Luther Jens Spahn Elvira Drobinski-Weiß Ute Kumpf Stephan Mayer (Altötting) Erika Steinbach Garrelt Duin Dr. Uwe Küster Wolfgang Meckelburg Christian Freiherr von Stetten Detlef Dzembritzki Christine Lambrecht Dr. Michael Meister Gero Storjohann Christian Lange (Backnang) Dr. Angela Merkel Andreas Storm Siegmund Ehrmann Dr. Karl Lauterbach Friedrich Merz Max Straubinger Hans Eichel Waltraud Lehn Laurenz Meyer (Hamm) Thomas Strobl (Heilbronn) Petra Ernstberger Gabriele Lösekrug-Möller Maria Michalk Michael Stübgen Karin Evers-Meyer Dirk Manzewski Hans Michelbach Antje Tillmann Annette Faße Lothar Mark Philipp Mißfelder Dr. Hans-Peter Uhl Elke Ferner Caren Marks Dr. Eva Möllring Arnold Vaatz Gabriele Fograscher Katja Mast Marlene Mortler Volkmar Uwe Vogel Rainer Fornahl Hilde Mattheis Carsten Müller Andrea Astrid Voßhoff Gabriele Frechen Markus Meckel (Braunschweig) Gerhard Wächter Dagmar Freitag Petra Merkel (Berlin) Stefan Müller (Erlangen) Marco Wanderwitz Peter Friedrich Ulrike Merten Bernward Müller (Gera) Kai Wegner Sigmar Gabriel Dr. Matthias Miersch Dr. Gerd Müller Marcus Weinberg Martin Gerster Ursula Mogg Hildegard Müller Peter Weiß (Emmendingen) Iris Gleicke Marko Mühlstein Bernd Neumann (Bremen) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Günter Gloser Detlef Müller (Chemnitz) Henry Nitzsche Karl-Georg Wellmann Renate Gradistanac Michael Müller (Düsseldorf) Michaela Noll Anette Widmann-Mauz Angelika Graf (Rosenheim) Franz Müntefering Dr. Georg Nüßlein Klaus-Peter Willsch Dieter Grasedieck Dr. Rolf Mützenich Franz Obermeier Willy Wimmer (Neuss) Monika Griefahn Andrea Nahles Eduard Oswald Elisabeth Winkelmeier- Kerstin Griese Thomas Oppermann Henning Otte Becker Gabriele Groneberg Holger Ortel Rita Pawelski Matthias Wissmann Achim Großmann Heinz Paula Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4027

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Johannes Pflug Christoph Strässer Otto Fricke BÜNDNIS 90/DIE (C) Joachim Poß Dr. Peter Struck Paul K. Friedhoff GRÜNEN Christoph Pries Joachim Stünker Horst Friedrich (Bayreuth) Kerstin Andreae Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Rainer Tabillion Dr. Edmund Peter Geisen Volker Beck (Köln) Florian Pronold Jörg Tauss Dr. Wolfgang Gerhardt Cornelia Behm Dr. Sascha Raabe Jella Teuchner Hans-Michael Goldmann Birgitt Bender Mechthild Rawert Dr. h.c. Wolfgang Thierse Miriam Gruß Matthias Berninger Steffen Reiche (Cottbus) Jörn Thießen Joachim Günther (Plauen) Alexander Bonde Maik Reichel Franz Thönnes Heinz-Peter Haustein Ekin Deligöz Gerold Reichenbach Hans-Jürgen Uhl Birgit Homburger Dr. Thea Dückert Dr. Carola Reimann Rüdiger Veit Dr. Werner Hoyer Dr. Ursula Eid Christel Riemann- Simone Violka Michael Kauch Hans Josef Fell Hanewinckel Jörg Vogelsänger Dr. Heinrich L. Kolb Kai Gehring Walter Riester Dr. Marlies Volkmer Hellmut Königshaus Anja Hajduk Sönke Rix Hedi Wegener Gudrun Kopp Britta Haßelmann Rene Röspel Andreas Weigel Jürgen Koppelin Winfried Hermann Dr. Ernst Dieter Rossmann Petra Weis Heinz Lanfermann Peter Hettlich Karin Roth (Esslingen) Gunter Weißgerber Priska Hinz (Herborn) Sibylle Laurischk Michael Roth (Heringen) Gert Weisskirchen Ulrike Höfken Harald Leibrecht Ortwin Runde (Wiesloch) Dr. Anton Hofreiter Anton Schaaf Dr. Rainer Wend Ina Lenke Bärbel Höhn Axel Schäfer (Bochum) Lydia Westrich Sabine Leutheusser- Thilo Hoppe Bernd Scheelen Dr. Margrit Wetzel Schnarrenberger Ute Koczy Dr. Hermann Scheer Andrea Wicklein Markus Löning Sylvia Kotting-Uhl Marianne Schieder Heidemarie Wieczorek-Zeul Horst Meierhofer Fritz Kuhn Otto Schily Dr. Dieter Wiefelspütz Patrick Meinhardt Renate Künast Silvia Schmidt (Eisleben) Engelbert Wistuba Jan Mücke Undine Kurth (Quedlinburg) Renate Schmidt (Nürnberg) Dr. Wolfgang Wodarg Burkhardt Müller-Sönksen Markus Kurth Dr. Frank Schmidt Waltraud Wollf Hans-Joachim Otto Monika Lazar Heinz Schmitt (Landau) (Wolmirstedt) (Frankfurt) Dr. Reinhard Loske Carsten Schneider (Erfurt) Heidi Wright Detlef Parr Anna Lührmann Olaf Scholz Uta Zapf Cornelia Pieper Jerzy Montag Ottmar Schreiner Manfred Zöllmer Gisela Piltz Kerstin Müller (Köln) Reinhard Schultz Brigitte Zypries Jörg Rohde Winfried Nachtwei (Everswinkel) Frank Schäffler Brigitte Pothmer (B) Swen Schulz (Spandau) (D) FDP Dr. Konrad Schily (Augsburg) Ewald Schurer Marina Schuster Krista Sager Frank Schwabe Jens Ackermann Elisabeth Scharfenberg Dr. Hermann Otto Solms Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Karl Addicks Christine Scheel Dr. Max Stadler Dr. Martin Schwanholz Christian Ahrendt Irmingard Schewe-Gerigk Rolf Schwanitz Daniel Bahr (Münster) Carl-Ludwig Thiele Dr. Gerhard Schick Rita Schwarzelühr-Sutter Uwe Barth Florian Toncar Rainder Steenblock Wolfgang Spanier Rainer Brüderle Christoph Waitz Silke Stokar von Neuforn Dr. Margrit Spielmann Angelika Brunkhorst Dr. Guido Westerwelle Hans-Christian Ströbele Jörg-Otto Spiller Ernst Burgbacher Dr. Claudia Winterstein Jürgen Trittin Andreas Steppuhn Mechthild Dyckmans Dr. Volker Wissing Wolfgang Wieland Ludwig Stiegler Jörg van Essen Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Josef Philip Winkler Rolf Stöckel Ulrike Flach Martin Zeil Margareta Wolf (Frankfurt)

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b Gesetzes zur Umsetzung europäischer Antidis- auf: kriminierungsrichtlinien a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 16/297 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes aa) Beschlussempfehlung und Bericht des zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Rechtsausschusses (6. Ausschuss) Verwirklichung des Grundsatzes der Gleich- behandlung – Drucksache 16/2022 – – Drucksachen 16/1780, 16/1852 – Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Christine Lambrecht neten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck Mechthild Dyckmans (Köln) und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Sevim Dagdelen DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Jerzy Montag 4028 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Alle die, die am Gesetzgebungsverfahren beteiligt wa- (C) schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung ren, haben erkannt, dass es eine besondere Eilbedürftig- keit gibt. Wenn wir diesen Gesetzentwurf heute verab- – Drucksache 16/2024 – schieden, dann besteht die begründete Hoffnung, dass er Berichterstattung: noch vor der Sommerpause im Bundesrat beraten wird. Abgeordnete Lothar Binding (Heidelberg) Mit anderen Worten: Der europarechtliche Umsetzungs- Dr. Ole Schröder druck, unter dem wir gestanden haben, wird sich auflö- Dr. Claudia Winterstein sen. Dafür möchte ich denjenigen, die sich an den Ver- Roland Claus handlungen mit Nachdruck beteiligt und dafür gesorgt Anna Lührmann haben, dass wir in der Koalition eine Einigung finden konnten, danken. Ich gebe zu: Es war schwierig, mit b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dem Druck, der sich hinsichtlich der Umsetzung aufge- richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) baut hatte, umzugehen. Es war insbesondere schwierig, – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Sei- so etwas wie eine rationale Debatte zu führen. fert, Karin Binder, Sevim Dagdelen, weiterer Viele Kritiker haben unseren Gesetzentwurf leider of- Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN fenbar nicht richtig zur Kenntnis genommen. Ich muss EU-Antidiskriminierungsrichtlinien durch gestehen, dass mich die ideologische Schärfe, mit der die Debatte um diesen Gesetzentwurf geführt wurde, schon einheitliches Antidiskriminierungsgesetz oft verblüfft hat. wirksam und umfassend umsetzen (Beifall bei der SPD) – zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), Markus Es ist schade, dass es mit vielen Vertretern von NGOs, Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion von Verbänden und Vereinen in unserem Lande offen- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sichtlich keine politische Streitkultur in dem Sinne gibt, dass man anerkennt – auch nachdem ein Thema wie die- Keine Ausgrenzung beim Antidiskriminie- ses Gegenstand von Wahlkämpfen war –, dass man aus rungsgesetz Rechtsgründen handeln muss. Diese Erkenntnis hat sich – zu dem Antrag der Abgeordneten Mechthild mittlerweile langsam, aber sicher durchgesetzt. Anschei- Dyckmans, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, nend konnte man diesen Gesetzentwurf nicht früher zur Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Kenntnis nehmen und sagen: Hier muss jetzt gehandelt Fraktion der FDP werden; das, was darin steht, ist so schlimm nicht. Der Kollege Bosbach hat gesagt – seine Worte sind mir noch (B) Bürokratie schützt nicht vor Diskriminie- im Ohr –: Jedem Zweiten, der mich anrief und sich be- (D) rung – Allgemeines Gleichbehandlungsge- schwert hat, konnte ich sagen: Schau doch einmal ins setz ist der falsche Weg Gesetz; dann wirst du sehen, dass da etwas ganz anderes – Drucksachen 16/370, 16/957, 16/1861, 16/2022 – steht. Berichterstattung: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Es ist in der Tat schwierig gewesen, hier zu einem Christine Lambrecht Konsens zu kommen. Die Änderungen, die wir jetzt Mechthild Dyckmans noch vorgenommen haben, sind im Großen und Ganzen Sevim Dagdelen auf ebendiese Tatsache zurückzuführen. Sie lassen den Jerzy Montag Gesetzentwurf im Kern unberührt, führen jedoch an vie- len Stellen zu durchaus erwünschten Klarstellungen. Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke und der (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Über den NEN]: Ob das klarer ist, ist die Frage!) Gesetzentwurf der Bundesregierung werden wir später Lassen Sie mich die wichtigen Punkte nennen: namentlich abstimmen. Entgegen manchen Berichten wird das Klagerecht Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die des Betriebsrats und der im Betrieb vertretenen Gewerk- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es schaften keineswegs gestrichen. Wir stellen ausdrücklich Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so klar, was sich aus dem Verweis auf das Betriebsverfas- beschlossen. sungsgesetz im Wesentlichen ohnehin schon ergab, dass Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- dieses Klagerecht nur bei Betrieben mit mindestens fünf nerin der Bundesministerin Brigitte Zypries das Wort. Beschäftigten und auch nur bei groben Verstößen des Arbeitgebers greift. Das ist auch im Betriebsverfas- sungsgesetz so der Fall. Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kollegen! Ich bin froh, dass wir dieses Projekt heute Kastner) zum Abschluss bringen können. Wir stellen außerdem ausdrücklich klar, dass weder Be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des triebsrat noch Gewerkschaften Ansprüche eines Benach- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) teiligten im Wege der Prozessstandschaft geltend ma- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4029

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) chen können. Diese Einschränkung ist sinnvoll und auch ansonsten in der Rechtsanwendung, europarechts- (C) richtig, aber sie war bei vernünftiger Auslegung der Be- konform auszulegen. stimmung auch schon im Entwurf enthalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es geht hier also nicht darum, dass wir irgendwelche Es wird darüber hinaus klargestellt, dass bei privaten Garantien abschaffen wollen, sondern es geht in jedem Vermietungen von Wohnraum die freie Mieterauswahl Fall um die Frage: Was können wir möglichst klar ausle- durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz grund- gen mit dem Ziel, diese ideologisch überwölbte Debatte sätzlich nur insoweit eingeschränkt werden wird, wie – darauf muss ich jetzt leider noch einmal eingehen – auf dies die Richtlinien verlangen. Auch das war nach dem den Boden der Tatsachen zu holen? Dem dienen die Än- Regierungsentwurf so; denn im Regierungsentwurf war derungen, die noch ausgehandelt worden sind. immer nur von Massengeschäften die Rede. Massenge- schäfte – das habe ich schon bei der ersten Lesung hier Das gilt auch für die Neuregelung, die wir noch aus- erklärt – sind Geschäfte, bei denen jemand eine Vielzahl führlich erläutern werden, nämlich die Regelung zur von Angeboten an eine unbestimmte Vielzahl von Men- Beweislast. Wir von der Bundesregierung hatten gesagt: schen macht und gerade kein Interesse daran hat, mit Es ist sinnvoll, an einen bestehenden Gesetzestext, näm- wem er den Vertrag abschließt – Hauptsache, die Person lich § 611 a BGB, anzuknüpfen; dazu gibt es jahrzehnte- zahlt. Das alles haben wir schon durchdekliniert. Wenn lange Rechtsprechung. Jetzt haben wir einen neuen Be- man das zugrunde legt, muss man sagen: Vermietungen griff eingeführt, den der Indizien. Wir werden durch sind in dem Moment, wo man ein Interesse daran hat, Erläuterungen klar machen, dass es im Grunde um das- wer der Mieter ist, ohnehin keine Massengeschäfte. selbe geht. Ich bin mir sicher, dass die Rechtsprechung in der Lage sein wird, diese Auslegung auch hinzube- Jetzt haben wir für die übrigen Merkmale, also Ge- kommen. schlecht, Religion, Behinderung, Alter und sexuelle Identität, klargestellt: Eine dauerhafte Vermietung einer Ich will am Ende vor lauter Details nicht das Grund- Wohnung ist in der Regel kein Massengeschäft, wenn anliegen des Gesetzes außer Acht lassen. Wir haben in der Vermieter nicht mehr als 50 Wohnungen in seinem Deutschland eine freiheitliche und tolerante Gesell- Bestand hat. schaft. Wann, wenn nicht jetzt, wäre das besonders zu spüren? Wir haben eine Gesellschaft, in der möglichst (Lachen des Abg. Martin Zeil [FDP]) jeder nach seiner Fasson selig werden sollte. Aber – das habe ich auch schon bei der ersten Lesung hier gesagt – Ob diese Klarstellung wirklich so nötig gewesen wäre, es gibt noch Diskriminierung in Deutschland. Insofern sei dahingestellt. (B) ist es richtig, wenn wir uns darauf verständigen, dass der (D) Ein anderer Punkt, der für Unruhe sorgt, ist die Ände- Staat Toleranz zwar nicht verordnen, aber sehr wohl rung des § 2 Abs. 4 in Art. 1. Im Entwurf der Bundes- durch seine Rechtsordnung deutlich machen kann, dass regierung heißt es da: er Intoleranz missbilligt und für die Betroffenen Mög- lichkeiten schafft, sich dagegen zu wehren. Das tun wir Für Kündigungen gelten vorrangig die Bestimmun- mit dem Gesetzentwurf; das tun wir effektiv und unbüro- gen des Kündigungsschutzgesetzes. kratisch. Zur unbürokratischen Umsetzung dient auch Nun soll es heißen: die Vorschrift, mit der über die Richtlinie hinausgegan- gen wird, um das auch ganz klar zu sagen, und mit der Für Kündigungen gelten ausschließlich die Bestim- nur eine Anlaufstelle vorgesehen wird, von der aus die mungen zum allgemeinen und besonderen Kündi- Beschwerden dann verteilt werden. Sie sehen, es kann gungsschutz. durchaus auch sachgerechte Regelungen geben, die über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinausgehen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bezeichnend! Das Recht der EU- Ich danke für die Aufmerksamkeit. Richtlinien verlangt etwas anderes!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – Genau. Jetzt wissen alle ausgebildeten Juristen wie der der CDU/CSU) Kollege Beck zum Beispiel, (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Ist er doch gar Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: nicht! – Gegenruf des Abg. Jerzy Montag Das Wort hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er weiß es FDP-Fraktion. trotzdem!) (Beifall bei der FDP) dass das Diskriminierungsverbot des europäischen Rechts natürlich sowieso gilt, also auch hier. Selbstver- Dr. Guido Westerwelle (FDP): ständlich gelten das Kündigungsschutzgesetz sowie die Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und besonderen Kündigungsschutzregeln des Mutterschut- Herren! Wir Freien Demokraten werden diesen Gesetz- zes, des Arbeitsplatzschutzgesetzes, des Neunten Buches entwurf ablehnen. Sozialgesetzbuch, des Bundespersonalvertretungsgeset- zes oder des Bundesdatenschutzgesetzes. Selbstver- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Wider- ständlich gelten sie alle. Selbstverständlich sind sie, wie spruch bei der SPD) 4030 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Guido Westerwelle (A) Wir sind der Überzeugung: Dieses von Ihnen umgetaufte Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) Gesetz wird den Minderheiten nicht helfen, sondern Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des schadet ihnen. Es wird mehr Bürokratie bringen und da- Kollegen Beck? mit Arbeitsplätze kosten. Es ist auch ein glatter Wort- bruch zu dem, was Sie vor der Wahl Ihren Wählern ver- Dr. Guido Westerwelle (FDP): sprochen haben. Ja, selbstverständlich, Herr Beck, bitte gerne. Es ist mir immer wieder eine Freude. (Beifall bei der FDP)

Wir werden deutlich machen, dass das Gesetz weit Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): über das hinausgeht, was uns seitens des EU-Rechts in Herr Kollege Westerwelle, vielen Dank für die Groß- der Tat umzusetzen aufgegeben war. Deswegen war die zügigkeit. Bezüglich des Kuhhandels stimme ich Ihnen gemeinsame Haltung übrigens nicht nur von Union und zu. FDP, sondern auch von führenden Sozialdemokraten ab- (Zuruf von der SPD: Muh!) lehnend. Das ging von Herrn Clement über Herrn Schily bis zum Oberbürgermeister von München, Herrn Ude, Das ist sicherlich die Verlaufsform dieser Gesetzesge- der, als der Gesetzentwurf in der letzten Wahlperiode nese. Bezüglich des Arguments, das Sie gerade gegen schon einmal vorgelegt wurde, sagte, da haben sich Gut- das Gesetz angeführt haben, habe ich eine Verständnis- menschen ausgetobt. frage.

(Beifall bei der FDP) Dr. Guido Westerwelle (FDP): Es wäre ohne weiteres möglich – die Länder haben Bitte, gerne. dazu im Bundesrat einen entsprechenden Beschluss gefasst; die Gesetzentwürfe liegen vor –, das von der Eu- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ropäischen Union vorgegebene Recht eins zu eins umzu- Es geht darum, ob in Zukunft im Zusammenhang mit setzen. Dieses Ziel steht auch in Ihrer Koalitionsverein- dem Arbeitsrecht eine Klagewelle droht und Dokumen- barung. Umso absurder ist es, dass Sie selbst den tationspflichten zu erfüllen sind. Im Gesetz steht ja Koalitionsvertrag brechen und Deutschland mehr Büro- nichts anderes, als dass zukünftig für die Kriterien kratie verordnen. Das ist ein klassischer Fehler aus Sicht Rasse, ethnische Herkunft, Alter, Behinderung, sexuelle der Fraktion der Freien Demokraten. Identität und Religion nichts anderes gilt als das, was seit 25 Jahren gemäß § 611 a BGB für das Kriterium Ge- (B) (Beifall bei der FDP) schlecht gilt. Die dortige Beweislastregel war im Gesetz- (D) entwurf der früheren rot-grünen Bundesregierung eins Es ist ein Irrtum, zu glauben, dass man Minderheiten zu eins vorgesehen. Alle Arbeitgeber haben in der Ver- mit dem Gesetz helfen würde. Das einzige Ergebnis wird gangenheit entweder Männer oder Frauen eingestellt. Da sein, dass diejenigen, die es betrifft, gar nicht mehr zu werden Sie mir zustimmen. Tertium non datur, sagt man Vorstellungsgesprächen eingeladen werden, weil man da. Angst davor hat, eine Klagewelle abwehren zu müssen und dafür einer Dokumentationspflicht zu unterliegen. (Zuruf: Überwiegend!) Wenn Sie es mir nicht glauben, glauben Sie es Angela – Überwiegend? Entweder – oder. Wenn das so war, Merkel. Genau das hat sie in der letzten Legislatur- dann hat man entweder Frauen oder Männer nicht einge- periode vor ihrer Metamorphose immer und immer wie- stellt. Deshalb konnten entweder Frauen oder Männer der vertreten. klagen, weil sie nicht eingestellt wurden. Das Problem mit der Dokumentationspflicht ändert sich nicht da- (Beifall bei der FDP – Zurufe des Abg. Volker Beck durch, dass der Gesetzentwurf jetzt auch Heterosexuelle [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) oder Homosexuelle, Alte oder Junge, Behinderte oder Nichtbehinderte betrifft. Jetzt gehen wir noch einmal auf das ein, was Sie kon- kret sagen. Meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen von der Union, die Begeisterung über diesen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Gesetzentwurf ist in Ihren Gesichtern abzulesen. Wir er- Herr Kollege, Sie sollen jetzt keine Rede halten, son- leben hier jetzt einen bemerkenswerten Kuhhandel, den dern Ihre Frage beenden. wir so vorher noch nicht kannten: Sie, verehrte Kollegin- (Beifall bei der CDU/CSU) nen und Kollegen von der Union, müssen heute diesem Unsinn zustimmen, damit es morgen bei der Abstim- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): mung über die Föderalismusreform nicht zu viele Ab- Da das immer wieder vorgebracht wird, muss man es weichler bei den Sozialdemokraten gibt. Es geht Ihnen meiner Meinung nach illustrieren, auch damit man die gar nicht mehr um die Sache. Es geht Ihnen nur noch da- Frage versteht. rum, dass die Koalition diese Woche einigermaßen über- steht. Erklären Sie mir bitte, warum ein Kriterium seit 25 Jahren zu keinen Problemen geführt hat und die Tat- (Beifall bei der FDP) sache, dass weitere Kriterien dazukommen und die glei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4031

Volker Beck (Köln) (A) che Regel angewandt wird, einen Wust an Dokumenta- Herzlichen Glückwunsch an Schwarz-Rot, dass Sie jetzt (C) tionspflichten hervorruft. sogar die rot-grüne Koalitionsvereinbarung heute zur Grundlage Ihrer politischen Arbeit machen! Dr. Guido Westerwelle (FDP): (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Ich möchte zunächst einmal die Frage, die Sie mir un- DIE GRÜNEN) ter vielen gestellt haben, nämlich die Frage, ob ich Ihnen zustimme, dass man entweder in der Vergangenheit Herzlichen Glückwunsch, meine Damen und Herren Männer oder Frauen eingestellt hat, uneingeschränkt be- Abgeordneten! Da wählt Deutschland die Grünen ab, jahen, Herr Kollege. Ich finde, das musste auch von Ih- und ihr bleibt immer noch im Geiste auf der Regierungs- nen in dieser Diskussion erfragt werden. bank. Es ist ein Drama! (Beifall bei der FDP – Jerzy Montag [BÜND- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke!) NEN]: Es ist so schön!) Das war zwingend, Herr Kollege, absolut zwingend. Das Nun kommen wir, weil Frau Zypries unseren spät be- ist schon bemerkenswert. rufenen Juristen zitiert hat, zu zwei bemerkenswerten Akten der Rechtsgeschichte. Heute werden im Justiz- Ich kann Ihnen sagen, warum ich das Klagerecht und ministerium die Fenster verhangen. Davon kann man die Dokumentationspflicht angreife und warum ich das ausgehen. Da sitzen lauter Prädikatsjuristen, die fangen für falsch halte. Das Klagerecht der Gewerkschaften bei dem, was Sie heute vorgelegt haben, an zu weinen. wurde nicht abgeschafft Da ich das selber in der Tat einmal studiert habe – nicht (Christine Lambrecht [SPD]: Gott sei Dank!) Soziologie, was ein großartiges Studium ist –, – Sie rufen: Gott sei Dank! Ich hoffe, Sie von der CDU/ (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU haben gehört, was Ihr Koalitionspartner gesagt hat: NEN]: Was man immer noch als Mangel be- Gott sei Dank! Das Klagerecht für die Gewerkschaften merkt!) ist eben nicht abgeschafft worden. Es kann weiterhin möchte ich noch einmal auf einen Punkt eingehen, den wegen grober Verstöße geklagt werden. Das, was dann Sie uns erklären müssen, Frau Justizministerin. Jetzt in der Diskussion bewertet wird, ist der unbestimmte heißt es in Art. 1 § 22 – das ist das Neue, deswegen stim- Rechtsbegriff „grob“: Ist es ein solcher Verstoß, der an- men Sie dem zu –: „Wenn im Streitfall die eine Partei In- genommen und behauptet wird, oder nicht? Eine solche dizien beweist …“. Es ist ein wirklich großartiger, in der Klagewelle wird dem Mittelstand schaden, den Betroffe- Rechtsgeschichte einmaliger Kunstgriff, den Indizien- nen nicht helfen und Arbeitsplätze kosten. beweis einzuführen. Jetzt führen wir den Indizienbeweis (B) (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten im Zivilrecht ein. Herzlichen Glückwunsch, Frau Justiz- der CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ ministerin! Sie sind zu intelligent für so einen Schwach- DIE GRÜNEN]: Unsinn!) sinn, Frau Kollegin! Darauf müssen Sie sich einstellen. (Beifall bei der FDP – Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu Herr Kollege Beck, nun kann ich auch verstehen, dass einer Zwischenfrage) Sie mit diesem Gesetz besonders zufrieden sind und freudig dieses hier verteidigen. Es stammt doch aus Ihrer – Nein, jetzt ist Schluss. Ich will jetzt nicht mehr. Feder. Ehre, wem Ehre gebührt! Ich komme zu einem weiteren Punkt, der an dieser (Beifall bei der FDP) Stelle erwähnt werden muss: Auch ein neuer Schwellen- wert ist Ihnen eingefallen – 50 Wohnungen! Wo gab es Was ich nicht für möglich gehalten habe und was wir bisher so etwas im Bürgerlichen Gesetzbuch? Das ist be- heute im Gesetzgebungsverfahren erleben, ist gewisser- merkenswert; das ist wirklich großartig. 50 Wohnungen – maßen eine Art Wiederkehr der grünen Untoten. was heißt das im Klartext? Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, unter 50 Wohnungen darf man in Deutsch- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD, an land diskriminieren, danach nicht mehr. Was für ein die FDP gewandt: Für Untote seid ihr zustän- Fortschritt; Rechtsgeschichte schreiben Sie hier! dig!) (Beifall bei der FDP) Nicht dass Sie meinen, das sei alles oppositionelle Pole- mik. Bitte machen Sie mir die Freude, verehrte Abgeord- Ich will schließen, weil ich auch in der ersten Lesung nete der Union, und nehmen Sie einfach den von der dazu schon gesprochen habe. Sie werden keinem Behin- Bundesregierung uns hier vorgelegten Gesetzentwurf derten, keiner Lesbe, keinem Schwulen, keiner diskrimi- zur Hand, über den wir heute entscheiden wollen, und le- nierten Minderheit helfen. Sie werden ihnen schaden sen Sie in der Begründung auf Seite 25, in Abschnitt 2, und Sie schaffen mehr Bürokratie. Jetzt haben Sie nach- § 18. Ich darf verkürzt zitieren: gebessert, und zwar vorgestern und dann gestern im Rechtsausschuss. Sie meinen, Sie seien jetzt durch. Aber Der Gesetzentwurf … erfüllt das in der Koalitions- wenn aus einem saudummen Gesetzentwurf ein dummer vereinbarung vom 16. Oktober 2002 verabredete Gesetzentwurf wird, ist das kein Fortschritt; das Ganze Ziel … bleibt immer noch dämlich, meine sehr geehrten Damen (Heiterkeit und Beifall bei der FDP) und Herren. 4032 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Guido Westerwelle (A) (Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei dass es Ressentiments und Vorurteile gibt. Vielleicht war (C) Abgeordneten der CDU/CSU) es deshalb ein Anliegen Europas – ungeachtet bereits be- stehender nationaler Schutzgesetze –, mit dem Erlass Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: von vier Richtlinien ein Zeichen gegen nahezu jede Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Form von Ungleichbehandlung zu setzen. Kollegen Jerzy Montag. Selbstverständlich sind wir als Gesetzgeber gehalten, entsprechende völkerrechtliche Übereinkommen, die Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): von unserem Land ratifiziert wurden, oder entspre- Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Westerwelle, chende Richtlinien der EU in nationales Recht umzu- nachdem Sie meine Zwischenfrage nicht gestattet haben, setzen, ob einem das gefällt oder nicht. Ich glaube, es erlaube ich mir folgende Klarstellung: Ich habe mich gibt kaum einen in diesem Haus, der so dagegen, insbe- sehr darüber gefreut, wie Sie – das ist auch völlig rich- sondere gegen die Richtlinien, gewettert hat wie ich. tig – dargestellt haben, dass das Gesetz, das wir heute Dennoch müssen wir sie umsetzen. beschließen, in wesentlichen Zügen dem Antidiskrimi- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nierungsgesetz der letzten Regierungsperiode gleicht, das aus rot-grüner Feder stammte. Aber ich bitte Sie Nun gibt es Regeln zum Schutz der Menschen, die doch, zur Kenntnis zu nehmen, dass der von Ihnen hier überhaupt nicht streitig sind. Dazu gehören die geradezu vorgetragene neue Art. 1 § 22, in dem es nunmehr tat- klassischen Schutz- und Abwehrrechte des Bürgers ge- sächlich heißt, dass Indizien bewiesen werden sollen, die genüber dem Staat. Aber auch viele einschlägige Regeln dann eine Vermutung begründen, eine Änderung dar- im Arbeitsrecht sind uns wohl vertraut. Frau Ministerin stellt, zu der die Grünen nie fähig gewesen wären. Zypries hat soeben eine Reihe von Beispielen genannt: Kündigungsschutzgesetz, Betriebsverfassungsgesetz und (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mutterschutzgesetz. Eigentlich ist Deutschland der völ- NEN und bei der FDP) lig falsche Adressat für eine solche Richtlinie. Das stammt nicht aus unserer Feder; dafür übernehmen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/ wir keinerlei Verantwortung. CSU – Ina Lenke [FDP]: Na also!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Manches ist bei der Umsetzung der vier EU-Richtli- und bei der FDP) nien zur Gleichbehandlung völlig unstreitig und deckt sich auch mit dem, was wir schon jetzt haben. Manch Dr. Guido Westerwelle (FDP): anderes allerdings ist weitaus weniger unstreitig, son- (B) Herr Kollege Montag, hätte ich gewusst, dass Sie dern – im Gegenteil – höchst umstritten. Allerdings (D) diese Zwischenfrage stellen wollten, wäre es mir eine muss man das Parlament nicht zum Panoptikum machen Freude gewesen, sie zuzulassen. Ansonsten möchte ich und mit sicherem Auftreten bei zum Teil völliger Ah- Ihnen feierlich versichern: Ich nehme es dankbar zur nungslosigkeit, Herr Westerwelle, sozusagen den Zam- Kenntnis. pano spielen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wahr! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Jetzt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werde ich diskriminiert!) Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion. Nicht zufällig entzündete sich die öffentliche Debatte gerade an den Stellen und auf den Rechtsgebieten, die in (Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Koppelin unserem Land bisher aus guten Gründen weitgehend re- [FDP]: Da freuen wir uns schon!) gelungsfrei waren. Unsere Rechtsordnung geht von der grundsätzlichen Trennung und Unterscheidung von Staat Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): und Gesellschaft aus. Lassen Sie es mich anders sagen: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich lebe Nicht alles, was dem Staat in seiner Beziehung zu den gern in diesem Land und ich bin stolz auf dieses Land, Bürgern untersagt ist, ist auch den Bürgern untereinan- und dies nicht nur vor dem Hintergrund der Lebens- der untersagt und verboten. Um es ganz deutlich zu sa- freude der Menschen und der Gastfreundschaft, die wir gen: Privatautonomie und Vertragsfreiheit beinhalten alle während dieser Tage der Fußballweltmeisterschaft nachgerade das Recht auf Subjektivität und Rechtferti- erleben. Ich bin stolz wegen unserer Rechtsordnung und gungsfreiheit und auch auf Willkür, nämlich dann, wenn auf unsere Rechtsordnung, die einen ausdifferenzierten ich einem anderen etwas nicht verkaufen will. Schutz auch und gerade für die Schwachen und Benach- teiligten unserer Gesellschaft schon heute de lege lata (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vorhält. Aber nicht auf Diskriminierung!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das war bisher Bestandteil unserer kontinentaleuro- neten der FDP) päischen Rechtsordnung. Wir alle, die wir Jura studiert hatten, haben das so gelernt. Diese Rechtsordnung droht Bei aller Freude weiß ich aber auch, dass wir in unse- jetzt durch die europäischen Richtlinien zu kippen. Aber rem Land nicht in einem Paradies auf Erden leben und nicht nur durch sie: Denn auch durch das Implantieren Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4033

Dr. Jürgen Gehb (A) von immer mehr angloamerikanischen Rechtsformen bei beits- und Zivilrecht umzusetzen; da kann man sich noch (C) uns steigt das Risiko, dass unser historisch gewachsenes, so stark echauffieren, das wäre auch mit Ihnen nicht an- aus dem römischen Recht – ich liebe es so – kommendes ders gegangen – erst bei Vermietung von mehr als Recht auf den Kopf gestellt wird. Dem müssen wir 50 Wohnungen eröffnet wird, die Erstreckung des Geset- schon in statu nascendi entgegenwirken. zes auf private Vermieter in aller Regel ausgeschlossen. Was ist daran eigentlich so schlimm? Wir haben auch bei (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Entfernungspauschale eine Grenze von 20 Kilome- neten der FDP und des Abg. Olaf Scholz tern. [SPD]) (Lachen bei der FDP) An dieser Stelle, an der ich die Privatautonomie be- leuchtet habe, geht es nicht um irgendwelche juristi- – Moment einmal! Einige werden am Samstag vor einer schen Petitessen, sondern um sehr grundsätzliche Fragen Wahl 18 Jahre alt und andere wiederum werden erst am und Auffassungen – ja, es geht klar um weltanschauliche Montag nach der Wahl 18 Jahre alt. Fragen. Mit den Richtlinien soll unserer Gesellschaft Mores gelehrt werden. Genau darum geht es. Viele Men- Jegliche Zahlen, alle Begrenzungen haben immer im- schen waren beispielsweise empört – ich verstehe diese manent etwas Willkürliches, wie beispielsweise auch das Empörung –, weil sie sich schon durch die Antidiskrimi- Spielfeld auf dem Fußballfeld. Warum gibt es einen nierungsrichtlinien und erst recht durch deren bisher ge- 16-Meter-Raum und keinen 18-Meter-Raum? Irgendeine plante Umsetzung in ihren ureigenen Freiheitsrechten Zahl muss der Gesetzgeber nehmen. beschnitten fühlten. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Guido Wes- Lassen Sie mich das an einem heute schon wiederholt terwelle [FDP]: Aber nicht auf dem Fußball- angesprochenen Beispiel klar machen. Jemand, der vier feld! Finger weg vom Fußball!) oder fünf Wohnungen besitzt, versteht es einfach nicht Aus guten Gründen haben wir auch für die großen – er empfindet es geradezu als diskriminierend –, dass Wohnungsbaugesellschaften vereinbart, dass diese zur ihm die Freiheit bei der Auswahl seiner Mieter genom- Einhaltung und Schaffung sozial stabiler Bewohner- men wird. strukturen einen Freiraum behalten sollen. Um es deut- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich zu sagen: Ihr Bemühen, Gettos zu verhindern oder NEN]: Das hat nie jemand gemacht!) aufzubrechen, soll nicht durch ein Gesetz konterkariert werden. Nur in dem Haus, in dem er selbst wohnt, sollte er völlig autonom in der Auswahl seiner Mieter sein. Wenn es Diese Entschärfungen und Korrekturen sind gut und (B) nach dem Antrag der Linken heute geht, soll ihm selbst sinnvoll. Es wäre mir ein Leichtes, Ihnen detailliert wei- (D) das noch genommen werden. Das ist quasi der Eingriff tere Änderungen aufzuzählen, mit denen nun in der vor- total in die Privatsphäre. liegenden Fassung des Gesetzes überflüssige – wenn auch nicht alle – Belastungen für die Wirtschaft und das Als Christdemokraten sagen wir zu einem solchen Rechtsleben verhindert werden. Dies ist mir mit Blick Weltbild des Übervaters Staat schlicht und einfach Nein, auf meine Redezeit von dieser Stelle aus versagt. Ich Nein und nochmals Nein. Wir wollen nicht den totalen verweise insofern auf die ausführliche Berichterstattung Staat, der bis in die letzten Ecken alles regelt. der letzten Tage und Wochen, die allerdings nicht selten von besonderem Mangel an Sachkunde geprägt war. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) merken immer wieder: Je höher der Mangel an Sach- Um noch einmal das Beispiel von der Wohnungsver- kunde ist, desto leichter lässt es sich polemisch-politisch mietung aufzugreifen: Ich bin zwar nicht gerade froh, diskutieren. aber fast zufrieden, dass wir heute den Tausenden von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Privatvermietern insoweit Entwarnung geben können der SPD) – jetzt bitte gut zuhören –, als mit Ausnahme der zwin- genden Umsetzung von europäischen Vorgaben – das Insofern sollten Sie das Gesetz auch einmal lesen. gilt unabhängig von den Mehrheiten in diesem Hause, auch wenn die CDU/CSU, was manche befürchten, was Jedenfalls bin ich dankbar dafür, dass wir in einem aber im Moment nicht zu befürchten ist, mit einer dicken langen Prozess des gegenseitigen Annäherns und Verste- Mehrheit regieren würde – hens in der Koalition nun zu einem nicht geliebten, aber tragfähigen Kompromiss gefunden haben. Es liegt nun (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist wirk- einmal in der Natur der Sache, dass jeder Kompromiss lich nicht zu befürchten!) nach der eigenen Auffassung immer nur die zweitbeste Lösung ist. Da es im Regelfall aber keine Alleinregie- die Vertragsfreiheit in der jetzigen Fassung des Gesetzes rung gibt, lebt jede Koalition – und dies in jeder Zusam- weitgehendst gewahrt bleibt. Wir haben nämlich durch mensetzung – davon, Kompromisse zu schließen. Dies eine gesetzliche Auslegungshilfe, die Sie eben sehr flap- ist eigentlich ein einfacher Zusammenhang. Trotzdem sig persifliert haben, Herr Westerwelle, und durch die meine ich, dass man ihn ab und zu in Erinnerung rufen Definition des Massengeschäftes im Bereich des Miet- muss. rechts, nach der der Anwendungsbereich dieses Gesetzes – wie gesagt: mit einer einzigen Ausnahme, nämlich für In der Haushaltsdebatte der vergangenen Woche habe das Merkmal Rasse/Ethnie; das ist durchgehend im Ar- ich den Wunsch ausgesprochen, dass ein vernünftiger 4034 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Jürgen Gehb (A) Umgang zwischen Bundesrat und Bundestag dazu füh- der Wirtschaftsverbände und der Unternehmen zu op- (C) ren sollte, dass sich dieses Haus die konkreten Bedenken fern. der Länderkammer ansehen, sie ernst nehmen und sich mit ihnen beschäftigen sollte. Das hat es auch getan. Nun Das Gesetz leidet im Wesentlichen darunter, dass das muss man sagen, dass aus diesem Gesetz wahrlich kein zunächst aufgestellte Benachteiligungsverbot durch Ein- gutes, schränkungen sogleich wieder abgeschwächt worden ist. Lassen Sie mich das an einem Beispiel darstellen: Sie (Beifall bei der FDP – Jerzy Montag [BÜND- haben den größten Teil des Wohnungsmarktes – über NIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, immer noch 50 Prozent – aus dem Diskriminierungsverbot für Woh- ein gutes! Sonst könnten wir gar nicht zustim- nungsvermieter herausgenommen. men!) (Beifall bei der CDU/CSU) aber ein immerhin tragfähiges Gesetz geworden ist. Wenn wir bei der Verabschiedung von Gesetzen nur Mit diesem Gesetzentwurf geben Sie den Betroffenen nach der Güte gehen würden, müsste man auch so man- nur ein schwaches Instrument an die Hand, ihr Recht auf ches andere Gesetz unterlassen. Deswegen werden wir Nichtdiskriminierung auch gerichtlich durchzusetzen. zustimmen, einige natürlich mit geballter Faust in der Klagebefugnisse von Gewerkschaften und Betriebsräten Tasche. werden zusammengestrichen. Für kleinere Betriebe ha- ben Sie das Klagerecht komplett abgeschafft. Jetzt will ich, wohl wissend, dass ich nicht wie Cato mit dem Ausspruch „Ceterum censeo cartaginem esse (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) delendam“ im Senat in die Geschichtsbücher eingehen Sie lassen damit die Mehrzahl der Arbeitnehmerinnen werde, enden und sagen, wie ich das immer tue: Wir und Arbeitnehmer im Regen stehen. sollten in Ansehung des Beispiels AGG in Zukunft be- reits bei der Entstehung von Richtlinien, die uns hinter- Das Gleiche gilt für die Beweiserleichterung. An die her häufig dazu zwingen, solche Debatten zu führen, Adresse der Wirtschaft wird signalisiert: Es wird sich aufpassen und uns davor hüten, am Ende in der Ratifi- nichts ändern! Wie Sie bereits feststellten, Frau Ministe- zierungsfalle zu sitzen und bloß noch die Vollstre- rin Zypries, die im Gesetzentwurf vorgesehene Beweis- ckungsgehilfen der europäischen Beamten zu sein. erleichterung lehnt sich an die jetzt schon bestehende Regelung des § 611 a BGB an. Sie haben jedoch verges- Herzlichen Dank, meine Damen und Herren. sen, zu sagen, dass diese Regelung in 25 Jahren zu ledig- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- lich 112 Gerichtsprozessen geführt hat. Daher ist es un- neten der SPD – Dr. Guido Westerwelle seres Erachtens zwangsläufig geboten, den Betroffenen (B) [FDP]: Ergo vivamus!) nicht die Last aufzubürden, etwas beweisen zu müssen, (D) was ihrer Wahrnehmung schlichtweg entzogen ist. Das ist kein schlüssiges Konzept, das sich an den Problemen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Menschen orientiert, sondern ein Konzept nach den Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dagdelen, Vorgaben der Wirtschaft. Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Guido Wester- welle [FDP]: Frau Präsidentin, das mit dem Die Fraktion Die Linke fordert deswegen in ihrem Pult ist eine Diskriminierung!) Antrag unter anderem eine Beweislastumkehr und die Einführung eines umfassenden Verbandsklagerechts. Sevim Dagdelen (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Herr Westerwelle! Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat dieses (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) Argument in einer Stellungnahme einmal mehr festge- halten: Eine interne Auswertung der deutschen Recht- Sehr geehrte Damen und Herren! Heute soll das Gesetz sprechung habe gezeigt, dass die verschiedenen Betrof- zur Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien der fenengruppen bei der gerichtlichen Geltendmachung EU beschlossen werden. Leider ist dies tatsächlich kein höchst unterschiedlich repräsentiert sind. Obwohl gerade guter Tag für die von Diskriminierung betroffenen Men- Migrantinnen und Migranten, schwarze Deutsche wie schen. schwarze Nichtdeutsche massiv von Diskriminierungen Wenn ich eines ganz kurz anmerken darf, Herr Wes- auf dem Arbeitsmarkt, in der Bildung oder im Bereich terwelle: Auch meine Fraktion wird das Gesetz ableh- des Wohnungsmarktes betroffen sind, haben gerade nen, aber nicht, weil aus einem saudummen Gesetz ein diese Gruppen bei der gerichtlichen Durchsetzung die dummes Gesetz geworden ist, sondern deswegen, weil wenigsten Chancen. Ein Verbandsklagerecht würde die- aus einem alltagsuntauglichen Gesetz ein schlechtes Ge- ses Ungleichgewicht ausgleichen. setz geworden ist. Mit den in den letzten Tagen durchge- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Vol- peitschten Änderungen hat man nämlich eines klarge- ker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stellt: Der großen Koalition liegt wenig daran, den NEN]) Betroffenen ein alltagstaugliches Instrument gegen Dis- kriminierung an die Hand zu geben. Sie hat lediglich ei- Ferner haben Sie, meine Damen und Herren vor allen nes geschafft: die Rechte der Einzelnen den Interessen Dingen der Union, erreicht, dass bei Kündigungen der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4035

Sevim Dagdelen (A) Diskriminierungsschutz des Gesetzes nicht mehr gilt. Das ganze letzte Jahr lief die Union herum, forderte (C) Damit streichen Sie für die Betroffenen die Möglichkeit, eine Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinien und gegen auf Diskriminierung angelegte Kündigungen nach mobilisierte gegen den rot-grünen Entwurf eines Anti- dem AGG zu klagen und die entsprechenden Rechtsfol- diskriminierungsgesetzes. Nun aber beschließen Sie ein gen wie Schadenersatz einzufordern. Gesetz, das im Wesentlichen dem von uns vorgelegten Entwurf entspricht. Der einzige Unterschied zwischen Was aber meines Erachtens noch viel schlimmer ist: dem, was wir vorgelegt haben, und einer Eins-zu-eins- Die ausschließliche Geltung des Kündigungsschutzge- Umsetzung besteht darin, dass wir die Menschen im setzes im Arbeitsrecht wie auch die Zweimonatsfrist zur Rahmen des Zivilrechts nicht nur vor Diskriminierung Geltendmachung von Ansprüchen sind europarechtlich aufgrund von Rasse, ethnischer Herkunft und Ge- bedenklich. Sie widersprechen der Zielsetzung der schlecht schützen, sondern auch vor Diskriminierung Richtlinie und werden deswegen vor dem Europäischen aufgrund von Religion, Alter, Behinderung und sexuel- Gerichtshof keinen Bestand haben. Damit überlassen ler Identität. Das ist der Unterschied zwischen der Eins- Sie es einmal mehr den Einzelnen, durch Klagen vor zu-Eins-Umsetzung nach Herrn Westerwelle und dem dem Europäischen Gerichtshof für einen Schutz vor Dis- Entwurf von Rot-Grün und Schwarz. Deshalb war das kriminierungen zu sorgen. Ich halte das für ein Armuts- Ganze ein Popanz. Herr Westerwelle hat heute noch ein- zeugnis dieser großen Koalition. mal einen solchen Popanz aufgeführt: Das war eins zu (Beifall bei der LINKEN) eins Ihre Rede aus dem letzten Jahr, meine Kollegen von der Union. Sie könnten auch gleich konforme Regelungen schaffen und nicht darauf warten, dass die Menschen in fünf bis (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sechs Jahren vor dem Europäischen Gerichtshof Recht Regieren bildet. Jetzt haben Sie gemerkt, dass Sie zugesprochen bekommen. EU-Recht umsetzen müssen. Wir sind zufrieden, weil Jean-Jacques Rousseau sagte einmal: sich Rot-Grün gegen Schwarz in der großen Koalition durchgesetzt hat. Man merkt natürlich, dass die Union Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es bei diesem Gesetz erhebliche Schluckbeschwerden hat. die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das Deshalb hat die Koalition, freundlich wie man zueinan- befreit. der ist, Placebos bereitgehalten, Beruhigungsmittel ver- Das hätte ich mir von dieser großen Koalition ge- teilt und Schmerztabletten ausgegeben. Das Problem ist wünscht. aber, dass Placebos wirkungslos sind. Bei den Ver- schlechterungen – über die Sie, Frau Kollegin Dagdelen, (Beifall bei der LINKEN) sich gerade aufgeregt haben – werden diese Beruhi- (B) (D) Die große Koalition hat es heute versäumt, mit muti- gungs- und Schmerztabletten langfristig nicht wirken, gen Entscheidungen auch in Deutschland endlich eine weil sie EU-rechtswidrig und zum Teil auch verfas- Antidiskriminierungskultur zu initiieren. Sie haben es sungswidrig, weil willkürlich sind. versäumt, Mindeststandards festzulegen, die in anderen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) europäischen Ländern längst gang und gäbe sind, so zum Beispiel in den Niederlanden. Die Gegner eines Antidis- Deshalb sind wir ganz getrost, dass der Unsinn, der kriminierungsgesetzes haben in dieser Debatte jedenfalls durch die Änderungsanträge in das Gesetz hineinge- eines erreicht: die unzureichenden Wirkungen dieses bracht wurde, in der Rechtspraxis herausgenommen Gesetzes zu kaschieren. In der Praxis wird damit nur we- wird. Die Justizministerin gesteht das frank und frei zu. nig mehr übrig bleiben als ein symbolisches Bekenntnis Da, wo das EU-Recht nicht umgesetzt ist, sagt man den zur Gleichbehandlung. Dabei wird es bleiben. Richtern – nachzulesen heute in der „Frankfurter Allge- meinen“ –: Danke sehr. Im Zweifel müssen die Richter die Bestimmungen (Beifall bei der LINKEN) eben europarechtskonform auslegen. Man weiß genau, dass bestimmte Dinge eben nicht EU- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rechtskonform sind. Das Wort hat der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/ Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Was ist das aber für eine Gesetzgebung, wenn man sagt, Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Richter sollen es richtig machen, obwohl es der Ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! setzgeber falsch gewollt hat? Das ist doch absurd und Ich bin heute durchaus nicht unzufrieden. wird die Menschen draußen nicht überzeugen. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Westerwelle und Herr Montag haben die wun- NEN und bei der FDP) derbare Formulierung zum Indiz bei der Beweislastregel vorgetragen: Indizien, die eine Benachteiligung wegen Ich denke, uns liegt ein Gesetzentwurf vor, der im Kern eines in § 1 genannten Grundes vermuten lassen. Das gut ist. Deshalb wird unsere Fraktion diesem abgewan- klingt wunderschön. Noch schöner finde ich allerdings delten rot-grünen Entwurf zustimmen. die Begründung. Man sagt, man habe das gemacht, weil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Begriff der Glaubhaftmachung – das ist eine 4036 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Volker Beck (Köln) (A) Regelung, die seit 25 Jahren gilt, die ausjudiziert ist, von Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) der jeder weiß, was er darunter zu verstehen hat – von Lassen Sie mich zum Schluss sagen – es gibt noch Journalisten oftmals falsch verstanden wird. jede Menge weitere lustige Beispiele, die man aus den Änderungsanträgen aufführen könnte –: Sie schrammen (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- an einigen Punkten die Richtlinie. Deshalb haben wir ei- NEN und bei der FDP) nen Entschließungsantrag eingebracht, den wir heute überweisen. Lassen Sie uns über diesen Entschließungs- Die Rechtsprechung hat mit dem Begriff überhaupt antrag und die Frage, wo der Gesetzgeber die Richtlinie keine Probleme. Machen wir die Gesetzgebung jetzt auf- nicht vollständig umsetzt, im Herbst in einer Anhörung grund von TED-Abstimmungen? Stimmen wir darüber diskutieren ab, was die Leute richtig oder falsch verstehen? Gesetze müssen funktionieren und klar sein. (Lachen der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP – Dr. Guido Westerwelle und dann die Nachbearbeitung und Verbesserung dieses Gesetzes vorbereiten. [FDP]: Das ist nicht wahr!) Vielen Dank. Damit die Richter aber nicht irre werden, bietet die Begründung weitere Hinweise: Das, was im Gesetz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) steht, ist gar nicht gemeint. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes „kehrt sich die Beweis- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: last um, wenn derjenige, der dem ersten Anschein nach Das Wort hat die Kollegin Christine Lambrecht, SPD- diskriminiert ist, sonst kein wirksames Mittel hätte, um Fraktion. die Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Beifall bei der SPD) durchzusetzen“. Da hat Sie Ihr Koalitionspartner gründ- lich hinter die Fichte geführt. Herr Gehb hat im Rechts- ausschuss, wie ich mir berichten ließ, gejammert und ge- Christine Lambrecht (SPD): sagt, er könne sich mit dieser Vorschrift vor keinem Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Fachpublikum mehr sehen lassen. Ich habe großes Ver- Kolleginnen und Kollegen! Bei allem Verständnis dafür, ständnis dafür. Es ist ein allzu billiger Sieg der anderen in so eine Debatte ein bisschen Schwung bringen und Seite, wenn man darauf verweist. sich vor den Zuschauern profilieren zu wollen, möchte ich doch darum bitten, dass wir uns abseits von all dem (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kleinkarierten Auseinanderpflücken von Kommas, Bin- (D) sowie des Abg. Patrick Döring [FDP]) destrichen und vergessenen Daten in irgendwelchen Be- gründungen wieder mit dem Gegenstand, mit dem, was Die Kündigungen wollen Sie jetzt nicht mehr nach mit diesem Gesetz für die Menschen in unserem Land dem AGG, sondern nach dem allgemeinen Kündigungs- bewirkt werden soll, beschäftigen. schutzgesetz behandeln. Dazu sagt nicht nur der DGB, sondern auch laut „FAZ“ der Arbeitsrechtler Martin (Beifall bei der SPD) Kock, der unverdächtig ist, das sei Augenwischerei. Ich muss sagen: Ich kann die Gefühle, die Herr Beck Auch beim Kündigungsschutzrecht gelte selbstverständ- darüber zum Ausdruck gebracht hat, dass wir dieses Ge- lich die europäische Wertung. Wie sollte es auch anders setz heute in zweiter und dritter Lesung beschließen, sein? Das steht in der Richtlinie. Auch da hat man Ihnen noch toppen. Mich freut es, ich finde es richtig klasse, Steine statt Brot gegeben. dass wir nach vielen, vielen Jahren endlich dazu kom- men, ein Gesetz zu beschließen, das Menschen etwas in Bei dem Mietrecht freuen Sie sich meines Erachtens die Hand gibt, um sich gegen Diskriminierung zu weh- ebenfalls zu früh. Herr Gehb hat zu Recht darauf hinge- ren. Dann müssen sie nicht immer nur hören: Wir alle wiesen, dass es ein Unterschied ist, ob ein Vermieter sel- wollen das nicht, Diskriminierung ist schlecht. Wir müs- ber auf dem Grundstück, das er vermietet, wohnt oder ob sen sagen: Es reicht uns, wir haben lange genug zugese- er das Mietobjekt nur als Kapitalanlage nutzt. Diesen hen, in bestimmten Bereichen unserer Gesellschaft gibt Unterschied hatten wir im rot-grünen Gesetzentwurf ge- es nun einmal diese Tendenzen. Deshalb sagen wir als macht. Sie ziehen jetzt eine willkürliche Grenze bei Staat, als Gesetzgeber: Mit uns wird das nicht zu machen 50 Wohnungen. Das macht überhaupt keinen Sinn. Ich sein. Wir geben den Menschen Instrumente in die Hand, glaube, es wird Ihnen nicht durchgehen, dass ein Ver- um sich zu wehren. Genau darum geht es mit diesem Ge- mieter, der nur 49 Wohnungen hat, in seine Wohnungs- setz und um sonst nichts. anzeige schreiben kann: „Juden und Homosexuelle (Beifall bei der SPD) zwecklos“. Der Zivilrichter wird Ihnen nicht durchgehen lassen, sich mit der Grenze bei 50 Wohnungen herauszu- Ich bin immer wieder darüber überrascht, wie einiges reden. verquickt wird. Herr Westerwelle redet von unnötiger Bürokratie. Meistens kam in diesen Debatten auch noch der Grundsatz der Vertragsfreiheit, der angeblich ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: letzt wird, zur Sprache. Mein Verständnis von Vertrags- Herr Kollege Beck, Ihre Redezeit ist überschritten. freiheit ist – ich glaube, da gehe ich d’accord mit fast al- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4037

Christine Lambrecht (A) len Kolleginnen und Kollegen – beim besten Willen Formulierung und den EU-Richtlinien große Bedenken (C) nicht das rücksichtslose Vorgehen, das Diskriminieren gibt; das wurde von verschiedenen Kolleginnen und von Menschen bei Massengeschäften und Leistungen, Kollegen an mich herangetragen. Aber ich gehe selbst- die ohne Ansehen ihrer Person zu gewähren sind. Das verständlich davon aus, dass unsere Arbeitsgerichte die- verstehe ich darunter nicht. ses Gesetz richtlinienkonform auslegen werden und es dementsprechend angewandt wird. Dann wird sich zei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen, wie die Rechtsprechung dazu aussieht. Aber zwei- der CDU/CSU) fellos besteht hier ein Spannungsverhältnis. Das ist über- Ich habe in Ihrer Rede, Herr Westerwelle – er ist jetzt haupt nicht wegzudiskutieren. abgelenkt und muss telefonieren; er hat Wichtigeres zu Zum Thema Wohnraum habe ich schon etwas gesagt. tun –, Ihre Kritik an der Grenze von 50 Wohnungen nicht ganz verstanden. Ging es darum, dass Sie Angst In den letzten Tagen wurde im Zusammenhang mit davor haben, dass Menschen an einen Vermieter geraten, der Höhe des Schadenersatzes darüber diskutiert, ob der weniger Wohnungen hat, und dann keinen Diskrimi- exorbitante Ansprüche geltend gemacht werden können, nierungsschutz bekommen? Geht Ihnen das Gesetz nicht die Unternehmen womöglich in den Ruin treiben wer- weit genug? Das wurde nicht ganz deutlich. den. Ich kann ganz deutlich sagen: In Deutschland wird es nie Schadenersatzforderungen in Höhe von mehreren In dieser Diskussion besteht ein Spannungsverhältnis. hundert Millionen geben, wie sie beispielsweise in den Den einen geht das Gesetz viel zu weit, den anderen geht USA üblich sind. Das wird es bei uns nicht geben. Die es nicht weit genug. Aber es freut mich, dass wir es zu- EU verlangt zwar ein abschreckend hohes Schmerzens- mindest geschafft haben – das war in diesem Prozess zu geld. Aber im Arbeitsrecht beträgt es, auch nach Ansicht lernen –, uns mit einer mittlerweile ganz breiten Mehr- anderer europäischer Staaten, maximal ein Jahresgehalt heit darauf zu konzentrieren, was wir machen können, und mindestens 30 000 Euro. was sinnvoll und nicht überzogen ist, um Menschen zu helfen. Wir haben in unserem Gesetzentwurf, wie ich finde, Frau Dagdelen, ich finde es ganz interessant, dass Sie eine vernünftige Lösung gefunden, die sicherstellt, dass hier heute eine Fülle von Kritik ausgeschüttet haben. Ich genau das, was befürchtet wurde, nicht eintreten wird, hätte mich darüber gefreut, wenn Sie das gestern im nämlich eine Überforderung der Unternehmen. Aber ich Rechtsausschuss, also in dem Gremium, in dem wir sage auch ganz klar: Wer gegen dieses Gesetz verstößt ganz sachlich über dieses Thema gesprochen haben – Ju- und Menschen diskriminiert, der muss das spüren. Das risten sind bekannt für ihren Stil; der ist bei weitem nicht muss dann Konsequenzen haben. Sonst wäre dieses Ge- setz ein stumpfes Schwert. (B) so lustig, wie wir es hier heute erlebt haben –, getan hät- (D) ten. Wir saßen gestern stundenlang zusammen und von (Beifall bei der SPD) Ihnen war in der viereinhalbstündigen Rechtsausschuss- sitzung kein einziges Wort zu hören, auch nicht zu die- Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dieser Gesetzent- sem Thema. wurf ist ein großer Schritt. Ich weiß, dass sich heute ganz viele Verbände darüber freuen, dass wir diesen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Schritt endlich machen, zum Beispiel die Behinderten- der CDU/CSU) verbände und die Schwulen- und Lesbenverbände. Denn Ihre Kritik hätten Sie vielleicht früher anbringen können damit zeigen wir: Wir reden nicht nur, sondern wir han- als nur hier vor dem versammelten Publikum. deln auch. Lassen Sie uns diesen Gesetzentwurf heute verabschieden und ihn nicht kleinreden. Ich will noch zwei, drei Punkte ansprechen. Jawohl, das Klagerecht von Gewerkschaften und Betriebsräten Vielen Dank. bleibt erhalten. Das ist richtig so, weil nur dieses ge- (Beifall bei der SPD) währleistet, dass, wenn in Betrieben diskriminiert wird, entsprechend vorgegangen wird, weil die Arbeitnehme- rinnen und Arbeitnehmer zum Teil diese Möglichkeit Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: selbst nicht wahrnehmen, nicht wahrnehmen wollen Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer, CDU/ oder nicht wahrnehmen können. CSU-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Es geht darum, ihnen hier etwas an die Hand zu geben. Ich glaube, mit diesem Gesetzentwurf haben wir alles Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): getan, was sinnvoll und vernünftig ist, damit dieser Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Schutz wirklich gewährleistet werden kann. gen! Ich will aus meiner Meinung zu diesem Gesetzent- wurf gar keinen Hehl machen: Was lange währt, wird Die Veränderungen in Bezug auf den Kündigungs- nicht automatisch endlich gut. schutz sind bereits angesprochen worden. Man kann darüber diskutieren, ob die frühere Formulierung, dass (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der vorrangig der Kündigungsschutz Anwendung findet, mit CDU/CSU und der FDP – Jerzy Montag der EU-Richtlinie konform geht. Ich weiß, dass es im [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn Hinblick auf das Spannungsfeld zwischen der jetzigen jetzt? Stimmen Sie zu oder nicht?) 4038 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Wolfgang Götzer (A) Die Union hat immer ganz klar gesagt, dass wir Rege- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) lungen, wie sie die EU-Richtlinien vorgeben, dem Steht im Grundgesetz, Herr Kollege!) Grunde nach für überflüssig halten, im Übrigen teilweise für ausgesprochen schlecht. Das gilt übrigens nicht nur für Rechtsradikale, wie es in der Begründung heißt, sondern natürlich auch für Links- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und radikale und andere, vergleichbare Organisationen. Die der FDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE Beweislastregelung ist präzisiert worden, deutlich zu- GRÜNEN]: Es gibt noch eine rot-grüne Mehr- lasten desjenigen, der behauptet, diskriminiert worden heit! Warten Sie es ab!) zu sein. Ich mache keine Hehl daraus: Natürlich wäre es uns am liebsten gewesen, wir hätten die klassische Be- Für einen vernünftigen und ideologiefreien Schutz vor weislastregelung des Zivilrechts. Diskriminierung hätte unser geltendes nationales Recht ausgereicht. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: § 611 a BGB!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nur, Herr Kollege Westerwelle, das lässt die EU-Richtli- Jetzt aber hält die Ideologie Einzug in unser Zivilrecht nie nicht zu; auch das müssen wir sehen. Für Kündigun- und greift massiv in seinen Kernbereich ein, nämlich in gen gelten ausschließlich die Bestimmungen des allge- die Vertragsfreiheit. Das gilt auch für den heute vorlie- meinen und besonderen Kündigungsschutzes; auch genden Gesetzentwurf, ist aber in den Richtlinien der darauf ist hingewiesen worden. Ein erweitertes Klage- EU begründet. recht des Betriebsrates wird es nicht geben. Der Be- triebsrat oder die im Betrieb vertretene Gewerkschaft (Beifall bei der CDU/CSU) kann nur eigene Rechte geltend machen, nicht aber stell- vertretend die Rechte eines Arbeitnehmers oder dies gar Dass wir dem AGG heute trotzdem zustimmen, hat gegen dessen Willen. Antidiskriminierungsverbände zwei Gründe. können nicht als Prozessbevollmächtigte für Betroffene Erstens war die Umsetzung der EU-Gleichbehand- auftreten. Schließlich haben wir die Ausschlussfrist für lungsrichtlinien in deutsches Recht europarechtlich ge- die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen boten. Jeder weitere Verzug – darauf ist schon hingewie- von drei Monaten auf zwei Monate reduziert. sen worden – hätte für unser Land Strafzahlungen in (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Höhe von bis zu 900 000 Euro pro Tag zur Folge gehabt. NEN]: Riesige Erfolge!) Zweitens konnten gegenüber dem ursprünglichen Das alles sind Punkte, die in den letzten Tagen noch er- (B) Entwurf, der unverkennbar die Handschrift der Grünen reicht werden konnten. (D) getragen hat, erhebliche Verbesserungen erzielt werden. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ganz toll!) NEN]: Kleinliche!) Ich sage aber auch hier ganz klar: Diese Verbesserungen Bereits im Rahmen der Vorbereitung des Regierungsent- machen aus einer schlechten Richtlinie kein gutes Ge- wurfs sind am Entwurf aus der letzten Wahlperiode ei- setz. nige wichtige Änderungen vorgenommen worden. Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nenne nur den Wegfall des Kontrahierungszwangs im der FDP) Zivilrecht. Vor allem aber konnten in den koalitions- internen Verhandlungen der letzten Tage noch zentrale Aber sie führen dazu, dass wir, weil mehr nicht machbar Punkte geändert werden. war und weil wir, wie gesagt, um eine Umsetzung der EU-Richtlinien nicht herumkommen, dem vorliegenden (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Entwurf, wenn auch mit Bauchschmerzen, zustimmen. Sagen Sie einmal etwas zu § 22!) Lassen Sie mich abschließend eine grundsätzliche Ich weise nur stichwortartig darauf hin: Jetzt ist prak- Bemerkung machen. Die Beschäftigung mit diesen EU- tisch weitgehend ausgeschlossen, dass die AGG-Rege- Richtlinien muss für uns Anlass sein, dafür zu sorgen, lungen auch private Vermieter betreffen. Die Entschei- dass sich der Deutsche Bundestag künftig nicht erst dann dungsfreiheit des Einzelnen bleibt somit weitestgehend mit EU-Richtlinien beschäftigt, wenn diese bereits ver- gewahrt. Es ist sichergestellt, dass eine unterschiedliche bindlich geworden, also umzusetzen sind, Behandlung bei der Wohnraumvermietung aus überge- ordneten Gründen möglich ist. Das Kriterium der Welt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der anschauung fällt nicht mehr unter den zivilrechtlichen SPD und der FDP) Diskriminierungsschutz. Der Begriff „Weltanschauung“ sondern schon dann, wenn sie in Brüssel ausgebrütet ist schwer zu definieren. werden: damit sie notfalls auf europäischer Ebene ge- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stoppt werden können. NEN]: Steht im Grundgesetz!) Vielen Dank. Hier wäre möglicherweise ein Einfallstor für Sekten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- oder extremistische Organisationen geschaffen worden. neten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4039

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zweitens werde ich dem Gesetzentwurf nicht zustim- (C) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir zur Ab- men, weil eine große Gruppe nicht einbezogen ist, näm- stimmung kommen, gebe ich bekannt, dass mir etliche lich diejenigen, die wegen ihrer sozialen Herkunft oder schriftliche Erklärungen zur Abstimmung nach § 31 un- ihres soziokulturellen Status diskriminiert werden. 1) serer Geschäftsordnung vorliegen. Der Kollege Ilja Drittens kann ich diesem Gesetzentwurf nicht zustim- Seifert wünscht eine mündliche Erklärung abzugeben. men, weil die Verkürzung der Frist für die Geltendma- Ich bitte, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Lärmpe- chung von Ansprüchen auf nunmehr zwei Monate, wäh- gel während dieser Zeit etwas herunterzufahren. Kollege rend sie allgemein drei Jahre beträgt, unverhältnismäßig Seifert, Sie haben das Wort. ist. Viertens werde ich dem Gesetzentwurf nicht zustim- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): men, weil es für die Benachteiligungen von Menschen- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- gruppen bei der Vermietung von Wohnungen keinen legen! Ich kann und will nicht gegen ein Gesetz stim- akzeptablen Grund gibt. Die Unterstellungen der Woh- men, das Diskriminierungen ächtet und verbietet. Ich nungswirtschaft, dass eine überdurchschnittliche An- kann und will aber auch nicht einem Gesetz zustimmen, zahl von Menschen mit Behinderung, einer bestimmten das in seiner Substanz diesem Anspruch nicht gerecht Religion oder einer bestimmten sexuellen Identität eine wird. Gefährdung stabiler Bevölkerungs- und Siedlungsstruk- turen darstellt, sind absurd. Was heute hier beschlossen wird, könnte eigentlich der krönende Abschluss einer langen Wegstrecke sein, Ich werde dem Gesetzentwurf – fünftens – nicht zu- auf der auch ich, gemeinsam mit vielen anderen, seit stimmen, weil zulässige unterschiedliche Behandlungen, Jahren wandle. Gerne würde ich mit denen feiern, die also erlaubte Diskriminierungen, nicht auf ein Mindest- wie ich große Hoffnungen in ein umfassendes und wir- maß reduziert wurden. Einzig die Gefahr für Leib und kungsvolles Diskriminierungsverbot setzen. Eine Mo- Leben hielte ich als Ausnahme für akzeptabel. gelpackung – als solche kommt das Gesetz heute daher – Sechstens werde ich nicht zustimmen, weil der Be- lasse ich mir aber nicht als Krone verkaufen. griff Rasse in keinen Gesetzentwurf gehört. Das sollte Seit Jahren, insbesondere in den letzten Tagen und auch hier der Fall sein. Wochen, gab es jede Menge Gespräche mit Betroffenen Siebtens werde ich nicht zustimmen, weil das Ver- über den heute zur Abstimmung stehenden Gesetzent- bandsklagerecht ebenso wie wirkungsvolle Strafen und wurf. Die Entscheidung, zu der ich nunmehr komme, Sanktionen fehlen. fällt mir wirklich nicht leicht. Sie nennen das Gesetz (B) jetzt sehr verschämt „Allgemeines Gleichbehandlungs- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werde mich in (D) gesetz“. Einerseits setzen Sie nun mit mehrjähriger Ver- diesem Falle also sehr bewusst und sehr ausdrücklich der spätung Antidiskriminierungsrichtlinien der EU um – Stimme enthalten. Das ist keine feige Zurückhaltung, worauf viele Menschen seit Jahren gewartet haben. An- sondern eine sehr bewusste Entscheidung. Ich befürchte dererseits sind nur sehr geringe Verbesserungen mit we- allerdings, dass es nicht lange dauern wird, bis ich auf nig Substanz in diesem Gesetzentwurf. Aber immerhin: der Seite derjenigen stehen werde, die dieses allgemeine Es wären Verbesserungen; das könnte für eine Zustim- Antidiskriminierungsgesetz gegen diejenigen verteidi- mung sprechen. gen müssen, die es immer noch angreifen. Vor zwei Tagen jedoch legte die Koalition in einem (Beifall bei der LINKEN) ziemlich fiesen Kuhhandel, der auch mit der Föderalis- musreform zusammenhängt, noch einmal Hand an ihren Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: eigenen Gesetzentwurf. Damit schwächten Sie ihr eige- Herr Kollege Seifert, Sie haben in Ihrer mündlichen nes Gesetz noch weiter. Mit einigen Änderungen bleiben Erklärung davon gesprochen, dass es sich um einen Sie sogar hinter den Mindestanforderungen der EU zu- „ziemlich fiesen Kuhhandel“ handeln würde. Dies ist rück. Das wäre ein Grund, das Gesetz in Gänze abzuleh- unparlamentarisch und ich bitte Sie herzlich, dies zu- nen. künftig bei einer mündlichen Erklärung zu unterlassen. (Zuruf von der SPD: Zur Abstimmung!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Ich rede die ganze Zeit zur Abstimmung und erkläre Wir kommen zur Abstimmung über den von der mein Abstimmungsverhalten. Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirk- Erstens werde ich diesem Gesetzentwurf also nicht lichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, Druck- zustimmen, weil er irreführend bezeichnet ist. Wer Dis- sachen 16/1780 und 16/1852. kriminierung wirklich verhindern will, muss ungleich Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- behandeln, nämlich die Schwächen der benachteiligten ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2022, den Personen und Gruppen ausgleichen. Es geht also nicht Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. um Gleichbehandlung, sondern um Diskriminierungs- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- verbot. schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- 1) Anlagen 10 und 11 wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von 4040 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Ge- sache 16/957 mit dem Titel „Keine Ausgrenzung beim (C) genstimmen der Fraktionen der FDP und der Linken so- Antidiskriminierungsgesetz“. Wer stimmt für diese Be- wie aus den Reihen der CDU/CSU und einigen Enthal- schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – tungen der Linken angenommen. Die Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Stim- men des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Linke Dritte Beratung angenommen. und Schlussabstimmung. Die Fraktion der FDP verlangt Schließlich empfiehlt der Rechtsausschuss unter namentliche Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerin- Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung auf Druck- nen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzu- sache 16/2022 die Ablehnung des Antrags der Fraktion nehmen. – Sind alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das der FDP auf Drucksache 16/1861 mit dem Titel „Büro- ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. kratie schützt nicht vor Diskriminierung – Allgemeines Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Gleichbehandlungsgesetz ist der falsche Weg“. Wer Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. ist mit den überwiegenden Stimmen des Hauses ange- Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen nommen. später bekannt gegeben. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: Wir setzen nun die Abstimmungen fort. a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Abstimmung über den Entschließungsantrag der nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2034: Wer Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt Rechts der Verbraucherinformation dagegen? – Stimmenthaltungen? – Der Entschließungs- – Drucksache 16/1408 – antrag ist mit der Mehrheit der Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Grünen abgelehnt. – Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Der Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnis- brachten Entwurfs eines Verbraucherinforma- ses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2033 soll zur fe- tionsgesetzes (VIG) derführenden Beratung an den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Tech- – Drucksache 16/199 – nologie, den Ausschuss für Arbeit und Soziales sowie (B) den Ausschuss für Familien, Senioren, Frauen und Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (D) Jugend überwiesen werden. Sind Sie damit einverstan- ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- cherschutz (10. Ausschuss) schlossen. – Drucksache 16/2011 – Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Berichterstattung: des Bündnisses 90/Die Grünen zur Umsetzung europäi- Abgeordnete Ursula Heinen scher Antidiskriminierungsrichtlinien, Drucksache 16/297: Elvira Drobinski-Weiß Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Dr. Kirsten Tackmann Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2022, den Ge- Ulrike Höfken setzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) Mehrheit des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Bleser, Linke abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts- Ursula Heinen, Gitta Connemann, weiterer Abge- ordnung die weitere Beratung. ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie Der Rechtsausschusses empfiehlt unter Buchstabe c der Abgeordneten Waltraud Wolff (Wolmirstedt), seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2022 Ulrich Kelber, Volker Blumentritt, weiterer Ab- die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf geordneter und der Fraktion der SPD Drucksache 16/370 mit dem Titel „EU-Antidiskriminie- Lebensmittelskandalen effektiv entgegenwir- rungsrichtlinien durch einheitliches Antidiskriminie- ken – Verbraucher umfassend informieren rungsgesetz wirksam und umfassend umsetzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit der Bärbel Höhn, Cornelia Behm, weiterer Abgeord- Mehrheit der Stimmen des Hauses bei Enthaltung der neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Grünen angenommen. DIE GRÜNEN Unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung emp- Konsequenzen aus den Fleischskandalen: fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Umfassende Verbraucherinformation und bes- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- sere Kontrollen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4041

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael Das ist ein Riesenfortschritt. (C) Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tion der FDP neten der SPD) Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft Künftig können Informationen beispielsweise über durch mündige und aufgeklärte Verbraucher Verstöße gegen das Lebensmittel- und Futtermittelgesetz sicherstellen – das ist angesichts der Gammelfleischdiskussion vor ei- nigen Monaten von entscheidender Bedeutung –, über – Drucksachen 16/195, 16/111, 16/825, 16/2009 – Daten, die Auskunft über Gefahren oder Risiken für die Berichterstattung: Gesundheit geben, sowie über Überwachungsmaßnah- Abgeordnete Ursula Heinen men der Behörden abgerufen werden. Für die Verbrau- Elvira Drobinski-Weiß cherinnen und Verbraucher sind insbesondere Angaben Hans-Michael Goldmann zu festgestellten Werten von Bedeutung. Erinnern Sie Dr. Kirsten Tackmann sich zum Beispiel an die immer wieder aufkommende Ulrike Höfken Acrylamiddiskussion! Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU Der Zugang zu Informationen ist für unser Leitbild und der SPD liegen mehrere Entschließungsanträge vor. des mündigen Verbrauchers eine entscheidende Voraus- setzung, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. das wir in unserem Koalitionsvertrag festgehalten haben. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Um diese Voraussetzung zu schaffen, haben wir nach der gin Ursula Heinen, CDU/CSU-Fraktion. Expertenanhörung im Ausschuss auch hinsichtlich der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse den Willen des (Beifall bei der CDU/CSU) Gesetzgebers deutlicher und klarer formuliert. So fallen künftig Informationen über Rechtsverstöße nicht unter Ursula Heinen (CDU/CSU): den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Sehr gut!) Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach fast fünf Jahren Diskussion wird der Deutsche Bundestag mit seiner Zu- Wir haben immer wieder darüber diskutiert, ob sich Un- stimmung das Verbraucherinformationsgesetz endlich zu (B) ternehmen eventuell auf das Geschäftsgeheimnis beru- (D) einem guten Abschluss bringen. Wir, Union und SPD, fen können, wenn Rechtsverstöße festgestellt worden haben damit ein neues Kapitel der Verbraucherpolitik sind. Das haben wir jetzt im Gesetz klargestellt. Das gibt aufgeschlagen und ein Gesetz gestaltet, das den Verbrau- es nicht. In einem solchen Fall werden die Namen ge- chern neue Perspektiven eröffnet. nannt. Auch das ist eine ganz wichtige Botschaft an die Erstmals erhalten die Verbraucher in unserem Land Verbraucherinnen und Verbraucher. ein bundeseinheitliches Recht auf Zugang zu bei Behör- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) den vorhandenen Informationen über Lebensmittel und Bedarfsgegenstände. Dafür müssen wir uns bei unserem Auf der anderen Seite gilt aber: Wir müssen die CSU-Minister, Horst Seehofer, bedanken, der das Pro- Eigentumsrechte der Unternehmen wahren. Deshalb jekt relativ zügig nach seinem Amtsantritt in Angriff ge- befinden wir uns mit diesem Gesetz auf einer Gratwan- nommen derung. Natürlich wäre es schön, über jedes Detail eines Produktes genau Bescheid zu wissen. Dann kann es aber (Beifall bei der CDU/CSU – Julia Klöckner vorkommen, dass wir beispielsweise Rezepturen oder [CDU/CSU]: Ein Meilenstein! – Zurufe von ähnliche Dinge erfahren wollen, die ganz klar Betriebs- der SPD: Oh!) geheimnisse eines Unternehmens sind. Deswegen benö- – natürlich gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen – tigen wir einen bestimmten Schutz der Unternehmen. und das Gesetz über die Ziellinie gebracht hat. Das war Nachweisliche Betriebsgeheimnisse müssen daher ge- bekanntlich ein schwieriger Prozess. schützt werden. Daran führt kein Weg vorbei. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal betonen, (Beifall bei der CDU/CSU) dass sich der Anwendungsbereich des hier debattierten Allerdings gilt auch: Je mehr Verbraucherinformatio- Gesetzes eben nicht nur auf Lebensmittel beschränkt nen die Unternehmen von sich aus bieten, desto besser – wie es in den öffentlichen Diskussionen oftmals darge- stehen sie im Wettbewerb da; stellt wird –, sondern dass es auch für Kosmetika, Be- kleidung, Spielwaren, Schnuller, Bettwäsche, Putz- und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Waschmittel sowie alles, was mit der Haut oder den denn heute wollen Verbraucher wissen, was sie kaufen Schleimhäuten in Berührung kommen kann, gilt. Der und welche Inhaltsstoffe die Produkte haben, die sie Gesetzentwurf umfasst damit die für die Verbraucher kaufen. Deshalb können wir den Unternehmen nur raten, wichtigsten Gegenstände des alltäglichen Bedarfs. eine offensive Informationspolitik zu betreiben und die (Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) Verbraucher von sich aus und nicht nur über den 4042 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Ursula Heinen (A) „Umweg“ über die Behörden über ihre Produkte recht- mung eingeführt. Die Behörden sollen jetzt die Öffent- (C) zeitig, klar und eindeutig zu informieren. lichkeit informieren, sobald Gesundheitsgefahren, Risiken etc. vorliegen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist Verbraucherschutz!) Ich habe eingangs schon gesagt, dass wir mit dem Verbraucherinformationsgesetz einen ganz neuen Weg in In Zukunft können auch dann Namen von Produkten der Verbraucherpolitik beschreiten. Weil wir prüfen genannt werden, wenn die Produkte nicht mehr auf dem müssen, wie das Gesetz angenommen wird, haben wir Markt sind, nachträglich aber festgestellt wurde, dass als Koalitionsfraktionen in einem Entschließungsantrag, von ihnen Gesundheitsgefahren ausgegangen sind. Auch den wir heute auch verabschieden, festgehalten, dass wir das ist ein großer Schritt hin zu mehr Verbraucherinfor- innerhalb der nächsten zwei Jahre das Gesetz evaluieren mation. wollen. Wir werden uns sehr genau anschauen, wie die Die Koalition hat bei einem wichtigen Versprechen, Verbraucherinnen und Verbraucher die Möglichkeiten nämlich in dieser Legislaturperiode ein Verbraucherin- des Gesetzes nutzen, ob es eventuell bei den Antworten formationsgesetz vorzulegen, Wort gehalten. der Behörden Schwierigkeiten gibt, ob die Unternehmen mitmachen oder ob sie Informationen nicht preisgeben, (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das nach sieben alles unter Verschluss halten und die Verbraucher nicht Monaten!) informieren. Letzteres hieße für uns, dass wir schärfere Ich danke allen Kolleginnen und Kollegen, die auf Regelungen treffen müssten, soweit wir das können, diesem Weg mitgegangen sind. ohne Eigentumsrechte der Unternehmen etc. zu verlet- zen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Neben dem Verbraucherinformationsgesetz haben wir Ich komme zu Tagesordnungspunkt 5 a zurück und noch eine wichtige Änderung im Lebensmittel- und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern Futtermittelgesetz vorgenommen. Es geht darum, dass ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung die Behörden aktiv die Verbraucher informieren, wenn über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Rechtsverstöße vorliegen bzw. wenn von bestimmten Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung Produkten ganz klar Gesundheitsgefahren ausgehen. des Grundsatzes der Gleichbehandlung – Druck- (B) Bisher war im Lebensmittel- und Futtermittelgesetz nur sachen 16/1780, 16/1852, 16/2022 – bekannt. Abgege- (D) geregelt, dass die Behörden informieren können. Wir ha- bene Stimmen 571. Mit Ja haben 443 gestimmt, mit Nein ben das schärfer gefasst und deshalb eine Sollbestim- haben 111 gestimmt, Enthaltungen 17.

Endgültiges Ergebnis Wolfgang Börnsen Dr. Michael Fuchs Robert Hochbaum Abgegebene Stimmen: 571; (Bönstrup) Dr. Jürgen Gehb Klaus Hofbauer davon Wolfgang Bosbach Michael Glos Franz-Josef Holzenkamp Klaus Brähmig Ralf Göbel Joachim Hörster ja: 443 Michael Brand Josef Göppel Anette Hübinger nein: 111 Helmut Brandt Peter Götz Hubert Hüppe enthalten: 17 Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Wolfgang Götzer Susanne Jaffke Monika Brüning Ute Granold Dr. Peter Jahr Ja Georg Brunnhuber Reinhard Grindel Dr. Hans-Heinrich Jordan Gitta Connemann Hermann Gröhe Andreas Jung (Konstanz) CDU/CSU Leo Dautzenberg Michael Grosse-Brömer Bartholomäus Kalb Alexander Dobrindt Markus Grübel Hans-Werner Kammer Ilse Aigner Marie-Luise Dött Manfred Grund Steffen Kampeter Peter Albach Maria Eichhorn Monika Grütters Alois Karl Peter Altmaier Anke Eymer (Lübeck) Karl-Theodor Freiherr zu Bernhard Kaster Thomas Bareiß Georg Fahrenschon Guttenberg Siegfried Kauder (Villingen- Norbert Barthle Ilse Falk Olav Gutting Schwenningen) Dr. Wolf Bauer Dr. Hans Georg Faust Holger Haibach Volker Kauder Günter Baumann Enak Ferlemann Gerda Hasselfeldt Eckart von Klaeden Dr. Christoph Bergner Hartwig Fischer (Göttingen) Ursula Heinen Jürgen Klimke Otto Bernhardt Dirk Fischer (Hamburg) Uda Carmen Freia Heller Julia Klöckner Clemens Binninger Dr. Maria Flachsbarth Michael Hennrich Jens Koeppen Renate Blank Klaus-Peter Flosbach Jürgen Herrmann Kristina Köhler (Wiesbaden) Peter Bleser Dr. Hans-Peter Friedrich Bernd Heynemann Norbert Königshofen Antje Blumenthal (Hof) Ernst Hinsken Dr. Rolf Koschorrek Jochen Borchert Jochen-Konrad Fromme Peter Hintze Hartmut Koschyk Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4043

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Thomas Kossendey Bernd Schmidbauer Ulla Burchardt Hans-Ulrich Klose (C) Michael Kretschmer Andreas Schmidt (Mülheim) Martin Burkert Dr. Bärbel Kofler Gunther Krichbaum Ingo Schmitt (Berlin) Dr. Michael Bürsch Fritz Rudolf Körper Dr. Günter Krings Dr. Andreas Schockenhoff Christian Carstensen Karin Kortmann Dr. Martina Krogmann Dr. Ole Schröder Marion Caspers-Merk Rolf Kramer Johann-Henrich Bernhard Schulte-Drüggelte Dr. Peter Danckert Anette Kramme Krummacher Uwe Schummer Dr. Herta Däubler-Gmelin Ernst Kranz Dr. Hermann Kues Horst Seehofer Karl Diller Nicolette Kressl Dr. Karl A. Lamers Kurt Segner Martin Dörmann Volker Kröning (Heidelberg) Bernd Siebert Dr. Carl-Christian Dressel Angelika Krüger-Leißner Andreas G. Lämmel Thomas Silberhorn Elvira Drobinski-Weiß Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. Norbert Lammert Johannes Singhammer Garrelt Duin Jürgen Kucharczyk Katharina Landgraf Jens Spahn Detlef Dzembritzki Ute Kumpf Dr. Max Lehmer Erika Steinbach Sebastian Edathy Dr. Uwe Küster Paul Lehrieder Gero Storjohann Siegmund Ehrmann Christine Lambrecht Ingbert Liebing Andreas Storm Hans Eichel Christian Lange (Backnang) Patricia Lips Max Straubinger Petra Ernstberger Dr. Karl Lauterbach Dr. Michael Luther Thomas Strobl (Heilbronn) Karin Evers-Meyer Waltraud Lehn Stephan Mayer (Altötting) Michael Stübgen Annette Faße Gabriele Lösekrug-Möller Wolfgang Meckelburg Antje Tillmann Elke Ferner Dirk Manzewski Dr. Michael Meister Dr. Hans-Peter Uhl Gabriele Fograscher Lothar Mark Dr. Angela Merkel Arnold Vaatz Rainer Fornahl Caren Marks Laurenz Meyer (Hamm) Volkmar Uwe Vogel Gabriele Frechen Katja Mast Maria Michalk Andrea Astrid Voßhoff Dagmar Freitag Hilde Mattheis Hans Michelbach Gerhard Wächter Peter Friedrich Markus Meckel Philipp Mißfelder Marco Wanderwitz Sigmar Gabriel Petra Merkel (Berlin) Dr. Eva Möllring Kai Wegner Martin Gerster Ulrike Merten Marlene Mortler Marcus Weinberg Iris Gleicke Dr. Matthias Miersch Carsten Müller Peter Weiß (Emmendingen) Günter Gloser Ursula Mogg (Braunschweig) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Renate Gradistanac Marko Mühlstein Stefan Müller (Erlangen) Anette Widmann-Mauz Angelika Graf (Rosenheim) Detlef Müller (Chemnitz) Bernward Müller (Gera) Klaus-Peter Willsch Dieter Grasedieck Michael Müller (Düsseldorf) Dr. Gerd Müller Elisabeth Winkelmeier- Monika Griefahn Franz Müntefering Hildegard Müller Becker Kerstin Griese Dr. Rolf Mützenich (B) Bernd Neumann (Bremen) Matthias Wissmann Gabriele Groneberg Andrea Nahles (D) Michaela Noll Dagmar Wöhrl Achim Großmann Thomas Oppermann Franz Obermeier Wolfgang Zöller Wolfgang Grotthaus Holger Ortel Eduard Oswald Wolfgang Gunkel Heinz Paula Henning Otte SPD Hans-Joachim Hacker Johannes Pflug Rita Pawelski Bettina Hagedorn Joachim Poß Dr. Peter Paziorek Dr. Lale Akgün Klaus Hagemann Christoph Pries Ulrich Petzold Gregor Amann Alfred Hartenbach Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Joachim Pfeiffer Gerd Andres Michael Hartmann Florian Pronold Sibylle Pfeiffer Niels Annen (Wackernheim) Dr. Sascha Raabe Ronald Pofalla Ingrid Arndt-Brauer Nina Hauer Mechthild Rawert Daniela Raab Rainer Arnold Hubertus Heil Steffen Reiche (Cottbus) Thomas Rachel Ernst Bahr (Neuruppin) Reinhold Hemker Maik Reichel Hans Raidel Dr. Hans- Peter Bartels Rolf Hempelmann Gerold Reichenbach Dr. Peter Ramsauer Klaus Barthel Dr. Barbara Hendricks Dr. Carola Reimann Eckhardt Rehberg Sören Bartol Gustav Herzog Christel Riemann- Klaus Riegert Sabine Bätzing Petra Heß Hanewinckel Dr. Heinz Riesenhuber Dirk Becker Gabriele Hiller-Ohm Walter Riester Franz Romer Uwe Beckmeyer Petra Hinz (Essen) Sönke Rix Johannes Röring Klaus Uwe Benneter Gerd Höfer Rene Röspel Dr. Norbert Röttgen Dr. Axel Berg Iris Hoffmann (Wismar) Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Christian Ruck Ute Berg Frank Hofmann (Volkach) Karin Roth (Esslingen) Albert Rupprecht (Weiden) Petra Bierwirth Eike Hovermann Michael Roth (Heringen) Peter Rzepka Lothar Binding (Heidelberg) Klaas Hübner Ortwin Runde Anita Schäfer (Saalstadt) Volker Blumentritt Christel Humme Anton Schaaf Hermann-Josef Scharf Gerd Bollmann Brunhilde Irber Axel Schäfer (Bochum) Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Gerhard Botz Johannes Jung (Karlsruhe) Bernd Scheelen Hartmut Schauerte Klaus Brandner Josip Juratovic Dr. Hermann Scheer Dr. Annette Schavan Willi Brase Johannes Kahrs Marianne Schieder Dr. Andreas Scheuer Bernhard Brinkmann Ulrich Kasparick Otto Schily Karl Schiewerling (Hildesheim) Dr. h.c. Susanne Kastner Silvia Schmidt (Eisleben) Norbert Schindler Edelgard Bulmahn Ulrich Kelber Renate Schmidt (Nürnberg) Georg Schirmbeck Marco Bülow Christian Kleiminger Dr. Frank Schmidt 4044 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Heinz Schmitt (Landau) Dr. Thea Dückert FDP Dr. Martina Bunge (C) Carsten Schneider (Erfurt) Hans Josef Fell Sevim Dagdelen Jens Ackermann Dr. Diether Dehm Olaf Scholz Kai Gehring Dr. Karl Addicks Ottmar Schreiner Anja Hajduk Christian Ahrendt Dr. Dagmar Enkelmann Reinhard Schultz Britta Haßelmann Daniel Bahr (Münster) Klaus Ernst (Everswinkel) Winfried Hermann Uwe Barth Wolfgang Gehrcke Swen Schulz (Spandau) Peter Hettlich Rainer Brüderle Diana Golze Ewald Schurer Priska Hinz (Herborn) Angelika Brunkhorst Dr. Gregor Gysi Frank Schwabe Ulrike Höfken Ernst Burgbacher Heike Hänsel Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Anton Hofreiter Patrick Döring Lutz Heilmann Dr. Martin Schwanholz Bärbel Höhn Mechthild Dyckmans Cornelia Hirsch Rolf Schwanitz Thilo Hoppe Jörg van Essen Inge Höger-Neuling Rita Schwarzelühr-Sutter Ute Koczy Ulrike Flach Ulla Jelpke Wolfgang Spanier Sylvia Kotting-Uhl Otto Fricke Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Margrit Spielmann Fritz Kuhn Paul K. Friedhoff Dr. Hakki Keskin Jörg-Otto Spiller Renate Künast Horst Friedrich (Bayreuth) Monika Knoche Dr. Ditmar Staffelt Undine Kurth (Quedlinburg) Dr. Edmund Peter Geisen Jan Korte Andreas Steppuhn Katrin Kunert Markus Kurth Dr. Wolfgang Gerhardt Ludwig Stiegler Oskar Lafontaine Monika Lazar Hans-Michael Goldmann Rolf Stöckel Michael Leutert Dr. Reinhard Loske Miriam Gruß Christoph Strässer Ulla Lötzer Anna Lührmann Joachim Günther (Plauen) Dr. Peter Struck Heinz-Peter Haustein Ulrich Maurer Jerzy Montag Joachim Stünker Birgit Homburger Kornelia Möller Kerstin Müller (Köln) Dr. Rainer Tabillion Dr. Werner Hoyer Wolfgang Neskovic Jörg Tauss Winfried Nachtwei Michael Kauch Dr. Norman Paech Jella Teuchner Brigitte Pothmer Dr. Heinrich L. Kolb Bodo Ramelow Dr. h.c. Wolfgang Thierse Claudia Roth (Augsburg) Hellmut Königshaus Paul Schäfer (Köln) Jörn Thießen Krista Sager Gudrun Kopp Volker Schneider Franz Thönnes Elisabeth Scharfenberg Jürgen Koppelin (Saarbrücken) Hans-Jürgen Uhl Christine Scheel Heinz Lanfermann Dr. Herbert Schui Rüdiger Veit Irmingard Schewe-Gerigk Sibylle Laurischk Frank Spieth Simone Violka Dr. Gerhard Schick Harald Leibrecht Dr. Axel Troost Jörg Vogelsänger Rainder Steenblock Ina Lenke Alexander Ulrich Dr. Marlies Volkmer Silke Stokar von Neuforn Sabine Leutheusser- Sabine Zimmermann (B) Hedi Wegener Hans-Christian Ströbele Schnarrenberger (D) Andreas Weigel Horst Meierhofer Dr. Harald Terpe fraktionslos Petra Weis Jürgen Trittin Patrick Meinhardt Gunter Weißgerber Wolfgang Wieland Burkhardt Müller-Sönksen Gert Winkelmeier Gert Weisskirchen Josef Philip Winkler Hans-Joachim Otto (Wiesloch) Margareta Wolf (Frankfurt) (Frankfurt) Dr. Rainer Wend Detlef Parr Enthalten Lydia Westrich Cornelia Pieper Dr. Margrit Wetzel Nein Gisela Piltz CDU/CSU Andrea Wicklein Jörg Rohde Heidemarie Wieczorek-Zeul Frank Schäffler Ernst-Reinhard Beck CDU/CSU Engelbert Wistuba Dr. Konrad Schily (Reutlingen) Dr. Wolfgang Wodarg Veronika Bellmann Marina Schuster Eberhard Gienger Waltraud Wollf Carl-Eduard von Bismarck Dr. Hermann Otto Solms Karl-Georg Wellmann (Wolmirstedt) Thomas Dörflinger Dr. Max Stadler Heidi Wright Erich G. Fritz Carl-Ludwig Thiele DIE LINKE Uta Zapf Hans-Joachim Fuchtel Florian Toncar Roland Claus Manfred Zöllmer Christoph Waitz Dr. Peter Gauweiler Werner Dreibus Brigitte Zypries Dr. Guido Westerwelle Norbert Geis Hans-Kurt Hill Dr. Claudia Winterstein Dr. Reinhard Göhner Dr. Barbara Höll Dr. Volker Wissing BÜNDNIS 90/DIE Manfred Kolbe Katja Kipping Hartfrid Wolff (Rems-Murr) GRÜNEN Dr. Klaus W. Lippold Dr. Gesine Lötzsch Martin Zeil Kerstin Andreae Friedrich Merz Dorothee Menzner Volker Beck (Köln) Henry Nitzsche Kersten Naumann DIE LINKE Cornelia Behm Dr. Georg Nüßlein Petra Pau Birgitt Bender Beatrix Philipp Hüseyin-Kenan Aydin Elke Reinke Matthias Berninger Peter Rauen Karin Binder Dr. Ilja Seifert Grietje Bettin Kurt J. Rossmanith Dr. Lothar Bisky Dr. Petra Sitte Alexander Bonde Christian Freiherr von Stetten Heidrun Bluhm Dr. Kirsten Tackmann Ekin Deligöz Willi Zylajew Eva Bulling-Schröter Jörn Wunderlich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4045

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. möglicherweise falsch und gefährdet das Unternehmen (C) bis zur Existenzzerstörung. Dazu sagen Sie: Daran sind Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege wir aber nicht schuld. Sie bringen hier ein eigenartiges Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion. Gesetz auf den Weg. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Hans-Michael Goldmann (FDP): Was die Qualität angeht, weist es aus meiner Sicht wirk- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und lich dramatische Mängel auf. Kollegen! Auch für die FDP ist das Thema „Verbraucher- bildung, Verbraucherinformation und Verbraucher- Wie wenig Vertrauen Sie im Grunde genommen zu schutz“ äußerst wichtig. Wir versuchen mit aller Konse- Ihrem eigenen Gesetz haben, wird wiederum in Ihrem quenz und mit aller Deutlichkeit, die Balance zwischen Entschließungsantrag deutlich. Dort schreiben Sie den Rechten der Verbraucher und den Rechten der Un- – das ist der letzte Punkt –, dass Sie den ersten Erfah- ternehmen – wir nennen sie Betriebsgeheimnisse oder rungsbericht zwei Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes Geschäftsgeheimnisse – herzustellen. Wir müssen diese vorlegen und alle gesetzlichen Informationsrechte mit- Sache also ausgewogen gestalten. Das ist unser Kernziel, einander abstimmen und systematisieren wollen. wenn wir uns um Verbraucherschutz kümmern. (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Das ist ja klug!) In dieser Frage – das ist die erste Kritik – ist dieses Das ist ja wohl ein Witz. Das heißt, das jetzt vorliegende Gesetz unklar. Dieses Gesetz schützt nicht systematisch Gesetz ist unsystematisch genug die Betriebs- und die Geschäftsgeheimnisse von Unternehmen, vor allem nicht von kleinen Unterneh- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) men. und mit vorhandenen gesetzlichen Bestimmungen, zum (Beifall bei der FDP) Beispiel dem Informationsfreiheitsgesetz, nicht in Ein- Das ist Ihnen auch klar; schließlich haben Sie in diesem klang zu bringen. Das ist eine schallende Ohrfeige für Gesetz eine ganze Litanei von Ausnahmetatbeständen Sie, die Sie diesen Gesetzentwurf heute verabschieden aufgeführt. Um ein bisschen mehr Klarheit in diese An- wollen. Ich halte das wirklich für dramatisch. gelegenheit zu bringen, müssen Sie einen Entschlie- (Beifall bei der FDP) ßungsantrag zu Ihrem eigenen Gesetzentwurf einbrin- gen, der auf der ersten Seite zwar relativ breit, aber Ihr Gesetz ist insgesamt halbherzig angelegt. Liebe unklar darlegt, wie Sie dieses Gesetz ausgestaltet wissen Kollegin Heinen, Sie haben schön gesagt, welche (B) wollen. Zuständigkeiten mit diesem Gesetz verbunden sind. (D) Aber wenn dieses Gesetz so toll ist, warum regelt es Damit verbunden ist das Hauptproblem dieses Geset- dann eigentlich nicht die Auskunft über Lebensversiche- zes. Dieses Gesetz verlagert die besondere Informations- rungen? Warum regelt es nicht die Auskunftspflicht bei verpflichtung gegenüber dem Verbraucher zu Recht in Kapitalgeschäften? Warum beschränken Sie sich im die Behörden. Behörden sind die Bindeglieder zwischen Kern auf Futtermittel, Lebensmittel und die dazugehöri- den Unternehmen und den Verbrauchern. Sie sind be- gen Bedarfsgegenstände? Wir wollen das mit dem Spiel- stückt mit Fachfrauen und Fachmännern. Sie sammeln zeug nicht übertreiben. Schauen Sie doch einmal ins alte diese Informationen; dafür haben sie einen staatlichen Lebensmittelgesetz! Da ist der Begriff des Bedarfsge- Auftrag. Das machen Lebensmittelkontrolleure in den genstandes sehr klar definiert. Mit dem, was Sie hier tun, Betrieben. Sie gehen in die Betriebe und informieren sind Sie von dem, was dort für den Verbraucher abge- sich darüber, ob sie sich an die Standards halten, die so- deckt wird, ein ganzes Stück weit entfernt. zusagen Grundlage ihres wirtschaftlichen Tuns sind. (Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) Ihr Gesetz bleibt in Bezug auf unsere zentralen Ver- braucherrechte, zum Beispiel Fahrgastrechte und Schutz – Genauso ist es, Herr Kelber. – Sie sammeln diese In- junger Menschen, die sich durch die Benutzung von formationen und sie stellen sie den Verbrauchern zur Handys überschulden, weit hinter den Erwartungen der Verfügung. Wenn Sie mir das nicht glauben, dann kön- Verbraucher zurück. Deswegen wird Ihr Gesetz von den nen wir uns darüber nachher einmal unterhalten. Ich Verbraucherverbänden auch scharf kritisiert. habe das jahrelang gemacht. Ich weiß in etwa, wovon ich spreche. (Beifall bei der FDP – Julia Klöckner [CDU/CSU]: Die FDP als Anwalt des Verbrauchers!) (Beifall bei der FDP) – Ja, natürlich! Entschuldigen Sie, liebe Frau Klöckner, Wie wenig Vertrauen Sie im Grunde genommen in die FDP ist eine Bürgerrechtspartei. Deswegen ist sie na- diese behördliche Struktur – sie ist gleichzeitig das türlich Anwalt der Verbraucher. Sie ist die Partei, die Kernelement Ihres Verbraucherinformationsgesetzes – ganz klar die Interessenlagen von Betrieben vertritt, ge- setzen, das kann man auch daran sehen, dass diese rade von kleinen Betrieben – die nicht immer alles so gut Behörden keine Verpflichtung zur Haftung für die Aus- erfüllen können wie die großen –, damit diese Betriebe kunft, die sie geben, haben. Das ist ein dolles Ding: Da und ihre Arbeitsplätze geschützt werden. wendet sich ein Verbraucher an die Behörde, die Be- hörde gibt ihm eine Information, diese Information ist (Beifall bei der FDP) 4046 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Hans-Michael Goldmann (A) Lassen Sie mich noch etwas zu dem Gesetz von Das Gesetz sieht deutliche Verbesserungen für die (C) Bündnis 90/Die Grünen sagen, über das wir auch disku- Verbraucherinnen und Verbraucher vor und verleiht ih- tieren. Sie wollen einen Informationsanspruch gegen- ren Interessen mehr Gewicht. Die Behörden werden über Unternehmen begründen. Das lehnen wir ent- verpflichtet, die Öffentlichkeit bei Verstößen gegen das schieden ab. Es kann nicht den Anspruch eines Bürgers geltende Lebensmittelrecht zu informieren. an ein Unternehmen geben, zum Beispiel zu wissen, wie ein Malermeister – Kollege Zöllmer hat es gestern im (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist jetzt Ausschuss eindrucksvoll belegt – seine Preise kalkuliert. schon möglich!) Das ist schlicht und ergreifend eine Wettbewerbsverzer- Das wurde auf Druck der SPD – das möchte ich aus- rung. Der Kunde muss sich auf Folgendes verlassen: drücklich betonen – mit einer Verschärfung der im Le- Wenn er ein Angebot von einem Betrieb oder Unterneh- bens- und Futtermittelgesetzbuch ursprünglich vorgese- men bekommt, dann ist die Erarbeitung dieses Angebots henen Kannregelung erreicht; hier gilt jetzt eine sachgerecht. Dafür gibt es Fachleute in den Unterneh- Sollregelung. Dabei muss zwar eine Abwägung men. Die andere Funktion haben zu Recht die Behörden zu übernehmen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aha! Wie jetzt!) Wir sind strikt gegen zu viele Staatseingriffe. Wir leh- nen das grüne Gesetz entschieden ab. Es widerspricht al- zwischen den Belangen der Verbraucher und der betrof- len Grundsätzen von Eigenverantwortung und Eigen- fenen Unternehmen stattfinden; es ist aber in der Regel ständigkeit in Verbraucherfragen. Dieses Gesetz, das Sie davon auszugehen, dass das Interesse der Öffentlichkeit vorgelegt haben, geht wirklich an der Sache vorbei. überwiegt. Nur in begründeten Ausnahmefällen kann von der Information der Öffentlichkeit abgesehen wer- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Manfred den. Zöllmer [SPD]) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist jetzt Das vorliegende Gesetz der Koalition ist nach Auffas- schon so!) sung der FDP ein Namensblender. Es ist kein Gesetz, das in entscheidendem Maße Verbraucherinformationen Ich will verdeutlichen, welche Vorteile die neue Re- transportiert. Es ist nach unserer Auffassung eine Mo- gelung bringt. Die Behörden sollen die Öffentlichkeit gelpackung. Wenn Sie sich die Mühe machen würden, zum Beispiel informieren, wenn hinreichende Anhalts- sich den Entschließungsantrag der FDP zu Gemüte zu punkte für eine gesundheitliche Gefährdung vorliegen, führen und die Inhalte in die einzelnen Bausteine des die aus bestimmten Gründen nicht behoben werden (B) Gesetzes zu integrieren, könnten wir längerfristig zu ei- kann. Das gilt zum Beispiel für Acrylamid. Der Entste- (D) nem guten Gesetz kommen. Das von Ihnen heute vorlie- hung von Acrylamid beim Braten, Backen und Frittieren gende Gesetz findet unsere Zustimmung nicht. Wir müs- von Kartoffeln und Getreideprodukten kann nicht ver- sen es ablehnen. hindert werden. Aber durch niedrigere Temperaturen und kurze Garzeiten kann die Acrylamidbelastung redu- (Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert ziert werden. Deshalb enthalten die auf dem Markt vor- [SPD]: Damit haben wir gerechnet!) handenen Produkte ganz unterschiedliche Anteile. Da- rüber müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: informiert werden, Nächste Rednerin ist die Kollegin Elvira Drobinski- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Einverstan- Weiß, SPD-Fraktion. den! Das ist jetzt schon so! Wo ist das Pro- blem?) Elvira Drobinski-Weiß (SPD): zumal gerade Chips und Kekse, die vor allem belastet Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- sind, insbesondere von Kindern verzehrt werden. legen! Dieses neue Verbraucherinformationsgesetz, das den Verbraucherinnen und Verbrauchern zum ersten Mal Mit dem Gesetz haben wir jetzt ein wirksames Instru- einen Anspruch auf Informationen in einem eigenständi- ment in der Hand. Die Behörden können Produkte und gen Gesetz gibt, wird von einigen völlig unterschätzt. Hersteller benennen und die Verbraucher können sich Deshalb bitte ich Sie, dem, was von meinem Vorredner gegen hoch belastete Produkte entscheiden. Ich bin si- gerade ausgeführt worden ist, nicht zu folgen. Ich cher, die Hersteller werden reagieren und die Belastung möchte diese Gelegenheit nutzen, um einige Missver- reduzieren. ständnisse aufzuklären. Wenn es jetzt im Blick auf das, was Frau Kollegin Heinen schon gesagt hat, Doppelun- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das tun sie gen gibt, jetzt schon!) (Ute Kumpf [SPD]: Doppelt genäht hält Ein weiteres Beispiel ist Gammelfleisch: Die Behör- besser!) den sollen über Ekel erregende Lebensmittel informie- ren, das heißt, auch hier werden Produkt und Anbieter braucht Sie das nicht zu wundern; denn wir haben das benannt. Das Gesetz sieht übrigens ausdrücklich vor, als Koalition miteinander unter starken Geburtswehen dass solche Informationen auch über Internet erfolgen auf den Weg gebracht. können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4047

Elvira Drobinski-Weiß (A) Von besonderer Bedeutung ist, dass sich die Verbrau- Weg zum transparenten Markt. Wir werden dafür sorgen, (C) cherinnen und Verbraucher nun selbst an die Behörden dass weitere Schritte folgen. wenden können, um weitere Informationen zu bekom- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Oh!) men. Wir wollen, dass auch die Wirtschaft ihre Verantwor- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Kostet tung gegenüber den Verbraucherinnen und Verbrauchern aber!) wahrnimmt und sie informiert. Auch das möchte ich an einem Beispiel erläutern, näm- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das macht sie lich der Druckchemikalie ITX, die bei Verpackungen doch jetzt schon! Tun Sie doch nicht so!) eingesetzt wird und Anfang des Jahres mehrfach in Obst- und Gemüsesäften aus Kartonverpackungen ge- – Eben nicht. – Bei den Unternehmen liegen schließlich funden wurde. alle Daten vor, die eine bewusste Auswahl ermöglichen und eine eigenverantwortliche Marktteilnahme gewähr- Bei einigen herrschen offensichtlich Zweifel darüber, leisten. ob Verpackungen vom Verbraucherinformationsgesetz erfasst sind. Der Geltungsbereich umfasst nicht nur Le- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was denn bens- und Futtermittel, sondern auch kosmetische Mittel nun?) und Bedarfsgegenstände; diese hat Frau Heinen ja be- Wir wollen auf Basis erster Erfahrungen mit dem Ver- reits vorhin aufgezählt. Alles, was mit Lebensmitteln braucherinformationsgesetz die Aufnahme weiterer Pro- oder kosmetischen Mitteln in Berührung kommt, so zum dukte und Dienstleistungen in den Geltungsbereich er- Beispiel Verpackungen, Behältnisse und sonstige Um- reichen. hüllungen, fällt darunter. Verbraucherinnen und Verbrau- cher haben also das Recht, sich bei den Behörden über (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Beschaffenheit bzw. die Behandlung der Verpackung zu informieren, und würden dort dann erfahren, ob bei Haben Sie zugehört, Herr Goldmann? der Verpackung eines bestimmten Obstsafts ITX ver- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) wendet wurde oder nicht. Druckchemikalien gehören al- lerdings überhaupt nicht in Lebensmittel. Deshalb ver- Wie bei allen neuen Gesetzen können wir bisher nicht treten wir die Auffassung abschließend beurteilen, wie sich die Regelungen in der Praxis bewähren werden und ob alle gewünschten Ziele (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wer ist erreicht werden. Deshalb bringen wir heute auch einen „wir“?) Entschließungsantrag ein, mit dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die Erfahrungen mit dem Gesetz zu (B) – das sind wir –, dass die Behörden auch in solchen Fäl- (D) dokumentieren und auszuwerten. Damit werden wir zum len in Zukunft von sich aus die Öffentlichkeit informie- Beispiel beobachten können, ren sollten. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wir sind (Beifall bei Abgeordneten der SPD) weiter als ihr!) Als Konsequenz aus der öffentlichen Anhörung zum ob und welche Ausschlussgründe zu nicht nachvollzieh- Verbraucherinformationsgesetz vor einigen Wochen barer Informationsverweigerung führen, wie sich die bringen wir heute auch einen Änderungsantrag zum Ge- Kosten entwickeln und wie lange die Bearbeitung der setz ein, der eine Verkürzung der Bearbeitungsfrist für Auskunftsanliegen dauert. Diese Auswertung gibt uns Informationsanliegen von acht Wochen auf vier Wochen dann die Möglichkeit, bei eventuellen Fehlentwicklun- vorsieht. gen mit gesetzlichen Maßnahmen gegenzusteuern. Das (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Großartig! – ist keineswegs eine schallende Ohrfeige. Vielmehr ist es Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das Normalste von der Welt, dass man die Erfahrungen NEN]: Aber mit tausend Ausnahmeregelun- mit einem Gesetz evaluiert. gen!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist eine Außerdem wird klargestellt, dass bei Rechtsverstößen Selbstverständlichkeit!) Informationen nicht unter Berufung auf den Schutz von Mit dem Antrag werden auch die Unternehmen auf- Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen verweigert werden gefordert, eigene Initiativen zu ergreifen und Zugang zu dürfen. den bei ihnen vorhandenen Informationen zu gewähren. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber festge- Sollte sich die Wirtschaft hier nicht bewegen, werden stellt werden muss der Rechtsverstoß!) wir auf gesetzliche Maßnahmen dringen. Da nun auch aus CDU/FDP-regierten Ländern, bei- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das macht spielsweise aus Nordrhein-Westfalen und Baden- die CDU/CSU mit? Interessant!) Württemberg, Forderungen nach weiter gehenden Rege- Ich denke, wir sind mit dem Gesetz auf einem guten lungen laut geworden sind, Weg. Den werden wir weitergehen, denn – ich schließe (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) mit Johann Wolfgang von Goethe –: kann ich für die SPD sagen: Wir sind mit dabei. Für uns Alles Gute, was geschieht, setzt das Nächste in Be- ist dieses Gesetz ein wichtiger, erster Schritt auf dem wegung. 4048 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Elvira Drobinski-Weiß (A) Vielen Dank. Erstes Beispiel: Zunächst erfährt er erst einmal gar (C) nichts, denn eine aktive Informationspflicht der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Behörden gibt es nicht. Otto Normalverbraucher wird also gar nicht nachfragen, ob sein Lieblingsgetränk die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Druckerchemikalie ITX enthält, denn er ahnt ja gar Das Wort hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann, nicht, dass es die überhaupt gibt. Er bleibt im Zustand Fraktion Die Linke. der glückseligen Ahnungslosigkeit. Mit der entsprechen- (Beifall bei der LINKEN) den Information hätte er solche Verpackungen meiden können. Egal übrigens, ob ITX gesundheitsschädlich ist oder nicht: Vorbeugen ist besser als Heilen! Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Kollegen! Verehrte Gäste! Dieser Entwurf eines Ver- Goldmann [FDP]: Das haben wir gestern im braucherinformationsgesetzes ist vor allem eins: ein Do- Ausschuss gehört!) kument der politischen Mut- und Kraftlosigkeit. Zweites Beispiel: Otto Normalverbraucher hat gele- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sen, dass Obst Pestizide enthalten kann. Also fragt er neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE beim Händler nach. Er könnte wieder Pech haben, denn GRÜNEN) ein Auskunftsanspruch gegenüber Unternehmen be- steht nicht. Man kann es auch stärker formulieren: Es fehlt bei eini- gen Akteuren, nicht bei allen, der politische Wille zur Drittes Beispiel: Otto Normalverbraucher hat als ei- Sicherung der Interessen der Verbraucherinnen und Ver- nes von 300 000 Opfern eines Immobilienbetrugs durch braucher, auch gegenüber Interessen, die von Unterneh- Strukturvertriebe viel Geld verloren. Er hätte rechtzeitig mensverbänden geltend gemacht wurden. Ob damit vor dieser Gefahr gewarnt werden können. Aber Dienst- wirklich Unternehmensinteressen vertreten wurden, ist leistungen gehören nicht zum Geltungsbereich des Ver- eine spannende Diskussion. braucherinformationsgesetzes. Dass in der Protokollerklärung und im Ausschuss und Viertes Beispiel: Otto Normalverbraucher möchte er- im Entschließungsantrag wichtige Defizite des Entwurfs fahren, was an den Gerüchten dran ist, dass Honig nicht von den Einreichern selbst benannt werden, zeigt, dass gentechnikfrei ist. Aber er ist ALG-II-Empfänger. Die sie wissen, dass erstens die dringend benötigte Tür zwar Auskunft, dass kostendeckende Gebühren anfallen, einen kleinen Spalt weit geöffnet wird, dahinter aber nur lässt ihn unverrichteter Dinge wieder gehen. eine Wand ist, und dass zweitens eine Chance vertan (B) (D) wurde, tief erschüttertes Verbrauchervertrauen zu- Der Zugang zu Informationen ist ein demokratisches rückzugewinnen. Grundrecht und sollte uns als Gesetzgeber ein hohes Gut sein. Es mag ja sein, dass wir heute, objektiv gesehen, die sichersten Lebensmittel aller Zeiten haben. Nur, die (Beifall bei der LINKEN) Menschen bewerten das angesichts der Skandale der ver- Diesem Anspruch wird der Koalitionsentwurf nicht ge- gangenen Jahre subjektiv anders. Sie sind misstrauisch recht. geworden. Was haben Gammel- und Wildfleischskan- dale, Druckerfarben in Getränken, Pestizide in Obst und Es geht darüber hinaus darum, dass die Rechtsord- Gemüse gemeinsam? nung Markttransparenz – sie ist heute wichtiger denn je – herstellen muss, wie das Bundesverfassungsgericht (Zuruf von Hans-Michael Goldmann [FDP]) 2002 im Zusammenhang mit dem Glykolskandal ur- Die Informationen darüber gelangten viel zu spät, zu zö- teilte. Die immer kürzeren Abstände zwischen den Skan- gerlich und unvollständig an die Öffentlichkeit. Erst da- dalen sind ja kein Zufall. mit wurden sie zum Skandal! (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie glauben (Beifall bei der LINKEN) ja selber nicht, was Sie sagen!) Die Gegenstrategie wäre ebenso logisch wie einfach: ein Die Bedingungen des globalisierten Marktes sind sehr Verbraucherinformationsgesetz, das drei wesentliche hart. Sie fördern Strukturen skrupelloser Profiteure, de- Kriterien erfüllt. Der Zugang zu Informationen bei Be- ren Leiharbeiter und Billigstlöhner sich kaum noch hörden und Unternehmen muss erstens möglichst voll- trauen, Verstöße und Schlamperei öffentlich zu machen. ständig, zweitens möglichst schnell und drittens er- Was könnte also mehr im Unternehmerinteresse liegen schwinglich sein. als ein Gesetz, das sicherstellt, dass informierte Verbrau- cherinnen und Verbraucher dafür sorgen, dass Abzocker (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie wissen keine Chance haben? doch, dass das nicht geht!) (Beifall bei der LINKEN) Nur so können sich Verbraucherinnen und Verbraucher auf gleicher Augenhöhe mit den Unternehmen am Markt Im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen bewegen und mündige Kaufentscheidungen fällen. Was heißt es: „Verbraucherpolitik ist Wirtschaftspolitik von aber bedeutet der vorliegende Gesetzentwurf für Otto der Nachfrageseite.“ Richtig! Aber die Branche hat die Normalverbraucher? Chance verpasst, ein Gesetz mit zu gestalten, das ihren Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4049

Dr. Kirsten Tackmann (A) Willen zu Transparenz, Offenheit und Partnerschaft mit Aber selbst im Bereich des Lebensmittelrechts gibt (C) den Verbraucherinnen und Verbrauchern dokumentiert. es erhebliche Probleme; ich möchte das hier vertiefen. Die Mehrfachbelastung mit Pestiziden ist schon erwähnt Ich bedauere sehr, dass die vielen kritischen Hinweise worden. Gentechnisch veränderte tierische Lebensmittel – in der Expertenanhörung von Verbraucherverbänden und kein Informationsanspruch. aus dem Parlament nicht zu einer Qualifikation der Vor- lage geführt haben. Dieser Gesetzentwurf darf nicht das (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt letzte Wort sein! In unserem Entschließungsantrag ist doch gar nicht, was Sie da sagen! – Julia nachzulesen, was zu ändern ist. Klöckner [CDU/CSU]: Sie müssen den Ge- setzentwurf mal richtig lesen! – Weiterer Zuruf Danke. von der CDU/CSU: Da muss doch die Kenn- (Beifall bei der LINKEN) zeichnung her!) – In Bezug auf die Ergebnisse der Lebensmittelüberwa- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: chungsbehörden zu gentechnisch veränderten tierischen Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulrike Höfken von Lebensmittelprodukten besteht kein Informationsan- der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. spruch, da es bislang keine lebensmittelrechtliche Kenn- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Sie haben heute zeichnungsregelung gibt. gar keine Utensilien dabei! – Hans-Michael (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Goldmann [FDP]: Du bist so nackig heute!) SES 90/ DIE GRÜNEN – Hans-Michael Gold- mann [FDP]: Du weißt doch, dass das bei tieri- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schen Lebensmitteln nicht nachweisbar ist!) Ihr wisst schon, warum ihr so ein schlechtes Gewis- sen habt, nehme ich an. Namentliche Nennung eines Betriebes, der salmonellen- kontaminiertes Putenfleisch nach Dänemark exportiert (Heiterkeit) hatte – nach Auskunft des BVL kein Informationsan- Der Unmut in der Bevölkerung über die große Koali- spruch. tion wächst deutlich. Die Mehrwertsteuererhöhung geht (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch zulasten der kleinen Leute. Der wirtschaftliche Verbrau- schlicht falsch! Das stimmt doch überhaupt cherschutz ist fast überhaupt nicht mehr zu spüren. Das nicht!) Verbraucherinformationsgesetz bleibt weit hinter den Zielen zurück, die sich Herr Seehofer selber gesetzt hat, Ich habe eine Liste von etwa zehn Seiten mit solchen (B) Beispielen, alles Ausnahmebereiche. Dazu gehört der (D) (Jürgen Koppelin [FDP]: Er hat doch über- gesamte Bereich, der über das Lebensmittel-, Bedarfsge- haupt keine!) genstände- und Futtermittelrecht hinausgeht. Der Name und stellt die schwarzen Schafe geradezu unter Arten- ist, wie Herr Goldmann schon richtig gesagt hat, ein Eti- schutz. Die Definition von „Betriebsgeheimnis“ wird so kettenschwindel. gedehnt, dass ein Großteil der Verbraucherinformationen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – zum Geheimnisverrat wird, und zwar unter dem Begriff Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Schön, „sonstige wettbewerbsrelevante Informationen“. dass Sie sich mit der FDP verbünden!) Die Proteste sind dementsprechend zahlreich. Ich – Das tue ich aber nur sehr selten. habe das, obwohl ich schon viele Jahre im Parlament bin, lange nicht so erlebt. Alle Verbraucherverbände, (Ulrich Kelber [SPD]: Ja, nur wenn es Ihnen Umweltverbände und Journalistenverbände protestieren. passt!) (Peter Bleser [CDU/CSU]: An die Arbeits- – So ist das immer. plätze denkt kein Mensch!) (Ulrich Kelber [SPD]: Bei Ihnen schon!) Tausende von E-Mails werden geschrieben, von denen auch ich viele beantwortet habe. Ich habe nicht die glei- Die Datenschutz- und Informationsfreiheitsbeauftrag- che Erfahrung gemacht wie Sie, Frau Heinen; das müs- ten von Bund und Ländern haben auch kritisiert, dass es sen wir noch einmal klären. Ebenso zeigen die Postkar- keinen Rechtsanspruch auf Informationszugang gegen- tenaktionen, von denen Sie sich im Ausschuss ein Bild über Unternehmen gibt, machen konnten, dass es hier ein Problem gibt. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das habt ihr doch Auch die Datenschutz- und Informationsfreiheitsbe- auch in eurem Gesetzentwurf nicht drin ge- auftragten von Bund und Ländern haben Kritik angemel- habt!) det. Sie fordern, ebenso wie wir, den Anwendungsbe- ebenso die Ausnahmeregelungen. Sie haben es mit die- reich zu erweitern – Frau Tackmann hat schon eine sen Ausnahmeregelungen fertig gebracht, aus der Soll- ganze Reihe von Beispielen genannt –, nicht nur auf das bestimmung, die Sie in den Gesetzentwurf hineinge- LFBG bezogen, sondern weit darüber hinaus. bracht haben, letztendlich eine Kannbestimmung zu (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das habt ihr früher machen. Die Fristen haben Sie zwar verkürzt; aber auch doch auch nicht gemacht!) da gibt es so viele Freiräume für Unternehmen in Bezug 4050 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Ulrike Höfken (A) auf Einsprüche, dass sich die Beantwortung über Monate Julia Klöckner (CDU/CSU): (C) und Jahre verzögern kann. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Herr Minister Seehofer! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hätten Die Regelung bei den Gebühren halte ich für einen es uns auch einfach machen können. wirklichen Eklat. Dieser Entwurf sieht vor, kostende- ckende Gebühren und Auslagen zu erheben. Bei aller (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das habt ihr Liebe: Welcher Verbraucher oder auch Journalist soll doch!) sich daran wagen, wenn in Bezug auf das, was auf ihn an Forderungen zukommt, eine solche Intransparenz Wir hätten es uns so einfach machen können wie die herrscht, und wer kann das überhaupt leisten? Das ist ehemalige Verbraucherministerin von den Grünen, Re- meines Erachtens wirklich nicht zu machen. nate Künast. Sie hat ein Eckpunktepapier in Anleh- nung an einen Greenpeace-Entwurf von 2001 vorgelegt. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Sie haben das In diesem Papier hat sie das Blaue vom Himmel verspro- Gesetz leider nicht gelesen und die Begrün- chen. Was ist aber von einem Eckpunktepapier zu halten, dung auch nicht!) wenn es in der Schublade liegt und vielleicht auf Presse- konferenzen erwähnt wird, aber nicht in dem eigenen Unsere Proteste hatten Erfolg. Ich weiß auch, dass die Gesetzentwurf Widerhall findet? Abgeordneten im Verbraucherausschuss sich fast alle sehr bemüht haben, hier Verbesserungen zu erwirken; Wenn man ein Eckpunktepapier entwirft, dann sollte das erkenne ich an. der Inhalt – ich gehe jedenfalls davon aus – in den eige- nen Gesetzentwurf Eingang finden. Renate Künast hat Aber klar ist auch: Was Sie in den Entschließungsan- jedoch sehr früh darauf verzichtet. trag geschrieben haben, das hätten Sie ins Gesetz schrei- ben sollen. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte unseren Gesetzentwurf dem Bundesrat NEN]: Da sind ja schon Ansätze, zarte Pflänz- ans Herz legen. chen, im Vermittlungsausschuss gescheitert!) (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Den hätten Sie Sie hat wesentliche Punkte sozusagen vom Tisch ge- hier erst einmal einbringen sollen!) räumt: Die Unternehmen müssen keine Auskunft geben; Dienstleistungen sind nicht enthalten. Renate Künast hat – Auf diesen interessanten Zuruf von Julia Klöckner mit ihr Eckpunktepapier am Fastnachtdienstag vorgelegt. der Kritik an Rot-Grün kann ich nur sagen: Es ist toll, Das hatte schon eine gewisse humoristische Pointe. wenn diejenigen, die mit ihrer Mehrheit jeden Fortschritt Denn es wurde nie wieder aus der Schublade herausge- blockiert haben, eine solche Kritik äußern. holt. (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Im März 2002 hat sie sich zusammen mit Herrn Cle- Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist doch bei ment darauf geeinigt, den Anwendungsbereich des Ge- Ihnen damals im Kabinett gescheitert!) setzes auf Lebensmittel und Bedarfsgegenstände zu be- schränken. Ich verweise auf unseren Gesetzentwurf. Alle Ver- braucherinnen und Verbraucher sollen Zugang zu Infor- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mationen bei Behörden und Unternehmen über alle Pro- NEN]: Das sagen die Blockierer!) dukte und Dienstleistungen bekommen. Die Behörden sollen das Recht erhalten, von sich aus die Verbraucher Frau Höfken, Sie fordern hier etwas ein, was Ihre Minis- aktiv über verbraucherrelevante Sachverhalte zu infor- terin noch nicht einmal im Kabinett durchsetzen konnte. mieren. Es sollen Datenbanken eingerichtet werden und Wie soll denn der Bundesrat etwas blockieren, was noch ein Bundesbeauftragter soll Streitfälle schlichten. nicht einmal im Kabinett Zustimmung fand? Das ist Heuchelei. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Ach du lieber Gott!) (Beifall bei der CDU/CSU) Punkte wie Ausschlussverfahren, Antragsgründe und Auffällig ist auch Ihr Populismus. Als Sie damals in Schutz von privaten und öffentlichen Interessen sollen der Regierung etwas unternehmen konnten, waren Sie verbraucherfreundlich geregelt werden. Dazu gehören nicht dazu in der Lage. Jetzt wollen Sie es, weil Sie ge- insbesondere auch Regelungen hinsichtlich der Gebüh- nau wissen, dass Sie es eh nicht durchsetzen können. ren. Wir werden dieses Thema weiterhin auf die Tages- Wir machen eine verantwortungsvolle Politik. Uns ordnung setzen. geht es darum, etwas Machbares auf den Weg zu brin- Vielen Dank. gen. Letztlich geht es uns auch darum, dass der Verbrau- cher einen Mehrwert hat. Was hat der Verbraucher von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einem Wunschzettel, der irgendwo in einem Ministerium in der Schublade schlummert und nur für Pressekonfe- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: renzen und PR-Gags Verwendung findet, aber letztlich Nächste Rednerin ist die Kollegin Julia Klöckner, nicht in ein Gesetz Eingang findet? Während die Oppo- CDU/CSU-Fraktion. sition lieber mit dem Kopf durch die Wand geht, nehmen wir einfach die Tür und machen ein praxistaugliches Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) setz. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4051

Julia Klöckner (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C) neten der SPD und der FDP) der SPD – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber etwas anderes als Unser Gesetz ist besser als der ursprüngliche Entwurf, „sonstige wettbewerbsrelevante Informatio- den Renate Künast im Parlament einbringen wollte. Wir nen“! Das will ich auch einmal sagen!) können festhalten, dass aus der Kannvorschrift – Renate Künast hat damals die Vorschrift entschärft und daraus Noch eines ist wichtig zu erwähnen: Auch ungünstige eine Kannvorschrift gemacht – von uns eine Sollvor- Untersuchungsergebnisse wie zum Beispiel Qualitätsun- schrift gemacht wurde. Jetzt können die Namen all derer terschiede oder Qualitätsmängel sind keine Geschäftsge- genannt werden, die versuchen, die Verbraucher zu täu- heimnisse. Jüngst hat unser Wirtschaftsminister, Michael schen. Dies kann auch dann geschehen, wenn die Pro- Glos, die Liste solcher Produkte vorgelegt, bei denen es dukte schon längst verzehrt worden sind, Stichwort zu Unterfüllungen kommt. Fast 10 Prozent der entspre- Gammelfleisch. Das ist ein großer Fortschritt in Rich- chenden Produkte und Verpackungen zeigen Unterfül- tung mehr Verbraucherinformation. Dies bedeutet auch lungen. Jetzt wird es möglich sein, dass sich ein Verbrau- mehr Abschreckung. Damit bewirken wir, dass die cher darüber informieren kann, wer versucht, ihn übers schwarzen Schafe eine ganze Branche nicht weiterhin in Ohr zu hauen. Ein mündiger Verbraucher wird entschei- Misskredit bringen. den können, welches Produkt er wählt und wie viel Geld er wofür ausgibt. Dafür machen wir den Weg frei. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Noch eines, Frau Höfken: Beim Informationsfrei- heitsgesetz konnten Sie damals allein zeigen – denn das Im Vergleich zum vormaligen Entwurf – ich möchte war ein Initiativgesetz vor allem der Grünen –, was Sie das hier klarstellen – haben wir noch etwas anderes er- können und wollen. Auch in diesem Informationsfrei- reicht: Die Staatsanwaltschaft ist verpflichtet, die Le- heitsgesetz ging es um Betriebsgeheimnisse. In diesem bensmittelkontrolleure zu informieren. Bis dato war es Gesetz, das Sie übrigens ohne Konsultationen mit den möglich, dass die Staatsanwaltschaft ermittelt hat, ohne Bundesländern durchbringen konnten, steht, dass „Zu- dass die Lebensmittelbehörden Informationen bekamen. gang zu Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen nur ge- Auch aufgrund des Zehnpunkteplans, den Herr Seehofer währt werden darf, soweit der Betroffene eingewilligt (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nach seiner hat“. Das ist die Politik der Grünen. Jetzt fordern Sie et- speziellen bayerischen Erfahrung!) was, was Sie damals hätten tun können. Ich muss Ihnen sagen: Wir sind sehr viel weiter. in einer sehr schnellen Reaktion auf den Gammel- fleischskandal vorgelegt hat, gibt es nun eine Verbesse- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: An der (B) rung, und sie steht im Gesetz. Stelle doch wohl nicht!) (D) Dann haben wir eine Fristverkürzung erreicht. Sie Dann komme ich auf den Bereich der Chemikalien sprachen im Hinblick auf die Beantwortung von Ein- zu sprechen. Sie erwähnen immer gerne, dass zum Bei- sprüchen von Jahren. Ihre Ministerin wollte damals ei- spiel ITX in Kartons nicht erfasst werden würde. Was nen Zeitaufschub von mindestens zwei Monaten. Wir Sie hier sagen, wird auch durch ständiges Wiederholen haben dies auf einen Monat verkürzt. nicht wahrer. Dann haben wir die Einschränkung des Geheimnis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schutzes bei Rechtsverstößen festgelegt. Richtig ist, dass diese Chemikalie kein Erzeugnis im (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sinne des LFGB ist. Aber der Begriff „Beschaffenheit“ NEN]: Soll das heißen, dass die SPD das alles – das können Sie in der Begründung des Verbraucherin- blockiert hat?) formationsgesetzes nachlesen; die Juristen wissen das – umfasst die gesamte stoffliche Zusammensetzung von Sie sollten eigentlich wissen, was Ihre Ministerin, Frau Lebensmitteln. Sehr wohl bekommen Sie darüber Aus- Künast – Sie können es nachlesen; ich habe das Zitat kunft, übrigens auch über Pestizidbelastungen und mitgebracht –, zu den Betriebsgeheimnissen gesagt hat. Höchstgrenzen. In dem von ihr formulierten Kabinettsentwurf hieß es: „… soweit durch die begehrten Informationen Betriebs- Dann möchte ich zum Kollegen Goldmann sagen: oder Geschäftsgeheimnisse oder wettbewerbsrelevante Wir können gerne den Versuch starten – dann stellen Sie Informationen, die ihrem Wesen nach Betriebsgeheim- diesen Antrag –, alle Gesetzentwürfe, die sich in diesem nissen gleichkommen, offenbart würden“, gebe es keine Zusammenhang irgendwo im Gesetzgebungsverfahren Auskunft. Das stand im Entwurf von Frau Künast, der des Bundestages befinden, in ein Gesetz zu packen. Viel Ministerin der Grünen. Glück bei diesem Engagement! Wir sitzen an einem Ver- sicherungsvertragsgesetz; wir sitzen an der Regulierung (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja genau! der Fahrgastrechte; wir sitzen am Telekommunikations- Das ist richtig!) gesetz. Wenn Sie all das in ein Gesetz packen wollen, Wir gehen einen Schritt weiter und sagen: Bei Rechts- dann fangen Sie an! verstößen soll es nicht möglich sein, von einem Be- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ist doch gar triebs- und Geschäftsgeheimnis auszugehen. Das ist Ver- kein Problem!) braucherschutz. Das hilft den Verbraucherinnen und den Verbrauchern und nicht der PR der Opposition. Wir sitzen daran; dies steht im Koalitionsvertrag. 4052 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Julia Klöckner (A) Sie kritisieren, dass über all diese Bereiche im VIG (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Jawohl! (C) keine Auskunft gegeben wird. Das macht aber Sinn. Es Dafür haben sie einen Kopf!) ist ein schlankes Gesetz. – Ich denke, hier haben wir Wesentliches zur Balance (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Frau Klöckner, beigetragen, Herr Goldmann, indem wir die Rolle der das stimmt doch nicht!) Verbraucherinnen und Verbraucher gestärkt haben. Ich habe selten ein solch schlankes und effektives Gesetz (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo denn?) gesehen, das auch Nichtjuristen verstehen können. Verbraucherinnen und Verbraucher zeigen ein gestei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gertes Interesse an Informationen, bevor sie sich zur Auswahl eines bestimmten Erzeugnisses entschließen. Wir machen damit einen Schritt hin zu einer guten Insbesondere im Lebensmittelsektor – das ist von mei- Balance zwischen dem mündigen Verbraucher und den nen Vorrednerinnen schon erwähnt worden – haben viele Interessen der Unternehmen. Uns geht es um Arbeits- Menschen ein spezielles Informationsinteresse, sei es platzsicherung. Dafür danke ich ganz herzlich Herrn aus gesundheitlichen Gründen, sei es, dass sie sich für Seehofer. bestimmte Qualitätsstandards interessieren. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was hat der Häufig sind Verbraucherinnen und Verbraucher ange- denn mit dem Gesetz zu tun?) sichts der Vielfalt der Angebote nicht mehr in der Lage, Auch er hat Wert auf die Berücksichtigung der Kosten aus eigenem Wissen und eigener Erfahrung die Qualität gelegt. und sonstige relevante Merkmale ausreichend zu beur- teilen. Mit dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf zur Dann möchte ich noch auf Frau Tackmann eingehen. Neuregelung des Rechts der Verbraucherinformation er- möglichen wir Verbraucherinnen und Verbrauchern erst- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: malig, von Behörden des Bundes, der Länder und der Nein, Frau Kollegin, Sie gehen nicht mehr auf Frau Gemeinden Informationen zu erhalten, die im Zusam- Tackmann ein. Ihre Redezeit ist überschritten. menhang mit dem Lebensmittel- und Futtermittelgesetz- buch oder auch dem Weingesetz – das ist heute noch Julia Klöckner (CDU/CSU): nicht erwähnt worden – stehen. Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin. – Damit geht mein Wie bereits erwähnt, basiert das Gesetz auf zwei Säu- Dank auch an die Kolleginnen und Kollegen aus den Ko- len: alitionsfraktionen. Ich finde, dies ist ein ordentliches Ge- (B) setz. Die Verbraucherinnen und Verbraucher dürfen sich Erstens. Behörden erhalten das Recht, die Öffentlich- (D) freuen, dass wir an der Regierung sind. keit unter Namensnennung zu informieren. (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zweitens. Verbraucherinnen und Verbraucher können NEN]: So eine rückwärtsgewandte Rede!) selbstständig bei Behörden Informationen abrufen. Danke. Das Gesetz ist erforderlich und es ist auch erforder- lich, dass es jetzt umgesetzt wird, da sich gezeigt hat, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dass eine Selbstregulierung des Marktes keine effektive neten der SPD – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ Deckung des Informationsbedarfs der Verbraucherinnen DIE GRÜNEN]: Die Begeisterung haben wir und Verbraucher garantieren kann. im Briefkasten gehabt! – Gegenruf von der CDU/CSU: Solche Operationen haben wir frü- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo sind her schon bei der Jungen Union gemacht!) denn die Mängel?) Richtig ist, dass Organisationen und Verbände – ich Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: selber habe aufgrund der Reaktion eines Verbandes Das Wort hat die Kollegin Mechthild Rawert, SPD- 1 648 E-Mails bekommen; Fraktion. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das waren Mas- senmails, von denen die Leute nichts wussten! Mechthild Rawert (SPD): – Peter Bleser [CDU/CSU]: Das lässt sich – Wenn der Schlagabtausch über die Generationen heute alles organisieren!) hinweg beendet ist, das hat wie bei vielen von uns zu einer Verstopfung ge- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das ist eine an- führt; aber darüber sind wir hinaus – den Gesetzentwurf dere Generation!) kritisiert haben. Bei der Information der Öffentlichkeit wurde es so dargestellt komme ich zum Tagesordnungspunkt. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da sind aber Innerhalb der Marktgesetze von Kaufen und Verkau- Ihre Verbraucherrechte nicht geschützt wor- fen benötigen Verbraucherinnen und Verbraucher eine den! Das war nicht so nett!) solide Basis, um über Alternativen eigenständig und ver- antwortungsbewusst ihre Rolle als Marktteilnehmerin- – lassen Sie, Herr Goldmann, jetzt bin ich dran –, als sei nen und -teilnehmer selbstbestimmend wahrzunehmen. das Gesetz ein „zahnloser Tiger“. Das stimmt definitiv Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4053

Mechthild Rawert (A) nicht. Wir informieren, wir gewähren Rechte und schaf- aussetzung für eine Stärkung der Nachfrage. Wir setzen (C) fen dadurch auch Nachfrage. auf Innovation. Ich möchte noch einmal herausstellen, dass im Rah- Albert Einstein sagte, es wäre traurig, wenn die Tüte men der Verschärfung des § 40 des Lebensmittel- und wertvoller wäre als das darin verpackte Fleisch. Mit dem Futtermittelgesetzbuches aus einer Kannbestimmung hier vorliegenden Gesetzentwurf sorgen wir dafür, dass eine Sollbestimmung geworden ist, was ein wesentlicher Verbraucherinnen und Verbraucher die Informationen er- Schritt ist. Meine Vorrednerin, Frau Drobinski-Weiß, hat halten, die sie benötigen, um – nach Albert Einstein – – wie einige andere Rednerinnen auch – darauf hinge- beurteilen zu können, ob die Tüte oder das Fleisch wert- wiesen. Wir erwarten von dieser Verschärfung, dass Be- voller ist. hörden die Öffentlichkeit in Zukunft frühzeitiger und Wir gehen einen Schritt in Richtung eines transpa- ausführlicher über Gesundheitsgefahren, Rechtsver- renten Marktes. Wir verfolgen das Leitbild des mündi- stöße, Ekel erregende Vorkommnisse – um das Gammel- gen Verbrauchers, der mündigen Verbraucherin. Wir ma- fleisch auch noch einmal zu erwähnen – informieren. chen den ersten Schritt. Wir werden diesen Weg Also Vorsorge statt Nachsorge! Diesem Grundsatz weitergehen; denn wir brauchen langfristig für alle Pro- werden wir hiermit gerecht werden. dukte und Dienstleistungen Verbraucherinformationen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ich bin mir sicher, dass Sie uns dabei unterstützen. CDU/CSU) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Eine Information der Öffentlichkeit erfolgt auch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dann, wenn die betroffenen Erzeugnisse nicht mehr am Markt oder bereits bei der Verbraucherschaft sind. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Uns, und zwar beiden Koalitionspartnern, ist wichtig Ich schließe die Aussprache. gewesen, dass umtriebige Betrüger auch dezidiert mit Namen benannt werden können. Ross und Reiter werden Wir kommen zur Abstimmung über den von den klar herausgestellt. Und das ist gut so. Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuregelung des Rechts der Verbrau- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Pe- cherinformation, Drucksache 16/1408. Der Ausschuss ter Bleser [CDU/CSU]: Das hilft der Wirt- für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz schaft!) empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Wir schaffen hiermit neue Rechtssicherheit. Drucksache 16/2011, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte nun diejenigen, die (B) Auch der Vorwurf einiger Verbände, dass bestimmte dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen (D) Daten unter das Geschäfts- oder Betriebsgeheimnis wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent- fallen würden, zählt nicht und ist falsch. Ausdrücklich haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- wird herausgestellt, dass Betrug nicht unter Schutz steht. ratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stim- Das muss noch einmal ganz klar hervorgehoben werden. men der Opposition angenommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dritte Beratung CDU/CSU) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Eine Verbesserung bringt auch die Verkürzung der Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Frist von acht auf vier Wochen. Man sehe mir nach, dass Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist ich darauf hinweise, aber das ist ein eminenter Verdienst damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenergeb- meiner Fraktion. nis wie in zweiter Beratung angenommen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Julia Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen. Klöckner [CDU/CSU]: Unser Minister war Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktionen das! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Das der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/2035? – war der Vorschlag von Seehofer!) Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschließungs- antrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung Wir haben gesagt, was der Gesetzentwurf für die Ver- der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen des Bündnis- braucherinnen und Verbraucher bringt. Er dient aber ses 90/Die Grünen und der FDP angenommen. auch den bundesweit tätigen Unternehmen. Bis dato wurden bundesweit agierende Unternehmen aufgrund Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- der unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen tion der FDP auf Drucksache 16/2036? – Gegenprobe! – Bundesländern unterschiedlich behandelt. Das hat der Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit der angebliche Skandal um die Salmonellen in den Tiefkühl- Mehrheit der Stimmen des Hauses bei Enthaltung der backwaren gezeigt. Wir sorgen für Einheitlichkeit. Das Fraktion Die Linke abgelehnt. ist für jede Verbraucherin und jeden Verbraucher von Vorteil. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion Die Linke auf Drucksache 16/2037? – Wer stimmt Wir erwarten von den Unternehmen, dass sie ihre dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag Kundinnen und Kunden besser und umfassender über ist mit der überwiegenden Mehrheit der Stimmen des Produkte informieren. Hierin sehen wir eine Grundvor- Hauses abgelehnt. 4054 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Abstimmung über den von der Fraktion des lich bedanke, dass Sie dafür gesorgt haben, dass ich Ge- (C) Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines hör finde. Das ist ja Sinn und Zweck, wenn man eine Verbraucherinformationsgesetzes auf Drucksache 16/199. Rede im Plenum des Deutschen Bundestages halten darf. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- braucherschutz empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss- Wir sprechen hier über ein ganz wichtiges Thema, das empfehlung auf Drucksache 16/2011, den Gesetzent- vielen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, vor allen Dingen wurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem den betroffenen Jugendlichen, auf den Nägeln brennt; Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – denn die Lage am Ausbildungsmarkt liegt uns allen am Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Herzen. Die Tatsache, dass in dieser Aktuellen Stunde ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, zwei zuständige Bundesminister reden werden, unter- CDU/CSU und FDP abgelehnt. Damit entfällt nach un- streicht die Bedeutung, die die Bundesregierung der Aus- serer Geschäftsordnung die weitere Beratung. bildungsplatzsituation in der Bundesrepublik Deutschland beimisst. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) cherschutz auf Drucksache 16/2009. Der Ausschuss Die Schaffung von Ausbildungsplätzen für die junge Ge- empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die neration ist in der jetzigen Zeit eine der größten Heraus- Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und forderungen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. der SPD auf Drucksache 16/195 mit dem Titel „Lebens- Unser gemeinsames Ziel soll und muss es daher sein, be- mittelskandalen effektiv entgegenwirken – Verbraucher strebt zu sein, dass alle ausbildungswilligen Jugendli- umfassend informieren“. Wer stimmt für diese Be- chen einen Ausbildungsplatz bekommen. schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der Koalition angenommen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den vielen Hun- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt derttausenden von Ausbildungsbetrieben in der Bundes- der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion republik Deutschland ein Wort des Dankes dafür zu sa- des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/111 gen, dass man bereit war, der großen Nachfrage in den mit dem Titel „Konsequenzen aus den Fleischskandalen: letzten Jahren Rechnung zu tragen und Ausbildungs- Umfassende Verbraucherinformation und bessere Kon- plätze zur Verfügung zu stellen. trollen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – (Beifall bei der CDU/CSU) Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Ausbildung ist die Investition in die Zukunft. Ich möchte (B) (D) der FDP angenommen. deshalb anerkennend feststellen: Der Ausbildungspakt hat sich rentiert. Die Wirtschaft hat die Selbstverpflich- Schließlich empfiehlt der Ausschuss für Ernährung, tung erfüllt. – Wir Deutschen können besonders stolz Landwirtschaft und Verbraucherschutz unter Nr. 3 seiner darauf sein, dass sich das duale System bewährt hat. Es Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2009 die Ab- findet in der Gegenwart weltweit Beachtung und wird lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck- auch in der Zukunft federführend sein. sache 16/825 mit dem Titel „Verbraucherschutz in der Marktwirtschaft durch mündige und aufgeklärte Ver- (Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert) braucher sicherstellen“. Wer stimmt für diese Beschluss- Erfreulich ist vor allen Dingen, dass die Wirtschaft empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – wieder in Schwung kommt. Das erwähne ich, weil es für Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD, jeden jungen Mitbürger mit einer abgeschlossenen Aus- des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/CSU ange- bildung wichtig ist, dass er entweder in dem Beruf, in nommen. dem er ausgebildet wurde, Beschäftigung findet oder ei- Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: ner anderweitigen Beschäftigung nachgehen kann. Ver- ehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen genauso gut Aktuelle Stunde wie ich, dass in unseren Sprechstunden immer der auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und Wunsch an uns herangetragen wird, bei der Suche nach der SPD einem Ausbildungsplatz behilflich zu sein. Das spreche ich deshalb an, weil uns Jugendliche ohne abgeschlos- Lage am Ausbildungsmarkt – Ausbildungs- sene Ausbildung in Zukunft als Fachkräfte fehlen wer- pakt als Chance für Unternehmen, junge Men- den. Das wird auch von den Betrieben viel zu wenig be- schen und den Arbeitsmarkt rücksichtigt. Bevor ich dem Kollegen Ernst Hinsken, CDU/CSU- Ich möchte insbesondere an das Handwerk ein Wort Fraktion, das Wort erteile, bitte ich den Herrn Minister des Dankes richten. Das Handwerk hatte, was die Schaf- und die Abgeordneten der SPD-Fraktion, Platz zu neh- fung von Ausbildungsplätzen betrifft, zum Stichtag men. – Herr Kollege Hinsken, bitte schön. 30. April 2006 einen Zuwachs von 2,5 Prozent – das ent- spricht fast 10 000 Stellen – zu verzeichnen. Sehr vor- Ernst Hinsken (CDU/CSU): bildlich geht man in der Hotellerie und in der Gastrono- Werte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen mie zu Werke. In diesen Bereichen wurden allein im und Herren! Gestatten Sie zunächst, dass ich mich herz- letzten Jahr 7 Prozent zusätzliche Ausbildungsplätze zur Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4055

Ernst Hinsken (A) Verfügung gestellt; das bedeutet ein Mehr von einigen Eine Botschaft möchte ich allerdings noch vermitteln (C) Tausend Plätzen. Die Grenze von insgesamt 100 000 Aus- dürfen, Herr Präsident bildungsplätzen ist überschritten. In diesen Berufen wer- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Frohe den 100 600 Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt. Weihnachten!) Wir alle können einen Beitrag dazu leisten, dass mehr Ausbildungsplätze geschaffen werden. Ich fordere Sie – dabei handelt es sich um eine Bitte an die Jugendli- auf: Gehen Sie ab und zu in Hotels oder Gaststätten! chen; das sage ich, weil so viele Jugendliche auf der Tri- Kurbeln Sie auf diese Weise die Wirtschaft an und sor- büne sitzen –: Nutzt die Vielfalt der angebotenen Berufe! gen Sie so indirekt dafür, dass vermehrt Ausbildungs- Es muss nicht immer der Traumberuf sein. Seid flexibel plätze zur Verfügung gestellt werden! und mobil! Was ihr erlernt habt, kann euch niemand mehr nehmen. – Wenn wir uns von diesem Leitgedanken (Beifall bei der CDU/CSU) tragen lassen, dann ist mir nicht bange, dass wir die Si- Natürlich besteht auch die Möglichkeit, eine Ände- tuation auf dem Ausbildungsmarkt in diesem Jahr meis- rung des Jugendarbeitsschutzgesetzes vorzunehmen. tern werden. Wenn allein das Jugendarbeitsschutzgesetz geändert und Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. zugelassen würde, dass man einen Lehrling, der ja dann tätig sein soll, wenn tatsächlich gearbeitet wird, pro Tag (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine Stunde länger – nicht bis 22 Uhr, sondern bis neten der SPD und der LINKEN) 23 Uhr – beschäftigen darf, dann könnten dadurch Hun- derte neuer Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt Präsident Dr. Norbert Lammert: werden. Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich L. Kolb (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn du das für die FDP-Fraktion. willst, kannst du unserem Antrag zustimmen, (Beifall bei der FDP) Ernst! Wir haben nämlich genau das einge- bracht!) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Meine Damen und Herren, lassen Sie mich darauf ver- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weisen, dass es noch unbesetzte Ausbildungsplätze gibt, denke, diese Aktuelle Stunde ist vor allen Dingen Platz- insbesondere was die Ausbildung zu Köchen, Fachleu- halter. Es soll verhindert werden, dass die Opposition in ten für Systemgastronomie und Restaurantfachleuten an- dieser Woche eine weitere Aktuelle Stunde beantragt. geht. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es! – Nico- (B) Eines möchte ich noch ansprechen: Besorgniserregend lette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr! Das ha- (D) nicht nur für mich, sondern für uns alle ist, dass es sehr ben wir aber schon mehrmals gesagt!) vielen Jugendlichen an der nötigen Ausbildungsreife fehlt. Laut dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag In der Sache gibt es wenig Aktuelles und wenig Neues und dem ZDH verlassen jedes Jahr 100 000 Schülerinnen zu berichten, Frau Kollegin Kressl. Wie immer zu dieser und Schüler die Schule ohne Abschluss. Weitere Jahreszeit haben wir eine Lehrstellenlücke zu verzeich- 100 000 verlassen die Schule ohne hinreichende Kennt- nen. Wie groß sie im Oktober dieses Jahres sein wird, nisse im Hinblick auf Lesen, Schreiben und Rechnen. also dann, wenn die Nachbesetzungen erfolgt sind, weiß Das entspricht 20 bis 25 Prozent eines Jahrgangs. heute niemand. Ich möchte dazu aufrufen, bei der Bewertung der ak- Präsident Dr. Norbert Lammert: tuellen Zahlen zu berücksichtigen, dass nach einer neuen Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit. Umfrage des DIHK nur noch 55 Prozent der Unterneh- men ihre unbesetzten Ausbildungsplätze bei der Bun- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich hätte dir desagentur für Arbeit melden. Sie haben bei der Suche noch lange zuhören können, Ernst!) nach geeigneten Bewerbern offensichtlich kein Ver- trauen mehr zur Bundesagentur, weil ihre Beratungs- Ernst Hinsken (CDU/CSU): und Vermittlungsleistungen nicht hinreichend sind. Jawohl. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident, ob- wohl ich noch vieles zu sagen hätte. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja! So ist das leider!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir haben aber auch noch viel Wichtiges zu sagen!) Auch aus diesem Grunde wäre aus unserer Sicht eine Reform der Bundesagentur für Arbeit dringend notwen- dig. Präsident Dr. Norbert Lammert: Das habe ich befürchtet. Deswegen habe ich mich ge- (Beifall bei der FDP) meldet. Ich will diese Aktuelle Stunde nutzen, um einige An- merkungen zu machen, deren Beachtung vielleicht dazu Ernst Hinsken (CDU/CSU): beitrage könnte, dieses Problem künftig zu lösen. Eines Ich habe Verständnis dafür. Nach mir sind schließlich will ich vorausschicken: Die Ausbildung junger Men- noch andere Rednerinnen und Redner an der Reihe, die schen ist eine herausragende Aufgabe, der wir uns alle stel- meine Ausführungen ergänzen werden. len müssen. Junge Menschen haben dann eine besonders 4056 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Heinrich L. Kolb (A) gute Chance auf dem Arbeitsmarkt, wenn sie eine abge- gendschutz die Ausbildung behindern; darauf hat der (C) schlossene Ausbildung vorweisen können. Deswegen Kollege Hinsken – wie immer zu Recht – fachkundig müssen wir mit all unseren Bemühungen das Ziel verfol- hingewiesen. gen, dass möglichst viele Unternehmen ausbilden. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Die FDP hat aus ebendiesem Grunde, den du genannt Dazu genügt es aber nicht, wie es Herr Minister hast, Ernst, einen Antrag eingebracht, der darauf hin- Müntefering getan hat, den Unternehmen Kurzsichtig- wirkt, dass Hauptschulabgänger im Hotel- und Gaststät- keit und Egoismus vorzuwerfen. Denn eines ist klar: Un- tengewerbe eine Chance auf einen Ausbildungsplatz be- ternehmen, die aufgrund einer schlechten wirtschaftli- kommen, indem sie länger arbeiten dürfen, wenn die chen Lage einen Personalabbau planen, werden natürlich Unternehmen in diesen Zeiten Kunden haben. Da kön- nicht ausbilden; das ist nun einmal so, da nützt auch kein nen wir ganz konkret handeln. Ich werde das Abstim- Vorwurf aus einem Ministermund. Erst recht gilt das für mungsverhalten der Kollegen mit Interesse beobachten. insolvente Unternehmen, von denen wir in den letzten (Jörg Tauss [SPD]: Das kann ich Ihnen schon fünf Jahren rund 200 000 hatten. 200 000 Unternehmen sagen!) sind als potenzielle Ausbildungsbetriebe ausgeschieden. Das ist Ergebnis einer anhaltend schwachen Konjunktur Ernst, du hast darauf hingewiesen: Junge Menschen und Ergebnis einer falschen Politik. Das muss man hier müssen auch ausbildungsfähig sein. Hier ist eine Quali- einmal feststellen. tätsoffensive bei der schulischen Bildung notwendig. Für 63 Prozent der größeren Unternehmen und immer- (Beifall bei der FDP – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: hin noch knapp 50 Prozent aller Unternehmen ist man- Und einer falschen Regierung!) gelnde Ausbildungsreife das Haupthindernis für eine Damit in ausreichender Zahl Ausbildungsplätze zur Ver- Einstellung von Auszubildenden. Es muss selbstver- fügung gestellt werden können, brauchen wir die richti- ständlich sein, dass jeder Hauptschulabgänger richtig le- gen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, ein sen, schreiben und rechnen kann; das ist ein zentraler stärkeres Wachstum, die richtigen steuerpolitischen Rah- Punkt. Wenn 12 Prozent der vom DIHK befragten Un- menbedingungen, die richtigen tarifpolitischen Rahmen- ternehmen angeben, dass sie ihre Ausbildungsplätze bedingungen und weniger Bürokratie. Hier sind Sie auf nicht besetzen konnten, weil es keine geeigneten Bewer- dem falschen Weg, wie sich in dieser Sitzungswoche ber gab, dann ist das ein Punkt, der uns stark beschäfti- ganz aktuell zeigt. Ihnen muss doch klar sein, dass jeder gen muss. Prozentpunkt, um den Sie die Mehrwertsteuer erhöhen, Zum Schluss: Die FDP-Bundestagsfraktion ist gegen (B) (Jörg Tauss [SPD]: Oh! Nehmen Sie mal eine eine Ausbildungsplatzabgabe. Ich finde, der Ausbil- (D) andere Platte!) dungspakt funktioniert, wir sind auf dem richtigen Wege. Eine Ausbildungsplatzabgabe hätte eine verhee- Gift für die Schaffung von Ausbildungsplätzen ist. Auch rende Wirkung. das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz und das ge- plante Nichtrauchergesetz sind Gift für die Schaffung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) von Ausbildungsplätzen. Ich bin sicher, dass dies viele Unternehmen zum Anlass (Beifall bei der FDP) nähmen, sich aus der Ausbildung zu verabschieden. Die Forderung des DGB nach einer Lehrstellensteuer ist ein Ich denke, dass man feststellen kann: Die Mehrzahl Griff in die ideologische Mottenkiste und schafft keinen der bestehenden Unternehmen ist grundsätzlich bereit, einzigen zusätzlichen Ausbildungsplatz, belastet die auszubilden; das betrifft insbesondere den Mittelstand. Wirtschaft und schafft wieder ein Stück mehr Bürokra- Aber eine Ausbildung muss aus Sicht der Unternehmen tie. auch interessant sein; das heißt, das Kosten-Nutzen-Ver- hältnis muss stimmen. Das ist entscheidend für die Wir brauchen auch eine Stärkung der überbetriebli- Schaffung von mehr Ausbildungsplätzen, wie auch die chen Ausbildung. Die FDP hat sich dafür eingesetzt, topaktuelle IHK-Onlinebefragung vom Juni 2006 zeigt. dass die Mittel für die überbetriebliche Ausbildung er- Hohe Ausbildungskosten, tarifliche Übernahmever- höht werden, auch gegen anfänglichen Widerstand der pflichtungen, zu lange Ausbildungsdauer und starre Be- großen Koalition. Ich denke, wenn Sie diese Ratschläge rufsbilder sind Hemmnisse für die Bereitstellung von beherzigen, dann wäre das eine Chance, mehr junge Ausbildungsplätzen. Hier haben wir durchaus Möglich- Menschen in ein Ausbildungsverhältnis zu bringen, und keiten, etwas zu tun. dann hätte sich diese Aktuelle Stunde am Ende doch ge- lohnt. (Zurufe von der SPD) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. – Wenn Sie anderer Meinung sind, stellen Sie mir Zwi- schenfragen. (Beifall bei der FDP) (Jörg Tauss [SPD]: Wir sind in der Aktuellen Präsident Dr. Norbert Lammert: Stunde!) Ich mache, um Irritationen vorzubeugen, darauf auf- Ich denke, dass auch veraltete bürokratische Vor- merksam, dass Zwischenfragen in einer Aktuellen schriften in den Ausbildungsverordnungen und beim Ju- Stunde nicht möglich sind. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4057

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) (Jörg Tauss [SPD]: Hätte ich gemacht!) Es gehört auch zur Ehrlichkeit, zu sagen und deutlich zu (C) machen – wir sind froh darüber, dass es so ist –, dass die – Ich habe keinen Zweifel, dass es Interessenten dafür beiden Kammern, die den Pakt mit vereinbart haben, in auf beiden Seiten meines Pultes gäbe. diesem Bereich ein großes Engagement zeigen. Kam- Nun hat die Kollegin Nicolette Kressl für die SPD- mern können aber nur dann erfolgreich sein, wenn die Fraktion das Wort. Unternehmen, die ihnen angeschlossen sind, auch Aus- bildungsplätze anbieten. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie können nur erfolgreich sein, wenn Nicolette Kressl (SPD): die politischen Rahmenbedingungen stim- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die men!) Chancen von jungen Menschen im Bereich der Ausbil- Man muss der Ehrlichkeit halber auch dazusagen, dass dung ist für meine Fraktion immer ein wichtiges Thema es Branchen gibt, in denen sich ein Anstieg der Zahl ab- gewesen. Deshalb weise ich das, was Sie gerade behaup- geschlossener Ausbildungsverträge andeutet. Endpunkt tet haben, Herr Kolb, nämlich dass die beiden Koali- aber wird der 30. September sein, nach Überprüfung der tionsfraktionen diese Aktuelle Stunde nur beantragt Nachvermittlung. haben, um eine Aktuelle Stunde der Opposition zu ver- hindern, ausdrücklich zurück. Wir haben die Behand- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben! Das ist in lung dieses Themas bereits in der letzten Sitzungswoche jedem Jahr so!) beantragt. Es ist mir wichtig, das zu sagen: Hier geht es Wir müssen überlegen, wie wir von politischer Seite um Inhalte und nicht um irgendwelche Formalitäten. aus unterstützend tätig werden können, um den Jugendli- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – chen eine Chance zu geben. Ich halte es für dringend Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe die Ak- notwendig – das habe ich in den Redebeiträgen bisher tualität gerade erläutert!) vermisst –, noch einmal an die großen Unternehmen zu appellieren und sie aufzufordern, ihrer Verantwortung Ich halte es für absolut notwendig, dass wir im Hin- für ihre eigene ökonomische Zukunft, aber auch für die blick auf die Chancen von jungen Menschen – auch Zukunft der jungen Leute – das fügt sich zusammen – durch den Ausbildungspakt – eine ehrliche Analyse stärker als bisher gerecht zu werden. Dazu gehört für durchführen. mich, dass die Unternehmen und die Tarifparteien end- lich Tarifgespräche mit Blick auf eine Verbesserung der (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Ausbildungssituation führen und zu einem Erfolg kom- (B) [SPD]) men. (D) Eine ehrliche Analyse bedeutet, dass wir die Ergebnisse (Beifall bei der SPD) des Paktes weder schlecht- noch gutreden. Es muss ja kein bestimmtes Instrument sein. Es gibt (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann viele tarifliche Vereinbarungen mit den unterschiedlichs- [SPD]) ten Instrumenten, von der Branchenumlage bis hin zur Frage, wie mit Ausbildungsvergütungen umgegangen Nur eine richtige Analyse kann dazu führen, dass wir wird. Das ist nämlich Sache der Tarifparteien. Natürlich uns auch die richtigen Gedanken darüber machen, wie er können sie darüber reden; das ist ja auch im Chemiebe- weiterentwickelt werden kann. reich geschehen. Dies muss aber mit einem verbindlich Dass es in einzelnen Bereichen eine schwierige Situa- zugesagten Zuwachs an abgeschlossenen Ausbildungs- tion gibt, ist nicht zu leugnen. Beispielsweise geht das verträgen verbunden sein. Das ist doch klar. Angebot an freien Berufen deutlich zurück. Wir haben (Beifall bei der SPD) – das wissen wir auch aus allen Ländern – sehr viele junge Menschen in Warteschleifen, die auch eine Chance Ich halte es für völlig falsch, wenn von politischer verdient haben, und wir müssen die Chancen der jungen Seite gesagt wird, die Vergütungen der Azubis müssten gekürzt werden. Für mich gibt es ein entscheidendes Ar- Menschen mit Migrationshintergrund noch deutlich ver- gument dagegen: Wenn wir von den jungen Leuten Mo- bessern. Auch das haben die drei Minister bzw. Ministe- bilität erwarten, dürfen wir nicht gleichzeitig ihre Aus- rinnen, die für diesen Bereich zuständig sind, deutlich bildungsvergütung kürzen. gemacht. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Zwölf Jahre lang hatte ich beruflich intensiv mit dem Zu einer ehrlichen Analyse gehört aber auch, zu sa- Handwerk zu tun. Meine Handwerker sagen mir: Lasst gen, dass die Einschaltquote bezüglich des Angebots an doch die Debatte! Wie sollen wir jungen Leuten ein at- Ausbildungsplätzen und der Meldung bei der Bundes- traktives duales System anbieten, wenn ihr darüber re- agentur für Arbeit zurückgegangen sind und dass wir det, in Teilbereichen bereits jetzt niedrige Vergütungen deshalb Schwierigkeiten haben, die Situation statistisch noch einmal zu kürzen? Das ist der falsche Weg. Wenn, genau zu bewerten. dann muss das tariflich geregelt werden. – Ich finde es bedauerlich, dass da so wenig passiert. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat Gründe, Frau Kressl!) (Beifall bei der SPD) 4058 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Nicolette Kressl (A) Zum Abschluss möchte ich Folgendes sagen: Im Hin- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) (C) blick auf den Ausbildungspakt muss es unser Ziel sein, und werde es den Unternehmen leichter gemacht, Aus- wieder das Ergebnis des Paktes im ersten Jahr zu errei- bildungsplätze einzurichten. chen, dass wir also nicht nur neue Ausbildungsplätze ha- ben, sondern dass es einen tatsächlichen Zuwachs an (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie haben es ver- Ausbildungsplätzen gibt. Das ist das Mindestziel, das standen, Frau Hirsch!) wir erreichen müssen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, zur (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Kenntnis zu nehmen, dass zur politischen Ehrlichkeit ge- GRÜNEN]: Und was macht die Koalition da- hört, offen auszusprechen, was Sie mit Ausbildungs- für?) hemmnissen meinen. Es sind nämlich die Rechte der Ju- gendlichen, die Sie abbauen wollen. Da werden wir Insofern unterstützen wir alle Mitglieder der Bundesre- definitiv nicht mitmachen. gierung, die engagiert dafür eintreten und dafür werben; denn es muss etwas erreicht werden. (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank. Ihr zweites Lieblingsthema – auch das wurde ange- sprochen – ist die angeblich mangelnde Ausbildungsfä- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) higkeit der Jugendlichen. Wir halten die Debatte um die Ausbildungsfähigkeit zu großen Teilen für ein grandio- Präsident Dr. Norbert Lammert: ses Ablenkungsmanöver. Schließlich lässt sich damit die Die Kollegin Cornelia Hirsch ist die nächste Rednerin Ausbildungsstatistik ziemlich leicht aufbessern. Ein Ju- für die Fraktion Die Linke. gendlicher, der als nicht ausbildungsreif abgestempelt wird, taucht in der Statistik auch nicht mehr als ausbil- (Beifall bei der LINKEN) dungsplatzsuchend auf. Wir finden, anstatt über die mangelnde Ausbildungsfähigkeit der Jugendlichen zu Cornelia Hirsch (DIE LINKE): klagen und die Schuld dafür den Jugendlichen zuzu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die schieben, sollten Sie sich besser überlegen, wie Sie unser Schönrednerei, die allen voran gerade vom Kollegen Bildungssystem verbessern können. Hinsken von der CDU/CSU-Fraktion betrieben wurde, halten wir für unerträglich. Lieber Kollege Hinsken, ich (Beifall bei der LINKEN) bitte Sie, die Erwartungen bezüglich der Ausbildungs- Gerade hier tun Sie das genaue Gegenteil. Man muss platzlücke in diesem Sommer zur Kenntnis zu nehmen. sich einmal ansehen, was morgen hier im Plenum zur (B) Es wird davon gesprochen, dass vermutlich mehr als Abstimmung steht. Es geht nämlich um die Föderalis- (D) 150 000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz auf der musreform. Straße stehen werden. (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: In der Tat!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Quatsch! Welche Zahlen sind das?) Fakt ist, dass diese Föderalismusreform die Rahmenbe- dingungen für die Bildung auf allen Ebenen massiv ver- Das sind so viele wie nie zuvor. Angesichts dieser Zah- schlechtern wird. len müsste auch für Sie offensichtlich sein, was wir Ih- nen schon im letzten Herbst gesagt haben: Der Ausbil- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt doch dungspakt ist auf ganzer Linie gescheitert. – Vielleicht gar nicht! Das ist doch nicht wahr!) sollten sich einmal die Kolleginnen und Kollegen von Das bedeutet auch, dass sich die von Ihnen beklagte der SPD-Fraktion überlegen, dass es durchaus seinen Ausbildungsfähigkeit weiter verschlechtern wird. – Frau Grund hat, wenn die Gewerkschaften nach wie vor nicht Kressl, Sie schütteln den Kopf. Ich erinnere Sie daran, es bereit sind, bei einer solchen Lügengeschichte mitzuma- ist das Aus für Ihr hoch gelobtes Ganztagsschulpro- chen. gramm, für das Förderprogramm für Migrantinnen und Migranten, für zahlreiche weitere Bund-Länder-Pro- (Beifall bei der LINKEN) jekte. Deshalb sagen wir als Linksfraktion ganz klar Noch unverantwortlicher als Ihr Festhalten an diesem Nein zu dieser Föderalismusreform. Pakt finden wir die Überlegungen, die zur Weiterent- (Beifall bei der LINKEN) wicklung dieses Paktes in die Diskussion eingebracht wurden. Die Kollegen von der FDP- und der CDU/CSU- Zurück zur Ausbildungsmisere. Diesbezüglich ist un- Fraktion haben gerade einige Punkte benannt; Gleiches sere Alternative bekannt; wir haben sie auch in den wurde von Bundesministerin Annette Schavan in die Deutschen Bundestag eingebracht. Wir finden, dass es Diskussion eingebracht. Konkret benannt geht es bei nicht ausreicht, unverbindlich an die Unternehmen zu diesen Vorschlägen darum, die Mitbestimmung von appellieren. Die Kanzlerin hat einen Brief geschrieben. Azubis abzubauen, die Vergütung zu senken, die Ausbil- Die Jugendlichen werden sich bedanken, wenn sie von dungszeiten zu verkürzen und – das war gerade der Vor- solchen Vorstößen hören. Sie schreiben nämlich schlag – die Regelungen zum Arbeitsschutz einzu- 50 Briefe und mehr, nämlich Bewerbungsbriefe, und er- schränken. Das Ganze passiert unter dem Vorwand, halten nur Absagen von den Unternehmen. Deshalb dadurch finde ein Abbau von Ausbildungshemmnissen müsste es klar sein, dass die Unternehmen von der Poli- statt tik zur Ausbildung verpflichtet werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4059

Cornelia Hirsch (A) (Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder die Chancen für junge Menschen nicht nur dann themati- (C) [CDU/CSU]: Gezwungen werden!) sieren, wenn das Haus schon brennt; dieses Thema sollte für den Deutschen Bundestag vielmehr ein Dauerbrenner Des Weiteren muss für mehr Gerechtigkeit zwischen sein. Denn die Perspektiven für junge Menschen sind ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben gesorgt uns als Regierungsfraktion wichtig. werden. Deshalb ist unsere Forderung klar – wir freuen uns, (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. dass wir im deutlichen Widerspruch zur FDP stehen –: Kolb [FDP]: Dann muss man das aber auch bei der aktuellen Gesetzgebung im Kopf haben! (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir auch! Ab- Dann darf man nicht die Mehrwertsteuer erhö- grenzung muss sein! Wir haben auch kein Pro- hen!) blem damit!) Die aktuellen Zahlen sind zweifelsohne alarmierend, Wir fordern die Einführung einer gesetzlichen Ausbil- Herr Kolb. Aber wer aufgrund dieser Zahlen das Ende dungsplatzumlage. Das ist ein wichtiger und richtiger des Ausbildungspaktes fordert, liebe Frau Hirsch, zieht Schritt, der längst überfällig ist. die falschen Schlüsse. (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Erlauben Sie mir einen letzten Hinweis an die SPD- Ich komme aus Berlin, wo Ihre Partei mitregiert. Ich bin Fraktion. Von der SPD kommt hin und wieder die Aus- froh, dass Ihr Geschwätz hier nur Oppositionsgerede ist. sage, dass sie diese Forderung letztlich unterstützen Denn mit dem, was Sie fordern, haben junge Menschen würde, dass das Vorhaben aber im Rahmen der großen keine Perspektive. Koalition derzeit nicht durchsetzbar sei. Wir möchten in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass Sie in Ih- (Widerspruch bei der LINKEN – Zuruf von rer Regierungszeit gemeinsam mit Ihrem damaligen Ko- der CDU/CSU: Richtig!) alitionspartner, den Grünen, die Möglichkeit gehabt hät- ten, eine Ausbildungsplatzumlage einzuführen. Sie Das wird in den Bundesländern, in denen Sie mitregie- haben diese Möglichkeit nicht genutzt, weil es in Ihren ren, sehr deutlich, Frau Hirsch. In Berlin und Mecklen- eigenen Reihen keine Mehrheit dafür gab. Deshalb hal- burg-Vorpommern ist die Perspektive am Ausbildungs- ten wir es für zutiefst verlogen, wenn Sie jetzt versu- markt für junge Menschen schlechter als in Baden- chen, sich als das soziale Gewissen in der großen Koali- Württemberg, Bayern, Thüringen oder Sachsen. tion zu profilieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (B) (Beifall bei der LINKEN – Kai Boris Gehring Willi Brase [SPD]: Vorsichtig!) (D) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war doch beschlossen!) Beim Ausbildungspakt handelt es sich um ein noch junges Instrument, welches sich eines komplexen Pro- Unser Fazit ist klar: Auf der Grundlage dieses Ausbil- blems annehmen soll. Das Problem ist insofern komplex, dungspaktes werden sich die Perspektiven für Jugendli- als viele Faktoren für die angespannte Lage am Ausbil- che auf dem Ausbildungsstellenmarkt nicht verbessern. dungsmarkt verantwortlich sind. Es steckt eben doch et- was mehr dahinter als das immer wieder zitierte Kos- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt tenargument. nicht! Nehmen Sie das sofort zurück!) Gerade das aber sollte unser Ziel sein; es geht nicht nur Ein Indiz dafür ist die zunehmende Zahl an Lehrstel- darum, dass eine Ministerin oder ein Minister zu diesem len, die Jahr für Jahr nicht besetzt werden. Neben der Thema sprechen. Wir wünschen uns konkrete Initia- Konjunkturabhängigkeit und der fehlenden Flexibilität tiven. Das wäre wichtig, um die immer stärkere Aus- in der beruflichen Bildung spielt die Ausbildungsreife grenzung von Jugendlichen in dieser Gesellschaft zu be- vieler Jugendlicher sehr häufig eine entscheidende enden. Rolle. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN) So gab in einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer jeder zweite Betrieb an, dass er im ver- Präsident Dr. Norbert Lammert: gangenen Jahr wegen der schlechten schulischen Vorbil- Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Kai Wegner dung vieler Bewerber seine Ausbildungsplätze nicht be- für die CDU/CSU-Fraktion. setzen konnte. (Beifall bei der CDU/CSU) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Deshalb sind alle Ansätze, eine wie auch immer geartete Kai Wegner (CDU/CSU): Ausbildungsplatzabgabe einzuführen, nicht nur unprak- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tikabel, sondern sie verkennen auch die eigentlichen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutie- Gründe des Problems. Die Abgabe würde die Betriebe ren heute über die Lage am Ausbildungsmarkt. Lieber bestrafen, die eigentlich ausbilden wollen oder aufgrund Herr Kolb, wir sollten die Ausbildungsproblematik und ihrer wirtschaftlichen Situation nicht ausbilden können. 4060 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Kai Wegner (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Aus meiner Sicht bedarf es dreierlei Dinge, die wir (C) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jawohl, Herr tun müssen: Wir müssen erstens die mittelständischen Wegner! Sie können auch bei der FDP mitma- Betriebe entlasten, die im Übrigen in der Vergangenheit chen!) doppelt so viele Ausbildungsplätze wie zugesagt ge- schaffen haben. Wir müssen zweitens die Modernisie- In diesem Zusammenhang möchte ich auf die heraus- rung und Weiterentwicklung der Strukturen der betrieb- ragende Stellung des deutschen Mittelstands hinweisen. lichen Ausbildung auf Basis des bewährten dualen Kleinere und mittlere Betriebe bilden rund 82 Prozent Ausbildungssystems umsetzen. Wir müssen drittens die aller Lehrlinge in unserem Land aus. Ich glaube, diese Stärkung der Schnittstelle zwischen Schule und Unter- verdienen unseren ganz besonderen Dank und unsere nehmen forcieren. Die große Koalition hat zu allen drei ganz besondere Anerkennung. Punkten entsprechende Gesetze verabschiedet und rich- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tige Schritte in Angriff genommen. Auch von den am neten der SPD) Pakt beteiligten Partnern wurden zahlreiche Initiativen angestoßen. In Zukunft muss für möglichst alle ausbil- Ich halte es für den besseren Weg, die Herausforde- dungsfähigen und ausbildungswilligen Jugendlichen ein rung für mehr Ausbildungsplätze gemeinsam anzuneh- Qualifizierungsangebot vorhanden sein. Ich bin mir si- men, anstatt den Unternehmen per Gesetz Zwangsabga- cher, dass uns dies gemeinsam im Rahmen des Ausbil- ben anzudrohen. „Gemeinsam“ bedeutet jedoch auch, dungspaktes gelingen wird. dass alle Akteure der beruflichen Bildung an einem Strang ziehen. Das gilt auch für die Gewerkschaften, die Herzlichen Dank. sich besser konstruktiv im Rahmen des Ausbildungspak- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tes engagieren sollten, anstatt ihn ständig mit Pauschal- neten der SPD) argumenten zu diskreditieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Cor- Präsident Dr. Norbert Lammert: nelia Hirsch [DIE LINKE]: Wo sie Recht ha- Herr Kollege Wegner, das war Ihre erste Rede im ben, haben sie Recht!) Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratu- liere, Mit Blick auf die einzelnen Bundesländer ist festzu- stellen – das sagte ich schon, Frau Hirsch –, dass die Er- (Beifall) gebnisse des Ausbildungspaktes sehr unterschiedlich verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere par- ausfallen. Im letzten Monatsbericht der Bundesagentur lamentarische Arbeit. für Arbeit ist dabei besonders erfreulich, dass in den (B) neuen Bundesländern das Angebot an betrieblichen Aus- Das Wort hat nun die Kollegin Priska Hinz, Bünd- (D) bildungsplätzen gegenüber dem Vorjahr um 4 Prozent nis 90/Die Grünen. gestiegen ist. Das sollte uns doch freuen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei Abgeordneten der SPD) NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Chance Ich denke, wir sind uns alle einig, dass jeder ausbil- durch den Ausbildungspakt – leider ist das die falsche dungsfähige Jugendliche ohne Ausbildungsplatz einer zu Überschrift für die Aktuelle Stunde; denn bislang gibt es viel ist. Deshalb sage ich Ihnen auch ganz klar, dass wir keine Entspannung. Im Gegenteil: Der Druck ist eigent- mit der momentanen Situation nicht zufrieden sein kön- lich gestiegen. In diesem Jahr suchen mehr junge Men- nen schen einen Ausbildungsplatz als in dem vergleichbaren Zeitraum des letzten Jahres. Heute sind die neuen Zahlen (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) auf den Tisch gekommen, die das deutlich machen. Der und dass wir uns damit auch nicht zufrieden geben wer- Druck ist höher, auch der auf die Bundesregierung. Lei- den. der steht das Handeln der Bundesregierung in den letzten Monaten unter dem Motto: Pleiten, Pech und Pannen. (Beifall des Abg. Hartmut Koschyk [CDU/ CSU] und des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Jörg Es ist eine Pleite, dass Frau Schavan im Januar die Tauss [SPD]: Auch das ist wahr!) Weiterentwicklung des Ausbildungspaktes versäumt hat. Es ist Pech für die Jugendlichen, dass die Bundesregie- Ich begrüße deshalb ausdrücklich den besonderen Ein- rung die Zuständigkeiten zwischen der Bundesbildungs- satz unserer Bundeskanzlerin und unseres Bundeswirt- ministerin und dem Bundeswirtschaftsminister hin- und schaftsministers, Betriebe, die bisher nicht ausgebildet herschiebt. Die größte Panne ist der Bundeswirtschafts- haben, für die Berufsausbildung zu gewinnen. minister selbst, der im Juni den Termin für die Sitzung (Beifall bei der CDU/CSU) des Lenkungsausschusses des Ausbildungspaktes aus seinem Kalender streicht. Das kann nichts für die Ju- Auch wir sollten in unseren Wahlkreisen beispielsweise gendlichen werden. durch Klinkenputzen für mehr Ausbildungsplätze wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben. Jeder kann in seinem Wahlkreis etwas tun. Jeder ausbildungsfähige Jugendliche braucht einen Ausbil- Wie geht die Koalition eigentlich mit denjenigen The- dungsplatz. men um, die sie selbst angestoßen hat? Im Koalitions- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4061

Priska Hinz (Herborn) (A) vertrag ist von „branchenbezogener Umlagefinanzie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (C) rung“ die Rede. Man hört nichts mehr davon. Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Was Sie sagen, das nehmen Sie alles sofort zurück, weil es (Nicolette Kressl [SPD]: Tariflich!) Blödsinn ist!) – Aber es steht in Ihrem Koalitionsvertrag. Bringen Sie Sie von der Bundesregierung könnten durch die Um- doch bitte einmal die Gewerkschaften und die Unterneh- setzung einer EU-Richtlinie die Vergabe öffentlicher men an einen Tisch! Auch dies wäre Aufgabe der Bun- Aufträge an die Ausbildungsbereitschaft von Betrieben desregierung. Da hat sie bislang versagt. koppeln. Herr Schummer, ich danke Ihnen sehr dafür, dass Sie in Presseerklärungen dafür plädieren, dass die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kommunen das übernehmen. Gehen Sie doch zu Ihrer Wie sieht das Programm zur zweiten Chance aus? Bundesregierung! Auch Ihre Bundesregierung kann das Bislang ist es immer noch nebulös. machen. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist unsere Bundesre- Bislang hat man keine Konsequenzen aus der IAB- gierung, Frau Hinz!) Studie gezogen. Diese Studie zeigt auf, welche Ausbil- dungshemmnisse es in Betrieben gibt. Diese Betriebe Schauen Sie nicht nur auf die Kommunen! Schauen Sie bitten um personelle Unterstützung und sie haben Pro- auf Ihre eigenen Leute! Wenn Sie Ihre Bundesregierung bleme, weil sie junge Menschen nach der Ausbildung hier vorn nachher entsprechend aufforderten, dann wäre nicht unbedingt übernehmen können. Das hätten Sie, das für die Jugendlichen ein starkes Wort. Herr Glos, mit den Vertretern der Industrie- und Han- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) delskammern letzte Woche besprechen können. Sie hät- ten sich nicht nur anhören müssen, wo es klemmt, son- Es gäbe die Möglichkeit, die Umsetzung des SGB II dern Sie hätten auch Vorschläge machen müssen. so zu ändern, dass nicht nur die Beschäftigung von jun- gen Menschen zählt; Vorrang müssten vielmehr die Aus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bildung und die Qualifizierung von jungen Menschen Sie hätten zum Beispiel die Umlage von Prüfungsge- haben, damit sie nicht mehr von Transferleistungen ab- bühren innerhalb eines Handwerksbezirks vorschlagen hängig sind. Möglich wäre auch die Aufhebung der Trennung zwischen Jugendlichen, die unter „Bedarfsge- können, damit auch diejenigen Betriebe beteiligt wer- meinschaft nach SGB II“ fallen, und Jugendlichen, de- den, die nicht ausbilden. nen nach SGB III die Arbeitsagentur Berufsberatung zu- (Jörg Rohde [FDP]: Wollen Sie das Handwerk kommen lässt. Jeder Jugendliche hat nämlich ein gutes umlegen?) Recht auf Berufsorientierung, Berufsberatung und auf (B) Ausbildung und Qualifizierung. Hier könnten Sie tätig (D) Sie hätten auch vorschlagen können, dass regionale werden. Nichts ist passiert. Netzwerke zwischen Berufsschulen, Arbeitsagenturen und den Industrie- und Handelskammern geknüpft wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den. Diesen Vorschlag habe ich von Ihnen nicht gehört. Natürlich tragen die Unternehmen die Hauptverant- Genauso wenig haben Sie vorgeschlagen, dass die IHK wortung. externe Dienstleistungen für Unternehmen übernehmen und Ausbildungsbegleiter sein können. (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Das ist gut, dass Sie das erkannt haben!) (Nicolette Kressl [SPD]: Das gibt es doch!) Aber die Bundesregierung muss die Rahmenbedin- Diese Vorschläge hätten Sie machen können. Nichts da- gungen dafür schaffen, dass die Unternehmen diese von haben Sie auf den Tisch gelegt. Verantwortung auch wahrnehmen. Sie müssen uns nichts vorwerfen: Wir Grünen haben mit unserer Um- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – frage – denken Sie an Adidas – und mit unserer Öffent- Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie liegen völlig lichkeitsarbeit mehr als diese Bundesregierung in acht falsch!) Monaten erreicht. Es wäre möglich, die Umsetzung des reformierten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Berufsbildungsgesetzes zu forcieren, zum Beispiel die Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Eine Selbstbe- Anerkennung vollschulischer Ausbildungsgänge. Es weihräucherung ist das!) wäre möglich, die Modularisierung von neuen Ausbil- Das kann ich Ihnen von hier vorne sagen. dungsgängen mit einer Zertifizierung und damit mit der Möglichkeit der Anerkennung, wenn Jugendliche wei- Ich komme zum Schluss. Frau Schavan hat mir in ih- termachen, voranzutreiben. rer letzten Rede hier zugerufen: Man soll sich nicht in Rhetorik ergehen, sondern in Taten. Meine Damen und (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir doch schon Herren, die Bundesregierung ist am Zug. Sie sollte die- unter Rot-Grün gemacht, Frau Kollegin!) ses Motto beherzigen. Auch da ist nichts passiert. Ich befürchte, dass Sie nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – der Föderalismusreform sagen: Das ist allein Länder- Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das tut sie sache; damit machen wir uns die Hände nicht mehr auch! – Willi Brase [SPD]: Wir sind immer am schmutzig. Das wäre schlecht für die Jugendlichen. Zug als Bundesregierung!) 4062 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das bezweifelt (C) Wolfgang Grotthaus ist der nächste Redner für die keiner!) SPD-Fraktion. Das ist so, weil sie auch gut ausgebildete Lehrherren hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schon heute wird in manchen Branchen darauf hinge- wiesen Wolfgang Grotthaus (SPD): (Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Die Schaffung von Arbeitsplätzen ist Ziel aller hier – hören Sie gut zu! –, im Haus vertretenen Fraktionen. Die Meinungen da- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gern!) rüber, welcher Weg dazu gegangen werden soll, sind un- terschiedlich. Bei einigen Diskussionsteilnehmerinnen dass qualifizierter Nachwuchs fehlt. und -teilnehmern hatte ich das Empfinden, dass ihr (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ich Motto lautet: Der Staat kann alles richten. Der Staat ist doch selbst gesagt!) für die Schaffung von Ausbildungsplätzen zuständig. – Ich stimme mit denen überein, die sagen, dass der Staat Statt aber selbst auszubilden, wird die Forderung erho- Rahmenbedingungen schaffen soll. ben, im Rahmen von Zuwanderungsmöglichkeiten gut ausgebildete Facharbeiter ins Land zu holen. Mit sol- Da streiten wir über den richtigen Weg. Die einen sa- chen Argumenten – ich sage das hier sehr deutlich – gen: Wir wollen den Ausbildungspakt. Die anderen sa- stiehlt man sich aus der Verantwortung sowohl gegen- gen: Wir wollen die Ausbildungsabgabe. – Wir haben über den jungen Menschen als auch gegenüber der Zu- uns für den Ausbildungspakt entschieden. Wir glauben, kunftsfähigkeit der eigenen Firma und unseres Staates. dass wir mit diesem Pakt den richtigen Weg gehen. (Beifall bei der SPD) Dazu einige Zahlen. Im Jahr 2005 haben wir – da lässt sich natürlich über die Zahlen im Einzelnen strei- Deshalb müsste schon aus Eigennutz die Ausbildung ten; Sie können sagen, wir müssten noch etwas draufle- in den Firmen höchste Priorität haben. Stattdessen wird gen – für das Jahr 2004 insgesamt 118 000 neue Ausbil- vorgeschlagen – Frau Kressl hat schon darauf hingewie- dungsplätze feststellen können, und zwar in den sen –, das Gehalt der Auszubildenden zu kürzen. Bereichen der Industrie und des Handels; nicht mitge- (Zuruf von der SPD: Pfui!) rechnet ist der Bereich des Handwerks. Damit wurde das Niveau des Vorjahres um 1,4 Prozent überschritten. Es Ich frage mich: Wer hat dieses Gehalt festgelegt? Es wa- ren die Tarifvertragsparteien. Am Tisch der Tarifver- (B) war eine positive Tendenz. Ob zu dieser positiven Ten- (D) denz alle beigetragen haben, wage ich zu bezweifeln. tragsparteien sitzen auch die Arbeitgeber. Die haben die Aber zumindest hat das vielen jungen Menschen in die- Tarifverträge mit unterzeichnet. Jetzt nach dem Staat zu sem Staat geholfen. rufen, ist genau der falsche Weg. Wir zweifeln die Tarif- hoheit nicht an. Auch das neue Instrument der Einstiegsqualifizie- rung, das die Paktpartner geschaffen haben, ist in den zu- (Beifall bei der SPD) rückliegenden Jahren gut angelaufen. Insgesamt konnten Von daher sollen die Tarifvertragsparteien darüber reden. 17 100 Jugendliche diese Einstiegsqualifizierung nutzen. Wenn eine der Tarifvertragsparteien meint, man solle da In der Bilanz für 2005 setzen sich diese positiven irgendetwas angehen, dann, bitte schön, ist darüber dort Zahlen fort. Trotzdem muss man einräumen: Das reicht am Tisch zu verhandeln. Das sollte nicht ins politische nicht. Das liegt aber nun nicht daran, dass die Rahmen- Feld hineingetragen werden. bedingungen nicht stimmen – da sollte man ein bisschen (Jörg Rohde [FDP]: Richtig!) abwarten –, sondern das hängt damit zusammen, dass es mehr Schulabgänger gibt, als Ausbildungsplätze ange- Auch die Forderung, drei Auszubildende für das Ge- boten werden. Deshalb sollte man vorrangig die Indus- halt von zweien einstellen zu dürfen, ist abzulehnen. In trie und das Gewerbe verpflichten, mehr junge Men- meinen 36 Jahren im Betrieb habe ich als Erstes gelernt: schen einzustellen, statt nach dem Staat zu rufen. Gehaltsverzicht sichert nicht einen Arbeitsplatz. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn die pleite (Beifall bei der SPD) sind, können die nicht mehr ausbilden! Die Vergangenheit hat gezeigt, dass man nicht allen 200 000 Pleiten!) Versprechungen glauben darf. Ich will dazu nur daran er- Die Verantwortlichen, Herr Kolb, sind unzweifelhaft innern, dass die Frühverrentung und die so genannte die Unternehmen. 58er-Regelung mit dem Argument eingeführt worden sind: Für jeden zweiten älteren Arbeitnehmer bzw. jede (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Nie- zweite ältere Arbeitnehmerin, den oder die wir von der mand sonst!) Arbeit freistellen, stellen wir einen jungen Menschen neu ein. Tatsächlich war das Verhältnis sieben zu eins. Die Unternehmen haben Vorsorge dafür zu treffen, dass weltweit das Qualitätssiegel „Made in “ auch Wer würde garantieren, wenn wir diesen Weg der weiterhin Bedeutung hat, und zwar deswegen, weil un- Kürzung der Ausbildungsgehälter politisch gehen wür- sere Facharbeiterschaft gut ausgebildet ist. den, dass es tatsächlich zu mehr Einstellungen käme? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4063

Wolfgang Grotthaus (A) Wer würde rechtsverbindliche Zusagen geben, die Un- Wir müssen auch überprüfen, ob die Änderung der (C) ternehmer, die Unternehmerverbände? Alle die würden Handwerksordnung dazu geführt hat, dass mehr oder sich zurücklehnen und sagen: Wir sind doch nicht dieje- dass weniger ausgebildet wird. nigen, die eine Unterschrift gegeben haben. Genau wie beispielsweise beim Ausbildungspakt: Auch da stiehlt (Beifall bei der CDU/CSU) sich ein Teil der Unternehmer aus der Verantwortung. All diese Dinge müssen wir selber überprüfen. Da sind (Beifall bei der SPD) wir gefordert. Wir müssen auch immer wieder die Erfah- rungen nutzen, die wir gesammelt haben. An die Adresse der Unternehmer gerichtet, meine Da- men und Herren, sage ich: Nicht lamentieren, sondern Es ist aber sehr erfreulich – das wird auch auf den ausbilden! Jungen Menschen eine Zukunftschance durch Ausbildungsmarkt durchschlagen –, dass wir wieder eine gute Ausbildung geben! Der zugesagten Selbstver- eine bessere Stimmung in der Wirtschaft haben, als es pflichtung im Rahmen des Ausbildungspaktes nachkom- vor einem oder auch noch vor einem halben Jahr der Fall men und damit ebenfalls gesellschaftliche Verantwor- gewesen ist. Das Ifo-Institut sagt, seit 15 Jahren habe es tung in diesem Staat wahrnehmen! keine so positive Stimmung mehr gegeben. Die führen- den Institute sagen optimistischere Zahlen voraus, als (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ich sie als Wirtschaftsminister amtlich prognostizieren dürfte. Wir haben aber immer gesagt, wir schneiden lie- ber besser ab als vorausgesagt, als dass es umgekehrt ist. Präsident Dr. Norbert Lammert: Besonders erfreulich sind die jüngst veröffentlichten Das Wort hat nun der Bundesminister für Wirtschaft Zahlen der Bundesagentur für Arbeit: Die Zahl der Ar- und Technologie, Michael Glos. beitslosen ist auf unter 4,5 Millionen gesunken und liegt um 138 000 niedriger als im Vormonat. Wenn es mit der (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Wirtschaft weiter so aufwärts geht, dann führt das, wie Ulla Burchardt [SPD]) ich glaube, auch zu mehr Ausbildungsbereitschaft.

Michael Glos, Bundesminister für Wirtschaft und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Technologie: neten der SPD) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich erkenne Ich freue mich, dass in der jetzt diskutierten Frage doch an, dass der Ausbildungspakt, der von meinem Vorgän- in diesem Hause eine sehr breite Zustimmung bezüglich ger mit initiiert worden ist und den die Wirtschaftsver- (B) der Auffassung herrscht, dass Ausbildung in allererster bände ganz gewaltig unterstützen, ein gutes Mittel ist, (D) Linie Sache der Wirtschaft ist, dass wir sie in den Hän- um weiter voranzukommen. Es bleibt natürlich noch vie- den Wirtschaft belassen müssen – denn am besten kann les andere übrig, was zu tun ist. So wird meine Kollegin und macht es die Wirtschaft – und dass wir uns gemein- Frau Schavan darüber reden, was mit denen, die nach- sam noch einmal an alle Verantwortlichen wenden und qualifiziert werden müssen und dabei oft den Anschluss sie bitten müssen, auszubilden. an den aktuellen Ausbildungsmarkt verlieren, geschehen soll. Deren Zahl nimmt ja wie eine sich immer stärker (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aufbauende Bugwelle zu. Häufig liegt das Problem da- neten der SPD – Klaus Barthel [SPD]: Natür- rin, dass sie nicht gut genug in der Schule gebildet wur- lich sieht die FDP das anders! – Dr. Heinrich den. L. Kolb [FDP]: Sie müssen dann nur die rich- tige Politik machen!) (Jörg Tauss [SPD]: Ja, ja, die Länder!) – Ich komme gleich noch zu Ihnen, Herr Kolb. – Ich tue – Für die Schulen sind natürlich die Länder verantwort- das überall. Ich habe zum Beispiel heute beim Sparkas- lich. senverband Bayern geredet. Unter den tausend Anwe- senden waren auch sehr viele Unternehmer; sie haben (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) gesagt: Jawohl, wir strengen uns stärker an. – Ich habe es – Dass Sie jetzt klatschen, Herr Tauss, hilft nicht. gestern beim Zentralverband der Elektrotechnik- und Elektronikindustrie getan. Ich könnte Ihnen noch weitere (Nicolette Kressl [SPD]: Aber interessant ist Gelegenheiten aufzählen. Es macht ja keinen Sinn, über es schon!) die Wirtschaft zu schimpfen, sondern wir müssen an ihre Verantwortung appellieren. Ich sage noch einmal: Der Es sind aber zu gewissen Teilen auch die Eltern mit ver- allergrößte Teil der Betriebe nimmt diese Verantwortung antwortlich. So müssen wir sogar feststellen, dass es ernst und wahr. mittlerweile Wohlstandsverwahrlosung gibt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr wahr!) Es ist richtig, Herr Kolb: Es kommt schon darauf an, Sowohl aus Notlagen heraus wie auch im Wohlstand wie die Wirtschaft läuft. Betriebe, die es nicht mehr gibt, kann es zu solchen Fehlentwicklungen kommen; diese können auch nicht ausbilden. gibt es also auf beiden Seiten. Wir müssen uns also über- legen, wie wir mit Leistungsgeminderten und aus ande- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) ren Gründen Verwahrlosten in Zukunft umgehen. 4064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Bundesminister Michael Glos (A) Wir müssen auch versuchen, auf dem Integrationsgip- Gründen, die denen, die Klinken putzen, entgegengehal- (C) fel der Bundeskanzlerin darauf hinzuwirken, dass noch ten werden, warum man nicht mehr ohne weiteres bereit mehr im Bereich der Migrantenkinder getan wird. Hier ist, auszubilden. Trotzdem wird es immer wieder ge- wird aus Gründen der Tradition Mädchen oft nicht ge- schafft, die Zahlen zu erhöhen. stattet, eine Ausbildung aufzunehmen. Ich möchte noch etwas zu den Zahlen der Bundesan- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) stalt für Arbeit sagen. Ich werde demnächst mit Herrn Darüber muss, wie ich glaube, beim Integrationsgipfel Weise ein Gespräch führen. Wir haben schon telefonisch am 14. Juli geredet werden. über die Zahlen diskutiert. Diese Zahlen haben sich auch stark aufgrund einer Statistikumstellung ergeben. Richti- Vor allen Dingen muss auch verstärkt mit den Verbän- gerweise wurde gesagt, dass nicht jeder freie Plätze der den der Unternehmen in Deutschland geredet werden, Bundesagentur meldet. Das wird stärker von den Kam- die nicht in deutscher Hand sind bzw. wo andere Tradi- mern in die Hand genommen. tionen herrschen. Ich meine jetzt nicht nur die türkischen Unternehmerverbände. Wir haben sehr viele erfolgreiche (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) türkische Mittelständler in Deutschland, gerade auch in Ich bin bis zum Beweis des Gegenteils optimistisch, dass dieser Stadt Berlin. es uns mit dem Ausbildungspakt gelingen wird, das, was (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ versprochen wurde, noch zu übertreffen. So war es auch DIE GRÜNEN]: Das muss man klarstellen, im letzten Jahr. dass die nicht das Problem sind!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Es gibt auch andere gute Beispiele. Zu mir kam in diesen Tagen der Manager eines großen Fonds. Diese Fonds ha- Dass es höhere Zahlen sind, ist schon gesagt worden. ben ja immer bestimmte Namen. Ohne dass ich Reklame Ich möchte mich an der Stelle bei den Kolleginnen und machen will: Dieser Fonds heißt „Cerberus“, übersetzt: Kollegen aus dem Deutschen Bundestag bedanken, die Höllenhund. – ich weiß es aus meiner Fraktion – einen zusätzlichen Aktionstag durchführen, bei dem der Abgeordnete in (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE seinem Wahlkreis und da, wo er Verantwortung trägt, GRÜNEN]: Was machen Sie als Wirtschafts- mit Betriebsbesuchen, mit Appellen usw. dazu beiträgt, minister eigentlich?) das Bewusstsein stärker zu wecken. Die sind wirtschaftlich gut und erfolgreich und haben Wir – Frau Ministerin Schavan, Herr Minister Münte- sich auch in Deutschland eingekauft. Nach Aussage des fering, die Verantwortlichen beim DIHK, beim Zentral- (B) Managers stellen sie jedes Jahr, wenn sie selbst nicht verband des Handwerks usw. – werden am 14. Juli zu ei- (D) ausbilden, 1 Million Euro zur Verfügung, die in den je- ner Sitzung des gemeinsamen Lenkungsausschusses weiligen Städten für zusätzliche Ausbildungsplätze ein- zusammenkommen, um eine erste Bilanz zu ziehen. Wie gesetzt werden. An dieser Stelle wird immer der Name es wirklich ausgeht, wissen wir erst im Herbst. Bis dahin einer großen Sportartikelfirma genannt. Ich bin ja neu- dürfen wir in den Anstrengungen nicht nachlassen, noch tral und darf für niemanden Reklame machen. mehr zu tun als in der Vergangenheit. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) DIE GRÜNEN]: Aber das ist die Firma Adi- das, die nicht genügend ausbildet!) Dafür und für diese Aktionen kann ich Ihnen jetzt schon danken. Ich hoffe, dass das alle Seiten dieses Hau- Es ist eine Möglichkeit, wenn man selbst nicht genügend ses tun. Frau Kollegin Kressl hat das Thema Mobilität Kapazitäten hat, weil man hauptsächlich nur handelt und angesprochen. Per saldo stimmt die Bilanz optimistisch. die Produkte von woanders bezieht, zu sagen: Dann ma- Ich kann nur die jungen Leute ermuntern, auch einen chen wir auch einmal Sponsoring für die Ausbildung. Ausbildungsplatz anzunehmen, der sich außerhalb der (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Stadt oder der Region, aus der man kommt, findet. FDP) Früher musste man sogar woanders hingehen. Es ge- Es ist auch ein gutes Beispiel, das wir weiter verfolgen hörte zur handwerklichen Ausbildung, dass man gewan- sollten. dert ist. Heute reist man in die ganze Welt, wenn man kann, möchte aber unbedingt bei Muttern zu Hause blei- (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE ben, wenn es um Ausbildungsplätze geht. Auch da kann GRÜNEN]: Warum machen Sie das nicht? – ich nur an die Betreffenden appellieren, Mobilität zu zei- Gegenruf von der CDU/CSU: Einfach mal zu- gen. Ich bin überzeugt: Bei gutem Willen aller Beteilig- hören!) ten – sowohl bei den Jugendlichen als auch bei den Be- Ich hatte ein sehr intensives Gespräch mit denen, die in trieben – können wir eine Win-win-Situation schaffen, in den Kammerorganisationen an der Front stehen und die der die jungen Leute gewinnen – das liegt mir ganz be- die Arbeit leisten, Frau Kollegin, mehr Ausbildungs- sonders am Herzen –, in der aber auch die Wirtschaft ge- plätze einzuwerben. Hier ging es überhaupt nicht um winnt. Die Zahlen werden sich ja in ein paar Jahren oh- Show und um Reklame. Ich habe mich auch bei den nehin wieder verändern. Es gilt: Diejenigen, die heute Leuten bedankt. Sie müssen sich viel anhören. Denen nicht ausgebildet sind, werden morgen als Arbeitskräfte sollten wir zuhören. Natürlich gibt es eine Reihe von nicht zur Verfügung stehen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4065

Bundesminister Michael Glos (A) Danke schön. Dutzende von Studien, Berichten, Gutachten usw. bele- (C) gen das; Beiräte brüten seit Jahren darüber. Aber so rich- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tig und wichtig der technologische Aspekt bei der Inno- vation ist, so oft wird die zentrale Voraussetzung Präsident Dr. Norbert Lammert: technologischer Leistungsfähigkeit unterschlagen, näm- Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Barthel, lich die Fähigkeit der Menschen selber, neue Technolo- SPD-Fraktion. gien zu entwickeln, anzuwenden und zu beherrschen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Es macht – Herr Minister hat es erwähnt – die bishe- Klaus Barthel (SPD): rige Stärke des Exportweltmeisters Deutschland aus, Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- dass wir bei unserer technologischen Leistungsfähigkeit gen! Zunächst einmal hat mich die Kritik der Opposition nicht nur auf akademisch geprägte Forschung und Ent- an der Aktuellen Stunde überrascht. wicklung zurückgreifen können, sondern auch auf das breite Wissen und Können von Fachkräften zählen kön- (Beifall bei der SPD – Priska Hinz [Herborn] nen, die das duale System durchlaufen haben. Dieses du- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der FDP!) ale System ist eine Grundlage für Weiterbildung, sei sie Ich garantiere Ihnen: Hätten wir sie nicht beantragt, dann schulisch, akademisch, sei sie betrieblich. hätte es geheißen, wir würden die schwierige Situation auf dem Lehrstellenmarkt ignorieren, Herr Kolb. Des- Aber was ist unterdessen die Realität? Die Zahl der halb kann ich Ihre Kritik nicht nachvollziehen. angebotenen betrieblichen Ausbildungsplätze sinkt so- wohl konjunktur- und arbeitsmarktabhängig – im letzten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jahr um 3,5 Prozent – als auch langfristig, in den letzten Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE 14 Jahren um etwa ein Viertel; das muss man sich ein- GRÜNEN]: Die FDP ist nicht die ganze Oppo- mal vorstellen. Es wird nach Verkürzungen der Ausbil- sition; darauf möchte ich mal hinweisen!) dungszeit gerufen und gleichzeitig durch Warteschleifen, Praktika und Einstiegsqualifizierung die Ausbildung de Für mich ist in diesem Zusammenhang ein besonderes facto verlängert. Alarmzeichen, dass sich inzwischen selbst in ökono- misch starken Regionen unseres Landes der Lehrstellen- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul mangel zuspitzt. Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnen- Lehrieder [CDU/CSU]) verband berichtet zum Beispiel in diesen Tagen, dass (B) Mitte Mai, also vor sechs Wochen, erst 30 Prozent der Ein Teil der Betriebe – auch das gibt es – nutzt die Ein- (D) Hauptschulabgängerinnen und -abgänger der neunten stiegsqualifizierung nicht für Jugendliche mit Wettbe- Klasse einen Ausbildungsvertrag in der Tasche gehabt werbsnachteilen, für die sie gedacht ist, sondern zur bil- hätten; bei den Praxisklassen seien es erst 24 Prozent ge- ligen Verlängerung der Ausbildungszeit. wesen. Das bedeutet, dass zwei Drittel dieser Jugendli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der chen in Bayern noch vor dem Nichts stehen. Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/ (Jörg Rohde [FDP]: Heute in der Statistik: DIE GRÜNEN]) 30 000 fehlen!) Wie sonst ist es zu erklären, dass wir in den Einstiegs- Ich halte aber dagegen, dass in den letzten Jahren qualifizierungen zur Hälfte Realschülerinnen und Real- viele Wünsche der Unternehmen – und auch der FDP – schüler und sogar Abiturienten antreffen? hinsichtlich Flexibilisierung und Modernisierung, aber auch des Abbaus mancher Standards, genannt Ausbil- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Priska dungshemmnisse, erfüllt worden sind. Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo denn?) Wie erleben, dass die Situation auf dem Stellenmarkt Stichworte: Ausbilder-Eignungsverordnung ausgesetzt, und die dadurch entstehende Erpressbarkeit der Jugend- Probezeit verlängert, zweijährige Ausbildung erleichtert, lichen ausgenutzt werden, um unwürdige Verhältnisse zu neue Ausbildungsberufe eingeführt, Neuordnungsver- schaffen. Das Ganze ist nicht nur unfair und moralisch fahren beschleunigt. Das hat sogar die Arbeitgeber- empörend, sondern gefährdet letzten Endes die Zukunfts- gruppe im Hauptausschuss des Bundesinstituts für Be- chancen unserer Volkswirtschaft. rufsbildung in ihrer Stellungnahme zum aktuellen Berufsbildungsbericht zugegeben. (Beifall bei der SPD) Als Wirtschaftspolitiker will ich aber noch einmal auf FDP, Unternehmerverbände und Kammern haben in die ökonomische Dramatik der Lage hinweisen. Es be- der Vergangenheit immer argumentiert: Wenn sich die steht offenbar breiter Konsens darüber, dass die Zukunft wirtschaftliche Lage der Betriebe verbessern würde, der Wirtschaft vor allen Dingen von Innovationen ab- würden auch die Chancen steigen, Ausbildungs- und Ar- hängt. beitsplätze zu schaffen. (Beifall bei der SPD) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) 4066 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Klaus Barthel (A) Jetzt wissen wir aber – ich will es nicht verallgemei- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) nern –: Die Gewinne der Unternehmen sind in den letz- Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und ten Jahren im Durchschnitt deutlich gestiegen. Forschung, Dr. Annette Schavan. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Im Mittelstand (Beifall bei der CDU/CSU) sieht das ganz anders aus!) Nach dem „Handelsblatt“ vom Anfang dieser Woche Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- sind die Nettogewinne der DAX-Unternehmen um dung und Forschung: 12,6 Prozent gestiegen. Außerdem schreibt das „Han- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! delsblatt“, dass die Ausgangsbasis immer höher werde Meine Damen und Herren! Die berufliche und dass die Gewinne der kleinen und mittleren Unter- Bildung – dazu gehört die Kooperation von Unterneh- nehmen erneut stärker als die der großen Konzerne im men und Schule – ist das Herzstück des Bildungssys- DAX wachsen dürften. tems in Deutschland und damit die beste Vorbeugung ge- gen Jugendarbeitslosigkeit. Auffälligerweise sind gerade die Unternehmen beim Arbeits- und Ausbildungsplatzabbau besonders gut ver- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der treten – Herr Kolb, jetzt hören Sie einmal gut zu –, die FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So weit, so die höchsten Gewinnzuwächse hatten. gut!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Deshalb wächst das Interesse unserer europäischen DIE GRÜNEN) Nachbarn an unserem dualen Ausbildungssystem. Es hat gestern unter Moderation und auf Initiative Deutsch- Da können doch nicht die großen Unternehmen, die Mil- lands ein Treffen von Vertretern aus sechs europäischen liardengewinne einfahren, über eine Ausbildungsvergü- Ländern gegeben, auf dem Pläne für eine Kooperation tung von 600 Euro philosophieren. und für eine gemeinsame Modernisierung dieses Teil des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bildungssystems besprochen wurden. DIE GRÜNEN) Ich finde es übrigens richtig, dass sich der Deutsche Im Übrigen möchte ich feststellen, dass die Wirt- Bundestag mit diesem Zukunftsthema regelmäßig be- schaft bis jetzt jeden Beweis schuldig geblieben ist, dass schäftigt. niedrige oder sinkende Ausbildungsvergütungen Ausbil- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kann man dungsplätze schaffen, sonst müssten doch die neuen doch im Rahmen der regulären Tagesordnung Bundesländer ein Ausbildungsparadies sein. Aber genau machen!) (B) das Gegenteil ist der Fall. (D) Das ist ein Thema auf allen politischen Ebenen und au- (Beifall bei der SPD) ßerdem ein Thema der Tarifpartner. Es geht in diesem Wir erleben quasi eine Verstaatlichung der berufli- Zusammenhang auch um eine zentrale Frage mit Blick chen Bildung. Wir stützen mit arbeitsmarktpolitischen auf die Innovationsfähigkeit unserer Unternehmen und Maßnahmen mit einem Volumen von 1,6 Milliarden die Zukunftschancen der jungen Generation. Euro den Ausbildungsmarkt. 10 Milliarden Euro, also (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mehr als die Hälfte der Gesamtkosten, gibt die öffentli- neten der SPD) che Hand für die berufliche Ausbildung dazu. Daraus folgt, es fehlt nicht an Geld, Gesetzen, Sonntagsreden Ich nenne die konkreten Schritte, die diese Regierung und an theoretischen Erkenntnissen. Es fehlt auch nicht in den ersten sieben Monaten ihrer Amtszeit gegangen an Bemühungen von vielen Kammern. Wir haben da ist. schon von vielen rühmlichen Ausnahmen in den Betrie- Erstens. Wir haben mit den ausländischen Unterneh- ben gehört; das erkennen wir ausdrücklich an. men gesprochen. Wir haben Vereinbarungen über An- reize getroffen und im Gegenzug die Zusage bekommen, Präsident Dr. Norbert Lammert: dass 10 000 zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen Herr Kollege. werden. Wir werden in den kommenden Monaten acht Regionalkonferenzen in Deutschland durchführen, auf Klaus Barthel (SPD): denen wir die ausländischen Unternehmen gezielt an- Ich will zum Schluss aus dem brandaktuellen Thesen- sprechen wollen. Wir wollen sie an unsere Ausbildungs- papier der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge- kultur heranführen und ihnen Brücken bauen, damit berverbände zitieren. Unter dem Titel „Bildung schafft diese 10 000 neuen Ausbildungsplätze geschaffen wer- Arbeit“ heißt es: den können. Diese konkrete Aktion wird die Zukunfts- chancen verbessern. Bildung ist der entscheidende Schlüssel für die Zu- kunfts- und Wohlstandschancen Deutschlands ... (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich sage: Auf geht’s! Die Heuschrecken werden umschmeichelt!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zweitens. Wir haben ein neues Bund/Länder-Sonder- der CDU/CSU) programm zur Förderung von Ausbildungsplätzen in den Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4067

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) neuen Bundesländern aufgelegt. Dort haben wir eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) ganz besondere Situation. Denn dort ist der klassische neten der SPD) Mittelstand, der das Rückgrat der Ausbildung in Deutschland ist, nicht so stark vertreten wie in den alten Wir erarbeiten in den nächsten Wochen ein gemeinsa- Bundesländern. Deshalb müssen die neuen Länder und mes Konzept zur Frage: Wie schaffen wir die Weiterent- der Bund mehr investieren. Wir tun das. Wir schaffen wicklung von Einstiegsqualifikationen, sodass gestufte auch hier Brücken. Wir wollen auch hier die Schaffung Ausbildungsgänge möglich werden, bei denen das, was von jährlich insgesamt 13 000 zusätzlichen Ausbil- jemand im ersten, zweiten oder dritten Schritt erwirbt, dungsplätzen ermöglichen. weiter eingebracht werden kann? Das ist eine Moderni- sierung, die am Ende zu dem führt, was im Koalitions- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vertrag steht, nämlich Erstausbildung und Weiterbildung neten der SPD) miteinander zu verknüpfen. Drittens. Wir haben dafür gesorgt, dass das Programm (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also, alles wird Jobstarter – es stellt eine gute Bündelung bisheriger Pro- gut!) gramme dar – in den nächsten Jahren finanziert wird. In Das setzt eine Modularisierung voraus. Da müssen alle den Haushaltsberatungen haben wir dies gesehen. Ich mitmachen. Da werden wir uns einig werden. Je mehr bin davon überzeugt, dass das vor allen Dingen mit wir gemeinsam tun, umso mehr werden uns auch die Ta- wichtigen Impulsen für kleine Unternehmen verbunden rifpartner bei den Prozessen der Modernisierung folgen. ist, die Einstiegsschwierigkeiten haben. Wir brauchen gezielte Einsteigerprogramme. Wir brauchen Möglich- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg keiten der Begleitung von Ausbildern in kleinen Unter- Rohde [FDP]: Vorsicht, sonst kriegt die Minis- nehmen bei der Ausbildung von Jugendlichen. terin den schwarzen Peter!) Viertens. Wir diskutieren nicht nur über sehr konkrete Ich könnte Ihnen jetzt weitere Schritte nennen. Im Schritte bei der Modernisierung der beruflichen Bildung. Laufe der Zeit erhalten Sie dazu schriftliche Informatio- Vielmehr hat die Umsetzung in Form von Neuordnungen nen. Sie werden es auch vor Ort merken. an der Nahtstelle zwischen Bildung und Beschäftigung längst begonnen. Wir brauchen andere Kooperationen, Ich will noch etwas zu den Regionalagenturen sagen. andere Angebote an Jugendliche und gezielte, verbindli- Jeder von uns besucht sie doch in seinem Wahlkreis. Wir che Erklärungen. Die Einstiegsqualifikationen, die er- sollten, finde ich, nicht einfach darüber hinweggehen, worben werden, müssen auch angerechnet werden. Es dass es vor Ort hoch interessante, längst existierende (B) muss eine Optimierung im Hinblick auf die Lebenszeit Netzwerke zwischen dem beruflichen Schulwesen, den (D) junger Menschen erfolgen. Darüber wird doch nicht nur Unternehmen und den Kammern zum Teil unter Mode- debattiert. Damit wurde schon begonnen. Die ersten ration der Regionalagenturen gibt. Ich kenne hoch inte- Bundesländer befinden sich längst in Umsetzungspro- ressante Ansätze und sehr gute Angebote von Regional- zessen. Die ersten Einstiegsqualifikationen sind längst agenturen, um Jugendliche, die Schwierigkeiten haben, erworben und wurden in die weitergehende Ausbildung die nicht einfach die Bereiche Lesen, Schreiben oder der Jugendlichen eingebracht. Rechnen betreffen – sie haben ganz andere Schwierig- keiten –, in einer relativ überschaubaren Zeit zur Ausbil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dungsreife zu bringen und sie damit in eine Ausbildung neten der SPD – Priska Hinz [Herborn] zu führen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, leider nicht! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann ist (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg doch alles in Ordnung!) Tauss [SPD]: Das muss verbreitert werden!) Ich rate uns: Der ganzen Debatte um Ausbildungs- Ein ganz wichtiger Punkt ist – Sie haben es angespro- plätze und berufliche Bildung täte es gut, wenn die chen –: Drei Ressorts der Bundesregierung sind mit Teil- wechselseitigen Vorwürfe und das wechselseitige Ka- elementen in diesem großen Feld tätig. Diese drei Res- puttreden der Argumente beendet würden. sorts arbeiten jetzt zusammen. Auch das ist keine Selbstverständlichkeit. Ich habe gelernt, dass das in den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – letzten Jahren nicht so gut geklappt hat. Dies klappt jetzt Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber Schönreden zwischen uns. nützt auch nichts!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich erlebe seit Jahren – egal, welcher Vorschlag kommt –, dass immer jemand sagt: Mit uns ist das nicht machbar. – Wir arbeiten nicht nur mit verteilten Rollen, sondern Ich finde, in einer solchen Diskussion, in der es um mehr wissen auch, wo wer am besten wirken kann und wo wir Zukunftschancen geht, darf es kein Tabu geben. uns aufeinander zu bewegen müssen. Das Wirtschafts- ministerium und wir werden das zum Beispiel bei der Zum Thema Ausbildungsvergütung. Ich stimme je- Frage der Weiterentwicklung von Ausbildungsberufen dem zu, der sagt: Das ist nicht Sache der Politik. – Auch tun. Wir müssen wegkommen von immer mehr Speziali- in meinem Wahlkreis gibt es viele, die sagen: Das ist sierungen. Wir brauchen ein breiteres Fundament und nicht unser Thema. Die Vergütung haben wir vereinbart. dann Spezialisierungen. Wenn wir sie ändern wollen, können wir dies tun. 4068 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) Jetzt soll man aber nicht so tun, als hätten wir kein und mit Ihnen debattieren. Alle gesellschaftlichen Kräfte (C) Berufsbildungsgesetz, sind aufgerufen, dieses Thema zu besetzen und jedem Jugendlichen eine qualifizierte Ausbildung zu ermögli- (Nicolette Kressl [SPD]: Aber schon immer!) chen. das übrigens in der letzten Legislaturperiode moderni- Vielen Dank. siert wurde und unter anderem den Passus enthält, dass bei nicht tarifgebundenen Vergütungen Abweichungen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) von bis zu 20 Prozent möglich sind. Jetzt nenne ich ein- mal das konkrete Beispiel einer Buchhändlerin aus Präsident Dr. Norbert Lammert: Aachen, die sagt, in ihrer Buchhandlung arbeite außer Das Wort hat nun der Kollege Willi Brase, SPD-Frak- ihr noch eine Teilzeitkraft mit 50 Prozent und die tion. 700 Euro für einen Auszubildenden habe sie nicht. Sie könnte sich jedoch vorstellen, einen Auszubildenden für (Beifall bei der SPD) 560 Euro einzustellen, die sie noch so grade zusammen- bekäme. Ich möchte das Thema nicht zu ausführlich be- Willi Brase (SPD): handeln, halte es aber nicht für gut, in solchen Situatio- Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe nen einfach nur zu sagen: Es geht nicht, das ist Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass viele Vor- Ausbeutung von Jugendlichen. Das ist ein Konterkarie- redner die Lage am Ausbildungsstellenmarkt sehr gut ren des Gesetzes, das der Deutsche Bundestag verab- beschrieben haben. schiedet hat. (Jörg Rohde [FDP]: Besonders der von der (Beifall bei der CDU/CSU) FDP!) Wenn man das falsch gefunden hätte, hätte man es bei – Nein, nun überschätzen Sie Herrn Kolb mal nicht. der Modernisierung ändern können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es würde den Jugendlichen und auch dem ganzen Thema gut tun, wenn in den Debatten nicht immer der Ich finde es gut – das will ich ausdrücklich auch dem eine über den anderen herfallen würde. Ich habe den Er- Wirtschaftsminister, der sich im Augenblick in den Rei- lass der Prüfungsgebühren bei Kammerprüfungen ins hen der Abgeordneten aufhält, sagen –, dass die Kanzle- Gespräch gebracht. rin endlich einmal deutlich gesagt hat, was wir am 30. September, möglicherweise am 31. Dezember von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Wirtschaft erwarten. Sie hat nämlich gesagt: Wir der SPD) (B) brauchen 50 000 Ausbildungsplätze für die jungen (D) Leute, damit wir dieses Ausbildungsjahr einigermaßen Dazu bekomme ich jetzt unentwegt Briefe. Das sei völ- vernünftig überstehen. lig unmöglich. Natürlich weiß ich, dass das nicht mehr als ein Symbol ist, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Jörg Tauss [SPD]: Aber ein wichtiges Sym- Ich glaube, wir sollten uns als Fraktion daran messen bol!) lassen und auch die Regierung daran messen, ob wir die- ses Ziel erreichen. weil man auch sagen kann, dass es auf die 500 Euro auch nicht ankommt. Es geht dabei aber erstens um struktu- Ich möchte jetzt aus der Sicht – ich glaube, hier bin relle Veränderungen ich der Einzige – eines in der beruflichen Bildung Ver- antwortlichen das eine oder andere hier bewerten. Ich (Jörg Tauss [SPD]: So ist es!) bin alternierender Vorsitzender einer Kammer in mei- und zweitens um die Bereitschaft seitens der Wirtschaft, nem Heimatland in Nordrhein-Westfalen, dem Sieger- mehr in Ausbildung zu investieren. Bekanntlich lautet land. Ich kann nur sagen, dass wir manches, was hier ein Satz des Berufsbildungsgesetzes seit 1969: Berufli- diskutiert wurde, seit Jahren in praktischer, vernünftiger che Bildung ist Sache der Wirtschaft. Drittens besteht Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Gewerkschaf- die Notwendigkeit, Symbole zu setzen und die Spiel- ten, Berufskollegs und der Arbeitsagentur bzw. jetzt der räume zu nutzen, die uns das Gesetz gibt, und nicht so zu Arge machen. tun, als sei die Nutzung gesetzlicher Möglichkeiten un- (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Aber sittlich. nicht überall!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Daran, wie wir mit den Dingen umgehen, könnte sich Die Zahlen eines jeden Jahres verändern sich von Wo- mancher Politiker, der hier Fensterreden hält, ein sehr che zu Woche. Es gibt einen Unterschied zwischen den gutes Beispiel nehmen. Zahlen der Bundesagentur für Arbeit und der Zahl der (Jörg Tauss [SPD]: Aber noch nicht überall!) Ausbildungsverträge, die tatsächlich zustande kommen. Ich rate uns, unser Augenmerk in den nächsten Wochen Im Rahmen des Ausbildungspakts ist das Sonderpro- und Monaten ganz stark auf dieses Thema zu lenken. gramm Einstiegsqualifizierung Jugendlicher, EQJ, auf Wir reden über ein Zukunftsthema. Die Bundesregierung den Weg gebracht worden. Die Untersuchungen des wird in dieser Legislaturperiode eine Maßnahme nach G. I. B. – das ist eine nordrhein-westfälische Gesell- der anderen zur Modernisierung des Systems vorlegen schaft – und der Hans-Böckler-Stiftung über die Situa- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4069

Willi Brase (A) tion im westlichen Ruhrgebiet belegen, dass zwischen Schreiben, Rechnen etc. alle Jugendlichen mitzuneh- (C) 58 und 63 Prozent der EQJ-Teilnehmer direkt nach der men. Qualifizierung eine Ausbildung beginnen. Das ist gut. Drittens. Auch Unternehmensvertreter haben gesagt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – 72 Prozent haben dem zugestimmt –, dass Unterneh- men auch schwächeren Jugendlichen eine Chance bieten Nachdenklich muss uns aber stimmen, dass davon sehr und ihre Entwicklungspotenziale einschätzen sollen. Das viele einen mittleren Bildungsabschluss haben. Das ist wurde gefordert. Ich kann nur sagen: Das ist richtig so. ein Zeichen dafür, dass die Unternehmen offensichtlich noch nicht genügend qualifizierte Ausbildungsplätze an- Viertens. Man erwartet zu Recht auch von den jungen bieten und sie die Hauptschulabgänger dadurch ein Leuten, dass sie sich ein bisschen stärker für den Betrieb, Stück weit verdrängen. ihre Ausbildung und ihre Zukunftsperspektiven interes- sieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Das müssen wir in einem vernünftigen, regionalen GRÜNEN) Pakt zusammenbringen: Wir müssen die Familien unter- stützen, damit es den jungen Leuten dort besser geht. Bei den Beratungen zum Ausbildungspakt haben wir Wir müssen die Schule stärker fordern. Die Lehrerinnen gesagt, dass wir EQJ vor allen Dingen deshalb machen, und Lehrer müssen die Kompetenzen vermitteln. Wir um den jungen Leuten aus den Hauptschulen eine ver- müssen den Unternehmen klar machen, was von ihnen nünftige Perspektive zu bieten. erwartet wird. (Beifall bei der SPD) Der Berufsbildungsbericht zeigt, wie viele Unterneh- Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir dieses Instrument men ausbilden und wie viele nicht ausbilden. Schauen dahin gehend überprüfen. Sollte sich der Trend fortset- Sie sich das an vor dem Hintergrund, wie viele Unter- zen, dass sich aufgrund der Mangelsituation verstärkt nehmen ausbilden könnten. Hier ist noch sehr viel zu ho- Schüler mit mittlerem Bildungsabschluss durchsetzen, len. Ich empfehle der Kanzlerin und den zuständigen dann müssen wir einschreiten. Wir müssen auch unseren Ministern, an die Betriebe heranzugehen, die ausbilden Hauptschülern eine vernünftige Perspektive bieten. könnten, es aber nicht tun. Auf die müssen und wollen wir mehr Druck ausüben. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Zur Ausbildungsreife. Selbstverständlich habe ich die (B) Untersuchungen des DIHK vom letzten und den voran- Präsident Dr. Norbert Lammert: (D) gegangenen Jahren gelesen. Wenn man sich die Ergeb- Das wäre ein vorzüglicher Schlusssatz gewesen, Herr nisse der letzten zehn Jahre ansieht, stellt man fest, dass Kollege. immer dann, wenn die Ausbildungssituation sehr schwierig war, gesagt wurde, dass das an der fehlenden Willi Brase (SPD): Ausbildungsreife der Jugendlichen liege. Ich finde, der Herr Präsident, darf ich noch einen Satz sagen? DIHK hat es gar nicht nötig, ein so dummes Argument vorzuschieben. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Ja. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Danckert [SPD]: Bei dem Satz kann die FDP Willi Brase (SPD): wenigstens mal mitklatschen!) Ich bedanke mich sehr herzlich. – Frau Schavan hat Es gibt eine sehr gute Untersuchung des Bundesinsti- als zuständige Ministerin zusammen mit der Kultus- tuts für Berufsbildung, die im November des letzten Jah- ministerkonferenz den Bildungsbericht 2006 herausge- res veröffentlicht wurde. Sie enthält eine inhaltlich klare geben. Hochinteressant ist nicht die Herausgabe, son- Beschreibung des Begriffs Ausbildungsreife und be- dern das, was darin steht. schreibt, was erforderlich ist, um eine Ausbildung ma- chen zu können. Diese Untersuchung ist von Fachleuten Präsident Dr. Norbert Lammert: gemacht worden, die tagtäglich im Bereich der berufli- Das ist jetzt der dritte Satz. chen Bildung tätig sind. Die Ergebnisse sind äußerst spannend. Die Konsequenzen sind weit reichend: Willi Brase (SPD): (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt aber!) Interessant ist, dass wir sozusagen einen Dreierlauf Erstens. Es gibt – das ist völlig klar – Probleme im fa- haben: Ein Großteil der jungen Leute befindet sich in der miliären Bereich, die für bestimmte Verhaltensweisen dualen Ausbildung. Ein gleich großer Anteil junger ursächlich sind. Da müssen wir etwas tun. Leute befindet sich im so genannten Übergangssystem, BVJ, BGJ oder berufsvorbereitenden Bildungsmaßnah- Zweitens. Es gibt Probleme bei den Schulen. Es men. Außerdem haben wir eine zunehmend große An- wurde eben zu Recht gesagt, dass es wichtig ist, bei der zahl Jugendlicher im Bereich vollqualifizierender Aus- Vermittlung der Kompetenzen in den Bereichen Lesen, bildung an Schulen. 4070 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Willi Brase (A) Ich rate uns allen, diesen Bericht hier im Parlament zu Mein Appell lautet, eben nicht nur die heutigen Kom- (C) diskutieren. Ich glaube, daraus müssen wir Konsequen- petenzen eines Menschen zu sehen, sondern auch seine zen ableiten, damit wir auch zukünftig unseren jungen Perspektive im Blick zu haben. Es ist wie mit den Ak- Menschen eine vernünftige Perspektive bieten können. tien: Man muss in Menschen investieren und sehen, wie sie sich entwickeln und welche Perspektiven sie haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das hat uns Klinsmann mit Odonkor bei der Weltmeis- Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist der Kol- terschaft gezeigt. Die Experten sagten: Das ist alles Un- lege Uwe Schummer für die CDU/CSU-Fraktion. sinn, er hat keine Erfahrung. Klinsmann hat aber auf ihn gesetzt und ihn in die Nationalelf berufen. Letztendlich (Beifall bei der CDU/CSU) hat er das Vertrauen, das er in ihn investiert hat, in Form von Motivation zurückerhalten. Odonkor hat sich be- Uwe Schummer (CDU/CSU): währt. Genauso muss es in der Wirtschaft sein. Dort geht Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Liebe es zwar um Ausbildung, nicht um Weltmeisterschaft, Kollegin Hirsch, Sie haben gesagt, dass die Bundesagen- aber man investiert auch in die Menschen und in deren tur für Arbeit für das Ausbildungsjahr eine Ausbildungs- Perspektiven, die entwickelt werden müssen. Das ist der platzlücke von 150 000 prognostiziert. Tatsache ist: Appell an die Wirtschaft. Nach dem heutigen Stand der Bundesagentur wird sie auf Aber die Wirtschaft braucht dabei Hilfe. Lassen Sie 30 000 prognostiziert. Das ist ein eklatanter Unterschied. uns doch überlegen, welche Berufsbegleitung neben den Aber das zeigt im Grunde – das ist das Bedauerliche –, Maßnahmen, die schon existieren, möglich ist. In einer Kollegin Hirsch, dass der Misserfolg des Ausbildungs- Berufsschule kann Ganztagsunterricht bis 17 Uhr laufen. paktes doch von Ihrer Gruppe mit klammheimlicher Dann kann man nach einem Profiling für die jungen Freude genutzt wird, um Ideologie zu machen, und Menschen, die eine Lese- oder Rechenschwäche oder nicht, um den Menschen zu helfen. anderweitig Probleme haben, am Nachmittag einen ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zielten Förderunterricht organisieren. Man muss versu- neten der FDP) chen, in der Berufsschule solche Negativbereiche in der Ausbildung abzubauen, und dafür sorgen, dass eben Ihnen kann ich nur empfehlen, Zahlen zu lesen und da- nicht der Betrieb all das aufarbeiten muss, was im allge- rauf vernünftige Konzepte aufzubauen. Das ist die Philo- meinen Bildungssystem nicht richtig gelaufen ist. Wir (B) sophie des Ausbildungspaktes. brauchen im dualen System eine Begleitung innerhalb (D) (Widerspruch bei der LINKEN) der Berufsschule. Das sollten wir miteinander bereden und auf den Weg bringen. Wir in der großen Koalition leben davon, dass es den Menschen durch die Politik besser geht, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Aber das geht (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na! Da warten nicht an einem Tag! Da sind wir uns doch ei- wir aber lange!) nig?) während Sie als Manager des Elends vom Misserfolg le- – Das geht nicht an einem Tag. ben. Aber die Zielsetzung, dem Handwerksmeister zu ver- (Beifall bei der CDU/CSU) mitteln, dass innerhalb des ersten Jahres diese Lese- oder Die Menschen werden letztendlich sehen, wem es im Rechenschwäche abgebaut wird, wäre eine gute Motiva- nächsten Jahr im September, im Ausbildungsjahr besser tion für ihn, zu sagen: Wir stellen diesen Jugendlichen gehen wird: denjenigen, die dort leben, wo eine große ein, obwohl er Defizite hat. Keiner darf verloren gehen. Koalition regiert, oder denjenigen, die in Bundesländern Es kann nicht sein, dass wir einfach untätig zuschauen, leben, in denen Sie, die PDS, mit an der Regierung sind, wenn 1,3 Millionen Schulabgänger bis 29 Jahre derzeit also in Mecklenburg-Vorpommern oder in Berlin. ohne eine berufliche Ausbildung auf der Straße stehen und nicht in die Arbeitswelt integriert werden. Wir haben noch zwei Monate. Jetzt ist die Zeit, nicht nur über Zahlen zu reden, sondern vor allem, um zu han- (Beifall bei der CDU/CSU) deln, damit jeder ausbildungsbereite Jugendliche eine Jeder zweite Bewerber, der bisher nicht vermittelt ist, Qualifizierung findet. Es ist ein gutes Zeichen, dass kommt aus der Hauptschule. Ich habe mir vom Berufs- beide Minister miteinander in die gleiche Richtung zie- bildungsinstitut in Bonn noch einmal bestätigen lassen: hen. Es ist ein gutes Zeichen, dass auch die Kanzlerin, 90 Prozent aller Berufsbilder – aktuell haben wir 340 – Angela Merkel, sich persönlich einschaltet, nicht nur mit sind für Hauptschüler verschlossen. Wir müssen auch Briefen, sondern indem sie in die Betriebe geht und sehr die eigene Diskussion betrachten. Einerseits, wenn in der persönlich dafür wirbt, dass die Wirtschaft in Menschen Rütli-Hauptschule in Berlin oder anderswo Missstände investiert, genauso wie sie in Maschinen investiert. auftreten, beklagen wir, dass Hauptschüler keine Per- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- spektive haben, und auf der anderen Seite entwickeln neten der SPD) wir Berufsbilder so weit, dass praktisch begabte Haupt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4071

Uwe Schummer (A) schüler immer weniger Zugangschancen zu einer ver- Detlef Parr (FDP): (C) nünftigen Qualifizierung haben. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kol- lege Koschyk hat die erste Wette schon gewonnen. Er Im Rahmen der Berufsbildungsreform, die Frau An- hat nämlich darauf gewettet, dass der Kollege Parr nette Schavan zu Recht ansprach, wurde die Philosophie spricht. Er hat Recht behalten. vereinbart, Berufsbilder in größerem Umfang stufen- weise zu organisieren. Es sollen auch Zwischenab- (Beifall des Abg. Hartmut Koschyk [CDU/ schlüsse möglich sein. Wenn man zum Beispiel eine CSU]) Ausbildung im dritten Lehrjahr nicht fortsetzt, kann man Urteile, Urteile, Urteile. Auf wohl keinem anderen später durch Weiterbildung über verschiedene Module Politikfeld gibt es derzeit so viel Rechtsunsicherheit und eine zweite Chance erhalten und auf dem bisher Erreich- so viel Widersprüchliches wie bei den Sportwetten. ten aufbauen. Es soll eine Berufstreppe geschaffen wer- Jüngstes Beispiel: Gestern vermeldete das OVG Münster den, die für das lebenslange Lernen mitgenutzt werden das Aus für private Sportwetten. Das war eine unge- kann. Die Umsetzung der Berufsbildungsreform – einer wöhnlich harte Entscheidung, die über das Urteil des breiten Grundausbildung, die stufenweise bis hin zur Er- Bundesverfassungsgerichts hinausgeht und weitere Kla- langung akademischer Würden weiterorganisiert wird – gen nach sich ziehen wird. müssen wir beschleunigen. Hier sind wir alle gefordert. Diese Klagespirale muss ein Ende haben. Wir brau- Meine Damen, meine Herren, der Arbeitsmarkt ist in chen endlich Rechtsklarheit. Um sie zu erreichen, müs- Bewegung. Im Jahresvergleich sind 370 000 Arbeitslose sen wir auf allen Ebenen und mit allen Betroffenen eine weniger zu verzeichnen. Der Verband der Ingenieure hat ehrliche und tabulose Diskussion über den richtigen und mitgeteilt, dass der Anteil arbeitsloser älterer Ingenieure einen zukunftsfesten Weg dorthin führen. Ich bin ge- um 25 Prozent gesunken ist, weil sie vermittelt wurden. spannt, wie ehrlich die heutige Debatte sein wird. Auch die Zahl der jüngeren Arbeitslosen bis 25 Jahre ist im Jahresvergleich um 100 000 zurückgegangen. Der (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Arbeitsmarkt bewegt sich also. Auch die Ausbildungs- Oh ja! Ich auch! – Hartmut Koschyk [CDU/ platzsituation wird in Bewegung kommen. Dafür werden CSU]: Wir sind doch immer ehrlich, Detlef!) wir, wird die große Koalition sorgen. Das Bundesverfassungsgericht hat unmissverständ- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lich festgestellt, dass das bestehende staatliche Wettmo- nopol mit dem Grundrecht der Berufsfreiheit unverein- Präsident Dr. Norbert Lammert: bar ist und dass sich der Staat nicht durch die Angebote, Mit dieser ultimativen Klarstellung ist die Aktuelle die er macht, seine Taschen füllen darf. Es hat darüber (D) (B) Stunde beendet. hinaus zum Ausdruck gebracht, dass die Veranstaltungen des Sportwettenanbieters Oddset erkennbar auch fiskali- Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 7 auf: sche Zwecke verfolgen und dass eine Abschöpfung von Mitteln aus dem Glücksspiel für Gemeinwohlzwecke, Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef also auch für den Sport, nur möglich ist – so das Gericht –, Parr, Joachim Günther (Plauen), Jens Acker- wenn die Suchtbekämpfung oberstes Ziel ist. mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Als sucht- und drogenpolitischer Sprecher meiner Fraktion stelle ich fest: Recht der Sportwetten neu ordnen und Finan- zierung des Sports sowie anderer Gemein- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Oh! Oh!) wohlbelange sichern Bis zu diesem Urteil hat das Thema Spielsucht in der öf- – Drucksache 16/1674 – fentlichen Diskussion überhaupt keine Rolle gespielt. Überweisungsvorschlag: (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: Sportausschuss (f) Genau! Siehe Kasinos! Niemand musste bis- Innenausschuss Rechtsausschuss her sein Kasino schließen!) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Jetzt aber sollen die Wettsucht konsequent bekämpft, die Wettleidenschaft begrenzt und die Werbung auf ein Min- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Ich wette, destmaß heruntergefahren werden. Das hat den Ge- gleich spricht der Kollege Parr!) schäftsführer der Toto-Lotto Niedersachsen GmbH, Rolf Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Stypmann, zu folgender Bemerkung veranlasst: Wir ver- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die kaufen keine Waren, sondern Träume. Deshalb ist Wer- FDP als Antragstellerin sechs Minuten erhalten soll. – bung immens wichtig für uns. Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so ver- Bei der Beachtung solcher Auflagen ist eines sonnen- einbart. klar: Das Staatsmonopol wird sich zu einer „Lame duck“ Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem entwickeln, einem Monopol ohne Flügel, das nicht mehr Kollegen Detlef Parr für die FDP-Fraktion. konkurrenzfähig ist. Die Quellen der Sportförderung drohen nach und nach zu versiegen. Auch ist es ein (Beifall bei der FDP – Hartmut Koschyk Trugschluss, zu hoffen, dass die Kunden privater Anbie- [CDU/CSU]: Guter Mann!) ter nach einem Verbot zurückgewonnen werden können, 4072 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Detlef Parr (A) und das auch noch ohne Werbung. Nein, wir müssen der (Dagmar Freitag [SPD]: Selbstverpflichtungen (C) Realität ins Gesicht sehen. Wir dürfen Internet-, Fern- sind immer erfolgreich! – Dr. Peter Danckert seh-, SMS- und Telefonwetten nicht ignorieren. Die [SPD]: Lobbyist für Betandwin!) Kunden werden gemeinsam mit den Unternehmen ins Ausland abwandern und somit künftig kein Steuerauf- – Wer laut schreit, hat nicht immer Recht. Peter Dan- kommen in Deutschland generieren. ckert, Dagmar Freitag, hört mir wenigstens bis zum Ende zu, damit wir uns argumentativ auseinander setzen Nutzen wir den Zeitrahmen bis zum 31. Dezember können. 2007, den uns das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat, (Dr. Peter Danckert [SPD]: Cheflobbyist für zur rechtlichen Ausgestaltung einer Neuordnung, die si- Betandwin!) cherstellt, dass die privaten Anbieter eine Chance be- kommen und die staatlichen Anbieter endlich wettbe- Jetzt eine fertige Lösung vorzuschlagen, wäre mehr werbsfähig werden. als unklug. Entscheidungsgrundlagen sind in Arbeit: Namhafte Institute, Kanzleien und Unternehmensbera- (Beifall bei der FDP) tungen arbeiten daran. Wie bei der Sportwettenkonfe- Dabei geht es auch um Arbeitsplätze – nicht um die gut renz der FDP am 19. Juni sollten weiter alle Betroffenen gepolsterten, gut dotierten der zahlreichen Lotterierefe- in diesen Findungsprozess einbezogen werden. Die un- renten der Länder, sondern um Tausende von Arbeits- terschiedlichen Interessen gehören an einen Tisch. Vor allem aber sollten wir alle verfügbaren Kompetenzen ef- plätzen in Wettbüros, die voller Hoffnung auf eine gere- fektiv nutzen, das heißt, auch jede Expertise, die uns auf gelte Weiterentwicklung des Markes eröffnet worden einem vernünftigen Weg weiterhilft. sind. Ich appelliere von hier aus an die Länder, diese Bü- ros bis zur Verabschiedung eines neuen Lotteriestaats- Wollen wir dem Gemeinwohl dienen und die Sport- vertrages zu dulden und nicht kurzfristig vollendete Tat- förderung auf Dauer sichern, dann müssen wir jetzt ohne sachen zu schaffen. Vorurteile jede Lösungsmöglichkeit prüfen – miteinan- der statt gegeneinander, ganz im Sinne der Bundesländer (Beifall bei der FDP) Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Schleswig- Karlsruhe hat nur gesagt, dass bis zur Neuregelung pri- Holstein: Sie haben eine Protokollerklärung anlässlich vate Veranstalter von Sportwetten untersagt werden dür- der letzten Ministerpräsidentenkonferenz verfasst, dass sie es mittel- und langfristig für zielführender hal- fen – von müssen ist da nicht die Rede. ten, anstelle eines kompromisslosen Festhaltens am Es geht – viel wichtiger – auch um die Planungssi- Staatsmonopol für die MPK im Dezember eine be- (B) (D) cherheit von Sportveranstaltern und Sportvereinen, die grenzte Konzessionierung im Sportwettenbereich vorzu- bereits für die kommenden Jahre Verträge abgeschlossen bereiten. Glückwunsch an diese Länder, die gesellschaft- haben, etwa Werder Bremen und 1860 München, oder lich, rechtlich und wirtschaftlich Vernunft zeigen! Ausrichter sportlicher Großveranstaltungen nach der Wie hieß es noch im Februar in einer Empfehlung der Fußball-WM, die die Budgets bereits aufgestellt haben. Kommission „Sportwetten“ federführend aus den Staats- Was, wenn in der kommenden Champions-League-Sai- und Senatskanzleien von Bayern, Berlin, Nordrhein- son der AC Mailand mit Trikotwerbung eines privaten Westfalen und Rheinland-Pfalz – ich zitiere das dort for- Sportwettenanbieters in Deutschland aufläuft? Was, mulierte Ziel –: wenn er gerade bei Werder Bremen – kurioserweise mit demselben Trikotsponsor – antritt? Sollen dann alle oder nachhaltig globalisierungsfester staatlicher Ord- sollen dann nur die Bremer Trikots beschlagnahmt wer- nungsrahmen und sozialpolitisch eingebundene Er- den, wie es von Senator Röwekamp laut „Spiegel“ be- schließung von bislang den Sportveranstaltern nicht reits angekündigt ist? zugänglicher Wertschöpfung. (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nur Mut, liebe Kolleginnen und Kollegen, hier und in NEN]: Alle in den Knast!) den Ländern: Lasst uns europaweit zu einem Vorreiter für eine solche Lösung werden! Dabei Glückauf für uns Ganz im Ernst: Haben Staatsanwaltschaft, Peter Dan- alle! ckert und Polizei nicht wichtigere Aufgaben zu erfüllen? (Beifall bei der FDP – Winfried Hermann (Beifall bei der FDP – Dr. Peter Danckert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich bin ganz [SPD]: Ihr seid doch Lobbyisten! Die FDP ist offen für alle! – Gegenruf des Abg. Detlef Parr ein Lobbyist!) [FDP]: Jetzt bin ich gespannt, ob wir wirklich eine ehrliche Diskussion führen! – Gegenruf Die FDP verzichtet in ihrem Antrag aus guten Grün- des Abg. Dr. Peter Danckert [SPD]: Eigentlich den einstweilig auf konkrete Festlegungen. Wir wollen müsste man jetzt gar nichts mehr sagen! – die Sportförderung mindestens auf derzeitigem Niveau Fritz Rudolf Körper [SPD]: Das Interesse der sichern, sie möglichst noch ausbauen. Eine Lösung wä- FDP am eigenen Antrag ist groß! – Gegenruf ren Konzessionsabgaben, Nutzungsentgelte an Sportver- des Abg. Detlef Parr [FDP]: Ob du mal Inhalt anstalter, steuerliche Maßnahmen oder Selbstverpflich- bringst, weiß ich auch nicht, vor allem, ob du tungen in Form von Sponsoringmodellen. dich einmal bekennst!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4073

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Koalition will erst die Informationen und trifft dann (C) Das Wort hat nun der Kollege Klaus Riegert für die ihre Entscheidung. Das ist die richtige Reihenfolge. CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Genauso wollen wir auch vorgehen!) Klaus Riegert (CDU/CSU): Meine Damen und Herren, Kern des Urteils ist der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Widerspruch, dass staatliche Stellen ein Monopol mit Kaum ist die Tinte der Begründung des Urteils des Bun- der Begründung der Suchtvermeidung beanspruchen, desverfassungsgerichtes vom 28. März 2006 trocken, aber keine erkennenswerte Suchtvermeidung betreiben. liegt ein Antrag der FDP-Fraktion auf dem Tisch, mit Der staatliche Unternehmer Oddset wirbt massiv für dem der Sportwettenmarkt unter der Maßgabe des Ur- seine Angebote und vertreibt diese ebenso offensiv. Der teils, der internationalen Dimension und der diffizilen Staat kann das Monopol aber nur beanspruchen, wenn rechtlichen Problematik umfassend und generös geregelt die Suchtvermeidung und nicht das Einnahmeinteresse werden soll: Der Glücks- und Wettspielmarkt des Staates klar im Vordergrund steht. (Detlef Parr [FDP]: Der Sportwettenmarkt!) (Detlef Parr [FDP]: Richtig!) wird liberalisiert, die Einnahmeseite verbessert und Absurd ist aber das Ergebnis, das überall dort, wo sich gleichzeitig Spielsucht unterbunden und bekämpft. – So Oddset heute aus der Werbung zurückzieht, sofort pri- einfach ist die Welt leider nicht. Ich muss den Antrag da- vate Anbieter in diese Lücke springen. her unter der Rubrik Aktionismus einordnen. Dem Gesetzgeber ist freigestellt, durch eine konse- (Beifall bei der CDU/CSU Detlef Parr [FDP]: quente Ausgestaltung des Wettmonopols sicherzustellen, Geh mal in der Sache darauf ein!) dass eine effektive Suchtbekämpfung und eine Begren- – Lieber Kollege Parr, in dem Bemühen, schnell zu sein, zung der Wettleidenschaft erfolgt, oder durch eine ist die FDP kaum zu überbieten. gesetzlich normierte und kontrollierte Zulassung ge- werblicher Veranstaltungen private Wettunternehmen (Jörg Rohde [FDP]: Danke schön!) zuzulassen. Doch schnell allein ist zu wenig. Sie sollten, nein, Sie (Detlef Parr [FDP]: Gute Alternative!) müssen besser werden. Dann allerdings läge der Antrag in dieser Form hier nicht vor. Trifft der Gesetzgeber bis Ende 2007 keine gesetzlichen Regelungen, dann verliert er das Monopol. Bis dahin Wir nehmen das Urteil des Bundesverfassungsge- entscheiden die Strafverfolgungsbehörden, ob Sportwet- (B) (D) richts wie auch dessen Begründung sehr ernst. tenläden geschlossen werden können oder nicht und wie sich der Sportwettenmarkt darstellt. (Detlef Parr [FDP]: Dann aber bitte auch rich- tig interpretieren!) Die Ministerpräsidenten – sie sind in erster Linie ge- fordert – Die Vermeidung bzw. Eindämmung der Spielsucht hat für uns einen hohen Wert. (Dagmar Freitag [SPD]: Richtig!) (Detlef Parr [FDP]: Auf einmal! Jahrelang sprechen sich für eine Beibehaltung des staatlichen Mo- nicht!) nopols aus. Wir wollen die Menschen vor persönlichen Schicksals- (Detlef Parr [FDP]: Nicht mehr einstimmig!) schlägen und dem Ruin durch Spielsucht schützen. Sie wollen auf der Grundlage des Urteils das staatliche (Detlef Parr [FDP]: Gelogen!) Lotteriemonopol weiterentwickeln. Aus ordnungsrecht- lichen Erwägungen halten sie das staatliche Monopol für Deshalb werden wir uns die Zeit nehmen, die uns das geeignet, die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebe- Verfassungsgericht vorgibt. Liberalisierung um jeden nen ordnungsrechtlichen Ziele, nämlich Eindämmung Preis, was kümmert uns die Spielsucht – das ist mit uns und Kanalisierung der Wett- und Spielsucht sowie Be- nicht zu machen. kämpfung der Folge- und Begleitkriminalität, zu reali- sieren. (Beifall des Abg. Dr. Peter Danckert [SPD] so- wie des Abg. Winfried Hermann [BÜND- In ihre Prüfung sollten die Länder auch den Lotterie- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Detlef Parr [FDP]: bereich einbeziehen. Die Länder Rheinland-Pfalz, Ba- Das wollen wir auch nicht!) den-Württemberg und Schleswig-Holstein sprechen sich in einer Protokollnotiz mittel- und langfristig für die Wir messen der Beibehaltung des staatlichen Mono- Konzessionierung privater Anbieter aus. Daran sieht pols unter Einbeziehung der internationalen Entwicklun- man: Selbst auf der Ebene der Ministerpräsidenten gibt gen und technischen Möglichkeiten eine hohe Priorität es durchaus unterschiedliche Vorschläge. zu. Wir werden uns den erforderlichen Sachverstand al- ler Beteiligten einholen und dann entscheiden. (Dr. Peter Danckert [SPD]: Genauso ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Wir sollten die Konkretisierung der Vorschläge abwar- Sehr schön! „Aller Beteiligten“!) ten, sie prüfen und dann entscheiden. 4074 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Klaus Riegert (A) (Beifall des Abg. Bernd Heynemann [CDU/ gen Sports muss sichergestellt sein. An diesen (C) CSU] – Dr. Peter Danckert [SPD]: Keine Zielsetzungen werden wir den Wett- und Glücksspiel- Schnellschüsse wie die FDP! – Gegenruf des markt ausrichten. Abg. Detlef Parr [FDP]: Ihr habt den Antrag Danke schön. offensichtlich gar nicht gelesen, Peter!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Im gesamten Glücksspielbereich spielen die Sport- wetten eine untergeordnete Rolle. Der Umsatz bei Sport- wetten beträgt zurzeit rund 2 bis 3 Milliarden Euro. Das Präsident Dr. Norbert Lammert: Marktpotenzial wird auf 5 bis 6 Milliarden Euro einge- Das Wort hat nun die Kollegin Katrin Kunert, Frak- schätzt. Bei einer Liberalisierung des Wettmarktes muss tion Die Linke. aber vor allem die Auswirkung auf das Lottosystem be- achtet werden. Katrin Kunert (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Detlef Parr [FDP]: Das ist ein völlig überflüs- Lieber Detlef Parr, Ihr Antrag ist ein Fehlstart. Ich siges Totschlagargument!) fürchte, Sie holen sich eine gewaltige Zerrung. Hier befürchte ich große Auswirkungen auf die Finan- (Beifall bei der LINKEN) zierung des gemeinnützigen Sports. Das Bundesverfassungsgericht hat ein Urteil ge- (Beifall des Abg. Bernd Heynemann [CDU/ sprochen, welches besagt, dass das staatliche Wettmono- CSU] sowie des Abg. Dr. Peter Danckert pol nur zulässig ist, wenn die Spielsucht konsequent be- [SPD] – Detlef Parr [FDP]: Das hat nichts mit kämpft wird. Das Gericht zeigt dem Gesetzgeber die diesem Antrag zu tun!) gelbe Karte und droht mit der roten Karte, wenn diese Meine Damen und Herren, bei der Neuregelung des Auflagen ab 2008 nicht geregelt sind. Die Ministerpräsi- Wett- und Glücksspielmarkts haben wir auch die euro- denten der Länder haben das Urteil mehrheitlich begrüßt päische Dimension zu beachten. Zu prüfen ist, inwie- und lassen einen neuen Lotteriestaatsvertrag bis Dezem- weit ein staatliches Wettmonopol mit dem EU-Vertrags- ber erarbeiten. Der DFB und die DFL haben eine grund- recht kompatibel ist. sätzlich andere Auffassung zur Umsetzung des Urteils. Statt ausschließlich auf das staatliche Monopol zu set- (Detlef Parr [FDP]: Sehr richtig!) zen, ist nach ihrer Ansicht eine begrenzte Konzessionie- Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass jedes rung der bessere Weg. Der Vorsitzende der Sportminis- Land das Wett- und Glücksspiel für sich selbst schlüssig terkonferenz sprach sich in einer Anhörung im Mai zu (B) regeln kann, auch im Hinblick auf Berufsfreiheit und diesem Thema im Sportausschuss nachdrücklich für den (D) Wettbewerb. Es wird kein Scheinmonopol geben können Erhalt des staatlichen Wettmonopols aus und warnte vor nach dem Motto „Wir machen ein Monopol, handeln einer kontrollierten Liberalisierung von Lizenzen. Wir, aber, als wären wir im Markt“. Kein Gericht wird uns die Linke, sagen, das staatliche Monopol ist geeignet das durchgehen lassen. und notwendig, um Spielsucht und Kriminalität wirksam zu bekämpfen. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Detlef Parr [FDP]: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- So wie es heute ist!) NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Danckert [SPD]: Hört! Hört!) Meine Damen und Herren, der FDP-Antrag verbindet die Forderung nach gesetzlich normierter und kontrol- –Wenn wir es gemeinsam packen sollten, dann sollten lierter Zulassung privater Anbieter von Sportwetten und wir es auch tun. knüpft dies an eine Fülle von Bedingungen: den nationa- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Genau, das finde len Markt für Sportwetten auch im Vergleich zum Aus- ich bemerkenswert! – Detlef Parr [FDP]: Sind land konkurrenzfähig zu machen, ohne Einschränkung das schon neue Koalitionen?) einen Teil der Einnahmen – was immer das auch heißen mag – den Destinatären zuzuweisen, gleichzeitig die Herr Kollege Parr, wir hatten nach der Anhörung im Spielsucht zu bekämpfen, dem Jugendschutz Rechnung Sportausschuss einen Fahrplan vereinbart, wie wir mit zu tragen und die Folge- und Begleitkriminalität zu ver- dem Urteil und den sich daraus ergebenden Schlussfol- meiden. gerungen umgehen wollen. Sie wissen genauso gut wie alle hier im Saal, dass am 20. September genau dieses Das alles sind verheißungsvolle Ziele; Verknüpfung Thema auf der Tagesordnung des Sportausschusses und Durchsetzung der Bedingungen dürften jedoch ein steht. Sie wollen sich jetzt mit diesem hochsensiblen Problem werden. Thema profilieren und haben wahrscheinlich sehr star- ken Rückenwind. Nur bewegen Sie sich zurzeit aus un- (Dr. Peter Danckert [SPD]: So ist es!) serer Sicht ganz stark im Abseits. Deshalb hat für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die In Ihrem Antrag heißt es: Neuordnung des Glücks- und Wettspielmarktes klare Priorität. Die Sucht- und Spielleidenschaft muss einge- Um einen Zustand der Rechtssicherheit herbeizu- grenzt und wirksam bekämpft werden, wobei die Prä- führen, spricht sich der Deutsche Bundestag gegen vention Vorrang hat. Die Finanzierung des gemeinnützi- ein ausschließlich staatlich verantwortetes Wett- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4075

Katrin Kunert (A) angebot und für eine gesetzlich normierte und kon- und dem Landessportbund Haushaltsmittel zuweist. Der (C) trollierte Zulassung privater Veranstalter aus. dortige Landessportbund bekommt also keine Gelder aus den Lotteriegewinnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rechtssicherheit kann auch hergestellt werden, indem man die Auflagen Danke schön. des Bundesverfassungsgerichts erfüllt. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Peter Danckert [SPD]: Genau!) In Ihrem Antrag heißt es weiter: Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Wort hat nun die Kollegin Dagmar Freitag für die Jede Neugestaltung des staatlichen Wettmonopols SPD-Fraktion. wäre daran zu messen, ob es ihr gelingt, den Kon- flikt zwischen fiskalischen Interessen des Staates (Beifall bei der SPD – Detlef Parr [FDP]: Ich und einer aktiven Begrenzung der Spielleidenschaft bin mal gespannt, wie ehrlich die Argumenta- aufzulösen. tion jetzt ist!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, einen Konflikt löst man nicht auf, indem man ihn verschiebt. Sie wollen Ge- Dagmar Freitag (SPD): winne gesetzlich normiert und kontrolliert privatisieren Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir und die Suchtbekämpfung staatlich belassen. reden auf Antrag der FDP-Fraktion über das Thema Sportwetten. Das Thema ist zweifellos wichtig, aller- (Detlef Parr [FDP]: Stimmt doch nicht!) dings kommt die Diskussion zum falschen Zeitpunkt, Herr Parr. Sie kommt eindeutig zu früh. Zudem ist der Sie sagen, private Anbieter wären auch bereit, für die Breitensportförderung Beiträge zu leisten. Ich frage: Bundestag derzeit der falsche Platz dafür. Ich erkläre Ih- nen gerne, warum ich dieser Ansicht bin. Was sagen die privaten Anbieter zur Bekämpfung von Spielsucht und Kriminalität? Im März dieses Jahres hat das Verfassungsgericht das Urteil zum Sportwettensektor in Deutschland gefällt. (Beifall bei der LINKEN) Oberstes Ziel jedweder Regelung des Sportwettenmark- Wir brauchen eine Lösung, denn es geht am Ende auch tes muss die Prävention und die aktive Bekämpfung der um sehr viel Geld und Arbeitsplätze. Spielsucht sein. Das Verfassungsgericht hält – das ist uns bekannt – ein staatliches Monopol durchaus für ein ge- Mit Blick auf den gesamten Lotteriemarkt muss man eignetes Mittel, um Spielsucht zu bekämpfen und vor al- sagen, dass es derzeit bundesweit 25 000 Lotterieannah- len Dingen auch präventiv tätig zu werden. (B) mestellen gibt. Bei Aufgabe des staatlichen Monopols (D) wäre jede zweite von Schließung bedroht. Dann würde (Detlef Parr [FDP]: Eine von zwei Alternati- vieles über das Internet abgewickelt. ven!) Die Bundesländer haben derzeit Einnahmen aus – Melden Sie sich einfach, wenn Sie eine Frage haben, Steuern, Abgaben und Gewinnausschüttungen bei Lotto Herr Kollege Parr! und anderen Glücksspielen in Höhe von insgesamt (Heiterkeit bei der SPD – Detlef Parr [FDP]: 5 Milliarden Euro jährlich. Auf dieses Geld können Ich musste eure Zwischenrufe auch hinneh- selbst Sie nicht verzichten. Die Finanzierung von Maß- men!) nahmen in den Bereichen Kultur, Umwelt, Jugend oder Wohlfahrtspflege wäre dann massiv infrage gestellt. In Die Ministerpräsidentenkonferenz hat den Auftrag besonderem Maße wäre allerdings der Breitensport be- des Verfassungsgerichts angenommen und sich in der troffen, dem ein Löwenanteil aus den Gewinnen zufließt. vergangenen Woche eindeutig positioniert. Die Minis- terpräsidenten sprechen sich dafür aus, das staatliche (Detlef Parr [FDP]: Welcher Löwenanteil ist Lotteriemonopol zu erhalten und auf der Grundlage der das denn bei den sinkenden Einnahmen von Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts weiterzu- Oddset?) entwickeln. – Sie haben Ihre Redezeit gehabt. Im Dezember 2006 wird die Ministerpräsidentenkon- (Beifall bei der LINKEN – Detlef Parr [FDP]: Ich ferenz über den Entwurf eines neuen Lotteriestaatsver- kann doch eine formale Frage stellen!)) trages beraten, der zum Ziel haben soll, die Durchfüh- rung von Sportwetten im Rahmen des staatlichen Auch wenn das Gericht die fiskalischen Gründe zur Monopols entsprechend den Anforderungen der Sport- Rechtfertigung des staatlichen Monopols ausschließt, wettenentscheidung des Verfassungsgerichts zu regeln. sollten wir die Sportförderung im Blick behalten. Er soll auf vier Jahre befristet sein und auf Effizienz und An dieser Stelle möchte ich Folgendes anregen: Um etwaigen Anpassungsbedarf evaluiert werden. Das ist aus der Abhängigkeit von diesen Mitteln herauszukom- – wer wollte das bestreiten – ein sinnvoller Weg. men, die hinsichtlich der Finanzierung des Sportes be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) steht, sollten wir über ein Sportfördergesetz zwischen Bund und Ländern nachdenken. In diesem Zusammen- Deshalb gibt es gegenwärtig keinen vernünftigen Grund hang verweise ich auf das Beispiel Mecklenburg-Vor- für den Bund, sich einzumischen, Herr Kollege Parr. Vor pommern, das bereits ein solches Sportfördergesetz hat allem sehe ich keinen Grund, sich vorschnell vom 4076 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dagmar Freitag (A) Staatsmonopol zu verabschieden. Genau das sieht Ihr hatten. Thema: Gibt es eine Sportförderung ohne Sport- (C) Antrag aber vor, ohne anzuerkennen, dass der staatliche wetten? Anbieter Oddset den gerichtlichen Auflagen hinsichtlich einer Intensivierung der Präventionsmaßnahmen unver- (Detlef Parr [FDP]: So ist es! Da hätten Sie züglich nachgekommen ist. viel lernen können!) Sie haben selber auf die Haltung der Ministerpräsi- Der Hauptsponsor dieser FDP-Veranstaltung, meine Da- denten hingewiesen. Das ist interessant. Die Haltung der men und Herren, war Betandwin. schwarz-gelben Landesregierungen zu Ihrem Antrag (Dr. Peter Danckert [SPD]: Ach nein! Das ist würde sicherlich uns alle interessieren, Herr Kollege ja jetzt interessant! – Winfried Hermann Parr. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich!) (Detlef Parr [FDP]: Die können Sie auch gerne Niemand kann heute garantieren, dass ein neuer hören!) Staatsvertrag tatsächlich ein Erfolgsmodell sein wird. Wie steht zum Beispiel der FDP-Innenminister des Lan- Das räume ich offen ein. Uns sollte jedoch das Ziel ei- des Nordrhein-Westfalen, der auch für den Sport zustän- nen, die Bürgerinnen und Bürger vor den Gefahren des dig ist, zu diesem Antrag? Glücksspiels zu warnen und, soweit das möglich ist, vor allen Dingen zu schützen. Die Bundesländer stellen sich (Detlef Parr [FDP]: Rufen Sie ihn an! Dann dieser zugegebenermaßen schwierigen Aufgabe im Mo- bekommen Sie eine Antwort!) ment. Wir sollten sie dabei unterstützen und auf Quer- – Warum soll ich Herrn Wolf anrufen? schüsse verzichten. Sollte sich allerdings zukünftig Handlungsbedarf für die Bundespolitik ergeben, werden (Heiterkeit bei der SPD) wir uns dieser Aufgabe annehmen. Aber, Herr Kollege Zu schade, dass man von Herrn Wolf öffentlich hierzu Parr, alles zu seiner Zeit. überhaupt nichts hört. Ich kann mir gut vorstellen, dass (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten seine Haltung die Kulturschaffenden und die Vertreter der CDU/CSU) des organisierten Sportes in Nordrhein-Westfalen bren- nend interessieren würde. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Detlef Parr [FDP]: Zukünftig weniger Geld Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Her- zu bekommen!) mann, Bündnis 90/Die Grünen. Ministerpräsident Oettinger aus Baden-Württemberg (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (B) äußert sich unmissverständlich, wie man meinen sollte. SES 90/DIE GRÜNEN) (D) Im „Rheinischen Merkur“ vom 1. Juni diesen Jahres hat er festgestellt – ich darf zwei Sätze zitieren –: Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem staatlichen Wettmonopol stellen wir si- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und cher, dass Spielregeln eingehalten werden und die Herren! Das Wettgeschäft boomt in den letzten Jahren Risiken für die Mitspieler begrenzt sind … Wir weiter. Es gibt immer mehr verschiedene Angebote zum werden deshalb am Monopol festhalten. Wetten. Die Wetten werden immer verrückter. Ich muss sagen: Sie werden immer absurder. Was für manche ein (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nettes Wettspielchen ist, ist für viele ein Riesenproblem. Das war vor vier Wochen. Wir wissen seit Jahren, dass es gerade in diesem Bereich einen wachsenden Anteil von Suchtspielern gibt, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Det- lef Parr [FDP]: Da sehen Sie den Einfluss der (Detlef Parr [FDP]: Deshalb war es auch seit FDP in Baden-Württemberg!) Jahren kein Thema!) – Darauf komme ich, lieber Herr Kollege Parr. Ich bin von Menschen, die ihr weniges Geld dort lassen und sich Ihnen für dieses Stichwort dankbar: Herr Oettinger hat zum Teil völlig verschulden, weil sie krankhaft spielen. sich der von Ihnen bereits zitierten Protokollnotiz ange- Leider werden im Umfeld dieses wachsenden Wettge- schlossen, schäfts auch viele dreckige Geschäfte gemacht, zum Beispiel Geldwäsche oder Schiebereien. Noch vor weni- (Detlef Parr [FDP]: Weil er vernünftig ist!) gen Monaten hätten wir über die Geschäfte im Umfeld mit der genau das aufgeweicht wird. – Sie sagen, weil er dieser Wetten gesprochen, in die Schiedsrichter und vernünftig sei. Ehrlich gesagt, dann sollte man es unter- Spieler verwickelt waren. All dies hängt mit diesem boo- lassen, für die interessierte Öffentlichkeit den Hardliner menden Markt zusammen. und den Befürworter des Staatsmonopols abzugeben. Die Länder haben lange Zeit das staatliche Spiel- und (Detlef Parr [FDP]: Das ist Herrn Oettingers Wettmonopol zur Einnahme von Steuern genutzt. Sie ha- Problem!) ben dies bedingungslos gemacht, obwohl sie eine hoch- moralische Begründung hatten, nämlich die Spielsucht Sie haben gerade den Einfluss der FDP auf Herrn zu bekämpfen. Aber das haben sie nicht getan. Oettinger beschworen. Da kommt mir plötzlich in den Sinn, dass Sie in der letzten Woche eine Veranstaltung (Detlef Parr [FDP]: Sie moralisieren auch!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4077

Winfried Hermann (A) Nun haben sie – das haben alle Rednerinnen und Redner hat der Kultur und dem Sport bisher genutzt. Das kann (C) gesagt – vom Bundesverfassungsgericht eine deutliche man fortführen, ohne gleichzeitig die Spielsucht zu för- Klatsche bekommen. Ich füge hinzu: Es gibt ein laufen- dern. Wir brauchen eine Debatte in diesem Sinne und des Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, in keine unkritische Debatte, wie die FDP sie angestrebt dem geprüft wird, ob die deutschen Verhältnisse noch hat. Spielsucht ist ein ernstes Thema, zu dessen Behand- europarechtskonform sind. Auch die europäischen Rich- lung es eine ernsthafte Debatte braucht. ter sagen nicht pauschal, das Monopol müsse fallen, son- Vielen Dank. dern sie sagen eindeutig und klar – genauso wie es die Verfassungsrichter bei uns gesagt haben –, dass Staaten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN natürlich das Recht und vielleicht sogar die Pflicht ha- sowie des Abg. Klaus Riegert [CDU/CSU]) ben, das in Form eines Monopols zu regeln; aber wenn sie es tun, müssen sie das, was sie zu tun vorgeben, auch Präsident Dr. Norbert Lammert: vollziehen, nämlich präventiv tätig zu sein und die Spiel- Zum Schluss dieses Tagesordnungspunkts erhält der sucht zu bekämpfen. Genau das haben sie nicht getan. Kollege Dr. Peter Danckert für die SPD-Fraktion das Das ist die Herausforderung, vor der die Länder jetzt ste- Wort. hen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Peter Danckert (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Nun schlägt die FDP vor, man solle offen darüber dis- alle haben uns gefragt: Was ist eigentlich der Grund da- kutieren, wie man die Spielsucht kontrollieren kann. für, dass die FDP hier so vorprescht? Schließlich haben Gleichzeitig aber sagt sie: Eigentlich wollen wir liberali- wir anderweitige Verabredungen. Es ist schon darauf sieren, wir wollen mehr private Anbieter zulassen. – Ich verwiesen worden, dass wir dieses Thema im September sage dazu: Das ist der organisierte Interessenskonflikt. im Sportausschuss noch einmal eingehend diskutieren. Das kann nicht funktionieren. Wenn ich es zulasse, dass Mir ist heute völlig klar geworden – dazu hat beigetra- private Anbieter Geschäfte machen, und will, dass der gen, dass Frau Kollegin Freitag hier dieses kleine Bild Sport davon profitiert, dann ist es außerordentlich gezeigt hat –: Die FDP hat sich hier ganz eindeutig als schwierig, dieses Geschäft zu begrenzen. Das passt nicht Cheflobbyist von Betandwin enttarnt. zusammen. Das kann man nicht über den Markt organi- sieren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Detlef Parr [FDP]: Das ist Ihr Misstrauen in den Markt!) Das ist der einzige Grund für dieses Vorpreschen. (B) (D) Deswegen sage ich klipp und klar: Wir wollen nicht Es ist wirklich ein starkes Stück: Am 19. Juni hat sie die Gewinninteressen von Betandwin unterstützen. Wir hier eine öffentliche Veranstaltung produziert, die kom- halten es auch nicht für klug, dass sich eine Partei zum plett von Betandwin gesponsert wurde. Jetzt stellt sie Anwalt privater Wettanbieter macht. Wir halten es eben- sich hierhin und tritt für die Liberalisierung dieses Wirt- falls nicht für klug, dass sie sich zum Anwalt einzelner schaftszweiges ein. Schlimmer kann man an dieser Fußballmannschaften macht, die sich dieses Wettanbie- Stelle eigentlich nicht vorgehen. ters als Sponsor bedienen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich sage Ihnen ganz offen: Ich bin vom Deutschen Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Fußball-Bund enttäuscht. Noch vor drei Jahren hat er Abgeordneten Parr? den deutschen Sport und die deutschen Innenminister fast dazu gedrängt, endlich die privaten Geschäftema- cher zu bekämpfen, da sie – das hat man gewissermaßen Dr. Peter Danckert (SPD): in Klammern hinzugefügt – die Einnahmen von Oddset Ja. gefährden. Heute, drei Jahre danach, möchte man genau das Gegenteil. Jetzt sagt man: Öffnet endlich den Markt; Präsident Dr. Norbert Lammert: wir wollen die Kohle. Das ist, wie ich finde, unmora- Bitte schön, Herr Kollege Parr. lisch. (Detlef Parr [FDP]: Aber Sie haben die Moral Detlef Parr (FDP): gepachtet!) Herr Kollege Danckert, ist Ihnen bekannt, dass die CDU vor wenigen Tagen eine Medianacht durchgeführt Das ist auch nicht besonders sportlich. Man muss dem hat und dass bei dieser Medianacht auf den Namens- DFB aus politischer Sicht die rote Karte zeigen. schildern, die dort ausgegeben wurden, „Betandwin“ zu lesen war? Ist es wirklich des Teufels, wenn Parteiveran- Die grüne Position ist klar: Wir glauben, dass man staltungen von bestimmten Unternehmen, die in diesen Bereich besser nicht dem Wettbewerb preisgibt; Deutschland zugelassen sind, die in Deutschland ihre vielmehr sollte man das staatliche Monopol beibehalten. Geschäfte machen, unterstützt werden? Klar ist aber auch: Die Länder müssen eine Strategie zur Bekämpfung der Spielsucht vorlegen. Sie müssen Maß- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nahmen erarbeiten. Wenn sie das nicht tun, dann werden NEN]: Nicht des Teufels, aber des Mam- sie dieses Privileg verlieren. Das wäre schade; denn es mons!) 4078 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Dr. Peter Danckert (SPD): Wir müssen natürlich auch prüfen, wie sich das auf (C) Erstens, Herr Kollege Parr: Das ist mir nicht bekannt. die Sportförderung auswirkt. Das ist sicherlich ein ganz entscheidender Gesichtspunkt. Das Ganze hat auch (Detlef Parr [FDP]: Dann wissen Sie es jetzt!) etwas Schizophrenes an sich. Wir wollen alles unterneh- Zweitens. Selbst wenn es so wäre: Die Union hat je- men, um die Spielsucht und die Wettleidenschaft zu be- denfalls nicht einen solchen Antrag gestellt und sich da- kämpfen. Das sind wirklich große Gefahren. Wir haben mit im Parlament als Cheflobbyist von Betandwin pro- in unserer Anhörung Ende Januar – das war sogar auf duziert. Das ist der entscheidende Unterschied. Anregung der FDP, wenn ich mich nicht sehr täusche; (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (Detlef Parr [FDP]: Richtig!) CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- wir haben das übernommen; ohne die anderen Obleute NEN) wäre das auch nicht gegangen – von den großen Gefah- Der Zusammenhang zwischen Ihrer öffentlichen, von ren gehört, die mit den Sportwetten zusammenhängen. Betandwin gesponserten Veranstaltung und dem heuti- Wir werden also einen Weg suchen müssen, der auf der gen Antrag ist schon sehr merkwürdig. Sie sollten ein- einen Seite diese Gefahren wirksam bekämpft und auf fach einmal versuchen, das zu reflektieren. Mehr habe der anderen Seite das ermöglicht, was wir auch wollen ich dazu nicht zu sagen. – seien wir an dieser Stelle ehrlich! –, (Detlef Parr [FDP]: Das ist schon zu viel!) (Detlef Parr [FDP]: Das ist ein guter Satz!) Ich möchte Sie außerdem auf Folgendes hinweisen: nämlich dass die Sportförderung erhalten bleibt. Es stimmt nicht, dass Betandwin eine in Deutschland zu- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie gelassene Glücksspielorganisation ist; das ist unzutref- des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/ fend. Dieses Unternehmen ist in Österreich lizensiert DIE GRÜNEN]) und versucht, unseren Markt zu bewerben. Das ist ein ganz komplizierter Weg. Wir sollten ihn Ich möchte Ihnen noch einen Tipp geben; vielleicht gehen, um im Interesse des Sports an dieser Stelle etwas können ein paar Juristen Ihnen das erklären. In § 284 Gutes zu tun. Abs. 4 Strafgesetzbuch steht: Das Werben für ein nicht zugelassenes Glücksspiel ist strafbar. Ich bedanke mich bei dem Präsidenten dafür – – Das sollten Sie sich einmal durch den Kopf gehen las- (Zurufe: Der Präsidentin! – Heiterkeit) (B) sen. So locker, wie das im Moment läuft, ist das nicht zu – Ich bedanke mich bei der Präsidentin dafür, dass ich (D) handhaben. Mehr ist dazu nicht zu sagen. das ausführen durfte. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat Herzlichen Dank. uns klar gemacht, dass das staatliche Wettmonopol er- laubt ist, was vorher in Zweifel gezogen worden war. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eck- ardt) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit ist die Aussprache beendet. Nun müssen die Länder – sie sind am Zug; das haben sie auch am 22. Juni beschlossen – einen Weg dafür fin- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den. Jemand, der sich auf der Basis der Entscheidung des Drucksache 16/1674 an die in der Tagesordnung aufge- Bundesverfassungsgerichts auf den Weg macht, handelt führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- absolut korrekt. Daran ist gar nichts auszusetzen. Wir verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. werden sehen, was uns die Ministerpräsidenten im Laufe Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: des zweiten Halbjahrs dazu präsentieren. Das wird nicht ganz einfach sein. Wer die Rahmenbedingungen, die das a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat, erfüllen will, gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes muss sich sehr anstrengen. Wir werden sehen, ob das ge- zur Neuregelung der Besteuerung von Ener- lingt. Ich habe da meine Zweifel. Die Ministerpräsiden- gieerzeugnissen und zur Änderung des Strom- ten haben jetzt das Prä. Sie haben das so gemeinsam be- steuergesetzes schlossen. – Drucksachen 16/1172, 16/1347 – Wenn das nicht gelingen sollte, müssen wir in diesem Parlament unsere Hausaufgaben machen. Durch das Ur- aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- teil des Bundesverfassungsgerichts ist festgestellt wor- schusses (7. Ausschuss) den, dass es auch eine Bundeskompetenz für das staatli- – Drucksachen 16/2007, 16/2061 – che Glücksspiel gibt. Wir werden uns daranmachen und sorgfältig prüfen: Was ist machbar und was ist nicht Berichterstattung: machbar? Dann muss man möglicherweise ganz am Abgeordnete Norbert Schindler Ende sehen, ob es sozusagen einen dritten Weg der Öff- Reinhard Schultz (Everswinkel) nung in dieser Frage gibt. Dr. Reinhard Loske Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4079

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) bb)Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) entschieden. Darüber hinaus gibt es auch noch andere (C) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Fragen. – Drucksache 16/2023 – Der zweite „dicke Brocken“ war der Einstieg in die Besteuerung von Biokraftstoffen. Wir haben vor eini- Berichterstattung: gen Jahren die steuerliche Begünstigung von Biokraft- Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme stoffen aufgrund eines einstimmigen Beschlusses des da- Carsten Schneider (Erfurt) maligen Bundestages aufgenommen, allerdings mit der Otto Fricke Maßgabe, dass die entsprechende Beihilfe – das geht Dr. Gesine Lötzsch auch gar nicht anders; sie musste von der EU genehmigt Anja Hajduk werden – in regelmäßigen Abständen überprüft wird. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Der Überprüfungsbericht hat ergeben, dass eine Überför- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu derung stattfindet. Wir haben uns über den Grad der dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Überförderung gestritten, aber es war unumstritten, dass Cornelia Behm, Dr. Reinhard Loske, weiterer wir in die Besteuerung einsteigen müssen. Letztendlich Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- ging es darum, eine Scharnierstelle zwischen dem zu SES 90/DIE GRÜNEN schaffen, was wir jetzt mit der Einführung von Steuersät- zen für Biokraftstoffe planen, und dem, was wir im Biokraftstoffe intelligent fördern – Steuerbe- Herbst vorhaben, nämlich der Einführung einer Pflicht günstigung erhalten zur Beimischung von Biokraftstoffen bei Diesel und Ot- – Drucksachen 16/583, 16/2007, 16/2061 – tokraftstoffen. Berichterstattung: Wir haben, wie ich denke, in dem parlamentarischen Abgeordnete Norbert Schindler Verfahren, insbesondere was die Biokraftstoffe angeht, Reinhard Schultz (Everswinkel) eine ganze Menge erreicht: Dr. Reinhard Loske Das Finanzministerium hatte ursprünglich vor, eine c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- Beimischungsquote für alle Kraftstoffarten festzulegen; Kurt Hill, Dr. Herbert Schui, Dr. Barbara Höll, diese wäre sehr wahrscheinlich nur durch Beimischun- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- gen bei Diesel erfüllt worden und Bioethanol als Substi- KEN tut für Ottokraftstoffe hätte keine nennenswerte Rolle gespielt. Diese Haltung haben wir gemeinsam aufgebro- Biokraftstoffe nachhaltig fördern chen; nun wird es zwei Quoten geben. (B) (D) – Drucksache 16/1895 (neu) – Wir haben auch die Frage des politischen Vertrau- ensschutzes – es geht nicht um einen rechtlichen, son- Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein dern um einen politischen – für diejenigen regeln müs- Änderungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die sen, die in entsprechende Anlagen wie Ölmühlen in Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der Deutschland investiert haben und sie betreiben oder die FDP vor. Über den Änderungsantrag werden wir später auf andere Art und Weise mit dem Markt für reine Bio- namentlich abstimmen. kraftstoffe verwoben sind. Es gab zu keiner Zeit eine Zwischen den Fraktionen ist verabredet, dass eine Garantieerklärung im Gesetz. Zunächst war von einer halbe Stunde debattiert wird. – Dazu höre ich keinen Wi- Übergangsfrist von zwei Jahren die Rede; im parlamen- derspruch. Dann ist so beschlossen. tarischen Verfahren wurde eine Verlängerung der steuer- lichen Vergünstigung bis 2011 bei steigenden Sätzen er- Ich gebe das Wort für die SPD-Fraktion dem Kolle- reicht, bis 2012 der Regelsteuersatz auch für Biodiesel gen Reinhard Schultz. und reines Pflanzenöl gilt. Der politische Vertrauensbe- griff wurde hier sehr großzügig ausgelegt. Ich weiß, dass Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): die FDP möglicherweise, wie sie es sonst auch immer Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und tut, sagen wird, es handele sich um einen groben Ver- Kollegen! Das Energiesteuergesetz, das wir heute verab- trauensbruch. Angesichts der Tatsache aber, dass dieser schieden, war keine ganz einfache Geburt. Aber die Be- Branche eine Übergangszeit von weiteren fünf Jahren ratungen, sowohl innerhalb der beteiligen Parteien als eingeräumt wird, kann man nicht davon sprechen, dass auch innerhalb der Koalition und darüber hinaus, haben wir Vertrauen gebrochen hätten. Vielmehr stützen wir sich im Ergebnis gelohnt. die entsprechenden wirtschaftlichen Existenzen. Das Gesetz zur Neuregelung der Besteuerung von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Energieerzeugnissen und zur Änderung des Stromsteu- der CDU/CSU) ergesetzes verfolgt mehrere Ziele: die Umsetzung der Wir geben ihnen natürlich auch die Chance, sich auf Energiesteuerrichtlinie, die Einführung von Mindest- neue Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit dem steuersätzen auf alle Energieträger und das Regeln von Beimischungsgebot einzustellen. Sondertatbeständen als Gruppentatbestände. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage: Soll Primärenergie, die Wir haben im Verfahren beschlossen, dass der Einsatz eingesetzt wird, um Strom zu erzeugen, besteuert wer- von reinem Pflanzenöl in der Landwirtschaft auf Dauer den, ja oder nein? Wir haben uns grundsätzlich für Nein steuerfrei bleiben soll. Damit verbinden wir die 4080 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Hoffnung und verfolgen die politische Absicht, dass da- Wir haben einen langen Übergang. Wir haben für (C) durch das Agrardieselregime, in dessen Rahmen wir fak- neue Kraftstoffe weiterhin eine steuerliche Förderung. tisch Agrardiesel subventionieren, allein durch die Aber das Ziel muss es sein, alles so reif zu machen, dass Zunahme des Verbrauchs von reinem Pflanzenöl ausge- es irgendwann beigemischt werden kann. höhlt und unterlaufen wird. Wir erhoffen uns also auch für diesen Bereich ein Zurückfahren der steuerlichen Be- Zu der Frage, wenn ich das hier einmal aufzeigen günstigungen. Wir haben vereinbart, bei Gelegenheit darf, um welche Beträge es geht: Eine parallele Beimi- darüber zu reden, das Agrardieselregime schrittweise schungspflicht plus eine Weiterführung der steuerlichen ganz aufzugeben. Förderung mit Steuersatz null, die eine der ersten Ideen der so genannten Zweiwegestrategie war, hätte uns Ein- Darüber hinaus haben wir beschlossen, dass auf nahmeverluste von 5,6 Milliarden Euro bis zum Jahre Dauer die Biokraftstoffe, bei denen von einer Markt- 2015 gebracht. Das wäre nicht zu verantworten gewesen. durchdringung noch nicht die Rede sein kann, wie zum Wir mussten zu einer anderen Lösung kommen. Diese Beispiel Bioethanol – E 85 – und synthetische Kraft- gab es nicht zum Nulltarif. stoffe, bis 2015 weiterhin steuerlich gefördert werden (Zuruf des Abg. Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]) sollen. Für diese gilt, weil sie noch keine Marktbedeu- tung haben, weiterhin die Zweiwegestrategie, die auch in – Sie werden gleich Ihren schwungvollen Vortrag halten: der bisherigen Praxis eine große Rolle gespielt hat. Koalition verirrt im Rapsfeld! Darauf freue ich mich schon. Der nette folkloristische Titel hilft uns aber auch Auch für Neuentwicklungen, von denen wir jetzt nicht, insbesondere nicht auf dem Fahrrad oder sonst wo. noch gar nichts ahnen, gibt es im Gesetz eine Chance in Form einer Art Experimentier- bzw. Projektklausel, ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mäß der auf Basis einer Rechtsverordnung entschieden werden könnte, dass neue Kraftstoffe, deren Namen wir Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage Ihres heute noch nicht kennen, gefördert werden. Kollegen Hermann Scheer zulassen?

Jede steuerliche Förderung muss jährlich überprüft Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): werden; das steht auch im Gesetz. Anhand dieser muss Selbstverständlich, gerade von Hermann besonders entschieden werden, ob eine Überförderung vorliegt gerne. oder nicht. (Dr. Hermann Scheer [SPD]: Ich möchte mich Zusammenfassend dargestellt finde ich, dass ein be- zu einer Kurzintervention danach melden!) achtlicher Beratungsprozess des Parlaments, insbeson- (B) dere der Koalitionsfraktionen, mit der Regierung hinter – Das ist etwas anderes. Dann habe ich die Chance, Her- (D) uns liegt und ein gutes Ergebnis erzielt wurde. Das mann, noch einmal zu sprechen. möchte ich ausdrücklich festhalten. Das, was wir jetzt machen, geschieht in einer be- herrschbaren Größenordnung und kostet für die Über- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gangszeit alles in allem etwa 700 Millionen Euro. Das ist Dabei geht es auch um Geld: Die Mineralölsteuer ist es uns auch wert, um die bestehenden wirtschaftlichen die einzige wirklich nennenswerte Steuer, die nur dem Strukturen abzusichern, ist aber nicht nennenswert ange- Bund zusteht. Diese Steuer durch Sondertatbestände sichts der Ausfallbeträge, die letztendlich zu befürchten ständig auszuhöhlen und zu durchlöchern, ist auf Dauer gewesen wären. für uns nicht gut. Wir müssen jetzt schauen, wie wir die Im Übrigen haben wir im Energiesteuergesetz eine Steuereinnahmen verstetigen, ohne die politischen Ziele, Reihe von Sondertatbeständen geregelt, die uns zum die wir mit den Subventionen verbunden hatten, aus den Teil schon seit langem auf den Nägeln brennen, bei de- Augen zu verlieren. Dabei wird aufgrund des Koalitions- nen auch die Bundesländer gedrängt haben. Wir haben vertrages und der Beschlüsse der Koalition vom 1. Mai uns viele Jahre damit herumgeschlagen: Warum wird ei- der Königsweg der Förderung von Biokraftstoffen die gentlich Erdgas bis 2020 steuerlich als ein Vorläufer- Beimischungspflicht sein, die am 1. Januar nächsten kraftstoff von Wasserstoff gefördert und warum gilt das Jahres in Kraft treten soll. Wir wollen eine industrielle für Flüssiggas nicht? Wir haben das jetzt gemeinsam ge- Biokraftstoffstrategie und keine, die ausschließlich in radegezogen. Beides wird bis 2018 gefördert. kleinen landwirtschaftlichen Kreisläufen stattfindet. Wir haben für die verpflichtende Besteuerung von (Beifall bei der SPD – Hans-Kurt Hill [DIE Kohle als Hausbrand, die eine nennenswerte Rolle in LINKE]: Ihr wollt das kaputtmachen!) Nordrhein-Westfalen, in den neuen Bundesländern und im Saarland spielt, eine vernünftige Übergangsregelung – Nein, wir wollen das nicht kaputtmachen, sondern wir bis Ende 2010 gefunden, um allen Hauseigentümern die wollen, dass an jeder normalen Tankstelle, an jeder Au- Chance zu geben, ihre Heizungsanlagen zu modernisie- tobahn, möglichst europaweit normiert, jeder Bürger, der ren und zum Beispiel das von der Koalition auferlegte Auto fährt, auch Biokraftstoff anteilmäßig fährt. Das ist energetische Gebäudesanierungsprogramm zu nutzen. eine vernünftige Strategie und keine, die nur auf gutes Insofern greifen die Dinge vernünftig ineinander. Gewissen oder auf Steuersubventionen setzt. Darum geht es. Alles, was dahin führt, unterstützen wir. Wir för- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dern weiter. der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4081

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Wir haben dafür gesorgt, dass endlich auch Klarheit (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (C) besteht, dass Prozessenergien, Energien, die zur Stoff- CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE umwandlung eingesetzt werden, grundsätzlich nicht GRÜNEN) mehr besteuert werden. Das war eine lange, quälende Auseinandersetzung. Auch das ist geklärt, um Deutsch- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: land als Standort der Grundstoffindustrien zu sichern. Herr Schultz, möchten Sie darauf reagieren? Das ist ein ausgesprochen gutes Ergebnis. (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das (Beifall bei der SPD) war nicht so bedeutend! Ich fühle mich bestä- tigt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dann gebe ich das Wort jetzt dem Kollegen Michael Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Sie Kauch, FDP-Fraktion. haben vielleicht nach der Kurzintervention noch einmal Gelegenheit, zu sprechen. (Beifall bei der FDP)

Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Michael Kauch (FDP): Ich komme zum Schluss. – Ich denke, wir haben, ge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die rade was Biokraftstoffe angeht, einen großen Sprung Kurzintervention von Herrn Scheer hat ganz deutlich ge- nach vorne auf dem Weg weg vom Öl gemacht. Wir ha- macht: Das Chaos in der Koalition bei der Biokraftstoff- ben Lösungen gefunden, Deutschland als Energieerzeu- frage ist immer noch nicht beendet. Sie haben Ihre Posi- gungsstandort abzusichern und auch – tion für sich offenbar immer noch nicht geklärt. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss. Herr Schultz hat gesagt, schließlich gehe es auch ums Geld. Er hätte besser sagen sollen, dass es Ihnen vor al- lem ums Geld geht. Denn dieser Gesetzentwurf ist nichts Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): anderes als die Fortführung der Steuererhöhungsorgie, Grundstoffindustrien im Lande zu behalten. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das Wort „Or- Vielen Dank. gie“ ist ganz sicher deplatziert hier!) die wir heute beim Steueränderungsgesetz erlebt haben. (B) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) Es ist die größte Steuererhöhungsorgie, die diese Repu- blik jemals gesehen hat. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dann gebe ich das Wort dem Kollegen Hermann (Beifall bei der FDP) Scheer. Rufen wir uns einmal, liebe Kollegen von der Union, in Erinnerung, was die jetzige Bundeskanzlerin vor der Dr. Hermann Scheer (SPD): Wahl erklärt hat. Sie hat erklärt, mit den Benzinpreis- Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und erhöhungen müsse jetzt Schluss sein. Aber was Sie hier Kollegen! Mein Kollege Reinhard Schultz hat eben ge- beschließen, wird in Verbindung mit der Beimischungs- sagt, wir wollten ausschließlich die Orientierung der pflicht eine Benzinpreiserhöhung bewirken, die zwei Biokraftstoffstrategie auf eine Beimischungspflicht. Ich Ökosteuerstufen von Rot-Grün entspricht. Meine Damen möchte ausdrücklich sagen, dass dieses „wir“ nicht und Herren von der Union, Sie kassieren die Bürger so meine Haltung trifft und auch nicht die Haltung, soweit schamlos ab, wie es sich Rot-Grün nie getraut hat. ich es beobachte und weiß, einer übergroßen Mehrzahl (Beifall bei der FDP – Carl-Ludwig Thiele zumindest der SPD-Fraktion und auch einer großen An- [FDP]: Das macht die SPD aber auch!) zahl von Kollegen in der Union. – Ja; sie hat aber nichts anderes versprochen. Viele haben sich in den letzten Wochen dafür einge- setzt, dass eine Zweiwegestrategie aufrechterhalten Dieser Gesetzentwurf wird aus fiskalischen Gründen bleibt, ein reiner Biokraftstoffmarkt neben einer Beimi- gemacht. Sie haben keine – ich wiederhole: keine – Stra- schungspflicht, wodurch nur die Mineralölkonzerne ein tegie für die Biomassenutzung in Deutschland. Sie ha- Nachfragemonopol für die Biokraftstoffe erhielten. ben keine Antwort auf die Frage der Nutzungskonkur- Bliebe der Zweiwegeansatz, würde die Biokraftstoff- renzen. Sie haben keine Strategie, welcher Teil der marktentwicklung auch über mittelständische Unterneh- Biomasse in die Verstromung, welcher in die Wärmeer- men auf regionaler Ebene erfolgen. Das ist der Wille von zeugung und welcher in die stoffliche Nutzung in der In- vielen. Was jetzt erreicht worden ist, ist ein Kompromiss dustrie gehen soll. zwischen beiden Ansätzen. Ich glaube, es ist wichtig, das an dieser Stelle genau festzuhalten, damit dieser Be- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das muss den schluss nicht falsch interpretiert wird. Investoren doch freigestellt werden! Wollen Sie das festlegen? Will die FDP Planwirt- Danke schön. schaft? – Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) 4082 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Michael Kauch (A) – Herr Kelber, Sie sagen, das muss der Markt entschei- sagen: Ich weiß, welche Freudentänze die FDP vor zwei- (C) den. Aber das müssen Sie beantworten, wenn Sie Ihre einhalb, drei Jahren aufgeführt hat, als es um die Steuer- Subventionsstrategie, die Sie mit diesem Gesetz festle- befreiung der beigemischten Bestandteile ging. Sie ha- gen, formulieren. Das haben Sie nicht getan. Sie sto- ben ausdrücklich zugestimmt; vor allen Dingen Herr chern im Nebel. Hier wird ausschließlich nach Interes- Solms hat sich dabei hervorgetan. Ich will das aber nicht senlagen entschieden. weiter vertiefen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Ich komme nun zur Sache selbst. Wir haben uns bei dem Thema Steuerbefreiung sehr in die Haare gekriegt. Im Übrigen, meine Damen und Herren, ist es, auch steuerpolitisch, schon bemerkenswert, dass mitten im (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Welche Jahr, am 1. August, in Steuergesetze eingegriffen wird. Haare?) So etwas sollte man zum 1. Januar eines Jahres tun. Aber Wir haben einige Male die Beratungen vertagen und neu das sind Details, die Sie schon lange nicht mehr interes- ansetzen müssen. Deswegen habe ich vielleicht nicht sieren. mehr so viele Haare. Bezüglich der progressiven Steuersätze in Cent pro Die Koalition hat eine epochale Vereinbarung in ihren Liter stellt sich die Frage: Was wird die Auswirkung Grundsatzbeschlüssen getroffen. Die Bundesrepublik sein, wenn beispielsweise – das sind Szenarien, die nicht Deutschland wird die Verpflichtungen aus dem Kioto- abwegig sind – der Rohölpreis zwischenzeitlich wieder protokoll erfüllen. Das ist wegweisend für Europa. Wir sinkt? Dann wird der Biodiesel teurer als der fossile Die- alle wissen, dass es 2004 ein Urteil des Europäischen sel sein und Sie werden die Reinkraftstoffe endgültig ka- Gerichtshofs gegeben hat, der sich mit der unterschiedli- puttgemacht haben. Dann bleibt nur noch der Beimi- chen Besteuerung von Energieträgern beschäftigt hat, schungsmarkt übrig. Was bedeutet das? Das bedeutet, die zu einer wettbewerbsverzerrenden Situation für die dass die bisher mittelständisch strukturierte Industrie anderen europäischen Energieerzeuger geführt hat. endgültig von wenigen Mineralölkonzernen auf der Nachfrageseite abhängen wird. Diese werden zum einen Dass wir 2007 ein Gesetz in Kraft setzen, in dem der eine Marktmacht beim Preis ausüben. Zum anderen be- Beimischungszwang vorgesehen ist, hat diese hitzige steht bei diesen Großstrukturen natürlich ein Interesse, Debatte ausgelöst. Wenn wir in Zukunft aus deutscher auch mit großen Zulieferern zu arbeiten. Das heißt, die oder aus europäischer Agrarproduktion 4 Millionen bis kleineren Unternehmen in diesem Markt werden hinten 5 Millionen Tonnen Einheiten in den Energiebereich ein- runterfallen. fließen lassen, so ist das für die Bundesrepublik Deutschland ein einmaliger Vorgang. Wir streiten uns Meine Damen und Herren, auch ordnungspolitisch, (B) jetzt nur noch um das Kleingedruckte, das natürlich auch (D) wirtschaftspolitisch und vor allen Dingen mittelstands- wichtig ist. politisch ist es ein Unsinn, was Sie hier mit dem Bei- mischungszwang betreiben. Deshalb setzt sich die FDP Wir streiten uns auch um die Beimischung von ande- dafür ein, den Vertrauensschutz zu wahren, besonders ren Wertstoffen wie Fette. Außerdem stellt sich die aufgrund der Tatsache, dass wir noch vor zwei Jahren Frage, was ab dem Jahre 2018 geschieht. Herr Kollege fraktionsübergreifend ein Instrument beschlossen haben. Scheer hat in diesem Zusammenhang schon auf den Dieser typische Fall von Instrumentenhopping wird aber zweiten Weg hingewiesen. Derzeit war aber im Rahmen nicht aus umweltpolitischen Gründen, wie es die Koali- dieses Kompromisses nicht mehr möglich. Man muss tion hier suggeriert, sondern aus rein fiskalischen Grün- dazu stehen, dass sich Rot und Schwarz bei diesem den betrieben. Kompromiss schwer getan haben. (Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben doch damals Was passiert ab dem Jahre 2009 – ich glaube nicht, dagegen gestimmt!) dass eine Partei eine absolute Mehrheit bekommt –, Die FDP-Fraktion wird deshalb die Branche, aber wenn neue Koalitionsverhandlungen anstehen? auch die Verbraucher, die an der Tankstelle die Rech- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Versuchen soll- nung für Ihre Politik bezahlen müssen, unterstützen und ten wir es schon!) wird daher diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Es ist sozusagen eine Bremse, dass der zweite Weg nicht (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: so ausgebaut wird, wie es manch einer gehofft hatte. Ich Sie persönlich haben damals dagegen ge- sage das auch im Hinblick auf die Festlegung auf eine stimmt!) Steuerbefreiung bis zum Jahre 2009. Man muss einräu- men, dass es diesbezüglich in den ländlichen Regionen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: eine Unsicherheit gibt. Die Frage ist, wie wir dort die Als Nächster hat der Kollege Norbert Schindler von Wertschöpfung auf Dauer sichern. der CDU/CSU-Fraktion das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU) Jörg-Otto Spiller [SPD]) Ich will auch festhalten, dass wir mit 9 Cent beim Norbert Schindler (CDU/CSU): Agrardiesel einen vernünftigen Einstieg gewählt haben, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte der auch von den verarbeitenden Betrieben mitgetragen Gäste! Herr Kollege Kauch, ich will nur zur Klarstellung wurde. Die ursprünglich angedachte Nulllösung – das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4083

Norbert Schindler (A) hat die schwersten Bedenken des Finanzministers her- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) vorgerufen – hat die Frage aufgeworfen, wie die Finan- Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill, Die Linke. zierung aussehen soll. Herr Kollege Schultz, Sie haben gesagt, dass uns 5 Milliarden bis 6 Milliarden Euro feh- (Beifall bei der LINKEN) len werden. Sie stellen selbst die Frage, ob man über die Verbilligung des Agrardiesels noch einmal reden sollte. Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Ich sage sehr deutlich: Mit der Union ist in dieser Legis- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- laturperiode über dieses Thema nicht zu reden. nen und Kollegen! Ich sage Ihnen: Diese Gesetzesvor- lage ist eine Subventionsorgie zugunsten der Energie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fressenden Industrie. Das Landwirtschaftsprivileg, das Herr Seehofer bei (Beifall bei der LINKEN) Herrn Steinbrück durchgesetzt hat und das wir in Form einer Verbilligung des Agrardiesels ausgestalten, ist zu Ihr Finanzminister Steinbrück macht damit Kasse auf begrüssen. Das betrifft Produkte aus Eigenproduktion Kosten des Klimaschutzes. Diese Industrie – sowieso wie früher Heu und Hafer. Damit bleiben auch in der schon Nutznießer zahlreicher Ausnahmetatbestände – Landwirtschaft verwendete Biokraftstoffe von der bekommt mit diesem Entwurf noch einmal rund Steuer befreit. Da geschieht nichts anderes wie beim 200 Millionen Euro geschenkt. Wie man heute hört, wird Pferdefutter, das in der Vergangenheit steuerfrei war. Lidl die Energieversorgung ausgliedern und damit die Dies ist eine Chance für Wertschöpfung im kleineren Regelung für energieintensive Betriebe in Anspruch Bereich. nehmen. Das ist Ihr Erfolg. Es muss Ihnen doch klar sein: Mit Ihrem Vorgehen verspielen Sie jeglichen An- Aber bei dem Kompromiss, der gefunden worden ist, reiz zur Energieeinsparung und zur Senkung der Klima- wurde auch berücksichtigt, wie viele Steuereinnahmen gasbelastung. uns dabei wegrutschen. Da hatten wir es finanzpolitisch mit Zwängen zu tun, die mir persönlich so nicht gepasst (Beifall bei der LINKEN) haben. Aber was soll ich sagen? Wir sind in einer Koali- Wer zahlt die Zeche? Die junge Bioenergiebranche. tionsregierung. Wir müssen den Staatshaushalt gemäß Hier wird schrittweise die volle Steuer greifen. Beim unserem Auftrag in den nächsten Jahren so in Ordnung Klimakiller Flugverkehr weiten wir die Steuerbefreiung halten, wie es jeder Wähler und jede Wählerin von uns aus. Ich kann nur davor warnen, dem Entwurf zuzustim- erwartet. men. Die Steuerbefreiung, die im Regierungsentwurf ur- (Beifall bei der LINKEN) (B) sprünglich nur bis 2009 vorgesehen war, haben wir für (D) zwei weitere Jahre festgelegt. Die Steuerbefreiung in der Ich gebe Hermann Scheer Recht: Sie werden damit Landwirtschaft ist generell nicht genau definiert. Sie ist die Abschaffung von 50 000 Arbeitsplätzen auf Raten total offen. Das ist ein Erfolg im Vergleich zum alten Re- einleiten. Es muss Ihnen doch klar sein, dass die heimi- gierungsansatz. Dass dem Finanzministerium solche sche Biokraftstoffbranche bei einer Vollbesteuerung Kompromisse wehtun, weil es dabei reell ums Geld geht, keine Chance gegen das Mineralölmonopol hat. Sie trei- ist klar. ben die Betriebe sogar noch in die Arme der Konzerne: Mit der Pflicht, Biosprit dem herkömmlichen Diesel und Zum anderen wird im vorliegenden Gesetz – auch das Benzin beizumischen, degradieren Sie die Landwirte geht unter – die Minderbesteuerung von Gasölen in den und die Mittelständler zu Knechten der Mineralölindus- Häfen geregelt. In diesem Gesetz steht auch, dass im trie. Hinblick auf die Beimischungsfragen ab 2007 ein zu- sätzliches Gesetz in Kraft treten soll. Das wollen wir im (Beifall bei der LINKEN) November abschließend festlegen. Was glauben Sie denn, was passiert? Entweder beu- gen sich die heimischen Biokrafterzeuger dem Preis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) diktat der Konzerne oder BP und Co kaufen billiges Pflanzenöl in Lateinamerika ein – jawohl, das wird Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: passieren! – und dort wird mit fragwürdigen Anbau- Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss. methoden der Regenwald platt gemacht. Sie behaupten, man schaffe Planungssicherheit für die Biospritbranche. Norbert Schindler (CDU/CSU): Ich sage: Das ist schlicht die Unwahrheit. Deswegen lassen Sie uns erst Ende dieses Jahres die (Beifall bei der LINKEN) gesamte Wirksamkeit der heutigen Beschlüsse abschlie- ßend bewerten. Deutschland ist auf dem Weg, seine Nehmen Sie Ihren schädlichen Stufenplan bei der Be- Energieführerschaft bei den nachwachsenden Rohstof- steuerung der Biokraftstoffe zurück; denn damit machen fen auch in Zukunft zu behalten. Das Gesetz ist ein guter Sie eine ganze Branche von Mittelständlern in der Bun- Beitrag dazu. desrepublik Deutschland kaputt. Danke schön. Jetzt komme ich noch auf das zu sprechen, was ges- tern in den Ausschüssen passiert ist. Es ist unglaublich, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wie dieses Gesetz zustande gekommen ist. Es ist wirk- neten der SPD) lich unglaublich. 4084 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Hans-Kurt Hill (A) (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg ganz klar sagen. Verfahrensmäßig war das unter aller (C) [CDU/CSU]: Ihr konntet doch nicht einmal Würde. eure eigenen Anträge im Ausschuss begrün- den!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der FDP und der LINKEN) Es gab von Ihnen einen Wust von Änderungsanträgen zu Ihrem eigenen Entwurf – und das als Tischvorlage. Zur Sache selbst. In dem Gesetz geht es auf der einen Im Umweltausschuss – das war der Höhepunkt – wurden Seite um die Umsetzung der EU-Energiesteuerrichtlinie die Anträge sogar nur auf unsere Intervention hin über- in nationales Recht und auf der anderen Seite um das haupt zur Beratung vorgelegt. Es hieß einfach: Wir ha- kräftige Zulangen bei der Besteuerung von Bioenergien. ben sie nicht erhalten. Meine Damen und Herren von der Was die EU-Energiesteuerrichtlinie hergegeben hätte, Koalition, das ist unseriös, das ist undemokratisch. meine Damen und Herren von der Koalition, haben Sie (Beifall bei der LINKEN) im Wesentlichen nicht genutzt. Sie haben erstens nicht die vielen Ökosteuersonderregelungen, die es heute Lieber Kollege Reinhard Schultz, jetzt komme ich zu noch gibt, abgebaut, was die EU-Energiesteuerrichtlinie Ihrer schwungvollen Rede. Was ist denn von den ange- ausdrücklich ermöglicht hätte. Davor scheuen Sie zu- kündigten Verbesserungen übrig geblieben? Nichts, gar rück. nichts ist übrig geblieben. Sie sind das Opfer Ihres eige- nen Finanzministers geworden. Sie haben zweitens nicht Gebrauch gemacht von der Möglichkeit, eine Kerosinbesteuerung für Inlandsflüge (Lachen bei Abgeordneten der SPD) einzuführen. Wir haben es daher nach wie vor mit dem Machen Sie die schlimmsten Fehler rückgängig. eklatanten Wettbewerbsnachteil der Bahn zu tun. Die Bahn zahlt Energiesteuer, die Bahn zahlt Mehrwert- Erstens. Reine Biokraftstoffe müssen bis Ende 2009 steuer auf Tickets im Fernverkehr. Der Luftverkehr zahlt steuerfrei bleiben. Alles andere ist ein Vertrauensbruch beides nicht. Sie haben also nichts getan, um Wettbe- gegenüber der Branche. werbsfairness zwischen dem Schienenverkehr und dem (Beifall bei der LINKEN) Luftverkehr im innerdeutschen Bereich herzustellen. Auch das ist ein grobes Versäumnis. Zweitens. Wenn Steuern, dann richtig: Die Bemes- sung muss sich nach Klimaschutz, Umweltvorteil und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erhöhung der Versorgungssicherheit richten, nicht nach sowie bei Abgeordneten der FDP) Steinbrücks Steuerwut. Am allerschlimmsten aber ist, wie Sie bei den Bio- (B) (Beifall bei der LINKEN) energien vorgehen. Man kann ja darüber reden, Mitnah- (D) Drittens. Eine Beimischungspflicht ist unnötig. Der meeffekte dort, wo es sie gibt, abzuschöpfen. Aber was Biokraftstoffmarkt funktioniert auch so, wenn man nicht Sie machen, ist, eine ganze Branche systematisch zu ver- dem Mineralölkartell das Wort redet. unsichern. Sie treten das zarte Pflänzchen der Bioener- giebranche regelrecht platt. Fördern Sie Biokraftstoffe nachhaltig und stimmen Sie unserem Antrag zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP) Ich danke Ihnen. Nicht nur das: Sie kündigen an, dass Sie die Steuer- (Beifall bei der LINKEN) privilegien abbauen und auf ein anderes Instrument um- stellen wollen, nämlich den Beimischungszwang. Ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: will noch einmal ganz klar sagen, was der Unterschied Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Loske, ist. Bei den steuerlichen Anreizen passiert Folgendes: Bündnis 90/Die Grünen. – Entschuldigung, Herr Loske. – Sie bekommen dezentrale Strukturen, Sie bekommen re- Ich bitte darum, dass die Gespräche am Rande nach gionale Wertschöpfungsmöglichkeiten im ländlichen draußen verlegt werden, damit wir hier noch ein biss- Raum, Sie bekommen neue Arbeitsplätze in der Land- chen Debatte verfolgen können. Schönen Dank. wirtschaft, Sie bekommen regelrechte Erwerbs- und Ein- kommensalternativen für die Bauern. Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Reinhard Schultz – das muss ich schon einmal sagen –, NEN): das ist der gewaltige Unterschied zwischen Ihnen und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! uns. Sie sagen – ich habe es mir aufgeschrieben –: Wir Der Kollege Reinhard Schultz hat eben davon gespro- wollen eine großindustrielle Bioenergiestrategie und chen, wir hätten es bei diesem Gesetz mit einem beacht- nicht Klein-Klein. Dazu sage ich Ihnen: Wir wollen lichen Beratungsprozess mit dem Parlament zu tun. Da Wertschöpfung und Beschäftigung im ländlichen Raum kann man nur sagen: In der Tat, das war insofern beacht- und keine großindustrielle Struktur in diesem Bereich. lich, als es ein ständiges Hin und Her gab, das sich bis Das ist ein gewaltiger Unterschied. ins Plenum fortgesetzt hat, unter Geringschätzung der parlamentarischen Rechte der Opposition und unter ele- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mentarster Verunsicherung einer ganzen mittelständi- sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP schen Branche. Das war kein Glanzstück, das muss man und des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4085

Dr. Reinhard Loske (A) Sie sagen zwar, dass Sie eine Zweiwegestrategie ma- wichtigen Schritt zur Wiederherstellung der Wettbe- (C) chen, faktisch machen Sie aber eine Einwegstrategie: Sie werbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft insgesamt, ins- sehen nur den Beimischzwang vor. Faktisch bedeutet besondere aber der energieintensiven Wirtschaft. das, dass Sie die Bauern, die regionalen Produzenten in die Abhängigkeit eines großen Nachfragemonopols brin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen. Bei der Milch sehen wir doch, wohin das führt: Die der SPD) Geschädigten sind am Ende die Bauern und die Profi- Der erste Schritt war das Energiewirtschaftsgesetz, teure sind die großen Mineralölkonzerne. Wenn Sie das mit dem wir im letzten Jahr bei den Netznutzungsentgel- wollen, dann machen Sie das. Dann sollten Sie das aber ten eine Ausnahmeregelung für die stromintensiven In- auch sagen. dustrien geschaffen haben. Von ihr wird rege Gebrauch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gemacht. Aus vielen am Rande des Plenums- bzw. im Plenum Im zweiten Schritt haben wir – wie in der Koalitions- geführten Gesprächen wurde klar, dass viele Kollegin- vereinbarung vorgesehen – mit der Härtefallregelung nen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen dieses beim EEG einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung der Gesetz für falsch halten. Sie halten es zu Recht für energieintensiven Unternehmen geleistet. Das sind falsch. Ihnen kann aber, wenn ich das so sagen darf, 100 Millionen Euro mehr für die deutsche Wirtschaft Trost gespendet werden: Es gibt einen Antrag, den wir – Gesamtbetrag: 400 Millionen Euro –, die in diesem hier vorlegen und zur namentlichen Abstimmung stellen, Jahr, rückwirkend zum 1. Januar 2006, wirksam werden. dem die Freunde des Klimaschutzes, die Freunde des Heute machen wir den dritten Streich. Bei der Öko- ländlichen Raumes und die Freunde mittelständischer steuer waren bisher nur ein ermäßigter Steuersatz von Strukturen zustimmen können. Wir möchten Sie darum 60 Prozent und ein Spitzenausgleich vorgesehen. Heute bitten, unserem Antrag zuzustimmen und nicht dem Irr- werden wir bestimmte Herstellungsprozesse und -ver- weg, der von der großen Koalition beschritten wird, zu fahren in der energieintensiven Industrie vollständig von folgen. der Energie- und Stromsteuer befreien. Dann können wir Danke schön. Unternehmen, die zum Beispiel in den Bereichen Glas-, Keramik-, Zement- oder Kalkverarbeitung tätig sind, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diese Materialien herstellen oder weiterverarbeiten, von der Steuer befreien. Das bedeutet eine zusätzliche Ent- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: lastung der deutschen Wirtschaft in Höhe von Zum Abschluss der Debatte hat der Kollege 60 Millionen Euro. (B) Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/CSU-Fraktion das Wort. Das Bundeskabinett hat gestern – vierter Schritt – den (D) (Beifall bei der CDU/CSU) NAP II, den Nationalen Allokationsplan für den Emis- sionshandel verabschiedet. Er enthält einen differenzier- ten Erfüllungsfaktor, durch den wir gewährleisten, dass Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): weitere Windfall-Profits und Einpreisungen nicht statt- Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- finden. Auch damit verfolgen wir das Ziel, zu einem ren! Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Rückgang der Emissionshandelspreise zu kommen. Opposition, wir sollten die Kirche im Dorf lassen. Mit dem heutigen Gesetz leisten wir im Bereich der Bio- In einem fünften Schritt, dem Beimischungsgesetz kraftstoffwirtschaft einen Beitrag zur Schaffung einer – die Diskussion darüber steht unmittelbar im Herbst an –, Planungs- und Investitionssicherheit, und zwar mit einer werden wir für weitere Entlastungen der energieintensi- Zweiwegestrategie. ven Unternehmen sorgen. Wir werden auf jeden Fall keinen Fadenriss erleiden. Damit leisten wir nicht nur einen direkten Beitrag zur Entgegen der ursprünglichen Absicht, die Steuerbefrei- Sicherung von 600 000 gefährdeten Arbeitsplätzen in ung 2009 abrupt zu beenden, haben wir einen stufenwei- der energieintensiven Industrie, sondern wir entlasten sen Übergang bis 2012 vorgesehen. Daher werden wir auch indirekt die Haushalte und den normalen Verbrau- keinen Fadenriss erleiden. Wir betreten vielmehr eine cher, der nämlich die zusätzlichen Netznutzungskosten Brücke, die uns zur zweiten Generation der Kraftstoffe und Netznutzungsentgelte zu tragen hätte, wenn diese führt. Arbeitsplätze wegfallen würden (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) CSU]) und wenn wir die energieintensive Industrie in Deutsch- Es ist kein Geheimnis, dass sich die Union in der einen land verlieren würden, die akut in Gefahr ist, mit 20, 25 oder anderen Hinsicht mehr hätte vorstellen können. Es oder 30 Prozent des Stromverbrauches abzuwandern. ist aber so, wie es ist. Das ist ein Kompromiss, den wir Damit leisten wir auch einen Beitrag zum Klimaschutz guten Gewissens heute hier mittragen können. hier und vermeiden eine Verlagerung ins Ausland, wo weniger Klimaschutz besteht. Ich möchte das Augenmerk aber auf einen anderen Punkt lenken, der in dieser Diskussion leider etwas un- Heute ist ein guter Tag für die Zukunft der Biokraft- tergeht – er klang in der heutigen Debatte nur selten wirtschaft und für die Wiederherstellung der Wettbe- an –: Wir machen mit diesem Gesetz einen weiteren werbsfähigkeit der deutschen Industrie im Allgemeinen. 4086 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Joachim Pfeiffer (A) Deshalb können wir dem Gesetzentwurf zustimmen. Wir Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/2068, über (C) sind davon überzeugt, dass es in die richtige Richtung den wir zuerst abstimmen. Die Fraktion des Bündnis- geht. ses 90/Die Grünen verlangt hierzu namentliche Abstim- mung. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die neten der SPD) vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen be- setzt? – Das scheint mir der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Abstimmung. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Damit schließe ich die Aussprache. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, welches seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das scheint nicht Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung und desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Neuregelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergeb- und zur Änderung des Stromsteuergesetzes, Druck- nisses unterbreche ich die Sitzung. sachen 16/1172 und 16/1347. Zu dieser Abstimmung gibt es Erklärungen nach § 31 (Unterbrechung von 19.46 bis 19.53 Uhr) unserer Geschäftsordnung der Kollegin und der Kol- legen Dr. Axel Berg, Gabriele Groneberg, Albert Rup- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: precht, Martin Gerster, Hermann Scheer und Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene Dr. Wolfgang Wodarg.1) Sitzung ist wieder eröffnet. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schrift- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2007, den führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim- Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. mung bekannt: Insgesamt wurden 555 Stimmen abgege- Hierzu gibt es einen Änderungsantrag der Fraktion ben. Mit Ja haben gestimmt 53 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 396 Abgeordnete. Es gab 106 Enthal- 1) Anlage 12 tungen. Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.

(B) Endgültiges Ergebnis Kai Gehring Wolfgang Wieland Alexander Dobrindt (D) Abgegebene Stimmen: 555; Katrin Göring-Eckardt Thomas Dörflinger davon Anja Hajduk Nein Marie-Luise Dött Britta Haßelmann ja: 53 Maria Eichhorn Winfried Hermann CDU/CSU Anke Eymer (Lübeck) nein: 396 Peter Hettlich Georg Fahrenschon enthalten: 106 Priska Hinz (Herborn) Ilse Falk Ulrike Höfken Ilse Aigner Dr. Hans Georg Faust Ja Dr. Anton Hofreiter Peter Albach Enak Ferlemann Bärbel Höhn Thomas Bareiß Hartwig Fischer (Göttingen) SPD Thilo Hoppe Norbert Barthle Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Wolf Bauer Ute Koczy Dr. Maria Flachsbarth Dr. Axel Berg Günter Baumann Sylvia Kotting-Uhl Klaus-Peter Flosbach Martin Gerster Ernst-Reinhard Beck Renate Künast Dr. Hans-Peter Friedrich Renate Gradistanac (Reutlingen) Undine Kurth (Quedlinburg) (Hof) Dr. Karl Lauterbach Dr. Christoph Bergner Markus Kurth Erich G. Fritz Anton Schaaf Monika Lazar Otto Bernhardt Jochen-Konrad Fromme Dr. Hermann Scheer Dr. Reinhard Loske Clemens Binninger Dr. Michael Fuchs Gert Weisskirchen Anna Lührmann Carl-Eduard von Bismarck Hans-Joachim Fuchtel (Wiesloch) Jerzy Montag Peter Bleser Kerstin Müller (Köln) Antje Blumenthal Dr. Peter Gauweiler BÜNDNIS 90/DIE Winfried Nachtwei Jochen Borchert Dr. Jürgen Gehb GRÜNEN Brigitte Pothmer Wolfgang Börnsen Norbert Geis Kerstin Andreae Claudia Roth (Augsburg) (Bönstrup) Eberhard Gienger Volker Beck (Köln) Krista Sager Wolfgang Bosbach Ralf Göbel Cornelia Behm Elisabeth Scharfenberg Klaus Brähmig Peter Götz Birgitt Bender Christine Scheel Michael Brand Dr. Wolfgang Götzer Matthias Berninger Irmingard Schewe-Gerigk Helmut Brandt Ute Granold Grietje Bettin Dr. Gerhard Schick Dr. Ralf Brauksiepe Reinhard Grindel Alexander Bonde Rainder Steenblock Monika Brüning Hermann Gröhe Ekin Deligöz Silke Stokar von Neuforn Georg Brunnhuber Michael Grosse-Brömer Dr. Thea Dückert Hans-Christian Ströbele Gitta Connemann Markus Grübel Dr. Uschi Eid Dr. Harald Terpe Leo Dautzenberg Manfred Grund Hans-Josef Fell Jürgen Trittin Monika Grütters Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4087

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Karl-Theodor Freiherr zu Marlene Mortler Gerhard Wächter Günter Gloser (C) Guttenberg Carsten Müller Marco Wanderwitz Angelika Graf (Rosenheim) Olav Gutting (Braunschweig) Kai Wegner Dieter Grasedieck Holger Haibach Stefan Müller (Erlangen) Marcus Weinberg Monika Griefahn Gerda Hasselfeldt Bernward Müller (Gera) Peter Weiß (Emmendingen) Kerstin Griese Ursula Heinen Dr. Gerd Müller Gerald Weiß (Groß-Gerau) Gabriele Groneberg Uda Carmen Freia Heller Hildegard Müller Karl-Georg Wellmann Achim Großmann Michael Hennrich Bernd Neumann (Bremen) Anette Widmann-Mauz Wolfgang Grotthaus Jürgen Herrmann Henry Nitzsche Klaus-Peter Willsch Wolfgang Gunkel Bernd Heynemann Michaela Noll Elisabeth Winkelmeier- Hans-Joachim Hacker Ernst Hinsken Dr. Georg Nüßlein Becker Bettina Hagedorn Peter Hintze Franz Obermeier Matthias Wissmann Klaus Hagemann Robert Hochbaum Eduard Oswald Dagmar Wöhrl Alfred Hartenbach Klaus Hofbauer Henning Otte Wolfgang Zöller Michael Hartmann Franz-Josef Holzenkamp Rita Pawelski Willi Zylajew (Wackernheim) Joachim Hörster Dr. Peter Paziorek Nina Hauer Anette Hübinger Ulrich Petzold SPD Reinhold Hemker Hubert Hüppe Dr. Joachim Pfeiffer Dr. Lale Akgün Rolf Hempelmann Susanne Jaffke Sibylle Pfeiffer Gregor Amann Dr. Barbara Hendricks Dr. Peter Jahr Beatrix Philipp Gerd Andres Gustav Herzog Dr. Hans-Heinrich Jordan Ronald Pofalla Niels Annen Petra Heß Andreas Jung (Konstanz) Daniela Raab Ingrid Arndt-Brauer Gabriele Hiller-Ohm Bartholomäus Kalb Thomas Rachel Rainer Arnold Petra Hinz (Essen) Hans-Werner Kammer Hans Raidel Ernst Bahr (Neuruppin) Gerd Höfer Steffen Kampeter Dr. Peter Ramsauer Iris Hoffmann (Wismar) Alois Karl Peter Rauen Dr. Hans-Peter Bartels Frank Hofmann (Volkach) Bernhard Kaster Eckhardt Rehberg Klaus Barthel Eike Hovermann Siegfried Kauder (Villingen- Klaus Riegert Sören Bartol Klaas Hübner Schwenningen) Dr. Heinz Riesenhuber Sabine Bätzing Christel Humme Volker Kauder Franz Romer Dirk Becker Brunhilde Irber Eckart von Klaeden Johannes Röring Uwe Beckmeyer Johannes Jung (Karlsruhe) Jürgen Klimke Kurt J. Rossmanith Klaus Uwe Benneter Josip Juratovic Julia Klöckner Dr. Norbert Röttgen Ute Berg Johannes Kahrs Jens Koeppen Dr. Christian Ruck Petra Bierwirth Ulrich Kasparick (B) Kristina Köhler (Wiesbaden) Albert Rupprecht (Weiden) Lothar Binding (Heidelberg) Dr. h.c. Susanne Kastner (D) Manfred Kolbe Peter Rzepka Volker Blumentritt Ulrich Kelber Norbert Königshofen Anita Schäfer (Saalstadt) Gerd Bollmann Christian Kleiminger Dr. Rolf Koschorrek Hermann-Josef Scharf Dr. Gerhard Botz Hans-Ulrich Klose Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble Klaus Brandner Dr. Bärbel Kofler Thomas Kossendey Hartmut Schauerte Willi Brase Fritz Rudolf Körper Michael Kretschmer Dr. Annette Schavan Bernhard Brinkmann Karin Kortmann Gunther Krichbaum Dr. Andreas Scheuer (Hildesheim) Rolf Kramer Dr. Günter Krings Karl Schiewerling Edelgard Bulmahn Anette Kramme Dr. Martina Krogmann Norbert Schindler Marco Bülow Ernst Kranz Johann-Henrich Georg Schirmbeck Ulla Burchardt Nicolette Kressl Krummacher Bernd Schmidbauer Martin Burkert Volker Kröning Dr. Hermann Kues Christian Schmidt (Fürth) Dr. Michael Bürsch Angelika Krüger-Leißner Dr. Karl A. Lamers Andreas Schmidt (Mülheim) Christian Carstensen Dr. Hans-Ulrich Krüger (Heidelberg) Ingo Schmitt (Berlin) Marion Caspers-Merk Jürgen Kucharczyk Andreas G. Lämmel Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Peter Danckert Helga Kühn-Mengel Dr. Norbert Lammert Dr. Ole Schröder Dr. Herta Däubler-Gmelin Ute Kumpf Katharina Landgraf Bernhard Schulte-Drüggelte Karl Diller Dr. Uwe Küster Dr. Max Lehmer Uwe Schummer Martin Dörmann Christine Lambrecht Paul Lehrieder Kurt Segner Dr. Carl-Christian Dressel Christian Lange (Backnang) Ingbert Liebing Bernd Siebert Elvira Drobinski-Weiß Waltraud Lehn Dr. Klaus W. Lippold Thomas Silberhorn Detlef Dzembritzki Gabriele Lösekrug-Möller Patricia Lips Johannes Singhammer Sebastian Edathy Dirk Manzewski Dr. Michael Luther Jens Spahn Siegmund Ehrmann Caren Marks Stephan Mayer (Altötting) Christian Freiherr von Stetten Petra Ernstberger Katja Mast Wolfgang Meckelburg Gero Storjohann Karin Evers-Meyer Hilde Mattheis Dr. Michael Meister Andreas Storm Annette Faße Markus Meckel Dr. Angela Merkel Max Straubinger Elke Ferner Petra Merkel (Berlin) Friedrich Merz Thomas Strobl (Heilbronn) Gabriele Fograscher Ulrike Merten Laurenz Meyer (Hamm) Michael Stübgen Rainer Fornahl Dr. Matthias Miersch Maria Michalk Antje Tillmann Gabriele Frechen Ursula Mogg Hans Michelbach Arnold Vaatz Dagmar Freitag Marko Mühlstein Philipp Mißfelder Volkmar Uwe Vogel Peter Friedrich Detlef Müller (Chemnitz) Dr. Eva Möllring Andrea Astrid Voßhoff Iris Gleicke Michael Müller (Düsseldorf) 4088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Dr. Rolf Mützenich Dr. Rainer Tabillion Ernst Burgbacher Eva Bulling-Schröter (C) Thomas Oppermann Jörg Tauss Patrick Döring Dr. Martina Bunge Holger Ortel Jella Teuchner Mechthild Dyckmans Roland Claus Heinz Paula Dr. h.c. Wolfgang Thierse Jörg van Essen Sevim Dagdelen Johannes Pflug Jörn Thießen Ulrike Flach Dr. Diether Dehm Joachim Poß Franz Thönnes Paul K. Friedhoff Werner Dreibus Christoph Pries Hans-Jürgen Uhl Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Dagmar Enkelmann Dr. Wilhelm Priesmeier Rüdiger Veit Dr. Edmund Peter Geisen Klaus Ernst Florian Pronold Simone Violka Dr. Wolfgang Gerhardt Wolfgang Gehrcke Dr. Sascha Raabe Jörg Vogelsänger Hans-Michael Goldmann Diana Golze Mechthild Rawert Dr. Marlies Volkmer Miriam Gruß Dr. Gregor Gysi Steffen Reiche (Cottbus) Hedi Wegener Joachim Günther (Plauen) Heike Hänsel Maik Reichel Petra Weis Dr. Christel Happach-Kasan Lutz Heilmann Gerold Reichenbach Gunter Weißgerber Heinz-Peter Haustein Hans-Kurt Hill Dr. Carola Reimann Dr. Rainer Wend Birgit Homburger Cornelia Hirsch Christel Riemann- Lydia Westrich Dr. Werner Hoyer Inge Höger-Neuling Hanewinckel Dr. Margrit Wetzel Michael Kauch Dr. Barbara Höll Walter Riester Andrea Wicklein Dr. Heinrich L. Kolb Ulla Jelpke Sönke Rix Heidemarie Wieczorek-Zeul Hellmut Königshaus Dr. Lukrezia Jochimsen René Röspel Engelbert Wistuba Jürgen Koppelin Dr. Hakki Keskin Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Wolfgang Wodarg Heinz Lanfermann Katja Kipping Karin Roth (Esslingen) Waltraud Wolff Sibylle Laurischk Monika Knoche Michael Roth (Heringen) (Wolmirstedt) Harald Leibrecht Jan Korte Marlene Rupprecht Heidi Wright Ina Lenke Katrin Kunert (Tuchenbach) Uta Zapf Sabine Leutheusser- Oskar Lafontaine Axel Schäfer (Bochum) Manfred Zöllmer Schnarrenberger Ulla Lötzer Bernd Scheelen Brigitte Zypries Horst Meierhofer Dr. Gesine Lötzsch Marianne Schieder Patrick Meinhardt Ulrich Maurer Otto Schily FDP Hans-Joachim Otto Dorothee Menzner Silvia Schmidt (Eisleben) (Frankfurt) Kornelia Möller Dr. Frank Schmidt Gudrun Kopp Detlef Parr Kersten Naumann Heinz Schmitt (Landau) Cornelia Pieper Wolfgang Nešković Carsten Schneider (Erfurt) Enthalten Gisela Piltz Dr. Norman Paech Olaf Scholz Jörg Rohde Petra Pau Ottmar Schreiner (B) CDU/CSU Frank Schäffler Bodo Ramelow (D) Reinhard Schultz Dr. Konrad Schily Elke Reinke Josef Göppel (Everswinkel) Marina Schuster Paul Schäfer (Köln) Swen Schulz (Spandau) Dr. Max Stadler Volker Schneider SPD Ewald Schurer Carl-Ludwig Thiele (Saarbrücken) Frank Schwabe Hans Eichel Florian Toncar Dr. Herbert Schui Dr. Angelica Schwall-Düren Lothar Mark Christoph Waitz Dr. Ilja Seifert Dr. Martin Schwanholz Andrea Nahles Dr. Claudia Winterstein Dr. Petra Sitte Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Volker Wissing Frank Spieth Wolfgang Spanier FDP Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Kirsten Tackmann Dr. Margrit Spielmann Martin Zeil Dr. Axel Troost Jörg-Otto Spiller Jens Ackermann Alexander Ulrich Dr. Ditmar Staffelt Dr. Karl Addicks DIE LINKE Jörn Wunderlich Andreas Steppuhn Christian Ahrendt Sabine Zimmermann Ludwig Stiegler Daniel Bahr (Münster) Hüseyin-Kenan Aydin Rolf Stöckel Uwe Barth Karin Binder fraktionslos Christoph Strässer Rainer Brüderle Dr. Lothar Bisky Joachim Stünker Angelika Brunkhorst Heidrun Bluhm Gert Winkelmeier

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Linkspartei, der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- verdammt noch mal!) zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge- setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der – Entschuldigung, das tut mir sehr Leid! CDU/CSU-Fraktion und der überwiegenden Mehrheit (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Muss es der Stimmen der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der aber nicht!) Fraktionen der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen und dem Großteil der PDS-Fraktion angenommen. Verzeihung, das war wirklich ein Versehen! Ich habe (Widerspruch bei der LINKEN) mich jetzt so darauf konzentriert, wer in welcher Frak- tion wie gestimmt hat. Also, noch einmal: „… und einer – Ich habe bei Ihnen einen gesehen, der sich enthalten großen Mehrheit der Linksfraktion“. Einige Abgeord- hat, ganz ruhig! nete der SPD haben dagegen gestimmt und einige Abge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4089

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) ordnete der SPD sowie ein Abgeordneter der Linksfrak- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (C) tion haben sich enthalten. richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Wir kommen zur Hartfrid Wolff (Rems-Murr), Jens Ackermann, dritten Beratung Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Innere Sicherheit durch Regelungen zum Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Arbeitskampfrecht gewährleisten ist bei Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion und des – Drucksachen 16/953, 16/1208 – Großteils der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Frak- tionen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke Berichterstattung: sowie einer Gegenstimme aus der SPD-Fraktion ange- Abgeordnete Anette Kramme nommen. Über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke wer- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- den wir später namentlich abstimmen. schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Druck- Es ist verabredet, eine halbe Stunde hierüber zu de- sache 16/2039. Wer stimmt für diesen Entschließungs- battieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist antrag? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Entschlie- so beschlossen. ßungsantrag ist mit den Stimmen des Großteils der Ko- alition bei Enthaltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Ich eröffne die Aussprache und gebe der Kollegin Grünen und Die Linke sowie einiger Abgeordneter der Anette Kramme, SPD-Fraktion, das Wort. SPD-Fraktion sowie bei Zustimmung der FDP-Fraktion abgelehnt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 8 b. Be- Anette Kramme (SPD): schlussempfehlung des Finanzausschusses auf Druck- sache 16/2007 zu dem Antrag der Fraktion des Bünd- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Biokraftstoffe Kollegen! Die FDP ist in tiefer Sorge um die innere Si- intelligent fördern – Steuerbegünstigung erhalten“. Der cherheit in der Bundesrepublik Deutschland. Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bin in tiefer schlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/583 Sorge um Sie! Wer so anfängt, wird keine gute (B) abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Rede halten!) (D) lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition Es drohen nämlich Invasionen von Ratten und auch die und der FDP-Fraktion bei Gegenstimme der Fraktion des Vogelgrippe wird sich epidemiehaft über ganz Deutsch- Bündnisses 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion land ausbreiten, wenn Verdi streikt. Die Linke angenommen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Darüber sollte Tagesordnungspunkt 8 c. Abstimmung über den An- man keine Witze machen!) trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1895 Ich glaube, hier spricht eher der Wolf im Großmutterkos- (neu) mit dem Titel „Biokraftstoffe nachhaltig fördern“. tüm, der das Rotkäppchen, nämlich die Tarifautonomie, Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Ent- fressen will. haltungen? – Dieser Antrag ist bei Zustimmung der Fraktion Die Linke, bei Gegenstimmen der Fraktionen Meine Damen und Herren, Sie wissen doch sehr ge- der CDU/CSU, der SPD und der FDP und bei Enthal- nau, dass die Gewerkschaften verpflichtet sind, Not- tung von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. dienste bei Streiks einzurichten. Wird kein Notdienst eingerichtet und ergeben sich daraus konkrete Gefähr- Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b dungslagen für die Allgemeinheit, so steht es im pflicht- auf: gemäßen Ermessen der Polizei, hier einzuschreiten. a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Darüber hinaus haften die Gewerkschaften zivilrecht- neten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der lich für etwaigen Schaden. Das heißt, es liegt im ureige- Fraktion der LINKEN eingebrachten Entwurfs ei- nen Interesse der Tarifvertragspartei, Regelungen zu nes Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches treffen. Sozialgesetzbuch (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) – Drucksache 16/856 – Meine Damen und Herren von der FDP, die Intention Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Ihres Antrags ist offenbar: Sie brauchen mal wieder ei- ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) nen Aufhänger, Ihrer Forderung nach Einschränkung der – Drucksache 16/1208 – Arbeitnehmerrechte Nachdruck zu verleihen. Es ist doch wenig glaubhaft, wenn ausgerechnet Herr Westerwelle, Berichterstattung: der den öffentlichen Dienst am liebsten komplett privati- Abgeordnete Anette Kramme sieren möchte, anlässlich des aktuellen Streiks panisch 4090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Anette Kramme (A) ruft, es werde im öffentlichen Dienst jede Hand gegen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt bekommen (C) die Ausbreitung der Vogelgrippe gebraucht. die ihr Fett ab!) Sie versuchen ein ums andere Mal, die Tarifautono- Sie stehen der FDP in Sachen Populismus in nichts nach. mie zu kappen, die Gewerkschaften zu schwächen und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzuschränken. Anders ist es wohl nicht zu erklären, Offensichtlich ernst ist es Ihnen mit Ihrem Gesetzent- dass Herr Brüderle unlängst forderte, das Streikgeld zu wurf nicht. Ihr Geschäftsordnungsantrag in der ersten besteuern. Das ist doch der blanke Hohn. Die einzige Lesung hat Ihrer Forderung nicht unbedingt Glaubwür- Absicht, die sich hinter dieser Forderung verbirgt, ist, in digkeit verliehen. Wenn Sie es wirklich Ernst meinen die Medien zu kommen und die Stimmung gegen die würden, dann hätten Sie sich die Mühe machen müssen, Gewerkschaften anzuheizen. Ich erinnere auch an Ihren Ihren Gesetzentwurf rechtlich, insbesondere verfas- aktuellen Antrag, wonach ein Antrag beim Arbeitsge- sungsrechtlich überprüfen zu lassen. richt zur Einsetzung eines Wahlvorstandes bei Betriebs- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was gut ist und ratswahlen was Recht ist, entscheidet Frau Kramme!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Guter Antrag!) Stattdessen haben Sie ein paar Schubladen aufgezogen der Unterschriftsleistung durch 25 Prozent der Arbeit- und einen unbrauchbaren alten Entwurf der PDS hervor- nehmer des Betriebs bedürfen soll. Und wenn die Welt gezogen. Es hakt hier an allen Ecken und Enden. untergeht, die FDP wird weiterhin versuchen, die Rechte Sie wollen, dass die Bundesagentur für Arbeit im der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu beschnei- Rahmen des § 146 SGB III – früher § 116 AFG – wieder den. die Entscheidung über die Neutralität von Lohnersatz- Ich weiß ja, dass Dinge, die einem nicht gefallen, zahlungen treffen soll. Es handelt sich hier aber um eine schnell vergessen werden. Aber zumindest die Grund- grundrechtsrelevante Entscheidung; Art. 9 und rechte sollte man als Abgeordneter kennen. Art. 14 Grundgesetz sind betroffen. Deshalb darf diese Verwaltungsentscheidung nach der aktuellen Rechtspre- (Beifall bei der SPD) chung des Bundesverfassungsgerichts nicht der Verwal- Sie erinnern sich vielleicht dunkel an Art. 9 Grundge- tung überlassen werden. Es ist also Sache des Bundesge- setz. Ferner empfehle ich Ihnen die Lektüre des Bundes- setzgebers, das selbst zu regeln. verfassungsgerichtsurteils vom 2. März 1993: Praktisch ist auch nicht mehr zu erwarten, dass sich Mit der grundrechtlichen Garantie der Tarifautono- Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Rahmen der Selbst- (B) (D) mie wird ein Freiraum gewährleistet, in dem Ar- verwaltung auf eine Neutralitätsanordnung einigen. Ihr beitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessen gegen- Vorschlag ist den Gewerkschaften deshalb keine Hilfe- seitig in eigener Verantwortung austragen können. stellung. Bevor Sie eine Zwischenfrage anmelden: Ja, die damalige Neuregelung hat der SPD natürlich Bauch- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir sind hier im schmerzen bereitet. Das Bundesverfassungsgericht hat Bundestag!) die Bestimmung jedoch gerade noch als verfassungsge- mäß deklariert. Diese Freiheit findet ihren Grund in der histori- schen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergeb- Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist natür- nisse erzielt werden, die den Interessen der wider- lich kein Freibrief. Wir werden sehr genau darauf ach- streitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht ten, dass die Kräfteparität der Tarifvertragsparteien nicht werden, als bei einer staatlichen Schlichtung. durch § 146 SGB III beeinträchtigt wird. Wenn die Streikfähigkeit der Gewerkschaften durch § 146 SGB III Die Ihrerseits intendierte Kodifikation des Arbeits- beeinträchtigt werden sollte, dann werden wir handeln. kampfrechtes, über die man theoretisch reden könnte, er- Wir brauchen nämlich starke Gewerkschaften in diesem fordert ein Mindestmaß an gesellschaftlichem Konsens. Lande. Die gesellschaftlichen Gruppen sind hier aber tief ge- spalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So wie die große Auf das Instrument Streik wird in Deutschland nur Koalition!) selten zurückgegriffen. Deutschland zeichnet sich im in- ternationalen Vergleich durch einen hohen sozialen Frie- Das wird auch hier im Hause ständig offenbar. Ich be- den aus. In den Jahren 1993 bis 2003 fielen im Durch- zweifle daher intensiv, dass von einem Arbeitskampfge- schnitt nur drei Streiktage pro 1 000 Arbeitnehmer an. In setz in irgendeiner Weise eine befriedende Funktion aus- Italien waren es dagegen 60 Tage, in Frankreich gehen könnte. 100 Tage und in Dänemark – man erwartet das nicht – (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sage und schreibe 178 Tage. Das sollten auch Sie, meine Damen und Herren von der FDP, endlich zur Kenntnis Es hat sich daher bewährt, dass die Rechtsprechung Re- nehmen. Stattdessen legen Sie immer wieder dieselbe gelungen für die Führung von Arbeitskämpfen entwi- kaputte Schallplatte auf und behelligen uns mit unnöti- ckelt hat, an denen sich die Praxis orientieren kann. gen Anträgen. Meine Damen und Herren von der Linken, Ich bedanke mich ganz herzlich. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4091

Anette Kramme (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das ist den Menschen nicht mehr vermittelbar, Frau (C) der CDU/CSU) Kramme. Sagen Sie bitte einem Unfallopfer ins Gesicht, dass es nicht möglich sein soll, es auch in Streikzeiten Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: versorgen und schützen zu können! Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff, FDP-Frak- Die Tarifautonomie ist ein verfassungsrechtliches tion. Gut aus Art. 9 des Grundgesetzes. Das möchte auch nie- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) mand infrage stellen. Die FDP steht zur Tarifautonomie. (Beifall bei der FDP – Anette Kramme [SPD]: Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Haha!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Le- ben und die körperliche Unversehrtheit sind hohe Güter, Es kommt auf die jeweiligen Streikmittel im Einzel- die seitens des Staates geschützt werden müssen. Der ehe- fall an, die verhältnismäßig sein müssen. Das Grund- malige Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Thomas recht auf Vereinigungsfreiheit und die Tarifautonomie Dieterich – in der SPD sicherlich kein Unbekannter –, können – im konkreten Fall muss immer die Abwägung weist in seinen Kommentierungen des Streikrechts darauf mit wichtigen Rechtsgütern erfolgen – nicht schranken- hin, dass jeder Streik dort seine Grenzen finden muss, los gewährt werden. wo erhebliche Verfassungsgüter beeinträchtigt sind. Ich verstehe nicht ganz, warum die Kollegen insbe- (Beifall bei der FDP) sondere auf der linken Seite des Plenums Bedenken haben. Aus meiner Sicht ist es erforderlich und auch ver- Dies ist unbestritten, sei es durch die Gelehrten Wolf- fassungspolitisch geboten, klare Regelungen zu schaf- gang Däubler und Manfred Löwisch, sei es durch die fen. Durch die fehlenden gesetzlichen Regelungen ist die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts oder des Rechtsprechung gezwungen, die Grenzen der richterli- Bundesverfassungsgerichts. Wenn wie im letzten Winter chen Entscheidungslegitimation bis zum Äußersten zu durch Streikmaßnahmen direkt und vor allem indirekt beanspruchen. Im Klartext: Wir brauchen auch an dieser Gefährdungen für die Bürgerinnen und Bürger eintreten, Stelle klare Regelungen. dann ist das zulässige Maß überschritten. Das ist nicht mehr hinnehmbar. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb Deshalb bitte ich Sie, der Beschlussempfehlung des [FDP]: So ist es! Da muss die FDP einschrei- Ausschusses nicht zu folgen und somit dem Antrag der ten!) FDP zuzustimmen. (B) (D) Als Verdi Anfang des Jahres Winterdienste bestreikte, Lassen Sie mich noch einige Worte zu dem Gesetz- stieg die Anzahl der Verkehrsunfälle zum Beispiel in entwurf der Linken sagen. Die Linken gehen damit in Bayern und Baden-Württemberg nachweislich deutlich die völlig falsche Richtung. Der Gesetzentwurf ist ein an. Schritt in die tiefe Vergangenheit. (Ute Kumpf [SPD]: Schauen Sie mal auf die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wetterlage!) Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da hat er Rettungsdienste und Feuerwehren konnten aufgrund der Recht!) Straßenverhältnisse nicht zum Einsatzort kommen. Die Polizei war massiv eingeschränkt. Wie immer fordern die Linken Leistungen und schwei- gen über die Gegenfinanzierung. Durch diesen Vor- In Stuttgart musste damals, weil chaotische Verhält- schlag würden die Ausgaben für die Bundesagentur für nisse auftraten, die Polizei einen von Verdi bestreikten Arbeit steigen und Gelder zur Finanzierung von Streiks Betriebshof befreien, damit der Winterdienst durchge- eingesetzt werden. Damit würden durch die Beiträge al- führt werden konnte. ler die Streiks mitfinanziert und Beitragserhöhungen wä- (Ute Kumpf [SPD]: Sie sind überhaupt nicht ren die Folge. Eine Steigerung der Lohnnebenkosten auf dem Laufenden! Das waren die Schnee- passt nicht in die heutige konjunkturelle Entwicklung; massen!) (Beifall bei der FDP) – Hören Sie zu, Frau Kumpf! Das wäre nicht schlecht. – sie darf erst recht nicht zur Finanzierung von Arbeits- Dass die Gewerkschaften hiergegen gerichtliche Schritte kämpfen erfolgen. Dies ist ein Weg, den wir als Freie eingeleitet haben, war dreist. Demokraten klar ablehnen. Für uns steht nämlich die (Beifall bei der FDP) Schaffung von Arbeitsplätzen im Vordergrund. Wir brauchen eine nachhaltige Entlastung von Steuern und Es gilt, in solchen Fällen Rechtssicherheit und ein- Abgaben. Das sage ich in diesem Hause, wo heute Mor- deutige Regelungen für die Polizei und die Bürgerinnen gen Entsprechendes beschlossen wurde. Gerade die und Bürger zu schaffen. Durch den Streik der Müllab- Lohnnebenkosten gängeln die wirtschaftliche Entwick- fuhr ergaben sich Zustände, die in Zeiten der wieder stei- lung in Deutschland. genden Verbreitung von Tierseuchen inakzeptabel sind – und das als Nebenfolge der zivilrechtlichen Auseinan- Es gibt keinen vernünftigen Grund, dem Gesetzent- dersetzung zwischen den Tarifparteien. wurf der Linken zuzustimmen. Gleichzeitig bitte ich Sie, 4092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) auch die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ar- parteien zu schützen, läuft somit ins Leere. Die Tarifau- (C) beit und Soziales zu unserem Antrag abzulehnen. tonomie wäre gerade dann bedroht, wenn der Staat hier nicht zur Neutralität verpflichtet wäre. Aus diesem (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Wieso das Grund erhalten auch nur die Leistungen, die am Arbeits- denn?) kampf beteiligt sind, also die Streikenden. Das gilt auch – Ganz einfach: Eine doppelte Ablehnung soll Ihnen al- für diejenigen, welche die gleichen Forderungen erheben len die Entscheidung erleichtern. Jedenfalls werden wir und vom Ergebnis des Arbeitskampfs profitieren, aber von der FDP-Fraktion das tun. nicht selbst streiken. Wenn im mittelbar betroffenen Ge- biet dieselben Ziele verfolgt werden, dann ruhen die An- (Beifall bei der FDP) sprüche nach der Neutralitätsordnung. Es kann nicht sein, dass eine Gewerkschaft mit zwei Gruppen ein und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dasselbe Ziel verfolgt, mit einer Gruppe, die sie streiken Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU- lässt, und mit einer anderen Gruppe, die sie sich von der Fraktion. Bundesagentur bezahlen lässt. Wir wollen, dürfen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) können Stellvertreterstreiks nicht finanziell unterstüt- zen. Paul Lehrieder (CDU/CSU): (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn zu einer bestehenden gesetzli- Die Gewährung von Kurzarbeitergeld an so genannte chen Regelung die Kritik von links und von rechts glei- kalt Ausgesperrte verstößt grundsätzlich gegen die Neu- chermaßen kommt, dann kann die bestehende gesetzli- tralität der Bundesagentur, deren Mittel von Arbeitneh- che Regelung so schlecht nicht sein. mern und Arbeitgebern gemeinsam aufgebracht werden. Die Solidarität der mittelbar betroffenen Arbeitnehmer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mit den aktiv Streikenden würde gestärkt, der Arbeits- kampf würde so einseitig beeinflusst. Würden wir den Es ist immer wieder interessant zu sehen, wie sich un- Tarifpartnern ermöglichen, jedes Arbeitskampfrisiko auf sere Opposition redlich am Streikrecht abarbeitet. Die die Bundesagentur abzuwälzen, dann würden sie auch Anträge der FDP und der Linken haben heute einträchtig bestimmen, wann wir die Beiträge erhöhen müssten. die Endrunde, das Finale, erreicht. Das war es dann auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Wenn die Linksfraktion behauptet, die Streikkassen Die Linkspartei – deren Mitglieder heute Nachmittag wären innerhalb weniger Tage leer, wenn sie an „kalt ausgesperrte“ Mitglieder zahlen müssten, dann sollte sie (B) von einem Redner zutreffend als Manager des Misser- (D) folgs bezeichnet wurden – will das Rad der Gesetzge- auch Folgendes bedenken: Die Arbeitslosenversiche- bung ohne Not um 20 Jahre zurückdrehen und sich bei rung kann, wie jede Schadensversicherung, ein entspre- den Gewerkschaften anbiedern. chendes Arbeitskampfrisiko schon deshalb nicht tragen, weil ihre Mittel ebenfalls bei einem Schwerpunktstreik (Zuruf des Abg. Oskar Lafontaine [DIE innerhalb weniger Monate erschöpft wären. Am Ende LINKE]) stünden höhere Lohnnebenkosten, teurere Arbeit und – Herr Lafontaine, Sie kommen nach mir dran. Sie kön- weniger Jobs. Unser Ziel, die Beiträge zur Arbeitslosen- nen jetzt einmal den Mund halten. versicherung von 6,5 Prozent auf 4,5 Prozent über die Mehrwertsteuererhöhung zu senken, könnten wir so (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/ dank tätiger Mithilfe unserer Opposition nie erreichen. CSU: Das soll auch für später gelten!) Zu den aktuellen Zahlen. Sie haben es heute Morgen Die Liberalen versuchen, uns vor den Auswüchsen des sicherlich vernommen: Wir haben derzeit 383 000 Ar- Arbeitskampfs zu schützen. Das ist zwar gut gemeint, beitslose weniger als im Vorjahreszeitraum. aber überflüssig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der FDP) – Ich finde, diese Zahl verdient durchaus Beifall, auch von der Linkspartei. – Wir haben 49 000 Erwerbstätige Unsere lieben Kollegen auf der linken Seite versu- mehr als im Vorjahreszeitraum. Wir haben 4 000 sozial- chen, Problemen von heute mit Mitteln von 1969 gerecht versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse mehr. Das zu werden. Sie stellen die Gewerkschaften als bemitlei- ist der erste Monat mit einem saisonbereinigten Zuwachs denswerte Opfer des § 146 SGB III dar und ignorieren in dieser Höhe. völlig, dass es dabei nie darum ging, das Gleichgewicht zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Arbeitskampf zu verändern. Die 1986 beschlossene Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 4 000! Schämt Neuregelung des früheren § 116 AFG sollte die neutrale euch!) Rolle des Staates und der Bundesagentur für Arbeit im Es ist, wie an diesem Pult bereits mehrfach ausge- Arbeitskampf sichern – nicht mehr und nicht weniger. führt, eine Schwalbe, die noch keinen Sommer macht; Ihr Hinweis auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil aber es ist eine zarte Pflanze am Arbeitsmarkt. Wir sind von 1995, das den Gesetzgeber auffordert, die Tarifau- angetreten mit dem Motto: Sozial ist, was Arbeit schafft. tonomie bei ungleicher Kampfstärke der Tarifvertrags- Der beginnende Aufschwung am Arbeitsmarkt würde Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4093

Paul Lehrieder (A) durch die nunmehr auch von der Linkspartei geforderte ginnen und Kollegen, scheint nicht sehr tragfähig zu (C) Gesetzesänderung konterkariert. Ich möchte sagen: Wir sein. können uns diesen beginnenden Aufschwung nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) durch arbeitsmarktpolitische Brandstifter zerstören las- sen. Sie verkennen zudem, dass wir in den Landesstraf- und Verordnungsgesetzen bereits Regelungen haben, die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die öffentliche Sicherheit und Ordnung auch im Falle neten der FDP) eines Streiks ausreichend aufrechterhalten. Auch frühere Eine allgemeine Subvention von Arbeitskämpfen und Arbeitskämpfe haben sicherlich Unannehmlichkeiten für ihre Folgen würden die Gewerkschaften zu Quasistaats- die Bevölkerung mit sich gebracht. Sie konnten aber apparaten machen. Das kann aber niemand wollen, der letztendlich beigelegt werden, ohne dass ein über die ge- es mit freien Gewerkschaften ernst meint. Ich sehe den genwärtigen Regelungen hinausgehendes Eingreifen des Kollegen Lafontaine; weiter hinten sitzt der Kollege Staates nötig oder die innere Sicherheit in Gefahr gewe- Ernst. Der Staat würde zum Mitbestimmer. Wer für die sen wäre. Vor permanenten Streiks, wie sie in anderen Folgen eintreten müsste, würde auch über die Ursachen Ländern häufig stattfinden, hat uns nicht zuletzt auch die mitreden wollen. Tarifautonomie bewahrt. Die Neutralität der Bundesagentur ist wichtig für (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – die Tarifautonomie, damit die Beschäftigten sich nicht in Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Läuft die einer Lage wiederfinden, in der ihre Arbeitskämpfe fort- Uhr jetzt rückwärts?) dauernd von Gerichtsverfahren begleitet werden; sonst – Ich habe noch zwei Minuten und 40 Sekunden; aber wären sie in der Gefahr, dass Leistungen unter Vorbehalt ich werde eine Minute verschenken. – Eine Art Not- ausgezahlt werden mit dem Risiko der Rückzahlung. standsgesetzgebung für Arbeitskämpfe kann doch ernst- Genau dieses Risiko wird durch § 146 SGB III einge- haft niemand wollen. dämmt. Auch der Streik im öffentlichen Dienst zu Beginn die- Im Gesetzentwurf der Linkspartei heißt es: ses Jahres hat gezeigt: Bevor ein Arbeitskampf die in- § 146 SGB III verhindert daher die Chancengleich- nere Sicherheit ernsthaft gefährden kann, gilt: Letztlich heit der Tarifvertragspartner und behindert so die entscheiden der immer vorhandene Wunsch nach einer Gewerkschaften, an einer sinnvollen Organisation praktikablen Lösung und nicht zuletzt die Geduld der des Arbeitslebens mitzuwirken. Menschen über seine Länge. (B) Dabei wird das bestehende Druckpotenzial der Gewerk- Ich habe noch zwei Minuten und 18 Sekunden. Die (D) schaften völlig unterschlagen. Ein Rückfall in die Rege- schenke ich dem Plenum, weil zu Beginn meiner Rede lung von 1969 trägt den wirtschaftlichen und gesell- die Uhr nicht richtig lief und ich etwas mehr Zeit be- schaftlichen Veränderungen der heutigen Zeit nicht kommen habe, als mir zustand. Rechnung. Sie geben auch keine Antwort auf die Frage, Danke schön. wie unter den aktuellen Bedingungen der Arbeitskampf am Leben erhalten werden kann, ohne dass er zum Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie nichtungskampf wird. bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Antrag der Linkspartei lässt die selbst ernannten Verteidiger der Arbeiterklasse leider traurig aussehen. Die Frage, ob Ihnen Arbeitnehmerinteressen und Tarif- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: autonomie wirklich am Herzen liegen, beantworten Sie Dann wären wir, jedenfalls theoretisch, bei einer mit Ihrem Gesetzentwurf und der heutigen Aktuellen Schlusszeit von etwa 4.28 Uhr. Stunde dagegen mit einem klaren und deutlichen Nein. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nicht viel besser geht es aber auch unseren Freunden, NEN]: Weiter so!) den Liberalen. Ich gebe das Wort dem Kollegen Oskar Lafontaine, (Zuruf von der FDP) Fraktion Die Linke. – Ja, jetzt komme ich zu euch. – Während die Linkspar- (Beifall bei der LINKEN) tei auf neue Freunde im Gewerkschaftslager schielt, will die FDP genau die am liebsten an die Leine legen. Ihre Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Sorge um das Gemeinwohl ist so ehrenhaft wie schwam- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und mig. Ihr Antrag stellt allerdings ebenfalls die Tarifauto- Herren! Wenn es noch Zweifel daran gab, ob es richtig nomie infrage. Wer entscheidet denn, wann Streikmaß- war, diesen Punkt auf die Tagesordnung zu setzen, sind nahmen eine Gefahr für verfassungsrechtlich geschützte sie ausgeräumt; denn die bisherige Debatte hat gezeigt, Rechtsgüter darstellen? Wer sind denn die „zuständigen dass es notwendig war. Stellen“, die bei Arbeitskämpfen Maßnahmen zu ergrei- (Beifall bei der LINKEN) fen haben, um die Notfallversorgung der Bevölkerung sicherzustellen? Hier wird doch nach mehr Staat geru- Die Vorredner haben versäumt, auch nur mit einem fen. Ihr liberales Selbstverständnis, meine lieben Kolle- Wort zu erwähnen, worum es überhaupt geht. Es geht 4094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Oskar Lafontaine (A) weder um die Linkspartei noch um die FDP. Es geht Deshalb darf man nicht stolz darauf sein, verehrte Frau (C) auch nicht um das Streikrecht der Gewerkschaften. Es Kollegin, dass die Zahl der Streiktage hier so gering ist, geht noch nicht einmal um die Gewerkschaften. Es geht während sie in allen anderen Ländern, wo die Löhne einzig und allein um die Frage, warum wir in Deutsch- auch viel stärker wachsen, wesentlich höher ist. land eine solch miserable Lohnentwicklung haben und Wenn man in diesem Land wirklich etwas bewirken warum der Satz „Leistung soll sich wieder lohnen“ in will, was Wachstum und Beschäftigung angeht, dann Deutschland keine Geltung mehr hat. muss man zumindest die Bedeutung der Lohnentwick- (Beifall bei der LINKEN) lung für Wachstum und Beschäftigung und für unsere Volkswirtschaft wieder entdecken. Es ist wirklich aben- Über diese Frage reden wir heute. teuerlich, dass diejenigen, die hier bisher für die Frak- Dass Ihnen entgangen ist, dass wir in Deutschland tionen argumentiert haben, die Bedeutung der Lohn- eine Lohnentwicklung haben, die unter allen Industrie- entwicklung für Wachstum und Beschäftigung völlig staaten beispiellos ist, zeigt wirklich exemplarisch, wie ausgeblendet haben. abgehoben Sie mittlerweile sind. (Beifall bei der LINKEN) (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wissen Sie, zu was Sie reden?) Damit sind wir einmalig unter allen Industriestaaten in der Welt. Während in den anderen Industriestaaten Wachstum und Beschäftigung einigermaßen in Ordnung sind, wäh- Die Sprecherin der SPD hat uns Populismus vorge- rend beispielsweise in den letzten Jahren in den Verei- worfen; darauf möchte ich eingehen. Natürlich hatten nigten Staaten, der Hochburg des Kapitalismus, eine wir eine Absicht, als wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt Reallohnentwicklung von plus 20 Prozent zu verzeich- haben, nen war, während es in Großbritannien, das uns immer (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Na ja!) wieder als Beispiel vorgehalten wird, eine Reallohnent- wicklung von plus 25 Prozent gab – so ebenfalls in Schwe- die Absicht nämlich, Ihnen, verehrte Kolleginnen und den –, hatten wir in Deutschland ein Minus von Kollegen der SPD, wieder in Erinnerung zu rufen, dass 0,9 Prozent. die Forderung nach einer Änderung dieses Paragrafen Zentrum vieler Wahlkämpfe der Sozialdemokratischen (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Es Partei Deutschlands war. geht doch um Arbeitskampf!) (Beifall bei der LINKEN) Da reden Sie hier von der grundgesetzlich garantierten (B) Tarifautonomie und von einer Waffengleichheit. Wenn Sie sollten sich schämen, dass Sie dies vergessen haben. (D) die Arbeitnehmer am wachsenden Wohlstand nicht mehr (Anette Kramme [SPD]: Immer diese persönli- beteiligt werden, dann ist Waffengleichheit in diesem che Betroffenheit!) Land längst nicht mehr gegeben. Als wir 1998 eine Zustimmung von über 40 Prozent (Beifall bei der LINKEN) der Wählerinnen und Wähler erreicht haben, war es noch Es wäre schön gewesen, wenn die SPD das irgendwie so, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie mitbekommen hätte. ihre Vertreterinnen und Vertreter Vertrauen in die Sozial- demokratische Partei Deutschlands hatten. Die Argu- Nun ist die Frage: Was kann man vonseiten der Poli- mentation heute hat gezeigt, dass Sie dieses Vertrauen tik machen? Natürlich haben wir nicht die direkte Zu- auf klägliche Art und Weise verspielt haben. ständigkeit in Fragen der Tarifautonomie. Aber es ist doch überhaupt keine Frage, dass die Gewerkschaften in (Beifall bei der LINKEN) diesem Land mit dem Rücken an der Wand stehen und Ich darf Sie daran erinnern, dass Sie heute wiederum auch durch Gesetze dieses Hohen Hauses erheblich ge- einen Kompromiss mit Ihrem Koalitionspartner ge- schwächt worden sind. Wenn man die Gewerkschaften schlossen haben, mit dem Sie noch viel Freude haben schwächen will, muss man eine neoliberale Wirtschafts- werden. Ich bewundere das strategische politische Ge- und Finanzpolitik machen, um die Arbeitslosigkeit kräf- nie, das bei der SPD mittlerweile eingezogen ist. Sie tig zu steigern. Darin waren Sie, und zwar Sie alle, in haben heute die Verbandsklage aus dem Antidiskrimi- den letzten Jahren sehr erfolgreich, was für die Bevölke- nierungsgesetz wieder mehr oder weniger herausge- rung äußerst bedauerlich ist. nommen. Das war wiederum ein Kompromiss zulasten (Beifall bei der LINKEN) der Gewerkschaften. Das ist wirklich eine enorme Fehl- entwicklung, wie ich hier einmal feststellen möchte. Wenn man die Gewerkschaften schwächen will, dann muss man Gesetze wie Hartz IV verabschieden, die dazu (Beifall bei der LINKEN) führen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Wir fassen zusammen, meine sehr geehrten Damen in den Betrieben Angst haben, dann, wenn sie arbeitslos und Herren: werden, nach einem Jahr auf Hartz IV zurückzufallen. Das schwächt die Widerstandskraft dieser Arbeitnehme- (Zurufe von der CDU/CSU: „Wir“?) rinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben. Sie werden es irgendwann noch feststellen, dass Ihr Fei- (Beifall bei der LINKEN) xen und Grinsen angesichts der Tatsache, dass in diesem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4095

Oskar Lafontaine (A) Lande die Lohnentwicklung immer weiter zurückfällt bracht, während die Metalltarifrunde lief. Herausgekom- (C) und die Arbeitnehmerschaft immer weniger am wach- men ist dabei jedoch ein Plus von 3 Prozent, senden Wohlstand beteiligt wird, völlig deplatziert sind. Dieses Parlament wäre aufgrund des Urteils des Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) verfassungsgerichts verpflichtet, die Gewerkschaften in herausgekommen ist ein Qualifizierungsvertrag, heraus- diesem Lande wieder zu stärken. gekommen sind eine Menge positiver Entwicklungen. (Anhaltender lebhafter Beifall bei der LIN- (Zurufe von der LINKEN: Was denn?) KEN – Zurufe von der FDP: Aufstehen! – Zu- rufe von der SPD: Aufhören!) Eine Gewerkschaft, die gar nichts mehr im Rücken hat, hätte so etwas sicher nicht durchgesetzt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort hat Brigitte Pothmer für Bündnis 90/Die und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Grünen. CDU/CSU) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun etwas Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zum FDP-Antrag sagen. Dieser ist doch irgendwie ab- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr surd. Hier wird so getan, als ob Streiks im öffentlichen Wolff, Herr Lafontaine, die von Ihnen vorgelegten An- Dienst Seuchen, Notstandsszenarien und anderes – was träge und vor allen Dingen das, was Sie heute hier in Ih- auch immer Sie sich ausdenken – hervorriefen. ren Reden präsentiert haben, kann man, wie ich glaube, sozusagen als Koalition der Billigen bezeichnen: billig (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn Sie die in der Form und billig im Inhalt. Müllberge in Baden-Württemberg gesehen hätten!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD – Hartfrid Also Hysterie auf der linken, Marktradikalismus auf der Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist aber auch rechten Seite. Ich glaube, vor diesem Hintergrund ist es billig!) gut, dass wir Grünen jedenfalls beiden Anträgen nicht zustimmen. Die einen halten die Gewerkschaften für stark und wol- len sie weiter stärken, die anderen halten die Gewerk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaften für schwach und wollen sie weiter schwächen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Eine solche Politik, wie sie in Ihren Anträgen zum Aus- Sie, Herr Lafontaine, unterstellen eine strukturelle (B) druck kommt, trägt allerdings keineswegs zur Steige- Benachteiligung der Gewerkschaften. Ich finde, darüber (D) rung der Seriosität von Politik bei. muss man tatsächlich einmal reden. Herr Lafontaine, Sie beschreiben die Lohnentwick- (Zurufe von der LINKEN: Aha!) lung in Deutschland. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die Neuregelung des Streikparagrafen 20 Jahre zu- – Ja, das finde ich. – Wenn Sie aber hier den Eindruck rückliegt. In dieser Zeit verlief die Lohnentwicklung in erwecken, dies sei mit einer Änderung des § 146 zu be- Deutschland zunächst nicht so, wie Sie sie beschrieben heben, dann kann ich nicht umhin, Ihnen Populismus haben. Indem Sie den Eindruck erwecken, dass die Än- vorzuwerfen. Wenn wir den § 146 wieder ändern, dann derung dieses Paragrafen zu der ungünstigen Lohnent- stärken wir ein Stück weit die Bereiche, in denen die Ge- wicklung geführt habe, zeigen Sie nur, welch schlichte werkschaften schon stark sind, also da, wo sie in Bran- und einfache Weltsicht Sie haben, meine Damen und chen tätig sind, die hochgradig vernetzt sind. Aber für Herren von den Linken. die Bereiche, wo die Gewerkschaften schwach sind, zum Beispiel bei den in der Gastronomie tätigen Frauen, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, kaum organisiert sind, tun Sie gar nichts. Genau das bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- werfe ich Ihnen vor. geordneten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie können hier ruhig behaupten, bei Ihrem Gesetz- sowie bei Abgeordneten der SPD) entwurf gehe es nicht um die Linkspartei. Ich sage nur: In diesem Entwurf geht es nur um die Linkspartei. Sie tragen den Interessenkonflikt in eine Behörde, in die Bundesagentur für Arbeit. Dort treffen dann das Ar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, beitgeber- und das Arbeitnehmerlager aufeinander. Auf bei der CDU/CSU und der SPD – Lachen bei eine solche Weise lässt sich meiner Meinung nach keine der LINKEN – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ vernünftige Politik machen. CSU]: Bisher war es erstaunlich gut, Frau Po- thmer!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte noch etwas anderes in Erinnerung rufen, Ich komme zum Schluss. nachdem Sie hier im Grunde schon den Niedergang der (Beifall bei der LINKEN) Gewerkschaften beschworen haben. Ihren Gesetzent- wurf, in dem Sie behaupten, es gebe eine entscheidende Wir haben 4 Millionen Arbeitslose, wir haben 2 Millio- Schwächung der Gewerkschaften, haben Sie einge- nen Langzeitarbeitslose. Die Koalition streitet sich, 4096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Brigitte Pothmer (A) macht nichts in der Arbeitsmarktpolitik. Mindestlohn, Gesetzes zum Abbau bürokratischer Hemm- (C) Kombilohn – die einen wollen dies, die anderen das. nisse insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie haben so gut angefangen!) – Drucksache 16/1407 – Es lohnt sich, sich damit auseinander zu setzen. Das ist – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- unsere Aufgabe. Diese Art von populistischen Anträgen gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten bringt uns nicht weiter. Gesetzes zum Abbau bürokratischer Hemm- nisse insbesondere in der mittelständischen Ich danke Ihnen. Wirtschaft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksachen 16/1853, 16/1970 – sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Zurufe von der LINKEN: La Ola! Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- La Ola!) ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: – Drucksache 16/2017 – Ich habe schon befürchtet, dass gleich La-Ola-Wellen angestimmt werden. Bevor das geschieht, kommen wir Berichterstattung: aber zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Frak- Abgeordneter Dr. Rainer Wend tion Die Linke zur Änderung des Dritten Buches Sozial- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gesetzbuch auf Drucksache 16/856. Der Ausschuss für richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/1208, den Ge- neten Martin Zeil, Rainer Brüderle, Paul K. setzentwurf abzulehnen. Die Fraktion Die Linke ver- Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion langt namentliche Abstimmung. Ich weise darauf hin, der FDP dass wir jetzt über den Gesetzentwurf abstimmen. Statistikpflichten zurückführen – Bürokratie- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die kosten senken vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen be- setzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstim- – Drucksachen 16/1167, 16/2017 – mung. Berichterstattung: (B) Haben jetzt alle abgestimmt? – Ich gehe davon aus, Abgeordneter Dr. Rainer Wend (D) dass kein anwesender Kollege noch nicht abgestimmt Zur dritten Beratung des Gesetzentwurfes liegen je hat, und schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schrift- ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP sowie führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu der Fraktion Die Linke vor. beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird später be- kannt gegeben. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu sehe Wir setzen die Abstimmungen fort. ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Tagesordnungspunkt 9 b: Beschlussempfehlung des Ich eröffne die Aussprache. Zuerst hat der Kollege Ausschusses für Arbeit und Soziales, Drucksache 16/1208, Laurenz Meyer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „In- nere Sicherheit durch Regelungen zum Arbeitskampf- (Beifall bei der CDU/CSU) recht gewährleisten“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): auf Drucksache 16/953 abzulehnen. Wer stimmt für Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- uns untereinander alle darüber im Klaren, dass der haltungen? – Ich bin mir nicht ganz sicher, wie die Frak- Hauptteil der Bürokratiekosten in der Wirtschaft vom tion des Bündnisses 90/Die Grünen abgestimmt hat. – Mittelstand zu tragen ist. Das liegt schon an der Struktur Ablehnend. Damit ist die Beschlussempfehlung mit den der mittelständischen Unternehmen. Von den Bürokra- Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der gesamten tieanforderungen sind dann ausgerechnet immer diejeni- Opposition angenommen. gen betroffen, die eigentlich den Betrieb tragen sollen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b (Martin Zeil [FDP]: So ist es!) auf: Das ist eine zusätzliche Erschwernis, auf die wir ein be- a) – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- sonderes Augenmerk haben sollten, wenn wir auch in neten Laurenz Meyer (Hamm), Veronika Bell- den kommenden Monaten weiter über Bürokratieabbau mann, Klaus Brähmig, weiteren Abgeordneten reden. und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- ordneten Dr. Rainer Wend, Doris Barnett, Klaus Bürokratie belastet Investitionen, Arbeitsplätze, Wirt- Barthel, weiteren Abgeordneten und der Fraktion schaftswachstum. Durch Bürokratieabbau können alle der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten nur gewinnen. Wenn durch Bürokratieabbau auch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4097

Laurenz Meyer (Hamm) (A) 20 Milliarden Euro Kosten abgebaut werden können, dem mitarbeiten, was wir uns gemeinsam vorgenommen (C) dann bedeutet das zusätzliche Steuereinnahmen für den haben. Ich fordere alle auf, bei der Erstellung von Vor- Staat. Wir sollten uns freuen, wenn wir hier Erfolge er- schlägen mitzuarbeiten. Wir werden alle Vorschläge da- zielen können. rauf abklopfen, ob sie umsetzbar sind. Wir haben vor vier Wochen hier den Normenkon- Wir wollen zum Herbst das Mittelstandsentlas- trollrat und das Standardkostenmodell beschlossen. Der tungsgesetz in einer zweiten Stufe weiterentwickeln. Normenkontrollrat wird zeitnah eingesetzt und zügig mit Meine dringende Bitte an die Ministerien ist, dass hier der Arbeit beginnen. Die Vorbereitungen sind in vollem konstruktiv mitgearbeitet wird. Die bisherigen Stellung- Gange. Nun wollen wir erste konkrete Maßnahmen be- nahmen sind einfach nicht ausreichend. schließen, die Ihnen heute mit dem Gesetzentwurf vor- liegen. Sie sollen rechtzeitig zum Sommer in Kraft tre- (Martin Zeil [FDP]: Hört! Hört!) ten. Es darf nicht bei dem Satz bleiben, es gebe europarecht- Zu diesen Maßnahmen gehört zum Beispiel eine maß- liche Bedenken. Denn die Kollegen im Europaparlament volle Anhebung des Beschäftigungsschwellenwertes bei sagen uns, dass dies nicht der Fall ist. Wir müssen die of- der Bestellung von Datenschutzbeauftragten. Schon die- fenen Fragen rechtzeitig klären. Die Punkte liegen auf ser Punkt zeigt, mit welchen Problemen und Diskussio- dem Tisch. Ich bitte alle Beteiligten, die strittigen Fragen nen wir uns zu beschäftigen haben; denn selbst für jetzt zu klären. Kleinbetriebe werden hier beispielsweise europarechtli- Wir müssen alle gemeinsam in Europa vorstellig wer- che Fragen aufgeworfen. Wir müssen dieses Problem an den, um die Dinge zu ändern. Wenn wir es jetzt nicht der Wurzel anpacken und auch einen begrenzten Kon- schaffen, dann müssen wir eben, wie Frau Merkel dies flikt mit Brüssel wagen; wir müssen als Parlament deut- angekündigt hat, den Bürokratieabbau zum Schwer- lich machen, dass wir nicht gewillt sind, von Brüssel re- punktthema ihrer Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr geln zu lassen, welche Statistiken Betriebe mit zehn oder 2007 machen. 20 Beschäftigten in Deutschland abzugeben haben Wir haben aus diesen Gründen jetzt zum Beispiel (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht beschließen können – wir wollen das aber in einem neten der SPD – Beifall bei der FDP sowie bei zweiten Schritt unbedingt tun und werden uns da zur Not Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE auf diesen begrenzten Konflikt einlassen, wie ich es vor- GRÜNEN) hin schon gesagt habe –, dass Existenzgründer in den oder ob wir bestimmte Bewegungen per Umfragen er- ersten drei Jahren von der Pflicht zur Erstellung von Sta- mitteln. tistiken freigestellt werden. (B) (D) Ich nenne einmal, was wir jetzt beschlossen haben: (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Aussetzung der Gehalts- und Lohnstrukturerhebung in Christian Lange [Backnang] [SPD]) 2007, die Anhebung der Buchführungspflichtgrenze und Ausweitung der Kleinbetragsrechnung im Umsatzsteuer- Es kann nicht sein, dass einem solchen Vorhaben euro- recht. päische Vorschriften entgegenstehen. Wir sollten einem solchen Konflikt im Interesse der deutschen Bevölke- Ich will auf die gute Zusammenarbeit mit dem Ar- rung nicht aus dem Weg gehen und gemeinsam nach Lö- beits- und Sozialministerium verweisen und einen Punkt sungen suchen. besonders hervorheben. Wenn wir schon die vorgezoge- nen Zahlungen für die Sozialversicherungsbeiträge aus Im Übrigen gilt: In jedem anderen Bereich der Repu- finanziellen Gründen nicht haben rückgängig machen blik erfolgt die Datenermittlung über Stichprobenerhe- können, so sollten wir wenigstens das Verfahren so un- bungen, Meinungsbefragungen usw. Warum kann man bürokratisch wie eben möglich machen, indem die Bei- nicht bei Unternehmen bis zu 50 Beschäftigten alle be- träge pauschal auf der Basis der Zahlungen des Vormo- nötigten Statistiken weitestgehend auf diese Weise er- nats gezahlt werden. stellen? Damit müssen sich kleinere Betriebe nicht quä- len. Die Bertelsmann-Stiftung hat die Auswirkungen die- ses Bürokratieproblems einmal exemplarisch durchge- Auf der anderen Seite gilt: Wenn die Betriebe die Er- rechnet. Die Ergebnisse liegen uns vor. Bitte hören Sie stellung dieser Statistiken nicht ernst nehmen – was ich einmal genau zu: Die Bürokratie, die mit diesem Vor- höre, deutet eher darauf hin –, dann führt dies zu einem gang verbunden ist, kostet die deutsche Wirtschaft unbrauchbaren Datenbestand. Viele Betriebe wollen 800 Millionen Euro zusätzlich. Gott sei Dank kann diese dazu übergehen, an Stelle des Chefs, der dafür seine Bürokratie beseitigt werden. Herr Berninger, da Sie kostbare Zeit nicht opfern will, irgendeinen Mitarbeiter, gleich wahrscheinlich behaupten, es gehe alles nicht der irgendetwas aufschreibt, mit dieser Aufgabe zu be- weit genug, will ich Ihnen sagen, dass man daran sehen trauen. Wenn das so ist, dann ist die Statistik nicht aussa- kann, welchen Quatsch Sie damals beschlossen haben. gekräftig und wird auch nicht gebraucht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) neten der FDP) Deswegen sollten wir hier wirklich mit dem Rasenmäher Deswegen sollten Sie sich in der kommenden Diskus- herangehen und den Normenkontrollrat bei seiner Arbeit sion nicht zu weit vorwagen, sondern konstruktiv an tatkräftig unterstützen. 4098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Laurenz Meyer (Hamm) (A) Mit Blick auf das zweite Mittelstandsentlastungsge- seine Bedenken vorträgt. Wir wissen, dass Architekten (C) setz möchte ich schon jetzt sagen: Wir sollten unmittel- und Ingenieure, wenn in der Bauordnung Vereinfachun- bar an der Arbeit bleiben. Es sollte auch kein Schluss- gen vorgenommen werden sollen, entsprechend Ein- punkt sein, sondern nur einen weiteren Schritt darstellen. spruch einlegen. Der Bürokratieabbau, diese Maßnahmen für den Mittel- stand in Deutschland sind eine Aufgabe für die ganze Gegen die Mentalität in Deutschland, dass man für al- les einen Stempel haben will, ehe man anfängt, zu arbei- Legislaturperiode. Wir müssen Schritt um Schritt versu- ten, müssen wir gemeinsam in diesem Parlament antre- chen, das Geflecht der Bürokratie auseinander zu reißen. ten. Ich wünsche uns bei dieser Arbeit viel Erfolg. Das Ich will darüber hinaus auf einen Punkt aus der Koali- erste Mittelstandsentlastungsgesetz ist ein Beginn, aber tionsvereinbarung hinweisen. In der Koalitionsvereinba- kein Ende dieser Arbeit. rung zwischen SPD und CDU/CSU steht auch, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den neuen Ländern Möglichkeiten der Abweichung neten der SPD) von gesetzlichen Bestimmungen des Bundes gewähren wollen. Auch das kann zusätzlich ein guter Weg sein, um dieses Geflecht zu durchkreuzen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe das von Wir haben jetzt erlebt, dass sich Betroffene und Be- den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte amte, die mit diesen Themen beschäftigt sind, selbst bei Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Ge- den ersten Maßnahmen, die wir getroffen haben, zur setzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Wehr setzen. Das wird ein schwieriger Kampf. Wir hö- Dritten Buches Sozialgesetzbuch bekannt: Abgegebene ren auch, dass selbst bei Maßnahmen, die wir für die Stimmen 551. Mit Ja haben gestimmt 52 Abgeordnete, Bauindustrie bzw. das Baugewerbe treffen wollen, als mit Nein haben gestimmt 498 Abgeordnete. Es gab eine Erstes der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes Enthaltung.

Endgültiges Ergebnis Oskar Lafontaine Dr. Wolf Bauer Erich G. Fritz Abgegebenen Stimmen: 551; Michael Leutert Günter Baumann Jochen-Konrad Fromme davon Ulla Lötzer Ernst-Reinhard Beck Dr. Michael Fuchs Dr. Gesine Lötzsch (Reutlingen) Hans-Joachim Fuchtel ja: 52 Ulrich Maurer Veronika Bellmann Dr. Peter Gauweiler (B) nein: 498 Dorothee Menzner Dr. Christoph Bergner Dr. Jürgen Gehb (D) enthalten: 1 Kornelia Möller Otto Bernhardt Norbert Geis Kersten Naumann Clemens Binninger Eberhard Gienger Ja Wolfgang Nešković Carl-Eduard von Bismarck Ralf Göbel Dr. Norman Paech Peter Bleser Dr. Reinhard Göhner DIE LINKE Petra Pau Antje Blumenthal Josef Göppel Bodo Ramelow Jochen Borchert Peter Götz Hüseyin-Kenan Aydin Elke Reinke Wolfgang Börnsen Dr. Wolfgang Götzer Karin Binder Paul Schäfer (Köln) (Bönstrup) Ute Granold Dr. Lothar Bisky Volker Schneider Wolfgang Bosbach Reinhard Grindel Heidrun Bluhm (Saarbrücken) Klaus Brähmig Hermann Gröhe Eva Bulling-Schröter Dr. Herbert Schui Michael Brand Michael Grosse-Brömer Dr. Martina Bunge Dr. Ilja Seifert Helmut Brandt Markus Grübel Roland Claus Dr. Petra Sitte Dr. Ralf Brauksiepe Manfred Grund Sevim Dagdelen Frank Spieth Monika Brüning Monika Grütters Dr. Diether Dehm Dr. Kirsten Tackmann Georg Brunnhuber Karl-Theodor Freiherr zu Werner Dreibus Dr. Axel Troost Gitta Connemann Guttenberg Dr. Dagmar Enkelmann Alexander Ulrich Leo Dautzenberg Olav Gutting Klaus Ernst Jörn Wunderlich Hubert Deittert Holger Haibach Wolfgang Gehrcke Sabine Zimmermann Alexander Dobrindt Gerda Hasselfeldt Diana Golze Thomas Dörflinger Ursula Heinen Heike Hänsel Marie-Luise Dött Uda Carmen Freia Heller fraktionslos Lutz Heilmann Maria Eichhorn Michael Hennrich Hans-Kurt Hill Gert Winkelmeier Anke Eymer (Lübeck) Jürgen Herrmann Cornelia Hirsch Georg Fahrenschon Bernd Heynemann Inge Höger-Neuling Nein Ilse Falk Ernst Hinsken Dr. Barbara Höll Dr. Hans Georg Faust Peter Hintze Ulla Jelpke CDU/CSU Enak Ferlemann Robert Hochbaum Dr. Lukrezia Jochimsen Hartwig Fischer (Göttingen) Klaus Hofbauer Dr. Hakki Keskin Ulrich Adam Dirk Fischer (Hamburg) Franz-Josef Holzenkamp Katja Kipping Ilse Aigner Dr. Maria Flachsbarth Joachim Hörster Monika Knoche Peter Albach Klaus-Peter Flosbach Anette Hübinger Jan Korte Thomas Bareiß Dr. Hans-Peter Friedrich Hubert Hüppe Katrin Kunert Norbert Barthle (Hof) Susanne Jaffke Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4099

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Dr. Peter Jahr Beatrix Philipp Niels Annen Rolf Hempelmann (C) Dr. Hans-Heinrich Jordan Ronald Pofalla Ingrid Arndt-Brauer Dr. Barbara Hendricks Andreas Jung (Konstanz) Daniela Raab Rainer Arnold Gustav Herzog Dr. Thomas Rachel Ernst Bahr (Neuruppin) Petra Heß Bartholomäus Kalb Hans Raidel Doris Barnett Gabriele Hiller-Ohm Hans-Werner Kammer Dr. Peter Ramsauer Dr. Hans-Peter Bartels Petra Hinz (Essen) Steffen Kampeter Peter Rauen Klaus Barthel Gerd Höfer Alois Karl Eckhardt Rehberg Sören Bartol Iris Hoffmann (Wismar) Bernhard Kaster Klaus Riegert Sabine Bätzing Frank Hofmann (Volkach) Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Heinz Riesenhuber Dirk Becker Eike Hovermann Schwenningen) Franz Romer Uwe Beckmeyer Klaas Hübner Volker Kauder Johannes Röring Klaus Uwe Benneter Christel Humme Eckart von Klaeden Kurt J. Rossmanith Dr. Axel Berg Brunhilde Irber Jürgen Klimke Dr. Norbert Röttgen Ute Berg Johannes Jung (Karlsruhe) Julia Klöckner Dr. Christian Ruck Petra Bierwirth Josip Juratovic Jens Koeppen Albert Rupprecht (Weiden) Lothar Binding (Heidelberg) Johannes Kahrs Kristina Köhler (Wiesbaden) Peter Rzepka Volker Blumentritt Ulrich Kasparick Manfred Kolbe Anita Schäfer (Saalstadt) Gerd Bollmann Dr. h.c. Susanne Kastner Norbert Königshofen Hermann-Josef Scharf Dr. Gerhard Botz Ulrich Kelber Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble Klaus Brandner Christian Kleiminger Thomas Kossendey Hartmut Schauerte Willi Brase Hans-Ulrich Klose Michael Kretschmer Dr. Annette Schavan Bernhard Brinkmann Dr. Bärbel Kofler Gunther Krichbaum Dr. Andreas Scheuer (Hildesheim) Fritz Rudolf Körper Dr. Günter Krings Karl Schiewerling Edelgard Bulmahn Karin Kortmann Dr. Martina Krogmann Norbert Schindler Marco Bülow Rolf Kramer Johann-Henrich Georg Schirmbeck Ulla Burchardt Anette Kramme Krummacher Bernd Schmidbauer Martin Burkert Ernst Kranz Dr. Hermann Kues Christian Schmidt (Fürth) Dr. Michael Bürsch Nicolette Kressl Dr. Karl A. Lamers Andreas Schmidt (Mülheim) Christian Carstensen Volker Kröning (Heidelberg) Ingo Schmitt (Berlin) Marion Caspers-Merk Angelika Krüger-Leißner Andreas G. Lämmel Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Peter Danckert Dr. Hans-Ulrich Krüger Dr. Norbert Lammert Dr. Ole Schröder Dr. Herta Däubler-Gmelin Jürgen Kucharczyk Katharina Landgraf Bernhard Schulte-Drüggelte Karl Diller Helga Kühn-Mengel Dr. Max Lehmer Uwe Schummer Martin Dörmann Ute Kumpf Kurt Segner (B) Paul Lehrieder Elvira Drobinski-Weiß Dr. Uwe Küster (D) Ingbert Liebing Bernd Siebert Detlef Dzembritzki Christine Lambrecht Dr. Klaus W. Lippold Thomas Silberhorn Sebastian Edathy Christian Lange (Backnang) Patricia Lips Johannes Singhammer Siegmund Ehrmann Dr. Karl Lauterbach Dr. Michael Luther Jens Spahn Hans Eichel Waltraud Lehn Stephan Mayer (Altötting) Christian Freiherr von Stetten Petra Ernstberger Gabriele Lösekrug-Möller Wolfgang Meckelburg Gero Storjohann Karin Evers-Meyer Dirk Manzewski Dr. Michael Meister Andreas Storm Annette Faße Lothar Mark Dr. Angela Merkel Max Straubinger Elke Ferner Caren Marks Friedrich Merz Thomas Strobl (Heilbronn) Gabriele Fograscher Katja Mast Laurenz Meyer (Hamm) Michael Stübgen Rainer Fornahl Hilde Mattheis Maria Michalk Antje Tillmann Gabriele Frechen Markus Meckel Hans Michelbach Dr. Hans-Peter Uhl Dagmar Freitag Petra Merkel (Berlin) Philipp Mißfelder Arnold Vaatz Peter Friedrich Ulrike Merten Dr. Eva Möllring Volkmar Uwe Vogel Martin Gerster Dr. Matthias Miersch Marlene Mortler Andrea Astrid Voßhoff Iris Gleicke Ursula Mogg Carsten Müller Gerhard Wächter Günter Gloser Marko Mühlstein (Braunschweig) Marco Wanderwitz Renate Gradistanac Detlef Müller (Chemnitz) Stefan Müller (Erlangen) Kai Wegner Angelika Graf (Rosenheim) Michael Müller (Düsseldorf) Bernward Müller (Gera) Marcus Weinberg Dieter Grasedieck Dr. Rolf Mützenich Dr. Gerd Müller Peter Weiß (Emmendingen) Monika Griefahn Andrea Nahles Hildegard Müller Gerald Weiß (Groß-Gerau) Kerstin Griese Thomas Oppermann Bernd Neumann (Bremen) Karl-Georg Wellmann Gabriele Groneberg Holger Ortel Henry Nitzsche Anette Widmann-Mauz Achim Großmann Heinz Paula Michaela Noll Klaus-Peter Willsch Wolfgang Grotthaus Johannes Pflug Dr. Georg Nüßlein Elisabeth Winkelmeier- Wolfgang Gunkel Joachim Poß Becker Franz Obermeier Hans-Joachim Hacker Christoph Pries Wolfgang Zöller Eduard Oswald Bettina Hagedorn Dr. Wilhelm Priesmeier Willi Zylajew Henning Otte Klaus Hagemann Florian Pronold Rita Pawelski Alfred Hartenbach Dr. Sascha Raabe SPD Dr. Peter Paziorek Michael Hartmann Mechthild Rawert Ulrich Petzold Dr. Lale Akgün (Wackernheim) Steffen Reiche (Cottbus) Dr. Joachim Pfeiffer Gregor Amann Nina Hauer Maik Reichel Sibylle Pfeiffer Gerd Andres Reinhold Hemker Gerold Reichenbach 4100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Dr. Carola Reimann Franz Thönnes Miriam Gruß Ekin Deligöz (C) Christel Riemann- Hans-Jürgen Uhl Joachim Günther (Plauen) Dr. Thea Dückert Hanewinckel Rüdiger Veit Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Uschi Eid Walter Riester Simone Violka Heinz-Peter Haustein Hans-Josef Fell Sönke Rix Jörg Vogelsänger Birgit Homburger Kai Gehring René Röspel Dr. Marlies Volkmer Dr. Werner Hoyer Katrin Göring-Eckardt Dr. Ernst Dieter Rossmann Hedi Wegener Michael Kauch Anja Hajduk Karin Roth (Esslingen) Petra Weis Dr. Heinrich L. Kolb Britta Haßelmann Michael Roth (Heringen) Gunter Weißgerber Hellmut Königshaus Winfried Hermann Marlene Rupprecht Gert Weisskirchen Gudrun Kopp Peter Hettlich (Tuchenbach) (Wiesloch) Jürgen Koppelin Priska Hinz (Herborn) Anton Schaaf Dr. Rainer Wend Heinz Lanfermann Ulrike Höfken Axel Schäfer (Bochum) Lydia Westrich Sibylle Laurischk Dr. Anton Hofreiter Bernd Scheelen Dr. Margrit Wetzel Harald Leibrecht Bärbel Höhn Dr. Hermann Scheer Andrea Wicklein Ina Lenke Thilo Hoppe Marianne Schieder Heidemarie Wieczorek-Zeul Sabine Leutheusser- Ute Koczy Otto Schily Engelbert Wistuba Schnarrenberger Sylvia Kotting-Uhl Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Wolfgang Wodarg Horst Meierhofer Renate Künast Dr. Frank Schmidt Waltraud Wolff Patrick Meinhardt Undine Kurth (Quedlinburg) Heinz Schmitt (Landau) (Wolmirstedt) Hans-Joachim Otto Markus Kurth Carsten Schneider (Erfurt) Heidi Wright (Frankfurt) Monika Lazar Olaf Scholz Uta Zapf Gisela Piltz Dr. Reinhard Loske Reinhard Schultz Manfred Zöllmer Jörg Rohde Anna Lührmann (Everswinkel) Brigitte Zypries Frank Schäffler Jerzy Montag Swen Schulz (Spandau) Dr. Konrad Schily Winfried Nachtwei Ewald Schurer FDP Marina Schuster Brigitte Pothmer Frank Schwabe Dr. Max Stadler Claudia Roth (Augsburg) Jens Ackermann Dr. Angelica Schwall-Düren Florian Toncar Krista Sager Dr. Karl Addicks Dr. Martin Schwanholz Christoph Waitz Elisabeth Scharfenberg Christian Ahrendt Rita Schwarzelühr-Sutter Dr. Claudia Winterstein Christine Scheel Daniel Bahr (Münster) Wolfgang Spanier Dr. Volker Wissing Irmingard Schewe-Gerigk Uwe Barth Dr. Margrit Spielmann Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Gerhard Schick Rainer Brüderle Jörg-Otto Spiller Martin Zeil Rainder Steenblock Dr. Ditmar Staffelt Angelika Brunkhorst Silke Stokar von Neuforn Ernst Burgbacher Andreas Steppuhn BÜNDNIS 90/DIE Hans-Christian Ströbele (B) Patrick Döring (D) Ludwig Stiegler GRÜNEN Dr. Harald Terpe Rolf Stöckel Mechthild Dyckmans Jürgen Trittin Christoph Strässer Jörg van Essen Kerstin Andreae Wolfgang Wieland Joachim Stünker Ulrike Flach Volker Beck (Köln) Dr. Rainer Tabillion Paul K. Friedhoff Cornelia Behm Jörg Tauss Horst Friedrich (Bayreuth) Birgitt Bender Enthalten Jella Teuchner Dr. Edmund Peter Geisen Matthias Berninger SPD Dr. h.c. Wolfgang Thierse Dr. Wolfgang Gerhardt Grietje Bettin Jörn Thießen Hans-Michael Goldmann Alexander Bonde Ottmar Schreiner

Zugleich möchte ich mich für das Protokoll korrigie- (Zuruf des Abg. Reinhard Schultz [Everswin- ren. Ich habe beim Tagesordnungspunkt 9 b fälschlicher- kel] [SPD]) weise gesagt, die Fraktion Die Linke habe gegen die Beschlussempfehlung betreffend Drucksache 16/953 ge- – Ich weiß, dass das für einen Sozialdemokraten etwas stimmt. Sie hat ihr aber zugestimmt. Neues sein kann. – Sie sind heimatverbunden, auch wenn sie längst global agieren – und das mit großem Er- Ich gebe jetzt das Wort dem Kollegen Martin Zeil, folg. FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Sie unterscheiden sich dadurch von vielen Großunterneh- men, die ständig Arbeitsplätze abbauen, Standorte verla- Martin Zeil (FDP): gern und sich gravierende Managementfehler leisten. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Mittelstand in Deutschland stellt weit Kein Wunder also, dass der Mittelstand in den Sonn- über 90 Prozent aller Unternehmen. Er tätigt 41 Prozent tagsreden fast aller Politiker einen großen Raum ein- aller steuerpflichtigen Umsätze, bietet 70 Prozent aller nimmt. In einigen Fraktionen gibt es sogar Mittelstands- Arbeitsplätze und bildet über 80 Prozent aller Lehrlinge vereinigungen und mittelstandspolitische Sprecher. So aus. Die meisten Mittelständler handeln verlässlich mit müsste sich der deutsche Mittelstand eigentlich gut auf- hohem persönlichem Risiko. gehoben, gehegt und gepflegt fühlen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4101

Martin Zeil (A) Doch die Befindlichkeit bei vielen Mittelständlern ist standes nötig und auch sofort umsetzbar wäre. Aber (C) eine ganz andere. Bei meinen Betriebsbesuchen und Ge- dazu braucht es natürlich Einsicht, Kraft und auch sprächen treffe ich auf Unternehmer, die sich durch Ide- Kenntnis der betrieblichen Praxis. Nach einigen Mona- enreichtum, hohe Professionalität und soziale Verant- ten im Deutschen Bundestag kann ich es gut nachvoll- wortung für ihre Mitarbeiter auszeichnen. Großes ziehen, wenn viele Unternehmer den Eindruck haben, Vertrauen in die Politik und die Lippenbekenntnisse ha- dass viele Politiker von den echten Problemen leider viel ben diese Leute aber nicht. Die meisten sagen: Wir wün- zu wenig Ahnung haben. schen uns, dass sich der Staat auf seine eigentlichen Auf- gaben beschränkt und sich nicht immer neue Regelungen Sie können von uns keine Zustimmung zu Ihrem Mit- und Belastungen ausdenkt. Sie wünschen sich zum Bei- telstandsentlastungsgesetz erwarten. Sie werden auch spiel eine Reform des Arbeitsrechts, das Hürden für Ein- kein Vertrauen gewinnen, wenn Sie gleichzeitig neue stellungen endlich abbaut, statt neue aufzubauen. Belastungen durchsetzen oder ankündigen: Mehrwert- steuer, Reichensteuer, mehr Staat in der Gesundheitspo- Viele gut ausgebildete junge Menschen, die wir im litik und jetzt eine Unternehmensteuerreform, die von Mittelstand als Nachwuchs dringend benötigen, verlas- der Gewinn- zur Substanzbesteuerung übergeht. sen jährlich unser Land, im letzten Jahr fast eine viertel Million. Sie tun dies, weil ihnen unser Land in seiner po- Ihre Politik ist halbherzig und widersprüchlich. Da litischen Behäbigkeit und seiner Regelungswut offen- beklagen Sie heute in der Aktuellen Stunde die Ausbil- sichtlich keine attraktive Perspektive bietet. Diese Ent- dungssituation in unserem Land und haben nicht die wicklung ist ein Besorgnis erregender Beleg für die Kraft, ebendie Unternehmen, die ausbilden sollen, von mangelnde Zukunftsfähigkeit unseres Landes. bürokratischen Lasten wirklich zu befreien. Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren Es gibt – lassen Sie mich das zum Abschluss sagen – von der Koalition, bleibt das so genannte Mittelstands- in diesem Hause leider viel zu viele staatsgläubige Frak- entlastungsgesetz weit hinter den Notwendigkeiten zu- tionen, rück. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Leider, (Beifall bei der FDP) leider!) Mit den paar Regelungen – die ja nicht falsch sind – ge- für die Bürokratieabbau ein hoheitlicher Gnadenakt und ben Sie dem Mittelstand eine Beruhigungspille, um da- kein Herzensanliegen ist. von abzulenken, dass Sie gleichzeitig neue Belastungen (Beifall bei der FDP) und neue Bürokratie einführen, gerade heute mit der Verabschiedung des Gleichbehandlungsgesetzes. Wir Liberale sehen in einer echten Entlastung des (B) Mittelstands von Bürokratie und Belastungen ein Frei- (D) (Beifall bei der FDP) heits- und Zukunftsthema schlechthin. Wir werden nicht Typisch ist auch die Regelung bei der Abführung der locker lassen und werden darauf drängen, dass den Un- Sozialversicherungsbeiträge. Statt, Herr Kollege ternehmen Verbesserungen nicht nur in Presseerklärun- Meyer, den frechen Griff in die Liquidität der Unterneh- gen der Union, sondern auch im Bundesgesetzblatt end- men rückgängig zu machen, lassen Sie diese gravierende lich spürbar geboten werden. Belastung stehen und machen ein bisschen Abrech- (Beifall bei der FDP) nungsvereinfachung. (Beifall bei der FDP – Peter Weiß [Emmendin- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gen] [CDU/CSU]: Hätten Sie lieber die Renten Das Wort hat der Kollege Christian Lange, SPD-Frak- gekürzt?) tion. Nein, die große Entfesselungsoffensive ist das nicht. Christian Lange (Backnang) (SPD): Wenn auch aus Kreisen der Koalition selbst die man- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und gelnde Mitwirkung des Ministeriums gerügt wird, dann Herren! Lieber Kollege Zeil, ich muss fast sagen, ich bin ist das ein Armutszeugnis für dieses Ministerium. Aus Ihnen dankbar ob Ihres Beitrages, weil er mir Gelegen- dem Tiger in der Presse, dem großen Entfesselungsge- heit gibt, deutlich zu machen, dass es einen Unterschied setz, ist ein kleines Mäuslein geworden. Ich zitiere: gibt zwischen dem Bürokratieabbau auf der einen Seite Die Union verliere ihre Glaubwürdigkeit, „wenn sie und dem Abbau materiellen Rechts auf der anderen öffentlich Freiheit predigt und in der großen Koali- Seite. Ich will Ihnen ganz deutlich sagen: Genau dies ist tion Staatswirtschaft praktiziert.“ auch der Grund, warum es Ihnen während Ihrer Regie- rungszeit – selbst ich als jüngerer Kollege habe 16 Jahre Das sagt immerhin Herr Schlarmann, der Vorsitzende Ih- Ihrer Zeit unter Helmut Kohl erlebt und auch noch ein rer Mittelstandsvereinigung. paar Jahre sozialliberale Zeit – nicht gelungen ist, Büro- (Beifall bei der FDP – Hartfrid Wolff [Rems- kratie abzubauen. Murr] [FDP]: Recht hat er!) Erstmals – das ist die Chance, die diese große Koali- Wir haben mit unserem Änderungs- und Entschlie- tion ergriffen hat – ist es gelungen, die gegenseitige ßungsantrag gezeigt – wie übrigens auch der Bundesrat ideologische Blockade aufzuheben, indem man deutlich in seinen Anmerkungen –, was aus der Sicht des Mittel- macht: Bürokratieabbau hat etwas damit zu tun, die 4102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Christian Lange (Backnang) (A) bürokratischen Informationslasten der Unternehmen zu Diese Regelung war von Anfang an heiß umstritten und (C) reduzieren. Das ist es, worunter kleine Unternehmen in wurde heftig kritisiert. Aber sie schien im Grunde unaus- der Tat leiden: Sie müssen Hunderte von Formularen weichlich, um einen drohenden Beitragssatzanstieg in ausfüllen und können die Dinge nicht mehr verstehen der Rentenversicherung zu vermeiden. Deshalb haben und nachvollziehen, weil sie – anders als die Großunter- die heutigen Koalitionsfraktionen – die CDU/CSU war nehmen – keine Abteilung dafür haben. Genau das zu damals noch in der Opposition – zugestimmt. ändern, ist Aufgabe von Bürokratieabbau, und nicht der Abbau von Arbeitsrecht, Kündigungsschutz und derglei- Seit der Vorverlegung der Beitragsfälligkeit zu chen. Beginn dieses Jahres sind Unternehmen verpflichtet, Beitragsnachweise mehrere Tage vor Monatsende zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten melden. Da insbesondere in den Branchen mit schwan- der CDU/CSU) kenden Bezügen und Bezahlung auf Stundenlohnbasis, beispielsweise in der Gastronomie oder im Baugewerbe, Deshalb haben wir übrigens in Richtung Niederlande der endgültige Lohn vor dem Monatsende noch nicht – das will ich deutlich sagen – geschaut. In den Nieder- feststeht, müssen viele Betriebe regelmäßig zunächst landen – das sage ich auch gerichtet an die Kolleginnen eine Prognose abgeben und wenige Tage später eine und Kollegen von der PDS – ist es gelungen, dieses Ge- Korrektur vornehmen, was erheblichen Mehraufwand setz im Parlament einstimmig durchzusetzen. Warum? verursacht. Das kann in der Tat nicht gewollt sein. Weil man nicht in die ideologische Sackgasse gegangen ist, dass man eigentlich materielles Recht anspricht, es Nun greift diese Berechnungsmethode. Das hat nichts aber mit Bürokratieabbau bemäntelt. Dieses Misstrauen damit zu tun, das Ziel des Gesetzes abzuändern. Herr schlägt dieser Diskussion entgegen. Ich bedauere aus- Zeil, deswegen war Ihr Beispiel vom Allgemeinen drücklich, dass Sie diese Vorurteile immer wieder belie- Gleichstellungsgesetz falsch; denn wenn diese Methode, fern. Ich dachte eigentlich, dass wir auf einem besseren die jetzt im Zusammenhang mit den Sozialversiche- Weg wären. Ich bin dankbar, dass die Koalitionsfraktio- rungsbeiträgen angewandt wird, auf das Allgemeine nen diesen besseren Weg ungeachtet der Kritik, die mei- Gleichstellungsgesetz angewandt würde, würden wir ei- nes Erachtens vorbeigeht, gehen. nen Handlungsfaden bekommen, wie wir das Allge- Herr Kollege Meyer, Ihren Bemerkungen zur Janus- meine Gleichstellungsgesetz noch besser durchsetzen köpfigkeit der Verbände stimme ich ausdrücklich zu. könnten, damit es noch viel effektiver wirken könnte. Wir erleben in der Tat immer wieder, insbesondere auf Das ist das Ziel des Standardkostenmodells. Es geht europäischer Ebene, dass auf der einen Seite Entbüro- nicht darum, das gesetzgeberisch vorgegebene Ziel in kratisierung gepredigt und auf der anderen Seite ein Zweifel zu ziehen, sondern es besser zur Entfaltung zu (B) Mehr an Bürokratie verlangt wird. Wir erleben das in bringen. (D) vielfältigen Zusammenhängen bei den Verbänden in Genau das ist bei den Sozialversicherungsbeiträgen unserem Land, aber auch hinsichtlich der Anforderun- geschehen. Wie ist das geschehen? Die IHK Bonn/ gen der Europäischen Union an uns. Deshalb ist es rich- Rhein-Sieg hat darauf aufmerksam gemacht, dass die tig, dass wir in einem ersten Schritt – das ich sage aus- Mehrbelastung den Vorteil der Vorverlegung der Bei- drücklich – Statistik-, Nachweis-, Dokumentations- und tragssatzfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge er- Buchführungspflichten reduzieren, Planungs- und Ge- heblich überschreiten und von Dauer sein würde. Außer- nehmigungsverfahren vereinfachen und beschleunigen, dem hat sie festgestellt, dass nicht alle Unternehmen von Doppel- und Mehrfachprüfungen abbauen, Schwellen- dieser Mehrbelastung gleichmäßig betroffen wären. werte vereinheitlichen, die Verpflichtung von Betrieben Während knapp die Hälfte der Unternehmen so gut wie zur Bestellung von Beauftragten begrenzen sowie die nicht betroffen ist, tragen die anderen die Mehrbelas- begonnene Vereinfachung der betriebsärztlichen und si- tung. Das kann nicht Sinn und Zweck der Geschichte cherheitstechnischen Betreuung von Kleinbetrieben fort- sein. führen. Wie erfolgreich Bürokratieabbau sein kann, zeigt in Es wurde in der Tat berechnet – Kollege Meyer hat der Tat das jüngste Beispiel des Arbeits- und Sozialmi- die Summe genannt –, dass diese Neuregelung Mehrbe- nisters Müntefering. Erstmals wurde, ohne dass das Ge- lastungen in Höhe von 800 Millionen Euro auslöst. Das setz zu diesem Zeitpunkt schon in Kraft war, das so ge- Interessante für den Gesetzgeber ist, dass wir 1,03 Mil- nannte Standardkostenmodell eingesetzt, mit dem liarden Euro eingespielt haben. Das heißt, diese bürokra- ermittelt wird, in welcher Höhe Kosten für den Mittel- tische Maßnahme des Staates ist faktisch ein Nullsum- stand entstehen, wenn eine gesetzliche Neuregelung zur menspiel. Anwendung kommt. Ich will diesen Fall ein bisschen (Martin Zeil [FDP]: Das haben wir damals ausführen, weil er deutlich macht, wie absurd die Kritik schon vorausgesagt!) der FDP ist. In diesem speziellen Fall geht es um die Vorverlegung der Fälligkeit von Sozialversicherungs- Das kann aber doch nicht der gesetzgeberische Zweck beiträgen, die seit Anfang dieses Jahres in Kraft ist. sein. Genau an dieser Stelle greift das Standardkosten- Viele Kolleginnen und Kollegen können aufgrund der modell, wie ich meine, zu Recht ein, Erfahrungen in ihren Wahlkreisen die Kritik der Hand- werker, der kleinen und mittleren Unternehmer sicher (Martin Zeil [FDP]: Das ist ja ganz was gut nachvollziehen und haben sie noch voll im Ohr. Neues!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4103

Christian Lange (Backnang) (A) weil es einen Weg aufzeigt, wie wir unser Ziel besser er- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) reichen können. Es wirkt auch. Der Arbeitsminister hat, Ich erteile das Wort Kollegin Sabine Zimmermann, noch bevor das Gesetz in Kraft war, reagiert und dafür Fraktion Die Linke. gesorgt, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit hat, bei der Monatsabrechnung die Werte des Vormonates anzu- (Beifall bei der LINKEN) setzen und Differenzen zu den Istzahlen erst im Folge- monat auszugleichen. Es handelt sich also um eine Pau- Sabine Zimmermann (DIE LINKE): schalierung. Diesen Weg hat uns diese Methode eröffnet. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deshalb meine ich, dass sie nicht diskreditiert gehört. Es Meine Damen und Herren! Der Mittelstand ist das Rück- gehört sich auch nicht, sich bei der Abstimmung zu ent- grat der deutschen Wirtschaft. Ich frage Sie: Wie ernst halten, sondern dies sollte unterstützt werden, gerade meinen Sie dies? Herr Meyer sagte gerade, dass er mit vonseiten der FDP. dem Rasenmäher herangehen möchte. Ich sehe schon, wie er dort den Rasen mäht. Sie sagen, dass Sie eine Po- (Beifall bei der SPD) litik machen wollen, die den Mittelstand entlastet. Sie haben versprochen: Unter dem Deckmantel des Bürokra- Wir werden darüber hinaus im zweiten Mittelstands- tieabbaus findet kein Abbau gesellschaftlich notwendi- entlastungsgesetz, das wir bereits angekündigt haben, ger Standards statt. Nun liegt das erste Bürokratieabbau- die Existenzgründer in den ersten drei Jahren allgemein gesetz vor und wir können Sie an Ihren Taten messen. von der Pflicht zur Erstellung statistischer Berichte frei- stellen. Unternehmen mit weniger als 50 Beschäftigten Zum ersten Punkt, der Hilfe für die kleinen Unter- werden wir zu maximal drei statistischen Stichproben- nehmen. Angeblich bringt Ihr Gesetz im nächsten Jahr erhebungen pro Jahr heranziehen. Auch dies ist ein kon- eine finanzielle Entlastung von 160 Millionen Euro; ich kreter Beitrag, der heute in der Tat noch nicht beschlos- beziehe mich auf Ihre Zahlen. Für das einzelne Unter- sen werden kann; Kollege Zeil, hier hat Ihre Kritik nehmen bedeutet das vielleicht eine Entlastung um ei- angesetzt. Das ist von der Europäischen Union vorgege- nige hundert Euro im Jahr, wenn überhaupt. Das wird ih- ben. nen wenig helfen. Zusätzlich haben Sie die Erhöhung der Mehrwertsteuer beschlossen. Wird die höhere Mehr- Wir haben uns vorgenommen, dass wir die Hinweise, wertsteuer komplett über die Preise weitergegeben, Vorschläge und Richtlinien der Europäischen Union bringt das netto 15 Milliarden Euro. Das entzieht der nicht mehr so einfach hinnehmen. Diese Chance haben Volkswirtschaft Kaufkraft. In der Wirtschaft fehlt die wir durch die Methode, die wir jetzt anwenden. Wir ha- Nachfrage. Stellen Sie das einmal gegenüber: 160 Mil- ben eine objektive Methode geschaffen und können erst- lionen Euro Entlastung und 15 Milliarden Euro Belas- (B) mals den Kampf mit der Europäischen Union aufneh- tung. – Das sagt wohl alles. (D) men, mit der Kommission und dem Parlament. Wir werden dies auch tun. Wir haben jetzt eine entspre- (Beifall bei der LINKEN – Laurenz Meyer chende Grundlage, die wir vorher nicht hatten. Deshalb [Hamm] [CDU/CSU]: Sie haben nicht zuge- finde ich es bedauerlich, dass ausgerechnet die FDP an hört!) dieser Stelle Nein sagt. – Doch, Herr Meyer. (Vorsitz: Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Zum zweiten Punkt, den Auswirkungen des Bürokra- Thierse) tieabbaus. Wir haben uns im Ausschuss schon darüber unterhalten. Leider haben sich unsere Befürchtungen be- Ich will es noch einmal sagen: Das Ziel, Bürokratie in stätigt, dass mehr als nur Bürokratie abgebaut wird. Es Deutschland abzubauen, handelt sich um einen Bürokratieabbau, bei dem der Datenschutz flöten geht. Damit hat diese große Koali- (Martin Zeil [FDP]: Das ist wenig!) tion anscheinend gar kein Problem. Künftig sollen gelingt aus meiner Sicht effektiv nur dann, wenn wir uns Betriebe mit weniger als zehn Mitarbeitern keinen Da- in einem Punkt einig sind: Es geht nicht darum, den poli- tenschutzbeauftragten mehr bestellen; der Bundesbeauf- tischen Willen zu verändern, sondern es geht darum, die tragte für den Datenschutz hat dies scharf kritisiert. Ihre Betriebe von dem zu entlasten, was ihre Kreativität und Änderungen verstoßen gegen das europäische Daten- wirtschaftliche Dynamik abwürgt. schutzrecht. Der Datenschutzbeauftragte hat eine Alter- native vorgeschlagen, nämlich über die Kammern und (Martin Zeil [FDP]: Das ist genau das, was Sie Innungen einen betrieblichen Datenschutzbeauftragten machen!) zu installieren. Aber Union und SPD haben diesen Vor- schlag nicht angenommen. Der politische Streit über die Frage, was das politische Ziel ist – Kündigungsschutz, Arbeitsschutz usw. –, muss Wie die große Koalition mit Kritik umgeht, ist be- im materiell-rechtlichen Diskurs geführt werden und zeichnend. Anscheinend halten Sie es nicht mehr für nö- bitte nicht unter dem Deckmantel des Abbaus von Büro- tig, auf Kritik, die außerhalb des Parlaments geäußert wird, einzugehen. Es hört sich vielleicht toll an, aber wir kratiekosten. haben in Deutschland eine gespaltene Konjunktur: Die Herzlichen Dank. Großkonzerne verdienen prächtig, die Kleinstunterneh- men jedoch bewegen sich oft in der Verlustzone. Des- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) halb brauchen wir Daten über diesen Bereich. Oder 4104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Sabine Zimmermann (A) haben Sie die kleinen Unternehmen in diesem Land (Zuruf von der SPD: Vielleicht ja doch!) (C) schon abgeschrieben? ist die Situation ein bisschen anders gelagert. Es ist doch (Beifall bei der LINKEN) so: Wenn die Abgeordneten der Koalition im Wirt- schaftsausschuss vollmundig erklären, Bürokratieabbau Auch hier gibt es Alternativen. Der DGB hat vorge- betreiben zu wollen, dann dürfen sie nicht als Gesetzent- schlagen, die Erhebung von Daten an die Unternehmens- gegennehmer fungieren, sondern müssen als Gesetzge- größe zu koppeln. Aber in Ihrem Gesetzentwurf kann ich ber den Mut haben, den einen oder anderen Vorschlag dazu nichts finden. Ich frage Sie: Ist das Machtverliebt- durchzusetzen, der es wert wäre, durchgesetzt zu wer- heit oder politische Absicht? Ich kann Sie nur warnen: den. Verwechseln Sie nicht die Mehrheit in diesem Parlament mit der Mehrheit in der Gesellschaft! (Beifall des Abg. Martin Zeil [FDP]) (Beifall bei der LINKEN) Der Kollege Meyer hat gesagt, dass auch in der rot- grünen Regierungszeit – ich war ja dabei – Beschlüsse Ich fasse zusammen: Sie reden vom Bürokratieabbau gefasst wurden, die nicht gut waren, und ein Beispiel an- im Interesse des Mittelstands. Aber ihm nützt das, was geführt, das der Kollege Lange umfangreich beschrieben Sie machen, überhaupt nicht, weil keine Nachfrage vor- hat. Die Frage, warum man eine so bürokratische Rege- handen ist. Mit der Mehrwertsteuererhöhung legen Sie lung – sie ist leider nicht die einzige – getroffen hat, ist noch eins drauf. Ihr Bürokratieabbau geht auf Kosten erlaubt und berechtigt. Ich befürchte, dass auch in der des Datenschutzes und anderer sinnvoller und notwendi- siebenmonatigen Amtszeit der großen Koalition – auch ger Regelungen. Wir sagen: Ihr Gesetzentwurf ist ein wenn Ihnen diese Zeit schon viel länger vorkommt – be- Placebo. Die Linksfraktion wird ihn nicht unterstützen. reits die eine oder andere ähnlich komplizierte Regelung Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. getroffen worden ist, die nicht zum Nutzen der Unter- nehmerinnen und Unternehmer und nicht zum Nutzen (Beifall bei der LINKEN) der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer war, die unter dem Bürokratieaufbau mittelbar genauso zu leiden ha- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ben. Das Wort hat nun Kollege Matthias Berninger, Frak- (Martin Zeil [FDP]: Aber das mit den Sozial- tion des Bündnisses 90/Die Grünen. versicherungsbeiträgen ist unter den Grünen passiert!) Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die gute Nachricht des heutigen Tages ist: Jetzt geht es NEN): (B) um das erste Mittelstandsentlastungsgesetz; das zweite (D) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst wird folgen. einmal: Nicht Ihr Gesetzentwurf hat mir die Sprache ver- schlagen, sondern eine Erkältung zur besten Jahreszeit. Wenn wir es als Parlament nicht schaffen, uns an be- stimmten Punkten über die Bedenkenträger hinwegzu- Mit diesem Gesetzentwurf ist es nicht gelungen, den setzen, dann werden wir es auch nicht schaffen, bürokra- Anspruch, den die Abgeordneten der Koalition an sich tische Regelungen abzubauen. Wir haben Ihnen dazu ein selbst gestellt haben, zu erfüllen. Erinnern wir uns an die paar Vorschläge gemacht. Ich will ein Beispiel nennen: Debatte über die Einführung des Normenkontrollrats. Man glaubte, dass durch die Einführung einer General- Auch damals war es so, dass sich die Abgeordneten der unternehmerhaftung die im Baugewerbe weit verbrei- Koalition höhere Ziele gesteckt hatten. Dann wurden sie teten Verträge, die große Unternehmen mit Subunterneh- zurückgepfiffen, weil ein Fraktionschef keine Lust hatte, mern schließen, so gestaltet werden könnten, dass auch den Normenkontrollrat mit erweiterten Kompetenzen die Subunternehmer Sozialversicherungsbeiträge abfüh- auszustatten. ren. Die Folge dieses Gesetzes ist, dass die vielen klei- (Martin Zeil [FDP]: Angst hat er gehabt!) nen Handwerker umfangreiche bürokratische Meldun- gen an die großen Subunternehmen leisten müssen, für Letztlich hat man gesagt: Es gibt ja das Mittelstandsent- die es kein Problem ist, dies zu verarbeiten. Nach einer lastungsgesetz; Evaluation wurde festgestellt, dass es genau einen einzi- (Martin Zeil [FDP]: Ja, genau!) gen Fall gegeben hat, in dem dieses Gesetz Sinn ge- macht hat. Hunderte von Handwerksbetrieben sind also in ihm werden die wegweisenden neuen Einzelvor- umfangreich unter die Knute der Bürokratie genommen schläge installiert. worden für einen einzigen Fall, in dem sich die Rege- lung als sinnvoll herausgestellt hat. – Dies ist nur eines Am Mittwoch dieser Woche haben wir eine Sitzung von vielen Beispielen dafür, dass wir nach der Evalua- des Wirtschaftsausschusses erlebt, in der die Abgeordne- tion eines Gesetzes feststellen müssen, dass es doch ten der Koalition mitgeteilt haben, dass aus den großen nicht so erfolgreich war. Änderungen nun doch nichts wird. Darüber hinaus ha- ben die Abgeordneten der SPD angefangen, die Schuld Wir haben einen umfangreichen Antrag mit Gesetzes- dafür bei den Beamten des Wirtschaftsministeriums zu änderungen vorgelegt, von dem ich hoffe, dass das eine suchen. Abgesehen davon, dass ich es ziemlich befremd- oder andere nicht in Vergessenheit gerät, sondern sich lich fand, dass diese Beamten nicht gegen diesen Angriff vielleicht im zweiten Mittelstandsentlastungsgesetz wie- verteidigt wurden, derfindet. Ich glaube, dass wir hier deutlich mehr Mög- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4105

Matthias Berninger (A) lichkeiten haben, dass das Parlament deutlich mehr Frei- Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- (C) räume hat, als wir letzten Endes nutzen. Der Mut, diese tion Die Linke auf Drucksache 16/2041? – Wer stimmt Freiräume zu nutzen, wird allerdings nur dann von Er- dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag folg gekrönt sein, wenn wir, wie die Parlamente in den ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stim- anderen europäischen Mitgliedstaaten, die Regelungen men der Fraktion Die Linke abgelehnt. der EU eher als wichtigen Hinweis für das Regierungs- handeln nehmen denn für bare Münze. Vieles, was wir Wir fahren fort mit der Abstimmung über die Be- eins zu eins übernehmen und dann drei- bis vierfach schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und bürokratisch überhöht beschließen, wird in anderen Technologie auf Drucksache 16/2017 zu dem Antrag der Mitgliedstaaten wesentlich einfacher gehandhabt. Ich Fraktion der FDP mit dem Titel „Statistikpflichten zu- glaube, dass man genau in diesem Bereich Änderungen rückführen – Bürokratiekosten senken“. Der Ausschuss vornehmen sollte. empfiehlt unter Buchstabe b, den Antrag auf Druck- sache 16/1167 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- (Martin Zeil [FDP]: Man sieht, dass Opposi- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- tion manchmal zu besserer Einsicht führt!) hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men von CDU/CSU, SPD und der Fraktion Die Linke Wir werden jedenfalls weiterhin konkrete Vorschläge gegen die Stimmen der FDP bei Enthaltung der Fraktion zum Bürokratieabbau machen. des Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Ich denke, dass sich die PDS überlegen muss, wie der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf: Gesetzentwurf einzustufen ist: Ist er ein Angriff auf den Sozialstaat – das haben Sie am Anfang Ihrer Rede be- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- hauptet, Frau Zimmermann – oder ist er – damit haben richts des Ausschusses für Menschenrechte und Sie geendet – eher ein Placebo? Ich bin der Meinung, er Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) ist eher ein Placebo. Nach oben ist noch sehr viel Raum für Verbesserungen. – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Ma- Herzlichen Dank. rieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordne- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Presse- und Meinungsfreiheit in Kuba ein- Ich schließe die Aussprache. fordern (B) Wir kommen zur Abstimmung über die von den Frak- – zu dem Antrag der Abgeordneten Marina (D) tionen der CDU/CSU und der SPD sowie von der Bun- Schuster, Florian Toncar, Burkhardt Müller- desregierung eingebrachten Entwürfe eines Ersten Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Gesetzes zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbe- Fraktion der FDP sondere in der mittelständischen Wirtschaft, Druck- Menschenrechte in Kuba einfordern und sachen 16/1407, 16/1853 und 16/1970. Der Ausschuss die kubanische Zivilgesellschaft fördern für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck- – Drucksachen 16/934, 16/945, 16/2006 – sache 16/2017, die genannten Gesetzentwürfe zusam- menzuführen und in der Ausschussfassung anzunehmen. Berichterstattung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- Abgeordnete Peter Weiß (Emmendingen) schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Christoph Strässer Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Florian Toncar entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen Michael Leutert von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Links- Volker Beck (Köln) fraktion und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen Über die vom Ausschuss für Menschenrechte und bei Enthaltung der FDP angenommen. Humanitäre Hilfe empfohlene Annahme einer Entschlie- Dritte Beratung ßung werden wir später namentlich abstimmen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. entwurf ist damit mit den gleichen Mehrheitsverhältnis- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen sen wie in der zweiten Lesung angenommen. Christoph Strässer, SPD-Fraktion, das Wort. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- (Beifall bei der SPD) ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der FDP auf Drucksache 16/2040? – Wer stimmt dage- gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit Christoph Strässer (SPD): den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der FDP Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- abgelehnt. ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abweichend vom 4106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Christoph Strässer (A) dem, was ich mir aufgeschrieben habe, möchte ich mit Daneben gibt es eine zweite Resolution. Sie ist noch (C) einem Bekenntnis beginnen. gar nicht so alt; sie ist vom 12. Juni dieses Jahres. Der Europäische Rat hat sich sehr eindeutig dazu bekannt (Zurufe von der FDP: Oh!) und nach entsprechender Einschätzung festgestellt, dass Dieses Bekenntnis bezieht sich auf eine Zeit, die schon sich die Lage der Menschenrechte in Kuba im etwas länger her ist; ich bekenne mich aber ausdrücklich Jahre 2005 verschlechtert hat. Er begründet dies auch; dazu. Ich finde das, was ich damals getan habe, richtig, darauf werde ich gleich noch in aller Kürze im Einzelnen nämlich auf die Straße zu gehen, dafür zu kämpfen, dass eingehen. Der Europäische Rat sagt aber auch – das hat es in Kuba eine Befreiung vom Kolonialismus gibt, dem einen oder anderen in diesem Hause die Zustim- mung zu diesem Text nicht leicht gemacht –, dass das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nicht dazu führen kann – ich finde das auch richtig –, LINKEN) politische Maßnahmen wieder einzuführen. Die Gesprä- und auch dafür einzutreten, dass Kuba eine Entwicklung che mit der kubanischen Regierung und mit der kubani- nimmt, aufgrund derer Menschenrechte geachtet wer- schen Opposition müssen weitergeführt werden, um eine den, keine Menschen, die ihre Pressefreiheit wahrneh- Verbesserung der Situation in diesem Land zu erreichen. men wollen, eingesperrt werden und es keine politischen Ich glaube, das ist eine der zentralen Forderungen, hinter Gefangenen gibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das der sich auch der Deutsche Bundestag vereinigen sollte. war das Ziel der überwiegenden Mehrzahl der Leute, die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP damals auf die Straße gegangen sind, um für die Freiheit und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in Kuba zu kämpfen. Das will ich an dieser Stelle einmal ganz deutlich sagen. Ich möchte an dieser Stelle nur zwei Beispiele für das nennen, über das wir heute diskutieren. Ich zitiere ganz (Beifall im ganzen Hause) gerne Organisationen, die nicht im Verdacht stehen, poli- Ich sage sehr deutlich: Ich bekenne mich dazu und tisch einsortiert werden zu können. Ich glaube, eine sehr finde das nach wie vor richtig. Ich sage aber auch: All honorige Einrichtung ist die Organisation Reporter diejenigen, die das Ziel, für das sie damals eingetreten ohne Grenzen. Die Organisation Reporter ohne Gren- sind, mit der heutigen Situation in Kuba vergleichen, zen erstellt seit einiger Zeit jährlich eine Rangliste über sind bitter enttäuscht; die Situation der Presse- und Meinungsfreiheit auf der Welt. Sie kommt für das Jahr 2005 zu dem Ergebnis, (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann dass Kuba bei 167 untersuchten Ländern auf Platz 161 [FDP]) landet, noch hinter China und knapp vor Nordkorea. (B) denn das wollten wir damals nicht erreichen. Das sage Man kann sich über vieles streiten, aber angesichts die- (D) ich ganz deutlich. Ich will einen, wie ich glaube, damali- ser Ergebnisses kann auch jemand, der noch gewisse gen Mitstreiter und führenden Revolutionär Südameri- Sympathien für die Entwicklung dort hat, nicht sagen: kas in Anspruch nehmen, indem ich behaupte: Wenn Das ist in Ordnung; dazu müssen wir schweigen. – Wir Che Guevara wüsste, wie sich Kuba entwickelt hat, dann müssen etwas dazu sagen. Das tun wir auch, und zwar, würde er sich wahrscheinlich im Grabe umdrehen und wie ich finde, mit der nötigen Eindeutigkeit. sagen: Das habe ich nicht gewollt. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ich möchte das an einem konkreten Beispiel, das uns FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Er in diesen Tagen erreicht, deutlich machen. Sie werden kann sich nicht wehren!) wahrscheinlich alle mit dem Schicksal von Fariñas – Das ist richtig. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Hernández befasst gewesen sein. Fariñas Hernández ist er sich wehren würde. Chef der Nachrichtenagentur „Cubanacán Press“. Er ist seit dem 31. Januar 2006 inhaftiert, weil er sich für Pres- Worum geht es in dieser Debatte? Sie alle wissen, sefreiheit und Meinungsfreiheit eingesetzt hat. Er befin- dass es dazu in diesem Jahr zwei wesentliche Entschlie- det sich seit dieser Zeit im Hungerstreik. Wir haben ßungen auf europäischer Ebene gibt, nämlich zum ei- Nachrichten – das sollte man zur Kenntnis nehmen –, nen eine mit breiter Mehrheit gefasste Resolution des dass sein Gesundheitszustand kritisch ist, dass er bereits EU-Parlaments, die sich mit der Menschenrechtsituation mehrfach das Bewusstsein verloren hat und dass die Ge- in Kuba befasst und die bei uns Einfluss auf die Formu- fahr, dass er stirbt – diese nimmt er in Kauf –, groß ist. – lierung des vorliegenden Antrags gehabt hat; sie sind so- Ich finde, wir sollten Solidarität mit solchen Menschen zusagen identisch. Wenn man die Forderungen an Kuba üben und sagen, dass wir nicht bereit sind, das hinzuneh- aus menschenrechtlicher Sicht betrachtet, dann stellt men, aus welchen Gründen auch immer. Deshalb gibt es man fest, dass sie von einer derartigen Harmlosigkeit diesen Antrag und deshalb müssen wir heute über dieses sind, dass es nicht nur erstaunt, sondern dass es wirklich Thema diskutieren. Aufsehen erregt, dass es in diesem Parlament Leute gibt, die sich dieser Entschließung nicht anschließen können. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Das kann ich nicht wirklich begreifen. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Ich möchte an dieser Stelle etwas hinzufügen, damit und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht der Eindruck entsteht, der sich in bestimmten Me- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4107

Christoph Strässer (A) dien immer ein Stück weit festsetzt, man betreibe im Danke schön. (C) Deutschen Bundestag so etwas wie Cuba-Bashing. Die (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Situation der Menschenrechte ist eindeutig belegt. Ich und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) persönlich – ich weiß nicht, wie viele andere in diesem Hause das sehen – führe das ein Stück weit darauf zu- rück, dass in den Vereinigten Staaten seit 45 Jahren eine Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Politik betrieben wird, die blockiert. Gesetze wie das Ich erteile das Wort Kollegin Marina Schuster, FDP- Helms-Burton-Gesetz haben selbstverständlich nicht Fraktion. dazu beigetragen, dass es in diesem Land eine vernünf- (Beifall bei der FDP) tige und menschenrechtsorientierte Entwicklung geben kann. Hierzu will ich auch nicht schweigen. Marina Schuster (FDP): (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen und Kollegen! Im März haben wir an dieser Stelle Ich höre auch immer wieder das Stichwort Guanta- schon einmal über die verheerende Menschenrechtslage namo. Wer sagt, Guantanamo muss so schnell wie mög- in Kuba debattiert. Ich freue mich, dass uns heute ein in- lich geschlossen werden – das sagt im Übrigen auch die terfraktioneller Antrag vorliegt, der die Lage in Kuba Bundeskanzlerin –, kritisiert und sich damit dem Antrag unserer europäi- schen Kollegen anschließt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir senden mit dem Antrag und unserer heutigen De- aber zu der menschenrechtlichen Entwicklung in Kuba batte ein wichtiges Signal an die kubanischen Oppositio- schweigt, der erkennt nicht den grundsätzlichen Charak- nellen und Menschenrechtsaktivisten. Eine breite Mehr- ter von Menschenrechten: Sie sind unteilbar. Wir müssen heit des Deutschen Bundestags verschließt sich nicht der an dieser Stelle klar machen, dass wir auch diesen Teil Situation im selbsternannten sozialistischen Musterland. der Politik nicht hinnehmen können. Diese Situation – mein Vorredner hat sie bereits ange- sprochen – möchte ich kurz schildern: Das Regime in (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Havanna verwehrt seinen Bürgern den Zugang zu unzen- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sierten Informationen. Der Zugang zum Internet bleibt Ich denke, dass es gut ist – das ist über viele Jahre auch für viele Kubaner unerreichbar, weil der Hardwarekauf gängige Praxis in unserem Ausschuss gewesen –, wenn reglementiert wird. Die meisten der mutigen Dissidenten wir diese Dinge beim Namen nennen und sie deutlich des Varela-Projektes sind schon seit drei Jahren unter ka- aussprechen. tastrophalen Bedingungen in Haft. Die Angehörigen die- (B) ser Inhaftierten, die so genannten Damen in Weiß, wer- (D) Meine Damen und Herren, wir wollen weiterhin den den in ihrem Einsatz für ihre Angehörigen und die Dialog. Das ist klar; das haben wir nie in Zweifel gezo- Meinungs- und Pressefreiheit vom Regime diffamiert gen, auch mit unserem Antrag nicht. Wir wollen ihn in- und unterdrückt. Dissidenten werden immer wieder will- tensiv auf der staatlichen Ebene führen. Wir wollen ihn kürlich zu hohen Haftstrafen verurteilt. Auch die Ver- aber auch sehr intensiv mit der kubanischen Opposi- sammlungsfreiheit ist in großer Gefahr. tion führen. Von daher bin ich jedenfalls der Meinung, Hier wird immer wieder angeführt, dass es in Kuba zu dass kubanische Oppositionelle also wieder zu offiziel- Verbesserungen hinsichtlich der Alphabetisierung und len Veranstaltungen der EU-Staaten eingeladen werden der Gesundheitsversorgung gekommen ist. Aber die sollten. Ich finde, diese klare Botschaft sollten wir aus- Freiheit der Menschen wird weiter von einem Unrechts- senden. system unterdrückt. Von einem demokratischen und (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP rechtsstaatlichen Staatswesen ist Kuba meilenweit ent- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fernt. Ich komme zum Schluss zu dem zurück, wozu ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mich zu Beginn bekannt habe: Ich bin sehr sicher, dass der CDU/CSU und der SPD) eine falsch verstandene Solidarität mit dem Castro- Leider hat Kuba eine deutliche Ausstrahlungskraft Regime und eine damit verbundene Romantisierung fehl auf die Linksregierungen in Lateinamerika. Viele der am Platze ist. Wir wollen weiterhin auf Kuba einwirken neu gewählten linkspopulistischen Führer scheinen sich und mit der kubanischen Bevölkerung gemeinsam dafür ausgerechnet Havanna zum Vorbild zu nehmen. Zum sorgen, dass sich dort die Menschenrechtslage verbes- Beispiel war die Verstaatlichung der Erdgasressourcen in sert. Wir glauben definitiv – das sage ich in Richtung der Bolivien ein erstes Warnsignal an die internationale Ge- linken Seite des Parlaments –, dass das, was Sie im Jahre meinschaft. Ich meine, wir müssen den Staats- und Re- 2003 in Ihr Parteiprogramm geschrieben haben, nämlich gierungschefs in Lateinamerika Alternativen anbieten dass das höchste Ziel politischer Arbeit sein muss, die und aktiv für unsere Ideen von Rechtsstaatlichkeit, De- Wahrung der Menschenrechte weltweit zu schützen und mokratie und sozialer Marktwirtschaft werben. die Unteilbarkeit der Menschenrechte anzuerkennen, in diesem Hohen Hause Praxis des politischen Alltags Bei der Entschließung des Europaparlaments sind wird. Wer sich davon verabschiedet, der muss sich sagen ausnahmsweise auch einzelne Mitglieder der Linkspartei lassen, dass er es mit der Universalität der Menschen- über ihren Schatten gesprungen und haben sich erlaubt, rechte nicht ernst meint. Das sollten wir klar darstellen. am Heiligenbild des Fidel Castro zu kratzen. 4108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Marina Schuster (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) stand, dass es einer klaren und eindeutigen Antwort der (C) Demokraten überall auf der Welt bedarf. Deswegen ist es Diese Abgeordneten sind in den eigenen Reihen unter wichtig, dass wir einen gemeinsamen Antrag hier im schweren Beschuss geraten. Ich begrüße das Verhalten Bundestag beschließen. der drei einzelnen Mitglieder der Linken im Europäi- schen Parlament. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten NISSES 90/DIE GRÜNEN) der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Am 13. August dieses Jahres – bis dahin ist es nicht mehr lange – wird Fidel Castro 80 Jahre alt; doch von Ich fordere auch die Kolleginnen und Kollegen der Altersmilde keine Spur. Linksfraktion hier auf, unserem interfraktionellen An- trag zuzustimmen. Stellen Sie sich nicht ins Abseits, (Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE wenn der Deutsche Bundestag heute Farbe bekennt und LINKE]) die nicht hinnehmbare Menschenrechtslage in Kuba kri- tisiert! Castros restkommunistische Diktatur herrscht unerbitt- lich mit Gewalt und Einschüchterung gegen alle Kuba- Wir hatten als FDP-Bundestagsfraktion einen eigenen ner, die Freiheit und Demokratie suchen. Ein falsches Antrag vorgelegt, der in einigen Punkten noch über den Wort, der falsche Umgang genügt, damit man Opfer der vorliegenden Antrag hinausgeht. Ich möchte stellvertre- so genannten Kämpfer für die Revolution wird. Politi- tend nur eine wesentliche Forderung daraus nennen: Wir sche Gewalt, auch getarnt als einfache Straßenkriminali- halten die Eröffnung eines Goethe-Instituts für eine tät, gehört zum alltäglichen Terror in Kuba. sinnvolle und vor allem wirkungsvolle Maßnahme, weil sie nicht staatliche Strukturen, sondern die Zivilgesell- In diesen Tagen hören wir, dass der Neffe des Varela- schaft unterstützt. Gründers Oswaldo Payá bei seiner Einreise nach Kuba von der Staatssicherheit festgenommen wurde. Er lebt in Dennoch bin ich froh, dass wir uns mit den Kollegin- Spanien und wollte in Kuba seine Familie besuchen. Erst nen und Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen und von nachdem der kubanische Botschafter vom Außenminis- den Regierungsfraktionen auf einen gemeinsamen An- terium in Madrid einbestellt wurde, hat Kubas Stasi Payá trag verständigt haben. Das Thema ist zu ernst, um es wieder freigelassen und zur Ausreise nach Spanien ge- durch parteipolitische Grabenkämpfe zu verharmlosen. zwungen. Dieser prominente Fall zeigt: Die Methoden Ich schließe mit einem Zitat: der Sippenhaft gehören zum selbstverständlichen Re- (B) pressionsinstrumentarium Fidel Castros. Er verstößt da- (D) Einem Menschen seine Menschenrechte zu verwei- mit gegen die Mindeststandards von Rechtsstaatlichkeit. gern bedeutet, ihn in seiner Menschlichkeit zu Auch dieser neue Vorfall bedarf einer klaren Antwort der missachten. Demokraten überall auf der Welt. Dieser Satz von Nelson Mandela aus dem Jahr 1990 hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Lassen Sie uns bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- heute ein überparteiliches und unmissverständliches Sig- NISSES 90/DIE GRÜNEN) nal an das Regime in Kuba senden. Kuba muss als Mit- glied des neuen UN-Menschenrechtsrates zu höchsten Mit unserem interfraktionellen Entschließungsantrag, Standards verpflichtet werden. zu dem sich die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD sowie die Oppositionsfraktionen von FDP und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bündnis 90/Die Grünen im Ausschuss für Menschen- der CDU/CSU und der SPD und des Abg. Vol- rechte und Humanitäre Hilfe entschlossen haben, folgen ker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages der NEN]) Einschätzung unserer Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament und der Einschätzung des Euro- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: päischen Rates, der die Menschenrechtslage in Kuba auf Ich erteile das Wort Kollegen Peter Weiß, CDU/CSU- seiner Tagung am 12. Juni scharf kritisiert hat. Gemein- Fraktion. sam mit den Staats- und Regierungschefs der Euro- päischen Union verlangen wir von der kubanischen (Beifall bei der CDU/CSU) Regierung den Stopp ihrer Repressionspolitik und die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- Menschenrechte sind überall auf der Welt unteilbar, auch NISSES 90/DIE GRÜNEN) in Kuba. Es ist jetzt gerade drei Jahre her, seit das kuba- nische Regime in einer Handstreichaktion die führenden Wir verurteilen entschieden alle Angriffe der kubani- Köpfe der demokratischen Opposition verhaftet und schen Regierung auf die Menschenrechte und die demo- weggesperrt hat. 330 politische Häftlinge sitzen heute in kratischen Freiheiten. Es ist gut, dass wir Europäer in der kubanischen Gefängnissen ein, unter zum Teil erbärmli- Menschenrechtspolitik auch in Bezug auf Kuba eine chen Bedingungen. Das ist ein so unakzeptabler Zu- klare und eindeutige Sprache sprechen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4109

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Einzig die PDS will sich solchen Forderungen nicht (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Wo er Recht hat, (C) anschließen. hat er Recht!) (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Richtig!) wenn sie sich überhaupt jemals davon gelöst hat. Offenbar hat sie kein Problem damit, dass in Kuba tag- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und täglich Menschenrechte verletzt und Grundfreiheiten der FDP) missachtet werden. Die, wie ich finde, schon obszöne Diese ganze Affäre entlarvt die PDS. In diesem Haus Diskussion, die sich die PDS dazu in den vergangenen machen Sie Sprüche von Gerechtigkeit und Solidarität. Monaten geleistet hat, ist beschämend. Gleichzeitig unterstützen Sie ohne Bedenken einen Des- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem poten, der sein darbendes Volk im Lauf seiner Herrschaft BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- nach Angaben von „Forbes Magazine“ um geschätzte geordneten der SPD) 900 Millionen Dollar bestohlen hat. Die Kubaner leben von rationierten Lebensmitteln. Der „Máximo Líder“ Die PDS verhöhnt damit die Hunderte, die aus politi- aber hat Millionen auf Schweizer Nummernkonten. Das schen Gründen in den kubanischen Gefängnissen einsit- ist die Realität des real existierenden Sozialismus auf zen. Mehr noch – auch das gehört hierher –: Mit ihrer Kuba. Kubapolitik verspottet die PDS die Zigtausende, die in Deutschland und Europa unter stalinistischer Gewalt und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Unterdrückung gelitten haben. neten der FDP und der Abg. Katrin Göring- Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- ruf von der LINKEN: Pfui!) Ich freue mich, dass wir heute einen gemeinsamen Entschließungsantrag aller Fraktionen mit Ausnahme Die Äußerungen und Pamphlete, die während der so der PDS einbringen konnten. Wir machen deutlich: Wie genannten Kubakrise der PDS in die Öffentlichkeit ge- Kuba in der Karibik ist die PDS in Deutschland eine In- langt sind, sind eine historische Schande für das demo- sel der Gestrigen. kratische Deutschland nach dem Fall der Mauer. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Jetzt be- neten der FDP) leidige mir die Karibik nicht!) Man muss auch hier im Deutschen Bundestag und in der Kuba ist im Mai dieses Jahres in den neuen UN-Rat für Menschenrechte gewählt worden. (B) Öffentlichkeit deutlich machen, was sich da in der PDS (D) abgespielt hat: Der Parteivorstand erteilt drei PDS-Euro- (Beifall des Abg. Michael Leutert [DIE paabgeordneten eine förmliche Rüge, LINKE]) (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Unsinn!) Der Bock darf sozusagen Gärtner werden. Nicht zuletzt weil sie sich im Europaparlament für etwas ausgespro- deshalb werden wir auch in Zukunft sehr genau hin- chen haben, was in Kuba und weltweit eigentlich selbst- schauen, wie das Castro-Regime mit den Menschenrech- verständlich sein sollte: die Einhaltung der Menschen- ten umgeht. Die systematischen Repressalien gegen an- rechte. ders Denkende können wir als Demokraten und Europäer nicht folgenlos hinnehmen. Die friedliche de- Was ist da los mit einer Partei, aus deren Mitte heraus mokratische Opposition braucht unsere Unterstützung. eine Entschließung des Europäischen Parlaments für Wir wollen den friedlichen Wandel in Kuba zu Demo- Freiheit und Demokratie als – ich zitiere – „scheinheili- kratie und Freiheit. Wir wollen diejenigen, die in Kuba ges Gezeter“ diffamiert wird? für diesen Wandel arbeiten, aktiv unterstützen, auch mit unserem Entschließungsantrag. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Vielen Dank. Welche Gesinnung pflegt diese Partei in ihrem Biotop (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- aus Unverbesserlichkeit, linken Dogmen und Revolu- neten der SPD und der FDP) tionsromantik? Dieser Kadavergehorsam der PDS för- dert den real existierenden Unterdrückungsstaat in Kuba. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Das muss einmal mit aller Deutlichkeit ausgesprochen Ich erteile das Wort Kollegen Wolfgang Gehrcke, werden. Fraktion Die Linke. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN) neten der FDP) Einer der PDS-Europaabgeordneten hat diese Haltung Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): der PDS-Führung gegenüber der kubanischen Regierung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der als „erschreckend“ bezeichnet. Er sieht sie – ich zitiere – ganze Tagesordnungspunkt, diese ganze Entschließung „in das alte Politik-, Gesellschafts- und Freiheitsver- hat nur einen realen Hintergrund: Sie haben die Absicht, ständnis der SED zurückfallen“, die Linkspartei vorzuführen. Das verstehe ich. 4110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Wolfgang Gehrcke (A) (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Ein solch funktioneller Umgang mit Menschenrechten (C) CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- beschädigt den Kampf um Menschenrechte selbst. NEN – Zuruf von der CDU/CSU: Ihr blamiert (Beifall bei der LINKEN) euch doch selber! – Reinhard Schultz [Evers- winkel] [SPD]: Die Frage ist: Gelingt es oder Wir gehen davon aus, dass unter Menschenrechten gelingt es nicht?) sowohl soziale als auch politische Rechte zu fassen sind. – Das ist ja auch legitim. Darüber brauchen Sie sich gar (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir haben schon nicht aufzuregen. diskutiert über Kuba; da waren Sie mit Ihrer Truppe noch nicht im Bundestag!) Ich verstehe, dass Sie uns vorführen wollen. Wir wie- derum lassen uns nicht vorführen. Ich sage Ihnen klar: Es geht um Freiheits- und Gleichheitsrechte. Sie kriti- Ihrer Entschließung werden wir nicht zustimmen. Das sieren Kuba wegen der mangelnden politischen Rechte will ich Ihnen erklären, ob es Ihnen gefällt oder nicht. und verschweigen völlig, auch in Ihren Texten, die gro- ßen sozialen Leistungen Kubas, übrigens nicht nur für (Beifall bei der LINKEN) das eigene Land. Dass es in der Linken Meinungsverschiedenheiten in (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- der Kubafrage gibt, ist bekannt. Sie haben darauf abge- mendingen] [CDU/CSU]: Sie spielen das eine hoben und wollen diese nutzen. Auch das ist in Ordnung. gegen das andere aus!) Für uns sind solche Debatten nicht hinderlich. Wir sind eine diskutierende, lebendige Partei, in der Meinungs- Wir werden nicht den gleichen Fehler machen, indem streit herrscht und in der Meinungsstreit kultiviert wird. wir nur über die sozialen Rechte reden und der Debatte um die politischen Rechte ausweichen. (Beifall bei der LINKEN – Irmingard Schewe- Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sie Sie mal was zu Kuba!) teilen die Menschenrechte! So teilt man die Menschenrechte!) Die Öde von Einheit und Geschlossenheit bei Ihrer Poli- tik haben Sie von unserer Vorgängerpartei geerbt. Wir wollen Freiheit und Gleichheit. Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung und Gleichheit ohne Freiheit (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei der kann zur Unterdrückung werden. Wir diskutieren diffe- CDU/CSU) renziert. Sie gehen einfach oberflächlich über diese Pro- Herr Weiß, eines will ich Ihnen sagen: Ich habe mehr bleme hinweg und machen sich eine einfache Welt. (B) zur Kritik des Stalinismus geschrieben, als Sie gelesen (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei (D) haben; auch das muss hier einmal ausgesprochen wer- der FDP) den. Kollege Strässer hat zwar in seiner Rede darauf hin- (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- gewiesen, aber in Ihren Texten steht nicht, unter welchen mendingen] [CDU/CSU]: Und ziehen Sie da- Bedingungen Kuba sein Leben gestalten musste und raus die Konsequenzen? – Weiterer Zuruf von muss. der CDU/CSU: Aber es hat nichts geholfen!) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Wir als Fraktion wollen die Resolution des Europa- GRÜNEN]: Stellen Sie doch einen Ände- parlaments nicht begrüßen. Das hat im Wesentlichen rungsantrag!) zwei Gründe. In dieser Resolution wird die Verantwor- tung dafür, dass sich die Beziehungen zwischen Europa Ich bin froh darüber, dass eine Revolution in Kuba mit und Kuba nicht normalisiert haben, einseitig bei Kuba Castro und Guevara das unwürdige, blutige Batista-Re- abgeladen. gime beendet hat und verhindert hat, dass Kuba weiter ein Bordell der USA ist. (Michael Kretschmer [CDU/CSU]: Natürlich! Das ist auch so!) (Beifall bei der LINKEN) In der Resolution steht, dass der Rat ermächtigt wird, Tun Sie doch nicht so, als ob Kriegsdrohung, Embargo Maßnahmen zu ergreifen. Eine solche Blankovollmacht und Mordanschläge nur Vergangenheit sind! Leider ist stellen wir nicht aus, weil wir über diese Dinge differen- das auch lebendige Realität. Wenn man das alles aus- ziert nachdenken und diskutieren. blenden will, kann man sich die Welt sehr einfach ma- chen. Dann kann man einfache Resolutionen beschlie- (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer ßen. Das führt aber nicht zu einer vernünftigen Debatte. [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie sind doch eine Dass 135 Länder Kuba in den Menschenrechtsrat ge- diskutierende Partei! – Weiterer Zuruf von der wählt haben, was eine hohe Verpflichtung auch für Kuba CDU/CSU) ist, sollte Ihnen doch zu denken geben. – Das ist auch kein Grund. (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der SPD: Das tut es!) Mich ärgert – liebe Kolleginnen und Kollegen, das är- gert mich wirklich – der funktionelle Umgang mit Men- Solche Debatten müssen wir führen, in der Differen- schenrechten. Mich ärgern auch oberflächliche Texte. ziertheit der Standpunkte. Wir dürfen uns nicht mit ein- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4111

Wolfgang Gehrcke (A) fachen Weltbildern und einfachen Rezepten zufrieden Nennen Sie mir einen Satz in diesem Beschlusstext, (C) geben. Wir stimmen gegen Ihre Entschließung und ha- der eine Rechtfertigung dafür bietet, diesem Antrag ben ein gutes Gefühl dabei. nicht zuzustimmen. (Beifall bei der LINKEN – Hartwig Fischer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist das Aller- bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- schlimmste dabei!) geordneten der FDP) Wollen Sie nicht auf die Freilassung aller wegen ihrer Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: politischen Gesinnung inhaftierten Menschen drängen? Ich erteile das Wort Kollegen Volker Beck, Fraktion Wollen Sie nicht für die Reisefreiheit der „Damen in Bündnis 90/Die Grünen. Weiß“ und von Oswaldo Payá Sardiñas eintreten? Wol- len Sie nicht, dass die willkürlichen Verhaftungen aufhö- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ren, das Ley 88 außer Kraft gesetzt wird und menschen- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber rechtliche und rechtsstaatliche Standards in Kuba Herr Gehrcke, vielleicht wird es Sie überraschen, dass verwirklicht werden? Wollen Sie nicht Kuba als Mit- ich mit etwas Gemeinsamem anfange. Ja, ich meine, glied des Menschenrechtsrates wie alle anderen Mitglie- man muss über Freiheitsrechte und über die soziale Si- der auch auffordern, sich für die höchsten menschen- tuation in Ländern wie Kuba reden. Selbstverständlich rechtlichen Standards einzusetzen? haben wir als Teil der Linken in diesem Land immer die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Entwicklung begrüßt, dass sich Kuba aus der Situation bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- befreien konnte, die vorher gegeben war und die Sie geordneten der FDP) gerade beschrieben haben. Aber die Verbesserung der sozialen Situation in manchen Aspekten in Kuba recht- Welche dieser Forderungen rechtfertigt eine Ablehnung fertigt nicht die Beschneidung der Freiheits- und Men- des Antrags? Wohl keine, außer man will sich völlig schenrechte. blind stellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- geordneten der FDP) geordneten der FDP) Der Kalte Krieg ist vorbei, wo man gesagt hat: keine Meine Damen und Herren, heute hat das oberste ame- Einmischung in die inneren Angelegenheiten, weil da (B) rikanische Gericht gesagt, was in Guantanamo mit den (D) auch irgendetwas Positives ist. – Menschenrechte darf Militärstrafgerichten vor sich geht, ist rechtswidrig. Das man nicht mit anderen politischen Sachverhalten ver- zeigt, dass die USA ein Rechtsstaat sind, auch wenn sich rechnen, sondern man muss klar Position beziehen. die Bush-Administration über die rechtsstaatlichen Grenzen in der amerikanischen Verfassung hinausbe- Wenn Sie sagen, wir hätten eine einseitige Weltsicht, wegt hat. Deshalb sagen wir – das hat der Bundestag muss ich erwidern: Der Antrag, der Anlass für diese De- kürzlich schon gefordert –: Guantanamo muss geschlos- batte war, nämlich der Antrag meiner Fraktion – später sen werden; die Gefangenen dort müssen entweder vor kam ein Antrag von der FDP dazu –, sagt in seiner Be- ordentliche Gerichte gestellt oder freigelassen werden. gründung ausdrücklich – ich zitiere –: Das haben wir unmissverständlich zum Ausdruck ge- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Nur in der bracht. Da waren Sie dabei. Und das ist gut so. Begründung!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Davon unbenommen stellen wir fest, dass die ein- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der seitige Blockadepolitik der USA eine positive Ver- CDU/CSU und der FDP) änderung der kubanischen Bevölkerung nicht be- fördert hat. Es geht eben um Menschenrechte in Guantanamo und auch um Guantanamo herum. Man kann nicht bei den (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Richtig! So Amerikanern eine Elle anlegen und bei den kubanischen ist es!) Freunden eine andere. Bei Menschenrechten gibt es kei- nen Rabatt. Vielmehr diente und dient das US-Embargo mit sei- ner Verschärfung im Jahr 2004 systemstabilisie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, rend, weil es der kubanischen Führung einen Vor- bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) wand für seine Politik liefert. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: und bei der SPD) Kollege Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gehrcke? Wir sagen das klar und deutlich. Wir sehen das diffe- renziert. Aber Sie geben unter dem Vorwand, irgend- etwas sei nicht differenziert genug, der kubanischen Re- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gierungspolitik einen Freibrief. Aber bitte doch. 4112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Man kann sich nicht aussuchen, wo man kritisiert, (C) Herr Beck, ich nehme an, dass Sie Ihren Antrag ge- sondern wenn etwas kritikwürdig ist, muss man klar nauso gut gelesen haben, wie ich ihn gelesen habe. Ihre Flagge zeigen. Das haben wir immer so gehalten. An- richtige Argumentation bezüglich der USA, die Sie eben dere, die da früher Hemmungen hatten, tun es heute auch vorgetragen haben, ist nicht in die Forderungen Ihres gegenüber Ländern wie den USA. Diese Entwicklung ist Antrages an den Deutschen Bundestag eingeflossen, gut. Wir begrüßen sie und erkennen das an. Ihnen wün- sondern findet sich ausschließlich in der Begründung. In sche ich: Gute Besserung! der gemeinsamen Entschließung, die wir jetzt ja verhan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, deln, ist sie überhaupt nicht mehr enthalten. Das ad eins. bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ad zwei. Ich habe versucht, Ihnen vorzutragen, wa- rum wir uns nicht der Resolution des Europaparlaments Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: anschließen wollen. Ich frage Sie, ob Sie mir bestätigen können, dass ich korrekt zitiere, wenn ich sage, dass in Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Be- der Resolution des Europaparlaments steht, dass Kuba schlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte durch seine Handlungen einseitig die Normalisierung und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/2006 zu dem Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit der Beziehungen verhindert habe und der Europäische dem Titel „Presse und Meinungsfreiheit in Kuba einfor- Rat ermächtigt werde, Maßnahmen zu ergreifen. Meinen dern“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Sie, dass es sinnvoll ist, wenn ein Parlament dem Rat Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 16/934 Freiheit bei den Maßnahmen einräumt? für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- (Beifall bei der LINKEN) empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Ich kann Ihnen bestätigen, dass es in der Entschlie- fiehlt der Ausschuss für Menschenrechte und Humani- ßung des Europäischen Parlaments, die die Mitglieder täre Hilfe, den Antrag der Fraktion der FDP auf Druck- Ihrer Fraktion dort auch überwiegend abgelehnt haben sache 16/945 mit dem Titel „Menschenrechte in Kuba und die in der Entschließung zitiert wird, unter anderem einfordern und die kubanische Zivilgesellschaft fördern“ heißt: für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss- … alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be- die Freilassung der politischen Häftlinge und die schlussempfehlung ist ebenso einstimmig angenommen. sofortige Beendigung der Schikanen gegen die poli- Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf (B) (D) tische Opposition und die Menschenrechtler zu er- Drucksache 16/2006 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- reichen. schließung anzunehmen. Es ist namentliche Abstim- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – der SPD) Sind die Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung. Es geht um die erforderlichen Maßnahmen! Sollen wir denn nichts tun? Sollen wir nicht einmal mit denen re- Ich stelle die obligate Frage: Ist noch ein Mitglied des den? Sollen wir nicht in bilateralen Gesprächen mit Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben Kuba zu erreichen versuchen, dass dort die Menschen- hat? rechte eingehalten werden? Das abzulehnen, wäre doch (Zurufe: Ja!) nun wirklich billig. Ich habe leider von Ihnen und Ihrer Fraktion zu dieser Haben jetzt alle Kolleginnen und Kollegen ihre gemeinsamen Entschließung nicht einen Satz, nicht ei- Stimme abgegeben? – Das ist der Fall. Dann schließe ich nen Vorschlag gehört. Wir hatten ein interfraktionelles die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Berichterstattergespräch. Die Kollegen von der Fraktion Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er- gebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gege- Die Linke hatten es noch nicht einmal für nötig befun- ben.1) den, dorthin zu kommen. Da hätten Sie ja mit uns über solche Punkte verhandeln können, wenn Ihnen das wich- Wir setzen die Beratungen fort. tig gewesen wäre. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- geordneten der FDP) gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der neu gefassten Banken- Sie haben aber diese Debatte wie die Menschenrechtssi- richtlinie und der neu gefassten Kapital- tuation in Kuba mit Nichtachtung gestraft. Das ist ein adäquanzrichtlinie Armutszeugnis. Sie verspielen hier heute Ihre Reputa- tion im Bereich der Menschenrechtspolitik. – Drucksache 16/1335 – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) 1) Ergebnis Seite … Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4113

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- feinerte Ratingverfahren zu verwenden, da damit die (C) schusses (7. Ausschuss) Eigenkapitalanforderungen sinken. – Drucksachen 16/2018, 16/2056 – Ich begrüße auch, dass beim Thema Transparenz des Ratings mit der vorliegenden Beschlussempfehlung das Berichterstattung: richtige Signal gesetzt wird. Abgeordnete Leo Dautzenberg Nina Hauer (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Frank Schäffler der CDU/CSU) Dr. Axel Troost Dr. Gerhard Schick Wir schaffen nicht einen neuen Paragrafen, sondern set- zen auf die Selbstverpflichtung der Kreditwirtschaft. Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak- tion der Linken und der Fraktion des Bündnisses 90/Die In Bezug auf das Scoring hat der Bundesdatenschutz- Grünen vor. beauftragte eindeutig erklärt, dass die Regelungen, die wir hier umsetzen, nur für das Rating, aber nicht für das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Scoring gelten. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ein zentraler Punkt in den Beratungen war für die FDP die Nullgewichtung von Intragruppenforderungen Ich eröffne die Aussprache. Die Kolleginnen und bei Haftungsverbünden von Sparkassen und Landesban- Kollegen Nina Hauer, Axel Troost und Gerhard Schick ken. In der Anhörung wurde darauf hingewiesen, dass und der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller ha- bei diesen Verbünden eine unbedingte Haftungszusage, ben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Deswegen erteile eine zentrale Risikosteuerung, konsolidierte Publizitäts- ich jetzt Kollegen Frank Schäffler, FDP-Fraktion, das pflichten und eine homogene Mitgliederstruktur fehlen. Wort. Es kommt nun entscheidend darauf an, dass die Banken- (Beifall bei der FDP) aufsicht auf die Beachtung der Großkreditvorschriften und der Mindestanforderungen an das Risikomanage- ment hinwirkt. Die Bundesregierung muss Bericht er- Frank Schäffler (FDP): statten, wenn Erfahrungen mit dem novellierten KWG Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und gemacht wurden. Wir erwarten seitens der FDP-Fraktion Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Umsetzung einen Bericht Anfang 2008, wenn die Jahresabschlüsse der Basel-II-Vorgaben wird heute von einer breiten für 2007, also für das Jahr, in dem die neuen Regeln erst- Mehrheit dieses Hauses getragen. Die FDP-Fraktion mals angewandt werden, vorliegen. (B) wird auch aufgrund der im Finanzausschuss erreichten (D) Verbesserungen zustimmen. Wichtig ist, dass das Parlament im weiteren Verlauf in die Umsetzung der zu Basel II gehörenden Solvabili- Meiner Fraktion war wichtig, dass wir einige Ände- tätsverordnung und der Groß- und Millionenkreditver- rungsvorschläge aus der Anhörung zur Vermeidung zu- ordnung einbezogen bleibt. Auch beim Erlass der Ver- sätzlicher Bürokratie umgesetzt haben. Dies ist deshalb ordnungen muss das Prinzip der Eins-zu-eins- von großer Bedeutung, weil die Umsetzung von Basel II Umsetzung gelten. Wir werden sehr genau darauf ach- in nationales Recht für die Kreditwirtschaft einen enor- ten, ob die BaFin die notwendigen Konsequenzen zur men Aufwand bedeutet. Allein das aufsichtliche Zulas- Stabilität unseres Finanzmarktes ergreift. sungsverfahren für interne Ratings bindet in mittelstän- dischen Banken je nach Anzahl der Ratingsysteme zwei (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bis fünf Mannjahre. der CDU/CSU) Insgesamt bietet der vorliegende Gesetzentwurf eine Positiv ist festzuhalten, dass im Finanzausschuss noch ausgewogene Balance zwischen dem Ziel eines stabilen Änderungen des Gesetzentwurfes beschlossen wurden, Finanzmarktes und dem Interesse der Marktteilnehmer, die zumindest die Vermeidung zusätzlicher Bürokratie günstige Kredite zu erhalten. Die FDP-Fraktion setzt bedeuten. Ich nenne nur die nunmehr ausreichende „Be- darauf, dass die Kreditvergabe für den Mittelstand durch scheinigung über die prüferische Durchsicht des Zwi- die geringere Eigenkapitalunterlegung der Banken ver- schenabschlusses“ oder den Verzicht auf die Anzeige- bessert wird. pflichten beim Outsourcing. Die aktuelle Auswirkungsstudie der Bundesbank, Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat QIS 5, hat nachgewiesen, dass im Vergleich zum derzeit in der Anhörung zu Recht darauf hingewiesen, dass der in Deutschland geltenden Grundsatz I die Eigenkapi- Normenkontrollrat, wenn es ihn schon geben würde, bei talanforderungen für das gesamte deutsche Bankensys- diesem Gesetzentwurf viel zu tun gehabt hätte. Es bleibt tem um 6,7 Prozent sinken werden. Dabei profitieren festzuhalten, dass das Kreditwesengesetz insgesamt ei- nicht nur die großen Banken mit einem um 4,2 Prozent ner Überarbeitung im Sinne der besseren Lesbarkeit und geringeren Eigenkapitalerfordernis, sondern insbeson- Handhabbarkeit bedarf. dere die kleinen Banken mit bis zu 8,4 Prozent. Die Stu- Die FDP-Fraktion hat die Basel-II-Umsetzung über die hat auch gezeigt, dass es deutliche Anreize gibt, ver- viele Jahre hinaus stets im Sinne des Mittelstandes begleitet. Wir denken, dass heute ein gutes Ergebnis vor- 1) Anlage 15 liegt. Die Basel-II-Umsetzung bleibt aber natürlich 4114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Frank Schäffler (A) weiterhin ein Prozess, den wir aufmerksam begleiten Ziel sich die schlechteren Risiken eher bei den Banken (C) werden. sammeln, als dass sie sich im Markt verteilen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Um diesen Strukturfehler abzubauen, erfasst nun die der CDU/CSU und der SPD) neue Bankenregel Basel II die individuellen Risiken ei- nes Kredits differenziert und trägt damit direkt zur Stabi- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lisierung des nationalen wie auch des internationalen Ich erteile das Wort Kollegen Georg Fahrenschon, Finanzsystems bei. CDU/CSU-Fraktion. Ich habe schon am Anfang meiner Rede auf die sie- (Beifall bei der CDU/CSU) benjährige Entwicklung hingewiesen. Man sollte daran erinnern, dass, als der so genannte Baseler Ausschuss, in dem die Bundesbank und die Bankenaufsicht die Interes- Georg Fahrenschon (CDU/CSU): sen Deutschlands vertreten, 1999 seinen ersten Entwurf Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- für die neuen Eigenkapitalanforderungen für Banken ren! Zu zugegebenermaßen vorgerückter Stunde schließt vorlegte, in Deutschland ein Sturm der Entrüstung los- der Deutsche Bundestag nach über siebenjähriger enga- brach. Vor allem der Mittelstand befürchtete vor dem gierter Begleitung eine grundlegende Modernisierung Hintergrund der damaligen Vorschläge nicht zu Unrecht, der deutschen Banken- und Kreditaufsicht ab. Man muss dass er durch die Änderungen der Bankensteuerung mas- schon die Frage stellen, warum wir eine Veränderung der sive Nachteile bei seiner Kreditversorgung erleiden Banken- und Kreditaufsicht befürworten und was die werde. Hintergründe dieses Vorgehens sind. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das speziell bankenspezifische Risiko besteht darin, Die Gefahr bestand auch!) dass ein Schuldner seiner Verpflichtung gegenüber der Bank nicht nachkommt und die Bank im schlimmsten Heute kann ich feststellen, dass es dem sofortigen En- Falle ihre eigenen Verpflichtungen gegenüber den Spa- gagement des Deutschen Bundestages und der engen Zu- rern nicht erfüllen kann. Um dieses Ausfallrisiko gegen- sammenarbeit mit den deutschen Kollegen im Europäi- über den vielen Sparern und Anlegern in einer Volks- schen Parlament, insbesondere mit dem zuständigen wirtschaft zu reduzieren und um die Gefahr einer Krise Berichterstatter, zu verdanken ist, dass diese Befürchtun- am Finanzmarkt möglichst auszuschließen, müssen alle gen nicht eingetreten sind. (B) Kreditinstitute und Banken grundsätzlich Eigenkapital (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (D) vorhalten, damit im Falle von Ausfällen die Verluste auf- FDP) gefangen werden können. Das ist international üblich. Im Gegenteil: Es konnten sogar erhebliche Vorteile Seit 1988 wurden dafür auch verbindliche Mindest- für den deutschen Mittelstand erreicht werden. Denn standards für die Kapitalunterlegung von Risiken mit dem so genannten Mittelstandspaket wurde bei der durch Kreditinstitute vereinbart, die mittlerweile in über Behandlung der Kredite an kleine und mittlere Unter- 100 Ländern angewendet werden. Nach dieser Regel nehmen sichergestellt, dass es unter Basel II definitiv müssen Banken und Sparkassen weltweit für jeden Kre- nicht zu einer Verschlechterung der Finanzierungsmög- dit an Unternehmen in Höhe von zum Beispiel 100 Euro lichkeiten für den Mittelstand kommen wird. So werden 8 Euro Eigenkapital hinterlegen. beispielsweise allein durch die Möglichkeit, Kredite an Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Diese rein kleine Unternehmen von unter 1 Million Euro wie Kre- quantitative und pauschale Eigenkapitalvorschrift erwies dite an Privatkunden zu behandeln, circa 90 Prozent aller sich jedoch wenige Jahre nach ihrer internationalen In- Kreditforderungen des deutschen Mittelstands spürbar Kraft-Setzung einer Reihe von Risiken schlicht und ein- entlastet. fach nicht angemessen. Was noch schwerer wiegt: Die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bestehenden Regeln setzen strukturelle Fehlanreize. neten der SPD und der FDP) Dazu zählt zum Beispiel, dass ein Institut für einen Kre- dit an Unternehmen mit geringerem Risiko genauso viel Diese Regelung bedeutet, dass jeder Mittelständler un- Eigenkapital hinterlegen muss wie für einen Kredit an abhängig von der Höhe des Jahresumsatzes bei jeder ein Unternehmen mit schlechter Bonität. Das bedeutet Ausfallwahrscheinlichkeit ein um 25 Prozent niedrigeres im Kern nichts anderes, als dass gute Schuldner ge- Risikogewicht als ein Unternehmenskredit erhält. Das wissermaßen schlechte Schuldner subventionieren, hilft insbesondere bei Krediten an Handwerker, Freibe- was – wenn man es weiterentwickelt – den guten rufler, Landwirte, aber auch bei Krediten an private Schuldner dazu veranlasst, Fremdmittel beispielsweise Haushalte, wenn es um die Finanzierung von Wohnim- auf Anleihemärkten aufzunehmen, weil dieser Weg für mobilien inklusive der Bauspardarlehen geht. ihn günstiger ist. Im Ergebnis kann man also feststellen, dass Unter- Letztendlich führt das dazu – das ist ein wesentlicher nehmen wie private Haushalte in Zukunft sogar größere Grund, weshalb wir die Eigenkapitalhinterlegungsregeln Chancen beim Nachweis ihrer Kreditwürdigkeit haben, ändern müssen –, dass in absolutem Widerspruch zum um dann auch bessere Konditionen zu erhalten. Die Aus- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4115

Georg Fahrenschon (A) sage mancher Banker in den letzten Jahren: „Sie bekom- Auch bei der Ermittlung der Auslastung der Baga- (C) men keinen Kredit wegen Basel II“ ist schlichtweg tellgrenzen für die Freistellung von der Anwendung der falsch. Handelsbuchregelung wird die gängige Gesetzespraxis aus gutem Grund beibehalten, da unserer Ansicht nach Vor diesem Hintergrund und um eine bessere Trans- keinerlei Notwendigkeit besteht, die betroffenen Nicht- parenz zu erreichen, haben CDU/CSU gemeinsam mit handelsbuchinstitute mit einem unnötigen Aufwand zu der SPD und der FDP in der gestrigen Finanzausschuss- belasten. sitzung zusätzlich eine Entschließung zu Art. 145 Abs. 4 der neu gefassten Bankenrichtlinie eingebracht. Auf der Ich glaube, man kann die deutsche Umsetzung der Grundlage der europäischen Richtlinie fordern wir die neuen Baseler Eigenkapitalregelung fraktionsübergrei- deutsche Kreditwirtschaft auf, über das Instrument einer fend als gelungen bezeichnen. Selbstverpflichtung dafür Sorge zu tragen, dass alle Kre- ditinstitute ihre Ratingentscheidungen den Kredit su- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der chenden Unternehmen in nachvollziehbarer Weise und FDP) schriftlich offen legen. Die inhaltliche Ausgestaltung des neuen Aufsichtsre- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gimes ab 2007 steht damit so frühzeitig wie möglich der FDP) fest. Dadurch können wir unseren Instituten am Standort Deutschland einen Vorsprung bei der Anwendung der An dieser Stelle ist für die Union wichtig: Sollte diese neuen Eigenkapitalregeln und bei den damit verbunde- Selbstverpflichtung nicht ausreichen und nur unzurei- nen frei werdenden Eigenkapitalmitteln verschaffen. chend Wirkung zeigen, wollen wir prüfen, ob eine ge- setzliche Regelung notwendig ist. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist sehr wichtig!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Prüfen wir mal! Der Kollege Schäffler hat auf die 6,7 Prozent im Durch- Kommt Zeit, kommt Rat! – Frank Schäffler schnitt und auf die 8,4 Prozent weniger Eigenkapitalmit- [FDP]: Warten wir mal ab!) tel, die hinterlegt werden müssen, schon hingewiesen. Denn Basel II ist kein Kreditkiller für den Mittelstand, Zum Jahreswechsel 2007 ergibt sich ein wichtiger Ef- sondern bietet faire Rahmenbedingungen für die Kredit- fekt für die deutsche Kreditwirtschaft, die wieder mehr vergabe. Geld verfügbar hat, das sie dann auch in neue Kredite in- Kollege Schäffler hat bereits herausgestellt, dass es vestieren kann. Ich glaube, wir müssen jetzt nur noch (B) uns auch im letzten Teil, in der nationalen Umsetzung, aufpassen, dass die Aufsicht die neuen Instrumente auch (D) gelungen ist, ein optimales Ergebnis für alle Akteure am anwendet; denn die Aufgabe der Aufsicht ist es nicht, Finanzstandort Deutschland zu erarbeiten und die neuen unternehmerische Entscheidungen zu fällen, sondern die Regeln für die Kreditwirtschaft und die Verbraucher Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Kreditwirt- praktikabel zu machen. So konnte im parlamentarischen schaft in Deutschland zu schaffen und zu bewahren. Verfahren gegenüber der Bundesregierung erreicht wer- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. den, dass eine Reihe von Verfahren, die in Deutschland bereits seit Jahren erfolgreich von der Kreditwirtschaft (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der praktiziert werden, nicht unnötig verändert und ver- FDP) schärft wurden. Beispielhaft möchte ich die im ur- sprünglichen Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: in §10KWG Abs.2a und c nennen. Ich schließe die Aussprache. Die Einführung neuer Abzugsverpflichtungen für Bevor wir zu den Abstimmungen über diesen Tages- erhebliche Verluste aus der Bewertung von Handels- ordnungspunkt kommen, gebe ich Ihnen das von den buchpositionen oder für nicht erhebliche unterjährige Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb- Verluste aus Handelsbuchgeschäften hätten enorme An- nis der namentlichen Abstimmung über Buchstabe c wendungsprobleme für die Institute bedeutet. Mit der der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Men- Beibehaltung des Status quo in diesem Bereich konnte schenrechte und Humanitäre Hilfe bekannt. Abgegebene unnötige Bürokratie vermieden werden. Stimmen 534. Mit Ja haben gestimmt 481, mit Nein ha- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ben gestimmt 48, Enthaltungen 5. Die Beschlussempfeh- neten der SPD) lung ist damit angenommen. 4116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Endgültiges Ergebnis Reinhard Grindel Friedrich Merz Max Straubinger (C) Abgegebenen Stimmen: 534; Hermann Gröhe Laurenz Meyer (Hamm) Thomas Strobl (Heilbronn) davon Michael Grosse-Brömer Maria Michalk Michael Stübgen Markus Grübel Hans Michelbach Antje Tillmann ja: 481 Manfred Grund Philipp Mißfelder Dr. Hans-Peter Uhl nein: 48 Monika Grütters Dr. Eva Möllring Arnold Vaatz enthalten: 5 Karl-Theodor Freiherr zu Marlene Mortler Volkmar Uwe Vogel Guttenberg Carsten Müller Andrea Astrid Voßhoff Ja Olav Gutting (Braunschweig) Gerhard Wächter Holger Haibach Stefan Müller (Erlangen) Marco Wanderwitz CDU/CSU Gerda Hasselfeldt Bernward Müller (Gera) Kai Wegner Ursula Heinen Dr. Gerd Müller Marcus Weinberg Ulrich Adam Uda Carmen Freia Heller Hildegard Müller Peter Weiß (Emmendingen) Ilse Aigner Michael Hennrich Bernd Neumann (Bremen) Karl-Georg Wellmann Peter Albach Jürgen Herrmann Henry Nitzsche Anette Widmann-Mauz Thomas Bareiß Michaela Noll Klaus-Peter Willsch Norbert Barthle Bernd Heynemann Elisabeth Winkelmeier- Dr. Wolf Bauer Ernst Hinsken Dr. Georg Nüßlein Becker Günter Baumann Peter Hintze Franz Obermeier Wolfgang Zöller Ernst-Reinhard Beck Robert Hochbaum Eduard Oswald Willi Zylajew (Reutlingen) Klaus Hofbauer Henning Otte Veronika Bellmann Franz-Josef Holzenkamp Rita Pawelski SPD Otto Bernhardt Joachim Hörster Dr. Peter Paziorek Clemens Binninger Anette Hübinger Ulrich Petzold Dr. Lale Akgün Peter Bleser Hubert Hüppe Dr. Joachim Pfeiffer Gregor Amann Antje Blumenthal Susanne Jaffke Sibylle Pfeiffer Niels Annen Dr. Maria Böhmer Dr. Peter Jahr Beatrix Philipp Ingrid Arndt-Brauer Jochen Borchert Dr. Hans-Heinrich Jordan Ronald Pofalla Rainer Arnold Wolfgang Börnsen Andreas Jung (Konstanz) Daniela Raab Ernst Bahr (Neuruppin) (Bönstrup) Dr. Franz Josef Jung Thomas Rachel Doris Barnett Wolfgang Bosbach Bartholomäus Kalb Hans Raidel Dr. Hans- Peter Bartels Klaus Brähmig Hans-Werner Kammer Dr. Peter Ramsauer Sören Bartol Michael Brand Alois Karl Peter Rauen Sabine Bätzing Helmut Brandt Bernhard Kaster Eckhardt Rehberg Dirk Becker Dr. Ralf Brauksiepe Siegfried Kauder (Villingen- Klaus Riegert Uwe Beckmeyer (B) (D) Monika Brüning Schwenningen) Dr. Heinz Riesenhuber Klaus Uwe Benneter Georg Brunnhuber Volker Kauder Franz Romer Dr. Axel Berg Gitta Connemann Eckart von Klaeden Johannes Röring Ute Berg Leo Dautzenberg Jürgen Klimke Kurt J. Rossmanith Petra Bierwirth Hubert Deittert Julia Klöckner Dr. Norbert Röttgen Lothar Binding (Heidelberg) Alexander Dobrindt Jens Koeppen Dr. Christian Ruck Volker Blumentritt Thomas Dörflinger Kristina Köhler (Wiesbaden) Albert Rupprecht (Weiden) Gerd Bollmann Marie-Luise Dött Manfred Kolbe Peter Rzepka Dr. Gerhard Botz Maria Eichhorn Norbert Königshofen Anita Schäfer (Saalstadt) Klaus Brandner Anke Eymer (Lübeck) Dr. Rolf Koschorrek Hermann-Josef Scharf Willi Brase Georg Fahrenschon Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble Bernhard Brinkmann Ilse Falk Thomas Kossendey Hartmut Schauerte (Hildesheim) Dr. Hans Georg Faust Michael Kretschmer Dr. Annette Schavan Edelgard Bulmahn Enak Ferlemann Gunther Krichbaum Dr. Andreas Scheuer Marco Bülow Hartwig Fischer (Göttingen) Dr. Günter Krings Karl Schiewerling Ulla Burchardt Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Martina Krogmann Norbert Schindler Martin Burkert Dr. Maria Flachsbarth Johann-Henrich Georg Schirmbeck Dr. Michael Bürsch Klaus-Peter Flosbach Krummacher Bernd Schmidbauer Christian Carstensen Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Hermann Kues Christian Schmidt (Fürth) Dr. Peter Danckert (Hof) Dr. Karl A. Lamers Andreas Schmidt (Mülheim) Dr. Herta Däubler-Gmelin Erich G. Fritz (Heidelberg) Ingo Schmitt (Berlin) Karl Diller Jochen-Konrad Fromme Andreas G. Lämmel Dr. Andreas Schockenhoff Martin Dörmann Dr. Michael Fuchs Dr. Norbert Lammert Dr. Ole Schröder Dr. Carl-Christian Dressel Hans-Joachim Fuchtel Katharina Landgraf Bernhard Schulte-Drüggelte Elvira Drobinski-Weiß Dr. Jürgen Gehb Dr. Max Lehmer Uwe Schummer Detlef Dzembritzki Norbert Geis Paul Lehrieder Kurt Segner Sebastian Edathy Eberhard Gienger Ingbert Liebing Bernd Siebert Siegmund Ehrmann Ralf Göbel Patricia Lips Thomas Silberhorn Hans Eichel Dr. Reinhard Göhner Dr. Michael Luther Johannes Singhammer Petra Ernstberger Josef Göppel Stephan Mayer (Altötting) Jens Spahn Karin Evers-Meyer Peter Götz Wolfgang Meckelburg Christian Freiherr von Stetten Annette Faße Dr. Wolfgang Götzer Dr. Michael Meister Gero Storjohann Gabriele Fograscher Ute Granold Dr. Angela Merkel Andreas Storm Rainer Fornahl Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4117

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Gabriele Frechen Dr. Matthias Miersch Dr. Marlies Volkmer BÜNDNIS 90/DIE (C) Dagmar Freitag Ursula Mogg Hedi Wegener GRÜNEN Peter Friedrich Marko Mühlstein Petra Weis Kerstin Andreae Martin Gerster Detlef Müller (Chemnitz) Gunter Weißgerber Volker Beck (Köln) Iris Gleicke Michael Müller (Düsseldorf) Gert Weisskirchen Cornelia Behm Günter Gloser Dr. Rolf Mützenich (Wiesloch) Birgitt Bender Renate Gradistanac Thomas Oppermann Lydia Westrich Matthias Berninger Angelika Graf (Rosenheim) Holger Ortel Dr. Margrit Wetzel Grietje Bettin Dieter Grasedieck Andrea Wicklein Heinz Paula Alexander Bonde Heidemarie Wieczorek-Zeul Kerstin Griese Johannes Pflug Ekin Deligöz Engelbert Wistuba Gabriele Groneberg Joachim Poß Dr. Thea Dückert Waltraud Wolff Achim Großmann Christoph Pries Dr. Uschi Eid (Wolmirstedt) Wolfgang Grotthaus Dr. Wilhelm Priesmeier Hans Josef Fell Heidi Wright Wolfgang Gunkel Florian Pronold Kai Gehring Uta Zapf Hans-Joachim Hacker Dr. Sascha Raabe Katrin Göring-Eckardt Manfred Zöllmer Bettina Hagedorn Mechthild Rawert Anja Hajduk Brigitte Zypries Klaus Hagemann Steffen Reiche (Cottbus) Britta Haßelmann Alfred Hartenbach Maik Reichel Winfried Hermann FDP Michael Hartmann Gerold Reichenbach Peter Hettlich (Wackernheim) Dr. Carola Reimann Jens Ackermann Priska Hinz (Herborn) Nina Hauer Christel Riemann- Dr. Karl Addicks Ulrike Höfken Reinhold Hemker Hanewinckel Christian Ahrendt Dr. Anton Hofreiter Rolf Hempelmann Walter Riester Daniel Bahr (Münster) Bärbel Höhn Dr. Barbara Hendricks Sönke Rix Uwe Barth Thilo Hoppe Gustav Herzog René Röspel Rainer Brüderle Ute Koczy Petra Heß Dr. Ernst Dieter Rossmann Angelika Brunkhorst Sylvia Kotting-Uhl Gabriele Hiller-Ohm Karin Roth (Esslingen) Ernst Burgbacher Renate Künast Petra Hinz (Essen) Michael Roth (Heringen) Patrick Döring Undine Kurth (Quedlinburg) Gerd Höfer Marlene Rupprecht Mechthild Dyckmans Markus Kurth Iris Hoffmann (Wismar) (Tuchenbach) Jörg van Essen Monika Lazar Frank Hofmann (Volkach) Anton Schaaf Ulrike Flach Dr. Reinhard Loske Eike Hovermann Axel Schäfer (Bochum) Paul K. Friedhoff Anna Lührmann Klaas Hübner Bernd Scheelen Horst Friedrich (Bayreuth) Jerzy Montag Christel Humme Dr. Hermann Scheer Dr. Edmund Peter Geisen (B) Winfried Nachtwei (D) Brunhilde Irber Marianne Schieder Dr. Wolfgang Gerhardt Brigitte Pothmer Johannes Jung (Karlsruhe) Otto Schily Hans-Michael Goldmann Claudia Roth (Augsburg) Josip Juratovic Silvia Schmidt (Eisleben) Miriam Gruß Krista Sager Johannes Kahrs Dr. Frank Schmidt Joachim Günther (Plauen) Elisabeth Scharfenberg Ulrich Kasparick Heinz Schmitt (Landau) Dr. Christel Happach-Kasan Christine Scheel Dr. h.c. Susanne Kastner Carsten Schneider (Erfurt) Heinz-Peter Haustein Irmingard Schewe-Gerigk Ulrich Kelber Reinhard Schultz Birgit Homburger Dr. Gerhard Schick Christian Kleiminger (Everswinkel) Dr. Werner Hoyer Rainder Steenblock Hans-Ulrich Klose Swen Schulz (Spandau) Michael Kauch Silke Stokar von Neuforn Dr. Bärbel Kofler Ewald Schurer Hellmut Königshaus Hans-Christian Ströbele Fritz Rudolf Körper Frank Schwabe Gudrun Kopp Dr. Harald Terpe Rolf Kramer Dr. Angelica Schwall-Düren Jürgen Koppelin Jürgen Trittin Anette Kramme Dr. Martin Schwanholz Heinz Lanfermann Wolfgang Wieland Nicolette Kressl Rita Schwarzelühr-Sutter Sibylle Laurischk Volker Kröning Wolfgang Spanier Harald Leibrecht Angelika Krüger-Leißner Dr. Margrit Spielmann Ina Lenke Nein Dr. Hans-Ulrich Krüger Jörg-Otto Spiller Sabine Leutheusser- DIE LINKE Jürgen Kucharczyk Dr. Ditmar Staffelt Schnarrenberger Helga Kühn-Mengel Andreas Steppuhn Horst Meierhofer Hüseyin-Kenan Aydin Ute Kumpf Ludwig Stiegler Patrick Meinhardt Karin Binder Dr. Uwe Küster Rolf Stöckel Hans-Joachim Otto Heidrun Bluhm Christine Lambrecht Christoph Strässer (Frankfurt) Eva Bulling-Schröter Christian Lange (Backnang) Joachim Stünker Gisela Piltz Dr. Martina Bunge Dr. Karl Lauterbach Dr. Rainer Tabillion Jörg Rohde Roland Claus Waltraud Lehn Jörg Tauss Frank Schäffler Sevim Dagdelen Gabriele Lösekrug-Möller Jella Teuchner Marina Schuster Dr. Diether Dehm Dirk Manzewski Dr. h.c. Wolfgang Thierse Dr. Max Stadler Werner Dreibus Caren Marks Jörn Thießen Florian Toncar Dr. Dagmar Enkelmann Katja Mast Franz Thönnes Christoph Waitz Klaus Ernst Hilde Mattheis Hans-Jürgen Uhl Dr. Claudia Winterstein Wolfgang Gehrcke Markus Meckel Rüdiger Veit Dr. Volker Wissing Heike Hänsel Petra Merkel (Berlin) Simone Violka Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Lutz Heilmann Ulrike Merten Jörg Vogelsänger Martin Zeil Hans-Kurt Hill 4118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Cornelia Hirsch Dr. Gesine Lötzsch Volker Schneider fraktionslos (C) Dr. Barbara Höll (Saarbrücken) Ulrich Maurer Gert Winkelmeier Ulla Jelpke Dorothee Menzner Dr. Herbert Schui Dr. Lukrezia Jochimsen Kornelia Möller Dr. Ilja Seifert Enthalten Dr. Hakki Keskin Kersten Naumann Katja Kipping Dr. Petra Sitte Wolfgang Nešković Monika Knoche Frank Spieth SPD Dr. Norman Paech Jan Korte Dr. Kirsten Tackmann Klaus Barthel Katrin Kunert Petra Pau Dr. Axel Troost Monika Griefahn Oskar Lafontaine Bodo Ramelow Ernst Kranz Michael Leutert Elke Reinke Alexander Ulrich Lothar Mark Ulla Lötzer Paul Schäfer (Köln) Jörn Wunderlich Dr. Wolfgang Wodarg

Nun kommen wir zu den Abstimmungen dieses Tages- Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der ordnungspunktes, und zwar zunächst über den von der Fraktion der FDP Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umset- zung der neu gefassten Bankenrichtlinie und der neu ge- Patientenverfügungen neu regeln – Selbstbe- fassten Kapitaladäquanzrichtlinie, Drucksache 16/1335. stimmungsrecht und Autonomie von nichtein- Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner willigungsfähigen Patienten stärken Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/2018, den Ge- – Drucksache 16/397 – setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Ausschuss für Arbeit und Soziales stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan- Ausschuss für Gesundheit zen Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange- Ausschuss für Bildung, Forschung und nommen. Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Dritte Beratung Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (B) (D) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ich eröffne die Aussprache und teile zunächst mit, Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- dass die Kollegen Kauch, Granold, Stünker, Grübel, wurf ist mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenom- Schewe-Gerigk und Strässer ihre Reden zu Protokoll men. gegeben haben.1) Es redet als Einziger zu diesem Tages- Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf ordnungspunkt der Kollege Ilja Seifert, Fraktion Die Drucksache 16/2018 empfiehlt der Ausschuss, eine Ent- Linke. schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be- (Beifall bei der LINKEN) schlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Frak- tion des Bündnisses 90/Die Grünen einstimmig ange- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): nommen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in einer verrück- Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- ten Zeit. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist von Vertrauen ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag geprägt, sollte es jedenfalls sein. Was aber geschieht? Es der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/2042? – Wer wird immer weiter verrechtlicht. Eine Hoffnung ist, so- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- lange es kein einheitliches und überschaubares Recht des antrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke von Gesundheitswesens gibt, für viele Menschen die Patien- den übrigen Fraktionen abgelehnt. tenverfügung; sie bleibt aber eine Notlösung. Wer das nicht sieht, geht in die Irre. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Druck- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Sie sache 16/2043? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält schlagen vor, die Patientenverfügung neu zu regeln. Da- sich? – Damit ist der Entschließungsantrag der Fraktion gegen gibt es erst einmal gar nichts zu sagen. Sie haben des Bündnisses 90/Die Grünen mit den Stimmen des aber vergessen, dass eine Vorsorgevollmacht, eine Be- Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion des Bündnis- treuungsverfügung und möglichst auch eine klare Festle- ses 90/Die Grünen und der Linken abgelehnt. gung, ob man als Organspender zur Verfügung steht oder nicht, hinzugefügt werden müsste. Ansonsten nutzt die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Patientenverfügung nämlich relativ wenig. Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Dr. Max Stadler, Sabine Leutheusser- 1) Anlage 16 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4119

Dr. Ilja Seifert (A) Sie sorgen sich darum, dass die Fürsorge des Staates, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (C) die Fürsorge des Arztes, die Fürsorge des Gesundheits- neten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und wesens in Bevormundung umschlägt und die Selbst- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bestimmung der Menschen beeinträchtigt. Sie verges- sen aber – das muss, wenn das neu geordnet wird, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: unbedingt hinzugefügt werden –, dass wir dafür sorgen Ich schließe die Aussprache. müssen, dass die Menschen, wenn man ihnen immer mehr Selbstbestimmung gibt, nicht immer stärker ver- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf einsamen oder gar verwahrlosen. Das geschieht nicht Drucksache 16/397 an die in der Tagesordnung aufge- nur bei Alkoholkranken, das geschieht auch bei alten führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Menschen, bei Demenz und anderen sozialen oder sons- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung tigen Schwierigkeiten. Im Übrigen: Wie soll ich selbst so beschlossen. bestimmen, wenn ich gar nicht weiß, welche Therapie Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: ich gerade brauche, weil ich die Diagnose gar nicht selbst stellen kann? – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Deshalb sage ich: In diesem Zusammenhang nützt zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über uns die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts allein den Europäischen Haftbefehl und die Überga- wenig. Wir müssen das Arzt-Patienten-Verhältnis, das beverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der ein Vertrauensverhältnis sein sollte, stärken. Es kann Europäischen Union (Europäisches Haftbe- nicht sein, dass die Patienten zukünftig nur noch in Be- fehlsgesetz – EuHbG) gleitung ihres Rechtsanwalts zum Arzt gehen, wohl wis- – Drucksache 16/1024 – send, dass neben dem Arzt dessen Rechtsanwalt sitzt, und sich dann die Rechtsanwälte über die Diagnose un- – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- terhalten und überlegen, welche Therapie von wem be- nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten zahlt wird. Wenn wir so weit sind, haben wir verloren. Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Eine grundlegende Regelung des Arzt-Patienten-Ver- Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwi- hältnisses im BGB wäre sinnvoll, damit sowohl die Ärz- schen den Mitgliedstaaten der Europäischen tinnen und Ärzte als auch die Patientinnen und Patienten Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz – Eu- wieder weniger über rechtliche Dinge nachdenken müs- HbG) sen, sondern man wieder stärker Vertrauen darin haben – Drucksache 16/544 – (B) kann, dass jede Seite ihre Sache so ordentlich macht, (D) dass für alle Seiten das Beste herauskommt. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns eines nicht vergessen: Zu große Hoffnung in die Patientenver- – Drucksache 16/2015 – fügung zu legen, kann auch heißen, dass wir der aktiven Berichterstattung: Sterbehilfe Tür und Tor öffnen. Was wollen wir denn Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen-Schwen- machen, wenn jemand frei und selbstbestimmt hinein- ningen) schreibt: Wenn das und das mit mir passiert, möchte ich Joachim Stünker eine Giftspritze haben. Wie soll sich der Arzt dann ver- Dr. Peter Danckert halten? Wenn die Patientenverfügung rechtsverbindlich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wäre, müsste er sie setzen. Ist sie es nicht, dann ist sie Wolfgang Nešković überflüssig. Jerzy Montag Also: Lassen Sie uns auch festlegen, was in einer Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Patientenverfügung nicht festgelegt werden darf, bei- Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. spielsweise die aktive Sterbehilfe. Lassen Sie uns dafür Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die sorgen, dass die Palliativversorung – auch ambulant – Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre richtig, schnell und flächendeckend ausgebaut wird und keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. die Sterbebegleitung ernst genommen wird. Das ist ein Faktor, der ein paar Mark dreißig kostet, den wir uns Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen- aber leisten müssen, damit die Menschen keine Angst tarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort. vor dem haben müssen, was passiert, wenn sie in eine gesundheitlich ausweglose Situation geraten. Das ist an- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- gesagt und nicht das einseitige Setzen auf Selbstbestim- desministerin der Justiz: mung gegen das Vertrauensverhältnis von Arzt und Pa- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und tient. Kollegen! Die Grenzen in Europa sind in den letzten Jahrzehnten immer durchlässiger geworden. Das war Ich danke Ihnen, dass Sie zu dieser späten Stunde eine glückliche Entwicklung und zahllose Menschen noch so aufmerksam waren, und hoffe, dass wir zu ei- profitieren heute davon. Damit offene Grenzen aber nem vernünftigen Ergebnis kommen. nicht zu einem Risiko für unsere Sicherheit werden, 4120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) muss auch die Verbrechensbekämpfung grenzüber- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) schreitend werden. Der Mobilität der Straftäter müssen Ich erteile das Wort Kollegin Sabine Leutheusser- wir die Kooperation der Strafverfolger entgegensetzen. Schnarrenberger, FDP-Fraktion. Der Europäische Haftbefehl ist ein wichtiges Instru- (Beifall bei der FDP) ment, um die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten beim Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität weiter zu Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): verbessern. An die Stelle der traditionellen Regelungen Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- des Völkerrechts tritt ein vereinfachtes und vor allem be- nen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär schleunigtes Auslieferungsverfahren. Ein erstes Gesetz Hartenbach, genau diese Einschätzung teile ich nicht. hat das Bundesverfassungsgericht für verfassungswid- rig erklärt. Das hat uns allen wehgetan. (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Alles andere hätte mich auch sehr gewundert!) Wir kommen mit dem neuen Entwurf heute dem Ur- teil des Verfassungsgerichts nach, und zwar in allen Denn wenn Sie sich dieses Gesetzgebungsverfahren Punkten. Die Bundesregierung hat die Entscheidung des ganz ehrlich und nüchtern vor Augen führen, stellen Sie Gerichts sehr genau geprüft und dann einen Gesetzent- fest: Es war im ersten Anlauf vor dem Bundesverfas- wurf vorgelegt. Der Rechtsausschuss hat auf dieser sungsgericht eine große Blamage, weil das Justizminis- Grundlage eine, wie ich finde, sehr intensive und gute terium nicht in der Lage war, einen verfassungskonfor- Anhörung durchgeführt und an einigen Punkten weitere men Entwurf vorzulegen. Veränderungen vorgenommen. Wir haben das Gesetz verbessert und alle verfassungsrechtlichen Bedenken (Joachim Stünker [SPD]: Ja, ja! Genau wie in ausgeräumt. Ihrer Regierungszeit! – Fritz Rudolf Körper [SPD]: Das Interesse der FDP an diesem Die Entscheidung der Bewilligungsbehörde – das war Thema ist aber auch nicht gerade groß, wie eine der Fragen –, keine der möglichen Bewilligungshin- man sieht!) dernisse geltend zu machen, muss künftig durch die Oberlandesgerichte überprüft werden. Damit entspre- Das Bundesverfassungsgericht hat das Gesetz insgesamt chen wir der Forderung des Gerichts nach einem besse- für nichtig erklärt. Auch das muss einmal gesagt werden. ren Rechtsschutz. (Joachim Stünker [SPD]: Ja!) Künftig ist auch klargestellt, dass eine Auslieferung Das hören Sie zwar nicht gerne deutscher Staatsangehöriger unzulässig ist, wenn die (B) Tat einen maßgeblichen Inlandsbezug aufweist. Anders (Joachim Stünker [SPD]: Doch! Warum (D) ausgedrückt: Ausgeliefert werden darf künftig nur dann, nicht?) wenn Tatort und Erfolgseintritt in wesentlichen Teilen – das verstehe ich –, aber das ist die Geschichte dieses im Ausland liegen oder wenn die Tat einen typischen Gesetzentwurfs. grenzüberschreitenden Charakter hat, wie dies zum Bei- spiel bei der organisierten Kriminalität immer der Fall (Beifall bei der FDP – Joachim Stünker [SPD]: sein wird. So etwas ist in Ihren Regierungszeiten ja nie vorgekommen!) Ich möchte eine dritte Änderung erwähnen, nämlich die so genannte Ausländerklausel. Angesichts von Mil- – Ich kann Ihnen sagen: in dieser Häufigkeit mit Sicher- lionen zum Teil bestens integrierter Zuwanderer in heit nicht. Ich nenne nur das Stichwort „Luftsicherheits- Deutschland macht es keinen Sinn, bei der Frage einer gesetz“. Das war eine Blamage bis zum Gehtnichtmehr. Auslieferung einzig und allein auf die Staatsbürgerschaft abzustellen. Ein Italiener zum Beispiel, der seit Jahr- (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Ach! Jetzt zehnten hier lebt, darf nicht anders behandelt werden als kommen die ollen Kamellen!) sein deutscher Nachbar. Allerdings kommt es immer auf Heute Morgen haben Sie Gesetzentwürfe verabschie- den Einzelfall an. Wir haben deshalb die zwingende Re- det, die sich alle beim Bundesverfassungsgericht wieder gel durch eine Ermessensklausel ersetzt. Ich meine, dass finden und dort mit Sicherheit keinen Bestand haben das sehr vernünftig ist. werden; denken Sie nur an das Steueränderungsgesetz. Insgesamt darf ich abschließend feststellen: Wir ha- In anderen Fällen haben Sie Gesetze mit Befristungen ben nunmehr einen verfassungsfesten Entwurf auf den versehen, obwohl Sie wissen, dass auch sie keinen Be- Tisch gelegt. Er berücksichtigt unsere Grundrechte und stand haben werden. Insofern, Herr Staatssekretär, ist die Entscheidung aus Karlsruhe. Er entspricht dem euro- das kein Glanzstück Ihrer Rechtspolitik. päischen Rahmenbeschluss und ist für die Praxis geeig- Jetzt beraten wir den zweiten Anlauf des Justizminis- net. Ich bin mir sicher: Mit diesem Gesetz kommt die teriums. Der erste Gesetzentwurf, der vorgelegt wurde, Strafverfolgung in Europa ein gutes Stück voran und da- hat noch nicht einmal die Zustimmung der Koalitions- mit wird auch die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger fraktionen gefunden; andernfalls hätten Sie in der letzten fester. Sitzung des Rechtsausschusses keine seitenlangen Ände- Vielen Dank. rungsvorschläge vorlegen müssen. Gott sei Dank haben wir die Anhörung zu diesem Gesetzentwurf durchge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) führt, in der die Kritik der Experten aus den unterschied- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4121

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) lichsten Bereichen, die letztendlich auch das Justizmi- wird. Denn mit dem gegenwärtig praktizierten Prinzip (C) nisterium zur Kenntnis nehmen musste, deutlich wurde. der gegenseitigen Anerkennung, mit dem wir uns in die- ser Intensität bisher noch gar nicht befasst haben, wird Jetzt liegt in geänderter Fassung ein Gesetzentwurf ein Weg beschritten, der dazu führt, dass wir die Rechts- vor, der durch diese Änderungen schon etwas verbessert ordnungen der anderen Mitgliedstaaten der Europäi- wurde, der aber nach wie vor deutliche Defizite auf- schen Union anerkennen, die, wie gesagt, sehr unter- weist. Wenn man sich das Urteil des Bundesverfassungs- schiedlich sind und verschiedene Standards haben. Auf gerichts – es ist zwar nicht Gesetzgeber, aber die letzte diese unterschiedlichen Standards wird eine Anerken- Instanz, wenn es um die Frage der Verfassungskonformi- nung der jeweiligen Entscheidungen aufgesetzt. Das för- tät geht – genau ansieht, stellt man das fest. Das Justiz- dert nicht Integration, das manifestiert Unterschiede. ministerium hat es sich zu leicht gemacht: Man hat ein- Wir haben bisher, obwohl es ein Grünbuch dazu gibt, fach Formulierungen aus dem Urteil abgeschrieben, die keinen Vorschlag dazu bekommen, wie Rechtsstandards von Praktikern schon heute als nicht praxistauglich beur- und Mindeststandards in diesem Bereich der polizeili- teilt werden. chen und justiziellen Zusammenarbeit in Europa endlich (Beifall bei der FDP) einmal im Gesamtzusammenhang betrachten werden können, um ein Stück weit Verlust und Einschränkung Was ist denn unter „maßgeblichem Inlandsbezug“ zu von Rechten der einzelnen Betroffenen abzubauen. verstehen? Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, hier müssten vonseiten des Gesetzgebers Konkretisie- Die FDP-Fraktion lehnt diesen Gesetzentwurf des- rungen erfolgen. Aber Sie übernehmen diese Formulie- halb wegen grundsätzlicher Bedenken ab. rungen. Alle Experten haben zum Ausdruck gebracht, Vielen Dank. dass es große Unsicherheiten gibt, dass die verwendeten Begriffe zu unbestimmt sind und dass man nicht weiß, (Beifall bei der FDP) wie man sie anwenden soll. Diese Entscheidung wird na- türlich der Rechtsprechung unterworfen. Denn bei dieser Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Materie geht es darum, dass deutsche Staatsangehörige Ich erteile das Wort Kollegen Siegfried Kauder, CDU/ – zwar auch lange hier lebende Ausländer, aber insbe- CSU-Fraktion. sondere deutsche Staatsbürger – in die Hoheitsgewalt und in ein Rechtsverfahren eines anderen Mitgliedstaa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tes der Europäischen Union überstellt werden. neten der SPD) Dort herrschen in diesem Bereich nach wie vor sehr unterschiedliche Traditionen und es werden verschie- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ (B) (D) dene Verfahren angewendet, die sich längst nicht an ein- CSU): heitlichen Standards orientieren. Daher denke ich, dass Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! es wichtig und notwendig ist, auch die Schranken, wann Es gibt einen Grundsatz, den jedermann kennt: Vor Ge- jemand ausgeliefert werden darf und wann nicht, sehr richt und auf hoher See ist man in Gottes Hand. Zu den präzise zu formulieren. Gerichten zählt auch das Bundesverfassungsgericht. (Beifall bei der FDP) (Lachen des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Das ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht mit der notwendi- gen Bestimmtheit der Fall. Damit nicht einige glauben, feixen zu können – das gilt insbesondere für die Grünen, die ja damals in der Der zweite Bereich, über den wir mit den Experten in- Regierungsverantwortung waren –, lohnt es sich viel- tensiv diskutiert haben, betrifft die Frage, inwieweit in leicht, die Entwicklung des ersten Gesetzentwurfes zum diesem Bewilligungsverfahren Rechtsschutzmöglich- Europäischen Haftbefehlsgesetz zu beleuchten: Am keiten gegeben sind. Das beinhaltet eine Bewilligungs- 29. November 2000 wurde Art. 16 Abs. 2 des Grundge- und Zulässigkeitsprüfung. Meine sehr geehrten Kolle- setzes im Vorgriff auf das von Europa zu erwartende ginnen und Kollegen, nur auf massiven Druck wurde die Recht – einen Rahmenbeschluss zum Europäischen Formulierung gestrichen, dass die getroffene Entschei- Haftbefehlsgesetz – um einen Satz 2 ergänzt. In diesem dung generell unanfechtbar ist. Eine solche Regelung Art. 16 Abs. 2 Satz 2 wurde abweichend von den bishe- hätte mit Sicherheit nicht in Übereinstimmung mit dem rigen Grundrechten festgelegt: Urteil des Bundesverfassungsgerichts gestanden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Wir sind der Auffassung – das haben wir auch im Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäi- Rechtsausschuss zum Ausdruck gebracht –, dass es letzt- schen Union oder an einen internationalen Ge- endlich einen Rechtsbehelf gegen diese Bewilligungs- richtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche entscheidung geben muss und dass die Ausgestaltung Grundsätze gewahrt sind. des zweistufigen Verfahrens allein, wie im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen, nicht ausreicht. Damit nahm das Drama seinen Lauf: Was sind „rechts- staatliche Grundsätze“, wie sie bei diesem Ausliefe- Lassen Sie mich zum Schluss anmerken, dass mit die- rungsgesetz zu beachten sind? sem Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl eine neue Ära der justiziellen und polizeilichen Am 19. September 2001 präsentierte die Kommission Zusammenarbeit in der Europäischen Union eingeleitet den Vorschlag eines Rahmenbeschlusses des Rates über 4122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) den Europäischen Haftbefehl und am 15. August 2003 Ein weiteres Haar wurde in der Suppe gefunden, näm- (C) lag uns der Entwurf der Bundesregierung vor. Es war lich das, was die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger Eile geboten, nicht etwa weil Bestrafung aus Europa an- angesprochen hat: die Rechtsmittelfähigkeit der so ge- gestanden hätte, sondern weil alle Mitgliedstaaten der nannten Bewilligungsentscheidungen. Seit es das Aus- Europäischen Union sich einig waren, dass in wenigen lieferungsrecht gibt, hat es das in Deutschland noch nie Monaten, nämlich ab dem 1. Januar 2004, dieses erleich- gegeben und das wurde unisono auch von den Gerichten terte Auslieferungsrecht für die gesamte Europäische und von den Rechtsgelehrten nicht verlangt. Auf einmal Union gelten sollte. Es galt also den Anschluss zu hal- ist dies völlig unerwartet eine Vorgabe des Verfassungs- ten. Verfassungsrechliche Rechtsprechung, an der wir gerichts. uns hätten orientieren können, gab es nicht. Deswegen Warum erzähle ich Ihnen dies alles? Weil der Grund- wurde dieser Gesetzentwurf mit der notwendigen Mehr- satz „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes heit im Deutschen Bundestag Gesetz. „Das war ja wohl Hand“ sicherlich auch für den jetzt vorliegenden Gesetz- nichts“, meinte die Frau Kollegin Leutheusser-Schnar- entwurf seine Anwendung finden könnte. renberger etwas feixend; denn das Bundesverfassungs- gericht hat dieses Gesetz mit Pauken und Trompeten (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aufgehoben. NEN]: Wird!) Meine lieben Kolleginnen, liebe Kollegen, wir kön- Wir haben anhand unseres eigenen Wissens, mit unseren nen nicht immer klüger sein, als mancher Richter das ist. eigenen intellektuellen Fähigkeiten und mithilfe von Und mancher Richter ist auch nicht klüger als das Bun- Fachbeamten des Justizministeriums zu prüfen, ob wir desverfassungsgericht. Denn kurz nachdem dieses diesen Gesetzentwurf verfassungsrechtlich vertreten Gesetz verabschiedet war, hat das Oberlandesgericht können oder nicht. Stuttgart – am 28. Januar 2005 – einen Beschluss verab- Ich verhehle nicht, dass man den einen oder anderen schiedet, dessen Ziffer 2 ich mir zu zitieren erlaube: Gedanken haben kann – der Kollege Montag wird dazu Gegen die Verfassungsmäßigkeit des neuen Auslie- noch etwas sagen –, wie man dieses Gesetz noch aufpep- ferungsrechts, insbesondere soweit es die Ausliefe- pen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen vom Bünd- rung Deutscher betrifft, bestehen keine durchgrei- nis 90/Die Grünen, nehmen Sie es uns aber nicht übel, fenden Bedenken. dass wir die Debatte, die Sie in der letzten Legislaturpe- riode mit Ihren Partnern nicht zu einem Ergebnis haben Da hat immerhin ein Oberlandesgericht, im Einverneh- führen können, nicht noch einmal entfachen. men mit den anderen Oberlandesgerichten, dem Gesetz- geber bestätigt: Du hast eine gute Arbeit geleistet. Wir wollen ein verfassungskonformes Gesetz, das wir (B) damit vorgelegt haben. Ich bin der Meinung, es ist ver- (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) fassungstauglich. Ob es gerichtsfest ist, werden wir viel- Das Bundesverfassungsgericht sah das anders. Damit leicht irgendwann einmal sehen. Es ist aber geeignet, muss eine Regierungskoalition und eine Regierung eher dem zuzustimmen. Darum bitte ich Sie. leben als die Opposition, weil in aller Regel die Mehr- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) heit im Deutschen Bundestag die Gesetze verabschiedet und sie dann auch vor dem Verfassungsgericht zu vertre- ten hat. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Der Kollege Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke, Aber was hat uns das Bundesverfassungsgericht in hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Damit erteile ich seiner Entscheidung präsentiert? Etwas, wovon nicht nur dem Kollegen Jerzy Montag, Fraktion des Bündnis- die Politiker, sondern auch die Rechtsgelehrten völlig ses 90/Die Grünen, das Wort. überrascht waren: Da hat man auf einmal eine dreistu- fige Prüfung eingeführt und war der Meinung, Ausliefe- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rungsfälle seien zu differenzieren nach dem so genann- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber ten maßgeblichen Inlandsbezug und nach dem Kollege Kauder, die Grünen haben bei diesem Thema maßgeblichen Auslandsbezug und, nicht zu vergessen, nicht gefeixt, wie Sie gesagt haben, sondern ich habe mir dann gäbe es auch noch Mischfälle, wo man nicht ein- erlaubt, Ihnen zuzulächeln, weil ich die elegante Einfüh- deutig sagen kann, ob ein maßgeblicher Inlandsbezug rung Ihres Vortrags so gut gefunden habe. oder ein maßgeblicher Auslandsbezug vorhanden ist. Das war also die dreistufige Prüfungsreihenfolge, die Mit allem Ernst: Ein Gesetz in einem zweiten Anlauf uns das Verfassungsgericht vorgegeben hat. formulieren zu müssen, das uns Abgeordneten des Bun- destages vom Bundesverfassungsgericht mit der etwas Aber auch die Verfassungsrichter erkannten dann süffisanten Bemerkung zurückgegeben worden ist, wir schnell, dass es nicht so einfach möglich ist, dieses Sys- sollten „Gelegenheit bekommen, nunmehr unseren Ver- tem durchzuhalten. Was machen wir denn mit der orga- fassungspflichten zu genügen“, ist nicht einfach. Ich er- nisierten Kriminalität, die länderübergreifend tätig ist? innere mich gut daran, dass ich am 11. März 2004 hier Na ja, dachten sich die hohen Herren bei Gericht, die pa- im Hohen Hause gesagt habe, wir seien durch den Rah- cken wir einfach unter eine der Fallarten, nämlich die menbeschluss über den Europäischen Haftbefehl ge- mit maßgeblichem Auslandsbezug. – Meine Damen und Herren, Sie sehen also: Es ist auch für ein Gericht nicht so einfach, mit diesen Problemen fertig zu werden. 1) Anlage 17 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4123

Jerzy Montag (A) zwungen, einige wichtige rechtsstaatliche Schutznormen kommen dem vielleicht, Herr Kollege Kauder, aber ein (C) des bewährten deutschen Auslieferungsrechts abzusen- gutes Gesetz ist das immer noch nicht. ken. Das Bundesverfassungsgericht hat dies anders gese- hen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir werden jetzt also in die Pflicht genommen, nach Wir haben deswegen im Rechtsausschuss konkrete den Vorgaben des Verfassungsgerichts nachzubessern. Verbesserungsvorschläge dazu gemacht. Aber Sie haben Dabei sollten wir die uns vom Gericht zurückgegebene mit uns nicht einmal die Diskussion über unsere Ände- Autonomie mutig nutzen und unsere Vorstellungen ei- rungswünsche geführt. Sie haben zu unseren Änderungs- nes rechtstaatlichen Auslieferungsverfahrens ohne vorschlägen im Rechtsausschuss geschwiegen. Weil Sie ängstliches Schielen auf den Rahmenbeschluss in die Tat die Diskussion nicht gesucht und unsere guten Verbesse- umsetzen. rungsvorschläge nicht akzeptiert haben, werden Sie, meine Damen und Herren von der großen Koalition, die (Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- Verantwortung für dieses Gesetz alleine zu tragen haben. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir Grünen werden diesem Gesetzentwurf nicht zustim- men. Leider muss ich der Koalition bescheinigen, diesen Mut nicht aufgebracht zu haben. Ich will das an der zentralen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frage verdeutlichen, wann ein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden kann. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Antwort, die in Ihrem Gesetz steht, lautet: Wenn Ich erteile das Wort dem Kollegen Carl-Christian seine Tat einen maßgeblichen Bezug zu dem Staat auf- Dressel, SPD-Fraktion. weist, der seine Auslieferung begehrt. – Das ist schwie- rig genug. Was aber ist ein maßgeblicher Bezug? Er soll Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): gegeben sein, wenn die Tat in wesentlichen Teilen in die- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich sem Staat begangen wurde und der Taterfolg in wesentli- mir einige der Vorredner, vor allem Frau Leutheusser- chen Teilen dort eingetreten ist oder wenn die Tat einen Schnarrenberger und Herrn Montag, anhöre, dann denke typisch grenzüberschreitenden Charakter hat. Was ist ich, es geht um die Auslieferung von Verfolgten an Staa- aber der „wesentliche Teil“ einer Tat und welche Taten ten wie China oder Kuba und nicht an Rechtsstaaten in- haben einen „grenzüberschreitenden Charakter“? Fragen nerhalb der Europäischen Union. Meine Damen und über Fragen. Herren, wir können darüber froh sein, dass wir in Europa ein rechtsstaatliches Gemeinschaftssystem erreicht ha- (B) Damit ist es aber noch nicht genug. Der Deutsche (D) kann auch ausgeliefert werden, wenn seine Tat keinen ben und dass der Europäische Rat bereits 1999 das Ziel maßgeblichen Bezug zu dem Staat aufweist, der seine formuliert hat, in Europa einen Raum der Freiheit, der Auslieferung begehrt. Sicherheit und des Rechts zu gestalten. Man fragt sich, warum und unter welchen Bedingun- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen das so sein soll. Das soll möglich sein, wenn seine NEN]: Gestalten zu wollen!) Tat auch keinen maßgeblichen Bezug zu Deutschland Europa ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Eu- hat, seine Tat – die maßgeblich wohl dann in einem ropa ist eine Rechtsgemeinschaft. Drittstaat begangen worden sein muss – nach deutschem Recht auch strafbar wäre und bei einer Abwägung der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Interessen des Staates, der die Auslieferung begehrt, ob- Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wohl zu ihm gar kein maßgeblicher Bezug besteht, im Das ist es noch nicht!) Verhältnis zu dem Interesse des Deutschen, nicht ausge- liefert zu werden, die Interessen gleichgewichtig sind Zu diesen Grundsätzen gehört auch, dass im Rahmen oder die staatlichen Interessen überwiegen. – Das soll ei- eines rechtsstaatlichen Verfahrens die strafrechtliche ner verstehen, der als Betroffener vor einer Auslieferung Verfolgung über die Grenzen hinaus ermöglicht wird. zum Beispiel nach Lettland steht. Wir haben den europäischen Rahmenbeschluss jetzt Es kommt aber noch schlimmer. Bei diesen letztge- umzusetzen, nachdem es im ersten Anlauf nicht geklappt nannten Abwägungen zwischen den Interessen des Staa- hat. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass tes und des betroffenen Bürgers sind ins Verhältnis zu dem Gesetzgeber, da tragende verfassungsrechtliche setzen die praktischen Erfordernisse und Möglichkeiten Gründe nicht gehalten haben, Gelegenheit gegeben wer- einer effektiven Strafverfolgung unter Berücksichtigung den muss, das Gesetz in seiner Gesamtheit neu zu bera- der mit der Schaffung eines europäischen Rechtsraums ten und die Möglichkeit zu schaffen, sowohl verfas- verbundenen Ziele mit den grundrechtlich geschützten sungskonform als auch rahmenbeschlusskonform zu Interessen des Betroffenen. – Das alles steht in dem Ge- einer Umsetzung zu kommen. setz. Das haben Sie wortwörtlich aus der Entscheidung (Zuruf von der FDP: Das habe ich nicht ver- des Bundesverfassungsgerichts abgeschrieben. Sie glau- standen!) ben, indem Sie solche Begriffskaskaden ins Gesetz auf- nehmen, könnten Sie einer nochmaligen Entscheidung – Das steht unter Randnummer 116 B II der Entschei- des Bundesverfassungsgerichts entkommen. Sie ent- dung des Bundesverfassungsgerichts. 4124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Carl-Christian Dressel (A) Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie sagen immer, Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- (C) das Gesetz sei insgesamt für nichtig erklärt worden. Das desregierung eingebrachten Entwurf eines Europäischen ist die normale Folgen, derer sich das Bundesverfas- Haftbefehlgesetzes, Drucksache 16/1024. Der Rechts- sungsgericht bedient, wenn es sich um die tragenden ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss- Entscheidungen eines Gesetzes handelt. Wir haben in empfehlung auf Drucksache 16/2015, den Gesetzent- dem vorliegenden Gesetzentwurf die Vorgaben des Bun- wurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte desverfassungsgerichts berücksichtigt. diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Ich sehe keinen Grund, daran zu zweifeln, ob ver- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf fassungsgerichtliche Vorgaben – durchaus auch im Wort- ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der CDU/ laut – im Gesetz erscheinen können. Ganz im Gegenteil: CSU und der SPD gegen die Stimmen der drei anderen Es ist gute rechtsstaatliche Tradition, sowohl Begriff- Fraktionen angenommen. lichkeiten aus gerichtlichen Entscheidungen zu überneh- men, als auch die Entscheidung im Einzelfall Behörden Dritte Beratung und Gerichten zu überlassen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Wir können als Gesetzgeber nicht für jeden denkba- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – ren Einzelfall Vorsorge treffen. Wir können die Grund- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- sätze vorgeben; über den Einzelfall entscheiden Behör- wurf ist mit den gleichen Mehrheiten wie soeben ange- den und Gerichte. Und tun wir nicht so, als ob das etwas nommen. Neues wäre! Das ist im deutschen Rechtsstaat schon seit Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten so. antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/2044. Wer (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt NEN]: Seit Jahrhunderten ein Rechtsstaat? Sie dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag vergaloppieren sich ein bisschen!) ist damit mit den Stimmen der CDU/CSU und der SPD bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die – Herr Montag, die gesetzliche Regelung der Einzelfall- Stimmen der FDP und der Linken abgelehnt. entscheidung gibt es bei uns seit dem 19. Jahrhundert, auch schon vor Einführung des Rechtsstaates. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem von den Fraktionen der CDU/ (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]: CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Europäi- Sagen Sie doch mal konkret etwas zum Ge- schen Haftbefehlgesetzes, Drucksache 16/544. Der setzentwurf!) (B) Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- (D) – Ich sage Ihnen gerne konkret, Frau Leutheusser- schlussempfehlung auf Drucksache 16/2015, den Ge- Schnarrenberger: Wenn Sie aufgrund von Nichtanfecht- setzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für barkeiten der Entscheidung der Bewilligungsbehörde, diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- die wir ursprünglich vorgesehen hatten, jetzt plötzlich tungen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig an- den Zusammenbruch des Rechtsstaates befürchten, dann genommen. ist Ihnen offenbar eine Vorschrift wie § 44 a der Verwal- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: tungsgerichtsordnung nicht bekannt, derzufolge eine notwendige Zwischenentscheidung nicht isoliert an- Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim fechtbar ist, sondern erst im Rahmen der Gesamtent- Dagdelen, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abge- scheidung. Dann ist wahrscheinlich die Hälfte aller Bau- ordneter und der Fraktion der LINKEN genehmigungen, die bei Zwischenentscheidungen nicht Einbürgerungen erleichtern – Ausgrenzungen isoliert anzufechten waren, rechtsstaatswidrig. Diese ausschließen Auffassung kann ich nicht teilen, Frau Leutheusser- Schnarrenberger. – Drucksache 16/1770 – Überweisungsvorschlag: Mit dem Europäischen Haftbefehl werden wir die Zu- Innenausschuss (f) sammenarbeit zwischen den europäischen Staaten erheb- Rechtsausschuss lich beschleunigen und die Kriminalitätsbekämpfung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie verbessern. Wir haben ein durch die Bank gutes Gesetz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geschaffen, das sich an den Vorgaben des Bundesverfas- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sungsgerichts orientiert. Lassen Sie uns die Grundlage Die Beiträge der Kollegen Kammer, Veit, Wolff für eine vernünftige Zusammenarbeit bei der Kriminali- (Rems-Murr), Dagdelen und Winkler zu diesem Tages- tätsbekämpfung in Europa auch im strafrechtlichen Be- ordnungspunkt sind zu Protokoll gegeben.1) reich schaffen. Ich schließe die Aussprache. Ich danke Ihnen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Drucksache 16/1770 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aussprache. 1) Anlage 18 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4125

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Die Reden der Kollegen Manfred Grund, Uta Zapf, (C) so beschlossen. Harald Leibrecht und Wolfgang Gehrcke3) zu diesem Tagesordnungspunkt sind zu Protokoll gegeben.4) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Ich schließe die Aussprache. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und Drucksache 16/1977 an den Auswärtigen Ausschuss der Vermögensabschöpfung bei Straftaten vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. – Drucksache 16/700 – Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b so- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- wie die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: schusses (6. Ausschuss) 20 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ – Drucksache 16/2021 – CSU und der SPD Berichterstattung: UN-Überprüfungskonferenz als Chance zur Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen- wirksamen Kontrolle des Handels mit Klein- Schwenningen) waffen und leichten Waffen nutzen Dr. Peter Danckert – Drucksache 16/1894 – Jörg van Essen Sevim Dagdelen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger Jerzy Montag Haibach, Erika Steinbach, Carl-Eduard von Bis- marck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die Reden der Kollegen Siegfried Kauder, Peter der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Herta Danckert, Jörg van Essen, Sevim Dagdelen und Jerzy Däubler-Gmelin, Christoph Strässer, Niels An- Montag zu diesem Tagesordnungspunkt sind zu Pro- nen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der tokoll gegeben1), genauso wie die Rede des Parlamenta- SPD rischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach2). Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten Ich schließe die Aussprache. Nationen zum Erfolg führen Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- – Drucksache 16/1891 – (B) desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Stärkung ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried (D) der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöp- Nachtwei, Alexander Bonde, Jürgen Trittin, wei- fung bei Straftaten, Drucksache 16/700. Der Rechtsaus- terer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf NISSES 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/2021, den Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Waffen unter Kontrolle – Für eine umfassende dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen Begrenzung und Kontrolle des Handels mit wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Kleinwaffen und Munition Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltungen – Drucksache 16/1967 – der Fraktionen der FDP und Die Linke mit den Stimmen Überweisungsvorschlag: der anderen Fraktionen angenommen. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f) Auswärtiger Ausschuss Dritte Beratung Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Verteidigungsausschuss Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Entwicklung wurf ist mit der gleichen Mehrheit wie soeben angenom- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union men. ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Alexan- Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: der Bonde, weiterer Abgeordneter und der Frak- Beratung des Antrags der Fraktionen der FDP tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten Demokratiebewegung in Belarus unterstützen Nationen intensiv unterstützen – Drucksache 16/1977 – – Drucksache 16/1968 – Überweisungsvorschlag: Die Reden der Kollegen Holger Haibach, Carl-Edu- Auswärtiger Ausschuss ard von Bismarck, Herta Däubler-Gmelin, Christoph

1) Anlage 19 3) Rede lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. 2) Rede lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. 4) Anlage 20 4126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Strässer, Florian Toncar, Michael Leutert und Volker Carl-Ludwig Thiele (FDP): (C) Beck sind zu Protokoll gegeben.1) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nachdem in den Medien Ich schließe die Aussprache. darüber berichtet wurde, nachdem sich Koalitionsar- Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der beitsgruppen damit beschäftigt haben, ist es gut, dass uns Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck- heute dieser Antrag vorliegt. Dies trägt dazu bei, dass sache 16/1894 mit dem Titel „UN-Überprüfungskon- wir die Real Estate Investment Trusts entsprechend vo- ferenz als Chance zur wirksamen Kontrolle des Handels rantreiben. Wir brauchen das. In der Koalitionsvereinba- mit Kleinwaffen und leichten Waffen nutzen“. Wer rung gibt es sogar eine entsprechende Absichtserklä- stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Ent- rung; aber wir haben REITs noch nicht. haltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/ Die SPD-Linken machen erheblich Stimmung gegen CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion die Einführung von REITs. Vielleicht ist auch ihnen das Die Linke und der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- Papier „Heuschrecken vor der Haustür“ bekannt. nen angenommen. (Zurufe von der SPD: Vor der Wohnungstür!) Tagesordnungspunkt 20 b. Abstimmung über den An- trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf der – Vor der Tür, Entschuldigung! Drucksache 16/1891 mit dem Titel „Den neuen Men- (Florian Pronold [SPD]: Vor der Wohnungs- schenrechtsrat der Vereinten Nationen zum Erfolg füh- tür!) ren“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen – In meinem Text steht „Heuschrecken vor der Tür“. der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion Die Linke (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist die gegen die Stimmen der Grünen angenommen. dritte Auflage!) Zusatzpunkt 7. Interfraktionell wird Überweisung der Heuschrecken möchte natürlich niemand gern in seiner Vorlage auf Drucksache 16/1967 an die in der Tagesord- Wohnung haben. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Worum geht es? Es geht hier aus meiner Sicht im We- Überweisung so beschlossen. sentlichen darum, ideologische Vorbehalte der SPD-Lin- ken in dieser Frage endlich einmal über Bord zu werfen. Zusatzpunkt 8. Abstimmung über den Antrag der Auch für die CDU/CSU-SPD-Koalition sollte gelten: Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Wir wollen nicht nur wissen, was in Deutschland nicht (B) Drucksache 16/1968 mit dem Titel „Den neuen Men- geht, sondern wir wollen endlich auch einmal wissen, (D) schenrechtsrat der Vereinten Nationen intensiv unterstüt- dass etwas geht in Deutschland. zen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stimmen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der anderen der CDU/CSU) Fraktionen abgelehnt. Deshalb werden wir als FDP in diesem Bereich aktiv. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: (Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau) Beratung des Antrags der Abgeordneten Carl- Die Ängste der Menschen werden geschürt; aber kei- Ludwig Thiele, Frank Schäffler, Dr. Hermann ner wird durch den Verkauf einer Wohnung schlechter Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Frak- gestellt. Es ist in diesem Zusammenhang darauf hinzu- tion der FDP weisen, dass gerade unter einem SPD-geführten Ressort noch in der letzten Wahlperiode Hunderttausende von REITs – Real Estate Investment Trusts in Wohnungen an Mieter, an Investoren veräußert wurden. Deutschland einführen Dies war also schon in der Vergangenheit ein Prinzip der – Drucksache 16/1896 – Sozialdemokraten. Insofern kann man jetzt nicht sagen: Dieser Weg sollte nicht gegangen werden. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Zuletzt noch Ausschuss für Wirtschaft und Technologie in Dresden war das! FDP-Bürgermeister!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die – Zuletzt in Dresden. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Wi- Der Bereich der Immobilienwirtschaft wird aus mei- derspruch. Dann ist so beschlossen. ner Sicht in Deutschland generell unterschätzt, auch was die Werthaltigkeit angeht. Nach einer Untersuchung des Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Ifo-Instituts beläuft sich der Wert inklusive des Grund- Carl-Ludwig Thiele, FDP-Fraktion, das Wort. stückwertes aller in Deutschland gehaltenen Immobilien auf über 7 000 Milliarden Euro. In diesem Bereich sind (Beifall bei der FDP) über 400 000 Menschen beschäftigt. Auch die volkswirt- schaftliche Bedeutung dieses Bereichs sollte stärker als 1) Anlage 21 bisher wahrgenommen werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4127

Carl-Ludwig Thiele (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dern. Es ist nur die Frage: Findet das Geschäft in (C) der CDU/CSU) Deutschland statt Warum ist es so wichtig, die REITs nun einzuführen? (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es! Sehr Ich möchte hier vier Gründe nennen. richtig!) Erstens. Als Anlageklasse wird die Immobilie auch in oder findet es in anderen Ländern statt? Zukunft an Attraktivität gewinnen. Sie sichert durch die (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ Mietverträge nachhaltige Erträge und ist insbesondere CSU]) interessant, um Rentenverpflichtungen – Pensionsfonds und Ähnliches – erfüllen zu können. Insofern ist es ein Ich habe inzwischen wirklich die Nase voll davon, dass guter Weg, die Immobilie für die Zukunft attraktiver zu wir in Deutschland immer nur zeigen, was nicht geht. gestalten. Wir sollten uns bemühen, die Sache flott zu machen. Wir werden das weitertreiben. Deshalb halte ich es für rich- Zweitens. Die deutschen Unternehmen haben im Ver- tig, dass dieser Weg gegangen wird. gleich mit denen anderer Länder eine sehr niedrige Ei- genkapitalrendite, aber überdurchschnittlich viel Immo- (Zuruf von der CDU/CSU: Wo er Recht hat, bilienbesitz. Eine Studie der Technischen Universität hat er Recht!) Darmstadt hat ergeben, dass die Immobilieneigentums- Lassen Sie mich abschließend noch ein paar Sätze quote deutscher Unternehmen noch immer bei durch- zum Verfahren sagen. Es ist öffentlich bekannt, dass eine schnittlich rund 60 Prozent liegt. Im internationalen Ver- Koalitionsarbeitsgruppe seit längerem an der Lösung gleich sind 30 bis 40 Prozent üblich. der Probleme arbeitet. (Frank Schäffler [FDP]: Stille Reserve!) (Frank Schäffler [FDP]: Nicht mehr!) Insofern gibt es hier stille Reserven. Sie werden anders Presseberichten zufolge ist sie zu einem Ergebnis ge- bilanziert werden müssen. Aufgrund dessen werden kommen, dass sie nämlich in der Koalition kein Ergeb- diese Reserven auch einer anderen Besteuerung zuge- nis erzielt hat, und insofern ist sie auseinander gegangen. führt werden. Wir brauchen in Deutschland eine bessere Eigenkapitalausstattung der Unternehmen. Deshalb soll- (Frank Schäffler [FDP]: Unglaublich! – Leo ten wir dazu beitragen, dass die dort liegenden Werte ge- Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir haben ein Er- hoben werden, um die Eigenkapitalsituation der Unter- gebnis!) nehmen zu stärken. Ich begrüße ausdrücklich, dass das Bundesfinanzmi- (B) Das ist eine der Voraussetzungen dafür, dass die Un- nisterium abweichend von Regeln, die es sonst gegeben (D) ternehmen wettbewerbsfähiger werden, dass investiert hat, öffentlich erklärt hat, noch in der Sommerpause, werden kann und dass Arbeitsplätze geschaffen werden spätestens im September einen Gesetzentwurf einzubrin- können. Das sollte in unser aller Interesse sein. In den gen. Wir freuen uns, dass unser Antrag schon jetzt in Fragen des Finanzplatzes Deutschland waren wir bislang dieser Form vom Finanzministerium aufgenommen fraktionsübergreifend einer Meinung. Wir sollten alles wurde, und hoffen, dass den Finanzminister der Mut mit tun, was den Finanzplatz stärkt. Also lassen Sie uns bitte Blick auf einzelne Linke, die in dieser Frage für die auch in dieser Frage so verfahren! SPD-Fraktion leider federführend verhandelt haben, nicht verlässt. Wir wünschen uns, dass das Gesetz (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schnellstmöglich eingebracht wird, damit dann in Ruhe der CDU/CSU) die Details so beraten werden können, dass zum 1. Ja- Drittens. Auch der öffentliche Sektor verfügt über nuar 2007 ein vernünftiges Gesetz in Kraft treten kann. Immobilienbesitz, besonders Wohnimmobilien. Einzelne Herzlichen Dank. Kommunen, Dresden zum Beispiel, sind vorangegan- gen. Aber es ist die Frage, ob der Verkauf an Investoren (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten erforderlich ist oder ob man auch andere Beteiligungs- der CDU/CSU) formen finden kann, die es den Kommunen ermöglichen, sich selbst wieder an diesen Immobilienwerten zu betei- Vizepräsidentin Petra Pau: ligen. Von daher halte ich es für richtig, dass dieser Weg Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg für die endlich geöffnet wird. Unionsfraktion. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Daut- (Beifall bei der CDU/CSU) zenberg [CDU/CSU]) Viertens. In den USA gibt es REITs bereits seit den Leo Dautzenberg (CDU/CSU): 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Es gibt sie seit lan- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fi- gem in den Niederlanden und Australien, seit mehr als nanzmarktpolitik war und ist erfreulicherweise ein Ge- zehn Jahren in Kanada, seit Beginn des Jahrtausends in biet, auf dem fraktionsübergreifend viele Schnittmengen vielen asiatischen Ländern, seit 2003 direkt vor unserer und gemeinsame Zielvorstellungen gegeben waren; da- Haustür in Frankreich und voraussichtlich ab dem nächs- rin, Kollege Thiele, waren wir uns immer einig. Dass ten Jahr auch in Großbritannien. Das zeigt: Deutschland dem so ist, haben wir in dieser Woche, auch heute, ge- kann die Etablierung von REITs überhaupt nicht verhin- zeigt, indem wir Basel II verabschiedet haben. 4128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Leo Dautzenberg (A) Zum Thema REITs und zum FDP-Antrag zur Einfüh- kann die verlässliche Besteuerung beim Anleger sicher- (C) rung von Real Estate Investment Trusts, kurz „REITs“ gestellt werden? Zu all diesen Fragen haben wir in der genannt, in Deutschland. Auch hier haben wir gemein- Arbeitsgruppe Expertengespräche geführt. Parallel dazu same Zielvorstellungen. Die Union hat bereits im hat sich auch das Bundesministerium der Finanzen da- Februar 2005 einen Antrag in den Deutschen Bundestag rangemacht, die Fragen zu beantworten. eingebracht, der die gleiche Zielrichtung verfolgt wie der heute hier zu debattierende Antrag der FDP. Vermu- In der Zwischenzeit hat das Ministerium alle drei Fra- tungen darüber, ob man den zum Anlass genommen hat, gen sehr eindeutig positiv beantwortet. Leider sind wir das Thema aus der Sicht der FDP zu aktualisieren, sind aber, anders als das Ministerium, mit den drei Kollegen nicht so sehr angebracht. Ich kann dem Kollegen Thiele der SPD in der Arbeitsgruppe nicht zu einer einvernehm- nur sagen: Was wir in Oppositionszeiten für richtig ge- lichen Beantwortung der Fragen gekommen, obwohl halten haben, halten wir im Grunde auch in Regierungs- – das sage ich sehr deutlich – auch die Experten, mit de- zeiten für richtig. nen wir gesprochen haben, mehrheitlich die Bedingun- gen des Koalitionsvertrages als erfüllt ansehen. Für die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf Union kann ich daher sagen: Wir haben uns ausführlich von der CDU/CSU: Das zeichnet uns aus!) mit den Folgewirkungen einer Einführung von REITs Die Union war und ist derzeit dezidiert der Überzeu- beschäftigt und teilen ausdrücklich die positive Bewer- gung, dass ein deutscher REIT eine Bereicherung für tung des Finanzministeriums und der Experten. den Finanzplatz Deutschland wäre. Insofern stimme Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz auf ich dem Antrag der FDP zu, der im Übrigen nichts ande- die einzelnen Bedingungen eingehen, die wir an die Ein- res fordert, als sich die Koalitionsfraktionen im Koali- führung von REITs knüpfen: tionsvertrag ohnehin selbst als Aufgabe gestellt haben. Ich komme zunächst zur Frage der Auswirkungen (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sehr auf den Standort. Diese ist sehr leicht zu beantworten: richtig!) Die Auswirkungen auf den Finanzplatz wären positiv. Die FDP fordert, zur Besteuerung von REITs eine Wenn wir nicht rechtzeitig REITs zulassen – Kollege Lösung zu finden, die erstens nicht mit der Lage der öf- Thiele, Sie haben das betont –, werden zukünftig noch fentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Gemein- weitere Investitionsvolumina am deutschen Markt vor- den kollidiert, zweitens eine verlässliche Besteuerung beigehen. beim Anleger sicherstellt und drittens positive Wirkun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gen auf den Immobilienmarkt und die Standortbedingun- gen erwarten lässt. (B) Dann werden REITs im Ausland platziert; dabei handelt (D) An exakt diese Bedingungen knüpfen auch die Koali- es sich dann zwar um Immobilienvermögen von Deut- tionsfraktionen von CDU/CSU und SPD in ihrem Koali- schen, aber die Platzierung erfolgt eben im Ausland. tionsvertrag die Einführung von REITs. Dazu darf ich REITs sind dazu geeignet, das Anlagespektrum zu er- den entsprechenden Passus aus dem Koalitionsvertrag weitern. Gerade für institutionelle Investoren wie Versi- kurz zitieren. Dort heißt es: cherungen und Altersvorsorgeeinrichtungen ist ein REIT Produktinnovationen und neue Vertriebswege müs- ein wertvolles Produkt. Es dient zur Diversifizierung sen nachdrücklich unterstützt werden. Dazu wollen und Stabilisierung des Portfolios. Ganz anders als in der wir die Rahmenbedingungen für neue Anlageklas- Öffentlichkeit oftmals dargestellt, ist das Ziel eines sen in Deutschland schaffen. Hierzu gehören: REIT eben nicht die Renditemaximierung, sondern viel- – Die Einführung von Real Estate Investment mehr der stetige Ertrag auf hohem Niveau. Das liegt da- Trusts (Reits) unter der Bedingung, dass die ver- ran, dass REITs einen langfristigen Anlagehorizont ha- lässliche Besteuerung beim Anleger sichergestellt ben. wird und positive Wirkungen auf Immobilienmarkt Wer sich einmal diese Eigenschaften eines REITs ver- und Standortbedingungen zu erwarten sind, … gegenwärtigt, der begreift auch sehr schnell, dass die So weit das Zitat aus dem Koalitionsvertrag. Befürchtungen, es könne durch REITs zu negativen Auswirkungen auf dem Wohnungsmarkt kommen, (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Schäffler unbegründet sind. Wenn ein REIT einen langfristigen [FDP]: Wenn nur alles so klar formuliert wäre Anlagehorizont hat und auf stetige Erträge setzt, warum im Koalitionsvertrag!) sollte er dann, so frage ich Sie, mit Wohnungen spekulie- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und ren, sie womöglich aufteilen und damit schnelles Tra- Kollegen, wie Sie wissen, haben die Koalitionsfraktio- ding betreiben? Diese Befürchtungen entbehren jeder nen CDU/CSU und SPD im Frühjahr eine Arbeits- Grundlage. Das Gegenteil ist richtig: Gerade Wohnungs- gruppe eingesetzt, die genau die Frage klären sollte, ob REITs sind Bestands-REITs. Sie erzielen ihre Rendite die Bedingungen, die im Koalitionsvertrag an die Ein- nicht über Spekulation und horrende Mietsteigerungen, führung von REITs geknüpft sind, auch tatsächlich (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) erfüllt bzw. erfüllbar sind. Wir haben uns in der Arbeits- gruppe also folgende Fragen gestellt: Welche Auswir- sondern über Wertsteigerungen der Immobilienbestände, kungen haben REITs auf den Standort? Welche Auswir- also des Portfolios. Von daher ist damit auch eine nach- kungen haben REITs auf den Immobilienmarkt? Wie haltige Bestandsbewirtschaftung sichergestellt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4129

Leo Dautzenberg (A) (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sehr Vizepräsidentin Petra Pau: (C) richtig!) Die Rede des Kollegen Axel Troost von der Fraktion Die Linke haben wir zu Protokoll genommen.1) Die Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Dr. Hendricks, hat dies jüngst auch ausdrücklich betont. Das Wort hat der Kollege Florian Pronold für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Florian Pronold (SPD): Sie sehen, meine Damen und Herren, die Befürchtun- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und gen, die REIT-Kritiker gerade mit Blick auf die Auswir- Kollegen! Liebe neue Freunde in der Fraktion! Die The- kungen auf den Wohnungsmarkt vortragen, sind ideolo- matik REITs ist tatsächlich breit in der Öffentlichkeit giegetrieben und keinesfalls sachlich begründet. Ich diskutiert worden, kann das so deutlich sagen, weil ich die Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft und das Bundesfinanz- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und wird es ministerium auf meiner Seite habe. Von daher sind die auch noch!) positiven Auswirkungen für den Immobilienmarkt deut- mit einer bestimmten Darstellungsweise in den Zeitun- lich herauszustellen. gen, die die Problemkonstellationen aber nicht wirklich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) widerspiegelt. Wir haben im Koalitionsvertrag sehr klar geregelt, Bei der dritten Bedingung, die wir zu beleuchten hat- dass drei Bedingungen erfüllt sein müssen, bevor wir an ten, ging es um die Sicherstellung der Besteuerungs- die Einführung von REITs in Deutschland denken. Diese basis beim Anleger. In der Vergangenheit war es so, Bedingungen sind zitiert worden. Sie müssen erfüllt dass dem Vermögenstrustmodell zum Teil eine gewisse sein, bevor REITs in Deutschland eingeführt wird. Des- Präferenz eingeräumt wurde. Man hat bei der Einfüh- wegen muss man nüchtern überprüfen, ob diese Bedin- rung in England gesehen, dass das Dividendenmodell gungen aufgrund dessen, was bisher vorgelegt worden mit Streubesitz auch für Deutschland gerade zur Sicher- ist, erfüllt werden können. Da kommt die SPD-Arbeits- stellung der Besteuerungsbasis für den ausländischen gruppe zu einer anderen Einschätzung als die Arbeits- Anleger das bessere Instrumentarium darstellt. Von da- gruppe der Union. her hat das Bundesfinanzministerium sich dazu entschie- den, das Dividendenmodell mit Streubesitz für die Be- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und der steuerungsbasis sicherzustellen. Finanzminister!) (B) Herr Kollege Pronold, von daher sagen Äußerungen – Das werden wir einmal sehen. (D) wie „Je nachdem, wie das Doppelbesteuerungsabkom- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: War das jetzt men ausfällt, werden ausländische Investoren nur mit eine Drohung?) 10 Prozent oder 15 Prozent besteuert“ – das ist dann die Besteuerung hier in Deutschland – noch nichts darüber – Nein, jetzt warten wir halt ab, wie der Gesetzentwurf aus, wie die Gesamtsteuerbelastung ist, weil der Betref- aussieht und wie sich das insgesamt verhält. Hören Sie sich einmal zusammenhängend an, welche andere Sicht- fende als Ausländer an seinem Wohnsitz mit einer eige- weise man da auch haben kann! Vielleicht prüfen Sie nen Steuer belegt wird. Es ist eine verzerrte Darstellung, kritisch – statt sich wie ein Mitglied Ihrer Fraktion in ei- wenn man sagt, das sei eine Begünstigung des ausländi- nen lukrativen Aufsichtsrat wählen zu lassen –, schen Investors. Die Besteuerungsgrundlage ist sicher- gestellt. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eine Unverschämtheit!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wie man die Einführung von REITs voranbringen kann! Der Bundesfinanzminister hat vor kurzem erklärt, Es wird eine Form von Lobbyismus praktiziert, die zu- dass REITs zu den zentralen finanzmarktpolitischen Re- mindest hier ein Stück weit bedenklich stimmen darf. formvorhaben dieser Legislaturperiode gehören und dass (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist es für den Finanzstandort Deutschland wichtig ist, dass typisch Pronold!) REITs, wie geplant, zum 1. Januar 2007 eingeführt wer- den, weil sonst die Gefahr der Abwanderung von deut- Fangen wir bei der Frage der Sicherstellung der schem Immobilienvermögen in ausländische REITs be- Besteuerungsgrundlagen im Inland an. Das ist eine steht. ganz wichtige Frage, die uns angesichts der Haushalts- lage besonders interessieren muss. Die Finanzpolitiker der Union unterstützen den Finanzminister ausdrücklich in dieser Position. Wie das (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) Ministerium und wie auch die FDP in ihrem Antrag for- Nach der Konstruktion von REITs soll ein REIT auf muliert, sind wir der Ansicht: Die Zeit ist reif für einen der Unternehmensebene steuerfrei gestellt werden, da- Gesetzentwurf zu REITs. mit bei den Anlegern die Besteuerung insgesamt durch die hohen Ausschüttungsverpflichtungen sichergestellt Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 1) Anlage 22 4130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Florian Pronold (A) werden kann und damit das, was uns auf der Unterneh- werden. – Insofern gehe ich davon aus: Wenn es einen (C) mensebene entgeht, bei dem Anleger besteuert wird. Entwurf geben wird, dann wird es auch eine Anhörung geben. Ich wäre jedenfalls sehr dafür. Dann kann beraten (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das war werden. Auch in anderen Fragen, die den Finanzplatz schon immer klar!) betreffen, wird es uns dann gelingen, Anregungen und Wir haben in der Geschichte von REITs verschiedene Bedenken mit aufzunehmen. Im Ergebnis können wir Modelle erlebt. Die Besteuerungsgrundlagen haben sich versuchen, konsensual eine Lösung zu finden. immer geändert, aber eines soll gleich geblieben sein, Meine Frage lautet: Warum blockieren Sie schon die nämlich dass die Besteuerung des Anlegers im Inland in Einbringung eines Gesetzentwurfes und damit das In- allen Fällen sichergestellt war. Jetzt stelle ich eine span- Gang-Setzen eines solchen parlamentarischen Verfah- nende Frage. Das Trustmodell hat in der Frage einen gu- rens? Die Fragen können gestellt werden; das ist richtig ten Ansatz; es beachtet nämlich das Belegenheitsprinzip. und legitim. Aber warum darf hier nicht etwas gesche- Das Einzige, auch im Rahmen der internationalen Ab- hen und das Parlament sich nicht in der Öffentlichkeit kommen, wo wir als Staat noch die Möglichkeit haben, mit Themen beschäftigen, die von Ihnen nur in Arbeits- Steuern festzulegen, ist bei den Einkünften aus Grund- gruppen, in Dunkelzimmern behandelt werden? stücken. Deswegen hat das Trustmodell des IFD vorge- sehen, dass es sich weiterhin um Einnahmen aus Vermie- tung und Verpachtung handelt. Denn es ist sehr wohl Florian Pronold (SPD): erkannt worden, dass die Anlegerbesteuerung im Inland Wir haben doch einen ganz eindeutigen Koalitions- mit Dividendenausschüttungen nicht gewährleistet wer- vertrag. In dem steht, dass wir die Einführung von REITs den kann. Von dem IFD-Modell hat man sich in der De- dann ins Auge fassen, wenn die Vorbedingungen geklärt batte jedoch verabschiedet, einmal abgesehen davon, sind. Es soll nicht so laufen, dass man irgendwie anfängt dass es in anderer Hinsicht sehr problematische Kon- und dann schaut, ob man das Ganze hinbekommt und struktionen hatte. was dabei herauskommt. (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Aha!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So läppisch ist das vom Finanzminister auch nicht gedacht!) Nun kommen wir zu der Frage: Was ist im Fall einer Dividendenausschüttung? Dann sind wir nämlich bei – Das nehme ich auch nicht an. Deswegen sind wir heute dem Doppelbesteuerungsabkommen. Wenn der Anle- hier, um die Fragen zu erörtern. Sie sehen ja, dass das ger in Deutschland den normalen Steuersatz oder viel- auch im parlamentarischen Verfahren geht. Dazu tragen leicht auch den Abgeltungssteuersatz zahlen soll, dann Sie mit Ihrem Antrag bei, in dem Sie nichts anderes ab- reden wir über eine Besteuerung des inländischen An- schreiben als den Koalitionsvertrag. (B) (D) teilseigners an einem deutschen REIT zwischen 30 und 42 Prozent. Derjenige, der an einem deutschen REIT im (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ach nein!) Ausland beteiligt ist, zahlt in Deutschland – nur das inte- – Doch. ressiert mich als Haushaltspolitiker – 10 Prozent, also ein Drittel davon. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Heißt das im Umkehrschluss, dass Sie unterstützen, was da- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Stimmt ja nicht! rin steht?) Er zahlt je nach Doppelbesteuerung!) – Ich stehe vollkommen hinter dem, was der Koalitions- Da stellt sich die Frage, ob wir das, was wir auf der Un- vertrag vorgibt, nämlich dass drei Bedingungen erfüllt ternehmensebene nicht besteuern, im Inland wieder be- sein müssen, bevor wir an die Einführung denken. steuern. Sie können mir nicht sagen, dass dabei das Glei- che herauskommt. Lassen Sie mich auch zu den anderen Bedingungen etwas sagen; dann kommen wir zu einer weiteren span- (Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP] meldet sich nenden Frage. Man erinnere sich an eine der ersten gro- zu einer Zwischenfrage) ßen Taten unserer großen Koalition: Wir haben Steuer- – Gern, Herr Thiele. sparmodelle abgeschafft, die darauf beruhten, dass es steuerliche Anreize dafür gab, aus ökonomischen Grün- Vizepräsidentin Petra Pau: den Entscheidungen zu treffen, die man aus betriebswirt- Herzlichen Dank für die Hilfe. schaftlichen Gründen sonst vielleicht nicht getroffen hätte. Carl-Ludwig Thiele (FDP): (Zuruf des Abg. Christian Freiherr von Stetten Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Ich habe nur [CDU/CSU]) eine Frage, Herr Pronold. Dass in dem ganzen Bereich – Ja, das meine ich. Das habe ich das letzte Mal im Zu- Steuerfragen eine Rolle spielen, ist, glaube ich, unstrei- sammenhang mit den Windkraftfonds angesprochen. tig. Das Finanzministerium möchte einen Gesetzentwurf einbringen; das ist allgemein bekannt. Der Finanzminis- Jetzt sind wir an einem spannenden Punkt. Nicht nur ter hat es erklärt, Herr Staatssekretär Mirow ebenso. Ich die Immobilienwirtschaft will Trusts wie die REITs. erinnere an die Worte des Fraktionsvorsitzenden der Jetzt gibt es auch Forderungen nach dem FIT, dem Film SPD, der gesagt hat: Ein Gesetzentwurf, der in den Investment Trust. Demnächst wird es auch irgendwelche Bundestag hineingeht, kann im Bundestag verändert Schiffsbauer geben, die einen entsprechenden Trust für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4131

Florian Pronold (A) Schiffe haben wollen. Da stellt sich die Frage: Was sol- Man muss auch bedenken, dass die Kommunen über (C) len Steueranreize, wenn es dafür überhaupt keine ökono- Wohngeld die Mieterhöhungen bei Wohnungen aus ei- mische und volkswirtschaftliche Begründung gibt? nem schlechten Wohnungsbestand mitbezahlen. Es muss uns natürlich interessieren, ob diese Punkte geklärt sind. Im Hinblick auf die Anlegerbesteuerung gibt es eine hoch spannende europarechtliche Problematik. Denn (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ausländische REITs können theoretisch in Deutschland Für eine Bemerkung zur Standortfrage habe ich kaufen. Das werden sie auch machen, unabhängig da- keine Zeit mehr. Ich weiß aber, wie spannend dieses von, ob wir REITs in Deutschland einführen oder nicht. Thema ist. Ich bin mir sicher, dass wir bei anderer Gele- Aber es gilt nach wie vor das Belegenheitsprinzip, wo- genheit die Möglichkeit haben, darüber zu sprechen. Ei- nach auf Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung nes ist mir wichtig: Die Debatte muss vernünftig und un- hier Steuern gezahlt werden müssen. ideologisch geführt werden. Wir müssen uns fragen, ob Wenn wir den German REIT einführen, den wir auf diese Bedingungen erfüllt sind. der Unternehmensebene steuerfrei stellen, dann stellt sich europarechtlich sofort die Frage nach der Gleichbe- Vizepräsidentin Petra Pau: handlung. Wenn der EuGH zu dem Ergebnis kommt, Herr Kollege Pronold, diese spannende Debatte müs- dass es hier eine Gleichbehandlung geben muss, dann sen Sie an anderer Stelle weiterführen. bedeutet das, dass der ausländische REIT auf der Unter- nehmensebene steuerfrei zu behandeln ist und dass wir Florian Pronold (SPD): keine Chance mehr haben, die Anlegerbesteuerung si- Das ist in Ordnung. – Schauen wir also einmal, was cherzustellen. Damit haben wir die letzte Möglichkeit da passiert. Bis heute sind die Vorbedingungen im Koali- für eine nationale Besteuerung von Grundstücken aufge- tionsvertrag nicht annähernd erfüllt. geben. So lange diese Problematik nicht gelöst ist und die Bedingungen laut Koalitionsvertrag nicht erfüllt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind, will ich REITs nicht. Bis jetzt kann die Besteue- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rung der Anleger im Inland nicht festgestellt werden. Vizepräsidentin Petra Pau: (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der Finanz- Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege minister hat dies doch entkräftet!) Gerhard Schick für das Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Es gibt einen weiteren Einwand, den man nicht ein- fach wegwischen kann. Es geht um die Frage des Woh- (Frank Schäffler [FDP]: Jetzt wird es endlich (B) nungsmarktes, von der eine ganze Menge Leute betrof- wieder sachlich!) (D) fen sind. Ich weiß nicht, auf welcher Anhörung Sie waren. Der Präsident des Deutschen Städtetages, Chris- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tian Ude, hat enorme Bedenken gegen die REITs geäu- NEN): ßert. Der Vorsitzende des Mietervereins, Rips, hat eben- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn falls enorme Bedenken geäußert. Da können Sie doch man auf diesen Debattentag zurückblickt, dann muss nicht sagen, dass alle Experten zu der Auffassung ge- man sagen, dass uns heute im Unterschied zur gestrigen langt sind, dass man sehenden Auges ins Unglück ren- Finanzausschusssitzung, wo uns noch der Einblick in nen soll. Das kann ja wohl nicht sein. Man muss die An- das Innenleben der großen Koalition verwehrt wurde hörung schon korrekt wiedergeben. – Sie erinnern sich –, ein herrliches Stück vorgeführt Ich habe auch Äußerungen aus anderen Ressorts der wurde. Bundesregierung vernommen. Ein Bundesminister hat (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Besser als zu sich sehr kritisch zu diesem Thema geäußert. den Sternstunden von Rot-Grün!) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer war das?) Es fing heute Morgen mit der Geschäftsordnungsde- batte an, in der es darum ging, dass die Berichterstatter Man wird doch noch fragen dürfen, was insgesamt gese- der Opposition offensichtlich nicht mehr notwendig hen passieren soll. sind. Mit diesem herrlichen Wechselspiel heute haben Sie deutlich gemacht, dass Sie die Opposition dadurch Ich stelle Ihnen einmal eine spannende Frage. Wenn überflüssig machen wollen, dass Sie sich selber herrlich eine gut geführte Wohnungsbaugesellschaft eine Rendite gegenseitig widersprechen. Das ist schon eine gute Sa- von 4 bis 6 Prozent erzielt, dann möchte ich wissen, wie che. Ich finde es richtig, dass die Debatten hier im Parla- ein REIT eine angekündigte Rendite von 15 Prozent er- ment stattfinden. Das hat auch etwas Gutes; man lernt ei- zielen will. Nachdem kritisch nachgefragt wurde, wurde niges dazu. dieses Ziel gesenkt. Woher soll diese Rendite kommen? Seine Fremdkapitalausstattung ist noch so hoch. Deswe- Schauen Sie sich aber einmal an, welche Botschaften gen ist auch der Leverage Effect nicht so hoch. Außer- in den letzten Monaten von diesem Haus ausgingen. Es dem sollen angeblich keine Filetgrundstücke verkauft gibt einen Grund dafür, warum wir in den letzten Jahren werden. Woher soll also diese hohe Rendite kommen? Finanzmarktthemen häufig fraktionsübergreifend auf Es bleiben nur noch Mieterhöhungen übrig. Zaubern die Tagesordnung gesetzt haben: weil das Signal nach können REITs auch nicht. außen extrem wichtig ist. Man muss schon sagen, dass 4132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Gerhard Schick (A) das alles nicht mehr ganz so lustig ist. Im Koalitionsver- Danke. (C) trag wird etwas angekündigt. Dann heißt es, dies gelte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – doch nicht. Dann stimmt eine Arbeitsgruppe in einem Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist wie Bericht zu. Dieser Bericht wurde aber offensichtlich beim bayerischen Knödelessen! Einer nach nicht im Konsens verfasst. Dann wird ein Gesetzentwurf dem anderen!) angekündigt; aber gleichzeitig heißt es, der dürfe jetzt noch gar nicht kommen. Was sind das für Signale gegen- über Investoren? Was für ein Signal geht damit vom Vizepräsidentin Petra Pau: deutschen Finanzplatz aus? Ich schließe die Aussprache. Es gibt ernsthafte Bedenken. Ich finde, man kann zu Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf dem Schluss kommen: Wir führen solche Anlageformen Drucksache 16/1896 an die in der Tagesordnung aufge- in Deutschland nicht ein. Wir müssen nicht jedes Anla- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- geprodukt, das an anderer Stelle erfolgreich ist, auch in verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Deutschland einführen, wenn es nicht zu den Bedingun- so beschlossen. gen unseres Standorts und zu unseren Standortstrategien Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: passt oder wenn es steuerrechtliche bzw. fiskalische Pro- bleme gibt, die wir nicht lösen können. Wir müssen das Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nicht tun. Aber ich finde, eine Koalition müsste im Laufe richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und von sieben Monaten in der Lage sein, klar zu entschei- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag den: Machen wir das oder machen wir das nicht? der Abgeordneten Peter Götz, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. Lippold, weiterer Ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie und bei der FDP) der Abgeordneten Petra Weis, Sören Bartol, Uwe Ich kann für meine Fraktion sagen: Wenn ein Gesetz- Beckmeyer, weiterer Abgeordneter und der Frak- entwurf vorliegt, dann werden wir uns den ganz genau tion der SPD anschauen. Wir werden sehen, ob die steuerlichen Fra- Stadtentwicklung ist moderne Struktur- und gen geklärt sind. Ich halte eine Anhörung für durchaus Wirtschaftspolitik hilfreich. Dann können wir schauen, wie die Gegeben- heiten sind. – Drucksachen 16/1890, 16/2004 – In einem muss ich dem Kollegen Pronold Recht ge- Berichterstattung: Abgeordneter Joachim Günther (Plauen) (B) ben: Man sollte sich einmal anschauen, wie der Sektor (D) Immobilien in Deutschland besteuert wird: Seit Jahr und Interfraktionell war für die Aussprache eine halbe Tag werden ständig Sonderregeln für diesen Bereich Stunde vorgesehen. Da die Kollegen Peter Götz für die getroffen und dann wird wieder versucht, sie abzuschaf- Unionsfraktion, Petra Weis für die SPD, Patrick Döring fen. Dann kommen wieder neue hinzu. Ein neuer Vor- für die FDP, Heidrun Bluhm für Die Linke und Peter schlag kann vor diesem Hintergrund nur mit großer Hettlich für das Bündnis 90/Die Grünen ihre Reden zu Skepsis betrachtet werden. Denn dieser Sektor – das Protokoll gegeben haben,1) wissen Sie alle von den Einkommensteuerbilanzen; Sie sollten sich einmal anschauen, wie viel da herüber- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) kommt – schlägt in der Einkommensteuerbilanz negativ schließe ich die Aussprache. zu Buche, was angesichts der großen Wertschöpfung schon ein wenig bedenklich ist. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Herr Thiele, Sie sagen, wir sollten dazu beitragen, Stadtentwicklung auf Drucksache 16/2004 zu dem An- dass die Werte angehoben werden. Dazu muss ich sagen: trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Sie werden dann angehoben, wenn man eine besonders Titel „Stadtentwicklung ist moderne Struktur- und Wirt- günstige Exit-Tax macht und dadurch Wertzuwächse, die schaftspolitik“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag bisher nicht besteuert wurden, sondern in die stillen Re- auf Drucksache 16/1890 anzunehmen. Wer stimmt für serven eingeschlossen waren, steuerlich begünstigt. Das diese Beschlussempfehlung? – Die Gegenprobe! – Enthal- ist natürlich im Sinne der Gleichbehandlung verschiede- tungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung bei Enthal- ner Investitionen eine durchaus problematische Sache, tung der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ange- über die zumindest ich nicht so locker-flockig hinwegge- nommen. hen würde. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Angesichts dessen, was Sie heute Abend geboten ha- ben, steht für mich und meine Fraktion eine große Sorge Erste Beratung des von den Abgeordneten Corne- im Vordergrund: Es handelt sich bei REITs um ein klei- lia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Hans-Jo- nes, überschaubares Bausteinchen. Sie nehmen sich ge- sef Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion rade eine große Unternehmensteuerreform vor; das wird des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- noch lustig. Ich hoffe, dass Sie nicht sieben Monate brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur brauchen, bis Sie uns hierzu ein anständiges Angebot vorlegen können. 1) Anlage 23 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4133

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Änderung des Bundesnaturschutzgesetzes den Kolleginnen und Kollegen im AwZ, in der großen (C) (Urwaldschutzgesetz) Koalition und im Menschenrechtsausschuss gibt. – Drucksache 16/961 – (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Überweisungsvorschlag: Die Konsequenz für heute Abend ist, dass mir die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Kollegin Groneberg ihre Rede, die sie zu Protokoll gege- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ben hat, überreicht hat, sodass ich sie kenne und weiß, Verbraucherschutz dass das, was darin steht, genau die Lage beschreibt, wie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und wir sie vor 14 Tagen zum Beispiel in Gulu oder in Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Kitgum erlebt haben. Auch hier war nach einer interfraktionellen Verein- (Beifall bei der CDU/CSU) barung für die Aussprache eine halbe Stunde vorgese- Ich möchte zu dieser Rede nur eine einzige Ergän- hen. Die Reden der Kollegen Bernward Müller für die zung machen: Wir müssen mit dafür Sorge tragen, dass Unionsfraktion, Marko Mühlstein für die SPD-Fraktion, die Regierung Museveni dafür sorgt, dass den Menschen Angelika Brunkhorst für die FDP-Fraktion, Eva Bulling- eine Chance gegeben wird, in die Gebiete zurückzukeh- Schröter für die Fraktion Die Linke und Cornelia Behm ren, aus denen sie stammen, falls diese Gebiete bereits für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen werden zu Pro- verhältnismäßig sicher sind. Auch das muss in den zu- tokoll genommen1) und ich kann hiermit die Aussprache künftigen Regierungsverhandlungen eine Rolle spielen. schließen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- neten der SPD – Beifall bei der FDP) wurfs auf Drucksache 16/961 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Ansonsten sind die Punkte in dem Antrag so deutlich dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. formuliert, dass er keiner weiteren Ergänzung bedarf. Dann ist diese Überweisung so beschlossen. Allerdings ein Punkt zur Geschäftsordnung: Wir wa- Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 sowie Zusatzpunkt 9 ren in der Koalition aus grundsätzlichen Erwägungen auf: nicht bereit, diesen Antrag gemeinsam mit der Linken als interfraktionellen Antrag einzubringen; deshalb 24 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ gibt es von der Linken einen eigenen Antrag. Es gibt CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- keine klare Distanzierung zum DDR-Unrechtssystem SES 90/DIE GRÜNEN und auch heute ist in der Debatte um Kuba wieder deut- (B) Für ein Ende der Gewalt in Norduganda lich geworden, dass für die Linke Menschenrechte teil- (D) bar sind. Dies ist der Grund, warum wir nicht bereit sind, – Drucksache 16/1973 – mit Ihnen gemeinsam einen interfraktionellen Antrag ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hü- einzubringen. seyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether (Beifall bei der CDU/CSU) Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN Wir bitten um Zustimmung zu unserem interfraktio- nellen Antrag. Für ein Ende der Gewalt in Norduganda (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der – Drucksache 16/1976 – FDP) Auch hier ist nach einer interfraktionellen Vereinba- rung für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Vizepräsidentin Petra Pau: Gibt es dazu Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann Das Wort hat der Kollege Hüseyin Aydin für die Frak- ist das so beschlossen. tion Die Linke. Wir nehmen die Reden der Kollegen Gabriele Grone- (Beifall bei der LINKEN) berg von der SPD-Fraktion und Dr. Karl Addicks von der FDP-Fraktion zu Protokoll.2) Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Das Wort hat der Kollege Hartwig Fischer für die Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsi- Unionsfraktion. dentin! Der Bürgerkrieg in Norduganda ist einer jener Konflikte, die in den deutschen Medien praktisch nicht (Beifall bei der CDU/CSU) stattfinden. Warum? Ist der Krieg nicht grausam genug? – Nein, wer einmal die Bilder von traumatisier- Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): ten Kindern gesehen hat, die nach einem Überfall auf Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ihre Dörfer die Eltern verloren haben, vergisst sie nicht Die Kollegen von Stetten und Koschorrek können bestä- mehr. Seit zwei Jahrzehnten wütet der Bürgerkrieg. Die tigen, dass es eine ausgezeichnete Zusammenarbeit mit brutale, christlich-fundamentalistische „Widerstands- armee des Herren“ kämpft mit einer von Korruption zer- 1) Anlage 24 fressenen ugandischen Armee um die Macht. Dieser 2) Anlage 25 Krieg hat eine humanitäre Katastrophe hinterlassen. Die 4134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Hüseyin-Kenan Aydin (A) Vereinten Nationen nannten den Krieg die „schlimmste Uganda so wenig, wie sie sich für die Opfer ihrer Sozial- (C) vergessene Krise der Welt“. kürzungspolitik in Deutschland interessiert. Sprechen wir Klartext: Das Morden in Norduganda (Gabriele Groneberg [SPD]: Jetzt reicht es aber! – fand lange unter Ausschluss der Weltöffentlichkeit statt, Widerspruch bei der CDU/CSU) weil er die Interessen wichtiger westlicher Staaten nicht Deshalb versucht die große Koalition, die Linke aus dem berührt hat. Dass sich der Bundestag heute mit seinen politischen Prozess in Deutschland herauszumobben. Folgen befasst, ist überfällig. Ich habe zusammen mit Unsere Anwesenheit stört sie bei der Durchsetzung ihrer allen Kollegen im Ausschuss für wirtschaftliche Zusam- neoliberalen Politik wohl genauso, wie unsere Anwesen- menarbeit und Entwicklung auf Initiative des Aus- heit die systematische Ausweitung der Militäreinsätze schussvorsitzenden, Kollegen Hoppe, an der Formulie- stört. rung des vorliegenden interfraktionellen Antrages gearbeitet. Wir haben uns schließlich auf den vorliegen- (Olav Gutting [CDU/CSU]: Es ist zwar schon den Text geeinigt. Skandalös ist, dass Die Linke nun auf ganz schön spät, aber deswegen können Sie Betreiben der Fraktionsspitze der CDU/CSU im Nach- nicht so einen Mist erzählen!) hinein als Antragsteller ausgeschlossen wurde. Doch Sie grenzen damit nicht nur die Linke aus, Sie In Norduganda werden, wie die Union selber festge- grenzen auch 4,1 Millionen Wähler aus, die wir reprä- stellt hat, Dörfer und Felder niedergebrannt, Menschen sentieren. misshandelt, Frauen und Mädchen vergewaltigt. Man (Beifall bei der LINKEN) sollte meinen, solch eine Feststellung lässt keinen Spiel- raum für parlamentarische Winkelzüge. Falsch – kein Elend der Welt könnte so groß sein, als dass die CDU/ Vizepräsidentin Petra Pau: CSU ihren Namen neben jenem der Linken ertragen Kollege Aydin, Sie müssen zum Schluss kommen. könnte. Nennen Sie das eine gute Regierungsführung? Es steigert nicht gerade die Glaubwürdigkeit deutscher Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Entwicklungspolitik, wenn Sie den Regierungen in der Ich komme zum Schluss. – Wir von der Linken lassen Dritten Welt permanent die Prinzipien von Good Gover- uns das nicht gefallen. nance unter die Nase reiben, während sie selber diese (Olav Gutting [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, Prinzipien in Deutschland bei der erstbesten Gelegenheit jetzt müssen Sie durchgreifen!) verletzen. Wir haben einen gleich lautenden Antrag eingebracht. (Beifall bei der LINKEN) Sie werden gleich dem interfraktionellen Antrag zustim- (B) (D) Ich erinnere Sie daran, wie dieser Antrag zustande men, dem auch ich zustimmen werde. Ich möchte einmal kam. Wir Entwicklungspolitiker haben gemeinsam den sehen, ob Sie den gleich lautenden Antrag der Linken Film „Lost Children“ gesehen. Es hat uns alle tief be- nicht unterstützen. rührt, wie Kinder in Norduganda von Fanatikern aus den (Jörg Tauss [SPD]: Der ist dann erledigt!) Familien gerissen und zu Killern gemacht werden. Im Mai kam Bischof Odama zu Besuch, der die konfes- Das würde Ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen. sionsübergreifende ugandische Friedensbewegung ver- (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg tritt. Bischof Odama appellierte an uns alle: Helfen Sie [CDU/CSU]: Wenn Sie unserem zustimmen, den Kindern! Die Fachkollegen aller Parteien im Aus- ist Ihrer erledigt!) schuss waren sich mit Bischof Odama darin einig, dass wir das tun wollen. Deshalb entstand der gemeinsame, interfraktionelle Antrag. Leider müssen wir nun feststel- Vizepräsidentin Petra Pau: len, dass die Kollegen von der CDU/CSU lieber die Das Wort hat der Kollege Thilo Hoppe für Linke aus einem Antrag herausdrängen, anstatt mit ihr Bündnis 90/Die Grünen. gemeinsam die Not der nordugandischen Bevölkerung (Beifall bei der LINKEN) anzupacken. Mich würde interessieren, wie Sie diese etwas andere Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Form christlicher Nächstenliebe dem ugandischen Bi- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schof Odama und den Christen in Deutschland begreif- Ich finde es sehr bedauerlich, dass ein gemeinsames lich machen wollen. Wort des gesamten Hauses zu den Menschenrechtsver- letzungen in Norduganda jetzt in parteipolitischem Ge- (Beifall bei der LINKEN – Sibylle Pfeiffer streit untergeht. [CDU/CSU]: Völlig problemlos!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Union beweist damit nur eines, nämlich dass ihr sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP hehre Ziele, wie die Absicherung von Wahlen oder die und der LINKEN) Eindämmung humanitärer Katastrophen, als Vorwand für militärische Einsätze gerade recht sind, ein gemein- Ich möchte als Vorsitzender des Entwicklungsaus- sames Vorgehen aller Demokraten zur Unterstützung der schusses einmal kurz auf die Entstehungsgeschichte ugandischen Friedensbewegung aber undenkbar ist. Das des Antrages eingehen. Es war so: Wir haben auf Initia- zeigt: Die Regierung interessiert sich für das Leid in tive des Ausschusses den Film „Lost Children“ gesehen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4135

Thilo Hoppe (A) in dem uns die Filmemacher in erschütternder Art und zwei identische Anträge vorliegen –, beiden Anträgen (C) Weise das Schicksal der Kindersoldaten vor Augen ge- zuzustimmen. führt haben. Wir haben mit Vertretern der evangelischen und katholischen Kirchen und dem Netzwerk der NGOs (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesprochen. Die Aktivisten für Menschenrechte dort ha- und bei der LINKEN – Sibylle Pfeiffer [CDU/ ben uns um Hilfe gebeten und gesagt: Nicht nur Betrof- CSU]: Nein, Ihrer ist dann erledigt!) fenheitsrhetorik wird gebraucht, sondern tut etwas, und zwar gemeinsam. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Dem haben alle Obleute im Entwicklungsausschuss ausdrücklich zugestimmt. Wir haben dann angefangen, Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der zu verhandeln, und Texte ausgetauscht. Wir haben uns Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ auf einem gemeinsamen, wirklich alle Fraktionen um- Die Grünen auf Drucksache 16/1973 mit dem Titel „Für fassenden Antrag geeinigt und dies sogar schon der ein Ende der Gewalt in Norduganda“. Wer stimmt für Presse mitgeteilt. diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthal- tungen? – Dann ist der Antrag einstimmig angenommen. Ich bin dafür, dass wir hier sehr sachlich die Unter- schiede benennen. Das haben wir in der Kubadebatte so (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: gemacht. Auch in dieser Debatte waren wir ganz klar an- Und der andere damit erledigt!) derer Auffassung. Auch vonseiten der Grünen war ein Wir kommen damit zum Zusatzpunkt 9, Abstimmung klarer Dissens zur Politik der Linken zu erkennen. über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Aber wenn unter den Fachleuten Gemeinsamkeiten Drucksache 16/1976 mit dem gleich lautenden Titel „Für erzielt werden und man sich auf ein gemeinsames Kon- ein Ende der Gewalt in Norduganda“. Wer stimmt für zept einigt, ist es ein recht mieser Stil, in letzter Minute diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthal- eine Fraktion herauszuschmeißen. tungen? – Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion abgelehnt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Wie hat die FDP abgestimmt?) Das hat nichts mehr mit der Sache zu tun, sondern mit Prinzipienreiterei. Ich finde das sehr ärgerlich. Wir wer- – Ich habe das Abstimmungsergebnis festgestellt. Ich den beiden völlig identischen, gleich lautenden Anträgen denke, es lässt sich im Stenografischen Protokoll nachle- sen, Kollege. (B) zustimmen. Das drückt unseren Wunsch aus, dass wirk- (D) lich das gesamte Haus in dieser Menschenrechtsfrage Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: eindeutig Stellung bezieht. Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Homburger, Elke Hoff, Dr. Rainer Stinner, weite- und bei der LINKEN) rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wir haben heute eine Nachtschicht eingelegt. Es ist Gleiche Besoldung für alle Soldaten 23.41 Uhr. Nacht für Nacht ziehen Kinder aus den Flüchtlingslagern in die Stadt Kitgum, weil sie in den – Drucksache 16/587 – Flüchtlingslagern nicht mehr sicher sind. Sie müssen Überweisungsvorschlag: Übergriffe fürchten, nicht nur der Lord’s Resistance Verteidigungsausschuss (f) Army, sondern auch der Regierungstruppen. Deshalb ist Innenausschuss es wichtig, dass wir mit geeinter Stimme an die Regie- Haushaltsausschuss rung von Uganda herantreten und sagen: Sie muss dieses Hier war nach einer interfraktionellen Vereinbarung Problem lösen. Sie muss diesen Konflikt beenden. Wir für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Da haben den großen Verdacht, dass die doch sehr kleine alle vorgesehenen Rednerinnen und Redner, also die und geschwächte Lord’s Resistance Army künstlich am Kollegin Monika Brüning und die Kollegin Susanne Leben erhalten wird, weil Herr Museveni diesen Kon- Jaffke für die Unionsfraktionen, die Kollegin Petra Heß flikt braucht, um andere Dinge, andere Geschäfte im für die SPD-Fraktion, die Kollegin Katrin Kunert für die Schatten dieses Konfliktes erledigen zu können. Fraktion Die Linke, der Kollege Winfried Nachtwei für Bündnis 90/Die Grünen und der fraktionslose Kollege Deshalb ist es wichtig, dass wir mit geeinter Stimme Gert Winkelmeier, ihre Reden zu Protokoll gegeben ha- sprechen und diesen Menschenrechtsverletzungen Ein- ben,1) kann ich hiermit die Aussprache schließen. halt gebieten und uns für die Demobilisierung und Reso- zialisierung der Kindersoldaten einsetzen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/587 an die in der Tagesordnung aufge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abge- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist auch diese Über- ordneten der CDU/CSU) weisung so beschlossen. Ich bitte Sie alle – wir sollten konsequent sein und ein Zeichen setzen; es ist ein Possenspiel, dass hier jetzt 1) Anlage 26 4136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 j auf: haltungen? – Das ist nicht der Fall. Damit ist diese Be- (C) schlussempfehlung ebenfalls einstimmig angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Schließlich empfiehlt uns der Ausschuss unter Stadtentwicklung (15. Ausschuss) Nummer 2 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/1164 mit dem Titel – zu dem Antrag der Abgeordneten Ingbert Lie- „Sicherheitskonzept für Nord- und Ostsee optimieren“ bing, Enak Ferlemann, Dirk Fischer (Ham- ebenfalls für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese burg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Beschlussempfehlung? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- der CDU/CSU sowie der Abgeordneten haltungen? – Dann ist auch diese Beschlussempfehlung Dr. Margrit Wetzel, Uwe Beckmeyer, Sören einstimmig angenommen. Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 sowie Zusatz- punkt 10 auf: Notschleppkonzept den veränderten Bedin- gungen der Seeschifffahrt anpassen 25 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmin- gard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), Mo- – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder nika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Frak- Steenblock, Winfried Hermann, Peter Hettlich, tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Selbstbestimmtes Leben in Würde ermögli- chen – Transsexuellenrecht umfassend refor- Notschleppkonzept an gestiegene Herausfor- mieren derungen anpassen – Drucksache 16/947 – – zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Mi- chael Goldmann, Patrick Döring, Horst Fried- Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) rich (Bayreuth), weiterer Abgeordneter und der Rechtsausschuss Fraktion der FDP Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Sicherheitskonzept für Nord- und Ostsee optimieren ZP 10 Erste Beratung des von den Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Max Stadler, – Drucksachen 16/1647, 16/685, 16/1164, 16/2005 – Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Berichterstattung: Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines (B) Abgeordnete Dr. Margrit Wetzel Gesetzes zur Änderung des Passgesetzes (D) Peter Hettlich – Drucksache 16/2016 – Auch hier war nach einer interfraktionellen Verein- Überweisungsvorschlag: barung für die Aussprache eine halbe Stunde vorgese- Innenausschuss hen. Aber wir nehmen zu Protokoll die Reden der Kolle- Auch hier war für die Aussprache eine halbe Stunde gen Enak Ferlemann für die Unionsfraktion, Dr. Margrit vorgesehen. Wir nehmen aber die Beiträge der Kollegen Wetzel für die SPD-Fraktion, Hans-Michael Goldmann Helmut Brandt für die Unionsfraktion, Gabriele Fogra- für die FDP-Fraktion, Dorothee Menzner für die Frak- scher für die SPD-Fraktion, Jörg van Essen für die FDP- tion Die Linke und Rainder Steenblock für die Fraktion Fraktion, Barbara Höll für die Fraktion Die Linke, Ir- 1) Bündnis 90/Die Grünen. mingard Schewe-Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/ Wir können zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Die Grünen und des fraktionslosen Kollegen Gert Win- ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf kelmeier zu Protokoll.2) Drucksache 16/2005 zu dem Antrag der Fraktionen der Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen CDU/CSU und der SPD mit dem Titel „Notschleppkon- auf den Drucksachen 16/947 und 16/2016 an die in der zept den veränderten Bedingungen der Seefahrt anpas- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. sen“ kommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Num- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann mer 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf sind diese Überweisungen so beschlossen. Drucksache 16/1647 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Gibt es Enthal- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf: tungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig 26 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- angenommen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Unter Nummer 3 seiner Beschlussempfehlung emp- rung des Unterhaltsrechts fiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktion Bünd- – Drucksache 16/1830 – nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/685 mit dem Titel „Notschleppkonzept an gestiegene Herausforderungen Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) anpassen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Finanzausschuss Beschlussempfehlung? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

1) Anlage 27 2) Anlage 28 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4137

Vizepräsidentin Petra Pau (A) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Der Gesetzentwurf, der heute hier beraten wird, hat (C) gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur schon vor dieser ersten Lesung im Bundestag breite öf- Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes fentliche Resonanz gefunden, und das nicht nur, weil er von Verlegern und Autoren, Elektronikindustrie und In- – Drucksache 16/1829 – ternet-Community, Bibliotheken und Verwertungsgesell- Überweisungsvorschlag: schaften sehr kontrovers diskutiert wurde, sondern auch, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) weil das ein Gesetzentwurf ist, den wir auf breiter Basis Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO öffentlich vorbereitet haben: Wir haben ganz viele ver- schiedene öffentliche Foren veranstaltet, wo alle an die- Auch hier war für die Aussprache eine halbe Stunde sem Gesetzgebungsprozess Beteiligten sich schon im vorgesehen. Wir können aber die Beiträge der Kollegin- Vorfeld einbringen konnten. nen Ute Granold für die Unionsfraktion, Christine Lam- brecht für die SPD-Fraktion, Sabine Leutheusser- Das Ziel unseres Vorhabens ist klar: Wir wollen mit Schnarrenberger für die FDP-Fraktion, des Kollegen diesem Gesetz das deutsche Urheberrecht weiter fit ma- Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke, der Kolle- chen für das digitale Zeitalter. Die Frage, die wir lösen gin Ekin Deligöz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- müssen, ist: Wie ist es möglich, auch im digitalen Zeital- nen und der Bundesministerin der Justiz, Brigitte Zyp- ter einen Ausgleich zwischen den Interessen aller Be- ries, zu Protokoll nehmen.1) teiligten zu schaffen? Da sind zum einen die Kreativen, also die Urheber, deren Recht auf geistiges Eigentum Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell durch das Grundgesetz garantiert ist. Dann gibt es die wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Nutzer; sie möchten möglichst ungehindert auf den Con- Drucksachen 16/1830 und 16/1829 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt tent, den sie sich aus dem Netz herunterladen können, es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der zugreifen Fall. Dann sind auch diese Überweisungen so beschlos- (Jörg Tauss [SPD]: Zu fairen Bedingungen!) sen. und sehen im Wesentlichen nicht ein, dass sie dafür ir- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: gendetwas bezahlen sollen. Schließlich gibt es die Indus- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- trie; sie schafft die technischen Voraussetzungen dafür, gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur dass die Nutzung überhaupt möglich wird. Wie Sie wis- Regelung des Urheberrechts in der Informa- sen, wird im Moment eine Urheberabgabe auf die Geräte tionsgesellschaft gezahlt. Die Industrie hat natürlich ein Interesse daran, dass diese Abgabe auf ihre Geräte so niedrig wie mög- (B) – Drucksache 16/1828 – lich ist, weil sie die Preiskonkurrenz fürchtet. (D) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Die Notwendigkeit, einen fairen Kompromiss zwi- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie schen all den Interessen der verschiedenen Beteiligten zu Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und schaffen, ist heute größer denn je. Schließlich war es Verbraucherschutz noch nie so einfach, über das Internet von jedem Ort der Ausschuss für Gesundheit Welt aus zu jeder Zeit auf urheberrechtlich geschützte Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Contents zurückzugreifen: Man kann sie mit einem Ausschuss für Kultur und Medien Mausklick abrufen und sie in Sekundenschnelle verviel- fältigen. Interfraktionell ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu keinen Widerspruch. Wir meinen, dass das geistige Eigentum der Kreati- Dann ist dies so beschlossen. ven aber gerade in der modernen Informationsgesell- schaft gewährleistet bleiben muss. Ohne einen solchen Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Brigitte Schutz kann es nämlich keine Kreativität geben – auf die Zypries. Deutschland als Land der Ideen natürlich ganz besonders (Beifall bei der SPD) angewiesen ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Zwei Punkte möchte ich besonders hervorheben. Der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! erste Punkt ist die Reform des pauschalen Vergütungs- Zunächst einmal möchte ich sagen, dass es mich freut, systems. Wir meinen, dass den Urhebern als Ausgleich dass mehr Mitglieder des Deutschen Bundestages zur für die nach wie vor erlaubt bleibende Privatkopie eine Beratung um diese Uhrzeit hier sitzen, als das bei The- angemessene Vergütung zusteht. Diese Vergütung soll men des Rechtsausschusses normalerweise der Fall ist. auch weiterhin von den Verwertungsgesellschaften ein- Dafür herzlichen Dank! gezogen werden. Wir wollen aber den Mechanismus, der (Jörg Tauss [SPD]: Das machen wir jetzt jedes im Moment besteht, ändern, weil wir meinen, dass er Mal so!) nicht funktioniert. Wir wollen den Verwertungsgesell- schaften auf der einen Seite und der Industrie auf der an- – Genau. dere Seite künftig die Möglichkeit geben, die Gebühren – wenn man das im weitesten Sinne so nennen kann – 1) Anlage 29 untereinander auszuhandeln. Der Gesetzgeber soll nach 4138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) unserer Vorstellung nur noch den Rahmen festlegen, in Gerade weil es ein so wichtiges rechtspolitisches Vorha- (C) dem das geschieht, und ein Verfahren für den Fall vorse- ben ist – eines der wichtigsten dieser Legislaturperiode –, hen, dass sie sich nicht einigen können. kann es gar nicht zu spät oder zu früh sein, um auch in der ersten Lesung dazu zu sprechen. Ein zweiter Punkt, den ich hervorheben möchte, ist, dass ich der Auffassung bin, dass wir mit diesem Gesetz- Frau Ministerin, Sie haben Recht, dass es einen lan- entwurf einen Kompromiss zwischen dem individuellen gen Vorlauf verbunden mit entsprechenden Vorbereitun- Recht am geistigen Eigentum und den Belangen des Ge- gen im Ministerium gab, bis es zu diesem Gesetzentwurf meinwohles schaffen müssen. gekommen ist. Nach Vorlage dieses Gesetzentwurfes Im Interesse von Bildung und Wissenschaft regeln muss jetzt natürlich die intensive Befassung im Rechts- wir elektronische Leseplätze in Bibliotheken, Museen ausschuss mit denen folgen, die davon betroffen sind. und Archiven. Wir stellen den Versand von elektroni- (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) schen Kopien durch Bibliotheken auf eine gesetzliche Grundlage und wir berücksichtigen dabei sowohl die Be- Die Änderung des Urheberrechts ist immer der Ver- lange der Verlage als auch die Tatsache, dass Deutsch- such, einen angemessenen Ausgleich zwischen denjeni- land als Forschungsstandort Anschluss an die internatio- gen, die es mit ihrer kreativen Leistung überhaupt erst nale Entwicklung halten muss. ermöglichen, dass es etwas zu verwerten gibt, und natür- (Jörg Tauss [SPD]: Da müssen wir noch ein lich auch denjenigen zu schaffen, die an diesem Prozess bisschen nachbessern! Aber das kriegen wir beteiligt sind. Dass es hier nach geltendem Recht immer hin!) wieder Schranken gibt, die der modernen technischen Entwicklung angepasst werden müssen, und dass hier – Genau, Herr Kollege. Das wären jetzt meine nächsten die Interessen zu gewichten und zu wiegen sind, ist Worte gewesen. Ich weiß natürlich, dass es eine Menge selbstverständlich. Kritik an allen möglichen Vorschlägen gibt. Frau Ministerin, ich bin der festen Überzeugung, dass (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Was? Echt? dieser Gesetzentwurf nicht in dieser Form aus dem Das ist mir neu!) Rechtsausschuss zur abschließenden Beratung herausge- Ich habe das eingangs ja schon gesagt. hen wird; Nun ist heute in der Debatte ja schon einmal der Satz (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jerzy gefallen, dass man dann, wenn man Kritik von beiden Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Seiten bekommt, in der Regel relativ sicher sein kann, der Abg. Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU] – (B) dass man einen fairen Mittelweg vorgeschlagen hat. Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Da hat sie (D) Recht!) (Jörg Tauss [SPD]: Das ist nicht immer so!) Genau das gilt für das Urheberrecht auch. denn ich glaube, dass es in einigen Bereichen die drin- gende Notwendigkeit gibt, zu einer wirklich besseren Ich bin ganz davon überzeugt, dass das, was wir vor- Gewichtung der Interessen und Anliegen der Urheber zu geschlagen haben, eine gute Basis ist, die man auch nicht kommen. verlassen sollte, was nicht heißt, dass man an der einen oder anderen Stelle nicht noch nachjustieren kann. Dazu Das hat eine lange und gute Tradition in der Rechts- sind aber die Beratungen in den Ausschüssen und im entwicklung des Urheberrechts. Auf der einen Seite ist es Deutschen Bundestag auch da. richtig, dass man private Vervielfältigungen zulassen muss – das ist ein Uraltthema und dazu sind schon vor (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Jahrzehnten Weichenstellungen vorgenommen worden –, auf der anderen Seite muss man aber den Urhebern, den- Vizepräsidentin Petra Pau: jenigen, die etwas produziert haben, damit es verwertet Das Wort hat die Kollegin Sabine Leutheusser- und kopiert werden kann, angesichts der Modernisierung Schnarrenberger für die FDP-Fraktion. der Technik und der technischen Entwicklung selbstver- ständlich auch eine angemessene Beteiligung geben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Frau Ministerin, deshalb sind wir sehr offen dafür und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- halten es auch für richtig, dass der Einsatz individueller nen und Kollegen! Uns Berichterstattern im Rechtsaus- Lizenzmodelle gerade im Online-Bereich auch mithilfe schuss für das Urheberrecht und für diesen Gesetzent- des Urheberrechts gefördert wird. Wir sagen aber ganz wurf ist dieses Thema so wichtig, dass wir gesagt haben: unmissverständlich: Auf die pauschale Geräteabgabe Es entspricht nicht der Bedeutung dieses Vorhabens, hier kann bis auf weiteres nicht verzichtet werden. Dort, wo einfach zur Tagesordnung überzugehen und alle unsere die Geräteabgabe das Mittel der Wahl für die Vergütung Reden zu Protokoll zu geben. bleibt, muss dem Umfang der urheberrechtlichen Nut- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem zung angemessen Rechnung getragen werden. Darüber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. kann durch die Herstellerpreise eines Vervielfältigungs- Dirk Manzewski [SPD]) gerätes gerade nicht Aufschluss gegeben werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4139

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Ich brauche hier nicht wiederzugeben, wie der Preis- – Richtig. – Wir debattieren heute in erster Lesung über (C) verfall gerade in diesem Bereich aussieht. Das bringt einen Gesetzentwurf, dessen Entstehungsgeschichte zum Ausdruck: Wenn es bei dieser Regelung bliebe, nach Art, Umfang und Länge ihresgleichen sucht. Die würde es zu einem wirklich deutlichen Einnahmeverlust Arbeiten an diesem „Korb 2“ des Urheberrechts began- bzw. zu einem Vergütungsrückgang bei den Urhebern nen unmittelbar nach dem „Korb 1“ im Jahre 2003. Das kommen. Deshalb ist der Ansatz, der jetzt gewählt ist, Bundesjustizministerium, das zwar nicht mehr auf der nämlich die Koppelung der pauschalen Geräteabgabe an Regierungsbank vertreten ist, aber immerhin noch sozu- die Preise und die Begrenzung auf einen Gesamtpreis sagen im Publikum weilt, hat dann elf Arbeitsgruppen hinsichtlich des Anteils der Vervielfältigungen, nicht eingesetzt und Dutzende von Verbänden mit der Vorar- richtig. Darüber muss dringend beraten werden. Das ist beit an diesem Gesetzgebungsvorhaben sehr lange be- die gute Tradition im Urheberrecht, die wir ja heute Mit- schäftigt. Der eigentliche Gesetzgeber – an der Stelle tag schon unter Beweis gestellt haben, als wir einen sollte die Frau Ministerin einmal zuhören – sitzt aber in Kompromiss beim Folgerecht über alle Fraktionen hin- diesem Hause, die eigentliche Gesetzgebung findet hier weg gefunden haben. Obwohl es nicht allen leicht gefal- statt. Und für dieses Gesetz gilt in ganz besonderer len ist, haben wir gesagt, dass wir das wollen. Ich finde, Weise, dass es nicht so aus dem Rechtsausschuss und auch das muss uns in diesem Bereich gelingen, denn das dem Deutschen Bundestag hinausgehen wird, wie es hat massive Auswirkungen. Wenn wir der Stellung der vom Justizministerium eingebracht worden ist. Urheber im Jahre 2006 folgende gerecht werden wollen, dann müssen wir uns gerade die Deckelung und die (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Fünfprozentklausel, die jetzt in den §§ 54 folgende des und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Gesetzentwurfs vorgesehen sind, vornehmen und än- Nur hier ist der Ausgleich der Interessen von Urhebern, dern. Dabei kann es in dieser Form nicht bleiben. Verbrauchern und Unternehmen letztgültig vorzuneh- men. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es ist gut, dass wir nun endlich die wichtigen Anpas- sungen des Urheberrechts an die Veränderungen einer Ein zweiter wichtiger und schwieriger Bereich ist na- digitalen und vernetzten Welt in Angriff nehmen kön- türlich die Schranke zugunsten von Bildung und For- nen. Beim Urheberrechtsgesetz handelt es sich um nichts schung. Es soll durch eine neue Vorschrift Bibliotheken, weniger als um das Grundgesetz der modernen Wissens- Museen und öffentlichen Archiven künftig gestattet wer- gesellschaft. Auch die volkswirtschaftliche Bedeutung den, Werke an elektronischen Leseplätzen zugänglich zu des Urheberrechts ist nicht zu unterschätzen; fast jeder machen. Durch eine weitere Bestimmung soll die Zuläs- zehnte Euro unseres Bruttoinlandsproduktes hängt direkt (B) sigkeit des elektronischen Kopienversands gesetzlich ge- oder indirekt mit dem Urheberrecht zusammen. Dieser (D) regelt werden. Hierzu sage ich deutlich: Im Kern sind Bedeutung sind die Länge und vor allem der Zeitpunkt die geplanten Bestimmungen nicht zu beanstanden, aber der heutigen Debatte nicht angemessen. in der vorliegenden Ausgestaltung schießen sie über das Ziel hinaus. Jetzt würde ich über meine Redezeit hinaus- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP schießen, wenn ich dafür viele Gründe und Argumente und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vorbringen würde. Das werden wir dann in einer um- Die Bundesregierung geht bei der Pauschalvergü- fangreichen Anhörung, die wir bereits vom Grundsatz tung neue Wege. Zukünftig soll die Vergütungspflicht her beschlossen haben, im Rechtsausschuss tun. von Geräten und Speichermedien anhand ihrer tatsächli- Vielen Dank. chen Nutzung für Vervielfältigungsvorgänge ermittelt werden. Dadurch wird ein gerechterer Maßstab erreicht (Beifall bei der FDP, der SPD und dem als durch die jetzige Regelung, bei der es um die erkenn- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bare Eignung zur Vornahme von Kopien geht. Gerade die heutige Vielzahl zeitraubender Prozesse – zum Bei- Vizepräsidentin Petra Pau: spiel, ob der Drucker oder der Computer unter diese Vo- raussetzungen fällt – zeigt, dass hier eine Änderung ge- Das Wort hat der Kollege Dr. Günter Krings für die boten ist. Unionsfraktion. Die heutige Situation ist für beide Seiten unbefriedi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg gend. Die Urheber müssen lange auf ihre Vergütung Tauss [SPD]: Bleiben Sie versöhnlich, Herr warten. Die Hersteller von Geräten oder Speichermedien Krings! Nicht die Harmonie stören! – Weiterer müssen zwar zunächst nicht an die Urheber zahlen, aber Zuruf von der CDU/CSU: Man muss nicht sie müssen aufgrund des ungewissen Prozessausgangs volle neun Minuten reden!) langfristige Rückstellungen bilden. Dieses Spiel aus Verweigerungshaltung einerseits und Dr. Günter Krings (CDU/CSU): bilanzieller Rückstellungspflicht andererseits wieder- Guten Morgen, Frau Präsidentin! Guten Morgen, holt sich so oft, wie neue Geräte oder Speichermedien meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! auf den Markt kommen. Das geht heute sehr rasch. (Ludwig Stiegler [SPD]: Morgenstunde ist al- Es ist daher gut und gerecht, wenn die Bundesregie- ler Laster Anfang!) rung dieses Kriterium abschaffen will und auf den 4140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Dr. Günter Krings (A) tatsächlichen Einsatz von Geräten zum Kopieren ab- Rechteinhaber übertragen worden sind, von dem der Ur- (C) stellt. Die konkrete Ausgestaltung dieser neuen Regelung heber nicht weiß, wie er zu erreichen ist. Bei einer Neu- werden wir im weiteren parlamentarischen Verfahren aber regelung scheint es mir alles in allem wichtig zu sein, noch einer genauen Prüfung unterziehen müssen. darauf zu achten, dass die Weiterverbreitung älterer In- halte auf neuen Speichermedien – darum geht es uns (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann nämlich – nicht behindert, sondern befördert wird. [CDU/CSU]) Die Privatkopie wird auch künftig möglich bleiben. So sieht der Entwurf vor, an die Vergütungspflicht die Das dürfte in diesem Haus quer durch alle Fraktionen Bedingung zu knüpfen, dass das betroffene Gerät bzw. unbestritten sein. Trotzdem möchte ich den Stimmen Speichermedium in nennenswertem Umfang für Verviel- deutlich widersprechen, die inzwischen die Privatkopie fältigungen eingesetzt wird. Die Gesetzesbegründung als ein subjektives Recht des Verbrauchers ansehen. nennt ausdrücklich eine Mindestnutzung von 10 Prozent. Unter dieser Grenze soll keine Vergütung anfallen. Da- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- durch scheinen mir neue Gerichtsverfahren vorprogram- NEN]: Das sehen die Verbraucher so!) miert zu sein. Die Zulassung – eben nicht das Recht – der Privatkopie Ziel des Gesetzes muss es aber sein, eine Regelung zu fand erst 1965 Eingang ins Gesetz, als die ersten Verviel- finden, die die Voraussetzung für eine Vergütungspflicht fältigungsgeräte auf den Markt kamen. klar festlegt. Wir brauchen keine zusätzliche Vergütung für Rechtsanwälte, sondern eine kalkulierbare Vergütung (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für die Urheber. NEN]: Also von Anfang an!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Nur weil es damals keinen wirksamen Mechanismus und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gab, um das Kopieren zu unterbinden, hat man den Ur- hebern – ganz nach dem Grundsatz „Dulde und liqui- Noch schwieriger wird es bei der Vergütungshöhe. diere!“ – eine Pauschalvergütung als Ausgleich zugebil- Nach dem Regierungsentwurf soll die Vergütung bei ligt, Herr Kollege Montag. Privatkopie und 5 Prozent des Gerätepreises gedeckelt werden. Die Ver- Pauschalvergütung waren also von Anfang an kein wertungsgesellschaften rechnen mit Einbußen von bis zu Selbstzweck, sondern ein Notbehelf. 40 Prozent durch diese Kappungsgrenze. Allerdings un- terschlagen sie bei ihren Berechnungen wiederum, dass Daher ist es auch richtig, dass der Regierungsentwurf auch neue Geräte in die Vergütungspflicht einbezogen an dem Verbot der Umgehung technischer Schutzmaß- werden. Umgekehrt weist BITKOM darauf hin, dass nahmen festhält. Jedes Unternehmen kann selbst über sich ohne die Kappung bei 5 Prozent und die Einführung deren Einsatz entscheiden und viele Unternehmen (B) der Voraussetzung des nennenswerten Umfangs das Ver- – etwa aus der Musikbranche – verzichten aus nachvoll- (D) gütungsaufkommen von ZPÜ und GEMA mehr als ver- ziehbaren Gründen auf die Einführung solcher Schutz- vierfachen würde. Hier steht Aussage gegen Aussage. mechanismen. Auch das wird Gegenstand der Anhörung sein. (Jörg Tauss [SPD]: Weil sie sparen wollen!) Der sehr heftige Streit zwischen den beiden Beteilig- Aber demjenigen, der sein Eigentum wirksam schüt- ten lässt aber Zweifel aufkommen, ob es wirklich sinn- zen möchte, können und wollen wir das in einem voll ist, die Verhandlungen über die Höhe einer dem Rechtsstaat nicht verwehren. Dabei macht es im Grunde Grunde nach staatlich angeordneten Pauschalvergütung keinen Unterschied, ob er sein Haus mit einem Zaun in die Hände der Betroffenen zu legen. Für mich wäre oder sein geistiges Eigentum durch einen Kopierschutz zum Beispiel eine Verordnungsermächtigung für das schützen will. Justizministerium zur Festsetzung der Vergütungssätze nach wie vor eine denkbare und praktikable Alternative, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die ebenfalls zumindest erörtert werden muss. neten der SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Der Vergleich hinkt!) Aber auch dann – das richte ich an alle Urheber – werden wir sicherlich Vergütungshöhen bekommen, die – Herr Kollege Montag, dieser Vergleich mag wie viele nicht viel mehr als 5 Prozent des Gerätepreises ausma- Vergleiche hinken, aber auch ein Vergleich, der hinkt, chen. Denn auch bei der bisherigen Regelung sind die geht. Gerätepreise – zumindest indirekt – bei den staatlich (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der festgesetzten Vergütungshöhen berücksichtigt worden. SPD und der FDP) Als Rechtsverlust empfinden einige Urheber – dem Der Bundestag sollte sich aber nicht Überlegungen ist meines Erachtens nicht unbedingt zu folgen – die verschließen, die Zulässigkeit der Privatkopie zu präzi- Neuregelung zu den unbekannten Nutzungsarten. sieren. Präzision schafft Rechtssicherheit. Auf die ist ge- Erstmals sollen die Urheber auch über unbekannte Nut- rade der juristisch nicht geschulte Verbraucher angewie- zungsarten disponieren dürfen. Der Urheber geht für die sen. Zu prüfen ist aus meiner Sicht daher, ob die Rechteübertragung allerdings keineswegs leer aus; er Herstellung einer Privatkopie nur noch dann gesetzlich kann vielmehr eine gesonderte Vergütung verlangen. erlaubt werden sollte, wenn die Kopie vom eigenen Ori- Außerdem erhält er ein Widerrufsrecht, was die meisten ginal erstellt wird. Fälle zu einer vernünftigen Lösung führen müsste. Prak- tische Probleme mögen sich dann ergeben, wenn ein Wi- Rechtssicherheit geschaffen haben wir bereits im Vor- derruf schwierig wird, weil die Rechte auf einen neuen feld, nämlich vor der Einbringung des Gesetzentwurfes Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4141

Dr. Günter Krings (A) bei der Bagatellklausel. Ich bin froh, dass ich diesen Anhörung beschlossen haben. Das wird eine sehr um- (C) meines Erachtens rechtsstaatswidrigen Vorschlag ge- fangreiche Anhörung werden, die wahrscheinlich nur meinsam mit dem Kulturstaatsminister Bernd Neumann noch von der Anhörung zur Föderalismusreform der schon im Vorfeld des Regierungsentwurfs verhindern letzten Woche getoppt wird. Ich freue mich, mit vielen konnte. Kollegen in dieser Anhörung weiter am Urheberrecht ar- beiten zu können. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir sind ganz unfroh!) Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen oder schönen Abend, wie auch immer. Dem Staatsminister möchte ich nochmals für seinen Ein- satz danken. Ich freue mich auch, dass jedenfalls das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Justizministerium zu einer guten Einsicht gekommen ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Rede der Kollegin Luc Jochimsen für die Frak- Wir haben es geschafft, dass ein klarer Strafrahmen tion Die Linke nehmen wir zu Protokoll.1) für Urheberrechtsverletzungen beibehalten wurde und derartige Verletzungen auch künftig keine Kavaliersde- Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag für die Frak- likte darstellen. Das ist ein starkes und klares Signal an tion der Grünen. die Öffentlichkeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Als Rechtspolitiker der großen Koalition freuen wir Florian Pronold [SPD]: Montag spricht am uns über das Bekenntnis im Koalitionsvertrag für ein Freitag!) starkes und wissenschaftsfreundliches Urheberrecht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): des Abg. Jörg Tauss [SPD]) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, noch nie ist über ein hochpolitisches, hochwich- Wissenschaftsfreundlich – passen Sie genau auf – heißt tiges rechtspolitisches Thema so früh am Tag in diesem dabei ganz unmissverständlich auch Hause diskutiert worden. (Jörg Tauss [SPD]: Aber nicht nur wissen- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ein lichter Moment!) schaftsfreundlich!) Das ist einerseits gut so; aber das hängt nur damit zu- wissenschaftsverlagsfreundlich; denn die privaten Ver- sammen, dass es in diesem Hause üblich geworden ist, lage sind integraler Bestandteil unseres Wissenschafts- rechtspolitische Themen an das Ende der Tagesordnung (B) betriebes. Die Verlage erfüllen bei der Verbreitung von zu setzen. Ich finde, das geht auf Dauer so nicht. (D) neuen Erkenntnissen aus Wissenschaft und Forschung eine unverzichtbare Filterfunktion. Sie sind das einzige (Beifall im ganzen Hause – Dr. Uwe Küster echte privatwirtschaftliche Element in unserem Wissen- [SPD]: Das war Kritik am Ältestenrat!) schaftsbetrieb. Der Urheberrechtsgesetzgeber sollte da- her dieses Geschäftsmodell nicht zerstören. Das deutsche Urheberrecht ist in vielerlei Hinsicht re- formbedürftig. Der Umgang mit geschütztem geistigem (Beifall bei der CDU/CSU) Eigentum, seine Nutzung durch die Berechtigten und seine neu zu definierende Sozialpflichtigkeit erfordern Mit Besorgnis sehe ich daher die Ausgestaltung des mutige und gerechtere Formen. Dabei regelt und § 52 b im Gesetzentwurf der Bundesregierung. Es kann schreibt die europäische Richtlinie zur Harmonisierung meines Erachtens nicht angehen, dass die Bibliotheken bestimmter Rechte des Urheberrechts, wie der Name ein Buch anschaffen und es dann dutzend- oder hundert- schon sagt, nur einige, wenn auch nicht unwichtige As- fach an Leseplätzen bereithalten. Hier ist über eine Än- pekte vor. Wir haben mit dem ersten Gesetz zur Reform derung zu sprechen. Wir müssen in Deutschland aufpas- des Urheberrechts den Pflichtteil der Reform erledigt. sen, dass wir Investitionen in Wissenschaft nicht Nun geht es darum, die Kür zu machen, um das deutsche ausschließlich als Investitionen in Beton und Technik Urheberrecht für eine moderne, wissensbasierte, digital verstehen und nicht mehr als solche in Bücher und geis- vernetzte Informationsgesellschaft fit zu machen. Das tige Inhalte. hat Frau Ministerin völlig richtig dargestellt. Ich will zu einem letzten Aspekt kommen. Dabei dürfen wir keinen der Akteure aus dem Blick verlieren, die berechtigte Interessen auf diesem Felde Vizepräsidentin Petra Pau: haben. Erstens: die Kreativen, die Künstler und Wissen- Herr Kollege Krings, diese Besorgnis und Aspekte schaftler und die ihre Rechte verwaltenden Verwertungs- müssen wir auf die nächste Debatte vertagen. gesellschaften. Zweitens: die Rechteinhaber, in der Re- gel große, international tätige Konzerne. Drittens die Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Produzenten von Hardware, Computern und allen mögli- Dann machen wir das bei der nächsten Debatte. chen unterschiedlichen Abspielgeräten. Ich weise darauf hin, dass wir beim Kopienversand Viertens: die Einrichtungen der Wissensvermittlung, per E-Mail die Regelung als einen vernünftigen Aus- von Schulen über Bibliotheken bis zu Universitäten. gleich ansehen. Insgesamt weise ich darauf hin, dass wir im Rechtsausschuss als Vorratsbeschluss bereits eine 1) Anlage 30 4142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Jerzy Montag (A) Fünftens – nicht zu vergessen –: die Nutzer und Ge- Aufgrund der mir zur Verfügung stehenden geringen (C) nießer der Werke, die die Musik hören, Filme ansehen. Zeit möchte ich meine Rede aber auf einige aus meiner Dazu gehören auch die Wissenschaftler, die die Werke Sicht kritische Punkte beschränken. So habe ich erhebli- ihrer Kollegen brauchen, um selbst forschend tätig sein che Probleme mit der Neugestaltung des pauschalen zu können. Die Interessen dieser Gruppen zum Wohle Urhebervergütungssystems. Dieses bewährte System, der Einzelnen und zum Wohle der ganzen Gesellschaft das den Kreativen eine Kompensation für ihre Einnah- auszutarieren, das ist die Aufgabe der jetzt anstehenden meausfälle gewährleistet, soll im Grunde genommen Reform des Urheberrechts. zwar beibehalten werden; aber anders als bisher soll nun den Verwertungsgesellschaften und den Herstellern die Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hat einen be- Bemessung der Vergütungssätze selbst übertragen wer- achtlichen Vorlauf erfahren. Er ist im Wesentlichen noch den. unter der rot-grünen Bundesregierung entstanden, im Diskurs mit praktisch allen Mitspielern auf dem Feld des Ich frage mich, Frau Ministerin, wie das praktisch Urheberrechts. Deshalb ist er auch eine gute Vorlage für funktionieren soll, da wir hier nicht zwei Parteien auf die Beratungen in den Ausschüssen. Aber er ist noch er- gleicher Augenhöhe haben. Nicht zuletzt das Urheber- heblich verbesserungsbedürftig. vertragsgesetz hat doch gezeigt, dass man aufgrund der Die Umstellung der Pauschalvergütung von dem al- unterschiedlichen Interessenlage nicht zwingend auf die ten System „Abgabe auf Geräte, die zum Abspielen be- Einsichtsfähigkeit der Beteiligten vertrauen darf. Ich stimmt sind“ auf das neue System „Abgabe auf Geräte, möchte aber nicht, dass den Urhebern letztendlich zuge- mit denen tatsächlich abgespielt wird“ ist im Grundsatz mutet wird, hinter ihren Ansprüchen herzulaufen. richtig. Aber mit den Vorschlägen haben Sie, Frau Hinzu kommt, dass der Maßstab für die Vergütungs- Ministerin, neue Probleme auf den Tisch gelegt. Was ist höhe die tatsächliche Nutzung der Gerätetypen sein soll. eine nennenswerte Nutzung? Die Streitigkeiten darüber Nur, wie soll die ermittelt werden? Die Bundesregierung sind vorprogrammiert. Eine Begrenzung der Pauschalab- stellt sich vor, dass die Verwertungsgesellschaften diese gabe auf höchstens 5 Prozent des Geräteverkaufspreises Daten durch Aufträge an Marktforschungsinstitute erhal- und die Nichteinbeziehung des Zubehörs sind gegenüber ten können. Aber man muss kein Prophet sein, um vo- den Kreativen nicht gerecht. Das muss geändert werden. raussagen zu können, dass die so ermittelten Ergebnisse Die Einführung einer neuen Schranke zur Verwen- von der anderen Seite umgehend angezweifelt werden. dung von Werken an Computerarbeitsplätzen ist rich- Die verbesserten Schlichtungsmöglichkeiten dürften da tig. Aber warum schöpfen Sie eigentlich die Möglichkeit kaum weiterhelfen. der Richtlinie nicht aus und beziehen nicht sämtliche (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Bildungseinrichtungen in diese Regelung ein? Richtig ist CDU/CSU) (B) ebenfalls die gesetzliche Einführung der vom Bundesge- (D) richtshof entwickelten Schranke des Kopienversandes Es stellt sich auch die Frage, wie die so genannte tat- durch Bibliotheken. Ich wäre sogar damit einverstanden, sächliche Nutzung bei neuen Gerätetypen festgestellt den wissenschaftlichen Verlagen die Möglichkeit zu er- werden soll; zumal man noch nicht einmal sagen kann, öffnen, den Kopienversand komplett in die eigenen welchen Zeitraums es überhaupt bedarf, um entspre- Hände zu nehmen, wenn dies zu fairen Bedingungen ge- chende empirische Untersuchungen durchzuführen. schähe. Diesbezüglich darf das Gesetz nicht schweigen; vielmehr muss das Gesetz dazu etwas sagen. Ungeklärt ist damit insbesondere, wie die Vergütung für die Zeit bis zum Ende dieser empirischen Untersu- Zwei weitere Punkte, die ich heute nicht mehr anspre- chungen geregelt werden soll, vor allem wenn ein neuer chen kann, liegen uns Grünen besonders am Herzen: die Gerätetyp vor dem Abschluss dieser Untersuchungen Bagatellklausel – wir wollen sie haben – und eine durch- vom Markt genommen wird, entweder weil er sich nicht setzungsstarke Privatkopie auch in der digitalen Welt. durchgesetzt hat oder weil der Hersteller bis dahin nicht Das wollen wir ebenfalls haben. Näheres dazu werden mehr existent ist. Dies kann meiner Auffassung nach Sie von uns Grünen erfahren, wenn wir uns diesen Ge- nicht zulasten der Urheber gehen. setzentwurf in den Ausschüssen zur Beratung vorneh- men werden. Inwieweit Gerätezubehör, welches häufig niedrige Gerätepreise kompensiert, bei der Bemessung der Vergü- Danke. tungshöhe Berücksichtigung finden soll, ist für mich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch nicht eindeutig geklärt. sowie bei Abgeordneten der SPD) Nicht nachvollziehen kann ich, warum in diesem Zu- sammenhang eine Vergütungsobergrenze von 5 Pro- Vizepräsidentin Petra Pau: zent des Verkaufspreises eingeführt werden soll; zum ei- Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege nen deshalb nicht, weil der für den Urheber nicht zu Dirk Manzewski für die SPD-Fraktion das Wort. beeinflussende Preis eines Gerätes doch nichts über die Nutzungseingriffe bei ihm aussagt, zum anderen deshalb Dirk Manzewski (SPD): nicht, weil bei dieser Regelung schon jetzt zukünftige Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Einbußen der Urheber zu erwarten sind. Schaut man sich Freunde der Rechtspolitik! Viel wäre zum heutigen nämlich zum Beispiel die Entwicklung bei Druckern und Thema zu sagen. Kopierern an, dann zeigt sich, dass diese einerseits im- mer leistungsstärker und andererseits immer billiger (Beifall bei Abgeordneten der SPD) werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4143

Dirk Manzewski (A) Neu geregelt werden soll auch die Nutzung von Wer- – Ich dachte, dass Sie ihrem Kollegen zur Hilfe kom- (C) ken in unbekannten Nutzungsarten. Es ist sicherlich men. Mit einer Zwischenfrage kann man so etwas lösen. richtig, auf die Probleme hinzuweisen, die im Zusam- Er muss sich dann nicht selbst gefährden. menhang mit Nutzungsarten, die es heute noch nicht gibt, entstehen können. Soweit den Urhebern deshalb er- (Ludwig Stiegler [SPD]: Frau Präsidentin, der öffnet werden soll, künftig grundsätzlich auch über ihre Rat kommt zu spät! – Weiterer Zuruf von der Rechte für die Zukunft zu verfügen, macht dies durchaus SPD: Wir haben anderes verabredet!) Sinn. Aber ich habe Schwierigkeiten damit, dass der Ur- – Herr Kollege, Sie sind doch so erfahren. Aber gut, das heber diese Rechtseinräumung nach § 31 a nur widerru- klären wir beim nächsten Mal. fen kann, wenn der andere noch nicht mit der Nutzung des Werks begonnen hat. Das bedeutet im Um- Ich schließe die Aussprache. kehrschluss, dass der Nutzer jeden Widerruf durch Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- schnelle Nutzungsaufnahme ausschließen kann, zumal wurfs auf Drucksache 16/1828 an die in der Tagesord- er nach § 32 c nur verpflichtet ist, den Urheber erst über nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es die Aufnahme der Nutzung unverzüglich zu unterrich- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. ten. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Nicht gut finde ich übrigens, dass das auch für Altver- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: träge gelten soll, da es für mich schon einen Unterschied macht, ob ich bewusst eine Regelung für die Zukunft Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- eingehe oder, wie bei Altverträgen, eben nicht. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- gelung des Versicherungsvermittlerrechts Ich komme zum Ende. Soweit von vielen ein bil- – Drucksache 16/1935 – dungs- und wissenschaftsfreundliches Urheberrecht an- gemahnt wird, Kollege Tauss, muss ich sagen: Ich finde Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) das nicht ganz gerecht, Rechtsausschuss Finanzausschuss (Jörg Tauss [SPD]: Aber fair!) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz da ich der Auffassung bin, dass wir ein solches Urheber- Ausschuss für Bildung, Forschung und recht haben. Sosehr ich angesichts knapper Kassenlage Technikfolgenabschätzung aus Sicht von Bildung und Wissenschaft nachvollziehen Ausschuss für Tourismus kann, dass man sich hier Spielräume wünscht, so sehr Verabredet war hierzu eine Debatte von einer halben (B) muss ich aber auch deutlich sagen, dass dies nicht zulas- Stunde. Wir nehmen die Reden aber zu Protokoll. Es (D) ten der Urheber gehen kann. sind die Reden des Kollegen Kai Wegner für die Unions- fraktion, des Kollegen Christian Lange (Backnang) für (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP die SPD-Fraktion, des Kollegen Martin Zeil für die und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) FDP-Fraktion, der Kollegin Ulla Lötzer für die Fraktion Auch geistiges Eigentum ist Eigentum. Es kommt ja Die Linke und des Kollegen Matthias Berninger für die auch niemand auf die Idee, die Rechnung eines Hand- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.1) Damit kann werkers nicht zu bezahlen, nur weil dieser für eine Uni- ich die Aussprache auch schon schließen. versität tätig geworden ist. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/1935 an die in der Tagesord- Letzter Satz. Wir müssen daher sehr vorsichtig sein, nung aufgeführten Ausschüsse und an den Ausschuss für um hier die richtige Balance zu wahren; ich sichere un- Tourismus vorgeschlagen. Gibt es dazu weitere seren Bildungspolitikern fraktionsübergreifend jedoch Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- zu, mit ihnen hierüber zu diskutieren, um nach Lösungen weisung so beschlossen. zu suchen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 37 a auf: Ich bitte um Entschuldigung dafür, dass ich ein biss- chen schnell gewesen bin, aber ansonsten hätte ich heute Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nicht annähernd das sagen können, was ich mir vorge- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform nommen habe. des Personenstandsrechts (Personenstands- rechtsreformgesetz – PStRG) Ich danke Ihnen. – Drucksache 16/1831 – (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Überweisungsvorschlag: und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsidentin Petra Pau: Auch hierzu war eine Debatte von einer halben Ich fürchtete schon, dass Sie gar nicht mehr Luft ho- Stunde vorgesehen. Wir nehmen aber die Beiträge des len. Kollegen Stephan Mayer (Altötting) für die Unions- (Ludwig Stiegler [SPD]: Er hat einen langen Atem!) 1) Anlage 31 4144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

Vizepräsidentin Petra Pau (A) fraktion, der Kollegin Gabriele Fograscher für die SPD- dazu weitere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann (C) Fraktion, der Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion, ist die Überweisung so beschlossen. der Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion Die Linke und der Kollegin Silke Stokar für die Fraktion des Bündnis- Wir sind damit am Schluss der Tagesordnung der ses 90/Die Grünen zu Protokoll.1) Damit schließe ich 43. Sitzung. auch diese Aussprache. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- destages auf heute, Freitag, den 30. Juni 2006, 8 Uhr, wurfs auf Drucksache 16/1831 an die in der Tagesord- ein. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Die Sitzung ist geschlossen.

1) Anlage 32 (Schluss: 0.25 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4145

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 von Kindergeld bzw. kindbedingten Steuerfreibeträgen auf die Zeit vor Vollendung des 25. Lebensjahres halte Liste der entschuldigten Abgeordneten ich zwar grundsätzlich für vertretbar. Unzureichend sind jedoch die Übergangsfristen bei der Absenkung der Al- tersgrenze, die zu kurz bemessen sind. entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Die Beschränkung der Entfernungspauschale auf Fernpendler, Ausschluss von 20 Entfernungskilometern, Adam, Ulrich CDU/CSU 29.06.2006* halte ich für falsch und ungerecht. Alternativ hätte die Werbekostenpauschale abgesenkt und die Entfernungs- Bär, Dorothee CDU/CSU 29.06.2006 pauschale vom ersten Kilometer an beibehalten werden müssen. Barnett, Doris SPD 29.06.2006* Siegmund Ehrmann (SPD): Die Beratungen zum Bartsch, Dietmar DIE LINKE 29.06.2006 Steueränderungsgesetz 2007 haben gezeigt, dass es in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine Benachteili- Bollen, Clemens SPD 29.06.2006 gung der Berufsgruppe der Bergleute bedeutet, wenn die Deittert, Hubert CDU/CSU 29.06.2006* Bergmannsprämie mit der im Gesetzentwurf vorgesehen kurzen Übergangsfrist abgeschafft wird. Gerade diese Fischbach, Ingrid CDU/CSU 29.06.2006 Berufsgruppe, die in den vergangen Jahren erhebliche Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen und zu- Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 29.06.2006* dem noch infolge der Verlagerung der Arbeitsplätze an Land), Axel E. weiter entfernte Zechenstandorte zusätzliche Aufwen- dungen hat, wird durch den Wegfall der bisher steuerfrei Hilsberg, Stephan SPD 29.06.2006 entrichteten Bergmannsprämie benachteiligt.

Dr. Jung, Franz Josef CDU/CSU 29.06.2006 Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe „Finanzen“ der SPD-Bundestagsfraktion die einhellige Empfehlung Klug, Astrid SPD 29.06.2006 ausgesprochen, es bei der Bergmannsprämie bei dem ak- (B) tuellen Zustand zu belassen. Hilfsweise hätte man zu- (D) Kolbow, Walter SPD 29.06.2006 mindest eine stark verlängerte Auslauffrist vereinbaren können, um den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit Link (Heilbronn), FDP 29.06.2006 einer Kompensation einzuräumen. Die für Finanzen zu- Michael ständigen Fachpolitiker der CDU/CSU-Bundestagsfrak- tion haben sich aber mit dem Argument des „fehlenden Lintner, Eduard CDU/CSU 29.06.2006* Beratungsbedarfs“ kategorisch gegen eine Beibehaltung der Bergmannsprämie ausgesprochen und somit jedwede Lopez, Helga SPD 29.06.2006 Änderung vereitelt.

Multhaupt, Gesine SPD 29.06.2006 Entsprechendes gilt für die Regelung zur Abschaf- fung der Entfernungspauschale. Die SPD-Bundestags- Niebel, Dirk FDP 29.06.2006 fraktion – und somit auch der Unterzeichner – erkennt den zur Konsolidierung des Haushalts erforderlichen Strothmann, Lena CDU/CSU 29.06.2006 Mittelbedarf in Höhe von 2,5 Milliarden Euro an. Ge- genüber der Streichung der Entfernungspauschale und der Gewährung einer Härteausfallregelung ab dem * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- 21. Kilometer hätte es jedoch sozialere und auch gerech- sammlung des Europarates tere Modelle gegeben. Ein gerechteres Alternativmodell wäre gewesen, für Anlage 2 die ersten 20 Kilometer einen Betrag von 0,20 Euro pro Kilometer und ab dem 21. Kilometer 0,25 Euro pro Ent- Erklärungen nach § 31 GO fernungskilometer anzusetzen bei gleichzeitiger Redu- zierung des Arbeitnehmerpauschbetrags von derzeit zur namentlichen Abstimmung über den Ent- 920 Euro auf 500 Euro. Dieses Modell hätte das gleiche wurf eines Steueränderungsgesetzes 2007 (Ta- Einsparvolumen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro gehabt gesordnungspunkt 3 a) und wäre sozial gerechter gewesen. Derjenige, der viel abzusetzen hätte, hätte dies nach wie vor tun können. Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Ich stimme dem Steu- Derjenige, der keinerlei Absetzungsbeträge als Wer- eränderungsgesetz 2007 aus folgenden Gründen nicht bungskosten geltend machen könnte, hätte die in seinem zu: Die Absenkung der Altersgrenze für die Gewährung Fall ungerechtfertigte Besserstellung in Höhe von 4146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) 920 Euro gegen eine solche von 500 Euro eintauschen diese Berufsgruppe, die in den vergangenen Jahren er- (C) müssen. Dies wäre vertretbar gewesen und hätte zudem hebliche Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen die verfassungsmäßigen Zweifel des jetzigen Modells und zudem noch infolge der Verlagerung der Arbeits- ausräumen können. Auch hier haben aber die Fachpoliti- plätze an weiter entfernte Zechenstandort zusätzliche ker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Mitwirkung Aufwendungen hat, wird durch den Wegfall der bisher versagt und daher eine Mehrheitsfindung im Sinne des steuerfrei entrichteten Bergmannsprämie benachteiligt. Alternativmodells vereitelt. Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe „Finanzen“ der SPD-Bundestagsfraktion die einhellige Empfehlung Gabriele Frechen (SPD): Das Steueränderungsge- ausgesprochen, es bei der Bergmannsprämie bei dem setz 2007 verfolgt das Ziel, weitere Steuervergünstigun- aktuellen Zustand zu belassen. Hilfsweise hätte man zu- gen und Ausnahmetatbestände abzubauen, den Finanzie- mindest eine stark verlängerte Auslauffrist vereinbaren rungsbeitrag von Spitzenverdienern zumindest in können, um den Tarifvertragsparteien die Möglich- geringem Umfang zu erhöhen und damit die öffentlichen keit einer Kompensation einzuräumen. Die für Finan- Haushalte zu konsolidieren. Diese Zielsetzung halte ich zen zuständigen Fachpolitiker der CDU/CSU-Bundes- für richtig. Deshalb stimme ich dem vorliegenden Ge- tagsfraktion haben sich aber mit dem Argument des setzentwurf der Regierungskoalition zu. Ich halte jedoch „fehlenden Beratungsbedarfs“ kategorisch gegen eine die Kürzung der Entfernungspauschale für falsch. Die Beibehaltung der Bergmannsprämie ausgesprochen und Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Ar- somit jedwede Änderung vereitelt. beitsplatz sind berufsbedingte Kosten und müssen damit auch steuerlich als Werbungskosten anerkannt werden. Entsprechendes gilt für die Regelung zur Abschaf- Das nun zur Entscheidung stehende Modell, das die fung der Entfernungspauschale. Die SPD-Bundestags- Wegekosten erst ab dem 21. Kilometer berücksichtigt, ist fraktion – und somit auch die Unterzeichnerin – erkennt nicht sachgerecht. Es führt zu einer ungerechten Vertei- den zur Konsolidierung des Haushalts erforderlichen lung der zusätzlichen Belastungen. Im Lichte der Ergeb- Mittelbedarf in Höhe von 2,5 Milliarden Euro an. Ge- nisse der Expertenanhörung haben wir deshalb versucht, genüber der Streichung der Entfernungspauschale und diesen Punkt zu korrigieren und das vorgegebene Konso- der Gewährung einer Härteausfallregelung ab dem lidierungsvolumen durch eine geringere lineare Kürzung 21. Kilometer hätte es jedoch sozialere und auch gerech- der Pendlerpauschale sowie eine Absenkung des Arbeit- tere Modelle gegeben. nehmerpauschbetrags zu erreichen. Diese Lösung hätte Ein gerechteres Alternativmodell wäre gewesen, für die Belastungen gerechter verteilt und die tatsächliche die ersten 20 Kilometer einen Betrag von 0,20 Euro pro Subventionierung durch die Arbeitnehmerpauschale re- (B) Kilometer und ab dem 21. Kilometer 0,25 Euro pro Ent- (D) duziert. Obwohl Teile der Union außerhalb des Parla- fernungskilometer anzusetzen bei gleichzeitiger Redu- ments vorgegeben haben, für eine sachgerechte Lösung zierung des Arbeitnehmerpauschbetrags von derzeit offen zu sein, hat die CDU/CSU-Fraktion sich einer Ver- 920 Euro auf 500 Euro. Dieses Modell hätte das gleiche besserung des Gesetzentwurfs verweigert. Einsparvolumen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro gehabt Ich gehe auf Basis der juristischen Stellungnahme des und wäre sozial gerechter gewesen. Derjenige, der viel Bundesfinanzministeriums davon aus, dass die Heraus- abzusetzen hätte, hätte dies nach wie vor tun können. nahme der Pendlerpauschale aus den Werbungskosten Derjenige, der keinerlei Absetzungsbeträge als Wer- keine negativen Auswirkungen für die Arbeitnehmerin- bungskosten geltend machen könnte, hätte die in seinem nen und Arbeitnehmer im Sozial- und Arbeitsrecht ha- Fall ungerechtfertigte Besserstellung in Höhe von ben wird. 920 Euro gegen eine solche von 500 Euro eintauschen müssen. Dies wäre vertretbar gewesen und hätte zudem Für problematisch halte ich die komplette Streichung die verfassungsmäßigen Zweifel des jetzigen Modells der Bergmannsprämie ab 2008. Der Koalitionsvertrag ausräumen können. Auch hier haben aber die Fachpoliti- sah nur die Abschaffung der Steuerfreiheit vor. Das wäre ker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Mitwirkung zumindest kurz- und mittelfristig die bessere Lösung ge- versagt und daher eine Mehrheitsfindung im Sinne des wesen. Auch hier konnte keine Veränderung erreicht Alternativmodells vereitelt. werden. Außerdem habe ich mich für eine Verlängerung der Übergangszeit bei der Absenkung der Bezugsdauer des Kindergeldbezuges eingesetzt. Ich hielte eine wei- Dr. Bärbel Kofler (SPD): Aufgrund der Änderungen tere Übergangsfrist von zwei Jahren für sachgerechter. im Bereich der Entfernungspauschale sehe ich mich au- ßer Stande, dem Steueränderungsgesetz zuzustimmen. Da ich den Grundsatz und die Notwendigkeit der Nicht nur, dass es Arbeitnehmern insbesondere in ländli- Haushaltskonsolidierung für richtig halte, stimme ich chen Regionen nicht zu vermitteln ist, dass ihre real ent- trotz der gemachten Bedenken diesem Gesetzentwurf zu. stehenden Kosten zur Erhaltung ihres Arbeitsplatzes steuerlich anders behandelt werden als vergleichbare Petra Hinz (Essen) (SPD): Die Beratungen zum Aufwendungen Selbstständiger. Ich halte es auch für Steueränderungsgesetz 2007 haben gezeigt, dass es in nicht richtig, steuerliche Tatbestände zu schaffen, die ge- sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine Benachteili- gebenenfalls versicherungsrechtlich negative Folgen für gung der Berufsgruppe der Bergleute bedeutet, wenn die Arbeitnehmer nach sich ziehen. Darüber hinaus bin ich Bergmannsprämie mit der im Gesetzentwurf vorgesehe- der Meinung, die vorliegende Regelung ist verfassungs- nen kurzen Übergangsfrist abgeschafft wird. Gerade widrig. Entsprechende Klagen vor dem Bundesverfas- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4147

(A) sungsgericht und daraus folgende Unsicherheiten für den ausräumen können. Auch hier haben aber die Fachpoliti- (C) Bundeshaushalt tragen meines Erachtens nicht in dem ker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihre Mitwirkung Maß zu der erhofften Konsolidierung des Haushaltes versagt und daher eine Mehrheitsfindung im Sinne des bei. Alternativmodells vereitelt. Leider kann ich generell im Entwurf zum Steuerände- rungsgesetz 2007 keinen ausgewogenen und gerechten Hilde Mattheis (SPD): Heute wird über den Koali- Beitrag aller Bevölkerungsteile zur Haushaltskonsolidie- tionsentwurf eines Steueränderungsgesetzes abgestimmt. rung erkennen. Das weitaus größte Einsparvolumen Ich halte vor allem die vorgesehenen Kürzungen bei der muss von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern er- Entfernungspauschale und die Absenkung der Alters- bracht werden. Diese Tendenz der Steuergesetzgebung grenze beim Kindergeld für falsch. Gleichzeitig habe ich erfüllt mich mit großer Sorge. Verständnis für die Proteste der Lehrer und Lehrerinnen bezüglich der Streichung der steuerlichen Absetzbarkeit Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Die Beratungen von häuslichen Arbeitszimmern. Daher werde ich gegen zum Steueränderungsgesetz 2007 haben gezeigt, dass es diesen Gesetzentwurf stimmen. in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht eine Benachtei- ligung der Berufsgruppe der Bergleute bedeutet, wenn Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Trotz mei- die Bergmannsprämie mit der im Gesetzentwurf vorge- ner erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ge- sehenen kurzen Übergangsfrist abgeschafft wird. Gerade genüber der im Gesetzentwurf enthaltenen Regelung zur diese Berufsgruppe, die in den vergangen Jahren erhebli- Pendlerpauschale stimme ich diesem Gesetzentwurf, che Einkommenseinbußen hat hinnehmen müssen und 16/1545, zu. Ich vertraue hierbei den Aussagen des Bun- zudem noch infolge der Verlagerung der Arbeitsplätze desfinanzministers, Herrn Peer Steinbrück, und den an weiter entfernte Zechenstandorte zusätzliche Auf- Fachleuten des Ministeriums für Finanzen, die wieder- wendungen hat, wird durch den Wegfall der bisher steu- holt und ausdrücklich auf die verfassungsmäßige Unbe- erfrei entrichteten Bergmannsprämie benachteiligt. denklichkeit des Gesetzes hingewiesen haben. Aus diesem Grund hat die Arbeitsgruppe „Finanzen“ Auch bei der Notwendigkeit der Haushaltskonsolidie- der SPD-Bundestagsfraktion die einhellige Empfehlung rung und der dauerhaften Sanierung der öffentlichen ausgesprochen, es bei der Bergmannsprämie bei dem Haushalte ist meine Zustimmung mit der Zusage des aktuellen Zustand zu belassen. Hilfsweise hätte man zu- BMF verbunden, dass die Konsolidierungsmaßnahmen mindest eine stark verlängerte Auslauffrist vereinbaren dem Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit entsprechen können, um den Tarifvertragsparteien die Mög- und diese nicht zulasten von ländlichen und struktur- (B) lichkeit einer Kompensation einzuräumen. Die für Fi- schwachen Regionen erfolgen. (D) nanzen zuständigen Fachpolitiker der CDU/CSU-Bun- destagsfraktion haben sich aber mit dem Argument des „fehlenden Beratungsbedarfs“ kategorisch gegen eine Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Mit dem Steu- Beibehaltung der Bergmannsprämie ausgesprochen und eränderungsgesetz 2007 werden insbesondere im Koali- somit jedwede Änderung vereitelt. tionsvertrag vorgesehene Maßnahmen umgesetzt. Geplant ist unter anderem die Beschränkung der Entfernungspau- Entsprechendes gilt für die Regelung zur Abschaf- schale auf Fernpendler, Ausschluss von 20 Entfernungski- fung der Entfernungspauschale. Die SPD-Bundestags- lometern. Auch der Bundesrat hat um verfassungsrechtliche fraktion – und somit auch den Unterzeichner – erkennt Überprüfung gebeten. Die Äußerung des Bundesfinanz- den zur Konsolidierung des Haushalts erforderlichen ministers zu diesem Sachverhalt überzeugt nicht. Man Mittelbedarf in Höhe von 2,5 Milliarden Euro an. Ge- stellt Folgendes fest: genüber der Streichung der Entfernungspauschale und der Gewährung einer Härteausfallregelung ab dem Vor dem Hintergrund, dass von Beschäftigten heute 21. Kilometer hätte es jedoch sozialere und auch gerech- eine erhöhte Mobilität und Flexibilität gefordert tere Modelle gegeben. wird, hält die Bundesregierung Wahrung der sozia- len Ausgewogenheit der Regelung und im Hinblick Ein gerechteres Alternativmodell wäre gewesen, für auf Artikel 6 Abs. l des Grundgesetzes die vorge- die ersten 20 Kilometer einen Betrag von 0,20 Euro pro schlagene Härtefallregelung für sachgerecht und im Kilometer und ab dem 21. Kilometer 0,25 Euro pro Ent- Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip für fernungskilometer anzusetzen bei gleichzeitiger Redu- verfassungsrechtlich möglich. zierung des Arbeitnehmerpauschbetrags von derzeit 920 Euro auf 500 Euro. Dieses Modell hätte das gleiche Die Feststellung, dass es „verfassungsrechtlich mög- Einsparvolumen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro gehabt lich“ ist, ist sehr vage. Deshalb ist zu befürchten, dass und wäre sozial gerechter gewesen. Derjenige, der viel die Entscheidung des Parlaments einer verfassungsrecht- abzusetzen hätte, hätte dies nach wie vor tun können. lichen Prüfung nicht standhält. Derjenige, der keinerlei Absetzungsbeträge als Wer- bungskosten geltend machen könnte, hätte die in seinem Im Übrigen betrifft diese Entscheidung vor allem den Fall ungerechtfertigte Besserstellung in Höhe von ländlichen Raum. Da ausreichende ÖPNV-Angebote 920 Euro gegen eine solche von 500 Euro eintauschen kaum vorhanden sind, werden Arbeitnehmerinnen und müssen. Dies wäre vertretbar gewesen und hätte zudem Arbeitnehmer hier besonders benachteiligt, obwohl die die verfassungsmäßigen Zweifel des jetzigen Modells Politik eine immer größere Flexibilität von ihnen fordert. 4148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Silvia Schmidt (SPD): Das Steueränderungsgesetz Die Feststellung, dass es „verfassungsrechtlich mög- (C) 2007 ist ein wichtiger Baustein zur notwendigen Konso- lich“ ist, ist sehr vage. Deshalb ist zu befürchten, dass lidierung des Haushaltes und damit auch zur Wiederer- die Entscheidung des Parlaments einer verfassungsrecht- langung staatlicher Gestaltungsspielräume. Beispiels- lichen Prüfung nicht standhält. weise werden durch die 3-prozentige Erhöhung des Spitzensteuersatzes für jährliche Einkommen ab 250 000/ Im Übrigen betrifft diese Entscheidung vor allem den 500 000 Euro, ledig/verheiratet, Spitzenverdiener zu ei- ländlichen Raum. Da ausreichende ÖPNV-Angebote nem solidarischen Konsolidierungsbeitrag verpflichtet. kaum vorhanden sind, werden Arbeitnehmerinnen und Neben einer Reihe von weiteren notwendigen Maßnah- Arbeitnehmer hier besonders benachteiligt, obwohl auch men sieht das Gesetz eine schrittweise Streichung der die Politik eine immer größere Flexibilität von ihnen for- Bergmannsprämie vor. Wir lehnen dies ab. Die 1956 zur dert. Anerkennung der besonderen Leistungen des unter Tage tätigen Bergmanns geschaffene Prämie hat auch heute ihre Berechtigung nicht verloren. Die Arbeit der Berg- Anlage 4 leute hat sich zwar verändert, findet aber nach wie vor un- Erklärung nach § 31 GO ter erschwerten Bedingungen statt. Im Übrigen haben die Betroffenen in den vergangenen Jahren durch massiven der Abgeordneten Lothar Binding (Heidel- Arbeitsplatzabbau, Umstrukurierungen und Rationalisie- berg), Dr. Frank Schmidt und Gunter Weißger- rungsmaßnahmen teilweise schmerzliche Einkommens- ber (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung einbußen erlitten. Ebenso sind viele Bergleute als Fern- über den Entwurf eines Steueränderungsgeset- pendler von der Kürzung der Entfernungspauschale be- zes 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a) troffen. Nach bisherigem Recht können für Fahrten zum Die betroffenen Standorte des Steinkohle- und Kali- Arbeitsplatz für jeden Entfernungskilometer 30 Cent als bergbaus liegen ausnahmslos in strukturschwächeren Werbungskosten von der Steuer abgesetzt werden, die so Regionen. Ihnen droht ein weiterer massiver Kaufkraftver- genannte Pendlerpauschale. Mit Wirkung zum 1. Januar lust, der mittelfristig durch entsprechende Tarifsteigerun- 2007 soll das so genannte Werkstorprinzip eingeführt gen nicht kompensiert werden kann. Selbstverständlich werden. Aufwendungen für den Weg zum Arbeitsplatz müssen alle Bevölkerungsgruppen zur Konsolidierung gehören dann zum Privatbereich und können nicht mehr des Haushaltes herangezogen werden. Im Vergleich zu steuerlich geltend gemacht werden. Lediglich als „Här- anderen Berufsgruppen trifft es die Bergleute mit rund tefallausgleich“ sollen ab 1. Januar 2007 für Fernpendler 1 000 Euro netto jährlich in besonderer Härte. die Fahrtkosten ab dem 21. Entfernungskilometer mit 30 Cent pro Kilometer von der Steuer als Werbungskos- Vor dem Hintergrund des bescheidenen Einsparpoten- (B) ten anerkannt werden. Die Entfernungspauschale wird (D) zials im Bundeshaushalt von rund 23 Millionen Euro dabei mit der Werbungskostenpauschale von 920 Euro missbilligen wir die Weigerung der CDU/CSU-Fraktion, verrechnet. Durch diese Maßnahme werden Mehrein- auf dem Verhandlungsweg eine stärker an den Interessen nahmen von etwa 2,5 Milliarden Euro pro Jahr erwartet. der Bergleute orientierte Kompromisslösung zu erzielen. In unserem Kulturkreis, anders als zum Beispiel in den USA, wohnt man zu Hause und fährt zum Zwecke Anlage 3 der Einkommenserzielung an den Arbeitsplatz. Einem ähnlichen Denkansatz folgen auch die Regelungen bei Erklärung nach § 31 GO der Wegeunfallversicherung. Die formalrechtliche Mög- der Abgeordneten Klaus Hofbauer und Bartho- lichkeit, hier zwischen Steuerecht und Versicherungs- lomäus Kalb (beide CDU/CSU) zur namentli- recht zu unterscheiden, hebt den durch die Beschlussfas- chen Abstimmung über den Entwurf eines Steu- sung erzeugten Widerspruch nicht auf. Gegen diese eränderungsgesetzes 2007 Veränderungen beim Werbungskostenabzug haben wir (Tagesordnungspunkt 3 a) erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, denn mit der Unstetigkeitsstelle hinsichtlich der Behandlung der Mit dem Steueränderungsgesetz 2007 werden insbe- Pendlerpauschale bis 20 Kilometer und darüber besteht sondere im Koalitionsvertrag vorgesehene Maßnahmen die Gefahr der Verfassungswidrigkeit. umgesetzt. Geplant ist unter anderem die Beschränkung der Entfernungspauschale auf Fernpendler, Ausschluss Hintergrund dieser vermuteten Verfassungswidrig- von 20 Entfernungskilometern. Auch der Bundesrat hat keit ist die Tatsache, dass es sich bei den Kosten für um verfassungsrechtliche Überprüfung gebeten. Die Äu- Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsplatz um klassi- ßerung des Bundesfinanzministers zu diesem Sachver- sche Werbungskosten handelt. Da derartige Aufwendun- halt überzeugt nicht. Man stellt Folgendes fest: gen dem Steuerpflichtigen zum Lebensunterhalt nicht zur Verfügung stehen, müssen sie steuerlich als Wer- Vor dem Hintergrund, dass von Beschäftigten heute bungskosten berücksichtigt werden. Durch diese Neure- eine erhöhte Mobilität und Flexibilität gefordert gelung werden wie bisher pauschal auch jene Arbeitneh- wird, hält die Bundesregierung zur Wahrung der so- mer begünstigt, die keine Kosten haben. Belastet werden zialen Ausgewogenheit der Regelung und im Hin- hingegen jene, die „echte“ Kosten, Fahrtkosten haben. blick auf Artikel 6 Abs. l des Grundgesetzes die vorgeschlagene Härtefallregelung für sachgerecht Zur Vermeidung dieses Verfassungsrisikos haben wir und im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprin- vorgeschlagen, die Arbeitnehmerpauschale auf 500 Euro zip für verfassungsrechtlich möglich. zu senken, sie gleichzeitig nicht auf die Entfernungspau- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4149

(A) schale anzurechnen und die Entfernungspauschale auf Das Steueränderungsgesetz 2007 ist ein wichtiger (C) 20 Cent pro Kilometer für die ersten 20 Kilometer und Baustein zur notwendigen Konsolidierung des Haushal- auf 25 Cent pro Kilometer für die weiteren Kilometer tes und damit auch zur Wiedererlangung staatlicher Ge- festzulegen. Damit wären die fiskalpolitisch notwendi- staltungsspielräume. Beispielsweise werden durch die gen 2,5 Milliarden Euro pro Jahr ebenso erreichbar, die 3-prozentige Erhöhung des Spitzensteuersatzes für jähr- Belastungswirkung für alle Arbeitnehmer wäre aber ge- liche Einkommen ab 250 000/500 000 Euro, ledig/ver- rechter. heiratet, Spitzenverdiener zu einem solidarischen Kon- solidierungsbeitrag verpflichtet. Neben einer Reihe von Wir stimmen dem Gesetzentwurf in der geänderten weiteren notwendigen Maßnahmen sieht das Gesetz eine Fassung trotzdem zu, weil das Ganze mehr ist als die schrittweise Streichung der Bergmannsprämie vor. Wir Summe seiner Teile und der Entwurf des Steuerände- lehnen dies ab. Die 1956 zur Anerkennung der besonde- rungsgesetzes ein Maßnahmenpaket ist, das unabdingbar ren Leistungen des unter Tage tätigen Bergmanns ge- zur Konsolidierung des Bundeshaushaltes notwendig ist. schaffene Prämie hat auch heute ihre Berechtigung nicht Und Haushaltskonsolidierung ist ein wichtiger Schritt verloren. Die Arbeit der Bergleute hat sich zwar verän- auf dem Weg den Sozialstaat zukunftsfest zu gestalten. dert, findet aber nach wie vor unter erschwerten Bedin- gungen statt. Im Übrigen haben die Betroffenen in den vergangenen Jahren durch massiven Arbeitsplatzabbau, Anlage 5 Umstrukturierungen und Rationalisierungsmaßnahmen Erklärung nach § 31 GO teilweise schmerzliche Einkommenseinbußen erlitten. Ebenso sind viele Bergleute als Fernpendler von der der Abgeordneten Gerd Bollmann, Dieter Gra- Kürzung der Entfernungspauschale betroffen. sedieck, Christoph Pries und Axel Schäfer (Bo- Die betroffenen Standorte des Steinkohle- und Kali- chum) (alle SPD) zur namentlichen Abstim- bergbaus liegen ausnahmslos in strukturschwächeren mung über den Entwurf eines Regionen. Ihnen droht ein weiterer massiver Kaufkraftver- Steueränderungsgesetzes 2007 (Tagesordnungs- lust, der mittelfristig durch entsprechende Tarifsteigerun- punkt 3 a) gen nicht kompensiert werden kann. Selbstverständlich Das vorliegende Steueränderungsgesetz dient der zü- müssen alle Bevölkerungsgruppen zur Konsolidierung gigen und dauerhaften Konsolidierung der öffentlichen des Haushaltes herangezogen werden. Im Vergleich zu Haushalte. Der Entwurf sieht Regelungen vor, die einer- anderen Berufsgruppen trifft es die Bergleute mit rund seits auf eine dauerhafte Sanierung der öffentlichen 1 000 Euro netto jährlich in besonderer Härte. Haushalte zielen, andererseits aber den Grundsätzen der Vor dem Hintergrund des bescheidenen Einsparpoten- individuellen Leistungsfähigkeit und der Verteilungsge- (B) zials im Bundeshaushalt von rund 23 Millionen Euro (D) rechtigkeit sowie der Steuervereinfachung dienen. Diese missbilligen wir die Weigerung der CDU/CSU-Fraktion, Ziele unterstützen auch die Unterzeichner. Mit unserer auf dem Verhandlungsweg eine stärker an den Interessen grundsätzlichen Zustimmung erkennen wir an, dass die- der Bergleute orientierte Kompromisslösung zu erzielen. ser Gesetzentwurf grundsätzlich die angestrebten Ziele erreicht. Wir müssen jedoch verdeutlichen, dass wir die Ab- schaffung der Bergmannsprämie und deren Begründung Anlage 7 ablehnen. Die Abschaffung der Bergmannsprämie be- Erklärung nach § 31 GO deutet für die unter Tage Beschäftigten eine Lohnein- buße bis zu 1 000 Euro jährlich. Angesichts der Lohn- der Abgeordneten Florian Pronold, Marco entwicklung gerade im Bergbau sind wir der Meinung, Bülow, Ulla Burchardt, Martin Burkert, dass diese Einbußen sozial ungerecht sind. Die unter Dr. Carl-Christian Dressel, Petra Ernstberger, Tage Beschäftigten haben in den letzten Jahren auf Gabriele Fograscher, Peter Friedrich, Angelika Lohnzuwächse verzichtet und auch im Vergleich mit an- Graf (Rosenheim), Gabriele Groneberg, Bettina deren Berufsgruppen stärkere Einkommensverluste ak- Hagedorn, Reinhold Hemker, Frank Hofmann zeptiert. Der Wegfall der Bergmannsprämie bedeutet (Volkach), Lothar Ibrügger, Brunhilde Irber, eine überproportionale finanzielle Belastung für eine Be- Christian Kleiminger, Rolf Kramer, Anette rufsgruppe. Das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit wird Kramme, Jürgen Kucharczyk, Dirk Man- hier verletzt. zewski, Lothar Mark, Detlef Müller (Chem- nitz), Heinz Paula, Maik Reichel, Gerold Rei- chenbach, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Renate Anlage 6 Schmidt (Nürnberg), Heinz Schmitt (Landau), Ewald Schurer, Dr. Angelica Schwall-Düren, Erklärung nach § 31 GO Christoph Strässer, Jella Teuchner, Rüdiger Veit und Dr. Wolfgang Wodarg (alle SPD) zur der Abgeordneten Michael Roth (Heringen), namentlichen Abstimmung über den Entwurf Waltraud Wolff (Wolmirstedt), Joachim Poß, eines Steueränderungsgesetzes 2007 (Tagesord- Ernst Kranz, Waltraud Lehn und Johannes nungspunkt 3 a) Pflug (alle SPD) zur namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Steueränderungsgeset- Das Steueränderungsgesetz 2007 verfolgt das Ziel, zes 2007 (Tagesordnungspunkt 3 a) weitere Steuervergünstigungen und Ausnahmetatbe- 4150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) stände abzubauen, den Finanzierungsbeitrag von Spitzen- Namens der Fraktion der FDP erkläre ich, dass das (C) verdienern zumindest in geringem Umfang zu erhöhen Votum „Ablehnung“ lautet. und damit die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren. Diese Zielsetzung halten wir für richtig. Deshalb stim- men wir dem vorliegenden Gesetzentwurf der Regie- Anlage 10 rungskoalition zu. Erklärungen nach § 31 GO Wir halten jedoch die Kürzung der Entfernungspau- schale für falsch. Die Aufwendungen für Fahrten zwi- zur namentlichen Abstimmung über den Ent- schen Wohnung und Arbeitsplatz sind eindeutig berufs- wurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäi- bedingte Kosten und müssen damit auch steuerlich als scher Richtlinien zur Verwirklichung des Werbungskosten anerkannt werden. Die dabei vorge- Grundsatzes der Gleichbehandlung nommene Pauschalierung darf nicht willkürlich vorge- nommen werden, sondern muss zumindest annähernd Klaus Brähmig (CDU/CSU): Aufgrund der Nach- den realen Kosten entsprechen. Angesichts der steigen- verhandlungen zwischen den Koalitionsfraktionen und den Mobilitätserwartungen an Arbeitnehmerinnen und den daraus resultierenden Verbesserungen des AGG Arbeitnehmer, der in ländlichen Regionen unvermeidbar werde ich im Sinne der Fraktion heute zustimmen. Den- weiteren Arbeitswege und der steigenden Kosten für den noch bleiben mir erhebliche Bedenken zum Gesetz über- Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz ist eine Kür- haupt. Nach meiner Überzeugung ist dieses Gesetz über- zung nicht angemessen. flüssig und alle EU-Vorgaben sind bereits ausreichend in Das nun zur Entscheidung stehende Modell, das die deutschen Gesetzen verankert, so zum Beispiel in Art. 1 Wegekosten erst ab dem 21. Kilometer berücksichtigt, des Grundgesetzes. Auch passt dieses Gesetz nicht in die ist nicht sachgerecht. Es führt zu einer ungerechten Ver- Landschaft der beabsichtigten Entbürokratisierung. teilung der zusätzlichen Belastungen und ist verfas- Daher fordere ich die Bundesregierung auf, solche sungsrechtlich höchst bedenklich. Im Lichte der Ergeb- und ähnliche Vorhaben aus Brüssel bereits im Vorfeld nisse der Expertenanhörung haben wir deshalb versucht, bei deren Entstehung zu verhindern und die deutsche diesen Punkt zu korrigieren und das vorgegebene Kon- solidierungsvolumen durch eine geringere lineare Kür- EU-Ratspräsidentschaft 2007 dazu zu nutzen, den zung der Pendlerpauschale sowie eine Absenkung des Kampf gegen die Bürokratie zu forcieren. Arbeitnehmerpauschbetrags zu erreichen. Diese Lösung hätte zumindest die Belastungen gerechter verteilt, ver- Veronika Bellmann (CDU/CSU): Ich kann dem Ge- fassungsrechtliche Bedenken ausgeräumt und die tat- setzentwurf der Bundesregierung aus folgenden Grün- (B) sächliche Subventionierung durch die Arbeitnehmerpau- den nicht zustimmen: Erstens. Zwar sind die Änderun- (D) schale reduziert. Obwohl Teile der Union außerhalb des gen am ursprünglichen Entwurf zu begrüßen, sie reichen Parlaments vorgegeben haben, für eine sachgerechte Lö- aber nicht aus. So gilt das Allgemeine Gleichbehand- sung offen zu sein, hat die CDU/CSU-Fraktion sich ei- lungsgesetz, AGG, nicht, wenn in Betrieben weniger als ner Verbesserung des Regierungsentwurfs verweigert. fünf Arbeitnehmer beschäftigt sind. Dies mag Hand- Wir gehen auf Basis der juristischen Stellungnahme werksbetriebe entlasten, das Gros der kleinen und mittel- des Bundesfinanzministeriums davon aus, dass die He- ständischen Unternehmen, die in der Regel mehr als fünf rausnahme der Pendlerpauschale aus den Werbungskos- Arbeitnehmer beschäftigen, profitiert von dieser Entlas- ten keine negativen Auswirkungen für die Arbeitnehme- tung nicht. Gleiches gilt für die Entlastung hinsichtlich rinnen und Arbeitnehmer im Sozial- und Arbeitsrecht Vermietungen. Dort gilt das AGG erst dann, wenn ein haben wird. Vermieter mehr als 50 Wohnungen vermietet. Die Masse der Wohnungsbaugesellschaften insbesondere in Ost- deutschland vermietet mehr als 50 Wohnungen. Anlage 8 Zweitens. Es bleibt das ungerechtfertigte Aufstocken Erkärung nach § 31 GO auf die durch die ehemalige rot-grüne Bundesregierung maßgeblich beeinflusste Richtlinie der EU um vier bzw. der Abgeordneten Renate Blank (CDU/CSU) zur fünf Diskriminierungsmerkmale. Mit dieser Erweiterung namentlichen Abstimmung über den Entwurf ist eine Ideologisierung des Zivilrechts durch eine eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Bu- Expansion von Schadenersatzansprüchen im Sinne des ches Sozialgesetzbuch (Tagesordnungspunkt 4 b) Übergangs von materiellen auf immaterielle Schäden zu In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt. befürchten. Mein Votum lautet „Nein“. Drittens. Das Vertragsrecht im Sinne von Vertrags- freiheit wird in unangemessener Art und Weise beein- trächtigt. Anlage 9 Viertens. Die Schaffung der Antidiskriminierungsbe- Erklärung hörde mit einer lediglich vertraglichen Bindung an das des Abgeordneten Jürgen Koppelin (FDP) zur Familienministerium, das heißt ohne jegliche Fach- oder Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Rechtsaufsicht, wird früher oder später zu einer Ver- Sammelübersichten 79 zu Petitionen (Zusatzta- selbstständigung dieser Behörde hin zu einer Art morali- gesordnungspunkt 4 k) scher Instanz führen. Abgesehen davon werden die er- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4151

(A) weiterten Aufgabenbereiche zu weiterer Bürokratie auch nicht aus. So werden durch die nicht ausreichende (C) bei den Behörden führen. Rechtssicherheit Gerichte, öffentlicher Dienst und Be- triebe belastet. Diese Belastungen sind nicht vorherseh- Fünftens. Die Beweislast bleibt trotz des Versuches bar und stellen deswegen ein Risiko für Betriebe dar. der redaktionellen Klärung in der Begrifflichkeit unklar. Diese müssen ihre Geschäftsplanungen verändern und Insgesamt ist damit zu rechnen, dass das AGG den geplante Investitionen können unter Umständen nicht Grundstein für eine Prozessflut legen könnte, betriebli- durchgeführt werden. Es entstehen höhere Kosten für che und privatrechtliche Abläufe erheblich stört oder zu- Betriebe, unabhängig ob sie einen Diskriminierungstat- mindest zeitlich verzögert sowie mit entsprechenden bestand erfüllt haben oder nicht. Kosten und zusätzlichem Verwaltungsaufwand belastet. Dies alles widerspricht der Grundaussage der Union, Zudem habe ich Bedenken gegen die Ausweitung der insbesondere zum Thema Bürokratieabbau, sowie mei- EU-Richtlinie um weitere vier bzw. fünf Diskriminie- ner in meinem Wahlkreis allgemein bekannten eigenen rungsmerkmale. Mit dieser Erweiterung werden die Pri- Grundüberzeugung, dass die Gleichheit vor dem Gesetz vatautonomie und die Vertragsfreiheit eingeschränkt. Es bzw. die Diskriminierungsverbote sowohl im Grundge- muss Arbeitgebern möglich sein, bei der Einstellung setz, Art. 3, den Verfassungen der Bundesländer und in nicht nur objektive Kriterien wie die berufliche Qualifi- entsprechenden Ausführungsgesetzen hinreichend gere- kation, sondern auch subjektive Kriterien wie Vertrau- gelt sind. Deshalb kann ich dem Gesetz nicht zustim- enswürdigkeit, Sympathie und Kommunikationsverhal- men. ten auf Basis von Erfahrung und Menschenkenntnis für eine Einstellung bzw. Nichteinstellung anwenden zu dürfen. Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Ich stimme die- sem Gesetzentwurf in der Fassung des Beschlusses des Die Beweislast bleibt unklar. Für Arbeitgeber, für die Rechtsausschusses, Drucksache 16/2022, zu. Zwar setzt es eine riskante Investition darstellt, einen neuen Mitar- die in der jetzt zur Abstimmung vorliegenden Fassung, beiter einzustellen, setzt dieses Gesetz einen Anreiz, insbesondere durch § 2 Abs. 4 – Herausnahme des Kün- keine neuen Stellen auszuschreiben und Arbeitsplätze zu digungsschutzes –, die verbindlich umzusetzenden vier schaffen. EU-Richtlinien nicht oder nicht voll um. Da deren Inhalt zusammen mit dem EG-rechtlichen allgemeinen Diskri- Durch die zu erwartenden Prozesse wird in den Be- minierungsverbot jedoch auch in Deutschland unmittel- trieben, in den Gerichten und im öffentlichen Dienst Per- bar geltendes Recht ist, haben die deutschen Gerichte, sonal gebunden, das seine eigentlichen Aufgaben dann insbesondere die Arbeitsgerichte, entsprechend zu ver- nicht mehr im gleichen Maße ausführen kann. Dies hat (B) fahren, also das deutsche Recht richtlinienkonform aus- zur Folge, dass Personal- und Geschäftsplanungen obso- (D) zulegen bzw. außer Anwendung zu lassen. let werden können. Die betrieblichen Prozesse können nicht in gleichem Maße fortgeführt werden, was die be- trieblichen Abläufe empfindlich stören kann. Henry Nitzsche (CDU/CSU): Mein Abstimmverhal- ten begründe ich wie folgt: Das Allgemeine Gleichbe- Dies alles sind meines Erachtens schwerwiegende handlungsgesetz verletzt bisherige Rechtstraditionen, Nachteile des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung schafft zusätzliche Rechtsunsicherheit, greift in zentrale europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grund- Freiheitsrechte ein und produziert ausufernde Bürokra- satzes der Gleichbehandlung, die ich nur vor dem Hin- tie. Deswegen stimme ich in namentlicher Abstimmung tergrund der staatlichen Verpflichtungen im Rahmen der gegen den Gesetzentwurf. EU zu tragen bereit bin.

Kurt J. Rossmanith (CDU/CSU): Trotz erkennba- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Der vorliegende rer positiver Nachbesserungen bei dem von der Bundes- Gesetzentwurf der Bundesregierung stellt einen wichti- regierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur gen Schritt zur Verwirklichung der Rechte behinderter Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung Menschen dar. Er ist aber noch nicht weitreichend ge- des Grundsatzes der Gleichbehandlung, AGG, Drucksa- nug. Ich werde diesem Gesetzentwurf trotz der hier for- che 16/1780, sehe ich nach wie vor zu große Eingriffe mulierten Bedenken im Interesse behinderter Menschen in die Vertragsfreiheit, sodass ich diesem Gesetzent- und ihrer Angehörigen zustimmen. wurf nicht zustimmen kann. Denn der Entwurf bleibt leider in einigen Punkten Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU): Ich stimme hinter den Bedürfnissen behinderter Menschen zurück. dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zu, da die Not- Immer noch wird das Recht zur freien Diskriminierung wendigkeit besteht, die zugrunde liegende EU-Richtlinie über das Recht zur Freiheit von Diskriminierung gestellt. umgehend in nationales Recht umzusetzen, da eine zu- Diskriminierung ist kein Kavaliersdelikt, vergleichbar sätzliche Belastung des Haushalts vermieden werden mit Falschparken. Wer diskriminiert, verweigert dem muss. Trotzdem bleiben Bedenken gegen den vorliegen- Opfer grundlegende Menschenrechte. Deshalb hätte ich den Entwurf. Das Gesetz enthält unnötige bürokratische zum Beispiel einem ausdrücklichen Kontrahierungs- und detaillierte Regelungen, die das Ziel des Bürokratie- zwang bei Versicherungsunternehmen positiv gegen- abbaus konterkarieren. Zwar sind die Änderungen am übergestanden, obwohl ich der Ansicht bin, dass dieser ursprünglichen Entwurf zu begrüßen, sie reichen aber implizit im Gesetzentwurf enthalten ist. 4152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Der Entwurf des Allgemeinen Gleichbehandlungsge- che Unfallverhütungsvorschriften es erfordern oder nur (C) setzes, AGG, ist erneut geändert worden. Wer diskrimi- so voraussichtliche Schäden vermieden werden können. niert wird, muss jetzt innerhalb von zwei Monaten Zudem schlage ich die Einfügung des folgenden Sat- schriftlich Ansprüche erheben, §§ 15 IV, 21 V l AGG. zes in § 20 vor: Derjenige, der sich auf einen sachlichen Ursprünglich waren sechs Monate vorgesehen. Im Ent- Grund für eine unterschiedliche Behandlung beruft, hat wurf vom Mai war die Frist auf drei Monate halbiert die Nachweise hierfür auf Verlangen vorzulegen oder worden. Diese Änderung ist europarechtlich bedenklich, auf andere Weise glaubhaft zu machen. da sie die bisherige Regelung bei Diskriminierung we- gen des Geschlechts, § 611 a Abs. 4 BGB, verschlech- Aber dieser Gesetzesentwurf ist die Umsetzung meh- tert. Dies verstößt gegen das EU-Verbot, den bisherigen rerer EU-Richtlinien. Schließlich dient das AGG dem Schutz vor Behinderung durch die Neuregelung abzu- wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland. Gerade senken. Zudem verstößt es gegen die Forderung der EU Länder, in denen seit Jahrzehnten Diskriminierungsver- Richtlinien, nach einem effektiven Schutz vor Diskrimi- bote bestehen, wie die USA und Großbritannien, sind nierung. Wahrscheinlich wird diese Regelung vom Euro- wirtschaftlich wesentlich dynamischer als Deutschland. päischen Gerichtshof aufgehoben. Die Vorteile werden besonders im Arbeitsleben deutlich: Weniger Diskriminierung heißt mehr sachliche Entschei- Die Beweislast ist ebenfalls geändert worden. Der dung. Je sachlicher die Entscheidung, desto effizienter Diskriminierte muss Indizien beweisen, die eine Be- die Auswahl. Diskriminierungsfreie Auswahl heißt da- nachteiligung wegen eines Diskriminierungsgrundes mit: Der Beste erhält die Stelle. Damit ist Diskriminie- vermuten lassen, § 22 AGG. Ursprünglich musste der rungsfreiheit wirtschaftlich effizienter. Diskriminierte Tatsachen glaubhaft machen, die eine Be- nachteiligung wegen eines Diskriminierungsgrundes Zudem können wir es uns vor dem Hintergrund der vermuten lassen. Allerdings stellt die Begründung des demografischen Entwicklung nicht länger leisten, be- Entwurfs fest, diese Neuformulierung solle nur klarstel- stimmte Gruppen weitgehend von Arbeit und berufli- len, dass eine eidesstattliche Versicherung des Diskrimi- chen Aufstieg auszuschließen. Derzeit sind zum Beispiel nierten allein nicht ausreicht, um eine Benachteiligung Ältere, Behinderte und Frauen im Arbeitsleben erheblich glaubhaft zu machen. benachteiligt. Diesen Luxus, nur die Fähigkeiten deut- scher, nicht behinderter Männer bis 40 Jahre effizient zu Im Arbeitsrecht sollen bei Kündigungen ausschließ- nutzen, können wir uns heute nicht mehr leisten. Gerade lich die Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes gel- die deutsche Wirtschaft müsste ein vitales Interesse da- ten, § 2 Abs. 4 AGG. Bislang sollten diese „vorrangig“ ran haben, die vorhandenen Arbeitnehmer möglichst gelten. Allerdings können durch die Vorschriften des effizient und nicht möglichst vorurteilskonform einzu- (B) Kündigungsschutzgesetzes nicht die zwingenden EU setzen. Jede Untersuchung hat bestätigt: Antidiskrimi- (D) Vorgaben zum Diskriminierungsschutz ausgehebelt wer- nierung erhöht den wirtschaftlichen Erfolg eines Unter- den. Damit ändert diese Änderung an der Rechtslage nehmers. nichts. Gewerkschaften und Betriebsräte dürfen weiter- Beim Entwurf des AGG gibt es leider noch erhebliche hin Arbeitgeber verklagen, die grob gegen die Vorschrif- Missverständnisse. Immer wieder wird behauptet, an- ten des AGG verstoßen, § 17 AGG. Diese Regelung ist gebliche Diskriminierer müssten ihre „Unschuld“ bewei- bei der CDU/CSU besonders umstritten. Daher wurde sen. Tatsächlich muss das Opfer glaubhaft machen, dis- das Klagerecht jetzt ausdrücklich auf grobe Verstöße be- kriminiert zu werden. Dafür muss es Indizien vortragen, schränkt. wie zum Beispiel diskriminierende Ausschreibungen, Statistiken, diskriminierende Äußerungen und Fragen. Ein Diskriminierungsverbot gilt bei Wohnungsver- Ausreichend ist auch die Glaubhaftmachung einer dis- mietung nur für Vermieter, die mehr als 50 Wohnungen kriminierenden Grundeinstellung. Diese liegt vor, wenn vermieten, § 19 V AGG. Durch diese Regelung bleibt der Täter durch sein allgemeines Verhalten klar macht, der größte Teil des Wohnungsmarktes offen für Diskri- dass er bestimmte Gruppen ablehnt, zum Beispiel frau- minierung. Auch größere Wohnungsgesellschaften kön- enfeindliche Werbung oder behindertendiskriminie- nen sich durch passende Gesellschaftskonstrukte auf rende Ausschreibungen für andere Stellen. Verfügt allein diese Ausnahmeregel berufen. Allerdings ändert diese eine Seite über die erforderlichen Informationen, muss Regelung wenig, da bereits nach dem bisherigen Ent- sie diese nach den Grundsätzen der angestellten Darle- wurf nur bei „Massengeschäften“ Diskriminierung ver- gung – und Beweislast einbringen. Nur wenn auf diese boten ist. Weise eine Diskriminierung glaubhaft gemacht ist, trägt Ebenso ist der § 20 des Gesetzentwurfes meiner An- der angebliche Diskriminierer die Beweislast. Diese Re- sicht nach änderungsbedürftig. Die bisherige Formulie- gelung entspricht in Wortlaut und Auslegung den zwin- genden Vorgaben der EU Richtlinien. rung in § 20 Abs. l Satz l, „der Vermeidung von Gefah- ren, der Verhütung von Schäden oder anderen Zwecken Auch bei der Höhe des Schadens bestehen Missver- vergleichbarer Art dient ist viel zu unkonkret gefasst und ständnisse. Es geht nicht darum, in Deutschland Scha- öffnet weiteren Diskriminierungen Tür und Tor. Besser denersatzforderungen zu ermöglichen, wie sie in den wäre gewesen: Das kann insbesondere der Fall sein, USA üblich sind. Dort haben Großkonzerne mehrere wenn die unterschiedliche Behandlung notwendig ist, Hundert Millionen Dollar wegen Diskriminierung zah- um eine erhebliche Gefährdung der Gesundheit oder des len müssen. Die EU verlangt zwar ein abschreckend ho- Lebens der Person oder Dritter zu vermeiden, gesetzli- hes Schmerzensgeld, doch liegt dies nach allgemeiner Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4153

(A) Ansicht in den europäischen Staaten im Arbeitsrecht bei Gefahr, dass zum Beispiel Anhänger rechtsradikalen Ge- (C) einem Jahresgehalt, mindestens aber 30 000 Euro. Nur dankengutes aufgrund der Vorschrift versuchen, sich Zu- in schweren Fällen kann dieser Betrag überschritten wer- gang zu Geschäften zu verschaffen, die ihnen aus aner- den. Im Zivilrecht liegt das Schmerzensgeld noch darun- kennenswerten Gründen verweigert wurden“ ließe sich ter. Das Schmerzensgeld beträgt das Doppelte des mate- meines Erachtesn fordern, das Merkmal „Religion“ sei riellen Schadenersatzes, wenigstens aber 10 000 Euro. zu streichen, weil zum Beispiel Terroristen und andere Straftäter ihre Taten religiös begründen. Beim materiellen Schadensersatz bei Verlust des Ar- beitsplatzes hat sich in den EU-Staaten ebenfalls eine ge- genüber den USA zurückhaltendere Rechtsprechung he- Anlage 11 rausgebildet. In Europa wird allgemein abgestellt, wie lange der Diskriminierte üblicherweise auf der Stelle Erklärungen nach § 31 GO verblieben wäre. So wurde dies zum Beispiel in der der Abgeordneten Dr. Michael Fuchs, Michaela „Vento Entscheidung“ in England geregelt. Diese Noll, Michael Hennrich, Karl-Georg Wellmann, Grundsätze unterscheiden Europa deutlich von den USA Kai Wegner, Joachim Hörster, Ernst Hinsken, und beschränken die Schadenersatzsummen. Sie orien- Norbert Königshofen, Andreas G. Lämmel, tieren sich an dem unteren Ende des durch die Richtli- Gerhard Wächter, Stefan Müller (Erlangen), nien vorgegebenen Abschreckungsgebotes bei der Scha- Maria Michalk, Dr. Karl Lamers (Heidelberg), densersatzhöhe. Die Höhe des Schadenersatzes wird sich Bernward Müller (Gera), Volkmar Uwe Vogel, also an der europäischen Rechtsprechung orientieren. Dr. Rolf Koschorrek, Bernhard Schulte-Drüg- Abgesehen von der Höhe des Schadenersatzes sind gelte, Andreas Schmidt (Mülheim), Gunther die Rechtsprechung und Gesetzgebung der USA Vorbild Krichbaum, Georg Fahrenschon, Hans Michel- der EU-Richtlinien und sind für die Auslegung des AGG bach, Georg Schirmbeck, Steffen Kampeter, heranzuziehen. Für eine erfreuliche Rechtssicherheit Laurenz Meyer (Hamm), Anke Eymer (Lü- sorgt die Zertifizierung der Antidiskriminierungsvor- beck), Albert Rupprecht (Weiden), Karl-Theo- schriften durch den Europäischen Anti-Diskriminie- dor Freiherr zu Guttenberg, Dr. Joachim Pfeif- rungsrat, insbesondere im Arbeitsleben. Die Unterneh- fer, Clemens Binninger, Daniela Raab, Dr. men erhalten erhöhte Rechtssicherheit und die Günter Krings, Klaus-Peter Willsch, Carsten Effizienzvorteile eines diskriminierungsfreien Unterneh- Müller (Braunschweig), Klaus-Peter Flosbach, mens. Gleichzeitig wird in Deutschland der Diskriminie- Marco Wanderwitz, Kurt Segner, Markus Grü- rungsschutz konsequent umgesetzt. Dies entspricht auch bel, Jochen Borchert, Philipp Mißfelder, Sibylle (B) der allgemeinen Entwicklung auf EU-Ebene sowie den Pfeiffer, Gitta Connemann, Jens Koeppen, Pa- (D) Vorstellungen der EU Kommission, Subventionen und tricia Lips, Stephan Mayer (Altötting), Susanne öffentliche Aufträge nur an Unternehmen zu vergeben, Jaffke, Andrea Astrid Voßhoff, Bernd Heyne- die soziale Mindeststandards nachweisbar einhalten. mann, Olav Gutting, Bernd Schmidbauer, Rita Pawelski, Franz Obermeier, Erika Steinbach, Monika Grütters, Andreas Jung (Konstanz), In- Rolf Stöckel (SPD): Ich stimme dem Gesetzentwurf gbert Liebing, Marie-Luise Dött, Julia Klöck- zu, weil ich die überfällige Umsetzung der europäischen ner, Ute Granold, Michael Brand, Dr. Heinz Richtlinien zur „Antidiskriminierung“ in nationales Riesenhuber, Katharina Landgraf, Dr. Georg Recht grundsätzlich begrüße und unterstützen will. Die Nüßlein, Thomas Strobl (Heilbronn), Renate im Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und Blank und Dr. Ole Schröder (alle CDU/CSU) SPD vorgenommene Streichung des Merkmals „Weltan- zur namentlichen Abstimmung über den Ent- schauung“ im Bereich des zivilrechtlichen Diskriminie- wurf eines Gesetzes zur Umsetzung europäi- rungsschutzes halte ich allerdings für verfassungswidrig. scher Richtlinien zur Verwirklichung des Ich kann nur zustimmen, weil ich überzeugt bin, dass Grundsatzes der Gleichbehandlung (Tagesord- diese Streichung keine Rechtswirksamkeit entfalten nungspunkt 5 a) kann, weil sie nicht nur gegen das Ziel der Verwirkli- chung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, sondern Wir begrüßen alle geeigneten Initiativen gegen Dis- auch gegen unveränderbare Verfassungsgrundsätze ver- kriminierung aufgrund von Rasse, ethnischer Herkunft, stößt. Nach Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes der Bundes- Geschlecht, Religion, Behinderung, Alter und sexueller republik Deutschland sind „die Freiheit des Glaubens, Identität. Derartige Diskriminierungen haben in einer des Gewissens und die Freiheit des religiösen und welt- aufgeklärten und toleranten Gesellschaft keinen Platz. anschaulichen Bekenntnisses unverletzlich“. Dies ergibt sich aus dem christlichen Menschenbild, welches von der Unverletzbarkeit der Würde jedes Ein- Da ich mich ausdrücklich zu einer nichtreligiösen zelnen ausgeht. Es ist daher selbstverständlich, dass sich Weltanschauung, nämlich dem weltlichen Humanismus, eine Gesellschaft Regeln gibt, die deutlich machen, dass bekenne und Mitglied einer Weltanschauungsgemein- Diskriminierungen gegen die Würde eines jeden Men- schaft bin, die als Körperschaft des öffentlichen Rechts schen verstoßen und geahndet werden müssen. Es ist be- anerkannt ist, lehne ich insbesondere die diskriminie- dauerlich, dass die zugrunde liegenden EU-Richtlinien rende Begründung der Streichung durch den Rechtsaus- unnötige, zu detaillierte und bürokratische Regelungen schuss des Deutschen Bundestages ab. Aus der Begrün- enthalten. Gleichwohl ist die Umsetzung in deutsches dung des Rechtsausschusses „Gleichwohl besteht die Recht europarechtlich geboten. Jeder weitere Verzug 4154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) hätte hohe Strafzahlungen für die Bundesrepublik die geplante Beimischungspflicht dem Abnehmermono- (C) Deutschland zur Folge gehabt. pol der Mineralölkonzerne ausgeliefert werden. Diese Entwicklung halte ich für eine grundlegend falsche Wei- Der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag ist chenstellung. Sie führt dazu, dass die für Biokraftstoffe es gelungen, im Vorfeld und während der parlamentari- erforderliche ökologische Ausrichtung der Anbaukon- schen Beratungen deutliche Verbesserungen gegenüber zepte wesentlich erschwert wird, die landwirtschaftli- dem ursprünglichen Gesetzentwurf zu erreichen. Dies ist chen Produzenten dieser Biokraftstoffe dem Preisdiktat ausdrücklich zu begrüßen. Damit konnte dem Ziel der der Mineralölkonzerne ausgesetzt werden und damit die Bundesregierung, auch für die innerstaatliche Umset- neuen Chancen der Landwirtschaft – der Landwirt als zung europäische Gesetzgebung auf das tatsächlich Not- Energiewirt – schwerwiegend beeinträchtigt werden, die wendige zu beschränken, ein bedeutendes Stück näher Chancen des Aufbaus regionaler Biokraftstoffproduk- gekommen werden. tionen durch mittelständische Betriebe und Stadtwerke Der vorliegende Gesetzentwurf greift dennoch unver- und damit neue regionalwirtschaftliche Wachstums- und hältnismäßig in das hohe Gut der Vertragsautonomie von Beschäftigungsmöglichkeiten mit ihren binnenkonjunk- Bürgern und Unternehmen ein, die ein wichtiges Funda- turellen Effekten unterminiert werden, zahlreiche Spedi- ment einer freiheitlichen Rechts-, Wirtschafts- und Ge- tionsunternehmen, die in jüngerer Zeit auf Biodiesel und sellschaftsordnung ist. Er ist mit Belastungen für das Pflanzenöl umgestiegen sind, entweder gefährdet wer- Wirtschafts- und Rechtsleben verbunden, die nicht zwin- den oder wieder jenseits unserer Grenzen tanken. gend durch die zugrunde liegenden europäischen Richt- Aus diesen Gründen muss auch damit gerechnet wer- linien vorgegeben wurden. Mit diesem Gesetz können den, dass nicht einmal die erwarteten zusätzlichen Steu- trotz seiner richtigen Ziele und der erreichten Verbesse- ereinnahmen tatsächlich eintreffen. Bei allen diesbezüg- rungen falsche Impulse in der Arbeitswelt gesetzt wer- lichen Berechnungen des BMF sind die Steuerrückflüsse den. aus dem durch die bisherigen Steuerbegünstigungen ent- Wir bedauern, dass die Fraktion der SPD nicht bereit standenen Wirtschaftssektor für Biodiesel und Pflanzen- war, sich während der parlamentarischen Beratungen ei- öle nicht berücksichtigt worden. Hinzu kommt die ner noch besseren Rechtssetzung zu öffnen. Umso wich- Unverhältnismäßigkeit in der Besteuerung von Kraft- tiger bleibt es, mögliche negative Auswirkungen im Hin- stoffen, die aufrechterhalten bleibt: Nicht nur bleibt das blick auf bürokratische Belastungen, Rechtssicherheit nicht mehr begründbare Steuerprivileg von Dieselkraft- und Privatautonomie sowie den Arbeitsmarkt nach In- stoffen gegenüber Benzin in Höhe von 18 Cent unange- Kraft-Treten dieses Gesetzes genau zu beobachten und tastet. Auch die Steuerprivilegierung von Erdgaskraft- erforderlichenfalls schnellstmöglich zu korrigieren. stoffen bleibt bis 2018 und wird sogar auf Flüssiggas (B) ausgeweitet. Es bleibt unerfindlich und ist nicht legiti- (D) Nur unter Zurückstellung größter persönlicher Beden- mierbar, dass ein neuer fossiler Kraftstoff politisch ge- ken stimmen wir deshalb heute diesem Gesetzentwurf genüber allen Biokraftstoffen privilegiert wird. zu. Ich bin der Überzeugung, dass das vorliegende Gesetz keinen Bestand haben wird und noch vor Ende der Le- Anlage 12 gislaturperiode ein weniger kurzsichtiges und wider- sprüchliches Gesetz erforderlich ist. Eine diesbezügliche Erklärungen nach § 31 GO Initiative kündige ich hiermit an. zur namentlichen Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zur Neuregelung der Be- Gabriele Groneberg (SPD): Ich stimme dem vorlie- steuerung von Energieerzeugnissen und zur genden Gesetzentwurf in der heute zu verabschiedenden Änderung des Stromsteueregesetzes (Tagesord- Fassung zu. Erhebliche Bedenken habe ich gegen den nungspunkt 8 a) Teil des Gesetzes, der die Besteuerung von Reinbiokraft- stoffen regelt. Dr. Axel Berg (SPD): Ich habe dem Gesetz zur Neu- Den nach langen Verhandlungen gefundenen Kom- regelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen und promiss kritisiere ich insofern, weil davon auszugehen zur Änderung des Stromsteuergesetzes entgegen dem ist, dass die generelle Strategie der vollen Besteuerung Votum meiner Fraktion meine Zustimmung verweigert dieser Kraftstoffe den Reinbiokraftstoffmarkt gefährden und mit „Nein“ gestimmt. Mit diesem Gesetz wird der wird. Gleichzeitig werden die Investitionen in diesen Reinbiokraftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzenöl von Markt, welche vor allem von kleinen und mittelständi- Grund auf gefährdet, spätestens wenn ab 2012 eine volle schen Unternehmen aufgrund von steuerlichen Anreizen Besteuerung dieser Kraftstoffe analog zu den Diesel- vorgenommen wurden, infrage gestellt. kraftstoffen eintreten wird. Schon zuvor ist damit zu rechnen, dass diesbezügliche Investitionen dafür einge- stellt werden. Nur wenn die Rohölpreise für fossile Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): Ich halte Kraftstoffe bis dahin weiter stark ansteigen, kann diese die im Gesetzentwurf enthaltene Regelung zur Besteue- Gefahr diesem Gesetz zufolge abgewendet werden. rung von Biodiesel aus industriepolitischer Sicht für falsch. Das Ergebnis wird sein, dass die Produktion von Damit wird eine Entwicklung politisch eingeleitet, in Biodiesel in Deutschland keine Zukunftsperspektive hat. der die auf Pflanzenöl basierenden Biokraftstoffe über Die im Gesetz vorgesehen Vollbesteuerung ab 2012 hat Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4155

(A) schon jetzt erhebliche negative Auswirkungen auf die ereinnahmen tatsächlich eintreffen. Bei allen diesbezüg- (C) Investitionstätigkeit in der Biodieselbranche. Investitio- lichen Berechnungen des BMF sind die Steuerrückflüsse nen etwa in Biodieselkraftanlagen amortisieren sich aus dem durch die bisherigen Steuerbegünstigungen ent- nach circa acht Jahren. Die Vollbesteuerung ab 2012 be- standenen Wirtschaftssektor für Biodiesel und Pflanzen- deutet, dass für in diesem Jahr gebaute Anlagen eine öle nicht berücksichtigt worden. Hinzu kommt die komplette Amortisierung nicht mehr möglich ist, was Unverhältnismäßigkeit in der Besteuerung von Kraft- somit einer Fehlinvestition gleich käme. Neue Investitio- stoffen, die aufrechterhalten bleibt: Nicht nur bleibt das nen machen betriebswirtschaftlich keinen Sinn und es ist nicht mehr begründbare Steuerprivileg von Dieselkraft- zu erwarten, dass sie schon dieses Jahr nicht mehr getä- stoffen gegenüber Benzin in Höhe von 18 Cent unange- tigt werden. Nach 2012 wird die Produktion von Biodie- tastet. Auch die Steuerprivilegierung von Erdgaskraft- sel sich in Deutschland nicht mehr rentieren. Dies wird stoffen bleibt bis 2018 und wird sogar auf Flüssiggas eine Standortverlagerung der Produktion ins Ausland zur ausgeweitet. Es bleibt unerfindlich und ist nicht legiti- Folge haben. mierbar, dass ein neuer fossiler Kraftstoff politisch ge- genüber allen Biokraftstoffen privilegiert wird. Zudem greift die nach wochenlanger Diskussion der Fachleute vom Bundesfinanzministerium erzwungene Ich bin der Überzeugung, dass das vorliegende Gesetz Lösung einer Vollbesteuerung industriepolitisch zu kurz keinen Bestand haben wird und noch vor Ende der Le- und ist nicht konsistent durchdacht. Erst wird die Bio- gislaturperiode ein weniger kurzsichtiges und wider- branche mit Milliardenbeträgen gefördert, um ihr an- sprüchliches Gesetz erforderlich ist. Eine diesbezügliche schließend mit der Vollbesteuerung jede Zukunftsper- Initiative kündige ich hiermit an. spektive zu nehmen. Man hätte sich diese Steuerausfälle, für die nun der Bundesfinanzminister verantwortlich ist, gleich sparen können. Wolfgang Wodarg (SPD): Ich habe dem Gesetz zur Neuregelung der Besteuerung von Energieerzeugnissen Trotz meiner Einwände gegenüber der Besteuerung und zur Änderung des Stromsteuergesetzes entgegen von Biodiesel stimme ich dem Gesamtpaket zu. dem Votum meiner Fraktion meine Zustimmung verwei- gert und mit „Nein“ gestimmt. Mit diesem Gesetz wird Dr. Hermann Scheer (SPD): Ich stimme dem Ge- der Reinbiokrafftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzöl setz zur Neuregelung der Besteuerung von Energieer- von Grund auf gefährdet, spätestens wenn ab 2012 eine zeugnissen und zur Änderung des Stromsteuergesetzes volle Besteuerung dieser Kraftstoffe analog zu den Die- entgegen dem Votum meiner Fraktion nicht zu und selkraftstoffen eintreten wird. Schon zuvor ist damit zu werde mit Nein stimmen. Mit diesem Gesetz wird der rechnen, dass diesbezügliche Investitionen dafür einge- (B) Reinbiokraftstoffmarkt für Biodiesel und Pflanzenöl von stellt werden. Nur wenn die Rapsölpreise für fossile (D) Grund auf gefährdet, spätestens wenn ab 2012 eine volle Kraftstoffe bis dahin weiter stark ansteigen, kann diese Besteuerung dieser Kraftstoffe analog zu den Diesel- Gefahr diesem Gesetz zufolge abgewendet werden. kraftstoffen eintreten wird. Schon zuvor ist damit zu Damit wir eine Entwicklung politisch eingeleitet, in rechnen, dass diesbezügliche Investitionen dafür einge- der die auf Pflanzöl basierenden Biokraftstoffe über die stellt werden. Nur wenn die Rohölpreise für fossile geplante Beimischungspflicht dem Abnehmermonopol Kraftstoffe bis dahin weiter stark ansteigen, kann diese der Mineralölkonzerne ausgeliefert werden. Diese Ent- Gefahr diesem Gesetz zufolge abgewendet werden. wicklung halte ich für eine grundlegend falsche Wei- Damit wird eine Entwicklung politisch eingeleitet, in chenstellung. Sie führt dazu, dass die für Biokraftstoffe der die auf Pflanzenöl basierenden Biokraftstoffe über erforderliche ökologische Ausrichtung der Anbaukon- die geplante Beimischungspflicht dem Abnehmermono- zepte wesentlich erschwert wird, die landwirtschaftli- pol der Mineralölkonzerne ausgeliefert werden. Diese chen Produzenten dieser Biokraftstoffe dem Preisdiktat Entwicklung halte ich für eine grundlegend falsche Wei- der Mineralölkonzerne ausgesetzt werden und damit die chenstellung. Sie führt dazu, dass die für Biokraftstoffe neuen Chancen der Landwirtschaft – der Landwirt als erforderliche ökologische Ausrichtung der Anbaukon- Energiewirt – schwerwiegend beeinträchtigt werden; die zepte wesentlich erschwert wird, die landwirtschaftli- Chancen des Aufbaus regionaler Biokraftstoffproduktio- chen Produzenten dieser Biokraftstoffe dem Preisdiktat nen durch mittelständische Betriebe und Stadtwerke, der Mineralölkonzerne ausgesetzt werden und damit die und damit neue regionalwirtschaftliche Wachstums- und neuen Chancen der Landwirtschaft – der Landwirt als Beschäftigungsmöglichkeiten mit ihren binnenkonjunk- Energiewirt – schwerwiegend beeinträchtigt werden, die turellen Effekten unterminiert werden, zahlreiche Spedi- Chancen des Aufbaus regionaler Biokraftstoffproduktio- tionsunternehmen, die in jüngerer Zeit auf Biodiesel und nen durch mittelständische Betriebe und Stadtwerke und Pflanzöl umgestiegen sind, entweder gefährdet werden damit neue regionalwirtschaftliche Wachstums- und Be- oder wieder jenseits unserer Grenzen tanken. schäftigungsmöglichkeiten mit ihren binnenkonjunktu- rellen Effekten unterminiert werden, zahlreiche Spedi- Aus diesen Gründen muss auch damit gerechnet wer- tionsunternehmen, die in jüngerer Zeit auf Biodiesel und den, dass nicht einmal die erwarteten zusätzlichen Steu- Pflanzenöl umgestiegen sind, entweder gefährdet wer- ereinnahmen tatsächlich eintreffen. Bei allen diesbezüg- den oder wieder jenseits unserer Grenzen tanken. lichen Berechnungen des BMF sind die Steuerrückflüsse aus dem durch die bisherigen Steuerbegünstigungen ent- Aus diesen Gründen muss auch damit gerechnet wer- standenen Wirtschaftssektor für Biodiesel und Pflanzen- den, dass nicht einmal die erwarteten zusätzlichen Steu- öle nicht berücksichtigt worden. Hinzu kommt die 4156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Unverhältnismäßigkeit in der Besteuerung von Kraft- ressen des Mittelstandes eingesetzt. Zuletzt konnte noch (C) stoffen, die aufrechterhalten bleibt: Nicht nur besteht das eine weitere wichtige Änderung für mittelständische nicht mehr begründbare Steuerprivileg von Dieselkraft- Kreditnehmer erreicht werden, indem die Kreditinstitute stoffen gegenüber Benzin in Höhe von 18 Cent unange- aufgefordert werden, Ratingentscheidungen gegenüber tastet fort. Auch die Steuerprivilegierung von Erdgas- den Unternehmen offen zu legen. Jetzt steht fest: Basel kraftstoffen bleibt bis 2018 und wird sogar auf II verbessert die Kreditversorgung des Mittelstandes. Flüssiggas ausgeweitet. Es bleibt unerfindlich und es ist nicht legitimierbar, dass ein neuer fossiler Kraftstoff po- Der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht begann im litisch gegenüber allen Biokraftstoffen privilegiert wird. Jahr 1999 mit der Überarbeitung des alten Regelwerkes Basel I, das einen pauschalen Anrechnungswert von 8 Prozent für Kreditrisiken in Eigenkapital vorsah. Als Folge dieser Regelung orientierten die Banken ihre Kre- Anlage 13 ditkonditionen nicht an der Bonität des Kunden, sondern Erklärung nach § 31 GO allein an der Kundengruppe, in die der Kunde eingeord- net wurde. Basel I führte zu der verheerenden Entwick- des Abgeordneten Volker Beck (Köln) (BÜND- lung für Banken und Unternehmen, weil Unternehmen NIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über mit schlechter Bonität und daher höheren Kreditzinsen die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: In- bevorzugt wurden. nere Sicherheit durch Regelungen zum Arbeits- kampfrecht gewährleisten (Tagesordnungs- Das neue Basel II korrigiert die Defizite von Basel I, punkt 9 b) indem die Unterlegung von Krediten mit Eigenkapital an das Ausfallrisiko und damit an die Bonität des Kredit- Namens der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nehmers gebunden wird. Diese neue Regelung wird sich erkläre ich, dass das Votum „Ja“ lautet. positiv auf die Stabilität der Banken selbst und auf die des ganzen Finanzmarktes auswirken. Die neuen Regeln verpflichten die Banken dazu, Risiken bei der Kreditver- Anlage 14 gabe stärker zu unterscheiden und zu bestimmen. Damit werden die Banken, besonders die kleinen Institute, von Erklärung nach § 31 GO zu hohen Eigenkapitalanforderungen befreit. des Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg zur Wichtig ist aber, dass das Regelwerk nicht nur unse- Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu rem Bankensystem gerecht wird, sondern auch die spe- den Anträgen: zielle deutsche Situation der mittelständischen Wirt- (B) (D) – Presse- und Meinungsfreiheit in Kuba ein- schaft berücksichtigt. Unsere Wirtschaft ist in hohem fordern Grade abhängig von Krediten und es muss vermieden werden, dass Unternehmen Schwierigkeiten haben, Ka- – Menschenrechte in Kuba einfordern und die pital zu erhalten. kubanische Zivilgesellschaft fördern (Tagesordnungspunkt 36) Die Gefahr, dass Basel II zu einem Problem für die kleineren und mittelständischen Unternehmen bei der In Kuba und anderen Ländern des karibischen Rau- Kreditvergabe werden könnte, wurde von der alten Bun- mes werden Menschenrechte verletzt; auf der Insel Kuba desregierung und dem damaligen Verhandlungsführer am heftigsten derzeit in Guantanamo. Ich halte es für Jochen Sanio frühzeitig erkannt und beseitigt. Die in den richtig, diese alle anzuprangern und für die Durchset- zwei Entschließungen des Bundestages geäußerten zung der Menschenrechte zu kämpfen – wie überall in Bedenken und Wünsche konnten im internationalen Ba- der Welt. seler Ausschuss erfolgreich durchgesetzt werden. Bei- Die Entschließung heute halte ich für politische spielsweise sieht Basel II vor, Kredite an kleine Unter- Selbstbefriedigung! Sie ist angesichts politischer Alter- nehmen bis 1 Million Euro mit einem um 25 Prozent nativen möglicherweise kontraproduktiv. niedrigeren Risikogewicht zu belegen. Unter diese Be- günstigung fallen 90 Prozent aller Kredite an mittelstän- Ich werde mich deshalb der Stimme enthalten. dische Unternehmen. Für den Mittelstand bedeuten diese Verhandlungserfolge bessere Kreditbedingungen als un- ter dem vorherigen Regelwerk Basel I. Anlage 15 Das Verhandlungsergebnis des Baseler Ausschusses, Zu Protokolle gegebene Reden Basel II, wurde zunächst in eine EU-Richtlinie gegossen. Diese wird nun in nationales Recht umgesetzt. Wichtig zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur war für meine Fraktion bei dieser Umsetzung, dass die Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie Banken zu einem verantwortungsvollen und transparen- und der neu gefassten Kapitaladäquanzrichtli- ten Verhalten gegenüber ihren Kunden verpflichtet wer- nie (Tagesordnungspunkt 12) den. Die Banken müssen die Bonität und die Risiken einer Kreditvergabe einschätzen und stehen hier vor gro- Nina Hauer (SPD): Die SPD-Fraktion hat sich bei ßen Herausforderungen. Mehr als zuvor wird durch der Umsetzung des Basel-II-Regelwerkes für die Inte- Basel II den Banken auch eine Beraterrolle gegenüber Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4157

(A) mittelständischen Unternehmen zukommen, die ihre eine indirekte Regulierung ansetzen können und für For- (C) Kreditkonditionen verbessern möchten. Gerade kleine derungen von Banken gegenüber Hedgefonds einen und mittlere Unternehmen ohne eigene Finanzabteilung deutlich erhöhten Mindestkapitalfaktor vorschreiben oder Ressourcen für einen Unternehmensberater müssen können. So würde dem besonderen Risikocharakter die- von ihrer Bank Hilfestellungen bekommen, um ihre Bo- ser Forderungen Rechnung getragen und eine Krisen- nität und ihr Ratingergebnis für Bankkredite zu verbes- übertragung von Hedgefonds auf das Bankensystem er- sern. schwert. Die SPD-Fraktion hat sich daher dafür eingesetzt, Zudem träte ein Lenkungseffekt zugunsten transpa- dass der Deutsche Bundestag die Kreditwirtschaft renter, weniger riskanter Anlagealternativen ein. Mit den auffordert, den Kreditnehmern die sie betreffenden Mindestkapitalanforderungen steigen die Kosten einer Ratingergebnisse offen zu legen und die wesentlichen Bank, und die davon betroffenen Geschäfte werden für Parameter für ihr Zustandekommen zu erläutern. Die Banken und/oder Hedgefonds unattraktiver. Kreditwirtschaft wird in der Beschlussempfehlung des Finanzausschusses aufgefordert, eine Selbstverpflich- Natürlich hätte man für eine wirksame internationale tung vorzulegen, die diese Transparenz sicherstellt. Es Kontrolle das alles in Basel vereinbaren müssen oder zu- gibt also genügend gute Gründe, dem Gesetzentwurf in mindest in Brüssel. Ich will mit alledem hauptsächlich der Ausschussfassung zuzustimmen. Die SPD-Fraktion auf eines hinweisen: Eine andere Politik ist grundsätz- wird dies tun. lich möglich. Es ist möglich, internationale Finanz- märkte zu regulieren. Die Instrumente sind vorhanden, Abschließend möchte ich mich bei den Berichterstat- sie werden aber nicht genutzt. Und da müssen wir anset- terkollegen der anderen Fraktionen und beim Bundes- zen. Wir müssen – zusammen mit Gewerkschaften, zu- ministerium der Finanzen für die konstruktive und gute sammen mit sozialen Bewegungen – den entsprechenden Zusammenarbeit bedanken. gesellschaftlichen Druck entwickeln. Wir müssen zei- gen: Eine andere Politik ist nicht nur möglich, wir wol- Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Wir haben ja heute len eine andere Politik auch durchsetzen. schon einige Stunden hier zusammen hinter uns; es ist jetzt eigentlich Zeit fürs Abendessen und ein kaltes Bier Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und etwas Fußball. Da lässt bei einigen die Konzentra- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen stimmt dem Ge- tion schon etwas nach. Deswegen will ich mit einem setzentwurf zur Umsetzung der Banken- und der Kapi- ganz einfachen Gedanken anfangen. Basel II soll die taladäquanzrichtlinie in deutsches Recht zu. Wir haben Finanzmärkte stabilisieren und Finanzcrashs verhindern. ja auch bereits in der letzten Legislaturperiode intensiv (B) Und wenn wir Finanzcrashs verhindern wollen, müssen an seinem Entstehen mitgewirkt und die Verhandlungen (D) wir fragen: Was kann Finanzcrashs auslösen? Schauen auf internationaler und europäischer Ebene gemeinsam wir in die Finanzpresse der letzten Wochen und Monate. mit den anderen Fraktionen konstruktiv begleitet. Vor al- Da wird durchaus über Finanzcrashs diskutiert. Da fin- lem ging es uns Grünen darum, dass die neu gefasste den Sie Überschriften wie „Hedge-Fonds leiden unter Bankenrichtlinie kleinen und mittleren Unternehmen Marktturbulenzen“ – „FTD“ vom 19. Juni –, „Bundes- keine zusätzlichen Schwierigkeiten bei der Finanzierung bank geht Hedge-Fonds an – Warnung vor Risiken durch aufbürdet. aggressive Investoren“ – „FTD“ vom 17. Mai –, „Noten- bank warnt vor Finanzcrash – EZB fürchtet Kollaps eines Das vorliegende Gesetz, eher bekannt unter dem großen Hedge-Fonds“ – „FTD“ vom 18. Mai –, „Banken- Stichwort Basel II, weil es auf die Vereinbarung im Bas- verband warnt vor Hedge-Fonds“ – „FTD“ vom 13. Juni. ler Bankenausschuss zurückgeht, gibt Anreize zur Mo- dernisierung des Risikomanagements der Banken und Wenn sich die Finanzpresse da nicht gewaltig irrt, sorgt dafür, dass die Eigenkapitalunterlegung sich künf- scheinen Hedgefonds – unregulierte, intransparente und tig nach der Bonität des Kreditnehmers richtet. Notwen- hochriskante Hedgefonds – doch in einem gewissen Zu- dig sind dafür unter anderem Änderungen der internen sammenhang mit Finanzcrashs zu stehen. Und wenn Bankprozesse zu Forderungen, Sicherheiten und Ra- dem so ist, muss man doch fragen: Wie geht Basel II das tings. Nicht alle Kreditinstitute haben diese Änderungen Problem Hedgefonds an? Und da muss ich sagen: mit bereits vollständig vorgenommen. Da ist noch einiges zu Samthandschuhen. Wo ist ein Mindestkapitalzuschlag tun. für Banken, die Kredite an hochriskante Hedgefonds vergeben, die mit hochriskanten Hedgefonds Geld ver- Ich möchte auf ein paar einzelne Aspekte dieser um- dienen? Und die oft gar nicht genau wissen – oder wis- fangreichen neuen Regulierung eingehen. sen wollen –, welche Risiken sie dabei eingehen? Selbst die Bundesbank schreibt doch mittlerweile, dass es ein Erstens begrüßen wir ausdrücklich, dass die Bundes- Problem ist, dass Banken oft nicht genau wissen, welche regierung eine Reihe von Wahlrechten so genutzt hat, Risiken sie bei ihren Geschäften mit Hedgefonds einge- dass die Umsetzung der Bankenrichtlinie der deutschen hen. Bankenstruktur angemessen ist. An erster Stelle ist hier das Thema Intragruppenforderungen zu nennen, also die Basel II hätte grundsätzlich eine Möglichkeit geboten, Frage, wie Forderungen innerhalb der Haftungsverbünde dem Einhalt zu gebieten. Mit Basel II werden auch die von Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu bewer- Regeln geändert, nach denen ermittelt wird, wie viel ten sind. Weil Sparkassen und Genossenschaftsbanken Mindestkapital eine Bank vorzuhalten hat. Hier hätte gerade bei der Kreditversorgung kleiner und mittlerer 4158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Unternehmen eine besondere Rolle spielen, ist das für und der Deutschen Bundesbank begleitet. So ist es uns (C) uns wirtschaftspolitisch von großer Bedeutung. gelungen, insbesondere eine faire Behandlung von Mit- telstandskrediten durchzusetzen. Die in den Baseler und Zweitens – das ist in der Anhörung deutlich gewor- Brüsseler Verhandlungen erzielten Erfolge sollen mit den – muten wir den Marktteilnehmern mit diesem um- diesem Gesetzentwurf im deutschen Bankenaufsichts- fangreichen Gesetzeswerk, zu dem dann auch noch die recht verankert werden. überarbeitete Solvabilitätsverordnung und die Groß- und Millionenkreditverordnung hinzukommen werden, eini- Dieses moderne Regelwerk ist dadurch gekennzeich- ges zu. Gerade für kleine Banken ist das eine große ad- net, dass sämtlichen Instituten wahlweise sowohl stan- ministrative Belastung. Zumindest den Vorschlag, mit dardisierte Verfahren als auch bankeigene Modelle zur einer Neufassung des Kreditwesengesetzes dazu beizu- Risikomessung und Berechnung der Eigenkapitalunter- tragen, dass dieses wieder lesbar wird, sollten wir nicht legung zur Verfügung stehen. Alle Verfahren haben ei- in den Anhörungsunterlagen verstauben lassen. nes gemeinsam: Sie knüpfen die Eigenkapitalunterle- gung stärker als bisher an das Risiko eines Kredites. Drittens ist uns wichtig – das ist einer der Gründe für Damit werden den Banken Anreize gegeben, die Risiken unseren Entschließungsantrag, den wir zu diesem Gesetz genauer zu bestimmen und die benötigten Systeme kon- einbringen –, dass bei den Fragen des Datenschutzes tinuierlich fortzuentwickeln. Die Stabilität unseres Fi- eine klare Abgrenzung zwischen dem Bundesdaten- nanzsystems wird davon profitieren. schutzgesetz und dem Kreditwesengesetz als Spezial- norm vorgenommen wird. Diese Anregung aus der An- Die geplanten Änderungen des Kreditwesengesetzes hörung hätte aufgegriffen werden sollen. basieren im Wesentlichen auf Vorgaben der beiden EU- Richtlinien. Der Gesetzentwurf ist strikt an den Min- Schließlich: Uns reicht der Entschließungsantrag der destanforderungen der Richtlinien ausgerichtet. Aller- großen Koalition und der FDP, der die Wirtschaft zu ei- dings weisen allein die Vorgaben aus Brüssel einen be- ner Selbstverpflichtungserklärung auffordert, nicht aus. trächtlichen Umfang auf. Wir befürchten, dass wir mit dem Verfahren von Selbst- verpflichtungserklärung und Bericht für lange Zeit eine Nationale Wahlrechte, die die EU-Richtlinien bieten, unbefriedigende Situation haben werden. Kreditsu- haben wir zugunsten der Kredit gebenden und Kredit chende Unternehmen und Verbraucherinnen und Ver- nehmenden Wirtschaft genutzt. Zu diesen Wahlrechten braucher sollten das Recht dazu haben, dass ihnen die gehören auch sämtliche Regelungen zugunsten von Mit- Ratingentscheidungen der Banken in nachvollziehbarer telstandskrediten. Das so genannte Mittelstandspaket Weise schriftlich offen gelegt werden. Nur so kann si- von Basel II beinhaltet eine niedrigere Eigenkapitalun- chergestellt werden, dass offensichtliche Unrichtigkeiten terlegung für kleinvolumige Kredite und eine stärkere (B) im Ratingprozess entdeckt werden und die Kreditnehmer Berücksichtigung von Kreditsicherheiten. Dadurch wer- (D) ihre Ratingfaktoren, soweit möglich, so beeinflussen den auch Kredite an Handwerker, Freiberufler und Land- können, dass sie ihr Risiko vermindern. Diese Rechte wirte entlastet. Geringere Eigenkapitalanforderungen für von Unternehmen und Verbraucherinnen und Verbrau- Wohnimmobilienfinanzierungen werden privaten Haus- chern durchzusetzen und damit eine Abwägung zwi- halten nützen. schen den Rechten von Anbietern und Nachfragern auf Zur Umsetzung der neuen Eigenkapitalregelungen in dem Kreditmarkt vorzunehmen, ist Aufgabe des Gesetz- das deutsche Bankenaufsichtsrecht sind neben dem vor- gebers. Dies bringen wir in unserem Entschließungsan- liegenden Gesetzentwurf zwei Rechtsverordnungen mit trag zum Ausdruck. eher technischen Bestimmungen vorgesehen. Die not- wendigen Ermächtigungsgrundlagen hierzu sind im Ge- Karl Diller, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister setzentwurf enthalten. der Finanzen: Der Gesetzentwurf zur Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie und der neu gefassten Die Sorge vor allem kleinerer Institute, die neuen Kapitaladäquanzrichtlinie liegt Ihnen heute zur abschlie- Vorschriften könnten unverhältnismäßig hohe Hürden ßenden Beratung vor. Er ist Teil der Umsetzung der darstellen, wurde von der Bundesregierung sehr ernst neuen bankaufsichtlichen Eigenkapitalvorschriften – Ih- genommen. Mittlerweile lässt sich aber sagen, dass das nen sicher besser bekannt unter dem Stichwort deutsche Bankensystem insgesamt von den neuen Vor- „Basel II“. schriften profitieren wird. Eine aktuelle Studie zeigt, dass die Eigenkapitalanforderungen des deutschen Ban- In der heutigen Sitzung wird eine der grundlegenden kensektors um 6,7 Prozent sinken würden, wenn die Modernisierungen unseres Bankenaufsichtsrechts ab- neuen Regelungen bereits jetzt in Kraft wären. Beson- schließend beraten. Sowohl für die Kreditwirtschaft als ders hervorzuheben ist, dass Banken mit einem höheren auch für die Bankenaufsicht beinhaltet der Gesetzent- Anteil am Geschäft mit privaten Haushalten sowie klei- wurf ohne Zweifel die bedeutendsten Änderungen seit nen und mittleren Unternehmen noch stärker profitieren. den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Die notwendige Eigenkapitalunterlegung dieser Banken würde sogar um 8,4 Prozent sinken. Hinter uns liegt ein langer, aber erfolgreicher inter- nationaler Verhandlungsprozess. Die Bundesregierung Die neuen Vorschriften sollen erstmals ab dem 1. Ja- – unterstützt durch den Deutschen Bundestag – hat die- nuar 2007 gelten. Kreditwirtschaft und Bankenaufsicht sen knapp siebenjährigen Prozess in enger Abstimmung bereiten sich seit Monaten intensiv auf dieses Datum mit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht vor. Die enormen Anstrengungen werden unternommen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4159

(A) weil die rechtzeitige und sachgerechte Umsetzung von Da es bei der rechtlichen Ausgestaltung der Patien- (C) Basel II zum Nutzen des Finanzplatzes Deutschland sein tenverfügung um eine Frage geht, die unterschiedliche wird. Überzeugungen berührt und deshalb unterschiedliche Konsequenzen zur Folge hat, wird die Abstimmung da- Mit der heutigen abschließenden Beratung im Deut- rüber letztendlich freizugegeben sein. Aufgrund der Be- schen Bundestag ist die Umsetzung von Basel II in deutung des Themas ist es unserer Meinung nach besser, Deutschland unaufhaltsam vorangeschritten. Länder, die in der beschriebenen Form aus der Mitte des Parlamen- mit der Umsetzung der Baseler Vereinbarung bisher tes aktiv zu werden, statt dass eine Fraktion die Regie- noch zögern, werden sich von der erfolgreichen Umset- rung zum Handeln auffordert. zung in Deutschland und ganz Europa überzeugen kön- nen. Darüber hinaus können wir die von der FDP-Fraktion aufgestellten Forderungen an einen Gesetzentwurf auch inhaltlich nicht in allen Punkten mittragen, da diese in Anlage 16 den zentralen Punkten des Lebensschutzes zu vage blei- ben und das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen ab- Zu Protokoll gegebene Reden solut setzen. zur Beratung des Antrags: Patientenverfügun- In den anstehenden Beratungen kann zu Recht von gen neu regeln – Selbstbestimmungsrecht und den Menschen erwartet werden, dass ihre Unsicherhei- Autonomie von nichteinwilligungsfähigen Pati- ten und Ängste in die Beratungen in vollem Umfang mit enten stärken (Tagesordnungspunkt 13) aufgenommen werden müssen. Im Spannungsfeld zwi- schen dem grundgesetzlich verankerten Schutz des Le- bens und dem dort ebenso verankerten Recht auf Selbst- Ute Granold (CDU/CSU): Bereits in der vergange- bestimmung müssen in diesem Haus auf breiter Basis nen Legislaturperiode haben wir in diesem Haus über die tragbare Regelungen gefunden werden. Dabei geht es notwendige dritte Änderung des Betreuungsrechts debat- auch um die Frage nach dem weitgebundenen Maßstab tiert, allerdings haben sich durch den Regierungswechsel von Politik, um die Frage nach dem Menschenbild. die weiteren Beratungen in dieser Frage verzögert. Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD haben dann im Ko- Aus dem Antragstext der FDP-Fraktion ist zu entneh- alitionsvertrag festgeschrieben, die Diskussion über die men, dass unseren Überlegungen gegensätzliche Vorstel- gesetzliche Absicherung der Patientenverfügung fortzu- lungen zum Menschenbild zugrunde liegen. Ausgangs- führen und abzuschließen. punkt unserer Argumentation ist ein Menschenbild, das auch unserer Verfassung zugrunde liegt und antike, jüdi- (B) Schon damals, im März 2005, bestand bei den Frak- sche und vor allem christliche Quellen hat. Dieses Men- (D) tionen Konsens, zügig den rechtlichen Rahmen der Pati- schenbild bestimmt sich über dem Begriff der Würde, entenverfügung verbindlich festzulegen, um in dieser die absolut ist. Wer diesen Absolutheitsanspruch versagt, Frage die notwendige Rechtssicherheit bereitzustellen. muss wissen, dass er damit Dritten eine Verfügungsvoll- Dies wird bereits seit Jahren auch von den verschiedens- macht zubilligt, die das Ende der Selbstbestimmung ei- ten Seiten angemahnt. So hat der BGH in seinem Urteil nes Menschen bedeutet. vom 12. März 2003 einige zentrale Kriterien der Patien- tenverfügung festgelegt und die Bedeutung der Patien- Die Würde des Menschen ist vor jeder Einschränkung tenverfügung an sich deutlich aufgewertet. zu schützen, und zwar unabhängig von seiner augen- blicklichen Verfassung. Sie ist unantastbar. Damit sind Die höchstrichterliche Entscheidung hat jedoch viele auch der eigenen Gestaltungsmacht Grenzen gesetzt. In Fragen offen gelassen, auf die wir seitdem nach befriedi- diesem Punkt unterscheiden sich unsere Vorstellungen genden Antworten suchen. In diese Diskussion sind mit- also fundamental von denen, die in dem hier vorliegen- tlerweile auch die Ergebnisse des Zwischenberichts der den Antrag zutage treten. Enquete-Kommission Ethik und Recht in der modernen Medizin und der interdisziplinären Arbeitsgruppe des Der Natur ihr Recht zu belassen, verlangt den Ver- BMJ eingeflossen. Die zahlreichen Eingaben von Bür- zicht auf sterbebeschleunigende Maßnahmen und gebie- gern und Verbänden, von denen ich stellvertretend für tet umgekehrt nicht den Einsatz einer lebensverlängern- viele die der Deutschen Hospizstiftung und der beiden den Maßnahme um jeden Preis. Wenn aus Lebensschutz Kirchen nenne, haben die Politik zusätzlich zum Han- Lebenspflicht wird, ist eine Radikalisierung der Forde- deln gemahnt und weitere konstruktive Diskussionsbei- rungen hin zu einer Zulassung der aktiven Sterbehilfe träge geleistet. Tür und Tor geöffnet. Die Schlussfolgerung hieraus ist unter einem christli- Dabei waren wir uns einig, dass die Initiative zu chen Menschenbild ein unmissverständliches Verbot der einem Gesetzentwurf aus der Mitte des Parlaments kom- aktiven Sterbehilfe. Passive Sterbehilfe hingegen, die men sollte. Die diesbezüglichen Beratungen in den Frak- hinzielt auf ein menschenwürdiges Sterbenlassen, ist er- tionen sind noch nicht abgeschlossen. In der Unionsfrak- laubt und vielleicht sogar in einer größeren Zahl von Fäl- tion liegt bereits ein internes Diskussionspapier vor, das len geboten. nach der Sommerpause abschließend beraten werden wird. Wir gehen davon aus, dass es dann aus der Mitte Wenn nun die Frage gestellt wird, wer entscheidet, des Parlamentes durchaus mehrere konkurrierende über- was zu tun oder zu lassen ist, dann steht sicherlich der und auch interfraktionelle Gruppenanträge geben wird. Wille des Patienten im Vordergrund, begleitet von dem 4160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Arzt. Gesetzgebung und Rechtssprechung haben hierbei gung und Informationspflichten einerseits sowie entspre- (C) einen Rahmen zu setzen, innerhalb dessen eine Entschei- chende Verfahrensvorschriften andererseits – obligatori- dung zu treffen ist. Letztendlich fließen jedoch zahllose sche Beteiligung des Vormundschaftsgerichts und des Einzelgesichtspunkte in die Entscheidungen ein, die ein Konsils – begegnet werden. Es ist erfreulich, dass bezüg- kluges und bedachtes Urteil erfordern. lich des Schriftformerfordernisses der Patientenverfü- gung inzwischen allgemeiner Konsens besteht. Wün- Eine komplette Verrechtlichung dort vorzunehmen, schenswert wäre auch, eine vorgeschaltete wo der Mensch dem Gang der Natur folgend die Grenze Beratungspflicht und eine regelmäßige Aktualisierung zwischen Leben und Tod überschreitet, bringt uns keiner als zwingende Wirksamkeitsvoraussetzung festzuschrei- Lösung näher. Es ist nicht Aufgabe des Staates und der ben. Politik, Antworten auf die letzten Fragen menschlicher Existenz zu geben. Krankheit, Sterben und Tod sind für Ein Konsil sollte in allen Fällen verbindlich festge- jede menschliche Ordnung unverfügbar. Aufgabe des schrieben werden, wobei in diesem Zusammenhang das Staates ist es aber, die Bedingungen und Chancen für ein Erfordernis der weiteren Einschaltung des Vormund- menschenwürdiges Leben und Sterben zu schaffen: für schaftsgerichts im Einzelnen geprüft werden sollte. Eine ein Gesundheitssystem, das alle Fortschritte der Medizin vormundschaftsgerichtliche Entscheidung sollte nur bis hin zur Minimierung des Schmerzes allen Mitglie- dann erforderlich sein, wenn eine verbindliche Patien- dern der Gesellschaft öffnet, sowie eine Ordnung, die tenverfügung nicht vorliegt und ein Konsens im Konsil den Schutz auch der hilflosen Mitglieder der Gesell- nicht erzielt werden kann. Diese Differenzierung ist ge- schaft bis zuletzt garantiert. rechtfertigt, wenn für die Patientenverfügung ein hoher Die Erfahrungen in der Palliativmedizin und der Hos- Qualitätsstandard gefordert wird, was zu begrüßen wäre. pizbewegung sind in dieser Situation gleich; kein Es ist unsere Aufgabe – ebenso wie bei der Vorsorge- Schwerkranker will sterben, wenn seine Schmerzen und vollmacht –, bei den Menschen dafür zu werben, dass sie andere Symptome kontrolliert sind und er als Mensch sich für eine qualifizierte Patientenverfügung entschei- angenommen ist. Der elementare Lebenswunsch der den und damit selbst bestimmen, wie sie für sich die Schwerkranken muss Wegweiser für die flächende- Phase ihres Lebensendes gestalten wollen. Die Tatsache, ckende Ausweitung der Palliativmedizin und Hospizbe- dass nach Schätzung der Deutschen Hospizstiftung wegung wie auch der qualifizierten Aus- und Weiterbil- schon 2003 circa 7 Millionen Menschen eine Patienten- dung der dort tätigen Menschen sein. verfügung verfasst hatten und die Diskussion der ver- Wenn der Wille des Patienten – ich denke, darüber gangenen Jahre die Menschen zusätzlich für dieses sind wir uns einig – Maßstab des Handelns sein soll, Thema sensibilisiert hat, unterstreicht, dass wir die dazu (B) dann findet er in der so genannten Patientenverfügung in notwendigen rechtlichen Kriterien dringend verbindlich (D) Fällen fehlender Entscheidungsfähigkeit seine Rechtfer- regeln müssen. tigung in unserer Verfassung als Ausdruck der Selbstbe- Zum Leben gehört das Sterben in Würde im Kreis der stimmung. Familie. Der fortschreitenden Entsozialisierung des Ster- Da noch keine verbindlichen Fraktionsmeinungen bens muss entgegen getreten werden. Sterben ist nicht vorliegen, erscheint es mir sinnvoll, im Folgenden noch nur ein körperlicher Prozess, er hat auch eine seelische, einmal die Problemfelder zu umreißen und die noch of- soziale, familiäre und geschichtliche Dimension. Der fenen Fragen ansprechen, die grundsätzlich hinsichtlich Fortschritt der Medizin ist dankenswerterweise rasant, der Verbindlichkeit, der Wirksamkeitsvoraussetzungen, kann und darf aber nicht zu einem unwürdigen Sterben der Umsetzung und der Beteiligung des Vormund- führen. Hoffen wir also, dass dieses Haus schon bald in schaftsgerichts bestehen. einem breiten Konsens die Rechtsgrundlage hierfür schafft. Im Konsens, dass die Basisversorgung – Ernährung und Körperpflege – nicht zur Disposition stehen darf, findet die Verbindlichkeit der Patientenverfügung ihre Markus Grübel (CDU/CSU): Lassen sie mich zwei Grenze im geltenden Recht, das durch das schon ange- Gesichtspunkte zum Antrag der FDP „Patientenverfü- sprochene BGH-Urteil präzisiert worden ist: Der BGH gungen neu regeln“ ansprechen: erstens eine formale Be- hat in seiner Entscheidung vom 12. März 2003 deutlich trachtung, zweitens eine inhaltliche Betrachtung. gemacht, dass lebenserhaltende oder -verlängernde Maßnahmen bei einem Patienten unterbleiben müssen, Zur formalen Seite: Der Antrag ist gestellt von einzel- wenn dieser einwilligungsunfähig ist, sein Grundleiden nen Abgeordneten der FDP und der Fraktion der FDP. einen irreversiblen tödlichen Verlauf angenommen hat Bei ethisch-rechtlichen Fragestellungen kann man aus und er zuvor seinen entsprechenden Willen – etwa in unterschiedlicher Überzeugung und unterschiedlichen Form einer Patientenverfügung – deutlich geäußert hat. Werteordnungen zu unterschiedlichen Ergebnissen kom- In diesem Zusammenhang ist genau zu prüfen, wie mit men. Für unterschiedliche Auffassungen gibt es auch bei weiteren Krankheitsbildern wie zum Beispiel der fortge- der Frage der Patientenverfügung durchaus gute Gründe. schrittenen Demenz und mit Wachkomapatienten umzu- Jeder Abgeordnete soll dann frei nach seinem Gewissen gehen ist. entscheiden. So haben wir es beim § 218 StGB, beim Transplantationsgesetz und beim Stammzellengesetz Möglichen Missbrauchsgefahren kann durch erhöhte gemacht. So wollen wir es auch bei den Patientenverfü- Qualitätskriterien, also Schriftform der Patientenverfü- gungen machen. Bei der FDP gibt es offensichtlich ein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4161

(A) kollektives Fraktionsgewissen. Das halte ich für bemer- Pflichtberatung, eine schriftliche Abfassung beim Notar (C) kenswert und sehr bedenklich. oder Rechtsanwalt und eine Erneuerung der Willenser- klärung alle fünf Jahre. Der Antrag der FDP ist darauf gerichtet, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorlegt. Dies ist Auch in Deutschland findet bereits seit einiger Zeit aber überhaupt nicht der Wunsch der Mehrheit des Hau- eine breite gesellschaftliche Diskussion statt. Am Ende ses. Mit dem Entwurf für ein 3. Betreuungsrechtsände- der letzten Legislaturperiode waren interfraktionelle rungsgesetz wurde vom BMJ ein solcher Gesetzentwurf Verhandlungen für einen Gesetzentwurf schon weit fort- erarbeitet und nach massiver Kritik wieder zurückgezo- geschritten, konnten aber aus den bekannten Gründen gen. Eine Mehrheit in diesem Hause ist der Ansicht, dass nicht mehr zum Abschluss gebracht werden. Vorberei- es Gesetzentwürfe aus der Mitte des Parlaments geben tungen für einen geordneten und verantwortungsbewuss- sollte. Dies werden wohl fraktionsübergreifende Grup- ten Diskussions- und Entscheidungsprozess sind, wie penanträge sein. Und das ist auch richtig so. Im Herbst Sie wissen, im Gange. Das ist auch wichtig, denn das 2006 soll in den Fraktionen dazu der Abstimmungspro- Thema bewegt die Menschen. Das habe ich nicht zuletzt zess erfolgen. Eine Neuregelung könnte dann im Som- in zahlreichen Veranstaltungen in meinem Wahlkreis mer 2007 in Kraft treten. Münster und darüber hinaus festgestellt. Diskussionen zur Patientenverfügung gehörten immer nicht nur zu den Zur inhaltlichen Seite: Die FDP macht das Selbstbe- am besten besuchten Veranstaltungen, sie ergaben auch stimmungsrecht zum alleinigen Maßstab der Entschei- immer leidenschaftliche, aber auch sehr sachliche Ausei- dung. Sie wägt dabei die verschiedenen Verfassungs- nandersetzungen um dieses hochsensible Thema. werte: – Selbstbestimmung, Lebensschutz und ein Tötungstabu und die Menschenwürde – nicht angemes- In den letzten Jahren ist in diese Frage große Bewe- sen gegeneinander ab. Für den Widerstreit dieser ver- gung gekommen. Demografische und gesellschaftliche schiedenen Verfassungswerte ist vom Gesetzgeber ein Veränderungen auf der einen sowie der medizinische möglichst schonender Ausgleich zu finden. Die FDP hat Fortschritt auf der anderen Seite haben dazu geführt, auch nicht richtig abgewogen, wie sich der aktuelle vom dass viele ältere, aber zunehmend auch junge Menschen vorausverfügten Willen, der konkrete vom abstrakten sich mit dem Thema beschäftigen. Man schätzt, dass be- Willen und die reale Entscheidung von einer theoreti- reits mehrere Millionen Menschen eine Patientenverfü- schen Entscheidung voneinander unterscheiden. gung abgeschlossen haben. Jedenfalls komme ich für meinen Teil zum Ergebnis, Im Zuge dieser Entwicklung hat auch der BGH die dass eine Abwägung zu einer Patientenverfügung führt, Patientenrechte in den letzten Jahren immer wieder ge- deren Reichweite begrenzt ist – wie von der Enquete- stärkt. Im Jahr 2003 hat er die Bedeutung der Patienten- (B) Kommission des Bundestages vorgeschlagen – und die verfügung hervorgehoben und als unmittelbar rechtsver- (D) möglicherweise eine besondere Regelung für das über bindliche Willenserklärung gewertet. Im Jahr 2005 gab sehr lange Zeit stabile Wachkoma, wenn trotz Ausschöp- es einen weiteren Beschluss, in dem sich das Gericht ge- fung aller medizinischen Möglichkeiten das Bewusstsein gen Zwangsbehandlungen ausgesprochen hat. Letztlich niemals wiedererlangt werden kann, vorsieht, und zwar sind aber auch in all diesen Entscheidungen wichtige wie in den Überlegungen der EKD unter dem Titel „Ster- Fragen offen geblieben, so die zentrale Frage nach der ben hat seine Zeit“ dargestellt. Darüber werden wir noch Reichweite einer Verfügung auch für den Fall, dass es ausführlich diskutieren. sich nicht um einen Krankheitsverlauf handelt, der „in- faust“ ist, also irreversibel zum Tod führt. Es gibt auch große Übereinstimmung im Parlament: Wir wollen die bestehende Rechtsunsicherheit durch Es ist in der Gesellschaft ein Paradigmenwechsel zu eine Änderung im Zivilrecht beenden, den Menschen die beobachten: weg von einem medizinischen Paternalis- Sorge vor einer Übertherapie nehmen und Verbesserun- mus hin zu mehr Autonomie des Patienten. Es wächst gen im Bereich der Hospizarbeit und palliativmedizini- das Bedürfnis der Menschen nach mehr Selbstbestim- schen Versorgung erreichen. Daran wollen wir gemein- mung – gerade auch nach Selbstbestimmung zum Ende sam arbeiten. des Lebens. Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Be- Christoph Strässer (SPD): In diesem Monat ist bei treuungsverfügungen können dabei wirksame Wege sein unseren Nachbarn in Österreich das neue Gesetz zur Pa- und – eine entsprechende rechtliche Absicherung vo- tientenverfügung in Kraft getreten. Mit den Stimmen der rausgesetzt – auch wertvolle Hilfestellung leisten. Regierungskoalition sowie der Grünen beschloss der Na- tionalrat im März, dass Patienten schriftlich festlegen Das Interesse bei den Bürgerinnen und Bürgern da- können, welche medizinischen Maßnahmen sie am Le- nach ist groß. Die Unwissenheit und Unsicherheit aber bensende wünschen. Lebensverkürzende Maßnahmen auch. Viele Betroffene sind zu Recht verunsichert, weil im Sinne dessen, was wir als aktive Sterbehilfe bezeich- sie nicht wissen, inwieweit ihre Verfügungen rechtsver- nen, bleiben verboten. Die Sozialdemokraten dort bindlich sind. Über 200 Leitfäden und Musterverfügun- stimmten gegen das Gesetz, weil es für sie zu strenge gen tragen eher zur Verwirrung als zur Übersichtlichkeit Formvorschriften enthalte. und Klarheit bei. Viele haben die Befürchtung, dass sich Ärzte nicht an die Verfügung halten. Viele erliegen dem Das Gesetz verlangt nämlich zur Wirksamkeit der Pa- Glauben, Angehörige könnten ohne weiteres für sie ent- tientenverfügung unter anderem: eine medizinische scheiden. 4162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Im Hinblick auf die wachsende Zahl an Patientenver- Ich weise aber ausdrücklich daraufhin, dass dies mei- (C) fügungen besteht daher ein gesetzgeberischer Hand- ner Meinung nach keine Wirksamkeitsvoraussetzungen lungsbedarf. Eine im Betreuungsrecht gesetzlich gere- sein sollten. gelte Patientenverfügung ist daher zu begrüßen. Sie Zum Abschluss ist es mir wichtig, darauf hinzuwei- stärkt die Rechte der Patienten und sorgt für ein größeres sen, dass die Patientenverfugung aber nicht nur isoliert Maß an Rechtklarheit und Rechtssicherheit bei allen Be- unter dem Aspekt der Lebensverkürzung betrachtet wer- teiligten. Ich denke, das ist das, was die Betroffenen von den sollte. Das erlebe ich immer wieder. Wir wollen kei- uns, dem Gesetzgeber, erwarten. Das sollten wir ihnen nen Beitrag zu einer Gesellschaft leisten, die den Alten auch geben. und Kranken suggeriert, auf Behandlung verzichten zu Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, insofern müssen. bieten Ansätze aus Ihrem Antrag eine Diskussionsgrund- Selbstverständlich kann eine Patientenverfügung lage. Sie sind aber nicht neu und insbesondere meiner auch dazu genutzt werden, festzulegen, dass alles medi- Meinung nach an den falschen Adressaten gerichtet. Wir zinisch Mögliche für einen Patienten getan werden soll. haben uns in der letzten Legislaturperiode darauf ver- Ohnehin ist die Patientenverfügung nur ein – wenn auch ständigt, dass nicht die Bundesregierung einen Gesetz- wichtiger – Baustein zur Sicherung der Würde und entwurf in das Gesetzgebungsverfahren einbringen wird, Selbstbestimmung der Patienten. Sie muss als Rechtsin- sondern aus den Fraktionen heraus eigene Gruppenan- stitut eingebunden werden in Maßnahmen zur Sterbebe- träge in den Bundestag eingebracht werden sollten. Ich gleitung und in ein stärker ausgebautes Netz von pallia- halte das für die richtige Vorgehensweise, richtig des- tivmedizinischen und hospizlichen Maßnahmen. halb, weil sich die ethischen Grundlagen, um dies es Vor allem müssen diese Möglichkeiten durch Aufklä- geht, nicht an Partei- oder Fraktionsgrenzen festmachen rungskampagnen einer breiten Öffentlichkeit näher ge- lassen. Hier sind im wahrsten Sinne des Wortes „Gewis- bracht werden. Nur so können die verschiedenen Bau- sensentscheidungen“ erforderlich. Ansatzpunkte für der- steine auch ihre gewünschte Wirkung entfalten. Das artige Anträge bieten der Zwischenbericht der Enquete- sollten wir bei unseren Beratungen in dem demnächst kommission „Ethik und Recht in der modernen anstehenden Gesetzgebungsprozess nicht vergessen. Medizin“ des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 2004, die Stellungnahmen des Nationalen Ethikrates aus dem Jahr 2005 und die Vorarbeiten unserer Fraktionen, Joachim Stünker (SPD): Die FDP will mit ihrem warum nicht auch die eine oder andere Entwicklung aus Antrag eine Diskussion anstoßen, die längst im Gange Österreich oder anderen Ländern die gesetzliche Rege- ist. Das Thema steht auf unserer Agenda weit oben. lungen gefunden haben. Schon in den Koalitionsverhandlungen haben wir uns (B) hiermit befasst und vereinbart, die Diskussion über eine (D) Inhaltlich möchte ich schon an dieser Stelle vorweg- gesetzliche Absicherung der Patientenverfügung fortzu- nehmen, dass ich der Auffassung bin, dass die Patienten- führen und abzuschließen. In der SPD-Fraktion haben verfügung erstens unbedingt schriftlich abgefasst sein wir kürzlich verabredet, dass Thema Patientenverfügung muss. Der Schriftform kommt eine wichtige Beweis- auf der Klausursitzung im Sommer dieses Jahres inten- und Schutzfunktion zu – für den Verfasser und für den siv zu behandeln. behandelnden Arzt. Am Antrag der FDP missfällt mir die Aufforderung an die Bundesregierung, einen Gesetzentwurf vorzule- Zweitens sollte auf weitere Wirksamkeitsvorausset- gen. Der Weg über einen Regierungsentwurf ist meiner zungen verzichtet werden. Zahlreiche formale Hürden Ansicht nach nicht der richtige. Die Thematik ist mit ei- wie in Österreich schränken meiner Ansicht nach das ner Vielzahl von ethischen Fragen verbunden, die vertre- Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen zu sehr ein, tenen Positionen orientieren sich nicht an parteipoliti- in jeder und für jede Phase des menschlichen Lebens schen Linien. In solchen Fällen sollten Gesetzentwürfe steht das Prinzip der Menschenwürde und das Recht auf aus der Mitte des Bundestags eingebracht werden. Bei Selbstbestimmung, abgeleitet aus den Art. l und 2 unse- den vergleichbaren Diskussionen um § 218 StGB oder res Grundgesetzes, absolut im Vordergrund. den Import embryonaler Stammzellen haben wir hiermit Drittens. Die Reichweite der Verfügung sollte deshalb sehr gute Erfahrungen gemacht. auch nicht beschränkt und damit dem Selbstbestim- In der Sache gehen die Vorstellungen der FDP in die mungsrecht aus Art. 2 GG keine Grenzen gesetzt wer- richtige Richtung. Der Antrag entspricht in weiten Tei- den. len der Position der Arbeitsgruppe Rechtspolitik der SPD-Bundestagfraktion. Auch wir sind der Ansicht, dass Viertens. Die Zuständigkeit des Vormundschaftsge- eine Patientenverfügung nur bindend sein kann, wenn richtes sollte auf Konfliktfälle begrenzt werden. sie schriftlich abgefasst und unterschrieben ist. Auch die formfreie Widerrufbarkeit ist zweifelsohne geboten. Fünftens. Neben diesen gesetzlich zu regelnden Punk- ten empfehle ich jedem Betroffenen gleichwohl, vor Besonders begrüße ich, dass sich auch die FDP in der dem Aufsetzen einer Patientenverfügung, ein ärztliches zentralen und übergeordneten Frage dagegen ausspricht, Aufklärungsgespräch zu suchen sowie die Patientenver- Patientenverfügungen nur für bestimmte Erkrankungen fügung möglichst umfassend und konkret abzufassen und Krankheitsstadien zuzulassen. Eine solche Reich- und regelmäßig zu aktualisieren. weitenbegrenzung wäre mit dem in Art. 2 Abs. 2 GG ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4163

(A) schützten Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und zen kann. Der vorausverfügte Wille ist immer schwächer (C) dem in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG als der aktuell verfügte. Aber was ist die Alternative? verankerten allgemeinen Persönlichkeitsrecht nicht ver- Die Alternative ist Fremdbestimmung durch andere einbar. Die geforderte „infauste Prognose“ würde zum Menschen. Bei aller Relativierung des autonom handeln- Beispiel bedeuten, dass für den Fall eines dauerhaften, den Menschen: Wir Liberale entscheiden uns dann – im stabilen Wachkomas nicht vorab wirksam erklärt werden Leben wie im Sterben – für die Selbstbestimmung. kann, dass eine künstliche Ernährung oder Beatmung einzustellen ist. Dies widerspräche dem Selbstbestim- Die moderne Intensivmedizin hat bedeutende Mög- mungsrecht. lichkeiten geschaffen, Leben zu retten und zu verlän- gern. Manche Menschen erleben das als Chance, andere Zudem habe ich große Zweifel, ob es überhaupt mög- lehnen bestimmte Behandlungen ab, weil sie diese als zu lich ist, einen tödlichen, nicht aufhaltbaren Verlauf mit belastend erleben oder für unwürdig halten. Die Frage, hinreichender Sicherheit zu prognostizieren. ob eine lebensverlängernde Maßnahme als Geschenk oder als Qual empfunden wird, kann nur der einzelne Michael Kauch (FDP): In der letzten Wahlperiode Mensch für sich entscheiden. hat sich die Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ ebenso wie der Nationale Ethikrat Jede medizinische Maßnahme – nicht der Verzicht intensiv mit der Frage beschäftigt, wie durch Patienten- darauf! – ist durch Einwilligung des Patienten zu recht- verfügungen die Selbstbestimmung nicht mehr einwilli- fertigen. Eine Zwangsbehandlung ist Körperverletzung, gungsfähiger Patienten bei der Entscheidung über Ein- dem Arzt drohen strafrechtliche Konsequenzen. Dies gilt leitung oder Abbruch medizinischer Maßnahmen im Grundsatz auch für den nichteinwilligungsfähigen gestärkt werden kann. Es wurde deutlich, dass hier sehr Patienten. Hier entscheidet der gesetzliche Vertreter. unterschiedliche Auffassungen im Parlament bestehen. Eine Patientenverfügung kann ein Instrument sein, in ge- sunden Tagen zu formulieren, welche Therapien man in Die FDP-Bundestagsfraktion hatte bereits in der letz- solchen Fällen wünscht oder ablehnt. Niemand muss ten Wahlperiode einen Antrag in den Deutschen Bundes- eine Patientenverfügung abfassen. Jeder hat das Recht, tag eingebracht, um mehr Rechtssicherheit bei Patien- auch existenzielle Entscheidungen seinem gesetzlichen tenverfügungen zu schaffen. Diesen Antrag bringen wir Vertreter zu überlassen. Doch wer klar weiß, was er jetzt erneut ins Parlament ein. wann wünscht, ablehnt oder begrenzt sehen will, dessen Unser Ziel ist es, mit dieser ersten Lesung den Dis- Verfügung muss geachtet werden. kussionsprozess in dieser Wahlperiode zu eröffnen, um ausgehend von unserem Antrag in Gespräche mit Kolle- Die FDP will deshalb die rechtliche Verbindlichkeit (B) ginnen und Kollegen der anderen Fraktionen einzutre- von Patientenverfügungen stärken. Patienten brauchen (D) ten. Am Ende dieser Gespräche soll ein Gesetzentwurf Rechtssicherheit darüber, dass sich Ärzte und Betreuer stehen, der von einer fraktionsübergreifenden Gruppe nicht über ihren im Voraus verfassten Willen hinwegset- eingebracht wird. zen können, wenn sie am schwächsten sind, weil sie kommunikationsunfähig sind und sich nicht mehr gegen Um eines vorweg klarzustellen: Wir reden bei Patien- nicht gewünschte Behandlungen wehren können. tenverfügungen eben nicht über aktive Sterbehilfe oder assistierten Suizid, wir reden nicht über das gezielte Tö- Das Recht zur Selbstbestimmung über den eigenen ten eines Menschen. Es geht auch nicht um die Verwei- Körper gehört zum Kernbereich der durch das Grundge- gerung indizierter und gewünschter Behandlungen. Es setz geschützten Würde und Freiheit des Menschen. Für geht nicht um Töten, sondern um Sterbenlassen. Es geht die FDP kommt daher eine Begrenzung der Reichweite darum, der Natur ihren Lauf zu lassen, wenn der Patient von Patientenverfügungen nicht infrage. Eine strikte Be- das wünscht. grenzung der Reichweite auf einen „trotz Behandlung ir- reversibel tödlichen Verlauf“, wie sie die Mehrheit der Leitbild unseres Antrages ist das Bild eines Men- schen, der über sein Leben auch in existenziellen Fragen Enquete-Kommission in der letzten Wahlperiode vorge- so weit wie möglich selbst entscheiden kann und soll, schlagen hatte, liefert Patientinnen und Patienten ein Menschenbild, das der Selbstbestimmung Vorrang Zwangsbehandlungen gegen deren erklärten Willen aus. vor anderen Überlegungen Dritter gibt, und seien sie Denn diese Rechtsfigur macht Patientenrechte von einer noch so fürsorglich motiviert. Das ist die eigentliche po- ärztlichen Prognose abhängig, deren Verlässlichkeit litische Trennlinie zwischen den Lagern in dieser Dis- nicht in allen Fällen garantiert werden kann. kussion: die Trennlinie zwischen fürsorglichem Paterna- Vertreter einer strikten Reichweitenbegrenzung wie lismus, der Zwangsbehandlungen in Kauf nimmt, und die Mehrheit der früheren Enquete-Kommission gehen dem Vertrauen auf die Kraft und die Urteilsfähigkeit des für den Anwendungsfall des Wachkomas im Blick auf einzelnen Menschen. die Selbstbestimmung noch hinter die Rechtslage zu- Um es klar zu sagen: Wir haben keine naive Vorstel- rück. In den Behandlungsgrundsätzen der Bundesärzte- lung von einem autonomen Individuum. Natürlich ist der kammer wird erklärt, dass es sich nicht um Sterbende Mensch eingebunden in Beziehungen und auch in innere handelt und sie deshalb auch künstlich ernährt werden Zwänge. Gerade bei Patientenverfügungen kommt ein müssen. Allerdings schränkt die Bundesärztekammer anderer Aspekt hinzu: Man trifft Entscheidungen für ein: unter Beachtung ihres Willens. Diese Einschrän- Szenarien in der Zukunft, die man nur bedingt abschät- kung ist wichtig. 4164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Auch über religiös motivierte Behandlungsbeschrän- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE (C) kungen setzen sich Vertreter einer strikten Reichweiten- GRÜNEN): Über die Notwendigkeit einer rechtlichen begrenzung locker hinweg. Wenn ein Zeuge Jehovas Absicherung von Patientenverfügungen haben wir be- verfügt, niemals eine Bluttransfusion zu wollen, auch reits im letzten Jahr anlässlich des Zwischenberichts der wenn er deshalb sterben müsste, dann ist auch das zu Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen achten. Man mag es persönlich für falsch oder tragisch Medizin“ diskutiert. In der damaligen Debatte wurde halten, doch niemand hat das Recht, Menschenwürde, klar, dass es in jeder Fraktion mindestens zwei unter- Selbstbestimmungsrecht und Religionsfreiheit durch schiedliche Auffassungen bezüglich der rechtlichen Zwangsbehandlungen mit Füßen zu treten. Ausgestaltung gibt, einige sich sogar ganz gegen eine rechtliche Normierung aussprechen. Wenn ich also heute Kernforderung der FDP ist es dagegen, dass Thera- meine Auffassung vortrage, so spreche ich zwar für ei- piewünsche, Therapiebegrenzungen und Therapiever- nen großen Teil meiner Fraktion, nicht aber für alle. bote durch eine Patientenverfügung für jeden Zeitpunkt eines Krankheitsverlaufes möglich sein müssen. Ledig- Ich bin der Meinung, dass es trotz des BGH-Urteils lich eine Basispflege darf aus Gründen der Menschen- von 2003, wonach Patientenverfügungen eine Verbind- würde nicht ausgeschlossen werden. Voraussetzung ist, lichkeit besitzen, einen rechtlichen Regelungsbedarf dass die Patientenverfügung hinreichend klar formuliert gibt, weil es zum einen eine große Unwissenheit und und anwendbar ist, keine offenkundige, etwa nonverbale Unsicherheit unter den Ärzten über die derzeitige Willensänderung erkennbar ist und die Verfügung dem Rechtslage gibt. So glaubt nach einer Umfrage die Patienten noch personal zurechenbar ist. Hieran wird Hälfte der befragten Ärzte, es sei aktive Sterbehilfe, man bei manchen Formen der Demenz Zweifel haben wenn sie aufgrund des geäußerten Willens des Patienten müssen. Hier ist dann – wie immer in Zweifelsfällen – oder der Patientin die künstliche Beatmung einstellen. pro vita zu entscheiden. Ein weiterer Grund: Dieses sensible Gebiet sollte Die FDP fordert darüber hinaus, dass eine Patienten- nicht allein einer Klärung durch die Rechtsprechung vor- verfügung aus Gründen der Rechtssicherheit und Be- behalten bleiben, zumal diese in den letzten Jahren kei- weiskraft schriftlich verfasst werden muss. Eine Ver- neswegs einheitlich war. Denn: Auf der Strecke bleibt pflichtung zur regelmäßigen Aktualisierung der dabei das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen über Patientenverfügung fordern wir nicht, da dabei die Ge- den eigenen Körper. Dieses Selbstbestimmungsrecht ist fahr besteht, dass Patienten infolge des Alters, fortge- jedoch der Kern der Menschenwürde. Es ist das höchste schrittener Krankheit oder reiner Vergesslichkeit die Ak- unverletzliche und unveräußerliche Menschenrecht im tualisierung versäumen und ihr niedergelegter Wille Grundrechtskatalog und findet seine Grenze ausschließ- lich in den Rechten anderer. (B) unwirksam würde. Auch eine generelle Beratungspflicht (D) würde unnötige Bürokratien und Hürden aufbauen. Es ist die Aufgabe des Staates, die Selbstbestimmung jedes Bürgers und jeder Bürgerin vor den Eingriffen an- Dagegen setzen wir uns auch dafür ein, Angebote zur derer zu schützen. Ein staatlicher Paternalismus, der den Beratung und Aufklärung über Heilungsmöglichkeiten Menschen vor sich selbst schützen will, ist nur dann ge- und den Fortschritt der Leid mindernden Palliativmedi- rechtfertigt, wenn der Einzelne zur Selbstbestimmung zin flächendeckend auszubauen. Denn je aufgeklärter nicht in der Lage ist. Das heißt aber auch, dass das ein Mensch ist, desto selbstbestimmter kann er handeln. Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Kör- Darüber hinaus spricht sich die FDP dafür aus, die per höher steht als die – sicherlich oft gut gemeinte – Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts einzuschrän- Schutzpflicht anderer für sein Leben. Darum hat auch ken. Nur im Konfliktfall zwischen dem behandelnden niemand das Recht, gegen den Willen eines Menschen Arzt und dem gesetzlichen Vertreter ist das Vormund- eine Behandlung durchzusetzen. schaftsgericht einzuschalten, wenn zuvor das behan- Dabei ist klar: Durch die moderne Medizintechnik ist delnde Pflegepersonal und die nächsten Angehörigen an- der Zeitpunkt und die Art des Sterbens zunehmend von gehört wurden. Eine Zuständigkeit des Gerichts ist medizinischen Entscheidungen bestimmt. Häufig kön- regelmäßig dann gegeben, wenn keine schriftliche Pa- nen Menschen nur sterben, wenn auf Maßnahmen ver- tientenverfügung vorliegt. Die regelmäßige Anrufung zichtet, wenn eine Behandlung abgebrochen wird, wie es des Vormundschaftsgerichtes schafft nur vordergründig in 50 Prozent aller Todesfälle passiert. Durch diese Ent- Rechtssicherheit. In Wahrheit werden durch die regelmä- scheidung entstehen viele ethische Probleme. Patienten- ßige Einschaltung der Gerichte wichtige Entscheidungen verfügungen und Vorsorgevollmachten sind eine wich- unnötig hinausgezögert und an für diese Fragen oft nicht tige Hilfe für alle Beteiligten, die Entscheidung zu qualifizierte Richter delegiert. treffen, die dem Willen der Patientin oder des Patienten entsprechen. So weit herrschte schon vor einem Jahr Ei- Die Verbindlichkeit und der Anwendungsbereich von nigkeit. Patientenverfügungen müssen in dieser Wahlperiode endlich neu geregelt werden. Deshalb muss jetzt das Par- Alle einwilligungsfähigen Menschen müssen also lament handeln. Die FDP hat als einzige Fraktion einen eine Patientenverfügung abschließen können. Natürlich Antrag zur Patientenverfügung eingebracht. Auf dieser kann sie nur dann umgesetzt werden, wenn die beschrie- Grundlage werden wir uns nun aktiv daran beteiligen, bene Situation mit der konkreten übereinstimmt, wenn mit gleich gesinnten Kolleginnen und Kollegen einen es keine Anzeichen einer Willensänderung gibt, wenn Gruppen-Gesetzentwurf einzubringen. keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie unter äu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4165

(A) ßerem Druck entstanden ist und wenn keine aktive Ster- rechte der Bürger mit dem Legalitätsprinzip in Strafsa- (C) behilfe verlangt wird. chen vereinbar sind. Hier wird ein europäisches Strafrecht durch die Hintertür des Prozessrechtes einge- Von einigen Kolleginnen und Kolleginnen wird nun führt. Wer ein europäisches Strafrecht will, muss es so gefordert, dass die Bindungswirkung einer solchen Ver- nennen und dafür Mehrheiten gewinnen. fügung begrenzt werden müsse. Sie plädieren dafür, dass die Patientenverfügung nur im Falle eines irreversibel Eben diese ernsten Bedenken hatten auch die Richter tödlichen Verlaufs des Grundleidens Gültigkeit habe. des belgischen Verfassungsgerichtes, als sie sich am Die Begrenzung der Reichweite auf Personen mit einer 13. Juli 2005 entschlossen, den EuGH im Vorabentschei- irreversibel tödlichen Krankheit lässt sich jedoch meines dungsverfahren zu ersuchen, den Rahmenbeschluss auf Erachtens nicht rechtfertigen. Sie wäre medizinisch pro- seine Nichtigkeit hin zu überprüfen. Ich meine, wir dür- blematisch, weil es diesen medizinischen Begriff nicht fen ziemlich sicher davon ausgehen, dass die Richter am gibt. Man müsste ansonsten eine Lebenserwartung fest- belgischen Verfassungsgericht kein Stück weniger juris- legen. Diese Begrenzung wäre aber auch ethisch unbe- tisch gebildet und begabt sind als die Juristenmannschaft gründet und verfassungsrechtlich unhaltbar. Denn: Wenn im Ministerium von Frau Zypries. Es wäre daher ange- ein aktuell einwilligungsfähiger Mensch lebensverlän- bracht gewesen, vor der Erstellung endgültiger Neufas- gernde Maßnahmen ablehnen kann, muss dieser Wille sungsentwürfe zunächst einmal die Entscheidung des auch geachtet werden, wenn er im Voraus für eine be- Europäischen Gerichtshofes abzuwarten. So aber wird stimmte Situation geäußert wurde, in der keine Äuße- der Deutsche Bundestag mit der Beratung eines Gesetzes rungsfähigkeit mehr gegeben ist. Würde der Wille nur befasst, dem schon in kurzer Zeit die Grundlage abhan- im Falle eines tödlichen Verlaufs des Leidens geachtet, den kommen wird. Erteilen Sie diesen Gesetzesentwür- bedeutete das im Umkehrschluss eine Zwangsbehand- fen eine Absage! Lassen Sie die Heilbemühungen am lung. Und die ist verboten. Patienten „Haftbefehlsgesetz“ nicht zum Totentanz gera- ten! Wir werden in den nächsten Monaten diese Debatte intensiv zu führen haben. Der Antrag der FDP bietet Doch nicht nur durch die europäische Brille betrach- hierzu eine gute Grundlage. tet sind die Entwürfe hoch bedenklich. Sie sind es – auch in ihrer aufgefrischten Form – mit Blick auf das deutsche Grundgesetz. Die für den neuen § 80 vorgesehene Ab- Anlage 17 grenzung von Taten mit maßgeblichem Auslandbezug, maßgeblichem Innlandsbezug und Mischfällen ist kaum Zu Protokoll gegebene Rede mehr als eine Ansammlung von Unbestimmtheiten. (B) zur Beratung der Entwürfe eines Gesetzes zur Im deutschen Verfassungsrecht haben wir eine sehr (D) Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den klare Formel: Je intensiver eine Maßnahme des Gesetz- Europäischen Haftbefehl und die Übergabever- gebers in Grundrechte eingreift, umso strenger sind die fahren zwischen den Mitgliedstaaten der Euro- Anforderungen an die Bestimmtheit der Norm. päischen Union (Europäisches Haftbefehlsge- setz – EuHbG) (Tagesordnungspunkt 14) Diesem einfachen Grundsatz wird der Entwurf nicht gerecht. Wolfgang Nešković (Die LINKE): Als das Bundes- Vielleicht liegt das daran, dass man sich für die verfassungsgericht am 18. Juli des vergangenen Jahres Neufassungen darauf beschränkt hatte, die Empfehlun- feststellte, dass der Patient „Europäisches Haftbefehls- gen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Urteil trot- gesetz“ an schweren Verfassungsmängeln krankte, da zig abzuschreiben, anstatt für die inhaltliche Umsetzung hat man das Gesetz rasch in den Operationssaal gescho- dieser Empfehlungen Sorge zu tragen. ben, um sich seiner Krankheit anzunehmen. Seitdem Und wenn man sich schon aufs Abschreiben verlegt, wurde der Teint des Patienten aufgefrischt, es wurden sollte man es sorgfältig tun: Vitaminspritzen verabreicht und eine Sauerstoffkur durchgeführt. Jetzt hat der Patient wieder einigermaßen Das Bundesverfassungsgericht hatte zum Problem der rosige Wangen, aber die Ursache des Leidens wurde gesicherten Rücküberstellung ausgeführt: nicht behoben. Die Ursache des Leidens war dem Pa- tienten nämlich bereits mitgegeben, als er auf die Welt Die bloße Zusage einer Rücküberstellung ist inso- kam. weit unzureichend, weil damit noch nichts über die Möglichkeit der Strafverbüßung in Deutschland ge- Bereits der dem Europäischen Haftbefehlsgesetz zu- sagt ist. grunde liegende Rahmenbeschluss des Rates ist eine ernste Bedrohung für die Prinzipien der Würde und der Dennoch findet sich in den Neufassungen dieselbe Freiheit des Menschen. Es ist hoch fraglich, ob dieser ungenügende Formulierung wie schon im gerügten ers- Rahmenbeschluss überhaupt auf einer rechtmäßigen ten Gesetz. In der Begründung der Gesetzesentwürfe Legitimationsgrundlage erlassen wurde. Anstelle eines werden wir dazu auf einen in der Zukunft erwarteten Rahmenbeschlusses wäre nämlich ein europäisches Rahmenbeschluss zur Vollstreckungshilfe auf europäi- Übereinkommen erforderlich gewesen. scher Ebene verwiesen. Der soll dann klären, was heute ungeklärt bleibt. Das ist befristeter Verfassungsbruch mit Es ist weiterhin äußerst fraglich, ob die mit dem Rah- unsicherem Fristablauf und keine Behebung des vom menbeschluss geschaffenen Eingriffe in die Freiheits- Verfassungsgericht gerügten Misstandes. Des Weiteren 4166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) verschlechtern die Neufassungen die Rechtslage der in nahme, dass jeder, dem wir einen deutschen Pass geben, (C) Deutschland lebenden Ausländer, ohne dass es dafür sich automatisch integriert, ist ein Trugschluss. Die Ein- überhaupt eine Aufforderung vom Verfassungsgericht bürgerung eines ausländischen Mitbürgers kann nur das gab. Ergebnis einer erfolgreichen Integration sein und nicht der Anstoß. Die Einbürgerungsurkunde muss doch die Während der alte § 80 Abs. 3 für alle Ausländer, die Perspektive, ja der Anreiz sein, auf die sich alle Integra- sich in Deutschland rechtmäßig aufhalten, dieselben tionsbemühungen der hier lebenden Ausländer richten. Schutzkriterien wie für Deutsche bereithielt, beschränkte Wenn wir diesen Anreiz wegnehmen, dann können wir der neuere § 80 Abs. 4 diesen Schutz auf die sehr viel keinen Integrationswillen mehr erwarten. Dies hat nichts kleinere Gruppe der Ausländer, die in familiärer oder in mit Diskriminierung zu tun. Lebensgemeinschaft mit Deutschen leben. Im neuesten Änderungsvorschlag des Justizministeriums ist dann Dieses sehen auch die deutschen Landkreise und selbst dieser zwingende Schutz gestrichen und durch Kommunen so, welche vor Ort mit der gesellschaftli- eine fakultative Regelung ersetzt worden. Ich finde es chen Aufgabe Integration zu tun haben. Und ich möchte unerträglich, dass Menschen, die Sitte und Recht dieses Frau Pau sehen, wie sie ihren Kommunalpolitikern in Landes achten, die hier Steuern zahlen, nicht auch in den Marzahn erklärt, dass in Zukunft nur noch Abwarten Genuss des üblichen Auslieferungsschutzes hinein ge- reicht, um die deutsche Staatsbürgerschaft zu erlangen. nommen werden sollen. Schließlich ist der vom Bundes- Zumal doch gerade dort, wo die Linkspartei stark ist, die verfassungsgericht geforderte Rechtsschutz nicht verwirk- Äußerung des Kollegen Lafontaine „Deutscher ist nach licht worden. Das Festhalten am zweistufigen Verfahren meinem Verständnis nur, wer sich an der Gemeinschaft und die nur eingeschränkt übertragene Ermessenskon- beteiligt“ auf großen Zuspruch gestoßen ist. Von jedem trolle an die Oberlandesgerichte sind den Maßstäben ei- Bürger in unserem Land erwarten wir, dass er sich zur nes Rechtstaates schlicht unwürdig. freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennt, deshalb ist es nur recht, dass wir dies auch von den Men- Ich bin ohne Mitleid für den sprichwörtlichen Patien- schen einfordern, die Deutsche werden wollen. Mir ist ten „Haftbefehlsgesetz“, denn ich sorge mich um die jedoch klar, dass eine Partei, welche in Teilen vom Ver- wirklichen Menschen, die dieses Gesetz betreffen soll. fassungsschutz beobachtet wird, natürlich ein grundsätz- Ich meine, dass die Menschen im Land sicher sein, müs- liches Problem mit unserer Verfassung hat. sen, dass die Prinzipien des Rechtsstaates auch auf euro- päischer Ebene gewahrt werden. Ich hoffe daher, dass Es muss gestattet sein, die Ernsthaftigkeit eines Be- der Europäische Gerichtshof den zugrunde liegenden kenntnisses zu unseren Werten und dem Grundgesetz zu Rahmenbeschluss samt seiner Ausführungsgesetze end- prüfen. Auf die Einführung von Mehrfachstaatsbürger- schaften möchte ich in diesem Zusammenhang nicht nä- (B) lich beerdigen wird. (D) her eingehen. Die Linke fordert in ihrem Antrag die Ab- schaffung von verpflichtenden Integrationskursen und Anlage 18 von Mindeststandards bei den sprachlichen Fähigkeiten. Zu Protokoll gegebene Reden So erschweren sie es nicht nur unserer Gesellschaft, ihre Integrationsleistung gegenüber den Migranten zu er- zur Beratung des Antrags: Einbürgerung er- bringen. Sie behindern auch die Anstrengungen der aus- leichtern – Ausgrenzungen ausschließen (Tages- ländischen Mitbürger, die sich redlich bemühen, sich in ordnungspunkt 15) die Gesellschaft zu integrieren, indem Sie auf eine Stufe mit denen stellen, die sich der Integration bisher erfolg- reich verweigern. Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Die Linke for- dert in ihrem Antrag unter anderem: Menschen, die seit Wie in der Sozialpolitik muss auch in der Integra- mindestens fünf Jahren in Deutschland sind, die deut- tionspolitik „Fördern und fordern“ die Maxime sein. Es sche Staatsangehörigkeit zu verleihen; die doppelte besteht kein Zweifel daran, dass ausländische Mitbürger Staatsbürgerschaft wieder einzuführen; auf das Bekennt- in Deutschland willkommen sind, dazu gehört aber auch, nis zu unserer Verfassung und ausreichende Sprach- dass jeder seinen Beitrag zu einer erfolgreichen Integra- kenntnisse als Voraussetzungen für den Erwerb der tion leistet. Ziel muss es sein, zu einer Vereinbarung zwi- Staatsbürgerschaft zu verzichten; die Pflichtteilnahme an schen Gesellschaft und Migranten zu kommen: Die Mi- entsprechenden Kursen abzuschaffen. granten bemühen sich ihrerseits um eine Integration und halten sich an die Spielregeln, Politik und Gesellschaft Dieser Antrag ist ein weiterer Beleg für den Realitäts- setzen dafür die Rahmenbedingungen. Integration ist verlust der sozialistischen Linken in Deutschland. Allein eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der alle Betei- schon einen Einbürgerungsanspruch nach fünfjährigem ligten ihren Beitrag zu leisten haben. Aufenthalt in Deutschland, unabhängig vom Aufent- haltstitel, zu fordern, geht an der Realität vorbei. Sie ha- Mit Schaffung vernünftiger Rahmenbedingungen ben wohl das WM-Motto: „Die Welt zu Gast bei Freun- müssen wir den hier lebenden Ausländern vernünftige den“ fehlinterpretiert. Nach Ihrem Antrag soll es in Wege in unsere Gesellschaft eröffnen. Dazu werden wir Zukunft ausreichen, dass Menschen, die sich in Deutsch- die bestehenden Angebote kontinuierlich erweitern und land möglicherweise illegal aufhalten und damit auch verbessern müssen. Voraussetzung für die Teilhabe an den Lebensmittelpunkt hier haben, nur noch fünf Jahre dem gesellschaftlichen Leben ist vor allem die Beherr- aussitzen müssen, um Deutsche zu werden. Die An- schung der deutschen Sprache, aber nicht, wie von der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4167

(A) Linken gefordert, auf dem Niveau der einfachen mündli- Einwanderung, sondern zu wenig Einbürgerung“. We- (C) chen Verständigung. Der Weg aus der sozialen Isolation nige Länder seien so sehr auf Einwanderung angewiesen in Deutschland erfordert mehr als nur ein paar Brocken wie Deutschland, dessen vitales Interesse es sein müsse, Deutsch. Migranten dürfen sich den Integrationskursen dass die begabten türkischen Kinder von heute zur Elite in Deutschland nicht verschließen. Erfolgreiche Integra- von morgen heranwachsen könnten. tion ist auch der Schlüssel für den sozialen Erfolg der hier lebenden Ausländer. Dazu gehört eine umfassende In einer Zeit, in der wir das Ge- oder Misslingen von Bildung und Ausbildung, die neben den notwendigen Integration bei uns intensiv diskutieren, setze ich aus Sprachkenntnissen den Betroffenen auch Kenntnisse meiner Sicht gerne hinzu: In aller Regel – die bekannt- über unseren Wertekanon, welcher seine Wurzeln in lich natürlich auch Ausnahmen kennt – ist jede Einbür- Christentum, Aufklärung und Humanismus hat, vermit- gerung ein Erfolg der Integration in unsere Gesellschaft. teln. Einbürgerungskurse können das am besten leisten. Im Lichte dessen wird die SPD-Fraktion auch Koali- Deshalb müssen sie Pflicht für jeden Integrationswilli- tionsverhandlungen zu den laufenden Gesetzgebungsver- gen sein. Verweigerungshaltungen sind diesbezüglich fahren führen. Auch der Komplex des Staatsangehörig- ganz klar und konsequent zu sanktionieren. keitsrechtes ist Teil der Beratungen zum Entwurf eines Die Unionsfraktion wird nach dem Integrationsgipfel Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher bei der Bundeskanzlerin am 14. Juli 2006, welcher unter Richtlinien der Europäischen Union, auch wenn – wie Beteiligung von Migrantenvertretern stattfindet, einen die Antragssteller völlig richtig erkennen – eine etwaige nationalen Aktionsplan „Integration“ vorlegen. Durch Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechtes mit der Um- die Festlegung gemeinsamer Ziele und eines Zeitplanes setzung dieser Richtlinien nichts zu tun hat. So scheint sollen sich nach der Vorstellung meiner Fraktion Bund, es mir aber sachgerecht, die gesamte Materie des Auf- Länder, Kommunen und die gesellschaftlich relevanten enthaltsgesetzes, des Staatsangehörigkeitsgesetzes und Gruppen über einheitliche Maßnahmen und Zuständig- aller damit zusammenhängenden Gesetze zusammen mit keiten bei dieser gesellschaftlichen Mammutaufgabe der in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebenen verständigen. Die Grundlage dafür kann nur lauten: Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes vorzunehmen Deutschland setzt die Rahmenbedingungen und die Ein- und – wie ebenfalls in der Koalitionsvereinbarung nieder- bürgerungswilligen bemühen sich um die Integration. gelegt – hierbei auch drei weitere aus der Sicht der SPD- Fraktion notwendige Sachverhalte zu regeln: Ich meine Wir brauchen eine Zuwanderungs- und Integrations- eine Altfall-Bleiberechtsregelung für sich bereits lange politik, welche auch an den Interessen unserer Bevölke- Jahre in Deutschland aufhaltende ausländische Mitbür- rung ausgerichtet ist und vor allem der Situation unserer gerinnen und Mitbürger, eine deutliche Verbesserung (B) sozialen Sicherungssysteme Rechnung trägt. Zuwande- beim Übergang von Duldung, – insbesondere Kettendul- (D) rung in einem sozial verträglichen Maße schützt letzten dung – hin zu Aufenthaltserlaubnissen, und den Kom- Endes auch die Migrantinnen und Migranten, die sich er- plex der Überprüfung einiger Rechtsvorschriften, die die folgreich in unsere Gesellschaft integrieren oder sich be- rein humanitär motivierte Hilfe für in Deutschland ille- reits integriert haben. Die CDU/CSU-Fraktion stellt sich gal sich aufhaltende Menschen betreffen. der Herausforderung Integration und wird die entspre- chenden Rahmenbedingungen dafür schaffen. Dies darf Wir werden dabei auch die Anregungen und Vor- aber keine Einbahnstraße sein. Wenn wir keine Pariser schläge der letzten Konferenz der Innenminister der Verhältnisse wollen, sind wir auf die Mithilfe und die Länder und des Bundes am 4. und 5. Mai dieses Jahres Bereitschaft der hier lebenden Migrantinnen und Mi- zum Thema der Einbürgerung in unsere Beratungen ein- granten, sich zu integrieren, angewiesen. beziehen; denn schließlich sind wir der Gesetzgeber und als solcher auch zu diesem Thema gefordert. Dabei muss allen klar sein, dass wir im Ergebnis einen tragfähigen Rüdiger Veit (SPD): Auch wenn in den zugrunde Kompromiss zwischen den beiden die große Koalition liegenden Feststellungen und in der Begründung des An- tragenden Parteien finden müssen, und dies möglichst trags aus meiner Sicht einige durchaus richtige Elemente mit Wirkung auf die Länderseite, damit das entspre- enthalten sind, kann ich für die SPD-Fraktion weder jetzt chende Gesetz noch im Jahr 2006 im Bundesgesetzblatt noch nach den zu erwartenden Beratungen im Innenaus- veröffentlicht werden kann, ohne dass auch noch ein schuss die Zustimmung in Aussicht stellen. langwieriges Vermittlungsverfahren mit dem Bundesrat benötigt wird. In der Tat ist es leider richtig, dass die Anzahl der Einbürgerungen – sicherlich aufgrund ganz unterschied- Sie sehen also, meine sehr verehrten Damen und licher Ursachen – im Ergebnis in den letzten Jahren wie- Herren, auch auf der Seite der Antragsteller: Der Ge- der deutlich zurückgegangen ist auf einen Wert, wie wir samtkomplex ist ebenso umfangreich wie vor dem ihn Anfang der 90er-Jahre, also vor In-Kraft-Treten der Hintergrund manchmal durchaus unterschiedlicher Staatsangehörigkeitsreform am 1. Januar 2000, verzeich- Grundsatzvorstellungen zwischen den beiden Koalitions- net haben. Völlig richtig hat der Bundestagspräsident parteien auch schwierig, aber wir wollen ihn gemeinsam Norbert Lammert ausweislich der „Frankfurter Allge- bewältigen. Von daher versteht sich von selbst, dass wir meinen Zeitung“ vom 28. Juni 2006 und damit ganz ak- – wie das auch schon bei anderen, auf das gleiche Thema tuell, am Tag zuvor bei der Verleihung des Nationalprei- abzielenden Anträgen der Oppositionsfraktionen der Fall ses 2006 an die Herbert-Hoover-Realschule in Berlin war – nicht isolierte Regelungen hier im Parlament Folgendes festgestellt: ,,Deutschland hat nicht zu viel beschließen werden. Die Antragsteller sollten ihre 4168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Überlegungen dann zum geeigneten Zeitpunkt in die Be- ten Landesregierungen heute schon wieder aufgekündigt (C) ratungen auch des Innenausschusses mit einfließen las- werden könnte. Darum sollten wir hierauf auch nicht un- sen. Bestehen sie dagegen auf einer sofortigen Behand- nötig Kraft verwenden, sondern uns auf die Dinge kon- lung und Abstimmung, werden wir vor dem Hintergrund zentrieren, die aktuell bewegt werden können. der soeben angesprochenen Verhandlungen der Koali- tion zum Gesamtkomplex den Antrag ablehnen müssen. Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die FDP unter- Lassen Sie mich aber abschließend in der Sache noch stützt die Forderung nach einem modernisierten Einbür- folgende Klarstellungen zu den Beschlüssen der letzten gerungsverfahren, aber nicht in der Art, die der Fraktion Innenministerkonferenz anbringen, zumal die Be- der Linken vorschwebt. Alle Menschen mit Lebensmit- schlüsse nach ihrem Zustandekommen unterschiedlich telpunkt in Deutschland sollen nach Auffassung der Lin- interpretiert werden: ken alle sozialen und politischen Rechte in Anspruch nehmen können, einschließlich des Wahlrechts. Der Was die Frage der Sprachkenntnisse der Einbürge- Aufenthaltstitel ersetzt demnach das Einbürgerungsver- rungsbewerber angeht, so sollen sie sich am Sprachni- fahren. Selbstverständlich muss nach Auffassung der veau B l lediglich orientieren, müssen aber nicht etwa in Linksfraktion keiner der so Eingebürgerten seinen Le- vollem Umfange, auch bis hin zum schriftlichen Test, bensunterhalt selbst bestreiten; der Bezug von Sozial- nachgewiesen werden. Erreicht jemand allerdings dieses leistungen soll die Einbürgerung nicht mehr behindern. Sprachniveau B l in vollem Umfang, kann er nach den Vorstellungen auch der Innenminister bereits nach sechs Selbst Karl Marx wusste noch, dass ein Mehrwert, der Jahren – bisher zum Beispiel sieben statt acht Jahren – verteilt werden soll, erst einmal verdient werden muss. eingebürgert werden. Klar ist, dass zum Beispiel Einbür- Ich empfehle der Linkspartei diesbezüglich das Studium gerungsbewerber, deren Behinderung, deren Alter oder der Werke von Marx und Engels, die sicherlich mehr auch deren Bildungsniveau einen derartigen Spracher- wirtschaftlichen Sachverstand besaßen als offenkundig werb unmöglich machen, nicht allein deswegen an ei- die Vertreter der SED-Nachfolgepartei in diesem Hause. nem Sprachtest in ihrem Einbürgerungsbegehren schei- Ein darüber hinausgehender Blick in die Haushaltslage tern dürfen. des Bundes, der Länder und Kommunen ist offensicht- lich ohnehin zu viel verlangt. Mit dem Vorschlag der Innenministerkonferenz, Inte- grationskurse durch das BAMF ausarbeiten zu lassen Anspruch auf Sozialleistungen sollen nach Vorstel- und für Einbürgerungsbewerber anzubieten – mit der lung der Linken alle Menschen erhalten, die einen Auf- Notwendigkeit der Bestätigung erfolgreicher Teilnehmer enthalt in Deutschland erreichen können. Das soll aber durch die Kursträger – sind meines Erachtens die im nicht mehr so schwer sein, denn es muss nicht legal pas- (B) Vorfeld der Konferenz nicht nur öffentlich, sondern auch sieren: der Linkspartei erscheint das Verweigern der (D) schon im Parlament erörterten Tests wie der so genannte deutschen Staatsangehörigkeit für Straftäter als unzu- baden-württembergische Muslimtest oder der Wissens- mutbar. Nach dem Wunsch der Linken sollen auch Kri- und Wertetest aus Hessen – jedenfalls gegenwärtig – minelle eingebürgert werden, die zu mehr als 180 Tages- vom Tisch und bedürfen deswegen auch keiner weiteren sätzen verurteilt worden sind. Behandlung. Die Linke fordert die Einbürgerung jedes in Deutsch- Was die Grenze von Tagessätzen bzw. Freiheitsstrafe land geborenen Menschen. Ich frage mich, ob damit angeht – sind und bleiben Ausnahmen bei Überschrei- jedes Kind von Eltern, die sich nur temporär in Deutsch- tungen im Einzelfall möglich –, ist zu beachten, dass land aufhalten, automatisch eine von den Eltern viel- diese Hürde nach den Vorstellungen der Innenminister leicht gar nicht erwünschte Staatsangehörigkeit aufgenö- auch für die so genannte Ermessenseinbürgerung gelten tigt werden soll. Die Linke scheint jedenfalls in der soll, wo bisher selbst die Verhängung einer wirklichen deutschen Staatsangehörigkeit kein wertvolles Gut zu Bagatellstrafe oder eines Bußgeldes die Anwendung der sehen, wenn sie es möglichst ohne Hürden und Kosten Ermessensvorschrift zugunsten des Betroffenen hindert. zugänglich machen und sogar regelrecht aufnötigen will. Seien Sie der Tatsache versichert, dass wir gerade die- sem Punkt in den Koalitionsverhandlungen besondere Um den innergesellschaftlichen Zusammenhalt ma- Aufmerksamkeit schenken werden und dass es hier und chen sich die Linken keine Gedanken; deshalb reicht es heute nicht mein Anliegen ist, den Beschluss der Innen- ihnen, dass sich die Neubürger nur rudimentär mündlich ministerkonferenz in jedem Punkt zu verteidigen. Klar- verständigen können. Schon einigermaßen fließendes heit über seinen möglichen Inhalt und seine Intension Deutsch oder gar schriftliches Sprachvermögen ist aus sollte damit aber trotzdem geschaffen sein. Sicht der Linken zu viel verlangt. Für eine sprachliche Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs, etwa durch die Was schließlich die Anregung bzw. das Begehren des Lektüre von Zeitungen, ist eine solche Sprachkompetenz Antrages der Fraktion Die Linke angeht, das gesamte aber Voraussetzung. Die Demokratie lebt von solcher Optionsmodell im Staatsbürgerschaftsrecht zu kippen, Teilhabe und damit vom Beherrschen der Landesspra- bevor es erstmals richtig angewandt wird, sind die Un- che. Es passt, dass die Linken den Einzubürgernden auch terschiede – hier brauchen wir gar nicht lange herumzu- keine Teilnahme an Staatbürgerschaftskursen vorschrei- reden – zwischen den Koalitionsfraktionen so erheblich, ben wollen. dass ich mir heute nicht vorstellen kann, wie dieser im Jahre 1999 schwer zustande gekommene Kompromiss Die Frage nach der Einstellung zu unserer Verfas- unter Einbeziehung auch der Wünsche der FDP-beteilig- sungsordnung erscheint den Linken konsequent als un- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4169

(A) zumutbare Gesinnungsschnüffelei. Offenbar ist jeder Sevim Dagdelan (DIE LINKE): In unserem Land le- (C) Test und jede Frage für die Linken verknüpft mit einem ben heute über 15 Millionen Menschen, die einen Migra- Generalverdacht mangelnder Verfassungstreue. Warum tionshintergrund haben. Und ein Großteil von ihnen fordern die Linken dann eigentlich nicht auch die Ab- kann grundlegende Rechte nicht beanspruchen, weil sie schaffung aller auf die Vermittlung von Grundkenntnis- keine Staatsbürger sind. Mit unserem Antrag wollen wir sen ausgerichteten Schul- und Universitätsprüfungen, dieses Demokratiedefizit beseitigen. Wir wollen deutlich weil dahinter der bösartige Generalverdacht stehe, jeder machen, dass der Schlüssel zur politischen Integration Prüfling sei dumm? Wir Liberalen haben uns gegenüber und Chancengleichheit in der rechtlichen Gleichstellung Fangfragen hinsichtlich der Gesinnung ausdrücklich ab- liegt. Diese Gleichberechtigung wiederum schaffen wir lehnend positioniert. Aber diese Logik der Linken kön- mit einem radikal vereinfachten und erleichterten Ein- nen wir uns nicht zueigen machen. bürgerungsverfahren. So gesehen ist die Einbürgerung nicht der krönende Abschluss des Integrationsprozesses, Die Linken legen in ihrer Antragsbegründung die sondern gehört zu dessen Grundvoraussetzungen. Meinung dar, die gegenwärtige, dringend notwendige Integrationsdebatte in Deutschland sei „mit rassistischen Wir wissen, dass nicht alle diesen Leitgedanken fol- Zügen“ behaftet, und unterstellen, der politisch grund- gen, sondern eher einer Abwehrhaltung. Stellvertretend sätzlich legitimen Forderung nach Überprüfung des dafür möchte ich Herrn Stoiber hinsichtlich der Kon- deutschen Ausländerrechts liege ein – Zitat Antragsbe- zepte von Einbürgerungstests zitieren: gründung – „völkisch“ fundiertes Staatsbürgerschafts- „Bayern will hier Druck machen, weil wir uns ge- verständnis zugrunde. Das ist eine unglaubliche Wort- nau anschauen und überprüfen sollten, wer dauer- wahl. Der bei uns Liberalen nicht übermäßig beliebte haft zu uns kommt und Deutscher wird.“ CSU-Generalsekretär Söder wird mit dem Terminus „völkisch“ in den Verdacht von Rassismus gebracht. Mit anderen Worten soll wieder unterschieden werden Diese Art der Verunglimpfung des politischen Gegners zwischen denen, die uns nützen, und denen, die uns aus- finde ich unerträglich. nützen. Ein Arbeiter, der nach 30 Jahren am Fließband arbeitslos wurde, wird samt seiner Familie nicht einge- Die Linken zeigen mit ihrem Antrag deutlich, wes bürgert. Aber wir diskutieren heute wieder über Neure- Geistes Kind sie sind. Seine Ziele sind klar: Sie wollen gelungen für die Zuwanderung von Hochqualifizierten, möglichst ungehemmte Einwanderung ohne Qualifizie- weil der Arbeitgeberverband den Bedarf anmeldet. Aus rung, sie wollen keinen gesellschaftlichen Diskurs, sie Afrika stammende Topstürmer sollen für die deutsche wollen möglichst massive gesellschaftliche Konflikte Nationalmannschaft die Tore schießen. Aber afrikani- durch unbegrenzte Einbürgerung von Kriminellen. sche Straßenfußballer bekommen nicht einmal das Vi- (B) Die Linken wollen die komplette Aushöhlung des So- sum für ein Fußballturnier. Dieses Nützlichkeitsprinzip (D) zialsystems durch uneingeschränkte Einbürgerung von ist unmoralisch, verwerflich und inakzeptabel. Menschen, die nicht nur ihren eigenen Lebensunterhalt Sind Sie nicht auch der Ansicht, dass wir im Jahre nicht selbst bestreiten können, sondern auch nicht in der 2006, also im fünften Jahrzehnt der Migration in die Lage sind, einen Beitrag zum solidarischen Sozialsystem Bundesrepublik, anders argumentieren sollten? Auch aus zu leisten. Sie wollen, dass möglichst viele Menschen Ihren Reihen wird diese Frage nämlich bejaht. Der Inte- von staatlichen Alimenten abhängig sind. grationsminister in NRW, Herr Laschet, sagt zum Bei- Sie wollen die Einbürgerung von Menschen, die in spiel, dass wir mehr Einbürgerung brauchen, dass jede keiner Weise in dieser Gesellschaft Chancen haben kön- Einbürgerung ein Erfolg ist. Auch der Bundestagspräsi- nen, nicht nur, weil sie mental, sprachlich und wirt- dent, Herr Lammert, sagte noch vorgestern, dass wir zu schaftlich auf diese Gesellschaft nicht vorbereitet sind, wenige Einbürgerungen haben, und er hat dazu aufgeru- sondern weil sie möglichst auch nicht vorbereitet werden fen, verstärkt für Einbürgerungen zu werben. sollen. Das ist geradezu unmenschlich. Doch Sie können so viel werben, wie Sie wollen. Mit Diesen Menschen wollen die Linken keine Jobs und der derzeitigen Einbürgerungsverhinderungspolitik wer- keine Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs, wozu das den Sie Einbürgerungen nicht fördern. Es kommt nicht Beherrschen der deutschen Sprache notwendig ist, ein- von ungefähr, dass die Einbürgerungsquote in Schweden räumen. Dafür aber sollen sie das Wahlrecht erhalten: oder den Niederlanden fast fünfmal höher ist als in Bay- ein tolles Angebot! ern oder Baden-Württemberg. Seit der Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes zum 1. Januar 2000 haben Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Linken tatsäch- wir einen deutlichen Rückgang bei Einbürgerungen. lich so naiv sind, zu glauben, dass alle Probleme bei der Wenn wir die Voraussetzungen dafür weiter verschärfen, Integration von Zuwanderern dadurch gelöst werden, wie das auch von der IMK vor wenigen Wochen be- dass man ihnen Wahlrecht und Staatsangehörigkeit ein- schlossen wurde, wird sich nichts daran ändern. Im Ge- räumt und ansonsten so tut, als gäbe es keine Probleme. genteil. Die soziale Situation wie zum Beispiel die Ar- beitsmarktlage, fehlende Angebote zum Spracherwerb Ich bin sicher, dass ein Großteil der Menschen in die- werden in der Debatte ausgeblendet. Als wären ver- sem Land etwas anderes will. Ich danke der Linken aus- pflichtende Sprachkurse das Allheilmittel, werden fast drücklich, dass sie einen so offenherzigen Einblick in alle Probleme auf Sprachdefizite verkürzt. Wer ange- ihre Gesinnung gestattet hat, die im Hinblick auf ihre sichts der stigmatisierenden Debatte heute noch den Mut Verfassungstreue ganz offensichtlich problematisch ist. aufbringt, die Einbürgerung zu beantragen, müsste nicht 4170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) nur den deutschen Pass erhalten, sondern auch das Bun- Zwar konnten wir 1999 ein neues Staatsangehörigkeits- (C) desverdienstkreuz. Und der Integrationsgipfel lässt in recht verabschieden, dessen gefundener Kompromiss dieser Hinsicht auch nichts Positives erwarten. durch ein Vermittlungsausschussverfahren allerdings hinter den Zielen der grünen Bundestagsfraktion zurück- Mit unserem Antrag wollen wir dagegensteuern und blieb. den Menschen in unserem Land signalisieren, dass Mi- grantinnen und Migranten gleichberechtigter Teil dieser Insbesondere für die erste Einwanderergeneration hat- Gesellschaft sind. Unsägliche Schuldzuweisungen von ten wir uns ein großzügigeres Angebot erhofft. Zumin- angeblicher Integrationsunwilligkeit oder fehlender Inte- dest für diese Generation hätten wir uns die regelmäßige grationsbereitschaft sind da nur Störsignale. Mit Ihren Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft gewünscht. Generalverdächtigungen haben Sie in letzter Zeit großen Es blieb aber beim Grundsatz der Vermeidung von Schaden angerichtet. Wir müssen wieder dafür sorgen, Mehrstaatigkeit. Wir konnten zwar die Ausnahmen er- dass das Vertrauen in ein Zusammenleben in Frieden, weitern, aber ein wirklicher Brückenschlag zur ersten Freundschaft und Solidarität stärker wird. Informations- Generation ist das noch nicht. Dies ist damals an der kampagnen für Einbürgerungen, wie sie in Berlin bereits FDP gescheitert. laufen und von der Landesregierung in Nordrhein-West- falen angekündigt wurden, sind unseres Erachtens Die Bundestagsfraktion des Bündnisses 90/Die Grü- Schritte in die richtige Richtung und deshalb Teil unse- nen hat im Mai 2006 ein umfassendes Integrationskon- res Antrages. Das ist der Weg, den wir gehen müssen, zept verabschiedet. Mit dem neuen Grundsatzpapier ent- um die von Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen wickeln wir unsere Integrationspolitik weiter. In diesem der Regierungsfraktionen, immer wieder beklagten Defi- Papier plädieren wir für einen gesellschaftlichen Integra- zite bei der Integration wettzumachen. tionsvertrag: Die aufnehmende Gesellschaft und die Mi- grantinnen und Migranten müssen sich unserer Überzeu- Abschließend ein paar Worte an Sie: Liebe Kollegin- gung nach gemeinsam der großen Herausforderung der nen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Integration stellen. nen, in Ihrem Fraktionsbeschluss vom 30. Mai, den ich in mancher Hinsicht kritisiere, fordern Sie im Rahmen Ein gesellschaftlicher Integrationsvertrag macht auch des Integrations-Fahrplans die Weiterentwicklung der eine Weiterentwicklung in der Einbürgerungspolitik un- einbürgerungsrechtlichen Politik. Ich konnte mit Freude seres Landes notwendig. einige Übereinstimmungen in dieser Hinsicht feststellen. Erstens. Im Rahmen des Integrationsvertrages müssen Sollten Sie unseren Antrag nicht unterstützen, könnte ich die Fristen für Einbürgerungen verkürzt werden. das jedenfalls nicht auf inhaltliche Bedenken zurückfüh- ren. Zweitens. Das Angebot an staatsbürgerlichen Kursen, (B) in denen man sich auf eine Einbürgerung vorbereiten (D) kann, muss ausgebaut werden. Diese Kurse sollten frei- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- willig sein. Sie sollten sowohl in die rechtliche und poli- NEN): Eine demokratisch verfasste Gesellschaft kann tische Ordnung unserer Gesellschaft einführen, aber auf Dauer nur funktionieren, wenn nicht große Bevölke- auch Hilfestellungen im täglichen Leben anbieten und rungsteile von einer vollen Partizipation ausgeschlossen auf Beratungsstellen verweisen, wie zum Beispiel für werden. Eine volle politische Teilhabe der Eingewander- Frauen. Gesinnungsprüfungen bei Einbürgerungsverfah- ten bzw. hier geborenen Inländer mit ausländischem ren sind nicht nur untauglich, sondern auch verfassungs- Pass ist aber nur über den Erwerb der deutschen Staats- rechtlich unzulässig. angehörigkeit möglich. Drittens. Einbürgerungsverfahren sollen zu einem re- Einige Zahlen – nach Angaben des jüngsten Migra- präsentativen, dem Anlass angemessenen freudigen Er- tionsberichtes –, um die tatsächliche Größe des Pro- eignis werden. Ein feierliches Gelöbnis oder ein Eid auf blems zu verdeutlichen: die Verfassung – wie von Teilen der Union gefordert – Erstens. In Deutschland leben rund 6,7 Millionen tragen aber dazu nichts bei. Ein solcher Akt könnte auch Ausländer. kaum rechtliche Folgen haben: Wann wäre ein solcher Eid gebrochen? Welche Konsequenzen sollten drohen, Zweitens. Ungefähr die Hälfte aller Migrantinnen und wenn – auch grundgesetzlich – niemand aufgrund eines Migranten lebt seit mehr als zehn Jahren in Deutschland. staatlichen Akts durch Entzug der Staatsangehörigkeit in 30 Prozent von diesen leben sogar schon 20 Jahre oder die Staatenlosigkeit geworfen werden darf? Auch wird länger hier, 40 Prozent von ihnen seit mehr als 15 Jah- Deutschen nicht abverlangt, einmal in ihrem Leben ei- ren. Bei Ausländern aus den klassischen Anwerbestaa- nen Treueeid auf die Verfassung abzulegen. ten, zum Beispiel Türkei, sind die Aufenthaltszeiten durchschnittlich noch länger. Viertens. Die Hinnahme von Mehrstaatigkeit wollen wir zumindest für Angehörige der ersten Generation der Drittens. Jährlich werden circa 100 000 ausländische zugewanderten Migrantinnen und Migranten generell er- Kinder geboren, bei deren Geburt in der Mehrzahl fest- möglichen. steht, dass sie hier aufwachsen, zur Schule gehen, heira- ten und arbeiten werden. Dennoch sind sie rechtlich Fünftens. Im Hinblick auf in Deutschland geborene Ausländer. deutsche Kinder, die neben ihrer deutschen Staatsange- hörigkeit eine zweite besitzen, widerspricht es dem An- Diese Zahlen lassen nur einen Schluss zu: Der Erwerb satz des Integrationsvertrages, wenn sie später dazu ge- der Staatsangehörigkeit muss weiter erleichtert werden. zwungen werden, gegebenenfalls ihren deutschen Pass Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4171

(A) wieder abzugeben. Nach Ansicht von Bündnis 90/Die satzansprüchen der Opfer an der Rechtskraft des Urteils (C) Grünen soll der Optionszwang für heranwachsende Mi- festgemacht wissen. Das stieß bei Regierungsvertretern grantenkinder entfallen. auf wenig Gegenliebe. Nicht anders war es bei meinem Ansinnen, für die Vermögenshaft die weitere Be- Wir wollen, dass sich mehr Menschen für die Einbür- schwerde zuzulassen. Doch getreu dem Motto: „Wir sind gerung entscheiden, weil sie sich mit dieser Gesellschaft der Gesetzgeber“ (Art. 77 Abs. 1 GG), haben Kollege und diesem Staat identifizieren. Wir wollen, dass der Dr. Danckert und ich eine Phalanx gebildet und wir hat- Tatsache Rechnung getragen wird, dass viele Migrantin- ten Erfolg. Ihnen liegt ein überarbeiteter Entwurf vor: nen und Migranten hier seit Jahren leben und ihren Le- Fristbeginn ab Rechtskraft des Urteils! Weitere Be- bensmittelpunkt haben. schwerde gegen einen existenzbedrohenden Arrest in das Vermögen eines Beschuldigten! Anlage 19 Insgesamt führt dieser Gesetzentwurf zu einer Stär- Zu Protokoll gegebene Reden kung von Opferinteressen und einer Berücksichtigung von Belangen eines Beschuldigten, der nach Art. 6 zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Abs. 2 MRK als unschuldig zu gelten hat. Ein gutes Er- Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der gebnis. Vermögensabschöpfung bei Straftaten (Tages- ordnungspunkt 18) Gern wären wir auch der Anregung der FDP nachge- kommen, beschlagnahmte Gelder, die Opfer nicht abrufen, statt im Wege des nachgelagerten Verfalls – Auffang- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ rechtserwerb – dem Staat zuzuweisen, opferschützenden CSU): Der Gesetzentwurf zur Stärkung der Rückgewin- Organisationen zur Verfügung zu stellen. Das stieß aber nungshilfe und Vermögensabschöpfung bei Straftaten auf gesetzestechnische und fiskalische Bedenken. Hier nimmt nicht für sich in Anspruch, ein großartiges Re- haben wir uns – vorerst – auf einen Appell an die Länder formwerk zu sein. Nein. Dieser Gesetzentwurf ist aber beschränkt, einen angemessenen Teil der den Ländern auch mehr als die Umsetzung einer Entscheidung des aus dem Auffangrechtserwerb zufließenden Gelder Op- Bundesverfassungsgerichtes vom 14. Januar 2004. fer schützenden Organisationen zur Verfügung zu stel- Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass len. zwar beim einfachen Verfall § 73 StGB, nicht aber beim so genannten erweiterten Verfall § 73 d StGB Schaden- Offen geblieben ist die ersatzlose Streichung der sersatzansprüche von Tatopfern Vorrang vor der straf- §§ 111 o und p StPO. Diese Vorschriften werden nicht mehr benötigt, seit das Bundesverfassungsgericht mit (B) rechtlichen Gewinnabschöpfung haben. Vorgabe des (D) Bundesverfassungsgerichtes war, die strafprozessualen Urteil vom 20. März 2002 die Vermögensstrafe nach Vorschriften zur Rückgewinnungshilfe in §§ 111 b ff. § 43 a StGB für verfassungswidrig erklärt hat. Das soll- StPO opferfreundlicher auszugestalten. Die Bundesre- ten wir gelegentlich nachholen. gierung hätte sich somit mit einer geringfügigen Ergän- zung des § 73 d Abs. 1 StGB zufrieden geben können, Sie sehen also, alle Mitglieder des Rechtsausschusses um dem Prüfauftrag des Bundesverfassungsgerichtes ge- haben sich redlich Mühe gegeben. Wir bitten diese Mühe recht zu werden. Dabei darf man nicht verkennen, dass mit Ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf zu ho- die Bundesregierung sich seit dem Jahr 1998 mit einer norieren. Änderung des Rechts der Vermögensabschöpfung und Rückgewinnungshilfe beschäftigt. Auch elegante Lösun- Dr. Peter Danckert (SPD): Mit dem vorliegenden gen, die teilweise bei der Sachverständigenanhörung zur Gesetzentwurf verfolgt der Gesetzgeber zwei Ziele: Zum Änderung dieses Gesetzes angesprochen wurden, wur- einen sollen finanziell geschädigte Opfer von Straftaten den überlegt. Bis zu Ende gedacht wäre auch eine im bei der Geltendmachung ihrer Ersatzansprüche im Ver- materiellen Recht angesiedelte elegante Lösung in der gleich zur bestehenden Rechtslage besser gestellt wer- gewünschten Kargheit kaum möglich gewesen. den. Zum anderen soll das durch eine Straftat erlangte Dankenswerterweise hat das BMJ die für den Fach- Vermögen dem Staat zufallen, wenn der durch eine mann schwer und für den Laien gar nicht verständlichen Straftat Geschädigte seine Ansprüche nicht innerhalb ei- Vorschriften der StPO zur Rückgewinnungshilfe durch- ner Dreijahresfrist verfolgt. Damit wollen wir das Signal forstet. So sind jetzt einige Verbesserungen für die Opfer geben: Straftaten lohnen sich nicht! von Straftaten vorgesehen. Zum Beispiel soll die Frist Bereits die bisher einschlägigen Vorschriften des zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen für Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung sahen Opfer von drei Monaten auf drei Jahre verlängert werden die Möglichkeit der Geltendmachung von Ansprüchen (§ 111 i Abs. 3 StPO). Zusammen mit weiteren sinnvol- auf aus Straftaten erlangtes Vermögen durch die Geschä- len Änderungen ist der § 111 i StPO allerdings zu einem digten vor. Es hat sich aber herausgestellt, dass noch ei- juristischen Monstrum mit acht Absätzen mutiert. Und nige Regelungsdefizite bei der Umsetzung der Vorschrif- dennoch haben wir bei der Beratung des Gesetzentwur- ten über die Rückgewinnungshilfe beim Verfall von fes weder die Geduld noch den Überblick verloren. Wertersatz bestehen. So kann nach geltendem Recht In der Debatte wurden erwägenswerte Änderungs- letztlich nicht ausgeschlossen werden, dass der durch wünsche vorgebracht. Kollege Dr. Danckert wollte die eine Straftat erlangte Vermögensvorteil wieder an den verlängerte Frist zur Geltendmachung von Schadener- Täter zurückfällt und Opfer bzw. der Staat leer ausgehen. 4172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir Auf einen Aspekt möchte ich an dieser Stelle aller- (C) dahin kommen, dass sich Straftaten nicht lohnen. Wir dings noch gerne hinweisen: auf das nach geltendem wollen die bestehenden Regelungslücken beseitigen und Recht bestehende Instrumentarium der vorläufigen Si- die strafrechtliche Vermögensabschöpfung verbessern – cherung von Vermögenswerten. In der Praxis führt dies ohne das bisherige gesetzliche Regelungskonzept im häufig zu unbilligen und unangemessenen Folgen. Das Grundsatz zu verändern und bei möglichst geringem Bundesverfassungsgericht hat sich in zahlreichen Ent- Aufwand für die Praxis. Dies erfordert punktuelle Ände- scheidungen mit der Frage der vorläufigen Sicherungs- rungen bzw. Ergänzungen des geltenden Prozessrechts, maßnahmen befasst, zuletzt am 29. Mai 2006. Denn im- die wir jetzt vorgenommen haben. Dies betrifft insbeson- mer wieder kommt es bei solchen Sicherstellungen zu dere § 73 Abs. l Satz 2 Strafgesetzbuch. Zur Diskussion Kontensperrungen oder Auszahlungsverboten, die die stand hierbei eine materiell-rechtliche Lösung eines Auf- wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Betroffenen stark fangrechtserwerbs des Staates. Wir haben uns letztend- einschränken und den Ruf des betroffenen Unterneh- lich aber auf einen prozessualen Auffangrechtserwerb mens schädigen. Bei Arbeitnehmern drohen sogar ar- nach § 111 i StPO-E verständigt, die in unseren Augen beitsrechtliche Konsequenzen. Der Schaden, der daraus die geeignetere Variante ist. Allenfalls kritisch anzumer- entsteht, ist kaum wiedergutzumachen, sollte sich später ken ist, dass die vorgeschlagenen Regelungen in § 111 i der Verdacht als unbegründet erweisen. StPO-E ein wenig lang und umständlich geraten sind. In der Entscheidung vom 29. Mai 2006 folgert das Aber die komplexe Materie lässt leider keine andere Re- Bundesverfassungsgericht daher, dass es einer besonders gelung zu. sorgfaltigen Prüfung und einer eingehenden Darlegung der dabei maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Als wir den Gesetzentwurf in erster Lesung am Erwägungen in der Anordnung bedarf, wenn im Wege 10. März 2006 hier an dieser Stelle im Plenum beraten vorläufiger Sicherungsmaßnahmen das gesamte oder na- haben, habe ich mich bereits im Großen und Ganzen zu- hezu das gesamte Vermögen dem Betroffenen entzogen frieden mit dem Entwurf gezeigt. Ich habe allerdings auf wird. einen Punkt aufmerksam gemacht, den ich für verbesse- rungswürdig erachte, nämlich, dass der Beginn der Drei- Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung muss ver- jahresfrist an die Rechtskraft des Strafurteils anknüpft schärft darauf geachtet werden, dass die Amts- und und nicht wie bisher an den Zeitpunkt der Verurteilung Landgerichte dieser Rechtsprechung Folge leisten. Im des Täters. Diese Notwendigkeit wurde auch von zahl- Falle einer Nichtbefolgung ist dann der Gesetzgeber auf- reichen Praktikern erkannt und gefordert. Ich freue mich gefordert, hier nachzubessern. daher, dass es uns im Laufe der Ausschussberatungen (B) und in zahlreichen Gesprächen gelungen ist, in diesem Jörg van Essen (FDP): Die FDP hat immer betont, (D) Punkt eine Verbesserung herbeizuführen. dass sie die Grundrichtung des Gesetzentwurfs begrüßt. Der Auffangrechtserwerb des Staates ist richtig. Es ist Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht vor, die ein unerträglicher Zustand, wenn das aus Straftaten er- Frist zur Geltendmachung von Ansprüchen auf be- langte Vermögen an den Täter zurückfällt, weil sich kein schlagnahmtes Vermögen auf drei Jahre auszudehnen. Geschädigter gefunden hat, der entsprechende Ansprü- Das gibt den Geschädigten ausreichend Zeit, ihre An- che angemeldet hat. Es ist selbstverständlich, dass der sprüche geltend zu machen und Zwangsvollstreckungs- Rechtsstaat hier einen anderen Weg finden muss. Die maßnahmen in das sichergestellte Vermögen zu betrei- FDP-Bundestagsfraktion begrüßt daher die Regelung, ben. dass das eingezogene Vermögen an den Staat zurück- Allerdings habe ich mich von Anfang an dafür ausge- fällt, wenn die Opfer ihre Ansprüche nicht binnen drei sprochen, dass die Rechtskraft der Zeitpunkt sein Jahren nach der Verurteilung des Täters geltend machen. müsste, an dem für den Beginn der Frist angesetzt wird. Zu begrüßen ist auch, dass das Bundesjustizministe- Für den Geschädigten entstünde daraus kein Nachteil. rium kurzfristig noch einige Änderungen vorgelegt hat, Im Gegenteil: Es entsteht sogar ein Vorteil. Das Problem die zur weiteren Verbesserung des Gesetzentwurfs füh- ist doch, dass es sehr häufig passiert, dass Urteile erster ren. Dies gilt insbesondere für die Möglichkeit, dass mit Instanz in Revision gehen, aufgehoben werden und wie- einer weiteren Beschwerde der Rechtsschutz für die An- derverhandelt werden. ordnung des dinglichen Arrests erweitert wird. Auch die Klarstellung, dass der Beginn der Dreijahresfrist, inner- Die Änderung trägt dem Aspekt Rechnung, dass erst halb derer das Gericht die Beschlagnahme oder den Ar- mit der Rechtskraft des letzten tatrichterlichen Urteils rest aufrechterhält, an die Rechtskraft des Strafurteils an- das Erlangte verbindlich bezeichnet ist. Für den Geschä- knüpft, ist sachgerecht und entspricht einer Forderung digten ergibt sich daraus ein hohes Maß an Rechtssicher- der Anwaltschaft. heit. Es gibt jedoch auch eine Reihe von kritikwürdigen Ich bin sicher, dass wir mit dem vorliegenden Gesetz- Punkten, die im Ergebnis dazu führen, dass die FDP- entwurf jetzt das erreicht haben, was wir erreichen woll- Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurf nicht zustimmen ten, nämlich eine Verbesserung der Rechtslage der Ge- kann. Seit vielen Jahren gibt es Bestrebungen, das Sys- schädigten. Wir haben ferner sichergestellt, dass die tem der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung zu re- Täter im Nachhinein nicht von ihren Straftaten profitie- formieren mit dem Ziel, es einheitlicher, übersichtlicher ren. und damit für die Rechtspraxis handhabbarer zu machen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4173

(A) Dies wird mit dem Gesetzentwurf leider nicht erreicht. ferhilfe zuzuweisen. Diese Anregung haben wir mit (C) Auf die Ansätze, die der Gesetzgeber in der 13. Wahl- unserem Änderungsantrag aufgegriffen. Im Gegensatz periode begonnen hat, wurde nicht zurückgegriffen. Be- zu der Regelung aus der 15. Wahlperiode haben wir uns reits damals lag dem Bundestag ein Gesetz zur Beratung dafür ausgesprochen, die Entscheidung über die Zuwei- vor, mit dem eine Vereinfachung der Verfalls- und Ein- sung in das Ermessen der Gerichte zu stellen. Es ist be- ziehungsregelungen angestrebt wurde. Es bleibt daher dauerlich, dass die guten Vorsätze der Bundesregierung dabei, dass das gesetzliche System der Vermögensab- aus dem Jahr 2004 heute bereits vergessen sind. Damit schöpfung, insbesondere das Verhältnis von Verfall und wird leider deutlich, dass es immer wieder einer großen Einziehung, auch weiterhin kompliziert bleibt. Das be- Kraftanstrengung bedarf, die Rechte von Opfern gesetz- daure ich außerordentlich. lich zu verankern. Der Gesetzentwurf verzichtet zudem darauf, einige Insgesamt bleiben für die FDP viele offene Fragen Begrifflichkeiten im Gesetz klarzustellen. Eine gesetzli- unbeantwortet und große Zweifel, ob das Gesetz wirk- che Harmonisierung und eine in sich stimmige Gesamt- lich praxistauglich sein wird. Die große Chance, eine lösung wäre insbesondere im Hinblick auf den interna- Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung aus tionalen Rechtsverkehr dringend geboten. Das Gesetz einem Guss anzugehen, wurde leider vertagt. hätte ein großer Wurf werden können. Das Ergebnis bleibt jedoch weit hinter diesen Erwartungen zurück. Sevim Dagdelen (DIE LINKE): Wie bereits bei der Problematisch ist aus Sicht der FDP-Bundestagsfrak- esten Lesung deutlich gemacht: Wir stimmen der Ziel- tion auch die Erweiterung der Frist für die Aufrechter- richtung des Gesetzes zu. Wer Opfer eines Vermögens- haltung der vorläufigen Sicherungsmaßnahmen. Ich er- oder Eigentumsdeliktes wurde, dem soll dabei geholfen kenne an, dass damit den Opfern von Straftaten die werden, sein Geld oder sein Hab und Gut wiederzuerlan- Durchsetzung ihrer Ansprüche erleichtert wird. Unbe- gen. Insoweit ist der Entwurf ein Schritt in die richtige antwortet bleibt aber die Frage, wie mit den Rechten von Richtung. Dritten verantwortlich umgegangen werden soll. Die Im Gegensatz zur allgemeinen Straßenkriminalität, Ausdehnung der Frist um weitere sechs Monate hat zur auf die der Staat allzu oft mit dem scharfen Schwert der Folge, dass allein aufgrund eines einfachen Verdachts- Vergeltung reagiert, obwohl gerade den Tätern dieser Ta- grades Eingriffe in Rechte Beschuldigter und unbeteilig- ten auf die Stirn geschrieben steht, warum sie sich gegen ter Dritter für insgesamt zwölf Monate ermöglicht wer- die Gesellschaft wendeten, von der sie sich ausgegrenzt den. Ein dringender Tatverdacht ist nicht erforderlich. und verlassen fühlen, lohnen sich die Verbrechen der Im Hinblick auf die Unschuldsvermutung bestehen hier Schlipsträger in diesem Land. Daran wird dieser Ent- (B) große Bedenken. Diese Regelungen sind, auch vor dem wurf nichts ändern. Dennoch ist er insoweit zu begrüßen, (D) Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- als er die Selbstverständlichkeit fördert, dass die Beute gerichts, nach wie vor problematisch. Das Bundesverfas- nicht auch noch bei den Tätern verbleibt. sungsgericht hat bereits in früheren Entscheidungen da- rauf hingewiesen, dass es sich bei den verfallssichernden Wir sind froh über die erfolgten Nachbesserungen, Maßnahmen und dem damit verbundenen drohenden vor allem über die Gewährung eines weiteren Rechtsmit- Wertverlust vorläufig sichergestellter Vermögenswerte tels zugunsten desjenigen, gegenüber dem vorläufige Si- um schwerwiegende Eingriffe in das Eigentumsrecht cherungsmaßnahmen ergehen. Dies halten wir aus handelt. rechtsstaatlichen Gründen für unerlässlich, wie Sie auch unserem im Rechtsausschuss eingebrachten Änderungs- Die FDP hat im Gesetzgebungsverfahren vorgeschla- antrag hätten entnehmen können – wenn Sie ihn denn gen, eine neue Regelung in das Gesetz einzuführen, wo- gelesen hätten. Diesbezügliche Zweifel hege ich nicht nach die Gerichte im Rahmen des nachgelagerten Ver- deshalb, weil unser Antrag ebenfalls die nun erfolgenden falls einen von ihnen zu bestimmenden Teil der vom Änderungen enthielt und dennoch von Ihnen einstimmig Staat erworbenen Vermögenswerte einer anerkannten abgelehnt wurde, sondern auch weil er über die Vor- gemeinnützigen Einrichtung der Opferhilfe zuweisen schläge des BMJ hinaus lediglich Anregungen der Sach- können. Diese Maßnahme wäre ein echter Gewinn für verständigen aufnahm, die im Rechtsausschuss auch von den Opferschutz. Sie würde auch im Wesentlichen dem Vertretern der großen Koalition als durchaus beachtlich Zweck der Wiedergutmachung dienen. Damit würde zu- angesehen wurden. Deshalb sehe ich mich gezwungen, dem eine verlässliche finanzielle Grundlage für den Op- hier zumindest auf einen Punkt des Vorschlags der Bun- ferschutz geschaffen. desregierung einzugehen, bei dem wir in Übereinstim- mung mit den angehörten Fachleuten dringenden Nach- Die Offenheit, mit der die Koalitionsfraktionen den besserungsbedarf sehen. Änderungsantrag der FDP aufgenommen haben, hat mich zunächst gefreut. Es ist daher enttäuschend, dass Die Bundestagsfraktion Die Linke hält es für unver- unser Vorschlag letztlich keine Mehrheit gefunden hat. einbar mit unserer Verfassung, wenn nicht nur die wirt- Die von der Koalition vorgetragenen Gründe sind mehr schaftliche Existenz von Unternehmen, sondern auch als vorgeschoben. In der letzten Wahlperiode hat die diejenige von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Reform des und abhängigen Kleinbetrieben dadurch gefährdet wird, strafrechtlichen Sanktionensystems vorgelegt. Der Ent- dass aufgrund eines bloßen Anfangsverdachts – der sich wurf sah die Verpflichtung der Gerichte vor, einen Teil- gerade in komplexen Bereichen der Vermögenskrimina- betrag der gezahlten Geldstrafe Organisationen der Op- lität leicht als unbegründet erweist –, das gesamte Ver- 4174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) mögen des Betroffenen ein Jahr lang sichergestellt wer- der Vermögensabschöpfung mit dem nötigen Personal (C) den kann. Daher schlagen wir vor, zumindest nach sechs und Know-how ausgestattet werden. Monaten die Aufrechterhaltung des Arrests oder der Be- schlagnahme von Voraussetzungen abhängig zu machen, Nur so kann verhindert werden, dass sich die Neure- die denjenigen der Anordnung der Untersuchungshaft gelung, wegen des aus ihr erwachsenden Mehraufwan- entsprechen. des für die Justiz letztlich kontraproduktiv auswirkt. Zu- dem wäre ein ungleich größerer Gewinn für die Die Bundesregierung muss sich aber darüber hinaus Bekämpfung der volkswirtschaftlich verheerenden Wirt- auch fragen lassen, ob sie es mit den von ihr angeführten schaftskriminalität und damit auch für die Strafgerech- Zielen tatsächlich ernst meint. Wäre es denn nicht wirk- tigkeit in diesem Lande erzielt als durch den jetzigen licher Opferschutz, dem Verletzten einen direkten An- Entwurf. spruch gegen den Staat zuzubilligen, wenn der Fiskus im Falle des § 111 i Abs. 3 StPO nach drei Jahren von dem Diesbezüglich appelliere ich an die Länder: Stattet die Verfall profitiert? Justiz im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts angemessen aus; denn der Verzicht auf Gerechtigkeit ist weder recht Wäre nicht eine große Reform – ich erinnere an den noch billig. Entwurf aus dem Jahre 1998 –, die die Unterscheidung Einziehung/Verfall auflöst, auch im Hinblick auf die not- wendige europäische Harmonisierung der Vermögensab- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Be- schöpfung eine tatsächliche Erleichterung der Justizar- reits aus den Beiträgen meiner Vorredner wurde deut- beit? lich, dass wir uns in einem vollkommen einig sind: Ein überführter Täter soll nicht die Früchte seiner Tat behal- Und verlangt der Kampf gegen die Wirtschaftskrimi- ten dürfen. nalität in Wirklichkeit nicht etwas ganz anderes als Än- derungen im normativen Bereich? Der heute zu debattierende Gesetzentwurf zielt des- halb darauf ab, die Abschöpfung krimineller Gewinne zu Der Bundesgerichtshof hat diese letzte Frage explizit erleichtern und Lücken im Gesetz zu schließen. Der Ent- beantwortet und in einer fast schon Verzweiflung aus- wurf hat aber ein strukturelles Problem: Er betrifft die drückenden Form erklärt: Sicherstellung von Vermögen im laufenden Ermittlungs- Dem in § 56 Abs. 3 StGB zum Ausdruck gekom- verfahren. Das bedeutet, dass das Vermögen eines menen Anliegen des Gesetzgebers, das Vertrauen Beschuldigten beschlagnahmt wird, für den in vollem der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Umfang die Unschuldsvermutung gilt. Wie uns die Rechts vor einer Erschütterung durch unangemes- Sachverständigen im Berichterstattergespräch bestätigt (B) sen milde Sanktionen zu bewahren, kann im Be- haben, kann der dingliche Arrest für den Betroffenen er- (D) reich des überwiegend tatsächlich und rechtlich hebliche Folgen haben und bisweilen mit der Zerstörung schwierigen Wirtschafts- und Steuerstrafrechts seiner wirtschaftlichen Existenz einhergehen. In diesem nach Eindruck des Senats nur durch eine spürbare Zusammenhang müssen wir uns deshalb fragen lassen: Stärkung der Justiz in diesem Bereich Rechnung Was sind die Hürden für den Einsatz repressiver Maß- getragen werden. Nur auf diese Weise – nicht durch nahmen, wenn sie sich gegen einen noch nicht verurteil- bloße Gesetzesverschärfungen – wird es möglich ten Täter, also möglicherweise Unschuldigen richten? sein, dem drohenden Ungleichgewicht zwischen Deshalb ist die beschlossene Verlängerung des Zeit- der Strafpraxis bei der allgemeinen Kriminalität raums von drei auf sechs Monate, in dem das Vermögen und der Strafpraxis in Steuer- und Wirtschaftsstraf- über die ersten sechs Monate hinaus sichergestellt wer- verfahren entgegenzutreten und dem berechtigten den darf, bei einfachem Anfangsverdacht auch bedenk- besonderen öffentlichen Interesse an einer effekti- lich. ven Strafverfolgung schwerwiegender Wirtschafts- kriminalität gerecht zu werden. Aus zwei Gründen können wir diesen Vorschlag aber im Ergebnis mittragen: Es wird also deutlich: Die Bundesregierung hat gekle- ckert und nicht geklotzt – sie ist allerdings in dem letzten Erstens gibt es Ermittlungsverfahren, die so langwie- Punkt auch auf die Mithilfe der Länder angewiesen. rig sind, dass die Verlängerung um drei Monate hin- nehmbar ist. Zweitens hat das Bundesverfassungsgericht Um dem Flehen unserer obersten Strafrichter, die zu- in einer Entscheidung vom Mai diesen Jahres den Abwä- sammen mit dem Rest der dritten Gewalt mit einem Jus- gungsmaßstab im Fall der vorläufigen Sicherstellung des tizhaushalt in Höhe von 0,13 Prozent der Gesamtausga- gesamten oder nahezu gesamten Vermögens präzisiert: ben des Bundeshaushaltes und circa 3 Prozent der Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fordert nicht ledig- Länderhaushalte abgespeist werden, wenigstens ein biss- lich eine Vermutung, dass es sich um strafrechtlich er- chen Gehör zu verschaffen, möchte ich zum Abschluss langtes Vermögen handelt; vielmehr bedürfe dies einer folgenden Vorschlag unterbreiten: Der gute – von Ihnen besonders sorgfältigen Prüfung und einer eingehenden im Rechtsausschuss ebenfalls abgelehnte – Gedanke des Darlegung der dabei maßgeblichen tatsächlichen und Kollegen van Essen, Opferschutzorganisationen an den rechtlichen Erwägungen in der Anordnung, damit der Gewinnen des Verfalls partizipieren zu lassen, sollte an- Betroffene Rechtsschutz suchen kann. genommen und dahin gehend ergänzt werden, dass Schwerpunktstaatsanwaltschaften „Wirtschaftsstrafrecht“ Der Gesetzentwurf hat für den Beschuldigten auch und „Wirtschaftsstrafkammern“ durch die Gewinne aus Verbesserungen erfahren; denn dieser hat jetzt die Mög- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4175

(A) lichkeit der weiteren Beschwerde gemäß § 310 StPO bei Das mit Betrügereien erschwindelte Vermögen unter- (C) der Anordnung des dinglichen Arrestes. Es ist richtig liegt regelmäßig nicht dem Verfall: Denn hier haben die und notwendig, dem Beschuldigten schon im Ermitt- Geschädigten, also die Betrogenen, Ersatzansprüche ge- lungsverfahren ein effektives Rechtsmittel an die Hand gen den Betrüger. zu geben. Insoweit wird er mit einem Untersuchungs- Das ist grundsätzlich auch gut so, weil der Staat sich häftling gleichgestellt, dem ebenfalls die weitere Be- nicht auf Kosten der Opfer bereichern darf. Wenn die schwerde zusteht. Wer noch als unschuldig gilt, der soll Geschädigten aber Ihre Ansprüche nicht geltend machen sich gegen weitreichende Eingriffe in sein Vermögen an- – etwa weil der Schaden ganz gering ist oder weil sie gar gemessen gerichtlich wehren können. nicht wissen, dass der Täter gefasst worden ist –, dann Die Verbesserungen des Entwurfs für das Opfer be- gehen die sichergestellten Gewinne eben nicht an den stehen darin, dass der Zeitpunkt für den Beginn der Drei- Staat, sondern sie sind an den Täter zurückzugeben. Wie jahresfrist präzisiert worden ist. Nun ist klar: Der Ver- wir aus der Praxis wissen, ist das leider alles andere als letzte einer Straftat kann seine Ansprüche innerhalb von ein Ausnahmefall. drei Jahren ab Beginn der Rechtskraft des Urteils geltend Die entsprechende Regelung im Strafgesetzbuch machen. Diese Präzisierung sorgt für mehr Rechtssicher- – konkret geht es um § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB – wird heit. deswegen auch häufig als „Totengräber des Verfalls“ be- Wir haben im Rechtsausschuss auch dem Änderungs- zeichnet. Der vorliegende Entwurf wird all diese Pro- antrag der FDP zugestimmt, der vorsieht, eindeutig von bleme so weit wie möglich lösen. Er stellt sicher, dass Verletzten stammendes Vermögen Opferorganisationen der Täter solche Vermögenswerte in keinem Fall mehr zukommen zu lassen; also Fälle, in denen das Opfer der zurückerhält. Straftat entweder unbekannt ist oder Ansprüche zur Künftig sollen die sichergestellten Vermögenswerte Rückerlangung des Vermögens nicht geltend gemacht an den Staat fallen, wenn die Opfer ihre Ansprüche nicht hat. Dieser Vorschlag ist gut und vernünftig. geltend machen. Die Argumentation der Koalitionsfraktionen hat mich Um den Geschädigten genügend Zeit zu geben, ihre – gelinde gesagt – überrascht. In der ersten Plenardebatte Rückgabeansprüche auch durchzusetzen, verlängert der zu diesem Gesetzentwurf wurde noch lauthals für die Entwurf außerdem die hierfür maßgebliche Frist. Derzeit Stärkung des Opferschutzes geworben. Der Abgeordnete haben die Opfer drei Monate Zeit, ihre Ansprüche gel- van Essen hatte ausdrücklich den „Weißen Ring“ als Op- tend zu machen – gerechnet ab der Verurteilung des An- fereinrichtung hierfür genannt. Kollege Kauder reagierte geklagten. Künftig soll diese Frist drei Jahre betragen – euphorisch, der Vorschlag habe bei ihm „leuchtende Au- gerechnet ab der Rechtskraft der Verurteilung. Auf den (B) (D) gen“ entzündet. Fristbeginn erst mit Rechtskraft und nicht schon mit Ver- Offenbar nur ein Strohfeuer, das leider schon erlo- urteilung haben wir uns in den Berichterstattergesprä- schen ist: Allen Ernstes haben CDU/CSU und SPD statt chen geeinigt. Damit haben die Opfer noch einmal mehr dessen an die Länder appelliert, einen angemessenen Zeit, ihre Ansprüche geltend zu machen, und sie können Teil der ihnen künftig zufallenden Vermögenswerte ge- im Streitfall auf das bereits rechtskräftige Strafurteil ver- meinnützigen Einrichtungen der Opferhilfe zukommen weisen. Auch bei längerer Verfahrensdauer vor den Zi- zu lassen. Man wolle nicht in deren Finanzhoheit ein- vilgerichten ermöglichen wir damit den Opfern, einen greifen. Ich bitte Sie – angesichts der klammen Kassen – notfalls vorläufigen – Titel gegen den Verurteilten zu der Länder ist dieser Appell eine Farce und das wissen erwirken. Sie genau. Wenn die Damen und Herren von der so ge- Verstreicht diese dreijährige Frist, ohne dass die Ge- nannten großen Koalition die Arbeit von Opferorganisa- schädigten ihre Ansprüche hinreichend geltend gemacht tionen tatsächlich fördern wollen, täten sie gut daran, haben, dann fallen die gesicherten Vermögenswerte dem FDP-Antrag zuzustimmen. künftig an den Staat und müssen nicht wieder an den Verurteilten herausgegeben werden. Damit dient der Ge- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär beim Bun- setzentwurf sowohl den Interessen der Opfer als auch desminister der Justiz: Das Gesetz zur Stärkung der der Gerechtigkeit und damit dem Rechtsbewusstsein ins- Rückgewinnungshilfe und Vermögensabschöpfung bei gesamt. Straftaten schließt eine Gesetzeslücke. Der Gesetzentwurf ist das Ergebnis langer Beratun- Heute kann ein Straftäter trotz Verurteilung von sei- gen, die wir auf Initiative der Länder mit den Fachleuten nen Straftaten profitieren. Diese unbefriedigende Situa- aus den Ländern, Verbänden und Ressorts geführt haben. tion beruht auf einer Regelung im Strafgesetzbuch. Das Wir haben gemeinsam um eine ausgewogene Lösung ge- geltende Recht erlaubt es den Gerichten nicht ohne wei- rungen und ich denke, wir können zufrieden sein. An teres, Gewinne aus Straftaten für verfallen zu erklären, dieser Stelle möchte ich allen für die konstruktive Zu- also dem Täter „wegzunehmen“ und das Eigentum sammenarbeit danken. hieran auf den Staat zu übertragen. Bislang können näm- lich nur dann Vermögenswerte aus Straftaten für verfal- Ich hoffe, dass wir damit der Praxis das nötige Instru- len erklärt werden, wenn nicht zugleich die Geschädig- mentarium an die Hand geben, um die volkswirtschaft- ten Ansprüche haben. lich schädliche, gewinnorientierte Kriminalität wirksam zu bekämpfen und die Interessen der Opfer zu wahren. Ein gutes Beispiel sind die Betrugsdelikte: Dabei hoffe ich, dass die von dem engagierten Opferan- 4176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) walt Kauder initiierte weitere Beschwerde – ein No- Russland. Die belarussische Opposition befindet sich (C) vum – nicht dazu führt, dass der Täter den Vorteil aus seit den Wahlen in einer Phase der Neudefinierung; Ale- diesem Stück „zusätzliche Rechtsstaatlichkeit“ zieht, das xander Milinkewitsch selbst spricht von einer Krise. So Opfer aber leer ausgeht. Es ist nun an der Praxis, dieses gibt es Forderungen nach einer Verbreiterung der Basis Instrumeritarium zu nutzen und dem Gesetzentwurf zu der Vereinigten Demokratischen Kräfte unter Einbezie- dem gewünschten Erfolg zu verhelfen. hung der Sozialdemokraten unter Alexander Kozulin. Die Führerschaft Milinkewitsch wird infrage gestellt und über einen Boykott der anstehenden Kommunalwahlen Anlage 20 wird kontrovers debattiert. Zu Protokoll gegebene Reden Russland hat für 2007 die Vervierfachung des Gas- zur Beratung des Antrags: Demokratiebewe- preises von jetzt 47 Dollar auf 200 Dollar je 1 000 Ku- gung in Belarus unterstützen (Zusatztagesord- bikmeter und die Streichung der Subventionen für den nungspunkt 6) Erdölexport angekündigt. Da der belarussische Landes- haushalt zu ungefähr einem Drittel auf russische Unter- stützung angewiesen ist, wäre die Kürzung der offenen Manfred Grund (CDU/CSU): Mit dem heute in ers- und verdeckten russischen Subventionen das Ende von ter Lesung zu beratenden Antrag von Bündnis 90/Die Lukaschenkos Staatssozialismus. Das müsste man nicht Grünen und der FDP befasst sich der Deutsche Bundes- besonders bedauern, wenn nicht zweierlei damit verbun- tag innerhalb kürzester Zeit zum dritten Mal mit der Ent- wicklung in Belarus. So war Belarus vor den Parla- den wäre: eine Massenverelendung der belarussischen mentswahlen vom 19. März 2006 und nochmals danach Bevölkerung mit anschließendem Modernisierungs- Gegenstand einer Bundestagsdebatte. Mir ist kein ande- schock und/oder die Einverleibung von Belarus in die res Land erinnerlich, welches in so kurzem Abstand de- Russische Föderation. Daran hat wohl nicht mal mehr battiert wird. Derart neugierig geworden, hofft man, im Lukaschenko Interesse. Antrag von Bündnis 90/Die Grünen und der Freien De- Wie dem auch sei, auch wenn der vorliegende Antrag mokraten neue und richtige Argumente für eine erneute nicht so neu und ausschließlich richtig in seiner Argu- Bundestagsdebatte zu finden. Doch bei aller fraktions- mentation und den Forderungen ist, gibt es gleichwohl übergreifender Sympathie und freundlicher Zuneigung gute Gelegenheit über die von mir aufgezeigten Ent- zu den Antragstellern: Die Argumente mögen neu und wicklungen im Auswärtigen Ausschuss zu debattieren. richtig sein, doch die richtigen Argumente sind nicht Darauf freue ich mich. wirklich neu und die neuen Argumente nicht wirklich (B) richtig. (D) Uta Zapf (SPD): Dieses Haus hat bisher alle Belarus- Richtig ist, dass die Parlamentswahlen am 19. März resolutionen mit großer Einstimmigkeit beschlossen. weder frei noch fair verlaufen sind und dass das Regime Unsere letzte Resolution haben wir kurz vor den Präsi- Lukaschenko unverkennbar diktatorische Züge aufweist und die demokratischen Rechte nicht akzeptiert. Neu ist dentschaftswahlen in Belarus im März verabschiedet. diese Erkenntnis nicht. Neu ist die Forderung nach ei- Dieser hier von den Grünen vorgelegte Antrag hat sei- nem Demokratiefonds, um die belarussische Zivilgesell- nen Ausgangspunkt in den Erlebnissen, die einige Parla- schaft zu stärken und die Einrichtung eines EU-Sonder- mentarier dieses Hauses als Wahlbeobachter der Präsi- beauftragten für Belarus. Das sind neue Forderungen, dentschaftswahlen hatten. Erstens waren wir Zeugen, die aber nur bedingt richtig und klug sind. Die Einrich- dass diese Wahlen in einem ungeheuren Ausmaß und tung eines EU-Sonderbeauftragten und eines Demokra- ohne Scham manipuliert und gefälscht waren. Dies wer- tiefonds werfen mehr Fragen als Antworten auf. So gibt den insbesondere diejenigen bezeugen können, die wie es bereits über Europa verteilt so viele Sonderbeauf- ich mehrfach an Wahlbeobachtungen in Belarus teilge- tragte, die nirgendwo richtig eingebunden sind, dass de- nommen haben. Die Repression gegen die Opposition ren Aktivitäten bereits von einem eigenen EU-Sonderbe- war schikanös. Der Zugang zu den offiziellen Medien auftragten koordiniert werden müssten. Und was wäre denn der Auftrag eines EU-Sonderbeauftragten? Mit auf ein absolut unzureichendes Minimum beschränkt wem soll er Kontakt haben, mit wem reden? Nur mit der und die unabhängige Presse wurde extrem behindert. Opposition, das würde Alexander Lukaschenko schnell Die Wahlkämpfe der oppositionellen Kandidaten wur- zu verhindern wissen. Oder soll ein EU-Sonderbeauf- den unzulässig behindert, immer wieder wurden Wahl- tragter auch mit dem Präsidenten, mit der Regierung, mit kampfteams kurzfristig eingesperrt, ihre Materialien dem Parlament reden? Dies widerspräche den angelaufe- konfisziert. nen Isolationsbemühungen der westlichen Staaten ge- Wähler und Wählerinnen gerieten unter Druck, ihre genüber der nicht legitimierten Belarusführung. Die Ein- Stimme abzugeben. Drohungen mit beruflichen Konse- richtung eines Demokratiefonds würde Lukaschenko quenzen waren gängige Praxis. Kollektive wurden zu Argumente liefern, dass die belarussische Opposition den Vorwahlen getrieben, die Urnen mit diesen Stimmen vom Westen ausgehalten wird. Niemand könnte an einer sind nicht kontrollierbar, sie stehen ohne Kontrolle tage- solchen Verleumdung gelegen sein. lang in den Wahllokalen. Hier ist das größte Einfallstor Sorge muss uns zweierlei machen: der Zustand der für Fälschungen. Die Endauszählung war auch von den Opposition in Belarus und der wirtschaftliche Druck aus internationalen Wahlbeobachtern nicht zu kontrollieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4177

(A) Aber wir erhalten auch eine politisch gereifte Opposi- im Europäischen Parlament beauftragte Berichterstatter (C) tion und fröhlich-furchtlose Sympathisanten. Auf den und Ausschüsse, die OSZE hat eine „Working Group on friedlichen Demonstrationen am Abend nach der Wahl, Belarus“, deren Vorsitzende ich bin. Möglicherweise die stattfanden trotz massiver Drohungen gegen diese wäre es nützlich einen solchen Beauftragten bei der Eu- unerlaubten Versammlungen auf dem Moskauplatz, ropäischen Kommission zu benennen. Die Handlungs- zeigten Bürger und Bürgerinnen, die keine Angst mehr und Wirkungsmöglichkeiten auf nationaler Ebene sind hatten, ihr Bedürfnis nach Demokratie und Freiheit offen recht beschränkt. Die deutsch-belarussische Parlamen- zu artikulieren. Bei eisigen Temperaturen und Schnee- tariergruppe war sich einig, dass Handlungsbedarf be- sturm trotzten sie den Sicherheitskräften. steht. Lassen Sie uns den Antrag sorgfältig in den Aus- schüssen beraten. Ich denke, wir alle teilen die Analyse, die dieser An- trag enthält. Harald Leibrecht (FDP): Wir dürfen nicht nachlas- Über Jahre hat es eine eskalierende Repression gegen sen in unserer Unterstützung für die Demokratiebewe- NGOs und die zivile Gesellschaft, gegen freie Gewerk- gung in Weißrussland. Ich war auf den Demonstrationen schaften und gegen Gegner Lukaschenkos gegeben. Dies anlässlich des 20. Jahrestages der Katastrophe von hat sich nach den Wahlen fortgesetzt. Es ist vieles über Tschernobyl in Minsk. Ich habe erlebt, wie Oppositio- Dialog und über Sanktionen gesagt worden. Bei allem nelle vor und nach der Demonstration verhaftet wurden, Ärger und bei aller Wut, die uns angesichts dessen, was so auch Alexander Milinkewitsch. Diktator Lukaschenko dort passiert ist, erfüllen, müssen wir dennoch den Dia- und seine Staatsmacht zeigen unerbittliche Härte gegen- log weiterführen. über den demokratischen Kräften. Letztendlich zeigen Die Parlamentarische Versammlung der OSZE hat sie jedoch, in welch erbärmlichem Zustand sich ihr Re- eine Arbeitsgruppe zu Belarus eingerichtet. Ich bin die gime befindet. Die Staatsmacht hat offensichtlich Angst Vorsitzende dieser Arbeitsgruppe. Deshalb bin ich häu- vor dem eigenen Volk und setzt darum weiter auf Unter- fig in Belarus und rede mit den Menschen, und zwar mit drückung und Repression. allen, auch mit Parlamentariern und Vertretern der Ad- Die Menschen wurden mit dem Wahlbetrug bei der ministration. Ich halte dies für eine wichtige Ebene des Präsidentschaftswahl im März einmal mehr um ihre de- Dialoges. Ein wichtiger Bestandteil unserer Politik ist es, mokratischen Grundrechte betrogen. Die Kandidaten der die Zivilgesellschaft zu schützen und zu unterstützen. Opposition hatten zu keinem Zeitpunkt die Chance auf Diese Zivilgesellschaft ist keine subversive Revolution, einen fairen Wahlkampf – nicht zuletzt wegen der staat- wie Herr Lukaschenko befürchtet und in ziemlich gro- lich kontrollierten Medien. Freie, unabhängige Zeitun- ben Worten an die Wand malt. Diese Menschen klagen gen gibt es in Weißrussland nicht mehr. Aber nicht nur (B) vielmehr ihre Rechte ein, zu denen sich Belarus gegen- die wenigen couragierten, unabhängigen Journalisten (D) über der OSZE verpflichtet hat, und wir unterstützen sie werden bedroht oder verhaftet, sondern auch viele Stu- darin. denten, die es wagen, sich öffentlich gegen das Regime Wir sind uns auch, glaube ich, weitgehend einig, dass auszusprechen. Der Fall von Artur Finkewitsch ist da wir die Demokratiebewegung in Belarus unterstützen nur einer von vielen. Dieser mutige junge Mann wurde wollen, ihre Rechte auf Vereinigungsfreiheit und politi- zu 17 000 Dollar Strafe und einer mehrjährigen Umer- sche Arbeit wahrnehmen zu können. Dass es bisher zu ziehungshaft verurteilt, nur weil er es wagte, auf eine keinem interfraktionellen Antrag gekommen ist, ist vor Hauswand die Worte „Wir möchten einen anderen“ zu allem den Bedenken der CDU/CSU geschuldet, dass wir sprühen. keine inflationäre Menge an Belarusanträgen im Bun- Ich bin nichtsdestotrotz aus tiefstem Herzen davon destag einbringen sollten. Wir werden in den Ausschüs- überzeugt, dass das Streben der Menschen in Weißruss- sen Gelegenheit haben, die Forderungen und Vorschläge land nach politischer und persönlicher Freiheit vom Sys- dieses Antrages zu beraten und möglicherweise zu ge- tem Lukaschenko nicht mehr lange aufgehalten und un- meinsamen Beschlussempfehlungen zu kommen. Ei- terdrückt werden kann. Bei ihrem Kampf gegen das nige der vorgeschlagenen Maßnahmen sind ohnehin Regime Lukaschenko bedürfen die couragierten Men- schon eingeleitet oder umgesetzt, zum Beispiel Stipen- schen in Weißrussland jedoch dringend unserer Unter- dien für exmatrikulierte Studenten, die an den Demon- stützung. Weißrussland ist direkter Nachbar der EU. Wir strationen teilgenommen haben oder den Wahlkampf der dürfen die Augen vor Menschenrechtsverletzungen und oppositionellen Kandidaten unterstützt haben. Auch die Unterdrückung in Weißrussland nicht verschließen. Frage der Informationsmedien Radio/TV ist auf den Weg gebracht, aber natürlich muss über eine Erweite- Mit diesem Antrag senden wir ein klares Signal der rung dieser Informationsmedien nachgedacht werden. Solidarität und Unterstützung an die „Vereinigte Opposi- Auch sind zusätzliche Maßnahmen, die hier nicht aufge- tion“ in Weißrussland. Gleichzeitig appelliere ich an die griffen worden sind, zu diskutieren. Der Demokra- „Vereinigte Opposition“, wie bereits während des Präsi- tiefonds, über den schon lange geredet wird sollte noch- dentschaftswahlkampfes, ihrem Namen gerecht zu wer- mals intensiv betrachtet werden, um ihn handhabbar und den und sich trotz zum Teil unterschiedlicher politischer flexibel genug zu gestalten. Auffassungen nicht von der Staatsmacht provozieren, einschüchtern und auseinander dividieren zu lassen. Gewisse Zweifel habe ich an der Frage eines nationa- len Belarusbeauftragten. Es gibt auf Ebene der UN, der Auch die Bundesregierung kann hierzu ihren Beitrag Parlamentarischen Versammlung des Europarates und leisten, indem sie den weißrussischen Oppositionellen 4178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) die öffentliche Bühne bietet, die sie brauchen. Es ist schen Wurzeln angeht als auch die Gegenwart. Wenn (C) wichtig, dass sie bei allen Besuchen hier in Deutschland man will, dass Russland im Sinne von Demokratisierung auf ihre wichtigen Anliegen aufmerksam machen kön- auf Belarus Einfluss nimmt, muss man die Interessen nen. Aber auch unsere politischen Stiftungen können ei- Russlands in Rechnung stellen – in Rechnung stellen, nen wichtigen Beitrag zur Unterstützung leisten, indem nicht mehr! Kein Argument und keine Überlegungen sie in dieser Sache eng zusammenarbeiten. Gerade weil dazu im Antrag von Grünen und FDP! die Arbeit der politischen Stiftungen in Weißrussland unter sehr erschwerten Umständen erfolgt, gilt es, die Die „Orangen“ in der Ukraine und die „Rosen“ in Ge- Kräfte zu bündeln. orgien haben für Russland aus seiner Sicht nur Dornen gebracht. Russland hat widerstrebend hinnehmen müs- Zudem fordere ich die Bundeskanzlerin auf, auf dem sen, dass die NATO mit den baltischen Ländern direkt an anstehenden G-8-Gipfel auch das Thema Weißrussland seine Grenzen herangerückt ist. Eine NATO-Mitglied- anzusprechen und sich auf eine gemeinsame Vorgehens- schaft der Ukraine und Georgiens könnte jetzt „die rote weise, zum Beispiel in Fragen der Visumverweigerung, Linie“ überschreiten. Das hat die russische Duma mit ih- zu verständigen. Die bereits ausgesprochenen Einreise- rem Beschluss, der auch dem Bundestag zugeleitet verbote für führende weißrussische Politiker sollten auch wurde, deutlich gemacht. Es ist kaum anzunehmen, dass auf andere Führungskader und zum Beispiel auf Univer- Russland das Risiko eingeht, diesen Weg mit Belarus sitätsrektoren, die demonstrierende Studenten exmatri- unwidersprochen fortschreiten zu lassen. kulieren, ausgedehnt werden. Die Interessen anderer in Rechnung zu stellen, heißt Ich danke allen, die sich hier in Deutschland für die nicht, dass man diese teilen muss. Aber mitdenken muss Demokratiebewegung in Weißrussland engagieren. Dazu man sie. All das geschieht nicht in dem uns vorgelegten gehören auch die Jungen Liberalen in Baden-Württem- Antrag. Dieser Antrag ist nichts anderes als die Erset- berg, die vor kurzer Zeit ein Benefizfußballturnier veran- zung von Politik durch plakative Bekenntnisse. Und da- staltet haben – einerseits um auf die Lage der couragier- mit zu wenig, um dafür die Zustimmung der Linken zu ten Studenten, wie zum Beispiel Artur Finkewitsch erhalten. aufmerksam zu machen und andererseits um ganz kon- kret Spenden für die Arbeit einer belarussischen Jugend- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS/90 DIE organisation zu sammeln, welche trotz aller Hindernisse GRÜNEN): Anfang März, als die Präsidentschaftswah- weiter unermüdlich für die Demokratiebewegung in ih- len in Belarus bevorstanden, haben wir hier gemeinsam rem Land kämpft. eine Aufforderung an den Minsker Diktator zur Gewähr- leistung freier und fairer Wahlen beschlossen. Schon da- (B) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ich will zu Be- mals wussten wir, dass die mit vielfachen staatlichen Be- (D) ginn einige Selbstverständlichkeiten festhalten, damit hinderungen und Repressionen einhergehende Art der wir uns über diese nicht zu streiten brauchen. Wahlvorbereitung diese Forderung bereits unerfüllbar gemacht hatte. Aber wir wollten zeigen, dass wir von Das Demonstrationsrecht muss verteidigt werden. Die hier aus nach Belarus sehen. Wir wollten zeigen, dass Verhaftung friedlicher Demonstranten kritisieren wir, in dem Land und seinen Menschen unsere Aufmerksamkeit Belarus und anderswo. Die Entfernung kritischer Stu- gilt. denten von Universitäten und Schulen lehnen wir ab. Wer wegen seiner demokratischen Gesinnung verfolgt Ende März, als die Wahlfarce vorbei, die demokrati- wird, braucht unsere Solidarität. Eine Auflösung und das sche Opposition chancenlos geblieben war und der Dik- Verbot demokratischer Organisationen – in Belarus ist tator trotzdem seinen Sieg noch zusätzlich in einen Tri- zum Beispiel die Kommunistische Partei verboten – umph umgefälscht hatte, gingen Tausende in Minsk auf schadet der Demokratie. Medienfreiheit muss verteidigt die Straße. Einige von uns waren dabei, um ihre und un- werden, gegen Lukaschenko ebenso wie gegen ser aller Solidarität mit den Demonstrierenden zu zeigen. Berlusconi. Darüber braucht man sich mit uns nicht zu Es folgten Verhaftungen, Verurteilungen und Verfolgun- streiten. gen. Damals beschlossen wir hier gemeinsam einen wei- teren Antrag, in dem wir den mutigen Menschen in Bela- Streiten allerdings muss man sich über den Weg und rus unseren Respekt erwiesen, die Freilassung der die Inhalte von Alternativen, wie man es in Belarus er- Verhafteten forderten und Sanktionen gegen die ihre reichen will. Die Grünen und die FDP schlagen eine Ver- Macht missbrauchenden Funktionäre in Belarus verlang- schärfung von Sanktionen vor. Das ist der Kern des hier ten. Wir wollten zeigen, dass wir uns für die Demokrati- vorliegenden Antrages. Meine Erfahrungen sprechen da- sierung des Landes einsetzen, für seine Zugehörigkeit gegen: Nicht Sanktionen, sondern Dialoge wären ein zur europäischen Wertegemeinschaft. Weg. Dialoge müssen alle Fragen umfassen. Ist der Weg der neoliberalen Umgestaltung, der Freiheit des Marktes Damals waren wir uns auch einig, dass Belarus ein wirklich ein Weg der Demokratisierung oder nicht viel- langer Weg bevorsteht. Wir stimmten überein, dass wir mehr ein Weg der Gesellschaftszerstörung? In zahlrei- uns auf eine langfristige Unterstützung einstellen müs- chen europäischen Ländern zeigen sich die Spuren die- sen und auch einstellen wollen. Inzwischen ist, wie so ser Zerstörung bereits heute. oft in solchen Fällen, die Entwicklung in Belarus nahezu völlig aus der medialen Berichterstattung und damit aus Darf man so einfach die enge Verbindung Beloruss- der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Belarus lands mit Russland „übersehen“, sowohl was die histori- ist aber nicht verschwunden. Die Situation dort hat sich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4179

(A) nicht verbessert, eher im Gegenteil. Nach wie vor sitzen dienender kritischer Dialog verdient ebenfalls jede Un- (C) zum Beispiel eine Reihe prominenter und vermutlich terstützung. viele weniger prominente Oppositionelle in Haft. In ei- ner Woche soll der Prozess gegen einen der bekanntesten Solidaritätsbekundungen wie im März sind gut, dau- von ihnen, Alexander Kosulin, beginnen. Ein rechts- erhafte Aufmerksamkeit, kontinuierliche Unterstützung staatliches Verfahren nach unseren Maßstäben hat er aber sind notwendig. Ich bin guter Hoffnung, dass Sie, wohl kaum zu erwarten. liebe Kolleginnen und Kollegen, sich dieser Erkenntnis nicht verschließen werden. Unsere Aufgabe bleibt dieselbe, auch wenn es über das Thema keine Schlagzeilen mehr gibt. Einiges ist schon geschehen: Die EU hat ihre Sanktionen gegen Anlage 21 Funktionsträger des Regimes erweitert und verschärft. Ähnliches wurde gerade in den USA beschlossen. Polen Zu Protokoll gegebene Reden und andere Länder, darunter Deutschland, haben Stipen- zur Beratung der Anträge: dien für in Belarus wegen ihres demokratischen Engage- ments relegierte Studierende bereitgestellt. Das sind – UN-Überprüfungskonferenz als Chance zur erste gute Anfänge, vieles aber bleibt zu tun. wirksamen Kontrolle des Handels mit Klein- waffen und leichten Waffen nutzen Wichtiger noch als Sanktionen ist die Unterstützung der demokratischen Opposition und der bedrängten Zi- – Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten vilgesellschaft in Belarus. Unsere, des Deutschen Bun- Nationen zum Erfolg führen destages Aufgabe muss es sein, Vorschläge dafür aufzu- nehmen oder selbst in die Debatte zu bringen, vor allem – Waffen unter Kontrolle – Für eine umfas- aber, die politische Entscheidung zur Ermöglichung ih- sende Begrenzung und Kontrolle des Han- rer Umsetzung herbeizuführen. Das ist das Ziel unseres dels mit Kleinwaffen und Munition Antrags, dem – das kann jetzt schon gesagt werden – – Den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten weitere werden folgen müssen. Nationen intensiver unterstützen Denn nicht nur die Repressionen in Belarus gehen (Tagesordnungspunkt 20 a und b und Zusatz- weiter, auch die Diskussion in Europa über den Umgang tagesordnungspunkte 7 und 8) mit dem Regime entwickelt sich. Sogar Russland verän- dert seine Haltung gegenüber Lukaschenkos Politik – si- Holger Haibach (CDU/CSU): „Neuer Anlauf für die (B) cher weniger zur Unterstützung der Demokratisierung (D) als zur Steigerung seines ökonomischen Einflusses. Menschenrechte“, „Chancen für die Menschenrechte“, Aber die Ankündigung drastischer Energiepreiserhöhun- „Zweifel am Menschenrechtsrat“, „Tendenz zur Selbst- gen in den nächsten drei Jahren ist dennoch ein schwerer zensur“, „Gedämpfte Erwartungen“, „Chance im Neube- Schlag für Lukaschenko. ginn“: So weit auseinander gehen die ersten Bewertun- gen des neuen UN-Menschenrechtsrates, dessen erste Über einige weitere Forderungen und Vorhaben muss Sitzungsperiode in dieser Woche zu Ende geht. Wie auch wohl nicht diskutiert werden. Natürlich müssen wir die immer man die Aktionen des neuen Gremiums bewertet: Forderung nach Freilassung der gewaltlosen politischen Deutschland hat durch seine Mitgliedschaft die Möglich- Gefangenen aufrechterhalten. Ebenso müssen wir die keit und Verpflichtung, dabei mitzuhelfen, die Arbeit des Einstellung von Ermittlungen des belarussischen Gene- Rates zum Erfolg zu führen. Deshalb ist es richtig und ralstaatsanwalts wegen Terrorakten im Zusammenhang wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag mit der Ar- mit den Präsidentschaftswahlen fordern – es genügt we- beit des Menschenrechtsrats beschäftigt. Es bietet sich nig Phantasie, sowohl die Abwegigkeit dieses Vorwurfs auch eine gute Gelegenheit, noch einmal darauf hinzu- wie seine Bedrohlichkeit für die Betroffenen festzustel- weisen, dass Deutschland mit der größten Stimmenzahl len. aller Länder der westlichen Ländergruppe in den neuen Rat gewählt worden ist. Das ist sicherlich ein Zeichen Es gibt weitere Vorschlage, über die zu reden wäre. der Anerkennung deutscher Menschenrechtspolitik so- Ich nenne stichwortartig nur einige Beispiele: die Ein- wie der konstruktiven Rolle, die Deutschland bei dem richtung der Institution eines Belarus-Beauftragten der Zustandekommen der Resolution über den Menschen- EU; die Koordination und Zusammenführung von Sti- rechtsrat übernommen hat. In diesem Zusammenhang pendien-Initiativen aus mehreren Ländern; Unterstüt- gilt unser Dank der Bundesregierung, deren Anteil am zung für geschlossene oder behinderte unabhängige Me- letztendlichen Kompromiss sehr hoch war. dien, für demokratische Parteien und Bewegungen und für mit Berufsverbot belegte Oppositionelle; finanzielle Aus diesem Ergebnis und aus der Tatsache, dass Unterstützung demokratiefördernder Stiftungen auf EU- Deutschland aufgrund eines Losentscheids dem Rat zu- Ebene, die in und für Belarus aktiv werden können. mindest für die nächsten drei Jahre angehören wird, er- wächst aber ebenso sehr die Verpflichtung, alles dafür zu Entscheidend bleibt aus unserer Sicht die Entwick- tun, dass die Arbeit des Rats erfolgreich verläuft und lung einer breiten und aktiven Zivilgesellschaft. Die da- dass der Rat sich zu einem effektiven und glaubwürdi- für vorhandenen Förderprogramme müssen aufrechter- gen Gremium beim weltweiten Menschenrechtsschutz halten und gestärkt werden, und ein dieser Entwicklung entwickelt. 4180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Bisher hat sich der Rat im Wesentlichen mit Verfah- fassend als der Koalitionsantrag und wird deshalb von (C) rensfragen beschäftigt, unter anderem mit der Frage, uns abgelehnt. welche der bisherigen Mechanismen der alten Men- schenrechtskommission beibehalten werden sollen, oder Insgesamt liegt bei dem neuen Menschenrechtsrat ein damit, wie die regelmäßige Überwachung der Men- weiter Weg vor uns, den wir wahrscheinlich nur in klei- schenrechtssituation in den UN-Mitgliedstaaten und ins- nen Schritten und manchmal auch in Umwegen gehen besondere den Mitgliedsländern des Rats überprüft wer- können. Doch wie heißt es so schön in einem chinesi- den soll. schen Sprichwort: Der längste Weg beginnt mit dem ers- ten Schritt. Diese prozeduralen Fragen sollten nicht unterschätzt werden, entscheiden sie doch nicht zuletzt darüber, wo- mit sich der Menschenrechtsrat beschäftigen soll und auf Carl-Eduard von Bismarck (CDU/CSU): Meine welche Art. Um nur ein Beispiel zu nennen: Es ist ein heutige Redezeit beträgt vier Minuten. In diesen vier Mi- großer Unterschied, ob zur Beurteilung der Menschen- nuten werden in aller Welt 60 neue Klein- und Leicht- rechtslage in einem Land nur Regierungsdokumente he- waffen hergestellt. In der gleichen Zeit werden etwa vier rangezogen werden dürfen oder ob auch Dokumente von Menschen durch ebensolche Kleinwaffen getötet, darun- Nichtregierungsorganisationen Berücksichtigung finden. ter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Frauen und Kinder. Diese Zahlen verdeutlichen: Klein- Im Übrigen zeigen sich bei der Entstehung des Rats waffen sind ein großes Problem. Licht und Schatten: Es ist ein wirklicher Fortschritt, dass es zum ersten Mal tatsächlich zu einer wirklichen Wahl Seit den 90er-Jahren hat die internationale Kleinwaf- in der UN-Vollversammlung gekommen ist, dass es ei- fenproduktion rapide zugenommen. Dadurch sind Ge- nige Staaten, die zu Recht als menschenrechtliche Pro- wehre, Pistolen, Granaten und Karabiner heute leichter blemfälle gelten, nicht in den Rat geschafft haben, weil und vor allem billiger denn je zu bekommen. Dass damit sie entweder gar nicht erst angetreten sind oder nicht die auch ihr Missbrauch stetig zunimmt, liegt auf der Hand. notwendige Mehrheit erhalten haben. Es ist auch zu be- Die internationale Gemeinschaft hat diese Entwicklung grüßen, dass die Bewerberländer eine eigene Einschät- erkannt und Konsequenzen daraus gezogen. Zahlreiche zung ihrer Menschenrechtspolitik veröffentlicht haben. beachtenswerte Abkommen und Initiativen auf interna- Ferner gibt es nun erstmals die Möglichkeit, auch Län- tionaler, regionaler und nationaler Ebene sollen zur Ver- der mit einer Zweidrittelmehrheit wieder aus dem Rat zu besserung der Rüstungskontrolle in Sachen Kleinwaffen entfernen. führen. Um nur einige Beispiele zu nennen: In der EU Zu beklagen bleibt allerdings, dass leider nicht alle gilt für ihre Mitglieder der so genannte Verhaltenskodex (B) Kompetenzen, die der Rat ursprünglich erhalten sollte, zu Waffenausfuhren. Demnach dürfen Waffen nur in (D) auch tatsächlich Eingang in die Resolution zur Einset- Länder exportiert werden, die bestimmte Kriterien erfül- zung des Gremiums gefunden haben, ebenso die Tatsa- len. In diesen Ländern müssen beispielsweise Frieden, che, dass es auch Ländern mit erheblichen Menschen- Sicherheit und Stabilität gewährleistet sein. Die Bundes- rechtsdefiziten gelungen ist, in den Rat gewählt zu regierung ist dem EU-Verhaltenskodex nicht nur als EU- werden. Mitglied verpflichtet, sondern hat ihn zudem zu einem ihrer „politischen Grundsätze für den Export von Kriegs- Die tatsächliche Bewährungsprobe des Rates wird waffen und sonstigen Rüstungsgütern“ gemacht. aber die alltägliche Arbeit sein. Hier wird sich zeigen, ob der Rat glaubwürdig ist, ob er nicht die alten Fehler der In Afrika hat die Wirtschaftsgemeinschaft westafrika- bisherigen Kommission wiederholt, ob nicht doch nischer Staaten bereits 1998 das Malimoratorium verab- wieder gegenseitige Blockaden und Opportunitätsüber- schiedet. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den Im- legungen die wirkliche Aufgabenstellung des Rats kon- und Export sowie die Produktion von Kleinwaffen ein- terkarieren. Günter Nooke, der neue Menschenrechtsbe- zustellen. auftragte der Bundesregierung, hat dazu treffend formuliert, dass der Rat sich nicht von Anfang an selbst Auch Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt zensieren dürfe. sind auf dem Gebiet der Kleinwaffen-Rüstungskontrolle bemerkenswert engagiert. Exemplarisch sei hier das In- Positiv ist in diesem Zusammenhang zu bewerten, ternational Network on Small Arms erwähnt. Dieses dass die USA sich zwischenzeitlich bereit erklärt haben, Netzwerk besteht aus 500 NGOs, die im Dialog mit Re- die Arbeit des Rates nachhaltig zu unterstützen, obwohl gierungen, Institutionen und Zivilgesellschaften Rüs- sie derzeit dem Gremium nicht angehören. tungskontrolle forcieren und den Missbrauch von Klein- So wohnt diesem Neuanfang vielleicht kein Zauber, waffen bekämpfen. aber doch eine Chance auf einen tatsächlichen Neube- Auch die Vereinten Nationen haben ein Instrument ginn inne. Wir als Koalition von CDU/CSU und SPD entwickelt, das sich der Kleinwaffenproblematik an- werden jedenfalls die Bundesregierung bei ihrer Arbeit nimmt. Sie haben 2001 das UN-Aktionsprogramm zur in dem neuen Rat nach Kräften unterstützen und sind der Bekämpfung des unerlaubten Handels mit Kleinwaffen Meinung, dass der von uns heute vorgelegte Antrag und leichten Waffen in allen Aspekten verabschiedet. Es hierzu die richtige Grundlage bietet. macht einen großen Schritt in die richtige Richtung. Es Der von Bündnis 90/Die Grünen eingebrachte Antrag schreibt die detaillierte Kennzeichnung der Waffen vor, spricht einige wichtige Aspekte an, ist aber weniger um- um deren Wege besser verfolgen zu können und gestattet Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4181

(A) Waffenexporte nur, wenn diese im Einklang mit völker- sitionsfraktion – auch ihr geht es darum zu bekräftigen, (C) rechtlichen Verpflichtungen geschehen. dass Bundesregierung und Europäische Union ihre be- sondere Verantwortung für die Durchsetzung und Stär- Besagtes Aktionsprogramm ist ein guter Ansatz und kung der Menschenrechte wahrnehmen und sie durch hat Potenzial, dem Problem Kleinwaffen wirksam entge- ihre Politik zum tragenden Pfeiler der globalen Rechts- genzutreten. Wie zahlreiche andere Initiativen und Ab- ordnung machen. kommen weist das Programm momentan jedoch noch einige Lücken auf. So halten sich aufgrund der mangeln- Der Deutsche Bundestag stellt mit großer Freude fest, den Rechtsverbindlichkeit zu wenige Staaten an die dass die Bundesrepublik Deutschland mit einer beson- Richtlinien. Zudem beschäftigt sich das Programm aus- ders hohen Stimmenzahl zum Mitglied des neuen Men- schließlich mit staatlichen Akteuren im Kleinwaffenhan- schenrechtsrates gewählt worden ist. Das zeigt, dass uns del, obwohl sich 60 Prozent der 600 Millionen Klein- viele Staaten der Völkergemeinschaft ein hohes Maß an waffen, die weltweit im Umlauf sind, in privatem Besitz Vertrauen entgegenbringen. Das neue Wahlverfahren in befinden. der Generalversammlung der Vereinten Nationen setzt die absolute Mehrheit aller Mitglieder für eine Wahl vo- Die derzeit in New York tagende UN-Konferenz zur raus. Deutschland Wahlstimmen liegen bei drei Viertel Überprüfung des Aktionsprogramms ist ein optimaler aller Mitglieder der General-Versammlung. Dieses groß- Zeitpunkt, das Programm zu überarbeiten und die Lü- artige Ergebnis beruht sicherlich auf mehreren Faktoren. cken zu schließen. Uns allen muss klar sein, dass eine Zum einen auf der Anerkennung, dass die Menschen- wirksame Bekämpfung des Missbrauchs von Kleinwaf- rechtspolitik der Bundesrepublik Deutschland sich er- fen Jahre dauern wird. Umso wichtiger ist es, das UN- folgreich darum bemüht, im Inneren unseres Landes Aktionsprogramm umgehend weiterzuentwickeln und hohe Standards durchzusetzen. Das ist gut; daran hat die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Daher ermutigen auch der Deutsche Bundestag einen entscheidenden An- wir die Bundesregierung, sich weiterhin für eine transpa- teil. rente und vor allem wirksame Kontrolle des Handels mit Kleinwaffen und leichten Waffen einzusetzen und aktiv Allerdings legen wir Politikerinnen und Politiker der an der Umsetzung und Verbesserung des UN-Aktions- SPD und, das darf ich wohl hinzufügen, auch der ande- programms sowie der EU-Strategie mitzuarbeiten. ren Fraktionen des Deutschen Bundestages, die wir uns besonders um Menschenrechtsfragen kümmern, gerade Kleinwaffen sind – da stimme ich UN-Generalsekre- deshalb großen Wert darauf, dass wir auch erkennen, wo tär Kofi Annan vollkommen zu – die Massenvernich- wir im Innern noch große Defizite haben, die wir endlich tungswaffen des beginnenden 21. Jahrhunderts. Sie töten durch vernünftige und angemessene Lösungen überwin- täglich Tausende von Menschen und versagen Millionen den müssen. Ich spreche jetzt von den Menschenrechten (B) (D) von Kindern eine unbeschwerte Kindheit, weil sie sie zu für die vielen ohne Aufenthaltsstatus in der Bundesrepu- Mördern machen, die von skrupellosen Banden geför- blik lebenden Männer, Frauen und Kinder, also für die so dert und von den eigenen Familien geächtet werden. genannten Illegalen. Wir können ihre Zahl nur schätzen; Kleinwaffen sind auch ein wesentlicher Grund dafür, aber wir wissen, dass ihnen jede Garantie auch der mini- dass Kriege und bewaffnete Konflikte zunehmend in der malen Menschenrechte fehlt: Der Zugang zu Gesund- Zivilbevölkerung stattfinden. heitsschutz, zu Schule und Bildung, zu Rechtsschutz vor Ich denke, der erhöhte Handlungsbedarf in Sachen Ausbeutung und Gewalt, kurz auf das, was unbedingt zu Kleinwaffen ist uns allen ersichtlich, und hoffe, dass Sie einem menschenwürdigen Leben ohne ständige, alltägli- mir zustimmen, wenn ich sage, dass wir an einem Strang che Angst gehört, alles das fehlt ihnen. Hier müssen wir ziehen müssen, um den Teufelskreis von Gebrauch und endlich die Augen aufmachen und helfen. Das sind wir Handel mit diesen Waffen wirksam und dauerhaft zu uns, das sind wir diesen Menschen schuldig. Außerdem durchbrechen. Ich bitte Sie daher, den gemeinsamen An- hat es Signalwirkung, wie wir im eigenen Land mit trag von CDU/CSU-Fraktion und SPD-Fraktion zu un- Menschenrechten umgehen. Wie wollen wir denn in den terstützen, indem Sie Ihrem Gewissen Vorrang vor mög- wichtigen Menschenrechtsdialogen mit anderen Ländern lichen Fraktionszwängen geben. reden, wenn wir diesen Balken im eigenen Auge nicht sehen? Ich bin ganz sicher, es wird auch unseren Ein- fluss im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen ver- Herta Däubler-Gmelin (SPD): Wir reden heute über stärken, wenn wir nachweisen, dass es uns mit den Men- den neuen Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, schenrechten auch für diese Bevölkerungsgruppe Ernst der nach langen und zum Teil sehr mühsamen Diskus- ist. sionen im Zuge der UN-Reform beschlossen wurde. Er soll die in den letzten Jahren nicht immer zu Recht in ih- Das internationale Vertrauen in die Menschenrechts- rer Arbeit sehr angegriffene Menschenrechtskommission politik der Bundesrepublik Deutschland ist aber auch be- ablösen und – als Unterorgan der Vollversammlung der rechtigt, weil diese eben, auch hier getragen von allen Vereinten Nationen und mit Stärkung der UN-Hochkom- Fraktionen des Deutschen Bundestages, nirgendwo zu missarin für Menschenrechte und ihren Befugnissen – Menschenrechtsverletzungen schweigt oder sie gar tak- die unverzichtbare Bedeutung der Menschenrechte in al- tisch akzeptiert. Vielmehr greift sie Menschenrechtsver- len Ländern der Welt unterstreichen und in der Durch- letzungen auf und versucht, bei ihrer Überwindung zu führung voranbringen. Wir wollen seine Arbeit zum Er- helfen. Es geht uns darum, Menschenrechte als Grund- folg machen – das will unser Antrag, für den ich Sie um lage jeder freien und friedlichen Gesellschaft zu stärken Zustimmung bitte. Das will auch der Antrag einer Oppo- und sie global durchzusetzen. Den anmaßend erhobenen 4182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Zeigefinger halten wir dabei für wesentlich weniger ge- Wichtig ist auch, dass der Rat sicherstellt, dass seine (C) eignet als den Einsatz sehr erfolgreicher Instrumente wie Mitglieder sich in ihrer Menschenrechtspolitik überprü- beispielsweise Menschenrechts- und Rechtsstaatsdia- fen und an den erreichten hohen Standards messen las- loge. sen. Erst wenn die Mitglieder des Menschenrechtsrats die hohen Anforderungen erfüllen, können sie in der Ge- Der Deutsche Bundestag hat bei der Schaffung des neralversammlung der Vereinten Nationen die Autorität Römischen Statuts und der Bildung des Internationalen beanspruchen, die den Menschenrechten und ihrer Strafgerichtshofs sehr gut zusammengearbeitet. Wir alle Durchsetzung zukommt und die dann die Überprüfung unterstützen seine wichtige Arbeit, verteidigen sie gegen auch der Menschenrechtspolitik der übrigen Mitglieder Angriffe etwa der US-Administration und werben für die der Vereinten Nationen zu einem Erfolg werden lässt. Unterstützung der Vereinigten Staaten für diesen Ge- richtshof, aber auch für den Menschenrechtsrat der Ver- Wichtig ist des Weiteren, dass der Menschenrechtsrat einten Nationen. Der Deutsche Bundestag unterstützt gut mit der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte mit ebenso großem Nachdruck die deutsche Unterstüt- zusammenarbeitet und die Verbindungen zum UN-Gene- zung für Wahrheits- und Versöhnungskommissionen und ralsekretär und zum UN-Sicherheitsrat zur Durchsetzung die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit und Peace-building und Stärkung der Menschenrechtsgarantien nützt. durch Aufbau von rechtsstaatlichen Institutionen in vie- len Ländern der Welt. Das alles hat nicht nur das Ver- Schließlich ist es wichtig, dass der Menschenrechtsrat trauen in die deutsche Menschenrechtspolitik gestärkt, die wichtige Rolle der Nichtregierungsorganisationen sondern auch die Erwartungen an Deutschland wachsen anerkennt: Diese Organisationen sind es ja, die über die lassen. Geltung und die Durchsetzung der Menschenrechte im Alltagsleben der Menschen eines Landes häufig viel bes- Es ist deshalb gut, dass Deutschland für drei Jahre ser Bescheid wissen als Mitglieder von Ämtern oder Di- Mitglied des neuen Menschenrechtsrates sein wird, der plomatische Korps. Die global arbeitenden Menschen- am 19. Juni 2006 seine Arbeit in Genf aufgenommen rechtsorganisationen können mit ihren aktualisierten hat. In diesen drei Jahren müssen viele schwierigen An- Meldungen und Vergleichen die Arbeit des Rates ent- fangsprobleme bewältigt und klare Standards gesetzt scheidend unterstützen. Sie müssen deshalb ihren Zu- werden. Deutschland wird 2007 die Präsidentschaft in der gang, ihren Einfluss und ihre wichtige Rolle im Men- Europäischen Union und in der Organisation der G 7/G 8 schenrechtsrat behalten. übernehmen und dort mit der Autorität dieses Amtes für eine gute Menschenrechtspolitik werben können. Es Ich bitte um Zustimmung für unseren Antrag. Es be- wird dieses politische Gewicht auch in die Arbeit des steht kein Zweifel daran, dass wir alle die Bundes- (B) Menschenrechtsrats einbringen. Da bisher die Politik für regierung und insbesondere den Bundesaußenminister in (D) Menschenrechte längst nicht aller 47 Mitglieder des seiner Arbeit im Menschenrechtsrat und auch die Beauf- neuen Rates vorbildlich ist, weder im Hinblick auf die tragten der Bundesministerien für Menschenrechtsfragen Garantie der Menschenrechte im eigenen Land noch im in ihrer wichtigen Tätigkeit weiterhin aktiv unterstützen. Umgang mit anderen Teilen der Welt oder im Bereich Im kommenden September werden wir aus Anlass der der internationalen Völkergemeinschaft, wird es zu- zweiten Sitzungsperiode des UN-Menschenrechtsrates nächst einmal darum gehen müssen, die Länder mit mit einer Delegation des Menschenrechtsausschusses menschenrechtsfreundlicher Politik im Menschenrechts- des Deutschen Bundestages nach Genf fahren, um uns rat zusammenzuführen und ihr Votum im Rat durchset- vor Ort über die Bewältigung der anstehenden Fragen zungsfähig zu machen. und Probleme zu informieren. Wir alle wissen, dass mit unserem möglichst breit zustimmenden Beschluss heute Unter den wichtigen Anfangsentscheidungen sind ei- ein wichtiger Schritt getan ist. Dem müssen noch viele nige besonders wichtig. Sie sind in unserem Antrag ent- weitere folgen. halten; aber auch der Antrag der Oppositionsfraktion ist lesenswert. Beide müssen nicht nur in der Arbeit des Bundestages, sondern auch in der der Bundesregierung Christoph Strässer (SPD): Zurzeit findet eine berücksichtigt werden. zweiwöchige Konferenz zur Überprüfung des UN-Ak- tionsprogramms zum Kleinwaffenhandel bei den Verein- Wichtig ist, dass der neue Menschenrechtsrat die ho- ten Nationen in New York statt. Es gilt im Zuge dessen hen Standards und erfolgreichen Instrumente aufnimmt vor allem mehr als deutlich hervorzuheben, wie katastro- und weiterführt, die die UN-Menschenrechtskommis- phal die Folgen der massenhaften Verbreitung von sion in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Kleinwaffen und leichten Waffen tatsächlich sind. Denn Diese Arbeit, diese Erfolge dürfen nicht verloren gehen. fälschlicherweise ist die Gefahr von Kleinwaffen und Dabei muss von vorneherein klargestellt werden, dass leichter Rüstung auf nationaler, regionaler und globaler zwar die Art der Durchsetzung und Garantie der Men- Ebene gesellschaftlich nicht präsent genug und wird un- schenrechte von regionalen, kulturellen, religiösen und terschätzt. Kleinwaffen und leichte Waffen sind eine be- traditionellen Prägungen beeinflusst sein kann und häu- stimmte Kategorie von Kampfmitteln, die von einer oder fig auch beeinflusst sein wird; die Existenz eines zwei Personen getragen, transportiert und ausgelöst wer- Menschenrechts kann jedoch ebenso wenig von diesen den können. Zu ihnen zählen laut UNO-Definition unter Faktoren abhängig sein wie sein Inhalt und seine Reich- anderem Sturmgewehre, Revolver und Maschinenenge- weite. Das klarzustellen gehört zur Anerkennung der Be- wehre sowie die dazugehörige Munition, aber auch deutung der Menschenrechte. Handgranaten, tragbare Raketenwerfer, Mörser, Panzer- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4183

(A) fäuste, Minen und schultergeschützte Flugabwehrrake- Waffengattung ist für eine menschenrechtsorientierte, (C) ten. Die meisten Kleinwaffen sind leicht zu transportie- aber auch für eine wirtschaftsfördernde Politik und da- ren und im wahrsten Sinne des Wortes kinderleicht zu mit einhergehend für die Stärkung des humanitären Völ- bedienen. Das Töten mit dem Gewehr vom Typ Kalasch- kerrechtes zwingend notwendig. Es gibt bereits viele in- nikow AK-47 kann man bereits einem Zehnjährigen bei- ternationale, regionale und nationale Vereinbarungen bringen. Die Folge ist unter anderem, dass Kinder vor al- gegen die Verbreitung von leichten und Kleinwaffen, lem in Afrika und Asien zu Tausenden zwangsweise als wie zum Beispiel das 2001 geschaffene „UN-Aktions- Soldaten rekrutiert werden. In rund 40 Staaten der Erde programm zur Bekämpfung des unerlaubten Handels mit kämpfen nach Schätzungen von UNICEF immer noch Kleinwaffen und leichten Waffen in allen Aspekten“ und über 300 000 mit Kleinwaffen ausgerüstete Jungen und das 2005 von der UN-Generalversammlung verabschie- Mädchen in Regierungsarmeen oder bewaffneten Grup- dete politisch verbindliche Abkommen über die Kenn- pen. In weiten Teilen der Welt sind Kleinwaffen preis- zeichnung und Nachverfolgbarkeit von Kleinwaffen. Die werter als zum Beispiel Nahrungsmittel oder Medizin. In Vollversammlung der Vereinten Nationen verabschie- Uganda kostet nach UNICEF Angaben ein AK-47-Ge- dete insgesamt mehr als 30 Resolutionen zu Kleinwaffen wehr soviel wie ein Huhn und in Angola soviel wie ein und auch der Weltsicherheitsrat befasste sich auf Son- Sack Mais – etwa 15 Dollar. In vielen Krisengebieten dersitzungen mehrfach mit diesem Thema. sind sie daher auch außerhalb regulärer Streitkräfte weit verbreitet. Es ist unumstritten, dass trotz dieser internationalen Verträge und nationalen Rechtsvorschriften und dem Den Kleinwaffen sind in den letzten Jahrzehnten weit großen Engagement internationaler Nichtregierungsor- mehr Menschen zum Opfer gefallen als allen anderen ganisationen die Gefahr durch Kleinwaffen und leichte Waffenarten zusammen. Mindestens eine halbe Million Rüstung in den letzten Jahren nicht wirklich nachgelas- Menschen verlieren alljährlich ihr kostbares Leben sen hat. Aus humanitärer wie menschenrechtlicher Sicht durch Kleinwaffen, das heißt, jede Minute stirbt ein sollte die internationale Gemeinschaft deshalb die Mensch durch diese Waffengattung, unter ihnen auch Chance nutzen, sich im Schlussdokument der Überprü- viele Frauen und Kinder. Weltweit wird die Anzahl von fungskonferenz mit klaren Kriterien und verbindlichen Kleinwaffen, die jahrzehntelang benutzt werden können Regelungen zur Bekämpfung des Missbrauchs von und immer wieder auf neuen Brandherden auftauchen, Kleinwaffen und leichten Waffen zu verpflichten und von ai auf 650 Millionen geschätzt. Damit verfügt jeder Lücken im Aktionsprogramm zu schließen. Die SPD- zehnte Mensch über eine Waffe. Jedes Jahr werden Fraktion bekräftigt mit diesem Antrag insofern die un- 14 Milliarden Schuss Munition produziert – das sind eingeschränkte Notwendigkeit eines Übereinkommens weltweit mehr als zwei Geschosse für jeden Mann, jede aller Staaten zur Schaffung eines wirkungsvollen und (B) Frau und jedes Kind. eindeutigen internationalen Kontrollsystems, das Waf- (D) fen- und Munitionstransfers in Gebiete unterbindet, in Diese unvorstellbare Menge an Kleinwaffen macht denen diese Güter wahrscheinlich zu schwerwiegenden sie zum meistverbreiteten Massenvernichtungsmittel un- Verletzungen der Menschenrechte oder des humanitären serer Zeit. Wie Helmut Schmidt bereits richtig fest- Völkerrechtes verwendet werden. Wir bekunden damit stellte, handelt es sich im Fall der Kleinwaffenverbrei- unseren grundsätzlichen Willen, alles dafür zu tun, dass tung ausdrücklich um einen globalen Notstand, der die zweite UN-Durchführungskonferenz zum Kleinwaf- dringend der Abhilfe bedarf. Die massenhafte Streuung fen-Aktionsprogramm diesem Ziel eines internationalen solcher Waffen führt zudem zur Destabilisierung ganzer rechtskräftigen Kontrollsystems entscheidend näher Regionen und verhindert in Ländern wie Somalia, Sierra kommt. Wer das hehre Ziel verfolgt, Massenvernich- Leone, Sudan, Kongo oder Angola über Jahre jede fried- tungswaffen weltweit zu bekämpfen, der sollte ein sol- liche Entwicklung. Verschlimmernd kommt hinzu, dass ches Kontrollsystem mit all seiner Kraft unterstützen. die Gefahr durch Kleinwaffen und leichte Rüstung mit der Beilegung eines regionalen Konfliktes nicht zu Ende ist. Denn diese Waffen bleiben nach der Beilegung von Florian Toncar (FDP): Die Bundesregierung ver- Konflikten meist in den Händen der gewaltbereiten folgt eine Menschenrechtspolitik, die zwar sinnvolle An- Menschen und unterminieren so die Friedenskonsolidie- sätze aufweist, in ihrer Umsetzung jedoch zu wenig Biss rung und die angestrebte Stabilität in den betroffenen hat und keine echten Akzente setzt. Leider hat es die jet- Regionen. Die Mehrzahl der Menschen fällt somit nicht zige Bundesregierung noch nicht vermocht, ein eigenes den Kampfhandlungen selbst zum Opfer, sondern ver- menschenrechtliches Profil herauszubilden. Dies wird liert ihr Leben in der „Nachkriegszeit“. Das bedeutet: auch in den heute von den Regierungsfraktionen zur Be- Frieden, Sicherheit und die positive Entwicklung werden ratung vorgelegten Anträgen deutlich. Beiden Anträgen in wachsendem Maße durch die destabilisierende Wir- ist gemeinsam, dass die darin erhobenen Forderungen kung der Verbreitung von Kleinwaffen und leichten zwar an sich unterstützenswert sind. Jedoch lassen sie Waffen bedroht. wirkliche Akzente vermissen, eine kreative Bereiche- rung sind sie nicht. Kleinwaffen und leichte Waffen tragen zudem zur Verschärfung des Terrorismus und der organisierten Kri- Der erste Antrag befasst sich mit der künftigen Arbeit minalität bei. Wer den Terrorismus bekämpfen will, des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen. Die sollte insofern als einen der ersten Schritte die Verbrei- FDP hat die Verhandlungen zur Schaffung dieses neuen tung von Kleinwaffen und leichter Rüstung mit aller Gremiums genau verfolgt. Wir hatten den Eindruck, dass Macht eindämmen. Eine wirksame Kontrolle dieser das Auswärtige Amt in seiner Verhandlungsführung 4184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) umsichtig und geschickt agiert und die Koordination mit kämpfung des Handels mit Kleinwaffen und leichten (C) den EU-Staaten sehr gut funktioniert hat. Man muss den Waffen, mit denen die meisten Morde und Tötungen in mit den Verhandlungen betrauten deutschen Diplomaten, Kriegen begangen werden. Da diese Waffen technisch insbesondere dem Arbeitsstab Menschenrechte im Aus- sehr einfach und leider auch sehr robust und langlebig wärtigen Amt, an dieser Stelle Lob und Anerkennung sind, kommt es vor, dass mit ein und derselben Waffe in aussprechen. Die Aufgabe, einen möglichst umfangrei- mehreren Kriegen getötet wird. Der illegale Waffenhan- chen und effektiven Menschenrechtsschutz auszuhan- del bewirkt, dass diese Waffen von einem Bürgerkrieg deln, war angesichts des Widerstandes einiger Bremser- zum nächsten verschoben werden. Es ist eine makabere staaten nicht leicht. Zeitweise schien es, dass es in den „Tournée der Bürgerkriege“, die diese Waffen durch- Verhandlungen nur noch darum ging, das Schlimmste zu wandern. Um dies zu erschweren, müssen die dunklen verhindern. Kanäle der illegalen Waffenschieber durch verbindliche Regelungen sichtbar gemacht und unterbrochen werden. Das Ergebnis lässt viele Wünsche offen. Die FDP Die jetzt anstehende UN-Überprüfungskonferenz ist eine hätte es natürlich befürwortet, wenn eine Zweidrittel- gute Gelegenheit, diesen internationalen Prozess voran- mehrheit sowie strengere Menschenrechtskriterien für zutreiben. Dabei sollte die deutsche Diplomatie die Ge- die Mitgliedschaft von Staaten im Menschenrechtsrat legenheit nutzen, engagiert Akzente zu setzen. notwendig gewesen wären. Leider war dies nicht mehr- heitsfähig. Aber angesichts der schwierigen Verhandlun- Es ist zu erwarten, dass einige Staaten – wie in den gen war offenbar nicht mehr drin. Verhandlungen vor fünf Jahren – versuchen werden, das Der Menschenrechtsrat hat sich nun konstituiert und Abschlussdokument möglichst stark zu verwässern. Die wird sich in der Anfangsphase damit befassen, seine ei- USA waren damals in die Kritik geraten, weil sie jegli- gene Arbeitsweise zu definieren. Die Bundesregierung che Einmischung in ihr nationales Waffenrecht vermei- ist in der Pflicht, ihre Mitgliedschaft in dem neuen Gre- den wollten. Dies gab jedoch den größten Lieferanten mium zu nutzen, um diese Methoden so effektiv wie von Kleinwaffen in Bürgerkriegsgebiete die Gelegen- möglich zu gestalten. Dabei ist wichtig, dass ausreichend heit, sich hinter den USA zu verstecken. So muss die Arbeitszeit für die Befassung mit aktuellen Krisensitua- Bundesregierung bei den anstehenden Verhandlungen tionen und groben Menschenrechtsverletzungen bleibt. auch Staaten wie China zu konkreten Zugeständnissen Am Ende müssen Menschenrechtsverletzer damit rech- bei der Eindämmung der Zirkulation von Waffen drän- nen, beim Namen genannt und öffentlich vom Men- gen und klar Position beziehen. schenrechtsrat durch Länderresolutionen angeprangert Ein wichtiges Ziel ist es, die Staaten, die Kleinwaffen zu werden. in Konfliktherde liefern, dazu zu bringen, strengere Ex- (B) Ich verstehe den Antrag einerseits als eine Würdigung portrichtlinien zu beachten. Dabei müssen Deutschland (D) des diplomatischen Verhandlungsergebnisses, das neben und die EU dafür sorgen, dass die Staaten in Ost- und vielen klaren Defiziten auch zahlreiche Chancen bein- Südosteuropa, in denen große Mengen von Kleinwaffen haltet. Andererseits – und ich denke, das ist der Schwer- vorhanden sind und noch immer produziert werden, die punkt – geben die Forderungen der Bundesregierung den Ausfuhr dieser Waffen begrenzen. So lagern etwa in der Auftrag, die Ärmel hochzukrempeln und die Arbeit des Ukraine, einem wichtigen Ausfuhrland, noch schät- neuen Menschenrechtsrates mit Inhalt zu füllen. Hier zungsweise 9 Millionen Kleinwaffen. Es wäre fatal, hätte der Antrag konkreter sein können. Auch wenn wir wenn diese Waffen in den Umlauf des illegalen Waffen- diesem Antrag der Regierungsfraktionen zustimmen handels gelangten, um das Feuer zahlreicher Bürger- werden, bleibt für uns entscheidend, wie die Bundesre- kriege anzufachen. Staaten Ost- und Südosteuropas, die gierung im Menschenrechtsrat agiert. Wir werden genau Mitglied der EU werden wollen oder ihre Beziehungen beobachten, ob die Bundesregierung die an sie gerichte- zur EU verbessern wollen, müssen hier ein klares Signal ten Erwartungen erfüllt. aus Brüssel erhalten. Auch wenn der Antrag diese For- derung erhebt, so hätte ich mir eine schärfere Formulie- Auch wenn die FDP den Kern des Antrages unter- rung in diesem Punkt gewünscht, um ein klares Signal stützt, ist die Schwammigkeit und die Vermeidung von an die ost- und südosteuropäischen Kleinwaffenprolife- klaren, akzentuierten Positionen zu bemängeln. Die rateure zu senden. Bundesregierung muss in Zukunft stärker Farbe beken- nen, wie ihre eigene Position zu konkreten Menschen- Deutschland zählt trotz einer restriktiven Handhabe rechtsproblemen ist. Darum hat die FDP einen Antrag von Exportgenehmigungen weiterhin zu den größten eingebracht mit dem Ziel, dass die Bundesregierung in Waffenexporteuren der Welt. In Zukunft sollten wir al- künftigen Menschenrechtsberichten die eigene Bewer- lerdings zum Hauptexporteur von Geräten zum Abrüsten tung klar getrennt von allgemeinen politischen Hinter- und Zerschreddern von Kleinwaffen aufsteigen. Es grundinformationen darlegt. Außerdem müssen mess- stünde der Menschenrechtspolitik der Bundesregierung bare Zielvorgaben für die Zukunft formuliert werden. gut an, wenn deutsche Technik maßgeblich dazu beitra- Wenn die Bundesregierung sich nicht traut, Position zu gen könnte, diese unsäglichen Kleinwaffen wieder aus beziehen, soll sie das vor der Öffentlichkeit zeigen müs- der Welt zu schaffen. Großbritannien stellt solche Geräte sen, ohne die Möglichkeit zu haben, sich im Bericht hin- bereits als Teil seiner Entwicklungszusammenarbeit ter Allgemeinplätzen zu verstecken. Staaten zur Verfügung. Der zweite Antrag greift ein Thema auf, welches in Leider ist der Inhalt des Antrages insgesamt so stark den letzten Jahren große Bedeutung erlangt hat: die Be- in Watte verpackt, dass er lediglich die allgemeinen Er- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4185

(A) wartungen an die deutschen Diplomaten bei der anste- Jahre auch international wahrgenommen wurde. Das (C) henden UNO-Konferenz wiedergibt. Notwendig ist er in muss und wird hoffentlich auch für die neue Regierung dieser Form nicht. hinreichend Ansporn sein, hohe Standards einzuhalten und weiter zu verbessern, im Übrigen auch und gerade Wir sind gespannt, ob die Bundesregierung es schaf- dort, wo Deutschland wie in der Flüchtlingspolitik noch fen wird, ein sichtbares Profil in der Menschenrechts- Nachholbedarf hat! politik zu entwickeln. Bald ist das erste Regierungsjahr vorbei. Die Zeit läuft. Der neue Rat ist unzweifelhaft ein positiver Neube- ginn für eine weltweit effektive Menschenrechtspolitik, obwohl auch im neuen Rat Länder Mitglieder sind, de- Michael Leutert (DIE LINKE): Erstens. Wir unter- ren menschenrechtliche Standards alles andere als zu- stützen den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und frieden stellend sind. Aber: Alle Mitgliedstaaten werden SPD. Wir teilen mit den Antragstellern die Auffassung auf ihre Menschenrechtslage überprüft und es soll die Kofi Annans, dass es sich bei den Kleinwaffen um die Möglichkeit einer Suspendierung der Mitgliedschaft für Massenvernichtungswaffen von heute handelt. Auch tei- Staaten bestehen, die massive Menschenrechtsverletzun- len wir die Auffassung, dass eine wirksame Kontrolle gen begehen. Wir vertrauen darauf, dass dieser Mecha- dieser Waffengattung Konflikten vorbeugen, Frieden nismus notfalls konsequent angewandt wird! konsolidieren und Menschenrechtsverletzungen meiden helfen kann. Schließlich teilen wir die Auffassung, dass Bündnis 90/Die Grünen sehen eine Reihe von Chan- eine restriktive Rüstungsexportpolitik notwendig ist. So- cen, die der neue Menschenrechtsrat für eine tatsächli- weit stimmen wir mit den Antragstellern überein. che Verbesserung gegenüber der Arbeit der alten Menschenrechtskommission bietet. Der Rat wird im Zweitens hat die Fraktion Die Linke aber auch erheb- Vergleich zur MRK öfter und länger im Jahr tagen und liche Kritik an dem Antrag zu üben, eine Kritik aber, die sich aktueller mit Menschenrechtsfragen befassen kön- uns nicht hindern soll, diesem Antrag zuzustimmen. Der nen. Die Mitglieder des Rates müssen sich einer Prüfung Antragsteller ist nämlich der Auffassung, dass Kleinwaf- ihrer eigenen Menschenrechtsstandards unterziehen, und fen an ihre Einsatzorte in bewaffneten Konflikten oft- es besteht die Möglichkeit der Aussetzung der Mitglied- mals über illegale Vermittlungsgeschäfte gelangt sind. schaft im Falle schwerwiegender Menschenrechtsverlet- Wenn das stimmt – daran haben auch wir keinen Zwei- zungen. fel – dann fragen wir uns, warum der deutsche Beitrag zu einer Kontrolle dieser Waffengattung nicht etwas Darüber hinaus wird es ein so genanntes Universal radikaler ausfallen könnte. Dazu drei Bemerkungen: Periodic Review geben, das heißt ein Verfahren, mit dem Erstens. Dass es sichere Empfängerstaaten für Kleinwaf- die Menschenrechtssituation in allen Staaten der VN ge- (B) fenexporte gibt, ist sehr zweifelhaft. Gerade der Waffen- prüft und Verletzungen von Menschenrechten öffentlich (D) export an verbündete Staaten ist der Anfang des Wegs gemacht werden können. Allerdings: Es müssen auch der Weiterverbreitung der sehr langlebigen Kleinwaffen. noch eine Reihe von Herausforderungen zur effektiven Auch Staaten mit einer menschenrechtlich immer noch Ausgestaltung des Menschenrechtsrates bewältigt wer- bedenklichen Lage wie etwa die Türkei und Indonesien den: wissen deutsche Waffen zu schätzen. Hier sind wesent- Wir fordern die Bundesregierung auf, sich mit Nach- lich restriktivere Exportregelungen angesagt. Zweitens. druck für den Erhalt der wichtigen und bewährten Son- Die Unterscheidung zwischen Sport-, Freizeit- und dermechanismen der MRK einzusetzen. Die Beteiligung Kriegswaffen muss hinsichtlich der Exportbestimmun- der Nichtregierungsorganisationen muss gewährleistet gen aufgehoben werden. Drittens. Die Bundesregierung bleiben! Und wir fordern die Bundesregierung auch auf, sollte sich dafür einsetzen, die bestehenden internationa- wichtige menschenrechtliche Initiativen, die in der Ver- len Abkommen auch auf Waffen wie tragbare Flugab- gangenheit in der MRK nicht oder nicht umfassend wehrraketen und Mörser auszuweiten. durchgesetzt werden konnten, zum Beispiel Zusatzpro- Eine Ankündigung solcher Schritte wäre ein guter tokoll zum VN-Sozialpakt, Resolution über die Men- Beitrag für das Gelingen der UN-Kleinwaffenkonferenz. schenrechte von Lesben und Schwulen, Resolutionen zu Guantanamo Bay und zu Darfur, zu unterstützen. Da- rüber hinaus erwarten wir von der Bundesregierung, Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass sie im Rat darauf hinwirkt, dass die Informationen Mit dem neuen Menschenrechtsrat hat eine neue und zur Menschenrechtslage in den zu überprüfenden Län- wichtige Phase des internationalen Menschenrechts- dern auch von opfernahen und staatsunabhängigen Insti- schutzes begonnen. Es besteht jetzt die historische tutionen berücksichtigt werden. Ob sich die Erwartun- Chance, Menschenrechte zu einer tragenden Säule im gen an den Menschenrechtsrat erfüllen, wird sich zeigen. System der Vereinten Nationen werden zu lassen. Die Bündnis 90/Die Grünen jedenfalls werden die Entwick- neue Institution löst die bisherige Menschenrechtskom- lung dieser Institution mit größter Aufmerksamkeit und mission ab, die aufgrund der Blockadehaltung zahlrei- konstruktiver Kritik verfolgen. cher Staaten mit mangelhafter Menschenrechtsbilanz zu Recht kritisiert worden war. Am 9. Mai diesen Jahres Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein paar Worte sind 47 Mitgliedstaaten für drei Jahre gewählt worden, zu unserem Antrag „Waffen unter Kontrolle“ und dem darunter – mit überwältigender Mehrheit – auch Problem der Kleinwaffen sagen. Schwerste Menschen- Deutschland. Dies zeigt, wie positiv die konsequente rechtsverletzungen gehen eng mit dem Vorhandensein Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik der letzten und dem Einsatz von Kleinwaffen einher. Seit circa zehn 4186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Jahren gibt es auf der internationalen Ebene Bemühun- kündet, dass sie sich ebenfalls für die REITs-Einführung (C) gen, zu einer Begrenzung des Kleinwaffenproblems zu ausspricht, sofern – ich zitiere – „die verlässliche Be- kommen. Die Bundesregierung hat sich hier mal mehr steuerung beim Anleger sichergestellt ist und positive und mal weniger, insgesamt aber durchaus positiv und Auswirkungen auf Immobilienmarkt und Standortbedin- lobenswert engagiert. Dies gilt sowohl im Rahmen der gungen zu erwarten sind“. UN, OSZE, EU und bilateral. Auch die nationalen Ex- portrichtlinien und Exportpolitik wurden ansatzweise Die SPD-Fraktion diskutiert das Problem intensiver. verändert. Die parlamentarische Linke kommt in einem interessan- ten Papier zu der Aussage, die Bedingungen für die Ein- Vor allem das UN-Aktionsprogramm von 2001 hat führung von REITs seien nicht erfüllt, weil – Zitat – „die – bei allen Defiziten – dazu beigetragen, dass es auf der steuerpolitischen, haushälterischen und gesellschaftspo- internationalen, regionalen und nationalen Ebene schritt- litischen Schwierigkeiten und Gefahren nicht verlässlich weise Fortschritte gegeben hat. Das reicht jedoch bei ausgeräumt werden können“. Das BMF seinerseits führt weitem nicht aus. Das Programm ist zu eng, zu unver- in einem ausführlichen Papier lauter Argumente an, wa- bindlich und in vielen Bereichen nicht entschlossen ge- rum REITs eine gute Sache sind. nug umgesetzt worden. Wir erwarten, dass es bei der Eine interessante Konstellation: Für die FDP gibt es Überprüfungskonferenz in New York deutliche Fort- keine Probleme; die Union ist zwar dafür, weiß aber schritte gibt und sich Deutschland und die EU-Staaten nicht, ob die Risiken unter Kontrolle sind und ob das vehement dafür einsetzen, dass es zu Verbesserungen Ganze überhaupt etwas bringt; das Bundesministerium und verbindlichen Weiterentwicklungen kommt. Dies der Finanzen gibt grünes Licht und die SPD ist sich nicht gilt zum Beispiel für die Bereiche Munition, Waffenver- einig. mittlungsgeschäfte und nichtstaatliche Endempfänger. Es müssen in New York auch Schritte in die Wege gelei- Das sieht für mich danach aus, dass die Sache schon tet werden, um bald zu einem internationalen Waffen- gelaufen ist, das heißt, dass die absolut berechtigten Ein- handelsabkommen zu kommen, das möglichst hohe wände der SPD-Linken in den Wind geschlagen werden. völkerrechtliche Mindeststandards festschreibt, um kon- Für die Fraktion Die Linke gibt es keinen Zweifel: Wir ventionelle Waffenexporte unter Kontrolle zu bringen. lehnen die REITs-Zulassung ab, sie schadet dem Finanz- platz Deutschland, sie schadet den Interessen der Miete- Wir begrüßen, dass die Koalitionsfraktionen das rinnen und Mietern und bietet ein weiteres Steuer- Thema aufgreifen. Ihr Antrag bleibt jedoch leider in vie- schlupfloch für Finanzinvestoren. len Bereichen ein Schönwetterantrag. Dort, wo es weh tut, also dort, wo auch die Bundesregierung und deut- Ich will dies begründen und Ihnen gleich zu Anfang (B) sche Industrieinteressen betroffen sind, wagen Sie sich unser zentrales Gegenargument nennen. Es geht um ei- (D) nicht ran! nen Sachverhalt, der leider auch nicht in dem zitierten Argumentationspapier der SPD-Linken ausgeführt wird. Wir dürfen uns nicht auf illegale und militärische Ich werde mich in der Auseinandersetzung auf dieses Kleinwaffenexporte beschränken. Wir müssen auch die Papier beschränken, weil in dem FDP-Antrag nur Be- zivil genutzten und legalen Exporte in den Blick neh- hauptungen zu lesen sind, während die Union nur das men. Wir müssen vor allem auch unsere eigene Export- Prinzip Hoffnung zu vermelden hat. gesetzgebung und Exportpolitik kritisch unter die Lupe nehmen. Hier benennen wir entscheidende Lücken und Worum geht es bei REITs? Es geht im Kern um die Defizite. Bündnis 90/Die Grünen hat das als Regierungs- Mobilisierung von in Immobilien gebundenem Kapital fraktion getan, und wir tun das auch heute. Vorausset- von Unternehmen. Das sieht die FDP völlig richtig – Zi- zung ist, dass sich die Transparenz in diesem Bereich tat aus dem Ihrem Antrag –: weiter verbessert und die Fraktionen ihre Kontrollaufga- ben ernst nehmen. Deutschland gehört immer noch zu „REITs sind besonders für Versicherungen, Pen- den weltweit führenden Exporteuren von zivilen und mi- sionsfonds und Stiftungen interessant … Unterneh- litärischen Kleinwaffen, darunter sind auch Exporte, die men aller Branchen ist es möglich, ihren Immobili- mit den Rüstungsexportrichtlinien nicht vereinbar und enbestand in REITS zu überführen. Somit können nicht nachvollziehbar sind. sie gebundenes Kapital heben.“ Ich bin der FDP-Fraktion dankbar für die Offenheit, mit der sie den Kernpunkt benennt, allerdings ohne sei- Anlage 22 nen eigentlichen Hintergrund auszusprechen. Zu Protokoll gegebene Rede Es geht im Wesentlichen um die Allianz, es geht um die großen Versicherungskonzerne. Bekanntlich haben zur Beratung des Antrags: REITs – Real Estate Allianz und Co. riesige, nicht aufgedeckte stille Reser- Investment Trusts in Deutschland einführen ven in Form von Wohnungseigentum. Die Versicherun- (Tagesordnungspunkt 19) gen haben mit REITs ein dreifaches Interesse: Sie möch- ten die Verwaltungskosten dieser Wohnungen Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Die Fraktion der FDP loswerden, sie möchten zum Zweiten das zum Einheits- fordert den Bundestag auf, einen Gesetzentwurf zur Ein- wert in den Bilanzen geführte Kapital zum Verkehrswert führung von REITs in Deutschland auf den Weg zu brin- liquidieren und sie möchten zum Dritten diesen gewalti- gen. Auch die Union hat heute per Pressemitteilung ver- gen Zugewinn auch noch steuerfrei realisieren. Bekannt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4187

(A) lich sind nämlich die REITs von der Körperschaft- und Fünftens. Ganz abgesehen von Auswirkungen auf den (C) Gewerbe- und Grundsteuer befreit. Mietwohnungssektor, der bekanntlich in Deutschland in- ternational betrachtet weit größeres Gewicht hat, ganz Es geht also um nichts anderes als eine Neuauflage abgesehen von dem deutlich schwächeren Mietrecht bei der berühmt-berüchtigten steuerfreien Veräußerung von Wegfall der Gemeinnützigkeit: Ich frage Sie: Wollen Sie Kapital. Sie von der großen Koalition sind dabei, den ge- tatsächlich mit Hilfe der REITS diesen Sektor den radezu tragischen Fehler der rot-grünen Bundesregie- Pensionsfonds und insbesondere des US-Pensionsfonds rung aus dem Jahr 2000 zu wiederholen, der zu gewalti- übereignen? Ich zitierte Norbert Blüm: Von gen Ausfällen bei der Körperschaftsteuer geführt hat. Das ist der Kern das Ganzen. 112 000 Pensionskassen in den USA existieren heute noch 32 000! Sie kennen die Probleme mit den Pen- Die SPD-Linke hat völlig recht: REITs wären – Zitat – sionsfonds bei GM, Ford usw. Wir sollten uns in diesem „eine Rolle rückwärts in der Steuerpolitik der Großen Hause genauer mit den Risiken auf dem internationalen Koalition“. Die Rolle rückwärts ist nur viel dramati- Finanzmärkten beschäftigten, denen die Wohnungs- scher. Ich finde es bedauerlich, dass dieser Punkt in der märkte mit REITs ausgeliefert würden. Diskussion leider auch in dem Papier der SPD-Linken, nur am Rande angesprochen wird. Sechstens. Vergessen Sie bitte nicht die weltweit deutlich gestiegenen Gefahren von Immobilienblasen, Für die FDP gibt es überhaupt keine Steuerausfallrisi- deren Konsequenzen bei einer massiven Einführung von ken. Voraussetzung sei die Übernahme der Regelungen REITs überhaupt nicht geklärt sind. anderer Länder, heißt es im Antrag. Dass in Frankreich die mit der REITs-Einführung eingetretenen Steuermin- dereinahmen ein Problem waren, nehmen Sie einfach nicht zur Kenntnis. Die Union hofft einfach nur, dass es Anlage 23 keine geben wird. Zu Protokoll gegebene Reden Aber die SPD und der Bundesfinanzminister sollten eigentlich gebranntes Kind sein. Erinnern Sie sich nicht zur Beratung der Beschlussempfehlung und des mehr an Ihre katastrophalen Fehlprognosen bezüglich zu Berichts: Stadtentwicklung ist moderne Struk- erwartenden Steuermindereinnahmen aus dem Jahr tur- und Wirtschaftspolitik (Tagesordnungs- 2000? Wollen Sie wirklich den Menschen im Lande klar punkt 22) machen, der Allianz erneut ein Steuergeschenk in Mil- liardenhöhe zu machen und zugleich den Menschen er- Peter Götz (CDU/CSU): Stadtentwicklung ist ein (B) neut bei den Ausgaben für Gesundheit und bei den So- dynamischer Prozess. Der wirtschaftliche und demogra- (D) zialleistungen in die Tasche zu greifen? Ich kann es noch fische Wandel, aber auch Wanderungsbewegungen stell- nicht glauben, dass nach all den bereits durchgesetzten ten die Städte schon immer vor neue Herausforderungen – Zumutungen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra- in Ost und West, in Nord und Süd. Wie wir unsere Städte ten so etwas noch mitmachen können! planen und organisieren, ist für die Lebensqualität vieler Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie bei diesem Menschen entscheidend. Innovation, Wachstum und Be- Problem etwas mehr Gehirnschmalz verwenden würden, schäftigung sind der Motor für die Entwicklung unserer damit wir im Ausschuss eine Diskussion mit hinreichen- Städte und Ballungsräume. Mit ihrer Wirtschaftskraft dem Sachverstand führen können. – aber auch mit ihrem kulturellen Angebot – strahlen die Städte auf den sie umgebenden ländlichen Raum aus. Ich will zum Schluss nicht versäumen, ganz kurz wei- Um diese für die Standortqualität und die Wettbewerbs- tere Risiken aufzählen: position Deutschlands wichtige Funktion zu stärken, hat Erstens. Sie können und dürfen es nicht zulassen, dass sich das Leitbild einer nachhaltigen Stadt durchgesetzt. mit REITS faktisch ein in meinen Augen nicht zulässi- Es verfolgt das Ziel, innovative, flexible und ausgewo- ges Sonderrecht für Kapitalgesellschaften im Woh- gene Lösungen für die wirtschaftlichen, sozialen und nungssektor geschaffen wird. Der Grundsatz des BMF umweltbezogenen Herausforderungen zu schaffen. Die- der rechtsformneutralen Unternehmensteuerreform wird ser Dreiklang der lokalen Agenda 21, den die Vereinten mit REITs unterlaufen. Nationen global unterstützen, und die vor zehn Jahren auf dem Weltstädtegipfel der Vereinten Nationen verab- Zweitens. Die Befreiung von Gewerbe- und Grund- schiedete Habitat-Agenda helfen, einseitige negative steuer führt zu Mindereinnahmen bei den Kommunen. Entwicklungen und Monostrukturen zu vermeiden. Drittens. Die SPD-Linke hat völlig recht: „Die Stand- Um auf Dauer eine gute Infrastruktur und ein qualitati- ortbindung deutscher Unternehmen würde gelockert.“ ves Wohnumfeld vorhalten zu können, brauchen wir Trotz aller Kniefälle der deutschen Steuergesetzgebung: starke Kommunen. Wir brauchen Städte und Gemeinden, REITs würden ihren Firmensitz – wie schon jetzt die die eigenverantwortlich im Rahmen ihrer Planungshoheit Hedgefonds – natürlich vornehmlich in Steueroasen le- und Finanzautonomie ihre Aufgaben wahrnehmen. Ich gen. hoffe, dass es gelingt, im Rahmen der anstehenden Un- Viertens. Die Steuerflucht schaffen Sie auch nicht mit ternehmensteuerreform die davon betroffenen Kommu- der Höchstbeteiligungsgrenze von 10 Prozent nach dem nalfinanzen nachhaltig auf eine stabile und solide Basis britischen Muster aus der Welt, Sie begrenzen Sie nur. zu stellen. 4188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Auch die Föderalismusreform wird die kommunale stellt zunehmend die soziale Integration dar, insbeson- (C) Selbstverwaltung deutlich stärken. Die vielen kommuna- dere dann, wenn sich soziale Problemlagen in einzelnen len Amts- und Mandatsträger erhalten durch diese Re- Stadtquartieren durch einen hohen Migrantenanteil oder form eine noch größere Eigenverantwortung. Zusammen einen hohen Anteil an Langzeitarbeitslose und jugendli- mit bürgerschaftlichen Initiativen und regionalen Unter- chen Arbeitslosen konzentrieren. Außerdem muss die nehmen sind sie die wichtigen Akteure einer Stadt. soziale Eingliederung von benachteiligten Personen so- wie Schulabbrechern oder Schulverweigerern durch ge- Wenn Bundespräsident Köhler beim Festakt aus An- zielte Maßnahmen gefördert werden, um deren Chancen lass des hundertjährigen Bestehens des Deutschen Städ- tetages vor einem Jahr in Berlin unter anderem sagte, auf Beschäftigung zu erhöhen. Das aus Mitteln des – ich zitiere –: „Und ich wünsche mir auch, dass in ihren Europäischen Sozialfonds, ESF, finanzierte Programm Parteien die Kommunalpolitiker ihre Stimme noch viel „Lokales Kapital für soziale Zwecke“ (LOS) hat sich da- stärker zur Geltung bringen“, so macht dies sehr deut- bei besonders bewährt. Wir wollen, dass das künftige lich, dass Politik für und nicht gegen Kommunen ein ESF-Bundesprogramm dort anknüpft und den Erforder- starkes Glied in der Kette vieler notwendiger Entschei- nissen einer nachhaltigen europäischen Stadtentwick- dungen ist. Deshalb ist es auch richtig, dass Bund, Län- lung durch eine eigene Handlungspriorität im Programm der und Gemeinden gemeinsam auf der Grundlage des Rechnung trägt. Damit realisieren wir auch das Vorha- Subsidiaritätsprinzips wichtige Stadtentwicklungspro- ben der Koalition, den ressortübergreifenden Ansatz des jekte fördern. Die Bund-Länder-Programme zur Städte- Programms „Soziale Stadt“ zu stärken. bauförderung helfen den Kommunen zurzeit, in über 1 700 Stadtquartieren dringende Investitionen in die In- Abschließend habe ich eine Bitte an die Bundesregie- frastruktur und die Modernisierung der Gebäude in Gang rung. Ich bitte Sie, die deutsche Ratspräsidentschaft in zu bringen. Städte, die in besonderem Maße von wirt- der Europäischen Union im nächsten Jahr zu nutzen, um schaftlichem Strukturwandel, von Arbeitslosigkeit, das Thema Stadt als wichtiges Zukunftsthema national, Wohnungsleerstand, Zu- oder Abwanderung betroffen aber auch international prioritär auf die politische sind, können so stabilisiert und aktiviert werden. Agenda zu setzen. Die in Deutschland entwickelten Lö- sungen für eine nachhaltige, integrierte Stadtentwick- Auch die Europäische Union tritt für eine Entwick- lung können dazu ein guter Beitrag sein. Die Auseinan- lung integrierter Konzepte einer nachhaltigen Stadtent- dersetzung mit der Entwicklung unserer Städte, ihren wicklung ein, damit die Städte ihren Beitrag zu Wachs- großen Problemen, aber auch mit den dort liegenden tum und Beschäftigung leisten können. Deshalb greift Potenzialen lohnt sich: Deutschland mit seinen Städten unser Antrag die mit der neuen EU-Förderperiode 2007 und Regionen hat viel zu bieten. Die Erwartungshaltung (B) bis 2013 geschaffene Möglichkeit der Städtebauförde- vieler Länder an uns ist sehr hoch. Wir sollten unser (D) rung mit EU-Strukturfondsmittel ab 2007 auf. Die städti- Licht nicht unter den Scheffel stellen und dieser Erwar- sche Dimension zu stärken, ist der richtige Ansatz. Be- tung gerecht werden. sonders wichtig ist uns dabei die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips. Petra Weis (SPD): Dass der Antrag „Stadtentwick- Ziel muss sein, durch integrierte und partnerschaftli- lung ist moderne Struktur- und Wirtschaftspolitik“ erst che Prozesse die Attraktivität der Städte zu verbessern zu so später Stunde behandelt wird, hat hoffentlich nicht und dabei Innovationen, unternehmerische Initiativen zur Folge, dass die Bedeutung des Themas für die wirt- und die Wirtschaft zu unterstützen, um so mehr und bes- schaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in unseren sere Arbeitsplätze entstehen zu lassen. Die Länder soll- Städten in den kommenden Jahren – und Jahrzehnten – ten diese Ziele bei der Ausgestaltung ihrer Förderpro- gering geschätzt wird. Das Gegenteil ist nämlich der gramme in breitem Umfang berücksichtigen. Die Fall: Die Stadtentwicklungspolitik, die seit dem Ende Stadtentwicklung als Querschnittsaufgabe zu profilieren der neunziger Jahre neu und zukunftsweisend zugleich bietet die Chance, bisher unabhängig voneinander ange- ausgerichtet worden ist, erhält im Zeichen der wirt- wandte Förderstrategien besser miteinander zu verzah- schaftlichen, sozialen und technologischen Entwicklung nen. Unabhängig vom Förderaspekt können wir die – ich könnte statt Entwicklung auch Wettbewerb, besser Innenentwicklung der Städte und Gemeinden auch da- durch stärken, dass wir das Bau- und Planungsrecht wei- noch Standortwettbewerb sagen – eine weitergehende ter vereinfachen und beschleunigen. Das hat sich die Ko- Qualität. alition vorgenommen und das wird sie auch realisieren. Mit dem Leitbild der nachhaltigen Stadtentwicklung Flächenpotenziale sind durch Wiedernutzung und Nach- und dem Ziel der Erarbeitung und Umsetzung innovati- verdichtung besser auszuschöpfen. Die Nutzung von ver und flexibler Lösungen für vielschichtige ökonomi- Industrie-, Bahn- oder Konversionsbrachen ist anstren- sche, soziale und ökologische Problemlagen erfüllt die gender als das Bauen auf der grünen Wiese. Aus ökolo- deutsche Politik zur Stadtentwicklung einen herausra- gischen und ökonomischen Gründen ist dies trotz der genden Beitrag im Rahmen der Lissabonstrategie. Ob größeren Anstrengung langfristig der bessere Weg. Wir sollten alle verstärkt darauf hinwirken. unsere Städte und Regionen für Investitionen und damit für Arbeitsplätze attraktiv sind, darüber entscheiden Lassen Sie mich ein weiteres Thema ansprechen, das auch die Wachstumspotenziale in unseren Städten und mit diesem Antrag verdeutlicht werden soll. Eine der der politische Wille, diese Potenziale zur Entfaltung zu wichtigsten Säulen der nachhaltigen Stadtentwicklung bringen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4189

(A) Mit diesem Profil liegt die Politik der Bundesregie- Ein wesentliches Ziel der Politik der Bundesregierung (C) rung ganz auf der Linie der Europäischen Union, die in- ist es, Stadtentwicklungspolitik national wie europäisch tegrierte Konzepte nachhaltiger Stadtentwicklungspoli- als ressortübergreifende Querschnittsaufgabe zu be- tik unterstützt und einfordert. Sie liegt auch ganz auf der schreiben und zu betreiben. In den Stadtquartieren mani- Linie der strategischen Ausrichtung der Europäischen festieren sich die vielfältigen Problemlagen für die Be- Kommission, die die Stärkung der städtischen Dimen- troffenen zuerst, aber hier werden die Erfolge der sion im Rahmen der Kohäsionspolitik und der Struktur- Politik, die ohne ein entsprechendes bürgerschaftliches fonds in der nächsten Förderperiode von 2007 bis 2013 Engagement nicht denkbar und vor allem nicht nachhal- auf ihrer Agenda ganz weit oben platziert hat. tig wären, auch zuerst erkennbar und erlebbar. Die im Rahmen des Europäischen Fonds für regionale Bund, Länder und Kommunen sind also gemeinsam Entwicklung vorgesehenen Fördermöglichkeiten sind aufgefordert, nachhaltige Konzepte zur Stadtentwick- dazu geeignet, von den Bundesländern im Zuge der Er- lung zu entwickeln und engagiert und konsequent umzu- arbeitung ihrer operationellen Programme im Rahmen setzen. Das weist der städtebauliche Bericht der Bundes- der Förderpolitik in den Städten offensiv und intensiv regierung aus dem Jahr 2004 unübersehbar aus. Es war genutzt zu werden. Die deutsche Ratspräsidentschaft im daher auch eine Motivation für diesen Antrag der Koali- tionsfraktionen, den Gemeinschaftscharakter, der ideal- kommenden Jahr muss und wird also auch dazu dienen, wie realtypisch stets durch einen „gemeinschaftlichen die Impulse nach und von Europa gegenseitig zu verstär- Geist“ ergänzt werden sollte, gerade auch in seiner ken. Struktur- und gesellschaftspolitischen Relevanz noch Daneben müssen wir uns in der Fortentwicklung un- einmal deutlich herauszustellen. serer Politik auf die Bewältigung der Herausforderungen Die Städtebauförderung bleibt auch nach der Verab- konzentrieren, denen sich die Städte im Zuge des demo- schiedung der Föderalismusreform eine gesamtstaatliche grafischen Wandels ausgesetzt sehen. Es hat nichts mit Aufgabe. Das ist ausgesprochen gut so. Attraktive In- Schwarzmalerei zu tun, wenn wir zur Kenntnis nehmen, nenstädte als Anziehungspunkt für Menschen aus allen dass Strukturwandel und Veränderung der Bevölke- Generationen, eine stadtverträgliche Mobilität im Zei- rungsstruktur in den Städten dazu führen, dass sich Pro- chen notwendiger Ressourceneffizienz, Stärkung der blemlagen der modernen Gesellschaft in den Städten und zentralen Versorgungsbereiche, Stärkung neuer Formen hier insbesondere in bestimmten Quartieren konzentrie- der Selbstorganisation wie Business Improvement Dis- ren. Die wohlbekannten Stichworte lauten brachliegende tricts, Housing Improvements Districts und Immobilien- Flächen, Wohnungsleerstand, wirtschaftliche und soziale und Standortgemeinschaften, Verbesserung von Be- Benachteiligung, unzureichende Integration von Mig- schäftigungsmöglichkeiten auch durch Stärkung der lo- (B) (D) rantinnen und Migranten, um nur einige zu nennen. kalen Ökonomie – unter Einbeziehung der Migranten- ökonomie, deren Potenzial übrigens noch lange nicht Die Städte müssen in diesem schwierigen und gewiss ausgeschöpft ist: All das wird nur gelingen, wenn die be- langwierigen, aber durchaus chancenreichen Prozess ge- teiligten Ebenen zielgerichtet und effizient zusammenar- zielt unterstützt werden, bei der Anpassung der techni- beiten. Stadtentwicklung ist in diesem Sinne voraus- schen und sozialen Infrastruktur, bei der Attraktivierung schauende und präventive Gesellschaftspolitik und nicht von Quartieren für junge Familien und ältere Menschen allein Reparaturbetrieb für ökonomische, soziale und gleichermaßen, beim Ansiedeln neuer Unternehmen, bei kulturelle Verwerfungen. der Nutzung von Brachflächen – auch als Beitrag zur Reduzierung des Flächenverbrauchs – und bei vielem Die bisher erzielten Erfolge sind beispielgebend auch anderen mehr. für vergleichbare Regionen in Europa. Daher gehen wir mit Gewissheit davon aus, dass die Bundesregierung die Ein besonderes Augenmerk muss in den kommenden deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr des Jahren auf die soziale Integration auch von Migrantinnen kommenden Jahres dazu nutzt, unter Einbeziehung der und Migranten gelegt werden. Das sage ich nicht nur, Habitat-Agenda die bei uns entwickelten Lösungsan- aber auch im Vorfeld des für den 14. Juli geplanten Inte- sätze für eine nachhaltige und integrative Stadtentwick- grationsgipfels im Kanzleramt. Dass Stadtentwicklung lung als Beitrag für die Lissabonstrategie in die Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Integration leistet, ist unbe- der Europäischen Union einzubringen. stritten. Ebenso unbestritten ist die Notwendigkeit der Im Mai des nächsten Jahres werden die zuständigen stärkeren interdisziplinären Zusammenarbeit auf diesem Ministerinnen und Minister im Rahmen der deutschen Feld. Ratspräsidentschaft in Leipzig tagen. Geplant ist eine Deshalb ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass Leipzigcharta zur nachhaltigen europäischen Stadt als die Aufstockung der Mittel für das Programm „Soziale Beitrag zur Lissabonstrategie. Im Rahmen der zu erwar- Stadt“ um 40 Millionen auf 110 Millionen Euro ein tenden Beratungen werden die Forderungen unseres An- trags hoffentlich eine Rolle spielen, wenn nicht gar ebenso bedeutendes Zeichen ist wie die Möglichkeit, die schon Früchte tragen. Mittel zukünftig auch für Zwecke verwenden zu können, die sich auf die Stärkung der Kompetenzen der Betroffe- Das Thema wird uns also so oder so erhalten bleiben. nen in den Bereichen Bildung und Sprachförderung, Ich freue mich auf die kommenden Debatten im nationa- aber natürlich auch in den Bereichen Ausbildung und len und europäischen Rahmen und hoffe auf eine mög- Beschäftigung richten. lichst breite Zustimmung zu unserem Antrag. 4190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Patrick Döring (FDP): In einem bin ich mit den Ab- erhöhen. Dafür gilt es, die vorhandenen Ressourcen (C) geordneten der Koalition vollkommen einig: Die Ent- sinnvoll und kreativ einzusetzen. Aus dem Abrisspro- wicklung unserer Städte, vor allem die rechtzeitige Re- gramm Ost muss tatsächlich ein Umbauprogramm wer- aktion auf die demografische Entwicklung, ist eine den! Zum jetzigen Zeitpunkt aber werden über 60 Pro- wichtige Zukunftsaufgabe. Vielleicht eine der wichtigs- zent der Mittel nur in den so genannten Rückbau ten. investiert. Hier ist es an der Zeit, umzusteuern. Denn um unsere Städte auf die Herausforderungen der Zukunft Denn Städte sind seit jeher Zentren der Entwicklung vorzubereiten – eine alternde Bevölkerung, Integrations- unserer Gesellschaft – wirtschaftlich, sozial, wissen- herausforderungen und eine wachsende Vielfalt der Le- schaftlich und technologisch. Zugleich konzentrieren bensentwürfe – müssen wir jetzt handeln. sich in Städten und Metropolregionen auch die Probleme unserer Gesellschaft. Arbeitslosigkeit, Migration, demo- Und auch in den westdeutschen Städten müssen wir grafischer Wandel – in unseren Städten sind das keine wieder nachhaltig die Bedeutung einer gesunden Zentra- Schlagworte, das ist die Wirklichkeit. Hier entscheidet lität in den Fokus unserer politischen Instrumente rü- sich tagtäglich, in was für einer Gesellschaft wir in Zu- cken – einkaufen, arbeiten, wohnen und leben sollen die kunft leben werden. Bürger auch wieder im Zentrum der Städte. Eine liberale und demokratische Gesellschaft ist in Die lebens- und liebenswerte Stadt werden wir ge- Gefahr, wenn ich einmal kurz grundsätzlich werden darf, meinsam politisch nicht per Beschluss schaffen können. wenn zwischen gesellschaftlichen Gruppen Grenzen ge- Aber die europäischen und bundespolitischen Instru- zogen werden. Das gilt für die Entwicklung unserer mente müssen den Kommunalpolitikern und Handeln- Städte im wahrsten Sinne des Wortes: Die Meldungen den in unseren Städten helfen, die bestehenden und auf- dieser Tage aus Neukölln und Kreuzberg führen uns nur kommenden Probleme zu lösen. zu deutlich vor Augen, wohin Aus- und Abgrenzung Die Entwicklung unserer Städte ist eben eine Heraus- führt. Wo die Hoffnung stirbt, da stirbt auch die demo- forderung, die sich nicht mit ein paar kleinen Drehungen kratische Kultur – da fliegen bald nicht mehr die Worte an zwei oder drei Stellschrauben bewältigen lässt. Das in einer hitzigen Debatte, sondern Molotowcocktails. ganze System muss überprüft und neu gedacht werden. Schauen Sie nur nach Frankreich! Vor diesem Hintergrund wird der Antrag der Regie- Das Thema Stadtentwicklung gehört daher in seiner rungsfraktionen wohl wenig schaden – die Forderungen ganzen Breite auf die politische Agenda. Wirtschafts-, sind für sich genommen zumeist vollkommen richtig. Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, Bildung und For- Doch Neues bewirken wird man mit diesem Papier ohne schung, Raumplanung, soziale Einrichtungen – um nur Mut und Visionen ebenso wenig. (B) (D) einige zentrale Aspekte zu nennen. Ich biete für die FDP-Fraktion an, dass wir gemein- In dieser Hinsicht geht die Koalition mit diesem An- sam die Schwerpunkte der weiteren Stadtentwicklungs- trag einen ersten Schritt eines langen Weges. Ich befür- politik festlegen, wir rechtzeitig mit dem Bundesminis- worte viele der einzelnen Forderungen, die von den ge- ter die Schwerpunkte der Ratspräsidentschaft zu diesem schätzten Kollegen Götz und Weis erhoben werden. wichtigen europäischen Thema definieren und überle- Doch ich vermisse den Mut und die Entschlossenheit, gen, unter welchen Bedingungen wir weitere und neue der Regierung mit einem integrierten und nachhaltigen Fördermittel einsetzen. Gesamtkonzept entschieden die richtige Richtung zu Der erste Bundespräsident Theodor Heuss hat einmal weisen. Zum Teil nehmen Sie hier bloß bekannte Vorha- gesagt: „Ohne Städte ist kein Staat zu machen“. In die- ben des Ministers vorweg. Wo klare Vorgaben gefragt sem Sinne können wir diesem Antrag unsere Unterstüt- wären, etwa zur Bedeutung bereichsübergreifender Kon- zung gewähren. zepte, da scheuen Sie die Festlegung. Um die Zukunft unserer Städte zu sichern, braucht es Heidrun Bluhm (Die LINKE): Stadtentwicklung ist jedoch mehr als punktuelle Maßnahmen; es braucht ein ein permanenter Prozess. Städte befinden sich ständig im integriertes Konzept, das die verschiedenen politischen Wandel. Der demografische Wandel und der damit ein- und thematischen Ebenen verknüpft. Insbesondere darf hergehende Strukturwandel kamen nicht über Nacht. Stadtentwicklung nicht isoliert, sondern muss auch im Dass der Koloss der großen Koalition in einem Akt der regionalen und überregionalen Zusammenhang betrach- Selbstmotivation nunmehr der Stadtentwicklung als mo- tet werden. Um zu einer ausgewogenen Entwicklung zu derner Struktur- und Wirtschaftspolitik seine Aufmerk- kommen, braucht es strategische Allianzen von Stadt samkeit schenkt, ist also längst überfällig. Die Forderun- und Region und eine Vernetzung der Städte untereinan- gen an die Bundesregierung im Antrag enthalten dabei der. So aktivieren wir die Potenziale der Städte und des keine Neuigkeiten, sondern empfehlen lediglich, zur Umlandes. Ohne die regionale Einbettung der Stadtent- Kenntnis zu nehmen, was seit Jahren auf diesem Gebiet wicklung ist diese Politik unvollständig, ja womöglich im Angebot ist. Die Politik der Bundesregierung wirft schädlich. allerdings auch Fragen nach den Erfolgschancen der im vorliegenden Antrag formulierten Ziele auf. Durch den Stadtumbau Ost konnte der ostdeutsche Wohnungsmarkt wieder stabilisiert werden. Aber Stabi- In ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, lisierung ist nur das eine: Um eine positive Dynamik in innovative Modellvorhaben für den familien- und alten- Gang zu setzen, müssen wir die Attraktivität der Zentren gerechten Umbau von Stadtquartieren und städtischer Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4191

(A) Infrastruktur zu entwickeln, die zentralen Versorgungs- hen und das Kind sprichwörtlich schon in den Brunnen (C) bereiche der Städte und Gemeinden im Interesse einer gefallen ist. verbrauchernahen Versorgung der Bevölkerung zu stär- ken und die Träger der technischen und sozialen Infra- Das Bund-Länder-Programm Soziale Stadt konnte die struktur in die Erstellung städtebaulicher Stadtentwick- schwierigen Verhältnisse in den sozialen Brennpunkten lungskonzepte einzubinden. Alles richtig. der Städte bisher nicht nachhaltig verändern. Die Förder- programme zur Linderung von Fehlentwicklungen Ihrer Aber mit wem wollen Sie diese Aufgaben lösen? Eine bisherigen Integrationspolitik wie zum Beispiel „Loka- Ihrer Kernaussagen im Antrag bezieht sich auf die Auf- les Kapital für soziale Zwecke“ aus dem Europäischen gaben und die hohe Verantwortung der kommunalen Sozialfond sind wichtig, eignen sich aber nur für Repa- Amts- und Mandatsträger. Diese Sicht teilen wir. Dann raturmaßnahmen. Soziale Probleme haben ihre Ursache müssen allerdings auch die politischen Konsequenzen aber in den gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese gilt klar sein. Und dieser Ansatz fehlt sowohl im Antrag als es zu beleuchten! auch in Ihrer bisherigen Politik. Die kommunalen Amts- Einen dritten Punkt möchte ich benennen: Der Antrag und Mandatsträger brauchen eine finanzielle Grundlage, ist in seiner Zielsetzung zu sehr auf die Stadt fixiert. Der um die ihnen zugedachte Verantwortung wahrnehmen zu ländliche Raum wird kaum tangiert. Die Städte als Zen- können. Tatsächlich sind aber heute viele Kommunen tren der Regionen werden zu wenig behandelt. Allein wegen fehlender Haushaltsmittel nicht mehr in der Lage, darauf zu setzen, dass die Städte mit ihrer Wirtschafts- Fördermittel wegen des fehlenden Eigenanteils abzuru- kraft auf den sie umgebenden ländlichen Raum ausstrah- fen oder integrierte Stadtentwicklungskonzepte zu finan- len werden, reicht nicht aus. Da in dieser Frage offenbar zieren. Auch deshalb fordern wir an dieser Stelle erneut Clusterpolitik betrieben wird, müssen Sie sich fragen die Einführung einer kommunalen Investitionspau- lassen, wann Sie sich dem ländlichen Raum mit einer schale. ähnlichen Initiative widmen wollen. Wir sind sehr ge- Die kommunalen Amts- und Mandatsträger sollen spannt. den Prozess des Strukturwandels steuern. Mit der Mit der Lissabon-Strategie will die EU im Rahmen scheinbar zwanghaften Privatisierung kommunalen Ei- des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung ein gentums entziehen sie sich dafür selbst die Handlungs- Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologi- grundlage. Der Wandel der Eigentumsformen und die schen Fortschritt in der Welt sein. Wir stimmen dem An- damit eng in Zusammenhang stehende Diskussion um trag zu, um sie genau daran zu messen. die öffentliche Daseinsvorsorge geraten hier in einen schwer auflösbaren Widerspruch. Der Bund selbst geht Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich in dieser Frage sogar mit schlechtem Beispiel voran und (B) freue mich durchaus, dass die Koalition und insbeson- (D) verkauft seine Wohnungsbestände meistbietend, egal an dere die CDU/CSU einen Antrag vorgelegt hat, der sich wen. Eine ehemals kommunale Wohnungsgesellschaft, für die Förderung der Städte ausspricht und nicht mehr die gerade an einen transatlantischen REIT verkauft nur für das Eigenheim auf der grünen Wiese! Nach jah- wurde, wird mit Sicherheit nicht ernsthaft darüber nach- relangem Streit um die Eigenheimzulage, der ja glückli- denken, die Bestände im Rahmen des Stadtumbaupro- cherweise der Vergangenheit angehört, hat die CDU/ gramms zurückzubauen, sondern wird nach reinen Kapi- CSU endlich akzeptiert, dass Finanzmittel für die Stadt- talverwertungskriterien mit ihrem Bestand verfahren. entwicklung sinnvolle Investitionen mit einem hohen Großen Handlungsbedarf gibt es nach wie vor in Ost- Multiplikatoreffekt sind. deutschland – als Beispiel nenne ich die Altschulden- Die Stadtentwicklung ist ein wichtiger Motor für die hilfe. Standortentwicklung und damit für die Wirtschaft vor CDU, CSU und FDP, haben die ostdeutschen Woh- Ort. Bündnis 90/Die Grünen haben sich lange dafür ein- nungsunternehmen durch ihre Politik Anfang der 90er- gesetzt, dass die frei werdenden Mittel aus der Eigen- Jahre mit fiktiven Altschulden belastet, um sie anschlie- heimzulage zu einem Teil in die Stadtentwicklung flie- ßend mit teuren Förderprogrammen wieder zu sanieren. ßen sollten. Diese Chance wurde zwar von der großen Deshalb wiederholen wir regelmäßig unsere Forderung: Koalition leider vertan, aber immerhin wurden die Städ- Retten Sie die ostdeutschen Wohnungsunternehmen! tebaufördermittel nicht reduziert. Streichen Sie den Wohnungsunternehmen die Altschul- Bei der Stadtentwicklung gibt es eigentlich keinen be- den! Mindestens diese Forderung gehört in Ihren Antrag. deutenden Dissens zwischen der großen Koalition und Bündnis 90/Die Grünen. Der Antrag der großen Koali- Meine Damen und Herren Großkoalitionäre, ich tion zielt auf das Leitbild einer nachhaltigen Stadtent- stimme Ihnen zu, dass die soziale Integration eine der wicklung. Dafür stehen wir selbstverständlich auch ein. wichtigsten Säulen einer nachhaltigen Stadtentwick- lungspolitik ist. Das Problem ist nur, dass soziale Inte- Ich begrüße ausdrücklich den gelungenen Antragsteil gration diesen Stellenwert in Ihrer Politik gar nicht hat. bezüglich der Förderung der Städte. Er spricht ganz we- Wir sagen: Integration muss am Anfang stehen. In sentliche Punkte an und macht sinnvolle Vorschläge. Deutschland steht sie am Ende der Handlungskette. In Aber er geht uns insgesamt noch nicht weit genug. Wir Deutschland begreift man Integration allzu oft als ein unterstützen die Forderung, dass im Rahmen der deut- notweniges Übel, dem man sich erst widmen muss, schen EU-Ratspräsidentschaft 2007 die in Deutschland wenn die Probleme in den Städten nicht mehr zu überse- entwickelten Lösungen für eine nachhaltige, integrative 4192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Stadtentwicklung einzubringen seien. Ebenso unterstüt- tergrund des demografischen Wandels – kommt zu kurz (C) zen wir die Erprobung von Modellen, in denen arbeits- bzw. fehlt ganz. marktpolitische Leistungen in Entwicklungsstrategien für Stadtquartiere integriert werden können. Und zu dem kürzlich vorgelegten Gesetzentwurf zur „Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenent- Wir fordern jedoch, dass neue Konzepte zur stadtver- wicklung der Städte“ sei nur gesagt, dass damit ein wei- träglichen Mobilität entwickelt werden müssen. Hier teres Instrument geschaffen werden soll, mit dem die wird von Ihnen eines der urgrünen Themen aufgegriffen. Bürger aus der Planung herausgehalten und in ihren Mit- Und es besteht ganz konkreter Handlungsbedarf, zum wirkungsrechten eingeschränkt werden sollen. Und dann Beispiel was die Feinstaubproblematik in den Städten schlägt der Gesetzentwurf auch noch eine Aussetzung anbelangt. Hier bieten wir Ihnen unsere Zusammenarbeit der Umweltprüfung vor. Sie schwächen damit zwei der gerne an. wichtigsten Punkte, mit denen die Innenstädte gestärkt werden können: erstens aktive Stadtbürger, die durch ihr Das Ziel, die Lebensqualität in den großen Städten zu Engagement die Potenziale der Städte steigern, zweitens verbessern, kommt uns aber zu kurz. Es fehlen Konzepte ein gesundes Umfeld, das das Lebensumfeld der Stadt- für eine kinderfreundliche und gesunde und umweltbe- bewohner nachhaltig verbessert. wusste Stadtentwicklung. Ihr Antrag geht durchaus in die richtige Richtung, Auch muss das Thema CO -Reduzierung eine wichti- 2 aber es fehlen jedoch noch wichtige Punkte. Darüber gere Rolle einnehmen. Deshalb möchte ich meinen Un- werden wir auch in Zukunft zu diskutieren haben. mut darüber kundtun, dass zu Beginn des Jahres zwar die Mittel für die KfW-CO2-Programme erheblich aufge- stockt wurden, aber seit dieser Zeit die Konditionen und Anlage 24 Anforderungen erheblich verschlechtert wurden. Das ist nicht nur kurzatmige Politik, sondern beinahe schon un- Zu Protokoll gegebene Reden seriös und zudem kurzsichtig. Die Umweltbelastungen in zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset- unseren Städten sind erheblich, die CO2-Reduzierung wäre ein wichtiger Schritt zur Verbesserung des Klimas. zes zur Änderung des Bundesnaturschutzgeset- Die hohe Nachfrage nach den Programmen zeigt doch, zes (Urwaldschutzgesetz) (Tagesordnungs- dass dadurch eine positive Entwicklung in Gang gesetzt punkt 21) werden konnte, die es nachhaltig zu unterstützen gilt. In den nächsten Jahren muss ein großer Teil der Immmobi- Bernward Müller (Gera) (CDU/CSU): Ich freue lien modernisiert werden. Daher wäre es sinnvoll, dass mich über Ihren Gesetzentwurf. Dieser Entwurf des so (B) dann gleichzeitig auch eine energetische Gebäudesanie- genannten Urwaldschutzgesetzes ist ja – das dürfte hier (D) rung durchgeführt wird. Sie verlangt Fachkompetenz und im Plenum allgemein bekannt sein – nicht neu. Daher ist sichert dadurch qualifizierte Arbeitsplätze gerade bei es nicht der Gesetzentwurf an sich, der mich freut – die klein- und mittelständischen Unternehmen. Ich fordere CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt ihn wie schon in daher die große Koalition auf, die Mittel für die CO2-Pro- der letzten Legislaturperiode ab. Ich bin froh, dass wir gramme gegebenenfalls noch weiter aufzustocken. heute im Parlament Gelegenheit haben, uns mit einem sehr wichtigen Thema zu beschäftigen: dem Schutz der Und da wir schon beim Thema Energie sind, kann ich Wälder und Urwälder. es mir nicht verkneifen, noch ein paar Worte über den Energieausweis zu verlieren. Ja, wann kommt er denn Urwälder sind komplexe Ökosysteme und wertvolle endlich, der große Entwurf zur EnEV 2006? Im April Naturressourcen der Erde. Sie beeinflussen das Klima haben die Minister Tiefensee und Glos das Optionsrecht, und den Wasserhaushalt und sind wesentliche Kohlen- also die freie Wahl zwischen Verbrauchs- und Bedarfs- stoffspeicher. Zwischen 50 und 90 Prozent aller weltweit ausweis, als ein tolles Ergebnis verkündet. Letzten Mo- existierenden Arten sind Schätzungen zufolge alleine in nat hat sich jedoch Minister Gabriel mit einer Absage an den Gebieten der tropischen Feucht- bzw. Regenwälder den Verbrauchsausweis zu Wort gemeldet. Gerade vor beheimatet. Jährlich werden allein in den Tropen 15 Mil- dem Hintergrund der energetischen Gebäudesanierung lionen Hektar Wald abgeholzt. Dies entspricht einer Flä- ist die vorgeschlagene einseitige Empfehlung aus- che von der Gesamtgröße Bayerns, Baden-Württem- schließlich auf der Grundlage des Verbauchsausweises bergs und Niedersachsens oder halb Italiens! Neben den nicht zu verantworten. Ich hoffe, dass der Entwurf zur verheerenden Auswirkungen der weltweiten Brandro- EnEV 2006 bald vorgelegt wird und wir endlich in einen dungen gehen allein etwa 7,2 Millionen Hektar durch Diskussionsprozess eintreten können. Holzeinschlag verloren. Zu guter Letzt nochmals zurück zu dem vorliegenden Wissenschaftliche Prognosen zeigen, dass ohne eine Antrag. Auch in Bezug auf den demografischen Wandel deutliche Trendwende sämtliche tropischen Feuchtwäl- geht uns der Antrag nicht weit genug. Es müssen neue der in den nächsten 50 bis 100 Jahren von der Erde ver- Strategien zur nachhaltigen Raumentwicklung entwi- schwunden sein werden – und mit ihnen eine bislang un- ckelt werden und die Stadtumbauprogramme müssen da- erforschte Vielzahl an Tieren und Pflanzen. Aber auch her schon jetzt weiterentwickelt werden. Dazu gehört, für die Menschen, die in und mit den Urwäldern leben, dass Konzepte zur besseren Integration in den Städten sind die Folgen der Waldvernichtung verheerend. Trotz- vorangetrieben werden. Auch das Thema „Reduzierung dem setzt sich der Waldverlust nahezu ungebremst fort. des Flächenverbrauchs“ – auch und gerade vor dem Hin- Eine wesentliche Ursache ist der illegale Holzeinschlag. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4193

(A) Ein wesentlicher Anteil der Einschläge und die an- hätte auch Holz aus Ländern erfassen müssen, in denen (C) schließende Veräußerung des Holzes erfolgen illegal. es gar keinen Urwald gibt, da sich sonst fast unbegrenzte Insbesondere in armen Ländern sind Urwälder durch Umgehungsmöglichkeiten ergeben würden. Zu erwarten illegalen Holzeinschlag gefährdet. Die Armut und Kor- wäre ein bürokratisches Monstrum. Dies aber steht unse- ruption in diesen Ländern leistet einer hohen Kriminali- rem Ziel einer Vereinfachung und Entbürokratisierung tätsrate beim Holzeinschlag Vorschub. Nach verschiede- von Verwaltung für Staat und Wirtschaft komplett entge- nen Schätzungen werden bei einem Zehntel des gen. gesamten weltweiten Holzhandels Rechtsvorschriften verletzt. In vielen Ländern entspricht die Menge des ille- Unbestritten ist: Wir müssen etwas für den Schutz der gal eingeschlagenen Holzes dem legalen oder über- Urwälder tun. Ich sehe jedoch andere Ansätze für eine schreitet sie sogar. Annahmen zufolge liegt der illegale nachhaltige Politik als das Wiedereinbringen eines obso- Holzeinschlag in Brasilien bei 80 Prozent, in Indonesien leten Entwurfs aus der vergangenen Legislaturperiode: bei 73 Prozent und in Russland bei 20 bis 30 Prozent. Neben dem schon angesprochenen Engagement bei der Begleitung des FLEGT-Prozesses in der EU sind drin- Angesichts der dramatischen Situation der Urwälder gend Fortschritte auf globaler Ebene notwendig. sind wirksame Maßnahmen auf internationaler, europäi- scher und nationaler Ebene dringend erforderlich. Zunächst als Umweltpolitiker, dann als Vertreter des Bereichs Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Die Bundesregierung setzt sich auf internationaler lung begleite ich seit Jahren für Deutschland die Fort- Ebene und in der Europäischen Union – EU – intensiv schritte der Verhandlungen der Vertragsparteien zur für Maßnahmen zum Schutz der Wälder und Urwälder Konvention über biologische Vielfalt – CBD-COP. ein. Die nun beschlossene Importregelung der FLEGT- Verordnung – Forest Law Enforcement, Governance and Auf der letzten Konferenz in Curitiba in Brasilien im Trade – Rechtsdurchsetzung, Politikgestaltung und Han- März dieses Jahres wurde vereinbart, dass die nächste del im Forstsektor – der EU ist ein wichtiges Instrument, Vertragsstaatenkonferenz 2008 in Deutschland stattfin- auch wenn ein weitergehender Ansatz auf EU-Ebene den wird. Dabei wird der Schutz der Wälder nicht ohne wünschenswert gewesen wäre. Grund als Schwerpunkt thematisiert. Für uns bedeutet dies eine großartige Chance, unsere Vorstellungen zum Die Fortschritte bei der Aushandlung der Abkommen Schutz der bedrohten Urwälder einbringen zu können. werden von der Bundesregierung aufmerksam verfolgt. Es liegt an uns, diese Konferenz sorgfältig vorzubreiten, Es ist ganz klar: Gibt es hier keine hinreichenden Fort- um tatsächlich Fortschritte für den Urwaldschutz zu er- schritte, muss die FLEGT-Verordnung nachgebessert zielen. werden. Die Koalitionsfraktionen im Deutschen Bundes- (B) tag werden sich weiterhin bei der Bundesregierung dafür Darüber hinaus können wir den Urwaldschutz stärker (D) einsetzen, dass auf EU-Ebene schon jetzt überlegt wird, als bisher bei den internationalen Klimaverhandlungen welche weiteren Schritte in Frage kommen. Die Fortent- berücksichtigen. Da etwa 20 Prozent der weltweiten wicklung der FLEGT-Richtlinie ist gerade im Interesse CO2-Emissionen aus Entwaldung stammen, lassen sich der neuen Bundesregierung, die sich den planvollen und durch die Bekämpfung der Abholzung positive Effekte effizienten Einsatz der vorhandenen Mittel zum Ziel ge- für den Klimaschutz sowie die Biodiversität erzielen. Es setzt hat. gilt hier mehr als bisher, Synergien zu nutzen und der Komplexität der Erscheinungen Rechnung zu tragen. So Zu dem von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen ist die Entwicklungspolitik beispielsweise gefordert, im von Bündnis 90/Die Grünen, erneut in die parlamentari- Rahmen einer strategischen Partnerschaft unsere Zusam- sche Diskussion eingebrachten so genannten Urwald- menarbeit mit Schwellenländern wie China und Indien schutzgesetz, möchte ich Folgendes bemerken: zu intensivieren und innovative Lösungen für den Kli- Erstens. In der letzten Legislaturperiode – vor einem maschutz zu entwickeln. Zu einer nachhaltigen Klima- Jahr – hat es noch Sinn gemacht, diesen Entwurf zumin- schutzpolitik, die industrielle Schadstoffemissionen zu dest zu diskutieren. Heute aber hat sich mit der Verab- reduzierten sucht, gehört auch der Schutz der Tropen- schiedung der FLEGT-Verordnung die Lage grundlegend wälder. Die Wälder dieser Erde sind der Schlüssel zu ei- geändert. Unabhängig davon, wie man zum FLEGT-An- ner wirkungsvollen Klimapolitik. satz steht, gibt es durch die Regelung auf EU-Ebene Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Deutschland kaum Spielraum für wirksame nationale Maßnahmen. nach wie vor einer der größten Geldgeber für Wald- Zweitens. Zudem wäre eine wirksame Kontrolle der schutzprojekte in Entwicklungsländern ist. Jedes Jahr Besitz- und Vermarktungsverbote mit einem sehr hohen unterstützt Deutschland entsprechende Engagements mit bürokratischen Aufwand – Nachweissystem – für eine mehr als 125 Millionen Euro. große Zahl von Betrieben in Deutschland verbunden. Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Drittens. Bei der Anwendung des Urwaldschutzgeset- Grünen, Sie haben es mit der Neuauflage des Gesetzent- zes hätten, um illegal in Urwäldern geschlagenes Holz wurfs zum Urwaldschutzgesetz (Drucksache 16/961) aus zu sanktionieren, prinzipiell alle relevanten Holzpro- der letzten Legislaturperiode gut gemeint. Doch inzwi- dukte in ein Nachweissystem einbezogen werden müs- schen hat sich durch die FLEGT-Verordnung die Lage sen, da den Produkten ja nicht anzusehen ist, ob das verändert. Wir müssen unsere Strategie zum Urwald- Holz illegal eingeschlagen wurde. Erforderlich wäre ein schutz diesen Gegebenheiten anpassen und diese nicht Nachweissystem über die gesamte Lieferkette. Dies ignorieren. Ich habe Ihnen Optionen aufgezeigt, die 4194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) sowohl die Fraktionen der Regierungskoalition als auch die geänderte Rechtslage auf europäischer Ebene haben (C) die Bundesregierung engagiert verfolgen. Daher lehnen die Situation jedoch ganz erheblich beeinflusst. wir Ihren Gesetzentwurf ab. Im Januar 2004 hatte Greenpeace den Entwurf eines Es ist nicht an der Zeit, alten Initiativen nachzu- Urwaldschutzgesetzes vorgelegt. Der Anstoß wurde von schauen. Wir entwickeln neue Ideen und – das habe ich den damaligen Koalitionsfraktionen gegeben. Das Bun- Ihnen dargelegt – denken und handeln in neuen, globa- desumweltministerium hatte daraufhin den Entwurf ei- len Zusammenhängen zum Schutz von Urwäldern, nes Urwaldschutzgesetzes erarbeitet und in die Ressort- Klima und biologischer Vielfalt auf unserer Erde. abstimmung gegeben. Das Ziel, das mit dem Gesetzentwurf verfolgt wurde, Marko Mühlstein (SPD): Wälder sind ein unver- war, im Rahmen des Naturschutzgesetzes ein Verbot des zichtbarer Bestandteil der Lebensgrundlagen unserer Besitzes und der Vermarktung von illegal in Urwäldern Erde: Sie regulieren das globale Klima, sie speichern eingeschlagenem Holz zu verankern. Dazu gehören auch und reinigen Wasser, filtern die Luft, verhindern Erosion die daraus hergestellten Holzprodukte. Als wesentlicher und sind Lebensraum einer Vielzahl von Tier- und Pflan- Bestandteil sollte für den gewerblichen Holzhandel so- zenarten. Urwälder bedürfen unseres ganz besonderen wie bei gewerblicher Be- und Verarbeitung zum Zweck Schutzes: Sie sind Wildnis, Lebensraum für indigene des Verkaufs eine Beweislastumkehr eingeführt werden – Völker und ihre Fläche verringert sich tagtäglich. Selten das heißt, die Beweislast, dass das Holz nicht illegal ein- besteht über einen Sachverhalt so viel Einigkeit, selten geschlagen wurde, sollte auf den Verkäufer verlagert ist die Dringlichkeit jedoch auch von so existenzieller werden. Bedeutung: In den vergangenen Jahren ist die Fläche der so wich- Dies hatte seinerzeit innerhalb der Ressortabstim- tigen primären Wälder um jährlich rund 16 Millionen mungen sowie bei einer Verbändeanhörung zu erhebli- Hektar geschrumpft. Dies entspricht in etwa der einein- cher Kritik seitens der Holzwirtschaft wie auch der Län- halbfachen Waldfläche der Bundesrepublik Deutsch- der geführt. Die vorgezogenen Bundestagswahlen in land! 2005 haben eine weitere Befassung mit dem Gesetzent- wurf obsolet gemacht. Die Umwandlung in landwirtschaftliche Nutzflächen, die Ausbeutung mineralischer Rohstoffvorkommen und An der eingangs beschriebenen Situation hat sich in- Infrastrukturprojekte sind eine große Gefahr für den dessen auch im Jahre 2006 nichts geändert. Der Anlass Fortbestand der Urwälder. Der illegale Holzeinschlag, für ein Einschreiten gegen die Vermarktung von illegal geschlagenem Holz und daraus hergestellten Holzpro- (B) der sich entlang der neu gebauten Straßen vollzieht, ist (D) jedoch eine der Hauptursachen für den dramatischen dukten besteht unvermindert fort. Angesichts der drama- Waldverlust und für die Zerstörung der letzten Urwälder tischen Situation der Urwälder sind wirksame Maßnah- zum Beispiel in Indonesien, Brasilien und Russland. In men auf internationaler, europäischer und nationaler geschätzten Zahlen ausgedrückt beträgt der illegale Ebene weiterhin dringend erforderlich. Holzeinschlag in Brasilien 80 Prozent, in Indonesien Ich möchte dennoch auf zwei Themenkomplexe nä- rund 70 Prozent und in Russland circa 25 Prozent! Es ist her eingehen, die aus meiner Sicht ein Verfahren, wie es daher richtig, sich hier und heute im Rahmen des Ge- die Kolleginnen und Kollegen der Bündnisgrünen for- setzentwurfs unserer Kolleginnen und Kollegen von den dern wesentlich beeinträchtigen. Bündnisgrünen über das weitere Vorgehen in dieser ent- scheidenden Frage zu beraten. Dies ist zum einen eine „systemimmanente“ Schwie- Die Verantwortung für die Schädigung der Urwälder rigkeit, nämlich das Problem der Beweislast, welches ich durch illegalen Holzeinschlag liegt bei den Staaten, die bereits kurz angesprochen hatte. Zum Zweiten betrifft Holz und Holzprodukte exportieren, sowie bei den Staa- dies das übergeordnete europäische Recht: Eines der ten, die diese importieren. Auch die Bundesrepublik größten praktischen Probleme in der Anwendung des Deutschland ist ein wichtiger Importeur von Holzpro- Gesetzes ist meines Erachtens die Beweislastumkehr: dukten – vor allem aus den drei oben genannten Län- Um illegal in Urwäldern geschlagenes Holz und die da- dern. Ungeachtet der Tatsache, dass Deutschland nach raus hergestellten Holzprodukte wirkungsvoll zu sank- wie vor einer der größten Geldgeber für Waldschutzpro- tionieren, müssten prinzipiell alle relevanten Holzpro- jekte in Entwicklungsländern ist und jedes Jahr entspre- dukte in ein Nachweissystem einbezogen werden, da es chende Projekte mit mehr als 125 Millionen Euro unter- den Produkten nicht anzusehen ist, ob das Holz illegal stützt, werden wir uns angesichts der eingangs eingeschlagen wurde oder nicht. Erforderlich wäre hier beschriebenen Tatsachen mit diesem Problem auseinan- ein Nachweissystem über die gesamte Lieferkette, das der setzen müssen. Die Koalitionsfraktionen sind sich auch Holz aus Ländern erfasst, in denen es gar keinen ihrer besonderen Verantwortung in dieser Frage selbst- Urwald gibt, da sonst fast unbegrenzte Umgehungsmög- verständlich bewusst. lichkeiten geschaffen würden. Ein solches Verfahren wäre für die Durchsetzung unserer Ziele zwingend erfor- Ich möchte in aller Kürze auf die Vorgeschichte unse- derlich. Andererseits ist eine wirksame Kontrolle der rer heutigen Debatte eingehen, denn schon in der letzten Besitz- und Vermarktungsverbote mit einem gewaltigen Legislaturperiode haben wir uns mit diesem Thema be- bürokratischen Aufwand für eine große Zahl von Betrie- fasst. Die vorgezogenen Bundestagswahlen, aber auch ben in Deutschland verbunden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4195

(A) Wir müssen uns daher in der Tat fragen, ob der erfor- Angelika Brunkhorst (FDP): Dass weitere Anstren- (C) derliche Aufwand für ein wirksames Nachweissystem gungen zum Schutz der Urwälder vonnöten sind, wird nicht dem wünschenswerten Ziel der Verwaltungsverein- von Wissenschaftlern, Politikern und Nichtregierungsor- fachung für Staat und Wirtschaft diametral entgegen- ganisationen gleichermaßen beteuert. In regelmäßigen stünde. Abständen können wir von dem sich weiter verschlech- ternden Zustand der Wälder gerade in tropischen Regio- Die zweite Schwierigkeit, die ich im Rahmen dieser nen hören und lesen. Dass wir gemeinsam weitere Initia- Debatte ganz klar sehe, ist die der mehr als unbefriedi- tiven zum Schutz der Urwälder ergreifen müssen, liegt genden europäischen Gesetzgebung. Bei Vorlage des da- also nahe. maligen Entwurfs gab es zwar noch kein einschlägiges EU-Recht, jedoch arbeitete die Europäische Union an ei- Der vorliegende Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die ner Importregelung, der so genannten Forrest Law Grünen wurde in gleicher Form bereits in der letzten Le- Enforcement, Governance and Trade-Verordnung – kurz gislaturperiode als Regierungsentwurf eingebracht und FLEGT. Anders als im Urwaldschutzgesetz wird in der ist somit ein Erbe der rot-grünen Regierungszeit. Den FLEGT-Verordnung die Ein- und Ausfuhr in die EU ge- Grünen scheint dieser Gesetzentwurf sehr am Herzen zu regelt und sie betrifft alle Wälder und nicht nur die Ur- liegen. Es wird für uns alle interessant sein zu sehen, wie wälder. Die FLEGT-Verordnung beschränkt sich zudem sich der einstige Koalitionspartner, die SPD, jetzt zu die- nur auf wenige Holzprodukte und gilt lediglich dann, sem Vorhaben positioniert. wenn zuvor Partnerschaftsabkommen mit den Export- In einer Kleinen Anfrage (Drucksache 15/5386) zum staaten abgeschlossen wurden. damaligen Regierungsentwurf hat die FDP erneut darauf Inzwischen hat die Europäische Union die FLEGT- hingewiesen, dass bisher nicht einmal klar ist, was genau Verordnung beschlossen. Damit ist der rechtliche Spiel- wir unter „Urwäldern“ zu verstehen haben bzw. verste- raum für wirksame nationale Maßnahmen verschwin- hen wollen. Der vorliegende Gesetzentwurf versucht, dend gering. Ein erfolgreicher Abschluss des Gesetzge- eine Antwort darauf zu geben, welche vonseiten der bungsvorhabens wäre also sehr unwahrscheinlich. Daher FDP kritisch betrachtet wird. ist es natürlich alles andere als zielführend, einen Ent- Bei der facettenreichen Diskussion um den Urwald- wurf weiterzuverfolgen, der mit hoher Wahrscheinlich- schutz geht es um die Zerstörung von Ur- und Primär- keit von der EU-Kommission blockiert werden würde wäldern, illegalen Holzeinschlag, die Auswirkungen auf und mit dem wir bezüglich unseres gemeinsamen Anlie- die Menschen in den betroffenen Regionen, Verlust der gens also nichts erreichen würden. biologischen Vielfalt und direkte und indirekte Beein- Lassen Sie uns überlegen, wie wir in dieser Angele- trächtigungen des regionalen und globalen Klimas. In (B) genheit weiter vorgehen. Wir sollten die uns zu Gebote den meisten tropischen Ländern werden Wälder zerstört, (D) stehenden Maßnahmen optimal nutzen. Die jetzt be- um landwirtschaftliche Nutzflächen zu gewinnen, die schlossene FLEGT-Verordnung der EU ist dabei ein dann oft nur kurzfristig Erträge bringen. Diese Entwick- wichtiges Instrument, auch wenn ein weitergehender lung scheint weiterhin unaufhaltsam zu sein. Ein weite- Ansatz auf EU-Ebene mit Sicherheit wünschenswert ge- rer Grund ist illegaler Holzeinschlag, Feuer, aber auch wesen wäre. Die Fortschritte bei der Aushandlung der die Armut der Bevölkerung, die zu Übernutzungen führt. Abkommen müssen daher aufmerksam verfolgt und Die FDP hat aktuell zwei Kleine Anfragen an die sorgfältig ausgewertet werden. Gibt es keine eindeutig Bundesregierung vorbereitet, die sich auch mit dem Ur- spürbaren Fortschritte, muss die FLEGT-Verordnung waldschutz und der nachhaltigen Nutzung von Holz nachgebessert werden. Die Koalitionsfraktionen werden befassen. Zum einen haben wir Fragen zur Nutzung bio- sich weiterhin dafür einsetzen, dass auf EU-Ebene schon logischer Kohlenstoffsenken für den Klimaschutz for- jetzt überlegt wird, welche weiteren Schritte in Frage muliert. Hier geht es um die Aufforstung und Schaffung kommen. neuer Werte zum Erhalt und zur Sicherung der Urwälder. Neben den Bemühungen auf europäischer Ebene sind Auch die Fragen zum „Stand der Umsetzung der Charta darüber hinaus weitere Fortschritte auf globaler Ebene für Holz“ beschäftigen sich mit der nachhaltigen Nut- zwingend notwendig. Selbstverständlich nutzen wir bei- zung von Holz und Holzprodukten, wenn auch bezogen spielsweise in diesem Zusammenhang die internationa- auf Deutschland. Allerdings sehen wir beim vorliegen- len Klimaverhandlungen, um gegen die Zerstörung der den Gesetzentwurf und der Definition des Urwaldschut- Wälder vorzugehen. Da circa 20 Prozent der weltweiten zes insgesamt auch Auswirkungen auf die Vermarktung CO2-Emissionen aus Entwaldung stammen, lassen sich einheimischer Hölzer. durch die Bekämpfung der Entwaldung positive Effekte In Deutschland hat sich aufgrund der hohen Bedeu- für die Biodiversität und den Klimaschutz erzielen. Hier tung, die die Wälder seit Jahrhunderten für die Siche- gilt es ganz klar, diese wichtigen Synergien zu nutzen. rung der Existenz der Menschen, die Entwicklung von Die 2008 in Deutschland stattfindende Vertragsstaa- Wohlstand hatten, ein ausgeprägtes Bewusstsein für die tenkonferenz der Konvention über die biologische Viel- Bedeutung von Wald und den Schutz der Wälder entwi- falt wird das Thema „Schutz der Wälder“ schwerpunkt- ckelt. Wir sind uns hier einig, dass die weitere Zerstö- mäßig behandeln. Auf der Konferenz wollen und rung der Wälder gestoppt werden muss. Der Schutz der müssen wir Fortschritte beim Schutz der Wälder und ins- letzten verbliebenen Urwälder ist eine wichtige globale besondere beim Schutz der bedrohten Urwälder errei- Aufgabe, der sich alle Fraktionen verpflichtet fühlen. chen. Die bisherigen Debatten haben gezeigt, dass alle 4196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Fraktionen im Deutschen Bundestag den Erhalt der ver- Holz und Holzprodukte aus illegalem Einschlag in Ur- (C) bliebenen Urwälder als wichtige globale Aufgabe anse- wäldern zu besitzen oder mit ihnen zu handeln. hen. Dieser unhaltbare Zustand muss schnellstens beendet Die FDP unterstützt den Erhalt der Primär- und Ur- werden. Darum unterstützen wir das Grundanliegen des wälder. Wir wollen, dass die Waldnutzung in Entwick- Gesetzentwurfes der Grünen ausdrücklich: In der Kette lungsländern wesentlich der heimischen Bevölkerung vom Holzeinschlag zum Händler muss lückenlos doku- zugute kommt. Deutschland ist nach den USA und Japan mentiert und nachgewiesen werden, dass das Holz nicht der weltweit drittgrößte Importeur von Holz und Holz- aus illegalen Abholzungen stammt. Ein solches Gesetz produkten. Unsere besondere Verantwortung ist damit ist lange überfällig. Leider ist es ja in der letzten Legisla- deutlich genug ausgedrückt. turperiode so lange auf die lange Bank geschoben wor- den, bis der BMU-Entwurf durch die Neuwahlen beer- In der Vergangenheit ist es den Tropenholz exportie- digt wurde, und die CDU, die ja damals durch Herrn renden Ländern durchaus gelungen, die Wertschöp- Julius Caesar geschworen hatte, im Falle eines Wahl- fungspotenziale im eigenen Land stärker auszuschöpfen. siegs ein Urwaldschutzgesetz einzubringen, leidet offen- Das heißt, Hilfe zur Selbsthilfe ist erfolgreich. Die ein- bar an Alzheimer. seitige Förderung des FSC-Zertifikats durch die Bundes- regierung, die immer auch mit der Eindämmung des ille- Nun also der Vorschlag der Grünen. Er entspricht galen Holzeinschlags begründet wurde, hat für den weitgehend dem BMU-Entwurf aus der letzten Wahlpe- Erhalt der Wälder nichts gebracht. Daher ist es folge- riode. Vielleicht hätte man aber die eine oder andere Kri- richtig, eine gegenseitige Anerkennung der Zertifikate tik aus der damaligen Verbändeanhörung aufnehmen sol- umzusetzen. len; denn an einigen Stellen haben wir Zweifel an der Wirksamkeit. Bei dem im Gesetzesentwurf formulierten Besitz- und Vermarktungsverbot von Holz- und Holzprodukten haben Das Gesetz verbietet die Vermarktung von Holz und wir deutliche Zweifel, was die realistische Umsetzung an- Holzprodukten aus illegalem Einschlag in Urwäldern. Es geht. Auch der Herkunfts- und Nachhaltigkeitsnachweis muss ein Nachweis erbracht werden, dass nicht illegal als Voraussetzung für entsprechende Zertifizierungen abgeholzt wurde. Erfasst sind zwar Rohholz, Bretter, wird von der FDP hinterfragt. Sperrholz, Spanplatten, Holzkohle, Zellstoff, Papier und Pappe sowie Holzmöbel und Holzspielzeug. Nicht er- Die FDP fordert, dass der Waldschutz als eine zen- fasst aber werden Bücher, Zeitungen und andere Druck- trale Aufgabe einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten schriften. Das wäre an sich kein Problem, wenn die Zei- Politik angesehen wird. Die existenziellen Bedürfnisse (B) tungen und Zeitschriften in Deutschland hergestellt (D) der Menschen in den betroffenen Ländern haben einen würden, weil ja dann die Papierherstellung kontrolliert höheren Stellenwert als Ansprüche der Wohlstandsge- wäre. Doch viele deutsche Unternehmen lassen ihre Pu- sellschaft. Das heißt, wirkliche Fortschritte beim Schutz blikationen aus Kostengründen längst im Ausland dru- der Wälder können nur erzielt werden, wenn die Armut cken, zum Beispiel in Tschechien, und manche „deut- erfolgreich bekämpft wird, die Menschen Möglichkeiten sche“ Bücher kommen direkt aus Südostasien. Somit erhalten, sich selbst zu versorgen. Wir brauchen den Er- verschafft das Gesetz gerade osteuropäischen und asiati- halt der Wälder der Erde für das Leben der Menschen schen Druckereien, die sich weiterhin mit billigem Pa- vor Ort, die biologische Vielfalt, die Sicherung der Was- pier aus illegalem Einschlag bedienen können, einen zu- serressourcen und den Klimaschutz. sätzlichen Wettbewerbsvorteil. Wir sollten versuchen, den armen Ländern der Erde Zweiter Kritikpunkt: Das Gesetz kontrolliert aus- zu helfen, ihre Wälder in entsprechender Weise für die schließlich die großen Unternehmen im Holzgeschäft. Bekämpfung der Armut zu nutzen und gleichzeitig ein Privatpersonen sowie Händler und Holzverarbeiter mit Bewusstsein für die Bedeutung des Schutzes ihrer Wäl- einem Jahresumsatz von weniger als 100 000 Euro sind der zu entwickeln. Statt weiterer internationaler Verord- ausdrücklich von der Nachweispflicht für die Herkunft nung ist Hilfe zur Selbsthilfe angesagt. des Holzes befreit. Uns scheint diese Formulierung ge- fährlich. Schließlich eröffnet sie die Möglichkeit, dass Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Dass die Ur- Holzhändler kritische Sparten, also beispielsweise ihr wälder dieser Erde akut von Zerstörung gefährdet sind, Afrikageschäft, auslagern. Umgekehrt ist das vorgese- wurde heute schon mehrfach betont. Wir wissen auch hene maximale Bußgeld von 50 000 Euro für die Groß- schon seit langem, dass der illegale Holzeinschlag dafür unternehmen im Holzgeschäft wenig abschreckend. Es einer der Hauptgründe ist. Den Herkunftsländern gelingt kommt natürlich darauf an, wie oft es verhängt wird. es bisher nicht, ihn zu verhindern; manche Staaten haben daran leider auch wenig Interesse. Das Tropenwaldnetzwerk hat seinerzeit ausdrücklich bemängelt, dass das Gesetz nur die Urwälder schätzt, die Fakt ist, dass relevante Mengen des illegal in Urwäl- auch in dem jeweiligen Herkunftsstaat unter Schutz ste- dern eingeschlagenen Holzes sich in deutschen Bau- und hen. Holz aus staatlich genehmigtem Urwaldkahlschlag Holzmärkten wiederfinden. Deutschland trägt somit zur darf also weiterhin in Deutschland in all seinen Formen Urwaldzerstörung bei. Völlig unverständlich ist, dass vermarktet werden, selbst wenn dabei der Holzeinschlag diese Tropenholzdeals hierzulande bisher weder unter- in den betreffenden Staaten gegen Menschenrechte und bunden noch geahndet werden können. Es ist erlaubt, traditionelle Besitzrechte der Waldvölker verstößt. Wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4197

(A) wissen, dass dies juristisch anders kaum zu handhaben Von interessierter Seite ist behauptet worden, dieses (C) ist. Ein Problem bleibt es doch. Verbot würde nichts für den Urwaldschutz bringen. Aber da haben wir eine andere Einschätzung. Das Verbot Problematisch erscheint uns weiterhin das Verhältnis brächte hierzulande den Durchbruch für die Holzzertifi- zur FLEGT-Verordnung der EU, worin es um die Rechts- zierungssysteme bei allen Holzimporten und in der ge- durchsetzung, die Politikgestaltung und den Handel im samten Holzverarbeitungskette. Schließlich würde der Forstsektor geht. Die Nachweispflicht soll ja nicht für geforderte Legalitätsnachweis in der Praxis vor allem Länder gelten, die das FLEGT-Abkommen mit der EU durch die bestehenden Holzzertifizierungssysteme er- geschlossen haben. Die FLEGT-Verordnung umfasst je- bracht werden. doch nur den Handel mit bestimmten Holzprodukten, nämlich derzeit Rohhölzer, Holzschwellen, Spanplatten, Von interessierter Seite ist außerdem eingewandt wor- Furnier- und Sperrholz. Die Zellstoff-und Papierproduk- den, die FLEGT-Verordnung der EU mache ein nationa- tion ist ausgenommen. Eine Erweiterung der Produkt- les Urwaldschutzgesetz überflüssig. Das ist leider nicht gruppe ist auf nicht absehbare Zeit verschoben. Somit der Fall, denn FLEGT wird keine schnellen und durch- schlägt der Passus im Urwaldschutzgesetz für die greifenden Erfolge zeitigen. Diese Verordnung sieht an- FLEGT-Länder eine unnötige Lücke. stelle eines Importverbots für illegales Holz Verhandlun- Insgesamt ist das Gesetz aber trotz seiner Schwach- gen mit den Holzexportstaaten über den Abschluss stellen ein großer Schritt hin zu einem Importverbot für freiwilliger Partnerschaftsabkommen vor. Nach Ab- illegal geschlagene Hölzer. Im Gesetzgebungsverfahren schluss dieser Abkommen soll Holz in die EU nur noch und über die vorgesehenen Verordnungen kann auch ein eingeführt werden dürfen, wenn für sie eine FLEGT-Ge- Teil unser Kritikpunkte beseitigt werden. Wir hoffen da- nehmigung – im Wesentlichen ein Legalitätsnachweis – rum, dass der Gesetzentwurf eine Mehrheit findet. vorliegt. Verhandelt wird aber nur mit einem Teil der holzexportierenden Länder. Im Januar 2006 waren das Kamerun, Ghana, Malaysia, Indonesien und Russland. Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Be- Abkommen werden voraussichtlich erst in einigen Jah- reits seit Jahrzehnten diskutieren wir darüber, wie wir ren abgeschlossen und wirksam. Sollten die Verhandlun- die Zerstörung der Urwälder dieser Welt stoppen kön- gen aber scheitern, muss erst wieder in einem jahrelan- nen. Das Thema beschäftigt auch dieses Haus bereits seit gen Verfahren festgelegt werden. zu welchen langem. So hat die Enquete-Kommission „Vorsorge zum verschärften Maßnahmen die EU greift. Dies dauert an- Schutz der Erdatmosphäre” des 11. Deutschen Bundesta- gesichts des rasant fortschreitenden Urwaldverlustes auf ges 1990 einen Bericht vorgelegt, der sich umfassend jeden Fall zu lange. Deshalb ist die FLEGT-Verordnung mit dem Schutz der tropischen Wälder befasste, der zwar nicht überflüssig, aber unzureichend. Deshalb ist (B) Handlungsmöglichkeiten benannte und Handlungsemp- ein nationales Urwaldschutzgesetz nötig, das kurzfristig (D) fehlungen gab. Immer wieder wird seitdem von allen greift. Seiten darauf hingewiesen, dass es angesichts der Zer- störung der Urwälder fünf vor zwölf ist. Gegner eines Urwaldschutzgesetzes beklagen, die Re- Nichtsdestotrotz gehen laut FAO nach wie vor jähr- gelungen brächten zuviel Bürokratie. Ein zusätzlicher lich 15 Millionen Hektar Urwald verloren. Auch illega- Aufwand durch das Urwaldschutzgesetz für die Wirt- ler Holzeinschlag trägt erheblich dazu bei. Schätzungen schaft lässt sich in der Tat nicht bestreiten. Er entsteht aus dem Jahr 2002 zufolge beträgt der Anteil des illega- durch die Zertifizierung im Rahmen des Nachweissys- len Einschlags am Gesamteinschlag in Brasilien 80 Pro- tems. Allerdings hält sich dieser Aufwand durchaus in zent, in Indonesien 73 Prozent und in Russland 20 bis einem vertretbaren Rahmen. Dies gilt, vor allem dann, 30 Prozent. Ein Teil dieses Holzes landet auch in wenn – wie im Gesetzentwurf vorgesehen – die etablier- Deutschland: Deutschland importierte 2004 aus diesen ten Zertifikate als Legalitätsnachweise anerkannt wer- drei Ländern jeweils Holz im Wert von etwa 300 Millio- den. Denn über zwei Drittel der Wälder in Deutschland nen Euro. Deutschland trägt so zur illegalen Urwaldzer- sind bereits nach FSC, PEFC oder durch Naturland störung bei. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, beim zertifiziert – ohne dass die deutsche Forstwirtschaft un- Handel mit illegalem Holz anzusetzen und ihn so weit ter dem Aufwand zusammengebrochen wäre. Nur bei wie möglich zu unterbinden. Auch wenn das nur eine den Holzimporten ist das anders. Wie bei der Holzverar- Maßnahme unter vielen ist. die erforderlich sind. beitungskette gibt es bei Importen bisher nur in Ausnah- mefällen entsprechende Nachhaltigkeitszertifikate. In Illegal hergestellte Ware zu handeln, ist bei vielen diesen Bereichen ist also mit zusätzlichem Zertifizie- Produkten selbstverständlich verboten. Bei Holz aller- rungsaufwand zu rechnen. Allerdings sind die Kosten dings ist das anders: Illegal geschlagenes Holz darf in der Holzkettenzertifizierung geringer als für die Zertifi- Deutschland ungestraft verkauft werden. Auch der Be- zierung der Forstwirtschaft. sitz ist erlaubt. Diesen unhaltbaren Zustand wollen Bündnis 90/Die Grünen ändern. Deshalb haben wir un- Dennoch: Es entstehen Kosten. Allerdings nicht seren Entwurf für ein Urwaldschutzgesetz in den Bun- mehr, als ohnehin auf die Branche zukommen. Denn es destag eingebracht. Dieses Gesetz soll den Besitz und entspricht dem erklärten politischen Willen der meisten den Handel von illegalem Holz verbieten. Um Kontrol- politischen Akteure der Waldpolitik, die Zertifizierung len zu ermöglichen, sollen Holzhändler und -verarbeiter der nachhaltigen Produktionsweise in der Forst- und zukünftig einen Legalitätsnachweis für Holz und Holz- Holzwirtschaft weiter auszubauen. Auch die FLEGT- produkte bereithalten. Verordnung fordert – wenn sie auf lange Sicht greift – 4198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) die Vorlage eines Legalitätszertifikats bei der Einfuhr noch intensiver mit Norduganda zu befassen. Was sind (C) von Holz und Holzprodukten. das für Kriminelle, die die Zivilbevölkerung terrorisie- ren, Dörfer und Felder niederbrennen, Menschen miss- Aus unserer Sicht treffen die Argumente der Gegner handeln und töten, die Frauen und Mädchen vergewalti- eines Urwaldschutzgesetzes nicht zu. Vielmehr wird die gen? Kinder werden aus den Dörfern und Städten deutsche Forstwirtschaft vom Urwaldschutzgesetz profi- entführt, als Sexsklaven missbraucht und mit unmensch- tieren. Warum? Der illegale Holzeinschlag führt zu lichen, brutalen Methoden dazu gezwungen, Soldaten Dumpingpreisen auf den globalen Holzmärkten. Nach und Soldatinnen zu werden und dann selbst Gräueltaten Schätzung der Weltbank verlieren die Waldländer durch gegen die Zivilbevölkerung, gegen ihre Verwandten und illegalen Holzeinschlag Einnahmen von etwa 15 Milliar- Familien zu begehen. Diese Kriminellen, die sich den Euro pro Jahr. Deshalb werden die Holzpreise stei- „Lord’s Resistance Army“, LRA, nennen, befinden sich gen, wenn der illegale Holzeinschlag zurückgedrängt seit 20 Jahren auf einem gnadenlosen Weg der Vernich- wird. Hiervon werden alle gesetzestreuen Holzprodu- tung einer ganzen Region. Und nicht nur in Norduganda, zenten und damit selbstverständlich auch die einheimi- nein, auch der Osten des Kongo und der Süden des Su- schen Forstwirte profitieren. Die Kosten für den zusätz- dans werden von ihnen tyrannisiert. lichen Zertifizierungsaufwand für das restliche Drittel der deutschen Wälder dürften daher mehr als ausgegli- Die große Region Nordugandas ist praktisch entvöl- chen werden. Im Jahr 2004 brachten auch CDU und SPD kert, die Menschen haben sich in die Städte geflüchtet, Anträge in den Bundestag ein, in denen sie sich für ein an ihrem Rand. In ihrer unmittelbaren Nähe haben sich Handels- und Besitzverbot mit und von illegalem Holz große Flüchtlingslager gebildet. Eine ganze Region, ausgesprochen haben. Das grüne Umweltministerium fruchtbar und in der Lage ihre Menschen zu ernähren, hatte daraufhin einen Urwaldschutzgesetz-Entwurf erar- liegt brach. Seit Jahren ist es zu gefährlich, die Felder zu beitet. Aufgrund der vorgezogenen Bundestagswahl bestellen, das wenigste zum Leben anzubauen. Was die- konnte Rot-Grün ihn jedoch nicht mehr verabschieden. sen Kindern angetan wird, die von der LRA entführt werden, das kann ein normaler Menschenverstand gar Mittlerweile regiert die große Koalition. Das Thema nicht ermessen. Wir hatten Gelegenheit bei einem Auf- Urwaldzerstörung kommt im Koalitionsvertrag von enthalt in Uganda in einer Einrichtung der Caritas in der Union und SPD nicht vor. Auch die Themen illegaler Stadt Gulu, mit den Kindern und Jugendlichen zu reden, Holzeinschlag und Urwaldschutz kommen seither auf die sich aus den Händen der Rebellen befreien konnten. der Agenda dieser Koalition nicht mehr vor. Vor diesem In dieser Einrichtung wird Hilfe angeboten, die ihnen Hintergrund war ich sehr gespannt darauf zu hören, wie den Weg in ein normales Leben zurück ermöglichen soll. sich die große Koalition heute zu unserem Urwald- Aber bei aller Hilfe, die wir leisten können – die schlim- schutzgesetz äußert. Wir wissen, dass es in diesem Haus (B) men Erlebnisse werden sie ein Leben lang verfolgen, (D) unüblich ist, Gesetzentwürfen der Opposition zuzustim- werden nie vergessen werden können. men. Das wäre auch gar nicht schlimm, wenn Sie we- nigstens hier und heute erklärt hätten, dass Sie unsere In die Gesichter, in die Augen dieser jungen Men- Initiative aufgreifen und einen eigenen Gesetzentwurf schen zu blicken und darin dieses unglaubliche Leid des für ein Verbot des Handels und des Besitzes mit illega- Erlebten zu sehen, ich kann das, denke ich, nie verges- lem Holz vorlegen werden. Eigentlich müssten Union sen. Mit den Betroffenen zu reden, bestärkt in der Ab- und SPD dies tun, wenn sie zu ihren früheren Aussagen sicht, unsererseits alles mögliche zu tun, mitzuhelfen, stehen. dass diese schlimmen Zustände beendet werden können. Aber was können wir tun – über unser bisheriges poli- Anlage 25 tisches und finanzielles Engagement hinaus? Wir wollen zuallererst die ugandische Regierung nicht aus der Ver- Zu Protokoll gegebene Reden antwortung entlassen. Sie muss entschieden mit allen zur Beratung der Anträge: Für ein Ende der Mitteln gegen die LRA vorgehen. Wir erwarten, dass sie Gewalt in Norduganda (Tagesordnungspunkt 24 mit aller Kraft und mit den zur Verfügung stehenden und Zusatztagesordnungspunkt 9) Mitteln der eigenen Armee die Bevölkerung Nordugan- das schützt. Wir erwarten, dass die Regierungen Ugan- das, der DR Kongo und des Sudans bei der Bewältigung Gabriele Groneberg (SPD): Es ist wohl durchaus der Situation zusammenarbeiten und die Verfolgung der ungewöhnlich, dass ein Film zu einer Initiative mehrerer fünf Rädelsführer der LRA, gegen die der Internationale Fraktionen im Bundestag führt. Vor einigen Wochen ha- Strafgerichtshof Haftbefehle erlassen hat, intensiv zu be- ben wir uns den international prämierten Film „Lost treiben und für deren Verhaftung zu sorgen. Wir fordern Children“ angesehen. Dieser Film über die Kinder, die die ugandische Regierung aber auch auf, ebenso ent- zu Soldaten gemacht werden, hat uns alle tief berührt, ja schieden die Verbrechen der eigenen Sicherheitskräfte entsetzt. Besonders beeindruckt hat uns außerdem der gegen die Bevölkerung zu verfolgen und zu ahnden. anschließende Besuch des Erzbischofs von Norduganda, John Baptist Odama, der uns über die schwierige huma- Die kleinen sichtbaren Fortschritte, die darin beste- nitäre Situation der Flüchtlinge unterrichtet hat. Auch hen, dass ein Teil der Menschen in den Flüchtlingslagern wenn wir uns bereits in der Vergangenheit mit diesem ihre Felder im erreichbaren Umkreis bestellen und Thema befasst haben: Der Besuch von Erzbischof abends wieder in Lager zurückzukehren – das ist ein Odama bestärkte uns darin, wie notwendig es ist, uns Hoffnungsschimmer und mehr nicht. Dass die Zahl der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4199

(A) „nachtwandernden“ Kinder, die wir in Gulu besucht ha- Kony, den Anführer der Lord’s Resistance Army, 2004 (C) ben und die jede Nacht aus den näher an der Stadt gele- die Ermittlungen beim internationalen Gerichtshof ein- genen Dörfern bis zu zwei Stunden laufen, um in die si- geleitet. Der Haftbefehl gegen ihn nennt 33 Anklage- chere Stadt zu kommen, um den Entführungen zu punkte, darunter alleine zwölf wegen Verbrechen gegen entgehen und morgens ebenso die Strecke wieder zu- die Menschlichkeit und 21 wegen Kriegsverbrechen. rücklegen, um in den Dörfern die Schulen aufzusuchen, Herr Kony selber, wie ich eingangs gesagt habe, bestrei- dass die Zahl dieser Kinder stark rückläufig ist, auch das tet diese Vorwürfe und ist sich keiner Schuld bewusst. Er nur ein Hoffnungsschimmer. Die Hilfe, die von der euro- töte nur die Soldaten Musevenis, denn er handele im Na- päischen und internationalen Gemeinschaft geleistet men der zehn Gebote, die zu ihm sprechen. Auf dieser wird, um die Menschen in den Flüchtlingslagern wenigs- Basis scheint der Frieden in Norduganda noch in weiter tens mit dem allernotwendigsten an Lebensmitteln zu Ferne zu liegen. Aber das dürfen wir nicht zulassen! versorgen, darf nicht eine Zementierung dieser Zustände bedeuten. Erschwerend kommt hinzu, dass die ugandische Ar- mee, die Uganda People’s Defence Force, für die Zivil- Es muss darauf gedrängt werden, dass die Auflösung bevölkerung in den leicht angreifbaren Lagern keinen ef- der Lager der ugandischen Flüchtlinge möglich wird, fektiven Schutz darstellt. Im Gegenteil, auch diese ist dass die Menschen wieder in ihre Dörfer zurückkehren verantwortlich für schwerwiegende Menschenrechtsver- können und ihnen dort auch ihr Land zurückgegeben letzungen und von Korruption geprägt. Das wiederum wird. führt dazu, dass es an aufrichtigem Interesse, den Kon- flikt zu beenden, mangelt. Das geht doch so nicht! Wir können dabei helfen, dass die mit sieben weiteren Gebern, unter andern Weltbank und afrikanische Ent- Im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit wicklungsbank, vereinbarte Geberstrategie für Uganda, und Entwicklung haben wir uns eingehend mit diesem Uganda Joint Assistance Strategy, umgesetzt wird und Konflikt in Norduganda beschäftigt: Wir haben uns den klare Vorgaben für demokratische und rechtsstaatliche sehr eindrucksvollen Film „Lost Children“ angesehen, Strukturen, für die Wahrung der Menschenrechte, die Si- der uns doch tief erschüttert hat. In diesem Film wird die cherheit und die Reintegration der Flüchtlinge entwi- schwere Resozialisierung von Kindersoldaten, die von ckelt und eingehalten werden. Es bleibt die Pflicht der der Lord’s Resistance Army dazu gezwungen wurden, ugandischen Regierung, sich für einen Waffenstillstand dokumentiert und die Kinder erzählen von ihren Erfah- und Friedensverhandlungen einzusetzen. Wir werden sie rungen, die sie in der Rebellengruppe machen mussten. selbstverständlich gemeinsam mit den europäischen Der Ausschuss hat außerdem den Erzbischof John Partnern dabei unterstützen, eine Roadmap-for-Peace Baptist Odama zu einer der Sitzungen eingeladen. Die- (B) auszuarbeiten. Das heißt aber auch, dass wir an deren ser hat uns eingehend über die Situation in Norduganda (D) überprüfbarer Umsetzung den Friedenswillen der ugan- informiert, denn Herr Odama, Vorsitzender einer konfes- dischen Regierung festmachen werden. Wir können da- sionsübergreifenden ugandischen Friedensbewegung, bei helfen, dass Projekte und Initiativen, die sich für die konnte uns seine Erfahrungen vor Ort beeindruckend Demobilisierung von Soldaten, von Kindersoldaten, die schildern. Aufarbeitung ihrer Traumata und ihre Wiedereingliede- rung in die Gesellschaft einsetzen, unterstützt werden. Aus unseren Beratungen kann nur ein Schluss gezo- Wir können helfen und wir tun es und wir werden es gen werden: Der Gewalt in Norduganda muss ein Ende auch weiterhin tun. gesetzt werden! Hier sprechen wir die deutsche, aber vor allem die ugandische Regierung an. Sie werden in aller Form aufgefordert, aktiv – oder sollte man sagen: aktiver – Dr. Karl Addicks (FDP): „Berüchtigter Rebellen- zu werden. führer Kony bietet Uganda den Frieden an – LRA-Chef bestreitet Gräueltaten an Zivilisten.“ So lautet der Titel Wir begrüßen sehr, wie auch bereits im Antrag er- einer Meldung, die ich erst gestern wieder in den Hän- wähnt, dass Anfang April 2006 ein Joint Monitoring den hielt. So wird wieder ein Hoffnungsschimmer, der Committee for Northern Uganda eingesetzt worden ist, Gewalt in Norduganda ein Ende zu setzen, im Keim er- in dem vorerst die Vereinten Nationen, die USA, Groß- stickt. Es handelt sich nämlich nicht um das erste Ange- britannien, Norwegen, die Niederlande und Uganda an bot dieses Rebellenführers, Frieden zu stiften und wird einer umfassenden Strategie für Norduganda arbeiten wahrscheinlich – bei der Betrachtung seiner zusätzlichen können. Sobald diese abschließend formuliert ist, muss Bemerkung – auch nicht das letzte sein. sie aber auch verwirklicht werden. Obwohl die Beendigung der Gewalt dringend nötig Uganda ist ein Schwerpunktpartnerland der deutschen ist; denn die Auswirkungen für die Zivilbevölkerung Entwicklungszusammenarbeit. Dem Land wurden seit sind verheerend. Schätzungen zufolge sind bereits min- der Wiederaufnahme der EZ im Jahr 1986 bilateral ins- destens 100 000 Menschen getötet worden und fast gesamt über 500 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. 2 Millionen Menschen vor der Gewalt geflohen. Die Diese Beziehungen zwischen Deutschland und Uganda Lord’s Resistance Army kämpft gegen die ugandische müssen wir nutzen, um durch politischen Einfluss zu ei- Regierung nun schon seit 20 Jahren und ist bekannt für ner Beendigung der grausamen Auseinandersetzungen in ihre Verbrechen an den Zivilisten und die Entführung Norduganda beizutragen. Das fordern wir mit diesem von Kindern, die sie als Soldaten oder Sexsklaven miss- Antrag. Die Bundesregierung muss dies im Dialog mit brauchen. Nicht ohne Grund wurden gegen Joseph der ugandischen Regierung eindeutig klarstellen und die 4200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Ernsthaftigkeit in Bezug auf Waffenstillstands- und Frie- auf die Attraktivität des Soldatenberufs und die Situation (C) densverhandlungen anmahnen. Ein wirksamer Schutz der Nachwuchsgewinnung weiterzuentwickeln. Wie der Zivilbevölkerung vor den Rebellen, aber auch vor dem Bundeswehrplan 2007 zu entnehmen ist, sind im den eigenen Sicherheitskräften muss wiederhergestellt Verteidigungshaushalt zudem umfangreiche Mittel für werden. Wir können die dortigen Verhältnisse nicht län- den ausreichenden Schutz und die Weiterentwicklung ger tolerieren! Dazu gehört auch, dass die ugandische der notwendigen Ausrüstungs- und Einsatzkomponenten Regierung in ihren eigenen Reihen für Ordnung sorgt für unsere Soldaten bereitzustellen. und Verbrechen der eigenen Sicherheitskräfte verfolgt. Ein weiteres Problem liegt auf der Ebene der Länder Es ist dringend erforderlich, dass die international und Kommunen im Osten Deutschlands. Bei einer Be- vereinbarte Geberstrategie für Uganda umgesetzt wird. soldungsangleichung im Bereich der Bundeswehr könn- Darin werden klare Vorgaben für die Umsetzung von ten die Angehörigen des öffentlichen Dienstes mit Recht demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen, die ähnliche Forderungen für sich reklamieren. Eine solche Wahrung der Menschenrechte, die Sicherheit und Re- Welle der Belastungen wäre von den ohnehin bis zum integration der Flüchtlinge und konstruktive Friedens- Zerreißen angespannten Haushalten der Länder nicht zu verhandlungen aufgestellt. Das ist die Grundlage für ein schultern. Ende der Gewalt und die zukünftige Entwicklung Ugan- das. Wir freuen uns darüber, dass wir uns mit den Ländern auf eine Besoldungsangleichung in zwei Schritten eini- Wir sind uns einig, dass unsere genannten Forderun- gen konnten. Im Jahr 2007 werden die unteren Besol- gen wichtig und richtig sind, und ich freue mich, dass dungsgruppen bis A 9, ab dem Jahr 2009 die höheren wir zu diesem gemeinsamen Antrag kommen konnten. Besoldungsgruppen in Ost und West nach der gleichen Es wird Zeit! Besoldungstabelle bezahlt. Diese Perspektive ist im Inte- resse unserer Soldatinnen und Soldaten erfreulich. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den wir uns eini- Anlage 26 gen konnten. Das kann uns nicht befriedigen, aber es ist eine absehbare Perspektive, die wir auch dem Behar- Zu Protokoll gegebene Reden rungsvermögen der Verteidigungspolitiker zu verdanken zur Beratung des Antrags: Gleiche Besoldung haben. für alle Soldaten (Tagesordnungspunkt 23) So sehr ich mir eine sofortige Besoldungsangleichung auch gewünscht hätte, unser Ziel, eine nachhaltige Kon- Monika Brüning (CDU/CSU): Verteidigungspoliti- solidierung des Haushaltes, dürfen wir dabei nicht aus (B) ker aller Fraktionen sprechen sich seit längerem für die den Augen verlieren. (D) Angleichung der Besoldung in Ost und West aus. Die ungleiche Besoldung ist eine Belastung der inneren Ein- Die Perspektive von 2007 bis 2009 ist absehbar und heit der Bundeswehr, die ansonsten hervorragend gelun- unter den bestehenden Gegebenheiten auch hinnehmbar. gen ist. Deshalb stimmt die CDU/CSU dem Antrag der FDP nicht zu. Dass die unterschiedliche Besoldung unserer Solda- tinnen und Soldaten 15 Jahre nach der deutschen Einheit Susanne Jaffke (CDU/CSU): Das Thema Besol- überwunden werden muss, ist eine Forderung, bei der ich dungsangleichung für alle Beschäftigten des Öffentlichen Oberst Bernhard Gertz vom Deutschen Bundeswehrver- Dienstes in den neuen Bundesländern beschäftigt uns seit band sowie dem Bundesverteidigungsminister Dr. Franz vielen Legislaturperioden. Bereits in der 13. Wahlperiode Josef Jung nachdrücklich beipflichte. Ich danke auch gab es erste Anträge. Bedingt durch finanzielle Engpässe, dem Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, der vor allem bei den neuen Bundesländern und noch nicht sich diesem Thema seit Jahren widmet. erreichte vergleichbare Verwaltungsstrukturen, konnte Die unterschiedliche Besoldung ist auch durch nichts die Einkommens- und Besoldungsangleichung nicht rea- gerechtfertigt, denn Soldatinnen und Soldaten leisten lisiert werden. qualitativ Vergleichbares – ob in München oder Dres- Das Bundesbesoldungs- und versorgungsanpassungs- den, ob in Mainz oder Neubrandenburg. Wie soll ich ei- gesetz 2003/2004 vom 10. September 2003 sieht nun die nem Soldaten in Thüringen erklären, dass sein bayeri- stufenweise Angleichung der Besoldung vor. Das gilt scher Kamerad, der nur circa 20 Kilometer weiter nicht nur für die Bundeswehr. westlich stationiert ist, statt seiner 92,5 Prozent die vol- len 100 Prozent Besoldung erhält, also 7,5 Prozent mehr Allerdings, die Angleichung der Besoldung ist ein Sold, was je nach Alter bis zu 200 Euro monatlich aus- weiterer wesentlicher Bestandteil der inneren Einheit der machen kann. Bundeswehr. Bundesminister Jung, der Bundeswehrver- band und auch der Wehrbeauftragte haben die Anglei- Wäre nur das Thema Besoldung im Verteidigungsetat chung der Besoldung ebenfalls mehrfach gefordert, die zu bewältigen, könnte die Bundeswehr die Angleichung tariflichen Einigungen sind weitestgehend erreicht – die der Besoldung durchaus aus ihrem Etat bezahlen, auch FDP greift somit kein neues Thema auf. wenn dies zweifellos einen Kraftakt bedeuten würde. Wir sollten jedoch langfristig darüber nachdenken, das Die Sachlage stellt sich folgendermaßen dar: Für die gesamte Besoldungsgefüge, insbesondere im Hinblick unteren Besoldungsgruppen bis A 9 ist eine weitere An- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4201

(A) gleichung des Bemessungssatzes auf 100 Prozent bis mir keine Bemühungen hinsichtlich der Angleichung der (C) Ende 2007 festgeschrieben worden. Bis zum 31. Dezem- Ost-West-Besoldung bekannt. ber 2009 ist die Anhebung der übrigen Besoldungsgrup- Außerdem müsste auch die FDP wissen, dass es kein pen zu realisieren. eigenes Besoldungsrecht für Soldatinnen und Soldaten Der Kollege Koppelin ist im Rahmen der Haushalts- gibt, wie ich es mir im Übrigen wünschen würde. Viel- beratungen zum Einzelplan 14 bereits detailliert über die mehr gilt das Besoldungsrecht für Beamte, Richter und Berechnung der Kosten infolge der stufenweisen Anglei- Soldaten, also für alle drei Gruppen gleichermaßen. Eine chung der Ost- an die Westbesoldung informiert worden. Sonderlösung für Soldaten ist zurzeit nicht realisierbar. Auch die Größenordnung der Mehrausgaben ist in die- Mit sind auch keine Bemühungen der Bundesländer be- sem Zusammenhang mitgeteilt worden. Sie beläuft sich kannt, in denen die FDP in Regierungsverantwortung auf circa 25 Millionen Euro ab 2008. steht, den eingeschlagenen Weg der Anpassung zu ver- kürzen. Der Antrag der FDP, der hier zur Debatte steht, lässt Es war die rot-grüne Bundesregierung, die unter ihrer Solidität vermissen. In den Etatberatungen hat diese Federführung mit dem Bundesbesoldungs- und -versor- Fraktion den Rotstift radikal an fast jedem Titel ange- gungsanpassungsgesetz 2003/2004 einen Fahrplan für setzt, um ihrem eigenen Anspruch als Ausgabenmini- die Ost-West-Angleichung auf den Weg gebracht hat. mierungspartei gerecht zu werden. Nun fordern sie Gegen Widerstände aus den Bundesländern wurde ver- Mehrausgaben, die sie selbst im regulären Haushaltsver- einbart, dass die weitere Angleichung der Ostbesoldung fahren nicht eingebracht haben. Sie können nicht einer- an das Westniveau bis spätestens 31. Dezember 2007 für seits das Trennungsgeld und die Aus- und Fortbildung die Besoldungsgruppen bis A 9 und für die übrigen Be- für die Soldaten kürzen sowie die Nachwuchswerbung soldungsgruppen bis zum 31. Dezember 2009 erfolgen zusammenstreichen – andererseits die Ost-West-Anglei- soll. Ich hätte mir gewünscht, die Angleichung in einer chung einfordern; das passt nicht zusammen. Da bleibt kürzeren Phase zu realisieren. Aber dies war nun einmal für mich nur festzustellen, dass es sich hiermit um einen der damals ausgehandelte Kompromiss mit den Ländern. Schaufensterantrag handelt. Mit dieser Vereinbarung erhalten die Soldatinnen und Im Übrigen möchte ich darauf verweisen, dass 1996 Soldaten sowie die Beamtinnen und Beamten der Bun- und 1997 durch eine Verfahrenspraxis im Zusammen- deswehr in den östlichen Bundesländern eine verlässli- hang mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr auf che Perspektive zur Anpassung ihrer Besoldung und dem Balkan die Gleichbesoldung weitestgehend durch- Versorgung an das Westniveau. gesetzt wurde. Der Rechnungshof hat diese Praxis in sei- Ich bitte Minister Jung, in den Gesprächen mit den (B) nen Bemerkungen 1997 zur Haushalts- und Wirtschafts- Ländern darauf hinzuwirken, die zeitlichen Fristen für (D) führung kritisiert. Der Rechnungsprüfungsausschuss hat die Angleichung nicht bis zum Ende auszuschöpfen, daraufhin im März 1998 das BMVg aufgefordert, die sondern zu versuchen, die Anpassung schon früher um- „geltenden Besoldungs- und Versorgungsvorschriften zusetzen. Es ist aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar, nicht weiterhin durch organisatorische Regelungen zu dass im Jahr 16 der deutschen Einheit gerade die Bun- umgehen“. Diese Beschlüsse sind selbstverständlich deswehr, die seit 1990 so erfolgreich wie kaum eine an- durch das Verteidigungsministerium umgesetzt worden. dere Institution den Prozess der inneren Einheit vollzo- gen hat, immer noch gezwungen ist, ihren Soldatinnen Festzustellen bleibt, dass es in Auslandseinsätzen und Soldaten unterschiedliche Löhne nach Ost-/West- keine Besoldungsunterschiede gibt. Die Bundeswehr hat Zugehörigkeit zu zahlen. Meine Erfahrungen durch also keine Sonderstellung, sondern ist in ihren Besol- Truppenbesuche und Wehrübungen zeigen mir, dass in- dungsstrukturen im öffentlichen Dienst eingebunden. nerhalb der Truppe die Ost-/West-Zugehörigkeit absolut keine Rolle mehr spielt. Petra Heß (SPD): Die FDP fordert in ihrem Antrag, Gerade bei Auslandseinsätzen zeigt sich, dass es we- die Ungleichbehandlung bei den Angehörigen der Bun- der im Leistungswillen noch in der Leistungsfähigkeit deswehr unverzüglich zu beenden und sie ausschließlich Unterschiede gibt. Die Soldaten und die zivilen Mitar- nach der heute nur für die westlichen Bundesländer gül- beiter aus den neuen Bundesländern erfüllen ihren Auf- tigen Besoldungsordnung zu besolden. trag genauso gut wie ihre Kameraden aus den alten Bun- desländern. Deshalb ist diese Differenz beim Sold nicht Die Forderung der Soldaten ist sehr wohl berechtigt mehr gerechtfertigt. Dennoch wird den in Ostdeutsch- und nachvollziehbar. Als ostdeutsche Abgeordnete, der land stationierten Soldatinnen und Soldaten bei ihrer diese Problematik durch zahlreiche Truppenbesuche Rückkehr an ihre Standorte beim Blick auf ihren Lohn- sehr gut vertraut ist, finde ich es jedoch bedauerlich, dass zettel jeden Monat aufs Neue vor Augen geführt, dass sich die FDP dieses Themas aus purer Effekthascherei ihre Leistung weniger wert ist, als die ihrer Kameraden bedient und nicht aus Sorge um die Soldaten. Der Ver- in den alten Bundesländern. Diese Ungleichbehandlung such, sich hiermit als Interessensvertreterin der Belange muss endlich überwunden werden und zwar schnell. der in Ostdeutschland stationierten Soldatinnen und Sol- daten und darüber hinaus aller Ostdeutschen zu profilie- Das geht aber nur im gütlichen Einvernehmen mit den ren, ist auf den ersten Blick durchschaubar. Schließlich Ländern. Deshalb ist der FDP-Antrag schlicht und er- war die FDP nach der Wiedervereinigung viele Jahre greifend unfair gegenüber unseren Soldatinnen und Sol- lang in Regierungsverantwortung. Aus dieser Zeit sind daten. Denn damit wird der – falsche – Eindruck 4202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) erweckt, es gäbe die Möglichkeit, durch Bundestagsbe- Osten Dienst, erhält jedoch weiterhin sein Westgehalt. (C) schluss eine sofortige Angleichung hinzubekommen. Sein Zwillingsbruder muss sich jedoch unverändert mit Ostgehalt begnügen. Alles ist gleich: Alter, Ausbildung, Wenn es der FDP wirklich ernst mit diesem Antrag Leistungsfähigkeit, Dienstort, Wohnort, etc. Nur das Ge- ist, sollte sie wirkungsvoll Druck auf die Länder aus- halt ist unterschiedlich. üben, in denen sie mitregiert. Denn ohne die Bundeslän- der im Boot zu haben, wird es keine schnellere Anglei- Innerhalb derselben Einheit kann die Vergütung also chung geben, als vereinbart. für die gleiche Arbeit unterschiedlich hoch sein, ohne dass man dies begründen könnte. Die Regelung, die solch unerträgliche Sachverhalte ermöglicht, ist zutiefst Birgit Homburger (FDP): Die Bundeswehr hat sich seit der Wiedervereinigung gewandelt. Sie musste sich ungerecht und muss umgehend geändert werden. Die auf vielfältige neue Aufgaben einstellen; denn mit der Ost-West-Besoldungsdifferenz bei den Angehörigen der Vereinigung 1990 ist auch die internationale Verantwor- Bundeswehr ist schon seit Jahren durch nichts mehr ge- tung Deutschlands gewachsen. Deutschland braucht rechtfertigt. Sie wirkt diskriminierend und demotivie- weiterhin eine leistungsfähige Bundeswehr, die für unser rend. Deshalb fordert die FDP mit dem Antrag „Gleiche Land Frieden und Freiheit sichert. Darüber hinaus muss Besoldung für alle Soldaten“ die Anhebung des Ostsol- die Bundeswehr aber auch im Bündnisrahmen zur Kri- des auf das Westniveau. senreaktion im Ausland fähig sein und für die Völkerge- meinschaft zur Verfügung stehen, wenn das politisch so Katrin Kunert (DIE LINKE): Für Die Linke steht entschieden wird. Dies erfordert Anpassungen und Um- fest, eine Demokratie braucht keine Interventionsarmee, gliederungen, die mitunter sehr schwierig sind. Sie ver- sondern eine Berufsarmee mit 100 000 Soldatinnen und langen von allen Beteiligten große Flexibilität und Op- Soldaten zur Landesverteidigung! Sehr geehrte Frau ferbereitschaft. Die Angehörigen der Bundeswehr haben Kollegin Homburger, Sie stellen in Ihrem Antrag fest, bisher alle ihnen gestellten Herausforderungen mit Er- dass die innere Einheit in der Bundeswehr seit langem folg und großem Engagement bewältigt. vollzogen ist. Wenn es denn so wäre, müssten wir heute nicht zum x-ten Mal über gleichen Sold reden. Allen Ex- Seit dem 3. Oktober 1990 hat sich am Beispiel der Bundeswehr gezeigt, was erreichbar ist, wenn Deutsche perten ist klar, dass diese Unterschiede nicht mehr zu aus Ost und West aufeinander zugehen und sich mit Tat- rechtfertigen sind. Aber die Koalition lässt auch die Lö- kraft einer gemeinsamen Aufgabe stellen. Alle Soldatin- sung dieses Problems schleifen. Die Linke hat in der nen und Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Bundes- letzten Haushaltsdebatte Anträge zur sofortigen Anglei- wehr haben eine großartige Leistung vollbracht, auch chung gestellt, weil die vorgesehene Angleichung im (B) (D) diejenigen, die vormals in der Nationalen Volksarmee Jahr 2009 nicht akzeptabel ist! ihren Dienst geleistet haben. In der Bundeswehr ist die Auch hier gilt das Sprichwort: Was Du heute kannst innere Einheit seit langer Zeit tatsächlich vollzogen. Aus besorgen, das verschiebe nie auf morgen! Hier geht es zwei Armeen ist eine Armee geworden. um die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und Es gibt nicht den geringsten Leistungsunterschied West. Die sofortige Angleichung würde für die Berufs- zwischen den Soldatinnen und Soldaten aus dem Westen soldaten und Soldaten auf Zeit 33 Millionen Euro und und dem Osten Deutschlands. Sowohl im Inland als auch für die zivilen Angestellten 36 Millionen Euro kosten, bei Auslandseinsätzen im Rahmen der Vereinten Natio- also die Summe, die der Kongo-Einsatz verschlingen nen, der Organisation für Sicherheit und Zusammenar- wird. Frau Kollegin Schäfer, Sie haben in Ihrer Rede beit in Europa, der NATO oder der EU erfüllen Soldatin- zum Bericht des Wehrbeauftragten 2004 gesagt: Die Be- nen und Soldaten sowie zivile Mitarbeiter aus den neuen soldungsstruktur muss auf den Prüfstand. Es ist eine Bundesländern ihren Auftrag in gleicher Qualität wie die längst überfällige Entscheidung, die Soldatengehälter in aus den alten Bundesländern. Trotzdem gibt es in der den neuen Bundesländern dem Westniveau anzupassen. Bundeswehr aufgrund der gravierenden Unterschiede in Das haben Sie im letzten Jahr festgestellt! Warum haben der Besoldung eine Zwei-Klassen-Armee, unterteilt in Sie unseren Anträgen im Verteidigungsausschuss nicht „Ost- und Westsoldaten“. zugestimmt? Frau Kollegin Heß, Sie kommen in der gleichen Debatte zu dem Schluss, dass eine Angleichung Stellen sie sich folgendes fiktive Beispiel vor: Zwil- so schnell wie möglich erfolgen muss. 2009 ist bei Ihnen lingsbrüder, geboren in Mecklenburg-Vorpommern, un- so schnell wie möglich? Schnell geht anders! mittelbar an der Grenze zu Niedersachsen, beide ausge- bildet zum Kfz-Mechaniker, melden sich freiwillig zur Wir fordern eine sofortige Angleichung und unterstüt- Bundeswehr. Sie werden wunschgemäß berufsbezogen zen den Antrag der FDP, weil wir grundsätzlich Anträge und heimatnah einberufen, einer zum Instandsetzungs- nach inhaltlichen Kriterien bewerten. Es kann doch nicht bataillon 3 nach Lüneburg in Niedersachsen, der andere sein, dass Sie unseren vernünftigen Anträgen nicht zu- zum Instandsetzungsbataillon 142 nach Hagenow in stimmen, nur weil die aus der Opposition kommen. Mecklenburg-Vorpommern. Der Lüneburger Soldat er- Dann stellen Sie doch die Anträge zur sofortigen Anglei- hält Westgehalt, der Hagenower Soldat Ostgehalt. Beide chung und Sie können sich unserer Unterstützung sicher werden zum Unteroffizier ausgebildet. Der Lüneburger sein! Uns geht es um die Soldatinnen und Soldaten und Soldat wird danach nach Hagenow in das Bataillon sei- nicht um das Herkunftsprinzip von Anträgen in diesem nes Zwillingsbruders versetzt. Er leistet jetzt auch im Haus! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4203

(A) Innere Einheit in der Bundeswehr heißt aber auch: soldung muss sich dabei am Allgemeinen Lebensstan- (C) Erstens: die Anerkennung von Vordienstzeiten in der dard orientieren. NVA. Das ist auch für die Soldaten und Soldatinnen sowie Da nach wie vor die Dienstzeit in der NVA als „ge- für die Zivilbeschäftigten der Bundeswehr ein ganz dient in fremden Streitkräften“ eingestuft wird, ergeben wichtiger Punkt. Zu Recht wollen sie für gleiche Tätig- sich daraus soziale Benachteiligungen für Angehörige keiten und gleiche Leistungen auch gleiches Geld. In der NVA. den vergangenen Jahren habe ich das Anliegen, eine gleiche Besoldung innerhalb der Bundeswehr zu ermög- Während Bundeswehrsoldaten eine vollständige Pen- lichen, stets unterstützt. Im Bereich der Bundeswehr sind sion auf Grundlage ihrer Dienstzeit erhalten, bekommen wir dabei zwar langsam, aber doch ein gutes Stück vo- Bundeswehr-NVA-Soldaten eine kleinere Pension auf- rangekommen. So erhalten alle im Auslandseinsatz be- grund ihrer kürzeren Dienstzeit in der Bundeswehr. Die findlichen Soldaten und Soldatinnen für die Dauer ihres Dienstzeit in der NVA wird nicht anerkannt. Wir fordern Einsatzes die gleiche Besoldung. Um die Belastungen hier sofortiges Handeln! der Transformation abzumildern, haben in den letzten Zweitens: die Unterschiede bei der Hinzuverdienst- Jahren zudem fallspezifische Sonderregelungen dazu grenze. Bundeswehrangehörige haben das Recht, nach beigetragen, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Be- Eintritt in den Ruhestand ihr Einkommen auf 120 Pro- rufs- und Zeitsoldaten nach Westniveau bezahlt werden. zent ihres letzten Bezuges durch Zuverdienst zu steigern. Wer – unabhängig von Wohn- oder Geburtsort – dauer- Bundeswehr-NVA-Soldaten hingegen dürfen nur bis zu haft im Westen stationiert und verwendet wird, erhält au- 320 Euro hinzuverdienen, ungeachtet der Höhe des letz- ßerdem volle Westbezüge. Auch der Wehrsold der Wehr- ten Bezuges. Wir fordern auch hier eine schnelle Lö- pflichtigen ist bundesweit einheitlich. sung! Dieser Weg muss konsequent weiter gegangen wer- den. Deshalb ist es richtig, wenn die Bezüge von Bun- Drittens: Endgültige Klärung der Statusfrage. Ange- deswehrangehörigen in Ostdeutschland stufenweise an hörige der NVA, die in die Bundeswehr übernommen das Westniveau angeglichen werden. Für alle Gehalts- wurden, wurden in ihrem Dienstrang herabgestuft. An- stufen bis zum Leutnant ist die Anhebung bis zum Jahr gehörige der NVA dürfen ihren erworbenen Dienstrang 2007 geplant. Bis 2009 sollen die höheren Gehaltsstufen auch nicht mit dem Zusatz „außer Dienst“ führen, anders folgen. Sonderregelungen für die Bundeswehr müssen als Angehörige der Bundeswehr oder der Wehrmacht. aber immer auch wohl begründet und vermittelbar sein. Begründet wird dies durch den Einigungsvertrag, in den Eine einheitliche Lösung für den öffentlichen Dienst ist die Reservistenverordnung der DDR nicht übernommen daher die bessere Variante. (B) wurde. Legitimiert wird dies im § 8 des Wehrpflichtge- (D) setzes, demnach jeder Dienst in einer anderen Armee als Gerade unter den Aspekten Motivation und Rekrutie- der Bundeswehr als Wehrdienst in fremden Streitkräften rung sind Besoldungsfragen besonders ernst zu nehmen. angesehen wird. Durchschnittlich sind derzeit knapp 7 000 Soldaten und Soldatinnen weit außerhalb deutscher Grenzen mit Man- Nur die Bundesrepublik Deutschland hat die DDR nie dat der Vereinten Nationen in internationalen Krisenein- als souveränen Staat anerkannt und den Alleinvertre- sätzen eingesetzt. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur tungsanspruch für das ganze deutsche Volk erhoben. Wie multilateralen Krisenbewältigung und Kriegsverhütung ist es da möglich, dass der Dienst in der NVA als Dienst und schaffen in Krisengebieten die notwendigen Voraus- in fremden Streitkräften gewertet wird? setzungen zur Friedenskonsolidierung – auf dem Balkan Wir müssen schnellstens alle Ungleichbehandlungen und in Afghanistan nimmt die Bundeswehr eine Schlüs- zwischen ost- und westdeutschen Soldatinnen und Sol- selrolle ein. Ich erlebe es immer wieder vor Ort: Die daten klar benennen und beseitigen! Gleiche Besoldung Bundeswehr erfüllt ihre Aufgaben professionell, klug in Ost und West ist ein unabdingbarer erster Schritt! und verlässlich. Zu Recht wird der Einsatz ihrer Solda- Meine Damen und Herren der großen Koalition, wer es ten und Soldatinnen von der Bevölkerung in den Ein- ernst meint, wenn er den Soldatinnen und Soldaten für satzgebieten und ihren Verbündeten geschätzt und aner- ihre Arbeit dankt, sollte dabei immer im Hinterkopf ha- kannt. ben, dass Lob und Anerkennung sich in Gleichbehand- Trotz dieser positiven Gesamtbilanz darf jedoch nicht lung und angemessener Bezahlung ausdrücken muss! vergessen werden, dass die neuen Bundeswehraufgaben auch eine ganze Reihe zusätzlicher Anforderungen an die Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Soldaten und Soldatinnen stellen. In den internationalen Die Angleichung der Besoldung von Bundeswehrange- Kriseneinsätzen sind heute neben militärisch-handwerk- hörigen in Ost- und Westdeutschland ist überfällig. Aus lichen Fähigkeiten zusätzliche soziale und interkulturelle zwei Gründen halten wir jede Art der Differenzierung Kompetenzen gefragt. Wer für die Bundeswehr hoch nach Ost-West für überholt. Zum einen haben sich die qualifiziertes und motiviertes Personal gewinnen will, Lebenshaltungskosten in Ost- und Westdeutschland muss daher sowohl in Ausbildung und Bildung als auch inzwischen nahezu angeglichen. Zum anderen ist eine in Ausrüstung, Ausstattung und in eine auf dem zivilen Angleichung für die Menschen im Osten ein wichtiges Arbeitsmarkt konkurrenzfähige Besoldung investieren. Signal, dass es die Politik auch Ernst meint mit der Alles andere würde Rekrutierungsschwierigkeiten, sin- Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Die Be- kender Leistung und Demotivation zuarbeiten. 4204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Gert Winkelmeier (fraktionslos): Gleiche Besol- nanziell unwürdige Behandlung zu beenden, ein Zeichen (C) dung der Soldatinnen und Soldaten in Ost und West für gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West auf sollte normal sein, so wie gleicher Lohn für gleichwer- Westniveau zu setzen und damit endlich auch bei der tige Arbeit, die Angleichung der Lebensverhältnisse in Bundeswehr anzufangen. Ost und West und gleicher Lohn für alle Beschäftigten in unserem Land, unabhängig davon, ob sie im Norden oder Süden, im Osten oder Westen arbeiten. Anlage 27 Viele Politiker haben sich in den letzten 15 Jahren in Zu Protokoll gegebene Reden Sonntagsreden darin gefallen, von der stärkeren interna- tionalen Verantwortung des zusammengewachsenen zur Beratung der Anträge: Deutschlands zu sprechen. Beim näheren Hinsehen er- schöpft sich diese Verantwortung bei der Bundeswehr in – Notschleppkonzept den veränderten Bedin- internationalen – so genannten – Friedenseinsätzen. Wer gungen der Seeschifffahrt anpassen allerdings noch näher hinsieht, weiß, dass die Soldatin- – Notschleppkonzept an gestiegene Herausfor- nen und Soldaten auch im Jahr 16 nach der deutschen derungen anpassen Einheit noch immer unterschiedlich besoldet werden. – Sicherheitskonzept für Nord- und Ostsee op- Es gibt zwei verschiedene Soldstaffelungen in der timieren Bundeswehr; das ist durch nichts zu rechtfertigen. Es können keine vernünftig nachvollziehbaren Argumente (Tagesordnungspunkt 38 j) beigebracht werden, warum die Besoldungsordnungen nach westlichen und östlichen Bundesländern eingeteilt Enak Ferlemann (CDU/CSU): Nach jahrelanger sind. Danach erhalten die in den östlichen Bundeslän- Diskussion darüber, welche technischen Anforderungen dern eingesetzten Bundeswehrangehörigen nur 92,5 Pro- an die Notschlepper in Nord- und Ostsee zu stellen sind, zent der Bezüge ihrer Kameraden im Westen. Das gilt haben wir nun endlich ein gutes Ergebnis gefunden. auch für alle Familien- und Amtzuschläge und überhaupt für alle Stellenzulagen. Besonders beschämend finde Das sieht konkret so aus: ich, dass noch immer auch der einfache Wehrsold der Wehrpflichtigen so gering ist, dass ein normales Leben Erstens. Für die Nordsee muss als Ersatz für den von diesen Beträgen nicht möglich ist. Hochseeschlepper „Oceanic“ ein Notschlepper vorge- halten werden, der bei einem auf 6 Meter reduzierbaren Die ursprüngliche und heute teilweise noch ver- Tiefgang die Leistung von 200 Tonnen Pfahlzug und (B) wandte Begründung für ein geringeres Lohnniveau im 19,5 Knoten Geschwindigkeit erbringt und gemäß den (D) Osten war bzw. ist die damals dort herrschende niedri- Richtlinien des Germanischen Lloyd für den Einsatz in gere Produktivität. Diese Begründung ist seit Jahren un- gefährlicher Atmosphäre geeignet ist. haltbar. Trotzdem wird ständig versucht, im Osten ein Niedriglohngebiet aufrecht zu erhalten. Damit soll letzt- Zweitens. Für die Ostsee muss ein Notschlepper vor- lich allen Menschen im Osten signalisiert werden, dass gehalten werden, der 100 Tonnen Pfahlzug Leistung bei sie weniger gut arbeiten als Menschen im Westen. Es ist einer Geschwindigkeit von 16,5 Knoten erbringt. Dieser aber nicht einzusehen, dass Feuerwehrleute, Kranken- Schlepper muss nach den Richtlinien des Germanischen schwestern und Wachschutzleute im Osten weniger ver- Lloyd für den Einsatz in ölbedecktem Gewässer geeignet dienen als im Westen. Sie alle haben das Recht auf glei- sein und zusätzlich eine Gasspür- und Warnanlage zum chen Lohn für gleiche Arbeit. Ein Niedriglohngebiet im Aufspüren einer gefährlichen Atmosphäre haben. Osten ist nicht hinnehmbar. Als Abgeordneter, dessen Wahlkreis an der Nordsee- Als vor Jahren die Debatte um die Angleichung der küste liegt, bin ich froh, wenn wir zukünftig Notschlep- Lebensverhältnisse in Ost und West geführt wurde, die per mit höheren Leistungskriterien haben. Denn der Not- diese reiche Bundesrepublik noch immer nicht erreicht schlepper muss gerade bei schlechtem Wetter innerhalb hat, da sprach die damalige Oppositionspolitikerin von zwei Stunden an jedem Punkt seines vorgesehenen Merkel davon, dass die Löhne im Westen gesenkt und Einsatzgebietes wirksam erste Hilfe leisten können. dem niedrigeren Niveau im Osten angeglichen werden Dazu gehört auch die Feuerlöschleistung. Er muss aber müssen. Dieses Stichwort hatten ihr zuvor die Unterneh- auch schneller als ursprünglich geplant sein, weil heu- merverbände geliefert. Seither wird versucht, nach die- tige Großcontainerschiffe eine deutlich höhere Drift- sem Grundsatz zu verfahren. Was wir damals noch nicht geschwindigkeit haben. Die Kombination der Leistungs- wussten, ist, dass die Löhne im Osten immer künstlich kriterien aus Pfahlzug, Tiefgang und Geschwindigkeit ist auf Abstand zu denen im Westen gehalten werden. Dies notwendig, um so frühzeitig wie möglich, aber auch im ist einfach nicht hinnehmbar und unserer Gesellschafts- flacheren Küstengebiet noch einen leistungsstarken Ein- ordnung unwürdig. satz zu gewährleisten. Die oftmals gefährliche Ladung von Containerschiffen und Gastankern erfordert Einsatz- Die Bundeswehr ist zweifellos nicht nach Kriterien fähigkeit in gefährlicher Atmosphäre. der Produktivität zu beurteilen. Ein Soldat, der in Mag- deburg stationiert ist, riskiert beim Auslandseinsatz ge- Das Notschleppkonzept des Bundes hatte genau an nauso sein Leben wie sein Kamerad in Koblenz. Deshalb dieser Stelle seinen Schwachpunkt. Jetzt haben wir die- kann ich die Bundesregierung nur auffordern, diese fi- sen Schwachpunkt beseitigt und damit das Konzept an Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4205

(A) das angepasst, was vor unseren Küsten in der Seeschiff- Lassen Sie mich zum Schluss anmerken: Wer die (C) fahrt tatsächlich passiert. Küste kennt, weiß, dass wir dort einmalige Landschaften wie zum Beispiel den Nationalpark Wattenmeer und Das aktuelle Szenario sieht so aus: viele andere Schutzgebiete haben. Für diese Gebiete Erstens. Die Verkehrszahlen auf den Seeschifffahrts- müssen wir Vorsorge treffen. Havarien können aber auch straßen nehmen generell zu. den Tourismus und die Fischerei bedrohen. Davon lebt die Küste, davon leben viele Menschen dort. Ich bin des- Zweitens. Die Schiffe werden nicht nur größer, son- halb außerordentlich froh, dass wir uns in diesem Hause dern führen auch einen höheren Anteil an Gefahrgutla- auch wegen der Existenzen, die daran hängen, einig dungen mit sich. sind, mit einer Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Not- Drittens. Die Häfen haben Zuwachsraten und beste schlepper Gefahren sofort und wirkungsvoll abwenden Aussichten auf weiteres wirtschaftliches Wachstum. zu wollen. Wenn der Jade–Weser–Port in Wilhelmshaven fertig ist, Wollen wir hoffen, dass es trotz unserer Vorsorge nie werden dort Megacontainerschiffe ihre Fracht ebenso zu einem schwerwiegenden Unfall vor unseren Küsten umschlagen wie Gas- und Chemikalientanker. kommt. Viertens. In der Ostsee werden vor allem die Tanker- verkehre erheblich zunehmen. Die Entwicklung ist also Dr. Margrit Wetzel (SPD): 1994: 852 Menschen ver- etwas anders zu beurteilen als an der Nordsee. Deshalb lieren ihr Leben, weil die Fähre „Estonia“ vor der finni- ist es dort besonders wichtig, dass die Ausrüstung nach schen Küste sinkt. 1998: Die „Pallas“ fängt bei schwe- den Richtlinien für den Einsatz in ölbedecktem Gewäs- rem Sturm und hoher See südwestlich Esbjerg Feuer. ser ausgerichtet ist. Versuche, das Schiff auf die offene See zu schleppen, Das heißt: Das Notschleppkonzept muss an die mit scheitern, die „Pallas“ verdriftet ins Wattenmeer und diesen Schiffsverkehren verbundenen Gefahrenlagen oh- läuft vor Amrum auf Grund. 1999: Der Produktentanker nehin angepasst werden. Es muss sich an der Gegenwart „Erika“ bricht vor der bretonischen Küste auseinander. und der Zukunft ausrichten. 2002: Der 26 Jahre alte Tanker „Prestige“ quert die Ost- see, passiert die Kadetrinne, gerät im Atlantik in Seenot, Wir dürfen aber auch die Vergangenheit nicht aus den bricht auseinander und sinkt vor der Küste Spaniens. Augen verlieren. Es ist wichtig, dass wir Lehren aus der 2002: Wenige Wochen später sinkt der Autotransporter Havarie der „Pallas“ 1998 und den zahlreichen anderen „Tricolor“ nach einer Kollision binnen einer halben Unfällen ziehen. Schließlich ist das Notschleppkonzept Stunde im Ärmelkanal. Mehrere Schiffe kollidieren spä- eine Folge aus schmerzlichen Erfahrungen in den ver- ter mit dem Wrack, das erst fast ein Jahr, später in Sek- (B) gangenen Jahren. Was passieren kann, wenn wir für den tionen zersägt, geborgen werden kann. (D) Notfall unzureichend gerüstet sind, ist keine Versuchs- reihe am Modell, sondern erlebte Wirklichkeit. Deshalb Dezember 1999: Über der Nordsee tobt der Orkan ist es richtig und konsequent, die Sicherheit vor dem „Anatol“ mit der Stärke drei auf der amerikanischen Hintergrund der Erfahrungen zu erhöhen. Hurrikanskala. Der Massengutfrachter „Lucky Fortune“ meldet Maschinenausfall, wirft den Anker und driftet Ich möchte mich bei allen Beteiligten bedanken, die trotzdem mit zeitweise über 5 Knoten auf Sylt zu. Welch hartnäckig dafür gekämpft haben, die Leistung der Not- ein Glück, dass wir den Notschlepper „Oceanic“ haben, schlepper den tatsächlichen Erfordernissen anzupassen, der in 4,5 Stunden trotz des Orkans 52 Seemeilen bewäl- auch wenn dies mit höheren Kosten verbunden ist. Mit tigt, den Havaristen 12 Meilen vor Sylt erreicht, eine all denen, die heute zufrieden sein können, bin ich der Schleppverbindung herstellen und die „Lucky Fortune“ Meinung, dass die Sicherheit unserer Küsten Vorrang kurz vor der Strandung stoppen kann! haben muss vor Haushaltserwägungen. Mein besonderer Dank gilt meinem Kollegen Ingbert Liebing, der mit mir Der Nationalpark Wattenmeer ist das größte Küsten- gemeinsam in vielen Arbeitsgruppensitzungen für den feuchtgebiet Europas. Mehr als 100 000 Schiffe kreuzen heutigen Erfolg gestritten hat. jährlich die Deutsche Bucht. Hamburg ist der achtgrößte Hafen der Welt, Wilhelmshaven freut sich auf einen Ich weiß, dass mehrere Schlepper mit der Leistungs- Tiefwasserhafen, in dem die größten Containerschiffe fähigkeit, wie wir sie für die Ausschreibungen jetzt vor- erwartet werden, die derzeit im Bau sind: Sie tragen bis gegeben haben, schon im Bau sind. Die technischen An- zu 13 000 TEU, allein die Reederei Maersk hat zehn sol- forderungen zu erfüllen, ist also kein großes Problem. cher Megaschiffe bestellt. Wilhelmshaven ist Deutsch- Nachdem die Haushaltsmittel aufgestockt worden sind, lands größter Ölhafen, Eon plant dort einen LNS-Im- bin ich überzeugt, dass dieses Budget ausreichen wird, port-Terminal. Die Zahl der LNS-Tanker ist von 1999 um die höheren Kosten auch finanzieren zu können. Ich bis 2005 um 70 Prozent auf jetzt 191 gestiegen. Weitere bin den Haushältern dankbar, dass sie die notwendigen 131 LNS-Tanker sind derzeit bei Werften in Auftrag ge- Mittel in den Haushalt eingestellt haben. Denn die Ent- geben. Ein riesiges Chemiewerk wird ebenfalls dort ent- scheidung kann nicht länger hinausgezögert werden. Wir stehen. müssen für die Bauzeit eines Notschleppers nach der Auftragserteilung mindestens 22 bis 24 Monate rechnen. An der Unterelbe haben wir mit Brunsbüttel und Der Schiffbauboom der letzten Jahre führt zu langen Stade gleich zwei große Chemiestandorte. Keine Frage: Lieferzeiten für Motoren, Getriebe und Propeller. Man Die Gefahrguttransporte nehmen zu, die Zahl der muss da mit 18 und mehr Monaten rechnen. Schiffsbewegungen wächst mit den höchst erfreulichen 4206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Umschlagsteigerungen, die die deutschen Häfen, allen Wirkleistung auch bei schwerem Wetter, er hat gewisse (C) voran Hamburg, vermelden. Der Zuwachs soll von heute Leistungsreserven. Der neue Schlepper muss 19,5 Kno- über acht Millionen TEU im Hamburger Hafen bis 2015 ten Geschwindigkeit bringen, damit der deutlich höheren auf über 18 Millionen gesteigert werden. Die Container- Windangriffsfläche und der größeren Driftgeschwindig- schiffe werden größer. Zugleich wird damit auch ihre keit von Megacontainerschiffen wirksam begegnet wer- Windangriffsfläche größer und das heißt, dass sie erheb- den kann. lich schneller verdriften. Das BSH hat in der Nordsee Ich betone ausdrücklich: Wir wollen einen richtigen jetzt bereits elf Offshorewindparks genehmigt, auf die Bergungsschlepper mit hoher Schlechtwettergeschwin- Havaristen gegebenenfalls zutreiben können. Was, wenn digkeit, keinen Ankerziehschlepper oder Bohrinselver- die „Lucky Fortune“ auf der Drift gen Sylt in einem sorger! Windpark gestrandet wäre? Unsere französischen Nachbarn haben gerade berich- Sie mögen sich vielleicht fragen, warum wir Ver- tet, dass nur aufgrund der Rumpfform und der Ge- kehrspolitiker mit unserem Antrag technische Details für schwindigkeit von 19,5 Knoten der neue französische die Notschlepper der Zukunft vorgeben? Ist das unsere Notschlepper mit einer Anfahrtszeit von 1,5 Stunden ei- Aufgabe? Ja, ja und noch einmal ja! Wer, wenn nicht nen auf die bretonische Küste zutreibenden Frachter wir, die Parlamentarier der Deutschen Bundestages, ha- circa 30 Minuten vor der Strandung erfolgreich abfangen ben die Verantwortung für die Qualität und Leistungsfä- konnte. Der Nordseenotschlepper muss zusätzlich mit higkeit der Notschlepper in Nord- und Ostsee, die aus Gas- und Explosionsschutz nach den Richtlinien des GL Steuergeldern gechartert und zum effektiven Einsatz für Chemikalienunfallbekämpfungsschiffe ausgerüstet vorgehalten werden? Wir haben die Verantwortung da- sein. Die Besatzung braucht wirksamen Eigenschutz und für, dass die 50 Millionen Touristen, die jährlich in un- optimale Zugriffsmöglichkeiten für jegliche Art von Ha- sere Wattenmeerregion kommen, sicher sind, dass Küs- varie. tenbewohner und Wattenmeer wirksam geschützt werden vor Ölverschmutzungen oder giftigen Gasen und Für die Ostsee unterstützen wir den Wunsch der Bun- Chemikalien, die bei Havarien entstehen oder entwei- desregierung, den neuen Schlepper, der die Kadetrinne chen können. absichern soll, nach den Leistungskriterien vorzuhalten, die auch in Schweden zum Einsatz kommen: 100 Ton- Das Notschleppkonzept der Bundesregierung, das nen Pfahlzug bei 16,5 Knoten Geschwindigkeit und nach der „Pallas“-Katastrophe erarbeitet wurde, war un- 6 Meter Tiefgang mit einer Ausrüstung nach den Bau- seren europäischen Nachbarn durchaus Vorbild. Es vorschriften des GL für Ölfangschiffe. wurde 2001 verabschiedet und nimmt zu Recht für sich (B) in Anspruch, wissenschaftlich korrekt erarbeitet worden Eine unserer wichtigen Forderungen ist, dass das (D) zu sein. Aber: Was für Lärmschutzwände gut sein mag Schiffsführungspersonal über gute Kenntnisse der engli- – nämlich von Durchschnittswerten auszugehen und sich schen Sprache verfügen, die gesamte Besatzung aber nicht auf Spitzenbelastungen zu konzentrieren – taugt deutsch in Wort und Schrift beherrschen muss. Eine gute politisch nicht als Vorbild für große Schiffshavarien. Die Kommunikation der Einsatzkräfte sichert den Erfolg im Entwicklung geht mit Riesenschritten weiter, keine Pro- Ernstfall. Die gecharterten Notschlepper und ihre Besat- gnose konnte realistisch vorhersehen, dass in naher Zu- zungen werden von der Wasser- und Schifffahrtsverwal- kunft bis zu 13 000 TEU-Containerschiffe bei uns gela- tung eingesetzt. Sie erstellt die Einsatzpläne, führt Übun- den und gelöscht werden. Der Umschlagzuwachs in den gen durch und erteilt der Besatzung Anweisungen, die Häfen wurde drastisch unterschätzt, die Offshorewind- verstanden werden müssen. Im Einsatz müssen die ge- parks waren noch vage Utopien. charterten Notschlepper mit bundeseigenen Schiffen un- ter schwierigen Bedingungen zusammenarbeiten. Auch In den letzten Jahren gab es zahlreiche öffentlich ge- unsere Nachbarn England, Frankreich, Niederlande, führte Auseinandersetzungen um die Leistungskriterien Spanien, Italien fordern, dass ihre Notschlepperbesat- der Notschlepper, bei denen Vertreter der Behörden in zungen die Nationalsprache in Wort und Schrift beherr- fachlichem Widerspruch zu Experten aus vielfältigster schen müssen. Dies ist also kein deutscher Alleingang, maritimer Praxis standen: Wenn Experten sich streiten, sondern ein wichtiger Baustein für ein erfolgreiches na- haben Politiker die Pflicht, zu zweifeln, zu prüfen und tionales Notschleppkonzept. genau abzuwägen, ob sie eingreifen und politisch ent- scheiden, wie und mit welcher Leistung unsere Küsten Unsere parlamentarische Initiative, die Leistungsda- geschützt werden sollen. ten der neuen Notschlepper für Nord- und Ostsee vorzu- geben, erfolgt einstimmig über alle Fraktionen und in Das haben wir getan, und zwar ganz bewusst und im ausdrücklicher Übereinstimmung mit der politischen Fachausschuss einvernehmlich über alle Fraktionen: Wir Leitung des BMVBS. Mit Befremden haben wir Versu- wollen für die Nordsee als Ersatz für den Schlepper che der letzten Tage zur Kenntnis genommen, Stellung- „Oceanic“ einen Bergungsschlepper, der bei 6 Meter nahmen von behördenexternen Fachleuten öffentlich zu Tiefgang 19,5 Knoten Geschwindigkeit und einen Pfahl- diskreditieren. Wissenschaftliche Sorgfalt mag gut sein, zug von 200 Tonnen bringt und damit auch in flacheren aber die politische Verantwortung für Entscheidungen Gewässern einen leistungsstarken Einsatz ermöglicht. hat das Parlament: Wir übernehmen diese Verantwor- Der Notschlepper sollte die Schleppverbindung zum Ha- tung im Wissen um die Gefahren, vor denen wir unsere varisten so früh wie möglich legen: Also muss er seinen Küste, die Menschen hinter den Deichen und das Wat- Tiefgang erhöhen können. Damit verbessert sich seine tenmeer wirksam schützen wollen. Wir erwarten jetzt, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4207

(A) dass die Ausschreibung schnellstmöglich erfolgt, weil gelassen und das Ministerium zur Einsicht bewegt ha- (C) die Lieferzeiten für Motoren, Propeller, Getriebe und an- ben. Aber ich möchte hier auch betonen, dass die FDP dere Großkomponenten über 18 Monate betragen und seit Jahr und Tag immer wieder den Finger in die Wunde aufgrund der erfreulichen Auslastung der Werften für gelegt und den Druck auf das Ministerium aufrechterhal- den Bau der Notschlepper zwei Jahre kalkuliert werden ten. Wir haben diverse Kleine Anfragen und parlamenta- müssen. rische Fragen zu diesem Komplex auf den Weg gebracht, immer wieder auf die Widersprüche in der Haltung des Hans-Michael Goldmann (FDP): Die unendliche Ministeriums und auf Versäumnisse hingewiesen. Geschichte Notfallschlepper für Nord- und Ostsee nähert Allerdings wird die heutige Freude dadurch getrübt, sich endlich einem guten Ende, eine Geschichte, bei dem dass die Einigung im Verkehrsausschuss sich noch nicht sich das Bundesverkehrsministerium nicht gerade mit im Haushalt wiederfindet. Die erhöhten technischen An- Ruhm beklekkert hat. Nach dem Pallas-Unglück hatte forderungen an die Schlepper werden nicht zum Nullta- die Regierung die Projektgruppe „Notschleppen“ einge- rif zu bekommen sein. Mehr Sicherheit kostet mehr setzt und die FDP hat immer begrüßt, dass das flächen- Geld. Auch wurde versäumt, die bisherigen Verzögerun- deckende Vorhalten ausreichender Notschleppkapazität gen bei der Ausschreibung durch eine längere Laufzeit als staatliche Aufgabe zum Schutz der deutschen Küsten der Verpflichtungsermächtigung zu kompensieren. Da- anerkannt wurde. bei hat das PwC-Gutachten eindeutig festgestellt, dass Doch zunächst wurde jahrelang mit den Experten von der Bau und Betrieb eines Schleppers durch ein privates der Küste darüber gestritten, ob der geplante neue Not- Unternehmen sich nur rechnet, wenn die Charterlaufzeit fallschlepper für die Nordsee eine Tiefgangsbeschrän- zehn Jahre beträgt. Deshalb müssen wir bei den bald be- kung von 6 Meter haben sollte oder nicht. Alle Verbände ginnenden Beratungen zum Haushalt 2007 dafür sorgen, an der Küste waren dagegen, doch das Ministerium war dass die Verpflichtungsermächtigung von 2016 auf 2018 nicht davon abzubringen. Auch ein von der Schutzge- verlängert wird und dass überprüft wird, ob die Anforde- meinschaft Deutsche Nordseeküste, SDN, eingereichtes rungen an die neuen Notfallschlepper mit dem alten Gutachten führte zu keiner Reaktion der Verwaltung. Haushaltsansatz wirklich zu realisieren sind. Durch die Erst als die FDP 2003 eine Kleine Anfrage an die Bun- entsprechende Mittelbereitstellung sollte auch deutlich desregierung richtete, bequemte sich das Verkehrsminis- werden, dass bei den geforderten hohen Ansprüchen an terium dazu, auf das Schreiben der SDN zu reagieren. die neuen Notfallschlepper das überragende Know-how deutscher Schiffsingenieurkunst zum Einsatz und die Nachdem dieser Streit endlich mit dem Kompromiss Wertschöpfung der deutschen Küste zugute kommen eines variablen Tiefgangs beendet wurde und wir alle kann. (B) dachten, nun geht es voran, vergaß das Ministerium für (D) den Haushalt 2005 die nötigen Haushaltsmittel zu bean- Mit einiger Verzögerung werden wir nun also leis- tragen. Nun verging wiederum mehr als ein Jahr, in dem tungsstarke Notfallschlepper bekommen, die auch der wir uns über Geschwindigkeit, Pfahlzug und Gas- und Tatsache Rechnung tragen, dass der Schiffsverkehr mit Explosionsschutz auseinander setzten. Noch in der Ant- immer größeren Schiffen zunimmt. Das ist ein gutes Sig- wort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der nal für die Küste. FDP von diesem Frühjahr hieß es kategorisch, dass eine Nachbesserung beim Notschleppkonzept nicht notwen- Dorothee Menzner (DIE LINKE): Das, worum es dig sei. bei diesen Anträgen geht, ist ein Thema, bei dem wir lei- der immer wieder geneigt sind, es zu verdrängen oder All diese Auseinandersetzungen hätten wir uns erspa- auf die lange Bank zu schieben. Es geht um die Seenot- ren können, wenn das Ministerium nicht so gemauert konzepte in der Nordsee und in der Ostsee, um die Si- hätte, wenn das Ministerium sich einer offenen und ehr- cherheit von Menschen und um Lebensräume. Da freue lichen Diskussion mit den Fachleuten von der Küste ge- ich mich, dass es dem Verkehrsausschuss des Bundes- stellt hätte. tags in der letzten Sitzung gelungen ist, aus den Vorlagen Die Schutzgemeinschaft Deutsche Nordseeküste, die der Fraktionen einen gemeinsamen Beschluss zu zau- Insel- und Hallig-Konferenz und der Deutsche Nautische bern. In Nord- und Ostsee brauchen wir die passenden Verein haben sich beim Ringen um den bestmöglichen Schiffe, um für alle Notfälle gewappnet zu sein, nicht ir- Schutz unserer Küstengewässer und unserer Küsten sehr gendwelche, sondern die richtigen, die es im Notfall verdient gemacht und das Gutachten der SDN und die auch wirklich schaffen, Gefahren abzuwenden. Stellungnahme des Deutschen Nautischen Vereins zum In der Ostsee fehlt bislang ein kräftiges Schleppschiff, Notschleppkonzept der Bundesregierung haben dann zumal es dort die Kadettrinne gibt, die nördlich der deut- letztlich auch die Große Koalition überzeugt. schen Küste ihre Tücken hat. Dort nimmt bei größeren Die FDP begrüßt dies und deshalb gab es keinen ver- Schiffen die nutzbare Fahrrinne auf wenige hundert Me- nünftigen Grund mehr, unseren eigenen Antrag aufrecht- ter ab. Da sollten wir handeln und für Schleppkraft sor- zuerhalten. Ich freue mich, dass wir nach so vielen Jah- gen, bevor es zu spät sein könnte. ren endlich zu einer gemeinsamen Position gefunden haben. Zwar hat die Parlamentarische Staatssekretärin in der Ausschusssitzung auf die Haushaltszwänge hingewie- Ich schließe mich dem Dank der SDN an meine Kol- sen. Wir sollten aber trotzdem aufpassen, dass der Pfahl- legen von der SPD und der CDU an, dass sie nicht locker zug – die Zugkraft bei Notschleppschiffen – nicht zu 4208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) sehr der Kassenlage angepasst wird. Wir sollten uns dehäfen kommen. Für Tanker dieser Größe reicht der (C) auch nicht Trugschlüssen hingeben und uns jetzt sicherer vom Bundesverkehrsministerium im Jahr 2001 empfoh- fühlen, nur weil die EU endlich Schritte in die Wege lei- lene Mindest-Pfahlzug von 80 Tonnen für den in Rostock- tet, um für den Seetransport schwerer Öle den Einsatz Warnemünde stationierten Notschlepper nicht aus, er von Schiffen mit doppelten Tankhüllen zu forcieren. Die muss über eine Schleppleistung von mindestens neue Regelung ist nämlich beileibe nicht für alle Schiffe 100 Tonnen verfügen. verbindlich. Sie lautet: Ölschiffe, die Schweröle beför- In Anbetracht der Entwicklung in der internationalen dern, dürfen nur dann eine Flagge der Gemeinschaft füh- Containerschifffahrt mit Schiffsgrößen über 9 000 TEU, ren, wenn es sich um Doppelhüllen-Öltankschiffe han- die die deutschen Nordseehäfen schon heute – 2001: delt. 6 500 TEU – regelmäßig anlaufen, muss auch die Im Klartext heißt das: Öltanker, die nicht unter der Schleppleistung des vor Norderney stationierten Not- Flagge eines EU-Staates fahren, dürfen nach wie vor schleppers angepasst werden. Die Schleppleistung in der Einhüllenschiffe sein und trotzdem schweres – hochgif- Nordsee muss auf mindestens 200 Tonnen erhöht wer- tiges – Öl transportieren. Dies bedeutet weiterhin erheb- den. Ebenso erhöht werden muss die Geschwindigkeit in liche Risiken und zwingt uns, weiterhin über mehr Si- der Nordsee auf mindestens 19 Knoten. Denn die Not- cherheit nachzudenken. Sicherheit ist stets das Resultat schlepper müssen den dynamischen Auftrieb, den Con- technischer, organisatorischer und personeller Maßnah- tainerschiffe, die in der Regel mit hoher Deckladung men. fahren, erzeugen, zusätzlich noch überwinden und ihre Zugkraft in Abhängigkeit von der Windstärke noch er- Erinnern wir uns: Vor vier Jahren zerbrach der alters- heblich erhöhen. schwache Einhüllentanker „Prestige“ vor der spanischen Küste. Er hatte von Estland aus die Ostsee durchfahren, Ein weiteres Problem ist, dass auf Containerschiffen gehörte einer griechischen Reederei, fuhr aber unter der im umfangreichen Maße Gefahrengüter nach dem so ge- Flagge der Bahamas. Spanische und portugiesische Be- nannten IMDG-Code – „International Maritime Dange- hörden entschieden falsch: Statt das Schweröl beizeiten rous Goods“ – transportiert werden. Im Falle einer Ha- aus dem Schiff zu pumpen, begann eine folgenschwere varie muss die Notschlepper-Besatzung dringend vor Odyssee. gefährlichen Gasen geschützt werden. Deshalb müssen die Notschlepper in Nord- und Ostsee mit einem Schutz Welche Konsequenzen sollten wir daraus ziehen? gegen gefährliche Gase nach der GL-Richtlinie für den Egal ob EU oder Nicht-EU: Die personelle Qualifikation Bau von Chemikalienunfall-Bekämpfungsschiffen aus- lässt sich an allen Küsten stets verbessern. Nur wenn es gerüstet werden. möglich ist, die Zeichen einer Gefahr zu erkennen, sind (B) die zuständigen Stellen in der Lage, Havarien zu vermei- Gemeinsam fordern alle Fraktionen des Deutschen (D) den. Nur dann können sie die passende technische Hilfe Bundestages die Bundesregierung dazu auf, künftige rechtzeitig organisieren. Notschlepper nach diesen Kriterien zu verbessern. Denn nur auf diese Weise können wir unsere Küsten ange- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sichts des massiv zugenommenen Seeverkehrs und der NEN): Die Schiffsunfälle der letzten Jahre haben immer Entwicklung zu immer größeren Schiffen schützen. wieder deutlich gemacht, welchen Gefahren die Küsten ausgesetzt sind und wie wichtig Notschlepper zur unmit- telbaren Gefahrenabwehr sind. Ein aktuelles, an die Anlage 28 Entwicklung des Seeverkehrs angepasstes Notschlepp- Zu Protokoll gegebene Reden konzept ist ein zentrales Element der maritimen Notfall- vorsorge für die deutsche Nord- und Ostseeküste. Des- zur Beratung: halb hat die grüne Fraktion als erste Bundestagsfraktion – Antrag: Selbstbestimmtes Leben in Würde bereits im Februar dieses Jahres, die Bundesregierung ermöglichen – Transsexuellenrecht umfas- dazu aufgefordert, das derzeitige Notschleppkonzept zu send reformieren überprüfen und zu aktualisieren. – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Wir freuen uns sehr, dass mittlerweile auch die anderen Passgesetzes Bundestagsfraktionen unserem Beispiel gefolgt sind und fast identische Forderungen an die Bundesregierung ge- (Tagesordnungspunkt 25 und Zusatztagesord- stellt haben, die wir nun in einem interfraktionellen An- nungspunkt 10) trag gemeinsam an die Bundesregierung richten können. Der Küstenschutz ist eine so wichtige Aufgabe, dass Helmut Brandt (CDU/CSU): Wir diskutieren heute wir hier dringend an einem Strang ziehen müssen. über einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die eine umfassende Novellierung des Transsexuellen- Die deutschen Küsten liegen an den am stärksten fre- rechtes fordern. Unterstützt wird die Fraktion Bünd- quentierten Seeverkehrswegen der Welt. Allein Russland nis 90/Die Grünen in ihren Forderungen zum Teil durch will seine Ölexporte aus den Ostseehäfen bis 2010 ver- ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 6. De- doppeln. Damit steigt die Anzahl der Tanker, die mit der zember 2005. Das Bundesverfassungsgericht hat in die- in der Ostsee maximal möglichen Größe von 150 000 bis sem Urteil eine Reform des Namensrechts für Transse- 160 000 tdw, tons deadweight, aus den baltischen Verla- xuelle verlangt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4209

(A) Das Transsexuellengesetz ermöglicht einem trans- nenstands gemäß § 8 TSG zu verzichten. Es gibt (C) sexuellen Menschen, seinen Vornamen zu ändern, ohne sicherlich beachtliche Motive, aus denen heraus ein eine geschlechtsanpassende Operation durchführen zu Transsexueller vor einer Operation zurückschreckt. müssen – so genannte kleine Lösung. Personenstands- Auch in der Fachwissenschaft wird deshalb ein operati- rechtlich wird er dabei weiterhin seinem im Geburtenre- ver Eingriff als Voraussetzung für die Änderung der Ge- gister eingetragenen Geschlecht zugerechnet. § 7 Abs. 1 schlechtszugehörigkeit zunehmend als problematisch Satz 3 TSG entzieht ihm aber den gewählten Vornamen, beziehungsweise für nicht mehr haltbar erachtet. wenn er heiratet, um den Eindruck zu vermeiden, dass gleichgeschlechtliche Partner eine Ehe eingegangen sein Für problematisch halte ich jedoch die Forderung von könnten. Das Gericht entschied, dass der durch § 7 Bündnis 90/Die Grünen, die Änderung des Vornamens Abs. 1 Satz 3 TSG erzwungene Verlust des geänderten statt wie bisher von einer prognostisch sicheren Dia- Vornamens bei Heirat wissenschaftlich weitgehend über- gnose künftig nur noch von der einfachen Feststellung holt sei und das von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit abhängig zu machen, dass sich eine Person aufgrund ih- Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Namensrecht eines homo- rer transsexuellen Prägung nicht mehr dem in ihrem Ge- sexuell orientierten Transsexuellen verletze, solange die- burtseintrag angegebenen, sondern dem anderen Ge- sem eine rechtlich gesicherte Partnerschaft nicht ohne schlecht als zugehörig empfindet. Dies ermöglicht einen Verlust des geänderten, seinem empfundenen Geschlecht sehr schnellen Wechsel zu einem Vornamen des anderen entsprechenden Vornamens eröffnet ist. Das Bundesver- Geschlechts und ermöglicht meiner Meinung nach ein fassungsgericht hat § 7 Abs. 1 Satz 3 TSG im Wege ei- leichtfertiges und missbräuchliches Verhalten. ner Anordnung nach § 35 BVerfGG für nicht anwendbar erklärt und den Gesetzgeber aufgefordert, eine neue Lö- Ebenfalls für juristisch sehr problematisch halte ich sung zu finden. die Bemühung der Grünen, das Verfahren nach dem TSG hier lebenden Ausländern zu ermöglichen. Dies Mit ihrem Antrag beabsichtigt die Fraktion könnte im Heimatland, in dem die betreffende Person Bündnis 90/Die Grünen nunmehr die Beseitigung von nur unter ihrem Geburtsnamen existiert, zu erheblichen Regelungen im Transsexuellengesetz, die transsexuelle Problemen führen. Komplikationen ergäben sich über- Menschen daran hindert, ihrer Identität gemäß zu leben. dies im internationalen Privatrecht. Es handelt sich jedoch bei der Novellierung des Trans- sexuellengesetzes um eine juristisch äußerst komplexe Keinesfalls verzichten werden wir auf das Ledigkeits- Materie. Bereits im Jahre 2000 wurden deshalb zur Er- gebot des § 8 Abs. 1 Nr. 2 TSG als Voraussetzung für die mittlung des tatsächlichen Änderungsbedarfs die Betrof- Änderung des Personenstands. Mit dem Wegfall dieser fenen, die Innenministerien und Senatsverwaltungen der Voraussetzung würde ermöglicht, dass zwei Menschen (B) Länder sowie verschiedene Verbände und Sachverstän- des gleichen Geschlechts miteinander verheiratet wären. (D) dige gebeten, ihre Erfahrungen mit dem TSG und den Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit aus ihrer Sicht bestehenden Änderungsbedarf mitzutei- mehrfach, zuletzt bei der Entscheidung zum Lebenspart- len. nerschaftsgesetz, festgestellt, dass die Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG die Verbindung von Mann und Frau zur In Zusammenhang mit diesen Stellungnahmen sowie grundsätzlich unauflösbaren Lebensgemeinschaft dar- insbesondere in Zusammenhang mit dem Urteil des Bun- stellt. Die Ehe von zwei Personen des gleichen Ge- desverfassungsgerichts in dieser Sache halten auch wir schlechts kommt deshalb aus verfassungsrechtlicher es für erforderlich, verschiedene Regelungen des Trans- Sicht nicht in Betracht. Eine Änderung von § 8 TSG mit sexuellenrechts zu modifizieren. Gerade bei den im vor- dem Ziel eines Verzichts auf die Ehelosigkeit als Voraus- liegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen setzung für die Feststellung der Geschlechtszugehörig- angesprochenen Regelungen handelt es sich jedoch in keit würde insoweit die Gefahr einer grundgesetzwidri- der Mehrzahl um Fragen, zu denen sehr divergierende gen Regelung beinhalten. Ob der in diesem Expertenmeinungen vorliegen. Wir kommen deshalb Zusammenhang geforderte so genannte „gleitende Über- nicht umhin, uns die einzelnen Forderungen in Hinblick gang von Ehe in die Lebenspartnerschaft“ möglich ist, auf ihre Realisierbarkeit sehr genau anzuschauen und bedarf aufgrund der unterschiedlichen Rechtsinstitute uns mit ihnen im Einzelnen auseinander zu setzen. und der unterschiedlichen Rechtsfolgen bei Auflösung Als relativ unproblematisch eingeschätzt wird dabei der Ehe oder Lebenspartnerschaft einer sehr genauen die Forderung der Grünen nach Abschaffung der Beteili- Prüfung. Meiner Meinung nach ist ein gleitender Über- gung eines Vertreters des öffentlichen Interesses. Da die gang jedoch nicht machbar. Einwände des Vertreters des öffentlichen Interesses bis- lang in kaum einem Fall Bestand hatten, kann nach Den im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ziemlich einhelliger Expertenansicht auf seine Mitwir- beschriebenen faktischen Beschränkungen bei der Reise- kung im Verfahren der Vornamensänderung nach § 3 freiheit von Transsexuellen im deutschen Passrecht wird Abs. 2 Nr. 2 TSG künftig verzichtet werden. durch eine Änderung des Passgesetzes begegnet werden. Der derzeitige Entwurf zur Novellierung des Passrechts Aufgrund der mit einer Operation immer verbunde- sieht hierzu vor, dass Transsexuelle bereits bei vorlie- nen Risiken spricht – zumindest meiner Ansicht nach – gender Vornamensänderung nach § 1 TSG eine von ihrer sicher auch einiges dafür, auf das Erfordernis einer ope- personenstandsrechtlichen Geschlechtszugehörigkeit ab- rativen Annäherung an das Erscheinungsbild des ande- weichende Geschlechtsangabe auf Antrag im Pass erhal- ren Geschlechts zum Zwecke einer Änderung des Perso- ten können. 4210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Angesichts der im Übrigen teilweise äußerst komple- Aber auch in Deutschland gibt es Probleme: Heiratet (C) xen rechtlichen Problematik wird ein Reformgesetz zum ein Mann, der transsexuell ist und seinen Vornamen in ei- Transsexuellengesetz nicht mehr im Jahre 2006 vorge- nem weiblichen geändert hat, eine Frau, so wird ihm der legt werden können. Auch erscheint es sinnvoll, eine Be- weibliche Vorname aberkannt, weil sonst eine gleichge- arbeitung erst nach Abschluss der Personenstandsrechts- schlechtliche Ehe, nicht Lebenspartnerschaft, zugestanden reform zu ermöglichen. würde. Damit werden seine Persönlichkeitsrechte verletzt. Dieses hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 6. Dezember 2005 als verfassungswidrig eingestuft. Gabriele Fograscher (SPD): In der heutigen De- Deshalb besteht hier Handlungsbedarf. batte geht es um das Transsexuellenrecht. Damit greifen Bündnis 90/Die Grünen Forderungen des Lesben- und Die weiteren Forderungen des Schwulen- und Les- Schwulenverbandes in Deutschland für eine Reform des benverbandes Deutschlands und von Bündnis 90/Die Gesetzes auf. Grünen in dem vorliegenden Antrag sind unter anderen die Absenkung der Anforderungen für die so genannte Auch wenn dieses Thema nur wenige betrifft, so ist „Kleine Lösung“, der Wegfall der Bedingung eines ope- eine Novellierung des Transsexuellenrechts von 1980 rativen Eingriffs als Voraussetzung für eine Personen- für die Betroffenen von erheblicher Bedeutung. Festzu- standsänderung, die Anwendung des Transsexuellen- stellen ist, dass seit In-Kraft-Treten des Transsexuellen- rechts auch auf alle Ausländer, die ihren Wohnsitz oder rechts im Jahr 1980 neue wissenschaftliche Erkenntnisse regelmäßigen Aufenthalt in Deutschland haben und die gewonnen werden konnten. So wird zum Beispiel ein Umwandlung einer Ehe in eine Lebenspartnerschaft auf operativer Eingriff für die Änderung der Geschlechtszu- Wunsch der Eheleute bei einer Geschlechtsumwandlung. gehörigkeit in der Fachwissenschaft zunehmend als pro- Diese Anliegen der Transsexuellen sind in einem anste- blematisch beziehungsweise nicht mehr für haltbar er- henden Gesetzgebungsverfahren eingehend zu prüfen. achtet. Deshalb fordern meine Fraktion und ich die Bundes- Viele Transsexuelle wollen die Identität des anderen regierung auf, den notwendigen Gesetzentwurf zur Geschlechts annehmen, scheuen aber die operative Ge- Überarbeitung des Transsexuellenrechts unverzüglich schlechtsangleichung und somit den Eingriff in ihre kör- vorzulegen, damit das geltende Transsexuellenrecht, das perliche Unversehrtheit. Deshalb wählen sie die so ge- in Teilen vom Bundesverfassungsgericht als verfas- nannte „Kleine Lösung“, das heißt, sie lassen ihren sungswidrig eingestuft wurde, an die neuen Anforderun- Vornamen ändern und drücken damit die Zugehörigkeit gen angepasst wird. Des Weiteren fordern wir die Bun- zu dem Geschlecht aus, mit dem sie sich identifizieren. desregierung auf, die Ausstellung widerspruchsfreier Reisedokumente für Transsexuelle sicherzustellen. (B) Damit beginnen die Probleme, denn eine Änderung (D) des Vornamens beinhaltet nach geltendem Recht keine Da der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen einem ge- Personenstandsänderung. So findet sich zum Beispiel im ordneten und umfassenden Gesetzgebungsverfahren vor- Reisepass ein weiblicher Vorname zu einem männlichen greift, lehnen wir diesen Antrag ab. Geschlecht. Das Problem ist deshalb akut, da zum Bei- spiel die USA keine vorläufigen Reisepässe, in denen Jörg van Essen (FDP): Es ist lange her, dass sich das Geschlecht nicht angegeben war, nicht mehr aner- der Deutsche Bundestag in einer Plenardebatte mit dem kennen. Hinzu kommt, dass vorläufige Reisepässe ohne Transsexuellenrecht befasst hat. Es wäre der Sache sehr Geschlechtsangabe seit dem 31. Dezember 2005 nicht angemessen gewesen, wenn wir hierzu eine lebendige mehr ausgestellt werden. Damit ist den Transsexuellen Debatte im Plenum gehabt hätten. Ich bedaure daher au- auch dieser Weg versperrt. Dieser Widerspruch in den ßerordentlich, dass die Debatte an einem so ungünstigen Reisedokumenten kann bei der Grenzabfertigung zu Dis- und späten Termin stattfindet. kriminierungen und gegebenenfalls zu Einreiseverwei- gerungen des Betroffenen führen. Die Reisefreiheit der Das Thema, mit dem wir uns heute zu befassen ha- Transsexuellen, die die „Kleine Lösung“ für sich ge- ben, ist für die FDP keineswegs ein Randthema. Die In- wählt haben, wird in unzulässigerweise eingeschränkt. teressen von transsexuellen Menschen sind für uns sehr wichtig. Es war daher auch die FDP, die zum Trans- Aber auch in Hotels oder Banken, wo Ausweise vor- sexuellenrecht in den vergangenen Jahren immer wieder gelegt werden müssen, kann der Widerspruch zwischen parlamentarische Initiativen und Anfragen an die Bun- Geschlecht, Vornamen und äußerem Erscheinungsbild desregierung gestartet hat. Das Transsexuellengesetz ist zu großen Schwierigkeiten führen. Deshalb unterstützt seit dem In-Kraft-Treten am 1. Januar 1981 nicht mehr die SPD-Bundestagsfraktion das Anliegen der Trans- geändert worden. Es ist daher allgemeine Meinung, dass sexuellen auf Ausstellung widerspruchsfreier Pässe bei das Gesetz nun nach 26 Jahren dringend der Reform be- der „Kleinen Lösung“. darf. Da das Bundesinnenministerium bereits eine zeitnahe In den vergangenen Jahren hat sich aufgrund von wis- Änderung des Passgesetzes in Aussicht gestellt hat, in senschaftlichen Untersuchungen und Erfahrungsberich- dem auch weitere Fragen behandelt werden sollen, greift ten der Kenntnisstand über das Leben transsexueller der FDP-Gesetzentwurf zur Änderung des Passgesetzes Menschen wesentlich vergrößert. Das Transsexuellenge- einem umfassenden Gesetzgebungsverfahren vor und ist setz ist daher in der Vergangenheit von den Verbänden, somit hinfällig. von Sachverständigen und Betroffenen oft kritisiert und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4211

(A) Reformbedarf angemahnt worden. Insbesondere die Das Gericht kommt insbesondere zu einer Neubewer- (C) lange Verfahrensdauer, Anzahl und Qualität der zu er- tung der Situation von Transsexuellen, die sich für die stellenden Sachverständigengutachten, aber auch die ge- „kleine Lösung“ entschieden haben. Das Gericht erteilt richtliche Feststellung der Zugehörigkeit zum anderen der These, wonach die „kleine Lösung“ für einen Trans- Geschlecht und das Fehlen einer begleitenden psycho- sexuellen nur ein Durchgangsstadium zur „großen therapeutischen Behandlung werden von den Betroffe- Lösung“ sei, eine klare Absage. Das Bundesverfassungs- nen wiederholt als vorrangig reformbedürftig dargestellt. gericht sieht daher für eine unterschiedliche personen- standsrechtliche Behandlung von Transsexuellen mit Hoffnung kam auf, als das Bundesministerium des In- und ohne Geschlechtsumwandlung keine haltbaren nern im Jahr 2000 die Verbände der Betroffenen und Gründe mehr. Sachverständige um Stellungnahme zu den Erfahrungen mit dem Transsexuellengesetz gebeten hat. Mit Span- Zur Lösung des Problems legt das Gericht dem Ge- nung wurde die Auswertung dieser Befragung erwartet. setzgeber ausdrücklich nahe, das Personenstandsrecht Bis zum heutigen Tage liegt sie jedoch nicht vor. dahin gehend zu ändern, dass ein bei einer nachgerichtli- chen Prüfung gemäß den §§ 1 ff. des Transsexuellenge- Die FDP-Bundestagsfraktion hat es immer außeror- setzes anerkannter Transsexueller ohne Geschlechts- dentlich bedauert, dass die rot-grüne Bundesregierung in umwandlung rechtlich dem von ihm empfundenen den vergangenen sieben Jahren ihrer Regierungszeit un- Geschlecht zugeordnet wird. Dies wird mit der vorge- tätig geblieben ist und keinerlei Anstrengungen unter- schlagenen Änderung im Passgesetz erreicht. Auch die nommen hat, das Transsexuellengesetz zu reformieren Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine Kleine und damit die Situation der Betroffenen erträglicher zu Anfrage erst kürzlich erklärt, dass Transsexuelle die machen. Die Antworten der rot-grünen Bundesregierung gleichen Möglichkeiten zu Auslandsreisen ohne Diskri- auf die Anfragen der FDP waren stets ernüchternd. Die minierungen erhalten müssen wie alle anderen Bürger FDP-Bundestagsfraktion begrüßt es daher, dass bei auch. Erst vor wenigen Tagen hat sich auch der Peti- Bündnis 90/Die Grünen endlich ein Umdenken stattge- tionsausschuss des Deutschen Bundestages für eine ent- funden hat, und sie mit ihrem Antrag zum Transsexuel- sprechende Änderung des Passgesetzes ausgesprochen. lenrecht nun auch Reform- und Handlungsbedarf erken- nen. Wir möchten sicherstellen, dass Transsexuelle gesell- schaftlich und rechtlich entsprechend der neuen ge- Die FDP-Bundestagsfraktion legt zur heutigen schlechtlichen Identität behandelt werden. Die FDP Debatte einen Gesetzentwurf zur Änderung des Passge- weist ausdrücklich darauf hin, dass eine isolierte Ände- setzes vor. Damit wollen wir erreichen, dass künftig si- rung des Passgesetzes auf keinen Fall ausreichend ist. Pa- chergestellt wird, dass bei Transsexuellen die Ge- rallel hierzu brauchen wir eine Gesamtreform des Trans- (B) schlechtsangabe in Reisepässen dem Geschlecht des sexuellengesetzes. Ich fordere die Bundesregierung auf, (D) Vornamens angepasst wird. Wir nehmen damit eine For- den Handlungsauftrag des Bundesverfassungsgerichts derung auf, die von transsexuellen Männern und Frauen ernst zu nehmen und dem Deutschen Bundestag umge- in den vergangenen Jahren immer wieder erhoben wurde hend einen Gesetzentwurf vorzulegen. Äußerungen aus und von den Betroffenen als prioritär bezeichnet wurde. dem Bundesinnenministerium aus jüngster Zeit geben Transsexuelle, die sich für die so genannte kleine Lö- wenig Anlass zur Hoffnung, dass dieses Problem dort ernst genommen wird. Die Bundesregierung war bisher sung entschieden und keine Veränderung ihrer äußeren nicht bereit, einen Zeitpunkt zu nennen, wann mit einem Geschlechtsmerkmale vorgenommen haben, können solchen Gesetzentwurf zu rechnen ist. Die FDP-Bundes- eine personenstandsrechtliche Änderung ihres Ge- tagsfraktion wird daher nicht nachlassen in ihrer Forde- schlechts nicht beantragen. Sie haben aber die Möglich- rung nach einer Reform des Transsexuellengesetzes. keit, ihren Vornamen ändern zu lassen. Dies führt dazu, dass Name und Geschlecht in Widerspruch zueinander Ich würde mich sehr freuen, wenn endlich auch die stehen. Eine Identität zwischen Name, Geschlecht und Koalitionsfraktionen bereit wären, anzuerkennen, dass äußerem Erscheinungsbild ist nicht gegeben. Dies führt der Gesetzgeber in dieser wichtigen Frage der Gesell- immer wieder dazu, dass insbesondere bei Auslandsrei- schaftspolitik nicht weiter untätig bleiben darf. Ich ap- sen Transsexuelle vielfältigen Diskriminierungen ausge- pelliere an die anderen Fraktionen, dieses Thema nicht setzt sind, da in ihrem Pass ein Geschlecht angegeben zum Gegenstand von parteipolitischen Auseinanderset- ist, das nicht ihrer empfundenen Geschlechtszugehörig- zungen zu machen. Das Thema und die berechtigten In- keit entspricht. Dieser Zustand muss umgehend beseitigt teressen der Betroffenen sind dafür zu ernst. Es wäre der werden. Sache dienlich, wenn wir gemeinsam zu einer vernünfti- gen, sachgerechten und vor allem zeitnahen Lösung Das Bundesverfassungsgericht hat in einem beach- kommen würden. tenswerten Beschluss vom Dezember letzten Jahres ent- scheidende Vorschriften des Transsexuellengesetzes für verfassungswidrig erklärt und eine Reform des Trans- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE sexuellengesetzes angemahnt. In dem Beschluss hat das GRÜNEN): Das Transsexuellenrecht muss grundlegend Gericht in beeindruckender Klarheit ausgeführt, dass reformiert werden. Ziel der Reform muss sein, trans- sich die in dem Transsexuellengesetz zugrunde liegen- sexuellen Menschen in Deutschland ein selbstbestimm- den Annahmen über die Transsexualität inzwischen in tes Leben in Würde zu ermöglichen. Es geht um eine wesentlichen Punkten als wissenschaftlich nicht mehr kleine Gruppe von Menschen. Die Probleme, die ihnen haltbar erwiesen haben. das geltende Recht bereitet, sind dagegen ziemlich groß. 4212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Bei seiner Einführung 1981 hatte das Transsexuellenge- tere Entscheidung zum Scheidungszwang für verheira- (C) setz große Fortschritte gebracht. Viele seiner Regelungen tete Personen, die eine Personenstandsänderung vorneh- entsprechen aber nicht mehr dem heutigen sexualwissen- men wollen, steht an. Wir sollten als Gesetzgeber nicht schaftlichen Kenntnisstand. Auch das Bundesverfassungs- immer auf das Verfassungsgericht warten, sondern nun gericht hat im Dezember 2005 festgestellt: selbst eine grundlegende Überarbeitung in Angriff zu nehmen. Die dem Transsexuellengesetz zugrunde liegenden Annahmen über die Transsexualität haben sich in- Der frühere Innenminister konnte sich für dieses zwischen in wesentlichen Punkten als wissenschaft- Thema nie erwärmen und hat alle Reformvorstöße abge- lich nicht mehr haltbar erwiesen. wimmelt. Wir Grüne konnten bei der Einführung des Le- benspartnerschaftsgesetzes aber immerhin das Ansinnen Was ist zu tun? Die Zugangsvoraussetzungen für das des Bundesinnenministers abwehren, die vom Verfas- Transsexuellengesetz müssen deutlich liberalisiert wer- sungsgericht im Dezember 2005 hinsichtlich der Ehe für den. Das gilt sowohl für die Annahme eines Vornamens verfassungswidrig erklärte Regelung zum geänderten des anderen Geschlechts, die so genannte kleine Lösung, Vornamen auf das Lebenspartnerschaftsgesetz zu über- als auch für die personenstandsrechtliche Änderung des tragen. Das hat dann zumindest für heterosexuelle Trans- Geschlechts, die so genannte große Lösung. Das auf- gender mit der kleinen Lösung einen gewissen Fort- wendige Gutachterwesen muss reformiert, bürokratische schritt gebracht. Jetzt muss ein großer Wurf folgen, die Hemmnisse müssen beseitigt werden. Der Gesetzgeber umfassende Neugestaltung des Transsexuellenrechts. darf transsexuelle Menschen für eine Personenstandsän- derung nicht mehr auf den Operationstisch zwingen, Die jetzige Bundesregierung sah sich auf unsere An- wenn sie darin für sich keine Notwendigkeit sehen. Das frage hin nicht in der Lage, einen Zeitpunkt für die Ein- Recht muss Menschen unterstützen, selbstbestimmt ihrer bringung eines Gesetzentwurfes zur Änderung des Identität gemäß zu leben, anstatt sie in bürokratische Transsexuellengesetzes zu nennen. Begründet wurde Raster zu pressen. dies mit der Belastung des zuständigen Referats im Bun- desministerium des Inneren mit der Reform des Perso- Ein weiterer wichtiger Bereich: Transsexuellen muss nenstandsrechts. es ermöglicht werden, eine rechtlich abgesicherte Part- nerschaft mit der Partnerin bzw. dem Partner ihrer Wahl Bei allem Verständnis für dessen Nöte: Es kann den zu führen. Das hat das Bundesverfassungsgericht klarge- transsexuellen Bürgerinnen und Bürgern doch nicht zu- stellt. Es kann auch nicht sein, dass verheiratete Trans- gemutet werden, über die weitere Zukunft des Trans- sexuelle, die sich für eine personenstandsrechtliche Än- sexuellengesetzes möglicherweise über Jahre hinweg im derung des Geschlechts entscheiden, von Staats wegen Unklaren gelassen zu werden. Es handelt sich hier (B) zur Scheidung gezwungen werden, wenn die Partner zu- schließlich für die betroffenen Menschen um lebensprä- (D) sammenbleiben wollen. Uns müssen doch die Persön- gende Sachverhalte, die ihre Persönlichkeitsrechte im lichkeitsrechte, der Schutz des Privatlebens dieser Paare Kern berühren. Verzögerungen können für sie verlorene wichtiger sein als Prinzipienreiterei. Lebensjahre bedeuten. Zudem müssen auch Transsexuelle mit der kleinen Auch im Petitionsausschuss gibt es zahlreiche Einga- Lösung die gleichen Möglichkeiten zu Auslandsreisen ben zum Transsexuellenrecht, die zeigen, wie notwendig ohne Diskriminierungsgefahr erhalten wie alle anderen eine Reform ist. Erst letzte Woche hat der Petitionsaus- Bürgerinnen und Bürger. Das neuerdings geltende Pass- schuss einstimmig zwei Eingaben von Transsexuellen recht zwingt Transsexuelle, die ihren Vornamen nach zur Partnerschaftsregelung und zum Passrecht unter- dem Transsexuellengesetz geändert haben, mit einem stützt. Das ist ein wichtiges Signal. Ich hoffe sehr, dass Geschlechtseintrag im Reisepass zu reisen, der weder ih- wir im Parlament einvernehmlich zu einer raschen Re- rer Identität noch ihrem Erscheinungsbild entspricht. form des Transsexuellengesetzes kommen. Mit unserem Damit sind entwürdigende Diskriminierungen bei Antrag wollen wir hierzu den Anstoß geben. Grenzkontrollen vorprogrammiert. Die Bundesregierung hat auf unsere Anfrage hin vage in Aussicht gestellt, hier irgendwann etwas im Passrecht zu tun. Übergangsrege- Anlage 29 lungen hat sie aber abgelehnt. Zu Protokoll gegebene Reden Aber was ist mit Menschen, die noch dieses Jahr eine zur Beratung der Entwürfe: Geschäftsreise unternehmen müssen? Was ist mit Men- schen, die in dringenden Familienangelegenheiten ins – Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts Ausland reisen müssen? Sollen sie warten, bis sich die Bundesregierung sich dazu bequemt, endlich die Hürden – Erstes Gesetz zur Änderung des Unterhalts- für Transsexuelle zu beseitigen? Oder sollen sie Gefahr vorschussgesetzes laufen, bei der Einreise peinlich befragt oder gar am (Tagesordnungspunkt 26 a und b) Flughafen zurückgewiesen zu werden? Hier muss sofort etwas geschehen. Ute Granold (CDU/CSU): Wir haben bereits in der Es gibt mittlerweile eine ganze Sammlung von Ver- vergangenen Legislaturperiode über die Reform des Un- fassungsgerichtsurteilen, die für die Persönlichkeits- terhaltsrechts diskutiert. Wegen der vorgezogenen Neu- rechte der Betroffenen und gegen Restriktionen im wahlen konnte aber der im Mai 2005 erstmals vorgelegte Transsexuellengesetz Stellung bezogen haben. Eine wei- Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4213

(A) weiter verfolgt werden. Die Fraktionen von CDU/CSU gelungen verpflichten wird, da die bisherige Regelung in (C) und SPD haben sich im Koalitionsvertrag dazu ver- ihrer Reichweite wohl nicht verfassungskonform ist. pflichtet, die Situation von Familien mit Kindern weiter zu verbessern. Kinder sollen beim Unterhalt an erster Der jetzige Gesetzentwurf zur Neuregelung des Un- Stelle stehen. Die Eigenverantwortung nach der Ehe soll terhaltsrechts verfolgt im Wesentlichen drei Ziele: die gestärkt und eine Harmonisierung der Steuer- und so- Förderung des Kindeswohls, die Stärkung der Eigenver- zialrechtlichen Bestimmungen angestrebt werden. antwortung nach der Ehe und die Vereinfachung des Un- terhaltsrechts. Auf der Grundlage des Referentenentwurfs ist unter diesen Vorgaben der Entwurf für das Unterhaltsände- Das Kindeswohl steht im Mittelpunkt der Reform und rungsgesetz erarbeitet worden. Die gesellschaftliche Re- ist der Grund für die rechtspolitisch wichtigste Änderung: alität von Ehe und Familie hat sich in den vergangenen die Neuregelung der Rangfolge im Mangelfall. Künftig Jahren, vor allem im großstädtischen Milieu, wesentlich konkurrieren im ersten Rang die minderjährigen und auch verändert. Die Zahl der Scheidungen steigt von Jahr zu die ihnen gleichgestellten, noch in der allgemeinen Jahr. Viele dieser Ehen werden schon nach relativ kurzer Schulausbildung befindlichen volljährigen Kinder nicht Dauer geschieden, etwa 50 Prozent davon sind kinder- mehr mit den Ehegatten. Vielmehr hat der Kindesunter- los. Außerdem hat sich die Rollenverteilung in der Ehe halt Vorrang vor allen anderen Unterhaltsansprüchen. Da mehr und mehr verändert. Immer häufiger bleiben beide Kinder, anders als Erwachsene, keine Möglichkeit haben, Partner – auch nach der Geburt der Kinder – berufstätig selbst für ihren Unterhalt zu sorgen, ist ihnen am wenigs- oder nehmen ihren Job nach einer erziehungsbedingten ten zuzumuten, auf ergänzende Sozialleistungen ange- Pause wieder auf. wiesen zu sein. Doch neben dieser noch relativ „klassischen“ Famili- Im zweiten Rang finden sich dann alle Kinder betreu- enstruktur haben sich zunehmend neue Familienformen enden Elternteile – unabhängig davon, ob sie verheiratet herausgebildet. Immer mehr Kinder leben in nicht eheli- sind oder waren und ob sie das Kind alleine oder ge- chen Lebensgemeinschaften oder bei einem allein erzie- meinsam erziehen. Durch diese Neuregelung werden henden Elternteil. So haben etwa ein Drittel der über demnach jeder Ehegatte und auch nicht verheiratete El- zwei Millionen „ohne Trauschein“ zusammenlebender tern hinsichtlich ihres Ranges gleichbehandelt, sofern sie Paare Kinder. Da immer häufiger kurze Ehen geschieden ein Kind betreuen. werden, kommt es nach der Scheidung zur Gründung Ebenso schutzbedürftig ist aber auch der Ehegatte bei von „Zweitfamilien“, was durch die unzureichenden Re- längerer Ehedauer im Hinblick auf seine weiteren Unter- gelungen des derzeitigen Unterhaltsrechts oft soziale haltsansprüche. Auch er findet sich daher im zweiten Notlagen zur Folge hat. (B) Rang. Dabei wird das Kriterium „Ehe von langer Dauer“ (D) Mit diesem gesellschaftlichen Wandel ist auch ein bewusst nicht näher konkretisiert, um den Gerichten in Wertewandel verbunden: Der schon heute im Gesetz kritischen Verteilungs- bzw. Konkurrenzfällen ein Kor- verankerte Grundsatz der Eigenverantwortung nach der rektiv zur Verfügung zu stellen und damit eine Grund- Ehe stößt vor diesem Hintergrund auf eine immer grö- lage für Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen. Weniger So- ßere Akzeptanz. Es besteht Konsens, dass die Kinder als lidarität kann dagegen der Ehegatte verlangen, der nur „schwächstes Glied in der Kette“ eines besonderen kurz verheiratet war und keine Kinder zu betreuen hat. Schutzes bedürfen, da sie, anders als Erwachsene, nicht Folglich steht dieser entsprechend im dritten Rang. Bei selbst für ihren Unterhalt sorgen können. der weiteren Rangfolge ergeben sich gegenüber dem gel- tenden Recht im Wesentlichen keine Veränderungen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich neue Herausfor- derungen und Zielsetzungen für den Gesetzgeber. Eine Im Übrigen geht es bei der Neufassung auch darum, nachhaltige und verantwortungsvolle Familienrechtspo- die mit der geltenden Rechtslage verbundene Benachtei- litik muss sich sowohl den gesellschaftlichen Verände- ligung der nicht ehelichen Kinder ein Stück weit abzu- rungen als auch den gewandelten Wertvorstellungen bauen. Das in diesem Zusammenhang in Kürze erwar- stellen. Leitlinien einer solchen Politik müssen zum ei- tete Urteil des Bundesverfassungsgerichtes habe ich nen die verfassungsrechtlich gebotene Gleichberechti- bereits erwähnt. Bisher wird den nicht ehelichen Kin- gung von ehelichen und nicht ehelichen Kindern und dern zugemutet, dass ihre Mütter bereits nach dem drit- zum anderen der durch unsere Verfassung garantierte be- ten Lebensjahr wieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen sondere Schutz der Ehe sein. müssen, während geschiedene Mütter ihre Kinder deut- lich länger betreuen können. Unter dem Aspekt des Kin- Zusätzlicher Handlungsdruck ergibt sich für den Ge- deswohls klafft hier die „Schere“ zwischen geschiede- setzgeber aus der Tatsache, dass die Gerichte die Ge- nen und nicht verheirateten Elternteilen zu weit setze bereits heute weit auslegen müssen, um in allen auseinander. Diese Schere gilt es im Interesse der Kinder Fällen sachgerechte Lösungen zu finden. Die Rechtspre- ein Stück weit zu schließen. chung, insbesondere auch die des Bundesverfassungsge- richtes, hat uns inzwischen eingeholt und eine Reihe Eine weitere wesentliche Neuerung zum Wohl des wegweisender Urteile in Richtung der heute diskutierten Kindes ist die gesetzliche Definition des Mindestunter- Reform gefällt. So wird auch in Kürze damit gerechnet, halts minderjähriger Kinder. Durch die Bezugnahme auf dass das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber in den Kinderfreibetrag aus dem Einkommensteuerrecht der Frage der Benachteiligung von nicht ehelichen Kin- wird nicht nur die dringend notwendige weitgehende dern bei der Dauer des Betreuungsunterhalts zu Neure- Harmonisierung mit dem Steuerrecht erreicht, sondern 4214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) auch die von Bundestag und Bundesverfassungsgericht Die weitere Harmonisierung des Unterhaltsrechts mit (C) geforderte Normenklarheit geschaffen. In einem paralle- dem Steuer- und Sozialrecht, die auch vom Bundesver- len Gesetzgebungsverfahren wird das Unterhaltsvor- fassungsgericht eingefordert worden ist, muss nun in den schussgesetz entsprechend angepasst werden. Die geän- nächsten Schritten erfolgen. Wir sollten die jetzige Re- derte Rangfolge und die Normenklarheit beim form nicht überfrachten und zunächst das Wichtigste auf Mindestunterhalt sind zusammengenommen ein wichti- den Weg bringen. Das ist mit diesem Gesetzentwurf ge- ger Schritt, um die Akzeptanz von Unterhaltszahlungen währleistet. an die Kinder zu erhöhen und somit das zentrale Ziel der Reform zu erreichen. Vor diesem Hintergrund hoffe ich auf konstruktive Beratungen und vertraue darauf, dass es uns gelingen Die nacheheliche Eigenverantwortung wird durch den wird, diese für die Betroffenen so wichtige Reform zü- Entwurf ebenfalls in mehrfacher Hinsicht gestärkt. Das gig zu verabschieden. Unterhaltsrecht darf kein bestimmtes Ehebild vorgeben. Die Ehegatten sind in der Ausgestaltung der Ehe und der Christine Lambrecht (SPD): Das Recht des nach- Wahl der Rollenverteilung frei und durch Art. 6 GG um- ehelichen Unterhalts gilt seit 1977 fast unverändert. Es fassend geschützt. Aus diesem Grundgesetzartikel ergibt steht nun vor einer grundlegenden Überarbeitung, die sich aber auch eine fortwirkende nacheheliche Solidari- vor dem Hintergrund sich seitdem rasant gewandelter tät, die sich im Unterhaltsrecht des BGB widerspiegelt. gesellschaftlicher Verhältnisse dringend notwendig ist; Dieser verfassungsrechtliche Rahmen lässt dem Gesetz- denn es regelt einen zentralen Aspekt familiärer Verant- geber durchaus Spielräume, um gesellschaftlichen Ver- wortung. Steigende Scheidungszahlen, die vermehrte änderungen Rechnung zu tragen. In diesem Punkt sieht Gründung von Zweitfamilien nach einer gescheiterten der aktuelle Gesetzentwurf eine wichtige Neuerung vor, Ehe und die zunehmende Zahl von Kindern, deren Eltern der für die allgemeine Akzeptanz des Unterhaltsrechts in in einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft leben oder der Bevölkerung von großer Bedeutung ist. So fasst der allein erziehend sind, zeigen ein verändertes Bild fami- Gesetzentwurf den Grundsatz der Eigenverantwortung liärer Realität. neu und eindeutiger. Dies wird sich insbesondere auf die nun engere Auslegung der Unterhaltstatbestände und das Des Weiteren zeigen auch das geänderte Rollenver- bisher pauschal angewendete „Altersphasenmodell“ ständnis und die steigende Zahl von Mangelfällen, in de- beim Betreuungsunterhalt auswirken. nen das Einkommen des Unterhaltspflichtigen nicht mehr für alle Unterhaltsberechtigten reicht, dass die Zeit Flankiert wird diese Maßnahme durch eine ver- für eine Überarbeitung des Unterhaltsrechts gekommen schärfte Anforderung an die Wiederaufnahme einer Er- ist. Insbesondere ist dabei an die Situation der unter- werbstätigkeit. Nach der geltenden Rechtslage kann es (B) haltsbedürftigen minderjährigen Kinder angesichts der (D) dem geschiedenen Ehegatten oft nicht zugemutet wer- alarmierenden Tatsache, dass heute fast 40 Prozent aller den, in eine früher ausgeübte Erwerbstätigkeit zurückzu- Sozialhilfeempfänger Kinder sind, zu denken. Eine Re- kehren. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen form des Unterhaltsrechts ist daher sehr zu begrüßen. Wandels ist dies gerade bei kürzeren Ehen für den Unter- haltspflichtigen nicht zumutbar. Trotzdem bleiben nach Das Unterhaltsrecht muss aus den gesellschaftlichen dem Gesetzentwurf die ehelichen Lebensverhältnisse als Veränderungen Konsequenzen ziehen. Wir brauchen Korrektiv erhalten. Dem Richter bleibt also auch hier ein mehr Verteilungsgerechtigkeit im Mangelfall. Wir müs- Spielraum, im Einzelfall die Zumutbarkeitskriterien für sen die Abhängigkeit der Kinder von Sozialhilfe und an- eine eigene Erwerbstätigkeit des geschiedenen Ehegat- deren staatlichen Transferleistungen verringern. ten höher zu setzen. Die nacheheliche Eigenverantwor- tung wird zusätzlich durch die Einführung einer neuen, Der Regierungsentwurf zur Änderung des Unterhalts- alle Unterhaltsansprüche erfassenden Billigkeitsrege- rechts sieht vor allem drei Ziele vor: Förderung des Kin- lung gestärkt, nach der Unterhaltsansprüche in Bezug deswohls, Stärkung der nachehelichen Eigenverantwor- auf Höhe und Dauer beschränkt werden können. Um tung und Vereinfachung des Unterhaltsrechts. Zur Härtefälle bei bereits geschiedenen Ehen zu vermeiden, Stärkung des Kindeswohls soll die unterhaltsrechtliche sind entsprechende Übergangsregelungen vorgesehen. Rangfolge geändert werden. Dahinter steht zu Recht der Gedanke, dass die Akzeptanz der Unterhaltspflicht ge- Der Grundsatz der Vereinfachung des Unterhalts- genüber eigenen Kindern höher ist als die Akzeptanz rechts ist bei der vorgesehenen Vereinfachung der Anre- von Zahlungen an den früheren Partner. So sieht das Ge- chung des Kindergeldes besonders deutlich zu erkennen. setz vor, dass der Kindesunterhalt zukünftig Vorrang vor Die neue Regelung der Kindergeldverrechnung weist allen anderen Unterhaltsansprüchen hat. Dies gilt für den das Kindergeld unterhaltsrechtlich dem Kind zu. Das Unterhalt von minderjährigen Kindern und von volljäh- Kindergeld wird also von vornherein bedarfsmindernd rigen unverheirateten Kindern bis zu 21 Jahren, die im berücksichtigt. In der Folge erhöht sich dann durch das elterlichen Haushalt leben und noch zur Schule gehen. Kindergeld der Betrag, der zur Bedarfsdeckung zur Ver- Im Interesse der Kinder stehen gleichfalls alle diejenigen fügung steht. Dies wird den künftig im zweiten Rang Personen im zweiten Rang gleichberechtigt nebeneinan- Berechtigten zugute kommen. Auf diesem Weg gelingt der, die ein Kind betreuen und aus diesem Grunde unter- es uns, die negativen Auswirkungen auf das Realsplit- haltsbedürftig sind. Nur dann, wenn die Ehe von langer ting zum größten Teil zu kompensieren, die sich sonst Dauer ist oder war, befindet sich auch der Ehegatte mit aus der Neuordnung der Rangverhältnisse ergeben wür- seinen sonstigen Unterhaltsansprüchen im zweiten den. Rang. Dies ist bedeutend, um Partner einer langjährigen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4215

(A) Ehe einen entsprechenden Unterhalt zu gewährleisten. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): (C) Der Gesetzentwurf trägt damit zugleich auch dem Nicht nur aus Sicht der FDP, sondern auch nach den ei- Schutz der Ehe Rechnung. Die Zahl der Kinder, die so- genen Worten der Bundesregierung und ihrer Vertreter zialhilfebedürftig sind, weil Erwachsene vorrangig un- stellt die Reform des Unterhaltsrechts eine der wichtigs- terhaltsberechtigt sind, wird durch diese Neuregelung ten und dringendsten rechtspolitischen Reformen dieser künftig sinken. Wahlperiode dar. Nicht ohne Grund hat die FDP sowohl in dieser, als auch bereits in der vergangenen Wahlperio- Darüber hinaus soll auch die Situation der unter be- de immer wieder auf diese wichtige Baustelle der sonderer Belastung stehenden allein erziehenden, nicht Rechts- und Gesellschaftspolitik aufmerksam gemacht. verheirateten Eltern verbessert werden. Diese sollen den Betreuungsunterhalt unter leichteren Voraussetzungen Ich begrüße es, dass diese überfällige Reform nun auch noch über das dritte Lebensjahr des betreuten Kin- auch endlich dem Bundestag zu den Beratungen vorge- des hinaus bekommen. Auch im Interesse der Kinder legt wird. Umso enttäuschender und unverständlich ist würden damit nicht verheiratete Mütter besser als bis- es jedoch, dass die Koalition dieser Reform so geringen lang gestellt. Stellenwert beimisst – oder wie erklären Sie sich die Uhrzeit, zu der die erste Beratung angesetzt ist? Der Mindestunterhalt soll zudem in Anlehnung an den steuerlichen Freibetrag für das sächliche Existenz- Hat nicht Herr Staatssekretär Hartenbach erst in der minimum eines Kindes gesetzlich definiert werden. Dies Sitzung des Bundesrates am 19. Mai – also vor gut ei- bringt zum einen Klarheit für die betroffenen Familien nem Monat – zu diesem Gesetzentwurf gesagt, dass und führt zum anderen zu einer Harmonisierung von Un- diese Reform nur akzeptiert werden kann, wenn das terhalts-, Steuer- und Sozialrecht bei der Bestimmung neue Unterhaltsrecht von einer breiten Mehrheit getra- des Mindestbedarfs von Kindern. Zusätzlich wird end- gen wird? Wenn Ihnen die Reform und ihre gesellschaft- lich die unterschiedliche Höhe der Unterhaltsansprüche liche Akzeptanz wichtig ist – warum scheuen Sie für die von Kindern in Ost und West abgeschafft. Die Neurege- erste Debatte der Unterhaltsreform das Tageslicht und lung der Kindergeldverrechnung, wonach das Kinder- suchen die nachtschlafene Dunkelheit? geld bereits bei der Ermittlung des Bedarfs des Kindes Die geplanten Änderungen im Unterhaltsrecht stellen berücksichtigt wird, ordnet die Kindergeldleistung im eine gute Grundlage für die parlamentarischen Beratun- Ergebnis zweckentsprechend den Kindern zu und führt gen dar. Es hat jedoch lange gedauert, bis uns dieser Ent- ebenfalls zu einer wesentlichen Vereinfachung der Un- wurf nun zur Beratung vorgelegt wurde. Nach vielfachen terhaltsberechnung. Die Regelbetrag-Verordnung ent- Ankündigungen und mehrfacher Vorlage von Eckpunk- fällt völlig. tepapieren aus dem Justizministerium zeigt sich, dass die (B) (D) Der Entwurf stärkt schließlich die nacheheliche Ei- Bundesregierung immerhin einige der vielen Vorschläge genverantwortung und verankert diese im Gesetz durch aufgegriffen hat, die wir als FDP bereits in der vergange- die Schaffung einer neuen, alle Unterhaltstatbestände er- nen und auch in dieser Legislaturperiode diesem Hohen fassenden Möglichkeit, Unterhaltsansprüche in Bezug Hause vorgelegt haben: auf die Höhe oder den Unterhaltszeitraum zu beschrän- Stärkung der Eigenverantwortung nach der Ehe und ken. Dies gilt etwa dann, wenn der Unterhaltsberechtigte das Kindeswohl in den Mittelpunkt der unterhaltsrechtli- mit einem neuen Partner in einer verfestigten Lebens- chen Reformüberlegungen zu stellen – dies hat die FDP partnerschaft lebt. Zugleich werden die Anforderungen neben anderen Änderungen bereits 2004 vorgeschlagen! an die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit nach der Und erst ein halbes Jahr nach unserer Großen Anfrage Scheidung verschärft. Für Geschiedene soll damit darauf stellte Frau Zypries das erste Mal „ihre“ Eckpunkte zur hingewirkt werden, dass sich diese nach der Scheidung Reform vor. Teilweise Ähnlichkeiten der Vorlage von selbst wieder eine neue Perspektive verschaffen. Ge- Bundesjustizministerin Zypries zu unseren Initiativen richte werden zugleich zur Abkehr vom starren Alters- sind zu erkennen. Scheinbar hat die Regierung erkannt, phasenmodell durch die stärkere Betonung der Eigenver- dass liberale Gedanken und Ansätze diese Reform ein antwortung im Hinblick auf den Betreuungsunterhalt des gutes Stück voranbringen. Leider fehlen noch einige geschiedenen Ehegatten angehalten. Hierbei ist jedoch Punkte; dazu komme ich aber später. auch die konkrete Situation wie Ausbildung, Alter und Möglichkeiten im Erwerbsleben zu berücksichtigen. Es geht bei dieser Reform aber nicht nur um Ände- rungen, die an einigen Paragraphen des BGB vorgenom- Um zu vermeiden, dass die notwendige Anpassung men werden. Es geht um sehr viel mehr. Es geht auch des Unterhaltsvorschussgesetzes an die Unterhalts- um die Frage, wie der Gesetzgeber künftig seine Bilder rechtsreform zu einem Absinken der Vorschüsse führt, von Ehe und Familie, Solidarität und Eigenverantwor- sieht der Gesetzentwurf Mindestbeträge auf dem Niveau tung und dem Wohl von Kindern den gesellschaftlichen des bisherigen Unterhaltsvorschusses in den alten Bun- Wandlungen anpassen und in familienrechtlichen und desländen vor. gesellschaftspolitischen Entscheidungen Ausdruck ver- leihen will. Ungeachtet aller Änderungen gilt aber: Das Unter- haltsrecht muss in besonderem Maße dem Einzelfall ge- Nehmen wir die Frage nach dem Bild der Ehe: Die recht werden und ein über Jahre gewachsenes Vertrauen Gründe für die Eheschließung haben sich in den vergan- in die nacheheliche Solidarität schützen. In diesem Sinne genen Jahrzehnten gewandelt. Anfang des 20. Jahrhun- freue ich mich auf konstruktive Beratungen. derts musste kaum zwischen den verfassungsrechtlich 4216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) geschützten Institutionen der Ehe und der Familie unter- beit teilen sich bereits viele Paare – und das unabhängig (C) schieden werden. Kinder wuchsen vornehmlich in der davon, ob sie verheiratet sind oder in so genannter wil- Ehe auf. Der familiäre Verbund verschmolz in dieser der Ehe leben. Zeit über die Beziehungen zwischen Vater, Mutter und Aus liberaler Sicht müssen die gesetzlichen Rahmen- Kindern hinaus zu einer Erziehungs- und Wirtschaftsge- bedingungen so ausgestaltet werden, dass jeder sein Le- meinschaft. Ehe und Familie standen im Zentrum der ben in Gemeinschaft mit anderen so ausgestalten kann, Gesellschaft. Aus dieser Perspektive resultierte auch das wie er will. Kein Bürger darf in ein bestimmtes Modell unter liberaler Hand Mitte der 90er-Jahre abgeschaffte gezwungen werden. Stigma der Unehelichkeit. Vorher gab es nur schwarz oder weiß, ehelich oder unehelich. Als bürgerlich ange- Es ist zu begrüßen, dass sich in Parallelität zur Wand- sehen wurde nur, wer ehelich geboren war. Den außere- lung der Institution der Ehe auch das Familienbild wan- helich Geborenen haftete die gesellschaftliche Missach- delt. Denn Familie ist nicht nur in einer Ehe möglich. tung an. Familie ist vielmehr überall dort, wo Kinder sind. Dies muss auch der Schwerpunkt aller Überlegungen einer Eine entsprechende Konsequenz in der Anpassung Unterhaltsreform sein. Wir Liberale haben dies bereits der Rechtslage an die tatsächliche gesellschaftliche und mit mehreren parlamentarischen Initiativen in der ver- gesellschaftspolitische Entwicklung erwarte ich jetzt von gangenen und der jetzigen Legislaturperiode immer wie- der schwarz-roten Bundesregierung bei der Reform des der deutlich gemacht: Es darf in der anstehenden Reform Unterhaltsrechts! Denn es hat sich einiges getan: nicht darum gehen, Erwachsene in und nach einer ein- Die Ehe wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern mal „errungenen“ Ehe finanziell abzusichern. „Unterhalt nur noch als eine der vielen möglichen Formen des Zu- bis ins Grab“ darf in der heutigen Zeit nicht mehr Folge sammenlebens angesehen. Andere Lebensformen wie des Jawortes bei der Eheschließung sein! In einer aufge- ein Zusammenleben und Füreinander-Einstehen ohne klärten und selbstständigen Gesellschaft trägt jeder Er- Trauschein in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft wachsene Verantwortung für sich und sein Tun. Dies be- oder in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft sind deutet für jeden Ehepartner, die eigenen Ziele und heute gesellschaftlich akzeptiert. Fernbeziehungen über Verantwortlichkeiten während einer Ehe nicht aus den mehrere hundert Kilometer gehören gerade in Zeiten der Augen zu verlieren. Flexibilität am Arbeitsplatz zum Alltag vieler junger Der Gesetzgeber ist nun gefordert, auf der einen Seite Menschen. die Eigenverantwortung in und nach der Ehe zu stärken Die Häufigkeit von anderen Lebensgemeinschaften und auf der anderen Seite die Übernahme von Verant- als der Ehe lässt sich auch mit Zahlen belegen: Seit 1996 wortung bei der Erziehung und Betreuung von Kindern (B) ist die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften zu fördern. Dies wird ein Schwerpunkt der Reform sein. (D) um ein gutes Drittel angestiegen. In demselben Zeitraum Wichtig ist aber auch, die familiären Verantwortlichkei- hat sich in den alten Bundesländern die Zahl der nicht- ten von Alleinerziehenden, nicht miteinander verheirate- ehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern um fast ten Eltern und der Sandwichgeneration zu prüfen und drei Viertel erhöht! Im März 2004 lebten in Deutschland den geänderten gesellschaftlichen Bedingungen anzu- 2,5 Millionen Alleinerziehende mit Kindern – und das passen. Eltern muss es stets möglich sein, der Betreuung ist bereits jede fünfte Eltern-Kind-Gemeinschaft. Auch von Kindern im erforderlichen Umfang einen wichtigen Familien sind deutlich kleiner geworden; in der Mehr- Stellenwert beizumessen und trotzdem ihr eigenes Leben heit der jungen Familien leben ein oder maximal zwei weiterzuverfolgen. Hier werden wir insbesondere über Kinder. die Unterschiede bei den Unterhaltsansprüchen von be- treuenden Elternteilen reden müssen; denn noch wird Das althergebrachte bürgerliche Modell der Ehe, bei sehr deutlich danach unterschieden, ob die Eltern verhei- dem es primär um soziale und wirtschaftliche Faktoren ratet waren oder ob das Kind aus einer nichtehelichen bei der Partnerwahl ging, hat ausgedient. Heute sind Beziehung stammt. emotionale Aspekte bei der Partnerwahl entscheidend. Diese neue Partnerschaftlichkeit hat inzwischen auch Aus unserer Sicht ist die vorgeschlagene Gesetzesän- weitgehend das patriarchalische Ehe- und Familienbild derung ausgiebig zu diskutieren. Es ist in unser aller In- beseitigt. In der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist das teresse, und wir befürworten es, dass das Kindeswohl Bild des bestimmenden männlichen Oberhauptes der Fa- und somit auch deren Anspruch auf Unterhalt, an erster milie überholt. Die vor allem von der Union häufig noch Stelle rangiert. wiederholten und empfohlenen Rollenmuster und Auf- Aber schon im zweiten Rang, der den Unterhalt der gabenverteilungen sind nicht mehr allgemeingültig! betreuenden Mutter sicherstellen soll, wird es unüber- Die schwarz-rote Koalition wird sich mit diesen ge- sichtlich. Zwar werden auch hier die Interessen des Kin- sellschaftlichen Wandlungen auseinander setzen müs- des im Interesse einer erleichterten Betreuungsmöglich- sen! Es hilft niemandem, wenn an dem alten Bild der keit durch die Mutter in den Vordergrund gestellt. Diesen Ehe – wenn möglich auch noch der typischen Einverdie- gleichgestellt werden jedoch auch nur langjährig verhei- nerehe – festgehalten wird. Nicht nur die gesellschaftli- ratete Ehefrauen. Mal abgesehen davon, dass der zu ver- che, sondern auch die Arbeitswelt ist mittlerweile eine teilende Kuchen im zweiten Rang damit schon recht andere. Nicht selten arbeiten beide Ehepartner, wenn dünn wird, wird der zu findende Ausgleich zwischen der auch zeitweise nur Teilzeit; Väter beginnen, sich um die sich in Abhängigkeit befindlichen Ehefrau und dem Inte- Erziehung ihrer Kinder zu kümmern. Auch die Hausar- resse einer ausreichenden Kindererziehung an dieser Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4217

(A) Stelle durch den Gesetzgeber nur unzureichend gefun- unregelmäßig oder in zu geringer Höhe. Das letzte Drit- (C) den. Denn auch der Gesetzesbegründung kann nicht hin- tel bekommt ihn selten oder nie. reichend konkret entnommen werden, was denn unter Wird der Unterhalt nicht gezahlt, geht der Staat aus dem Gesetzeswortlaut einer „Ehe von langer Dauer“ zu der Unterhaltsvorschusskasse zunächst in Vorleistung. verstehen ist. Die Leittragenden sind die Betroffenen, Hier wollen Sie Anpassungen vornehmen, vor allem meistens Frauen, die zugunsten von Ehe und Familie durch die Anknüpfung der Unterhaltsvorschussleistun- oder im Hinblick auf die Rollenverteilung Karriereein- gen an den gesetzlich definierten Mindestunterhalt. Wir bußen hinnehmen mussten und deren Betreuungszeit begrüßen die Abkehr von der Ost-West-Differenzierung vorüber oder deren Ehe nicht „lang genug“ bestand, aber der Höhe des maximalen und minimalen Unterhaltsvor- auch die Rechtsprechung, welche diesen Konflikt jetzt schusses. Trotzdem kommt es – und nicht nur nach unse- wieder einmal alleine lösen darf. ren Aussagen – zu keiner nennenswerten Erhöhung beim Auch wird es in der Praxis zu erheblichen Problemen Unterhaltsvorschuss. Der Grund hierfür liegt in der vol- bei der Ermittlung der jeweiligen Unterhaltsansprüche, len Anrechung des Kindergeldes auf den Leistungsbe- vor allem im zweiten und dritten Rang kommen, da es zug, der bisher nur hälftig stattfand. Als Begründung kein entsprechendes Auskunftsrecht der beispielsweise stellen Sie fest, dass auch das Kindergeld eine Leistung unterhaltsberechtigten Exfrau gegen den neuen Ehepart- ist, die der Existenzsicherung des Kindes dient. Eine ner des in Anspruch genommenen Ehegatten gibt. Da Verbesserung für die Betroffenen bleibt damit jedenfalls der Unterhaltsverpflichtete jedoch daran interessiert sein aus, denn im Ergebnis bleiben die Leistungsbeträge auf wird, gegenüber der neuen Partnerin möglichst hoch ver- dem gleichen niedrigen Niveau erhalten. pflichtet zu sein, wäre ein Auskunftsanspruch des Be- Schade ist, dass gegenwärtig die Chance vertan wird, rechtigten oder auch des jeweiligen Gerichts dringend die zeitliche Befristung der Vorschussleistung auszudeh- notwendig. nen. Zwar ist die überwiegende Zahl der Fälle von Un- terhaltsvorschussleistungen von kurzer Dauer, jedoch Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Kinderarmut in die Zahl der „Wiederholungsfälle“ eklatant. Im Hinblick Deutschland hat viele Seiten: Sie manifestiert sich als auf die gegenwärtige Arbeitsmarktsituation darf nicht Mangel an Bildung, Gesundheit, Mobilität, Freizeitge- übersehen werden, dass die Kinder aufgrund entstehen- staltungsmöglichkeiten, Kultur, ja sogar an gesunder Er- der Arbeitslosigkeit des Barunterhaltsverpflichteten und nährung. Der entscheidende Faktor ist dabei das tatsäch- der zeitlichen Befristung, die Leidtragenden sind. lich verfügbare Einkommen. Wieder sind es die Kinder, die im Ergebnis die Zeche Etwa 1,7 Millionen Kinder befinden sich im Bezug für eine verfehlte Politik zahlen müssen. Das muss sich (B) von Sozialgeld und leben damit auf einem Einkommens- ändern! Deshalb fordern wir die Aufhebung der Befris- (D) niveau, das sie von einer angemessenen sozialen und ge- tung bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. sellschaftlichen Teilhabe ausschließt. Das Kinderhilfs- werk der Vereinten Nationen UNICEF hat festgestellt, Sie versprechen in der Öffentlichkeit, dass das Unter- dass die Kinderarmut in Deutschland seit 1990 im Ver- haltsgesetz im Interesse des Kindes und zur Stärkung des gleich zu anderen Industrieländern überdurchschnittlich Kindeswohls verändert wird. Tatsache ist: Sie zementie- stark angestiegen ist. Die sozialstaatlichen Antworten ren auch in der Reform zum Unterhaltsrecht soziale Un- darauf sind alles andere als ausreichend. gerechtigkeiten und verfestigen das Armutsrisiko von Kindern und Alleinerziehenden. Und dies wird auch Kindergeld, Kinderfreibetrag, Kinderzuschlag und nicht durch die Änderung der Rangfolge im Unterhalts- Unterhaltsvorschuss sind in der gegenwärtigen Form als recht geändert. Unter Zugrundelegung des existierenden Leistungssystem zur Verhinderung von Kinderarmut Realsplittings, bei Berücksichtigung der steuerlichen völlig ungeeignet. Die Bedarfsgemeinschaft bleibt eine Abzugsfähigkeit nach § 10 Abs. I Nr. 1 EStG für den sozialpolitische Fehlkonstruktion, weil sie dem An- Ehegattenunterhalt, wird nach dem Modell der Regie- spruch, das Existenzminimum von Kindern eigenständig rung das monatliche Einkommen bei den betreuenden und unabhängig vom Familieneinkommen abzusichern, Elternteil insgesamt geringer ausfallen, bei gleich blei- nicht gerecht wird. Darüber hinaus wird ignoriert, dass bendem Selbstbehalt des Verpflichteten. Die Kinder be- Kinder eine eigenständige Bevölkerungsgruppe mit ei- kommen vorrangig Unterhalt, die in der Regel betreu- nem eigenständigen Anspruch auf einen Anteil an den ende Mutter fällt durch den Rost, wobei insgesamt gesellschaftlichen Ressourcen sind. Deshalb fordern wir wieder die Familie finanziell leidet. Die einzigen, wel- eine Kindergrundsicherung als soziales Recht für jedes che Vorteile daraus ziehen, sind unter dem Strich die Fi- Kind, in Form eines individualisierten und existenzsi- nanzämter. Hier wird wieder einmal den Familien in die chernden Anspruchs unabhängig vom sozialen Status Tasche gegriffen. Deshalb müssen Sie sich fragen lassen, der Eltern. wie ihre „Reförmchen“ zu einer nachhaltigen Bekämp- fung nicht nur von Kinderarmut in Deutschland beitra- Zur Existenzsicherung von Kindern Alleinerziehen- gen können. der gehören auch monatliche Unterhaltszahlungen. So- weit die Theorie. Wie viele Kinder ihren Unterhalt tat- Und wie ist die Reform gleichstellungspolitisch zu sächlich erhalten, zeigen die Ergebnisse einer Studie zur bewerten? Grundsätzlich ist der Aussage zuzustimmen, Zahlungsmoral unterhaltspflichtiger Eltern. Danach er- dass Erwachsene zunächst selbst für ihren Lebensunter- halten etwa ein Drittel der Kinder den Unterhalt regel- halt sorgen sollen, während Kinder dazu natürlich nicht mäßig und in voller Höhe. Ein weiteres Drittel erhält ihn in der Lage sind. Auf den ersten Blick ist daher eine 4218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Veränderung der Rangfolge im Mangelfall – und nur da- den wir auch eine zentrale Ursache für die hohe Zahl der (C) rum geht es hier – zugunsten der Kinder überzeugend. minderjährigen Sozialhilfeempfänger. Daher ist die Än- Die Folge wird sein, dass geschiedene Frauen, die ihre derung in der Rangstellung der Unterhaltsberechtigten Existenz nicht eigenständig sichern können, statt Unter- ein richtiger Schritt, damit Kinder nicht leer ausgehen. halt stärker auf Sozialleistungen angewiesen sein wer- den – wie der Gesetzentwurf auch einräumt. Wer aber Wenn Väter zudem das Gefühl haben, hauptsächlich nacheheliche Eigenverantwortung einfordert, muss sich für ihre Kinder zu zahlen, kann man vielleicht auf eine allerdings fragen lassen, welchem Leitbild von ehelicher höhere Zahlungsmoral hoffen. Was diesen Punkt anbe- Arbeitsteilung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf langt, bin ich gespannt, wie sich dies auf die Anwendung gefolgt wird. Schlicht, Eigenverantwortung nach der Ehe des Unterhaltsvorschussgesetzes auswirkt. Auch die An- zu fordern und die Möglichkeiten für Beschränkung der näherung der Unterhaltsansprüche geschiedener und Unterhaltsansprüche zu schaffen, genügt unserer Ansicht nichtehelicher Elternteile ist richtig. Besonders hart trifft nach nicht. Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt, es doch heute die unverheirateten Mütter oder Väter, die schlechte Kinderbetreuungsinfrastruktur in vielen Bun- ihr Kind oder ihre Kinder betreuen. Nach geltender desländern, Entgeltdiskriminierungen und auch das Rangfolge gehen sie häufig leer aus und erhalten keinen Ehegattensplitting tragen nicht zu einem Leitbild der Ei- Betreuungsunterhalt. Die Schwelle für eine Verlänge- genverantwortung für Ehefrauen bei. Dies gilt es zu än- rung des Betreuungsunterhalts über die ersten drei Jahre dern – aber nicht punktuell im Unterhaltsrecht! hinaus sollte weiter abgesenkt werden, damit die Ge- richte zukünftig mehr Entscheidungsspielraum bekom- Wir fordern in diesem Zusammenhang: ein umfassen- men, um dem Einzelfall gerecht werden zu können – im- des Konzept zur Bekämpfung der Kinderarmut in mer davon ausgehend, wie sich die Situation für das Deutschland; einen konsequenten Ausbau einer eltern- Kind bzw. die Kinder darstellt. beitragsfreien flächendeckenden Kinderbetreuung, um Auch die Stärkung des Grundsatzes nachehelicher Ei- lückenlose Erwerbsbiografien beider Elternteile zu ge- genverantwortung finde ich grundsätzlich begrüßens- währleisten; eine Kindergrundsicherung in Form eines wert. individualisierten Anspruchs unabhängig vom sozialen Status der Eltern. Erfahrungsgemäß zahlen die Unterhaltspflichtigen „ohne Murren“ für ihre Kinder, mit dem Ehegattenunter- halt nach einer Scheidung ist dies aber tendenziell an- Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu ders. Bei Ehen, die nur einige Jahre gehalten haben, ist nachtschlafender Zeit sollten wir nun eigentlich sehr auf- dies auch irgendwie nachvollziehbar. Der oder die Ge- merksam sein: Die Änderung des Unterhaltsrechts be- schiedene sollte dann irgendwann wieder für sich verant- (B) trifft direkt oder indirekt alle: Schließlich sind wir alle wortlich sein. Allerdings sind in der heutigen Zeit der (D) Kinder auch wenn viele bereits erwachsen sind; ein Eigenverantwortung von geschiedenen Müttern und Vä- Großteil der Bevölkerung sind Eltern – auch wenn die tern Grenzen gesetzt. Ich möchte Sie nur daran erinnern, Zahl der Eltern zunehmend kleiner wird und viele Paare wie schwierig es in manchen Regionen ist, ein Kinderbe- sind verheiratet. Was diese Rollen anbelangt, betrifft das treuungsangebot zu finden, das es einem ermöglicht, ar- Unterhaltsrecht jeden Einzelnen; denn es geht um das fi- beiten zu gehen. Auch und gerade bei Ehen, die lange nanzielle Einstehen füreinander. gehalten haben, muss dem geschiedenen Partner ein Be- In der Diskussion über die notwendigen Änderungen standsschutz gewährt werden. im Unterhaltsrecht sind sich die meisten einig, dass die In seiner Grundrichtung entspricht der eingebrachte Förderung des Kindeswohls im Vordergrund stehen Entwurf dem grünen Prinzip, Kinder in den Mittelpunkt muss. Daran hat sich für mich auch nichts geändert. Was zu stellen. Dabei wissen wir sehr wohl, dass damit das sich aber weiterhin ändert, sind die Familienverhältnisse Geld der betroffenen Familien nicht mehr wird, aber es in unserer Gesellschaft. Ich möchte nur einige Schlag- wird transparenter, nach klareren Regeln und zeitgemä- worte erwähnen: die hohe Scheidungsrate, die aufbre- ßer verteilt. chende Rollenverteilung, die neuen Familienformen und die Zunahme von „Zweitfamilien“. Vor diesem Hinter- Natürlich werden wir im weiteren Beratungsverlauf grund muss man sich zu Recht die Frage stellen, ob das kritisch prüfen, ob es hier zu Folgewirkungen in anderen Familienrecht diesen Wandel reflektiert. Ich meine, das Rechtsgebieten kommt, die nicht in unserem Sinne sind. tut es in einem ganz wesentlichen Punkt, nämlich dem Gerade in Mangelfällen sollte es nicht dazu kommen, Unterhaltsrecht, nicht. das der Mangel noch größer wird. Das Unterhaltsrecht geht davon aus, dass das Ein- Vor allem im Interesse der vielen betroffenen Kinder kommen einer Familie in der Regel so hoch ist, dass im freue ich mich auf die weitere Beratung. Fall einer Scheidung alle Familienmitglieder durch ei- gene Unterhaltsansprüche versorgt werden können. Die Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Vo r Realität ist aber leider eine andere. Immer mehr Unter- einer Woche wurde im Bundestag das Gesetz zur Ein- haltsprozesse drehen sich um den Mangelfall. In vielen führung des Elterngeldes auf den Weg gebracht. Es wird Fällen werden die Zahlungen unregelmäßig oder gar dafür sorgen, dass junge Frauen und Männer ihren nicht getätigt. Kinder sind häufig die Leidtragenden sol- Wunsch nach Kindern und ihren Wunsch nach einem er- cher Fälle, weil sie unter finanziellen Zwängen aufwach- folgreichen Arbeitsleben künftig besser miteinander ver- sen, die ihrer Entwicklung nicht förderlich sind. Hier fin- binden können. Heute leiten wir ein weiteres wichtiges Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4219

(A) Projekt unserer Familienpolitik ein: die Modernisierung Anlage 30 (C) des Unterhaltsrechts. Zu Protokoll gegebene Rede Das Unterhaltsrecht entscheidet darüber, welches zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- Maß an finanzieller Solidarität Familienangehörige von- setzes zur Regelung des Urheberrechts in der einander erwarten können. Es regelt einen zentralen As- Informationsgesellschaft (Tagesordnungspunkt 27) pekt familiärer Verantwortung. Mit unserer Reform sor- gen wir dafür, dass künftig das Wohl des Kindes im Mittelpunkt des Unterhaltsrechts steht. Unser Ziel ist es, Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Dass das die Situation der minderjährigen Kinder zu verbessern. Urheberrecht den veränderten Bedingungen der Infor- Auf sie nimmt das geltende Recht zu wenig Rücksicht. mationsgesellschaft weiter angepasst werden muss, ist 26 Prozent aller Familien bestehen heute aus Alleiner- unstrittig. Strittig aber ist, wie es dabei zu einem fairen ziehenden und nichtehelichen Lebensgemeinschaften Ausgleich der Interessen von Kreativen, Verwertern und mit ihren Kindern. Dieser Tatsache müssen wir auch im Nutzern kommen kann. Der vorliegende Entwurf leistet Unterhaltsrecht besser Rechung tragen. Es ist schließlich dies unserer Auffassung nach nicht. Wir können ihm in der vorliegenden Fassung nicht zustimmen. Die Folgen ein erheblicher Unterschied, ob ein Kind in dem Be- für die verschiedenen Gruppen der Betroffenen müssen wusstsein, von seinen Eltern versorgt zu werden oder erneut bedacht und diskutiert werden. Darauf sind wir aber von Sozialhilfe zu leben, aufwächst. Der Gesetzent- durch eine Flut von Stellungnahmen aufmerksam ge- wurf stellt deshalb klar: In Mangelfällen hat der Kindes- macht worden. Besonders problematisch sind die Folgen unterhalt künftig Vorrang vor allen anderen Unterhalts- für die Urheber. Wir halten deshalb eine Anhörung für ansprüchen. dringend notwendig. Jeder weiß, dass die Kindererziehung häufig leidet, Die Urheber müssen nun auch bei diesem Gesetzent- wenn die elterliche Betreuung zu kurz kommt. Wir wer- wurf, wie schon beim Folgerecht, gravierende Einbußen den deshalb auch die Unterhaltsansprüche von den El- hinnehmen. Das ist nicht zu akzeptieren. Die vorgesehe- ternteilen aufwerten, die ein Kind betreuen. Sie sollen nen Neuregelungen zu den gesetzlichen Vergütungsan- künftig privilegiert im zweiten Rang stehen. Im Interesse sprüchen – §§ 54, 54 a RegE – und zu den unbekannten der Kinder verbessern wir dabei auch die Stellung der Nutzungsarten – § 31 Abs. 4 UrhG, §§ 31 a und 32 c Mutter, die nicht mit dem Vater verheiratet ist. Für die RegE – führen zweifelsfrei zu einer Schlechterstellung Kinder ist es egal, ob zwischen Mutter und Vater eine der Kreativen. Wir erinnern daran, dass es ein Urheber- Ehe bestand oder nicht. Eine gute Betreuung brauchen recht ist und auch bleiben sollte, um das es hier geht. sie in jedem Fall (B) Wir sehen in dem Entwurf einen enteignungsgleichen (D) Ein dritter Aspekt des gesellschaftlichen Wandels auf Eingriff in die Rechte der Urheber und ein Geschenk an den wir reagieren, ist die Scheidungsquote. Sie ist in den die Geräteindustrie. Das Anliegen des Urheberrechtes, letzten Jahren beständig gestiegen. Andererseits gründen die Kreativen an der multimedialen Nutzungsmöglich- immer häufiger Menschen nach einer gescheiterten Be- keit ihrer Werke zu beteiligen und ihnen eine angemes- ziehung eine neue Familie. Daraus entstehen die so ge- sene Vergütung ihrer Leistungen zu gewährleisten, wird nannten Patchworkfamilien, die heute keine Seltenheit damit infrage gestellt. mehr sind. Auch diese neuen Familien brauchen finan- Mit diesen Regelungen wird unserer Auffassung nach ziell eine Chance; deshalb können wir beim Unterhalt ein „Systemwechsel“ im Urheberrecht eingeleitet. Das nach einer Scheidung nicht so weitermachen wie bisher. Urheberrecht, dass das Recht der Kreativen schützen Wir müssen die finanzielle Eigenverantwortung nach ei- soll, wird immer stärker den wirtschaftlichen Interessen ner gescheiterten Ehe stärken und sie auch ausdrücklich der Kulturindustrie angepasst. Der Schutzgedanke des im Gesetz verankern. Ich meine, das ist auch im Sinne Urheberrechts wird aufgegeben und die Lösung des Inte- der Betroffenen. Bei allen Schwierigkeiten, die es gibt: ressenkonflikts zwischen Urhebern, Verwertern und Ver- Eine klare Perspektive für die Zukunft bekommen die brauchern dem freien Spiel des Marktes überlassen. Betroffenen auch dadurch, dass sie so schnell wie mög- Dass die ökonomisch Schwächeren, die Kreativen, dabei lich wieder auf eigenen Beinen stehen und nicht mehr verlieren müssen, liegt auf der Hand. Wir werden uns von Unterhaltszahlungen abhängig sind. Durch eine Än- deshalb mit unserer Kritik und unseren Änderungsvor- derung des Gesetzes wollen wir den Richterinnen und schlägen insbesondere auf diese beiden Rechtskomplexe Richtern deshalb mehr Möglichkeiten geben, den Unter- konzentrieren. haltsanspruch zu begrenzen – zeitlich und in seiner Höhe. Mit dieser Neuregelung zur Vergütungsabgabe wird das verfassungsrechtliche Gebot einer angemessenen Wir haben in der Vergangenheit häufig – oft einver- Vergütung der Urheber und Leistungsberechtigten in nehmlich – über die Notwendigkeit einer Reform des sein Gegenteil verkehrt. Bei jedem Speichermedium Unterhaltsrechts diskutiert. Viele Menschen warten da- muss zunächst nachgewiesen werden, dass zu mehr als rauf, dass der Gesetzgeber endlich handelt. Ich meine, 10 Prozent urheberrechtsrelevante Kopien angefertigt mit dem Gesetzentwurf liegt jetzt eine solide Grundlage werden, bevor eine Vergütungsabgabe überhaupt greift. für die weiteren Beratungen vor. Ich würde mich freuen, Außerdem sind jahrelange Rechtsstreitigkeiten program- wenn wir hier zu einer gemeinsamen Lösung kommen miert. Die Vergütung für eine zunehmende Zahl von würden. Vervielfältigungen wird an sinkende Gerätepreise 4220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) gekoppelt und damit beschränkt. Die Deckelung der Anlage 31 (C) Pauschalvergütung auf fünf Prozent des Speichermedi- Zu Protokoll gegebene Reden umspreises führt zu einer deutlichen Schlechterstellung der Urheber. Wir werden die Bundesregierung deshalb zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur auffordern, diese Regelung grundsätzlich zu verändern. Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts (Tagesordnungspunkt 28) Ebenso wenig können wir akzeptieren, dass zukünftig Verwertungsverträge über „unbekannte Nutzungsarten“ geschlossen werden können und damit Urheber gezwun- Kai Wegner (CDU/CSU): Das Gesetz zur Neurege- lung des Versicherungsvermittlungsrechts dient der Um- gen sind, zu einer und derselben Vergütung auch neue setzung der entsprechenden Richtlinie des Europäischen Nutzungsmöglichkeiten abzutreten. Die Aufhebung des Parlaments. Das ist ein Thema, das die Bundesregierung bislang in § 31 Abs. 4 UrhG geltenden generellen Ver- bereits seit geraumer Zeit beschäftigt. bots für die Einräumung „unbekannter Nutzungsrechte“ ist ein schwerwiegender Eingriff in die ökonomische Ziel dieser Richtlinie ist es, die Qualität der Beratung Entscheidungsfreiheit des Urhebers. Wir lehnen sie des- zu verbessern und somit die Interessen der Verbraucher halb ab. durch eine Registrierpflicht der Vermittler und eine ein- heitliche Normierung der Informations- und Dokumen- Bei der Festlegung der Vergütungshöhe sehen wir den tationspflichten zu stärken. Dies muss aber mit dem not- Staat nach wie vor in der Verantwortung, ein schnelles wendigen Fingerspitzengefühl geschehen, da die und klares Verfahren vorzuschlagen, das Rechtssicher- Vermittler für die Versicherungsbranche den bei weitem heit für die Rechteinhaber und Nutzer gewährleistet. Wir größten Umsatz erzielen. Weit über 90 Prozent des Um- plädieren dafür, die Vergütungshöhe durch Gesetz oder satzes wird auf diese Art und Weise erzielt und das soll Rechtsverordnung festzulegen. Die Höhe sollte jeweils auch in Zukunft so bleiben. Dennoch besteht Handlungs- den veränderten Bedingungen angepasst werden. Im bedarf. zweiten Vergütungsbericht der Bundesregierung vom 11. Juli 2000 wurde ausdrücklich auf die Notwendigkeit Zurzeit unterliegt die Versicherungsvermittlung kei- einer Anhebung der gesetzlichen Vergütungssätze hinge- ner Berufszugangsschranke. Sie ist lediglich eine ge- wiesen. werbliche Tätigkeit im Sinne der Gewerbeordnung. Dies bedeutet, dass ein Versicherungsvertreter seine Tätigkeit Zweifellos gibt es auch positive Punkte in diesem nur gegenüber der zuständigen Behörde vor Ort, dem Entwurf. Die Privatkopie bleibt erhalten. Das ist uns Gewerbeaufsichtsamt, melden muss. Ob er allerdings die wichtig. Allerdings nur bei nicht kopiergeschützten Wer- fachliche Qualifikation dazu besitzt, auch eine ordentli- (B) ken. Das Umgehen des Kopierschutzes bleibt verboten che Beratung durchzuführen, spielt dabei bislang leider (D) und strafbar. keine Rolle. Dies wird sich mit der Umsetzung der Richtlinie ändern. Um zum Versicherungsvermittler zu- Wir werden uns als Fraktion in der nächsten Zeit auch gelassen zu werden, müssen zukünftig entsprechende intensiv mit den Folgen für die Nutzer und Nutzerinnen Fähigkeiten hierzu nachgewiesen werden. im privaten Bereich wie im Bereich der Bildung, Wis- Was beinhaltet dieses Gesetz eigentlich? Hier die senschaft und Kultur beschäftigen. Unser besonderes wichtigsten Punkte in Kürze: Anliegen ist es, einen sozial gleichen Zugang zu den mo- dernen Informations- und Kommunikationstechnolo- Wie bereits angeklungen, wird die Versicherungsver- gien zu sichern. Gleicher Zugang und gleiche Teilhabe mittlung in ein erlaubnispflichtiges Gewerbe umgewan- aller an Bildung und Informationen sind ein Menschen- delt. Es wird in Zukunft nicht mehr ausreichen, sich ein- recht. Sie sind auch Bedingung für Wissenschaftsent- fach bei der zuständigen Behörde anzumelden. Die wicklung. Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme Industrie- und Handelskammern sollen künftig über ent- dazu eine Reihe von Empfehlungen gegeben, die wir in sprechende Anträge entscheiden müssen. Wer in Zukunft unsere Überlegungen einbeziehen werden. So hat er auf Versicherungen vermitteln will, der muss eine entspre- die Entfristung des § 52 a UrhG hingewiesen, die auch chende Qualifikation nachweisen. Dies wird zu einer hö- aus unserer Sicht dringend notwendig ist. Mit dem nun heren Qualität der Beratungen und damit zu mehr Ver- beschlossenen Folgerecht ist die Befristung bis 2008 braucherfreundlichkeit führen. verlängert worden. Dann wird neu zu diskutieren sein. Durch die Normierung der Informations- und Doku- Wir sprechen uns mit Blick auf die wachsende Bedeu- mentationspflicht des Vermittlers gegenüber dem Kun- tung der neuen Informations- und Kommunikationstech- den sollen möglichst einheitliche Standards auf diesem nologien in den Schulen und Hochschulen für einen Er- Sektor erreicht werden. Auch das wird in vielen Fällen halt dieser Regelung aus – ohne Befristung. Erforderlich die Qualität der Beratung erhöhen. aber ist auch, dass die zur Zahlung einer angemessenen Vergütung Verpflichteten dieser Pflicht tatsächlich nach- Entscheidend für die Zulassung sind weiter geordnete kommen. Vermögensverhältnisse und ein guter Leumund sowie eine Berufshaftpflichtversicherung; denn gerade bei der Wir übersehen also die positiven Punkte des Entwurfs Vermittlung von Versicherungen, was ein sehr komple- nicht, können ihm aber vor allem wegen der gravieren- xes Thema ist, bei dem die meisten Verbraucher auf eine den Schlechterstellung der Urheber in seiner Gesamtheit gute Beratung angewiesen sind, kommt es darauf an, nicht zustimmen. dass man demjenigen, der einen berät, auch wirklich ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4221

(A) trauen kann. Wie schnell ist ein Vertrag abgeschlossen, schaffen. Die Harmonisierung der Standards soll den (C) den man hinterher bereut, da entweder der Preis zu hoch grenzüberschreitenden Dienstleistungswettbewerb för- oder die Leistung zu schlecht ist. dern und das ist zu begrüßen. Das Gesetz sieht zudem vor, so genannte Schlich- Ein Versicherungsvertreter, der in seinem Heimatland tungsstellen einzuberufen. Diese Stellen können vom zu- registriert ist, wird zukünftig problemlos seine Dienste ständigen Bundesministerium der Justiz bestellt werden in allen anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und dienen dazu, eventuelle Streitfälle zwischen Versi- anbieten dürfen. Gleichzeitig wird zum Wohle des Kun- cherungsvermittlern und Versicherungsnehmern außer- den die Qualität und Kundenfreundlichkeit in Europa auf gerichtlich zu lösen. Dies beschleunigt die Verfahren un- einem hohen Niveau angeglichen. So wird ein Kunde in gemein und senkt gleichzeitig die Kosten eines solchen Athen eine ähnliche Beratung erhalten wie einer in Ber- Verfahrens. lin oder Amsterdam. Natürlich ist eine Normierung für die Berater mit ei- Zusammenfassend lässt sich sagen: Der vorliegende nem höheren Aufwand verbunden. Allerdings muss auf Gesetzentwurf bietet sowohl für Kunden als auch für der anderen Seite auch berücksichtigt werden, dass zum Anbieter Vorteile. Der Schlüssel dazu ist ein Zugewinn einen die Qualität der Beratungen und damit die Ver- braucher- und Kundenfreundlichkeit steigt, zum anderen an Verbraucher- und Kundenfreundlichkeit. Die stei- Rechtsstreitigkeiten aufgrund der gestiegenen Qualität gende Qualität der Beratungen wird nicht nur dem Kun- tendenziell eher vermieden werden, was auch zur Kos- den dienen, sondern auch dazu führen, teilweise verlore- tensenkung beiträgt. Von beidem wird letztlich die Bran- nes Vertrauen in die Branche wieder aufzubauen. Es che selbst profitieren und ihren, zumeist zu Unrecht, wird Zeit, dass sich die Versicherungsbranche von ih- ramponierten Ruf aufpolieren können. rem, in den meisten Fällen unverdienten, schlechten Image erholt. Unser Ziel ist die Stärkung der beiden Seiten: der Ver- sicherten und der Versicherer. In diesem Sinne ist es Durch die weitestgehende Angleichung in allen Mit- nicht zielführend, die Versicherungsvermittlungsbranche gliedstaaten der Europäischen Union erhalten die Versi- undifferenziert mit einer Erlaubnispflicht zu überziehen. cherungsvertreter die Möglichkeit, auch in anderen Staa- Deshalb werden die so genannten gebundenen Vertreter, ten ihre Dienste anzubieten. Dabei liegt es nicht in die mit einem Versicherungsunternehmen einen Agen- unserem Interesse, die Branche durch Überregulierung turvertrag haben, von der Erlaubnispflicht befreit, sofern zu lahmen. Vielmehr sollten wir dieses Thema mit der das Versicherungsunternehmen die uneingeschränkte nötigen Sensibilität und mit Augenmaß behandeln. Da- Haftung für sie übernimmt. Dies betrifft mit immerhin her halte ich es für sinnvoll, nach der Sommerpause eine (B) circa 400 000 Vertretern die weitaus größte Zahl der Be- Expertenanhörung durchzuführen, um die Interessen der (D) troffenen. Betroffenen entsprechend berücksichtigen zu können. Um die mit jeder Erlaubnispflicht verbundene Büro- kratie so gering wie möglich zu halten, wird für Vermitt- Christian Lange (Backnang) (SPD): Das vorgelegte ler von Versicherungen, die an ein bestimmtes Produkt Gesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 2002/92/EG gebunden sind, ein vereinfachtes Zulassungsverfahren des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. De- eingeführt. Dies gilt zum Beispiel für Kfz-Händler, die zember 2002 über Versicherungsvermittlung. Die Richt- mit dem Auto gleich eine entsprechende Versicherung linie, die den Verbraucherschutz und die Harmonisie- verkaufen. Hierdurch werden die Eingriffe in die beste- rung des Vermittlermarktes zum Ziel hat, hätte von henden Vermittlungsstrukturen so gering wie möglich Deutschland bis 15. Januar 2005 in nationales Recht um- gehalten werden. gesetzt werden müssen, sodass nun Eile geboten ist. Zu der Verzögerung kam es vor allem durch den anhalten- Ich halte es für eine gute Entscheidung, den Industrie- den Widerstand der Länder gegen das vorgeschlagene und Handelskammern in Zukunft die Kompetenz über die Erlaubnisanträge zu übertragen. Zum einen können Konzept zur Umsetzung der Richtlinie. Inzwischen zei- sie aufgrund ihrer dezentralen Struktur die Antragsstel- gen sich aber auch die Länder bereit, das vorgestellte lung direkt vor Ort vornehmen. Zum anderen besteht Grundkonzept zu akzeptieren, sodass wir nun doch zu eine erstklassige Vernetzung der einzelnen Stellen unter- einer hoffentlich zügigen Verabschiedung der Neurege- einander, sodass sie zu einer zentralen Registrierung pro- lung kommen werden. blemlos in der Lage sind. Deshalb sind Überlegungen, Denn es geht nicht nur darum, der Pflicht zur Umset- die Berufszulassung könnte von einem branchenübli- zung der EU-Richtlinie zu genügen, sondern es geht um chen Verein übernommen werden, verworfen worden. Verbraucherschutz – die Verbraucher sollen durch die Aufgrund der Vielzahl der Interessen betroffener Ver- Registrierungspflicht und die Normierung der Informa- bände – Makler, Ausschließlichkeitsvertreter, Großban- tions- und Dokumentationspflichten des Vermittlers ge- ken etc. – erscheint es wenig aussichtsreich, die notwen- schützt werden – und darum, die deutschen Versiche- dige Neutralität einer solchen Fachaufsicht zu rungsvermittler fit zu machen gegen die europäische gewährleisten. Darüber hinaus sprechen ordnungspoliti- sche Bedenken dagegen. Konkurrenz. Die Tätigkeit des Versicherungsvermittlers in einem zusammenwachsenden Europa wird harmoni- Das Ziel dieser EU-Richtlinie ist, eine möglichst ein- siert, und grenzüberschreitende Vermittlungen werden heitliche Reglung für die gesamte Europäische Union zu vereinfacht. 4222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Vonseiten der Versicherungsvermittler wird die beruf- Gleichwertige staatliche Abschlüsse werden anerkannt. (C) liche Aufwertung, die mit einer Erlaubnispflicht einher- Versicherungsvermittler, die schon seit dem 31. August geht, auch sehr geschätzt. Denn es geht auch darum 2000 tätig waren, genießen Bestandsschutz. Jeder Ver- „schwarze Schafe“ aus diesem Gewerbe herauszufiltern. mittler hat dafür zu sorgen, dass auch seine angestellten Das dient den Verbrauchern, aber auch den vielen seriö- Vermittler angemessen qualifiziert und zuverlässig sind. sen und kompetenten Vermittlern und Beratern in dieser Branche. Die circa 400 000 Vermittler, die ausschließlich an ein Versicherungsunternehmen gebunden sind – so ge- Den Vorgaben der Richtlinie entsprechend wird der nannte Ausschließlichkeitsvertreter –, können von der bislang frei zugängliche Beruf des Versicherungsver- Erlaubnis befreit werden, wenn sie über eine uneinge- mittlers einer Erlaubnis unterworfen. Es ist vorgesehen, schränkte Haftungsübernahme des Versicherers verfü- dass die Industrie- und Handelskammern Erlaubnis- und gen. Die Verantwortung für die Zuverlässigkeit und die Registrierungsstellen für die circa 500 000 einzutragen- Qualifikation übernimmt dann der jeweilige Versicherer. den Versicherungsvermittler werden. Damit einher ge- Für produktakzessorische Vermittler, wie zum Beispiel hen Vorschriften über die Qualifikation von Vermittlern, Autohändler, ist ein vereinfachtes Zulassungsverfahren eine Kundengeldsicherung, eine obligatorische Berufs- vorgesehen. haftpflichtversicherung sowie Beratungs-, Informations- und Dokumentationspflichten gegenüber dem Kunden. Grundsätzlich muss ein Makler als Sachwalter des Nach der Richtlinie waren auch die bisher im Rechtsbe- Kunden seinen Rat auf eine hinreichende Zahl von auf ratungsgesetz geregelten Versicherungsberater in das dem Markt angebotenen Versicherungsverträgen und neu geschaffene System für Versicherungsvermittler zu Versicherern stützen, die er im Wege einer objektiv aus- integrieren. Das heißt, Versicherungsberater müssen sich gewogenen Marktuntersuchung zu ermitteln hat. Ver- ebenfalls registrieren lassen und bedürfen nun einer Er- tragsspezifische anlassbezogene Beratungs-, Informa- laubnis der IHK, wobei die Anforderungen denen für tions- und Dokumentationspflichten sowie die Haftung Versicherungsvermittler entsprechen. Auch die für Ver- für eine Falschberatung werden normiert. Alle Vermitt- sicherungsmakler geltenden Berufsausübungsvorschrif- ler, die nicht auf dieser Grundlage beraten, haben dem ten, insbesondere die Beratungs-, Dokumentations- und Kunden die Namen der ihrem Rat zugrunde gelegten Informationspflichten, gelten entsprechend für Versiche- Versicherer anzugeben. rungsberater. Bislang unterliegt die Versicherungsver- Der Vermittler muss dem Kunden noch vor Beginn mittlung keinerlei Berufszugangsbeschränkungen. Er ist des Beratungsgespräches mitteilen, ob er als Versiche- nur zur Anzeige seiner Tätigkeit gemäß § 14 Gewerbe- rungsmakler, als Versicherungsvertreter oder Versiche- ordnung verpflichtet. rungsberater tätig ist. Durch Normierung dieser statusbe- (B) (D) Wichtig ist uns bei der Umsetzung der Richtlinie vor zogenen Informationspflichten in der Verordnung über allem, dass das Gesetz zur Neuregelung des Versiche- die Versicherungsvermittlung soll dem Kunden schon rungsvermittlerrechts und die Verordnung über die Ver- vor Beginn der Beratung größtmögliche Transparenz er- sicherungsvermittlung den zwangsläufig entstehenden möglicht werden. Grundsätzlich müssen Versicherungs- bürokratischen Aufwand auf ein Minimalmaß be- vermittler, die Zahlungen der Kunden annehmen, ohne schränkt und dabei das Gleichgewicht zwischen den Ver- dazu bevollmächtigt zu sein, in Anlehnung an die Mak- braucherschutzzielen und den Interessen der Wirtschaft ler- und Bauträgerverordnung eine Sicherheit stellen. wahrt. Ich bin zuversichtlich, dass dies gelungen ist. Die Versicherungswirtschaft wird als Beschwerde- und Schlichtungsstelle privatrechtlich organisierte Ombuds- Die Regelungen im Einzelnen. Grundsätzlich bedür- leute schaffen, was ich sehr begrüße. fen alle Versicherungsvermittler nach dem neuen § 34 d der Gewerbeordnung, GewO, einer Erlaubnis der IHK Ich bin zuversichtlich, dass die notwendige Umset- und müssen sich dort registrieren lassen. Sie sind auch zung der europäischen Vermittler-Richtlinie in deutsches für den Widerruf und die Rücknahme der Genehmigung Recht mit geringstmöglichen bürokratischen Aufwand zuständig. Die IHKs bedienen sich für die Registerfüh- gelungen ist. Der Verbraucherschutz wird gestärkt, Ver- rung des DIHK als gemeinsamer Stelle. braucher erhalten mehr Transparenz in dem bislang eher unübersichtlichen Vermittlermarkt. Und nicht nur die Versicherungsvermittler sind unter Bußgeldbeweh- Verbraucher haben etwas davon! Auch die Versiche- rung verpflichtet, sich in das Vermittlerregister eintragen rungswirtschaft profitiert. Schwarze Schafen haben zu- zu lassen. Außerdem werden die Versicherungsunterneh- künftig in dieser Branche keine Chance – das stärkt das men verpflichtet, nur mit Vermittlern zusammenzuarbei- Ansehen dieses Berufsbildes. Gleichzeitig vereinfachen ten, die in das Register für Versicherungsvermittler wir grenzüberschreitende Vermittlungen und machen da- eingetragen sind. Erlaubnisvoraussetzungen sind Zuver- mit die Versicherungswirtschaft europafest. lässigkeit, Abschluss einer Berufshaftpflichtversiche- rung sowie Sachkundenachweis. Martin Zeil (FDP): Bislang kann sich jeder, der sich Der Sachkundenachweis wird durch eine IHK-Prü- dafür interessiert und sich dies zutraut, in Deutschland fung erbracht, die der bereits seit 1991 von der Branche Versicherungsvermittler bzw. -makler werden. Die EU- etablierten Ausbildung zum Versicherungsfachmann/- Richtlinie über Versicherungsvermittlung zielt darauf ab, frau des Berufsbildungswerks der Deutschen Versiche- dies zu ändern. Sie will dadurch den Verbraucherschutz rungswirtschaft, BWV, entspricht. Dazu haben DIHK stärken und eine Harmonisierung des EU-Vermittler- und BWV bereits einen Rahmenvertrag abgeschlossen. marktes erreichen. So weit, so gut Die Umsetzung der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4223

(A) Richtlinie durch die Bundesregierung bedarf jedoch tieren, der aber qua Gesetz von der Prüfung ausgeschlos- (C) noch einiger Nachbesserungen, sen ist. Im Gesetz heißt es, dass ein erfolgreiches Studium an einer Hochschule oder Berufsakademie einer Im Gesetzentwurf wird als Berufsvoraussetzung eine Sachkundeprüfung gleichkommt, wenn es von der IHK Sachkundeprüfung, der Abschluss einer Berufshaft- anerkannt wird. Praktikabler und daher sinnvoller wäre pflichtversicherung, eine Informations- und Dokumenta- sicherlich eine bundesweit einheitliche Anerkennung al- tionspflicht für Beratungsgespräche sowie die Registrie- ler akademischer Titel mit wirtschaftlichem und juristi- rung der Vermittler in einem zentralen Register schem Hintergrund, weil eine Einzelfallentscheidung je- gefordert. Das ist auf den ersten Blick alles vernünftig der IHK zu einem hohen bürokratischen Aufwand sowie und einsehbar. Sieht man genauer hin, stellen sich aber zu großen regionalen Unterschieden führen würde. einige grundsätzliche Fragen. Warum? Weil wichtige Vorschriften des Gesetzent- Überlegenswert ist auch, ob die Sachkundeprüfung wurfs nur für die ungebundenen Vermittler und Makler statt über IHK bzw. DIHK nicht besser über ein unab- gelten, die gebundenen aber aussparen. Das ist eine fak- hängiges Gütesiegel geregelt werden sollte. Durch diese tische Ungleichbehandlung, die so nicht akzeptabel ist. Art der Selbstverpflichtung, die sich im Immobilienbe- Dies würde den eigentlichen Zweck des Gesetzentwurfs, reich bereits bewährt hat, ist für den Verbraucher klar er- nämlich die Verbesserung des Verbraucherschutzes, kon- sichtlich, ob der Vermittler eine Sachkundeprüfung ab- terkarieren. Es darf nicht sein, dass durch eine gesetzli- solviert, eine Berufshaftpflicht abgeschlossen und im che Regelung, die erklärtermaßen den Verbraucher- Auftrag des Kunden oder im Auftrag eines Versicherers schutz stärken will, gerade diejenigen benachteiligt und als gebundener Vermittler tätig ist. Wichtig erscheint mir in ihrer Marktposition geschwächt werden, die objektiv auch, eine flexible Regelung für die Anerkennung der sind bei der Versicherungsvermittlung, nämlich die teilweise hohen Standards der Sachkundeprüfung, die es Makler und ungebundenen Vermittler. heute schon gibt, zu finden. Wenn der Bundesregierung tatsächlich an einer Systemfremd und daher kritikwürdig ist an dem Ge- durchgreifenden Qualitätsverbesserung gelegen ist, dann setzentwurf die Einbeziehung des Berufs des Versiche- sollte sie die geforderte Mindestqualifikation für alle rungsberaters. Da seine Dienstleistung einzig und allein Versicherungsvermittler verbindlich machen und nicht auf die Beratung und nicht, wie bei einem Vermittler, auf nur für die ungebundenen. Tut sie dies nicht, könnte sich den Abschluss eines Vertrages ausgerichtet ist, hat er in zum Beispiel ein bislang ungebundener Vermittler einer einem Vermittlergesetz nichts zu suchen. Deshalb sollte Ausschließlichkeitsorganisation anschließen, um seine die berufsrechtliche Verankerung des Versicherungsbe- Kunden fortan ohne Sachkundenachweis zu beraten. raters auch künftig im Rechtsberatungsgesetz verblei- (B) Dieses Schlupfloch würde die angestrebte Qualitätssi- ben. (D) cherung ad absurdum führen. Noch ein paar Worte zum Thema Registrierung, die Ohne einheitliche Regeln kommt es darüber hinaus zu zu begrüßen ist, weil sie den Markt vor schwarzen Scha- einer klaren Wettbewerbsverzerrung zulasten derjenigen, fen schützt. Nach den Plänen der Bundesregierung soll für die die Mindestqualität eine Markteintrittsbarriere täglich eine Liste mit gelöschten Registrierungsnum- darstellt. Das aber kann die Bundesregierung nicht wol- mern der Vermittler entstehen. Unverständlicherweise len! Zudem besteht die Gefahr, dass zahlreiche ungebun- soll sie aber ausschließlich Versicherungsunternehmen dene Vermittler und Makler aufgeben müssen. In Groß- zugänglich gemacht werden. Hier wird, wie bei der britannien sind nach der Umsetzung der Richtlinie rund Sachkundeprüfung, ebenfalls mit zweierlei Maß gemes- zwei Drittel aller Vermittler vom Markt verschwunden. sen und Makler sowie nicht gebundene Versicherungs- Eine derartige Ausdünnung des Angebots kann nicht im vertreter deutlich benachteiligt. Genauso wie die Versi- Sinne des Verbrauchers sein! cherer können sie für die Qualität ihrer Vermittler nur dann garantieren, wenn sie Zugang zu den Daten des Re- Unverständlich ist zudem, dass sich die Inhalte der gisters haben. Ich fordere daher die Bundesregierung Sachkundeprüfung nahezu ausschließlich an der Qualifi- nachdrücklich auf, dies durch das Gesetz sicher zu stel- kation des Versicherungsfachmanns des Berufsbildungs- len. werks der Deutschen Versicherungswirtschaft, aber kaum an den Bedürfnissen der Makler orientieren, die ja Auch bezüglich der Haftpflichtversicherung ist der von der Neuregelung besonders betroffen sind und deren Gesetzentwurf nicht stimmig. So soll es gestattet sein, Beratungsansatz zum Teil deutlich von dem der gebun- dass das Versicherungsunternehmen die Haftung für ei- denen Versicherungsvertreter abweicht. nen Vertreter übernimmt. Kommt es tatsächlich zu einer Schadensersatzforderung, wird es für den Kunden aber Warum sich laut Gesetzentwurf die Prüfungskommis- unter Umständen schwierig, den Versicherer anstelle des sion ausschließlich aus Vertretern der Versicherungswirt- einzelnen Vermittlers und dessen Berufshaftpflichtversi- schaft zusammensetzt, bleibt ebenfalls ein Rätsel. Ange- cherung in Regress zu nehmen, zum Beispiel, wenn es messener und gerechter wäre es, sie paritätisch auch mit sich um kleine Versicherer handelt, die sich in wirt- Versicherungsmaklern zu besetzen. schaftlichen Schwierigkeiten befinden. Zudem stellt Ohne eine Veränderung des Gesetzes in diesen beiden diese Regelung eine Wettbewerbsverzerrung dar, weil Punkten kommt es zu der absurden Situation, dass die unabhängige Makler im Gegensatz zu einem Versicherer Inhalte von nicht gebundenen Vermittlern sich am Be- für jeden Vermittler die Prämie zur Berufshaftpflichtver- rufsbild des gebundenen Versicherungsvertreters orien- sicherung aufbringen müssen. Aus diesen Gründen wäre 4224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) es angebracht, die Pflicht zum Abschluss einer Berufs- Es ist symptomatisch für die Politik der Bundesregie- (C) haftpflichtversicherung für jeden einzelnen Vermittler rung, dass sie einerseits oftmals mehr Markt dort fordert verbindlich vorzuschreiben. und fördert, wo es weder im Interesse der gesellschaftli- chen Mehrheit noch ein Gebot gesamtwirtschaftlicher Zum Abschluss möchte ich noch auf das Thema Bera- Vernunft ist, wie in der Bildung, der Daseinsvorsorge tung eingehen. Laut Gesetzentwurf besteht die Möglich- oder im Gesundheitswesen, und andererseits dort, wo die keit, durch Vereinbarung auf die eigentlich vorgeschrie- Schaffung von marktlichen Bedingungen tatsächlich ge- bene Beratung und Dokumentation zu verzichten. In boten wäre, um faire Verhältnisse zu schaffen, konse- diesem Fall muss der Vermittler allerdings den Kunden quent versagt. Aufgrund der hohen Intransparenz des ausdrücklich darauf aufmerksam machen, dass sich ein Marktes und der Informationsasymmetrien zwischen Verzicht nachteilig auf die Möglichkeit auswirken kann, Versicherungsanbietern und -nachfragern bestimmt bis Schadenersatz geltend zu machen. heute vor allem die Höhe der durch die Unternehmen an die Vermittler gezahlte Provision die Beratung und den Die Intention des Gesetzgebers ist es, den Bürokratie- Absatz von Versicherungen. Der tatsächliche Bedarf der aufwand in Grenzen zu halten. Um dies zu erreichen, Kunden oder gar der Vergleich von Qualitäts- und Preis- könnte die vorliegende gesetzliche Regelung noch etwas standards der Versicherungsprodukte spielen nur eine verschlankt werden. Damit der Beratungsverzicht effizi- unmaßgebliche Rolle. Die Verbraucherzentrale schätzt, ent und ohne großen Aufwand erfolgen kann, muss dies dass den rund 200 tatsächlich unabhängigen und auf Ho- auch auf elektronischem Wege und als Bestandteil des norarbasis arbeitenden Versicherungsberatern in Beratungsprotokolls möglich sein. Dass der Verzicht Ge- Deutschland rund eine halbe Million Versicherungsver- genstand einer gesonderten Vereinbarung in einem eige- mittler gegenüberstehen. Deren fachliche Qualifikation nen Dokument sein muss, ist eindeutig überzogen. ist oftmals gering, zumindest aber sehr uneinheitlich. Vor allem aber berät und vermittelt ein großer Teil von Der Regierungsentwurf sieht vor, dass gewisse Ver- ihnen zu Bedingungen, die überwiegend durch die Versi- mittlertätigkeiten aufgrund ihres unbeachtlichen Um- cherungsunternehmen vorgegeben sind. fangs, ihres geringen Risikos sowie der geringen Höhe der Versicherungsprämie, wie zum Beispiel durch Reise- Es geht hier folglich um Geld, um viel Geld. Das kaufleute vermittelte Reiserücktrittsversicherungen, von Geld, das die Verbraucherinnen und Verbraucher auf- der Berufszulassung ausgenommen sind. Nicht entbun- grund der falschen Anreizstruktur für überteuerte oder den sind sie laut Gesetz allerdings von der Pflicht zur unsachgerechte Versicherungsprodukte ausgeben, lan- Beratung und Dokumentation, also den zivilrechtlichen det schließlich in den Kassen der Versicherungskon- Pflichten des Gesetzes. Das ist ebenso unverhältnismä- zerne. So ist es denn auch nicht verwunderlich, wenn (B) ßig wie überflüssig und geht zudem auch klar über die diese Gesetzesvorlage vor allem Beifall vonseiten der (D) Vorgaben der Richtlinie hinaus. Hier besteht im Gesetz- Versicherungswirtschaft und ihrer offensichtlich ein- entwurf Änderungsbedarf. flussreichen Lobby bekommt. Verbraucherschutz ist aber durchaus auch eine Frage der Verlässlichkeit der Da die praktische Umsetzung des Gesetzes nicht Qualifikation derer, die als Makler bzw. als Anlaufstel- übers Knie gebrochen werden kann und viele bereits len für Kunden auf dem Markt agieren. Hier eine ange- jetzt tätige Vermittler noch keine Sachkundeprüfung ab- messene Qualifizierung und vergleichbarer Standards zu gelegt haben und diese nachholen müssen, reicht die im gewährleisten, war eines der Kernziele der zugrunde lie- Entwurf vorgesehene einjährige Übergangsfrist für das genden EU-Richtlinie. Mit dem vorliegenden Gesetzent- In-Kraft-Treten nicht aus und sollte auf zwei Jahre ver- wurf wird dieses Ziel jedoch in keiner Weise eingelöst. längert werden. Insgesamt gesehen zielt der Gesetzent- Die Frage, was als angemessen gilt, wird weder wirklich wurf in die richtige Richtung, enthält aber eine ganze beantwortet, noch werden Regelungen getroffen, durch Menge Punkte, die überarbeitet und verbessert werden die die Unternehmen, die Vermittler einsetzen oder sich sollten. ihrer bedienen, eine der Verantwortung der Berufspraxis gemäße Qualifikation sicherstellen müssen. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Das entscheidende Manko Während für die Ausübung vieler Berufe in Deutsch- des durch die Bundesregierung vorgelegten Gesetzent- land aus guten Gründen eine mindestens dreijährige Aus- wurfs besteht darin, dass im Titel zwar von Neuregelung bildung vorgeschrieben ist, sollen für die verantwortungs- des Versicherungsvermittlerrechts die Rede ist, die Bun- volle und mindestens für die Kunden unter Umständen desregierung offenbar im Wesentlichen aber bemüht ist, folgenreiche Tätigkeit der Versicherungsvermittlung alles beim Alten zu lassen. An den bestehenden klein- 222 Unterrichtsstunden à 45 Minuten ausreichend sein. gliedrigen Vertriebsstrukturen im Versicherungswesen Dies sind netto, auf einen Acht-Stunden-Tag gerechnet, soll im Kern nicht gerührt werden, obgleich diese Struk- knapp 21 Tage, die als ausreichender Qualifizierungszeit- turen sich in verschiedener Hinsicht als ineffizient und raum gelten sollen. In die Hände einer solchen „Fach- unwirtschaftlich darstellen. Sie sind maßgeblich dafür kraft“ würde freiwillig wohl kaum jemand auch nur einen verantwortlich, dass viele Menschen und viele Familien defekten Toaster legen. Die Chance, auf diesem Feld zu erhebliche Schwierigkeiten haben, den für sie passenden verbesserten Bedingungen zu kommen und sachgerechte Versicherungsschutz zu finden und nicht angemessen Anforderungen an Qualifikation und entsprechende öko- versichert sind. Für die betroffenen Verbraucher entste- nomische Anreize zu setzen, wird ebenso vertan wie die hen so Jahr für Jahr Verluste in Milliardenhöhe. Chance zur Stärkung der anbieterunabhängigen Beratung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4225

(A) Hier ist die Marktgläubigkeit der Bundesregierung umgesetzt, die Verbesserung der Verbraucherrechte aber (C) dann offenbar wieder grenzenlos. Stattdessen wäre sie geschoben. jedoch gefordert, erst einmal klare Rahmenbedingungen und Vorgaben zu setzen, damit ein funktionierender Es kann nicht im Sinne der Verbraucherinnen und Markt überhaupt entstehen kann. Da er die mit dieser Verbraucher sein, dass sich die Beratungspflichten nach Gesetzesvorlage nicht bekommt, bleibt also alles beim einem angemessenen Verhältnis zwischen Beratungsauf- Alten, zugunsten und zur Freude einiger weniger großer wand und der vom Kunden zu zahlenden Versicherungs- Versicherungskonzerne, die davon profitieren und zulas- prämie richten. Denn für den Kunden bedeutet das letzt- ten der Privatkunden und Verbraucher. Einmal mehr lich: Je niedriger die Versicherungsprämie, desto werden die Möglichkeiten nicht genutzt, Mindeststan- weniger Beratung! Die Bundesregierung geht hier irr- dards im europäischen Rahmen zum volkswirtschaftli- tümlicherweise davon aus, dass die größeren Risiken in chen Nutzen und zum Wohle der Mehrheit der Men- den höheren Prämien liegen und berücksichtigt das ab- schen nach oben zu korrigieren. gesicherte Risiko nicht. Eine Privathaftpflichtversiche- rung mit einer niedrigen Jahresprämie unter 100 Euro versichert Schäden in Millionenhöhe. Wer hier die fal- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sche Wahl trifft, bleibt unter Umständen auf einem Rie- Mit den vom Bundesministerium für Wirtschaft und senschaden sitzen. Technologie vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der EG-Versicherungsvermittler-Richtlinie Zu viele Bundesbürger sind fehl- bzw. unterversi- hat das Kabinett versucht, die Brüsseler Richtlinie in chert. Deshalb müsste bei einer sinnvollen Beratung zu- deutsches Recht zu gießen. Die Umsetzung war längst nächst der Versicherungsbedarf geklärt und festgehalten überfällig, scheiterte aber stets an den Abstimmungen werden. Anzustreben ist eine individualisierte Risiko- mit den Ländern. analyse des Kunden. Auch diese allgemeine Regel sieht der Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht vor. Und Bisher mussten sich Verbraucherinnen und Verbrau- im Gegensatz zur EU-Vorgabe soll es in Deutschland cher in Deutschland bei dem wichtigen Thema Versiche- möglich sein, ganz auf den Schutzgedanken der Richtli- rungen damit abfinden, dass viele Versicherungsvermitt- nie zu verzichten und die vorgesehenen Auskünfte nicht ler gar nicht ausreichend für eine Beratung qualifiziert zu erteilen. Bei Falschberatungen hat der Kunde so waren; denn der Beruf des Versicherungsvermittlers war nichts in der Hand und wird Schadenersatzansprüche frei zugänglich und verlangte keine Qualifikationsnach- kaum durchsetzen können. weise. Bezüglich der Qualifikationsanforderungen an den Mit dem Gesetzentwurf soll nun der Beruf des Versi- (B) Versicherungsvermittler gibt der Entwurf keine klare (D) cherungsvermittlers neu geregelt werden. Der Gesetz- Definition vor. Er spricht hier lediglich von einer „ange- entwurf sieht unter anderem vor, dass Versicherungsver- messenen“ Qualifikation, wie diese real auszusehen hat, mittler zukünftig angemessene Qualifikationen bleibt aber einer weiteren Rechtsverordnung überlassen. nachweisen müssen, bevor sie den Verbraucherinnen Aus Verbrauchersicht besonders unerfreulich ist die feh- und Verbrauchern Versicherungen empfehlen und ver- lende Erkennbarkeit und Zuverlässigkeit der Qualifika- kaufen. Versicherungsvermittler müssen sich bei der In- tion. Je nachdem, ob der Vermittler angestellt, nebenbe- dustrie- und Handelskammer registrieren lassen und ruflich tätig oder selbstständig ist, werden über eine obligatorische Berufshaftpflichtversicherung unterschiedliche Anforderungen an seinen Sachkunde- verfügen. Außerdem haben sie bestimmte Beratungs-, nachweis gestellt. Die Sachkundeanforderungen sollten Informations- und Dokumentationspflichten gegenüber aber sowohl im Interesse der Vermittler als auch der Ver- ihren Kunden. braucher für jeden gleich sein. Wir halten die Umsetzung der Versicherungsvermitt- Auch die Haftpflichtschutzregelung der Versiche- ler-Richtlinie für dringend geboten, denn das bisherige rungsvermittler ist noch nicht geregeft. Die Versiche- Fehlen von Qualifikationsnachweisen, Beratungspflich- rungsvermittler müssen zwar in Zukunft eine Berufshaft- ten und Berufsausübungsschranken in diesem Berufsfeld pflichtversicherung abschließen, aber auch hier wird die hat dazu geführt, dass es unter den deutschen Versiche- genauere Ausgestaltung auf eine weitere Rechtsverord- rungsvermittlern schwarze Schafe gab, die ihre Versi- nung verschoben. Angesichts der bereits in der Diskus- cherungskunden mangelhaft beraten und ihnen teure und sion befindlichen und abzulehnenden marktüblichen Ri- oft überflüssige Versicherungen verkauft haben. sikoausschlüsse hätte die Bundesregierung hier für Klarheit sorgen müssen. Mit dem vorliegenden Gesetz- Allerdings weist der deutsche Gesetzentwurf erhebli- entwurf bleibt also weiterhin offen, ob eine Haftpflicht- che Mängel auf, die nach wie vor zulasten der Verbrau- versicherung bei vorsätzlicher Falschberatung überhaupt cherinnen und Verbraucher gehen. Im Vergleich zur haftet. Brüsseler Vorgabe schränkt der deutsche Entwurf die Beratungspflicht dem Kunden gegenüber bedauerlicher- Abschließend bleibt zu sagen, dass wir von dem Ge- weise erheblich ein. Wichtige Fragen wie die Sachkun- setzentwurf zur Neuregelung des Versicherungsver- deprüfung, die Haftpflichtversicherung und die Informa- mittlerrechts mehr erwarten: Nämlich, dass er einerseits tionspflichten werden gar nicht ausgeführt, sondern auf die Verbraucherinteressen umfassend berücksichtigt und weitere Rechtsverordnungen vertagt. Insgesamt entsteht andererseits den Versicherungsvermittlern ein einfaches der Eindruck, hier wird eine EU-Richtlinie nur formal und verständliches Regelwerk an die Hand gibt. 4226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Anlage 32 rats- und Sterbebüchern enthalten sind, wird zudem kein (C) Datenverlust eintreten. Zu Protokoll gegebene Reden Auch sind die Beurkundungsmediern seit der Einfüh- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur rung der staatlichen Personenstandsregistrierung unver- Reform des Personenstandsrechts (Personen- ändert geblieben und zwingend vorgeschrieben. Dies standsrechtsreformgesetz – PStRG) (Tagesord- beinhaltet, dass nur bestimmte Papiersorten und Schreib- nungspunkt 37 a) mittel für die Personenstandsbuchführung benutzt wer- den dürfen, damit der vorgegebenen dauernden Aufbe- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Mit dem wahrung und der damit verbundenen Haltbarkeit der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 12. August Personenstandsbücher Rechnung getragen wird. Nach- 2005 „Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Personen- dem die elektronische Datenverarbeitung Einzug in die standsrechts“ soll das geltende Personenstandsgesetz von Standesämter gehalten hat, sind die Arbeiten im Zusam- menhang mit der Beurkundung eines Personenstands- 1937 in der Fassung vom 8. August 1957 grundlegend re- falls so organisiert, dass alle erforderlichen Daten elek- formiert werden. Obwohl das deutsche Personenstands- tronisch erfasst werden und der Datenbestand für den wesen seit der Einführung der staatlichen Personen- Ausdruck des Eintrags, etwaiger Personenstandsurkun- standsbuchführung vor etwa 130 Jahren seinen Zweck den und Folgearbeiten – wie beispielsweise Mitteilungen vollauf erfüllt, wurde nunmehr von unterschiedlicher an Behörden – genutzt wird. Da das geltende Recht ein Seite am geltenden Recht zunehmend Kritik hinsichtlich „drittes Personenstandsbuch“ nicht zulässt, muss der Da- des Beurkundungssystems, der Beurkundungsmedien, tenbestand, der bei weiterer Bereithaltung und Nutzung des Beurkundungsinhalts und der Voraussetzungen für einem solchen „Buch“ gleichkäme, unmittelbar nach der Registerbenutzung geübt. Beurkundung gelöscht werden. Zu Recht wird diesem Gesichtspunkte wie Deregulierung, Verwaltungsver- Verfahren kritisch entgegengehalten, dass vorhandene einfachung und Kostenreduzierung finden in dem Re- Datenbestände unnötig verloren gehen, also nicht ge- formgesetz stärkere Berücksichtigung, ohne dass da- pflegt und weiter genutzt werden können. durch die Personenstandsbuchführung an sich und ihre Beim Beurkundungsinhalt wurde seit längerer Zeit Servicefunktion gegenüber dem Bürger beeinträchtigt bemängelt, dass die Eintragungen nicht auf das für die wird. So sieht der Gesetzentwurf vor, ein sehr kosten- Beurkundung erforderliche Maß reduziert seien. So sind trächtiges Personenstandsbuch, das „Familienbuch“, ab- zum Beispiel Angaben zum Beruf und zur Religionszu- zuschaffen und durch ein erheblich kostengünstigeres gehörigkeit als nicht personenstandsrelevante Angaben Angebot inhaltsgleicher Leistungen, das zudem alle Bür- (B) aus dem Angabenkatalog zu streichen. Der Gesetzent- (D) ger erreicht, zu ersetzen. Die Schwerpunkte des Perso- wurf sieht nunmehr vor, die Beurkundungsdaten auf das nenstandsreformgesetzes sind die Einführung elektroni- für die Dokumentation des Personenstandes unbedingt scher Personenstandsregister anstelle der bisherigen erforderliche Maß zu reduzieren. So wird künftig in al- Personenstandsbücher, die Begrenzung der Fortführung len Registern auf die Angabe des Berufs-, im Heirats- der Personenstandsregister durch das Standesamt und und Geburtenregister auf die Angabe des Wohnortes der die Abgabe der Register an die Archive, die Ersetzung Eheschließenden bzw. der Eltern und im Geburten- und des Familienbuches durch Beurkundungen in den Perso- Sterberegister auf die Angaben zum Anzeigenden ver- nenstandsregistern, die Reduzierung der Beurkundungs- zichtet. daten auf das für die Dokumentation des Personenstan- des erforderliche Maß sowie die Neuordnung der Der Gesetzentwurf sieht ferner vor, anstelle der bishe- Benutzung der Personenstandsbücher. rigen Personenstandsbücher elektronische Personen- standsregister einzuführen. Es wird somit eine Grund- Alleine die Tatsache, dass jährlich etwa 400 000 Ehe- lage für die Einführung der IT-gestützten Beurkundung schließungen einen Berg von Familienbüchern – die von Personenstandsfällen geschaffen und der Verwal- nicht mit den so genannten Stammbüchern der Familie tungsaufwand wird in den deutschen Standesämtern dau- zu verwechseln sind – ansteigen lässt, der auf 20 Millio- erhaft reduziert. Dadurch können Personenstandsurkun- nen geschätzt werden kann, und zudem die fortschrei- den künftig schneller ausgestellt und Register leichter tende Mobilität der Bevölkerung zur Folge hat, dass sich eingesehen werden, auch der Service gegenüber dem ein großer Teil der Familienbücher ständig auf dem Post- Bürger wird verbessert. Die Bürger sollen dadurch, dass weg zu einem anderen, durch Wohnungswechsel zustän- Urkunden nicht mehr nur von dem registerführenden dig gewordenen Standesbeamten befindet, zeigt deut- Standesamt ausgestellt werden können, schneller als bis- lich, dass dieses umständliche und kostenaufwendige her an benötige Personenstandsurkunden gelangen. Verfahren nicht mehr den heutigen Anforderungen ge- recht wird. Mit moderner Technik könnten die Abläufe Besonders begrüße ich, dass die Bundesregierung schneller und kostengünstiger bewerkstelligt werden. zwischenzeitlich die Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzesentwurf beschlossen hat, Die Möglichkeiten der elektronischen Kommunika- der unter anderem noch davon ausging, dass die Zustän- tion gestatten es, dass mit großem Verwaltungsaufwand digkeit für die Begründung und die Beurkundung von geführte Familienbuch abzuschaffen. Durch die Abschaf- eingetragenen Lebenspartnerschaften einheitlich beim fung des Familienbuches, das im Wesentlichen Beurkun- Standesbeamten bzw. beim Standesamt liegen und die dungen enthält, die primär bereits in den Geburten-, Hei- bisher unterschiedlichen landesrechtlichen Zuständig- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4227

(A) keiten entfallen sollen. Diese Regelung wurde zugunsten siert, und grenzüberschreitende Vermittlungen werden (C) der landesrechtlichen Zuständigkeiten zurückgestellt, da vereinfacht. sich die landesrechtlichen Regelungen zum Beispiel in Baden-Württemberg und in Bayern bewährt haben. Vonseiten der Versicherungsvermittler wird die beruf- liche Aufwertung, die mit einer Erlaubnispflicht einher- In Bayern beispielsweise, wo durch das Gesetz zur geht, auch sehr geschätzt. Denn es geht auch darum Ausführung des Lebenspartnerschaftsgesetz die Zustän- „schwarze Schafe“ aus diesem Gewerbe herauszufiltern. digkeit für die Mitwirkung bei der Begründung und die Das dient den Verbrauchern, aber auch den vielen seriö- Beurkundung von Lebenspartnerschaften auf die Notare sen und kompetenten Vermittlern und Beratern in dieser übertragen wurde, unterstreichen rund 1 500 im Lebens- Branche. partnerschaftsbuch registrierte Lebenspartnerschaften Den Vorgaben der Richtlinie entsprechend wird der und die durchweg positive Resonanz der Beteiligten die bislang frei zugängliche Beruf des Versicherungsver- Akzeptanz und die Qualifikation der Notare. Die Kom- mittlers einer Erlaubnis unterworfen. Es ist vorgesehen, petenz der Notare bei der Beratung über Möglichkeiten dass die Industrie- und Handelskammern Erlaubnis- und und Folgen des Rechtsinstituts der Lebenspartnerschaft, Registrierungsstellen für die circa 500 000 einzutragen- insbesondere im Familien- und Erbrecht, werden von den Versicherungsvermittler werden. Damit einher ge- den künftigen Lebenspartnern besonders geschätzt, was hen Vorschriften über die Qualifikation von Vermittlern, sich nicht zuletzt an den Paaren aus anderen Ländern eine Kundengeldsicherung, eine obligatorische Berufs- und auch aus dem Ausland zeigt, die die Begründung ih- haftpflichtversicherung sowie Beratungs-, Informations- rer Partnerschaft vor einem bayerischen Notar wün- und Dokumentationspflichten gegenüber dem Kunden. schen. Viele Paare schätzen überdies die Diskretion der Nach der Richtlinie waren auch die bisher im Rechtsbe- Notarlösung. ratungsgesetz geregelten Versicherungsberater in das Hinsichtlich der Kosten wird nach überschlägiger Be- neu geschaffene System für Versicherungsvermittler zu rechnung die Einführung der Informationstechnik nach integrieren. Das heißt, Versicherungsberater müssen sich Abschluss der Umstellungsphase zu jährlichen Mehraus- ebenfalls registrieren lassen und bedürfen nun einer Er- gaben von rund 14 Millionen Euro führen. Dem stehen laubnis der IHK, wobei die Anforderungen denen für Einsparungen von ca. 18 Millionen Euro gegenüber, so- Versicherungsvermittler entsprechen. Auch die für Ver- dass sich per Saldo ein jährliches Einsparvolumen von sicherungsmakler geltenden Berufsausübungsvorschrif- rund 4 Millionen Euro ergibt. Bei den Standesämtern ist ten, insbesondere die Beratungs-, Dokumentations- und langfristig mit einem jährlichen Einsparvolumen von Informationspflichten, gelten entsprechend für Versiche- rund 46 Millionen Euro zu rechnen. rungsberater. Bislang unterliegt die Versicherungsver- (B) mittlung keinerlei Berufszugangsbeschränkungen. Er ist (D) Das Personenstandsreformgesetz ist somit eine längst nur zur Anzeige seiner Tätigkeit gemäß § 14 Gewerbe- überfällige Maßnahme und ein weiterer wichtiger Schritt ordnung verpflichtet. auf dem Weg zum Bürokratieabbau und zum modernen Wichtig ist uns bei der Umsetzung der Richtlinie vor Staat. allem, dass das Gesetz zur Neuregelung des Versiche- rungsvermittlerrechts und die Verordnung über die Ver- Christian Lange (Backnang) (SPD): Das vorgelegte sicherungsvermittlung den zwangsläufig entstehenden Gesetz dient der Umsetzung der Richtlinie 2002/92/EG bürokratischen Aufwand auf ein Minimalmaß be- des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. De- schränkt und dabei das Gleichgewicht zwischen den Ver- zember 2002 über Versicherungsvermittlung. Die Richt- braucherschutzzielen und den Interessen der Wirtschaft linie, die den Verbraucherschutz und die Harmonisie- wahrt. Ich bin zuversichtlich, dass dies gelungen ist. rung des Vermittlermarktes zum Ziel hat, hätte von Deutschland bis 15. Januar 2005 in nationales Recht um- Die Regelungen im Einzelnen. Grundsätzlich bedür- gesetzt werden müssen, sodass nun Eile geboten ist. Zu fen alle Versicherungsvermittler nach dem neuen § 34 d der Verzögerung kam es vor allem durch den anhalten- der Gewerbeordnung, GewO, einer Erlaubnis der IHK den Widerstand der Länder gegen das vorgeschlagene und müssen sich dort registrieren lassen. Sie sind auch Konzept zur Umsetzung der Richtlinie. Inzwischen zei- für den Widerruf und die Rücknahme der Genehmigung gen sich aber auch die Länder bereit, das vorgestellte zuständig. Die IHKs bedienen sich für die Registerfüh- Grundkonzept zu akzeptieren, sodass wir nun doch zu rung des DIHK als gemeinsamer Stelle. einer hoffentlich zügigen Verabschiedung der Neurege- Versicherungsvermittler sind unter Bußgeldbeweh- lung kommen werden. rung verpflichtet, sich in das Vermittlerregister eintragen zu lassen. Außerdem werden die Versicherungsunterneh- Denn es geht nicht nur darum, der Pflicht zur Umset- men verpflichtet, nur mit Vermittlern zusammenzuarbei- zung der EU-Richtlinie zu genügen, sondern es geht um ten, die in das Register für Versicherungsvermittler Verbraucherschutz – die Verbraucher sollen durch die eingetragen sind. Erlaubnisvoraussetzungen sind Zuver- Registrierungspflicht und die Normierung der Informa- lässigkeit, Abschluss einer Berufshaftpflichtversiche- tions- und Dokumentationspflichten des Vermittlers ge- rung sowie Sachkundenachweis. schützt werden – und darum, die deutschen Versiche- rungsvermittler fit zu machen gegen die europäische Der Sachkundenachweis wird durch eine IHK-Prü- Konkurrenz. Die Tätigkeit des Versicherungsvermittlers fung erbracht, die der bereits seit 1991 von der Branche in einem zusammenwachsenden Europa wird harmoni- etablierten Ausbildung zum Versicherungsfachmann/- 4228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) frau des Berufsbildungswerks der Deutschen Versiche- hörden um eine Stellungnahme zu einem Vorentwurf. (C) rungswirtschaft, BWV, entspricht. Dazu haben DIHK Leider wurde das Vorhaben nach dem Regierungswech- und BWV bereits einen Rahmenvertrag abgeschlossen. sel 1998 erst einmal auf Eis gelegt. Seit vorgestern wis- Gleichwertige staatliche Abschlüsse werden anerkannt. sen wir nun, dass wir über einen Gesetzentwurf von über Versicherungsvermittler, die schon seit dem 31. August 250 Seiten Umfang in der Nacht von Donnerstag auf 2000 tätig waren, genießen Bestandsschutz. Jeder Ver- Freitag debattieren dürfen. mittler hat dafür zu sorgen, dass auch seine angestellten Leider zeigt diese kurzfristige Terminierung der ers- Vermittler angemessen qualifiziert und zuverlässig sind. ten Lesung in der Nacht nur allzu deutlich, dass die Die circa 400 000 Vermittler, die ausschließlich an große Koalition der Reform entweder keine große Be- ein Versicherungsunternehmen gebunden sind – so ge- deutung zumisst oder aber an einer breiten Diskussion nannte Ausschließlichkeitsvertreter –, können von der nicht interessiert ist. Darüber hinaus ist es auch eine Erlaubnis befreit werden, wenn sie über eine uneinge- Missachtung der parlamentarischen Gepflogenheiten, schränkte Haftungsübernahme des Versicherers verfü- ein so umfangreiches Gesetz mit einer derart umfassen- gen. Die Verantwortung für die Zuverlässigkeit und die den Reform im Personenstandswesen erst zwei Tage vor Qualifikation übernimmt dann der jeweilige Versicherer. der Sitzung auf die Tagesordnung des Parlaments setzen Für produktakzessorische Vermittler, wie zum Beispiel zu lassen. Autohändler, ist ein vereinfachtes Zulassungsverfahren Selbst bei Hausdurchsuchungen und Vollstreckungs- vorgesehen. handlungen wird dem Betroffenen eine Nachtzeit zuge- Grundsätzlich muss ein Makler als Sachwalter des billigt, in der keine Handlungen ohne weiteres vorge- Kunden seinen Rat auf eine hinreichende Zahl von auf nommen werden dürfen. Dagegen soll der Deutschen dem Markt angebotenen Versicherungsverträgen und Bundestag zur Nachtzeit und damit letztlich zur Unzeit Versicherern stützen, die er im Wege einer objektiv aus- wichtige Reformgesetze auf den Weg bringen. Wie passt gewogenen Marktuntersuchung zu ermitteln hat. Ver- das zusammen? Jedenfalls dürfte die Änderung vorkon- tragsspezifische anlassbezogene Beratungs-, Informa- stitutionellen Rechts über Nacht – das Gesetz stammt im tions- und Dokumentationspflichten sowie die Haftung Kern aus dem Jahre 1937 – ein Novum in der Geschichte für eine Falschberatung werden normiert. Alle Vermitt- des deutschen Parlamentarismus sein. Frei nach dem ler, die nicht auf dieser Grundlage beraten, haben dem Motto: Nachts werden die Faulen fleißig. Kunden die Namen der ihrem Rat zugrunde gelegten Die Reform des Personenstandsrechts hätte wesent- Versicherer anzugeben. lich mehr Aufmerksamkeit verdient. Denn mit dem vor- Der Vermittler muss dem Kunden noch vor Beginn liegenden Gesetzentwurfsoll das Personenstandswesen (B) des Beratungsgespräches mitteilen, ob er als Versiche- nach über 50 Jahren bzw., bezogen auf den Zeitpunkt der (D) rungsmakler, als Versicherungsvertreter oder Versiche- ersten Verkündung, nach fast 70 Jahren grundlegend rungsberater tätig ist. Durch Normierung dieser statusbe- überarbeitet werden. Die FDP-Bundestagsfraktion be- zogenen Informationspflichten in der Verordnung über grüßt grundsätzlich eine Vereinfachung und Modernisie- die Versicherungsvermittlung soll dem Kunden schon rung des Personenstandsrechts. Die technischen Mög- vor Beginn der Beratung größtmögliche Transparenz er- lichkeiten haben sich grundlegend verändert und die möglicht werden. Grundsätzlich müssen Versicherungs- Anforderungen an die Aufbewahrung wichtiger Doku- vermittler, die Zahlungen der Kunden annehmen, ohne mente unterliegen anderen Maßstäben. Allerdings ist dazu bevollmächtigt zu sein, in Anlehnung an die Mak- fraglich, ob durch den vorliegenden Gesetzentwurf eine ler- und Bauträgerverordnung eine Sicherheit stellen. grundsätzliche Modernisierung geschaffen werden kann. Die Versicherungswirtschaft wird als Beschwerde- und Der Einzug der elektronischen Datenverarbeitung im Schlichtungsstelle privatrechtlich organisierte Ombuds- Personenstandswesen hat bereits heute die Arbeiten im leute schaffen, was ich sehr begrüße. Zusammenhang mit der Beurkundung eines Personen- Ich bin zuversichtlich, dass die notwendige Umset- standsfalls deutlich verändert. Für den weiterer Einsatz zung der europäischen Vermittler-Richtlinie in deutsches und den Ausbau dieser Technik muss aber gelten: Der Recht mit geringstmöglichen bürokratischen Aufwand Einsatz von technischen Systemen muss transparent und gelungen ist. Der Verbraucherschutz wird gestärkt, Ver- unter Wahrung des Selbstbestimmungsrechts der Betrof- braucher erhalten mehr Transparenz in dem bislang eher fenen erfolgen. Gerade das Recht auf informationelle unübersichtlichen Vermittlermarkt. Und nicht nur die Selbstbestimmung darf nicht durch technisch schnellere Verbraucher haben etwas davon! Auch die Versiche- und vereinfachte Verfahren unverhältnismäßig einge- rungswirtschaft profitiert. Schwarze Schafen haben zu- schränkt werden. Maßstab für die Liberalen ist es des- künftig in dieser Branche keine Chance – das stärkt das halb, Vereinfachungen und Verbesserungen für die Be- Ansehen dieses Berufsbildes. Gleichzeitig vereinfachen hörden und den Bürger zu schaffen, die sich an den wir grenzüberschreitende Vermittlungen und machen da- Bürgerrechten orientieren und nicht umgekehrt. mit die Versicherungswirtschaft europafest. Der vorliegende Gesetzentwurf geht davon aus, dass die personenstandsrechtlichen Grundbeurkunden wie Gisela Piltz (FDP): Die Reform des Personenstands- Geburt, Eheschließungen und Tod sowie die damit zu- rechts ist ein Vorhaben, das schon seit langem in Angriff sammenhängenden öffentlichen Beurkundungen und genommen werden sollte. Bereits im Jahre 1996 bat das Beglaubigungen von einer Behörde befasst werden sol- Bundesministerium des Innern die obersten Landesbe- len. Es muss aber auch sichergestellt werden, dass sen- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4229

(A) sible Personendaten nicht an andere Behörden ohne wei- torischen und finanziellen Aufwand bedeuten. In dem (C) teres weitergegeben werden dürfen. Mit der Erweiterung Gesetzentwurf sind diesbezüglich Angaben zu der Höhe im Rahmen des Personenstandsregisters um das Gebur- der Kosten gemacht worden. Nach mehreren Jahren sol- tenregister sollen die technischen Voraussetzungen dafür len diese Kosten allerdings durch den Umbau des Sys- geschaffen werden, dass später einmal persönliche Iden- tems eingespart werden können. Die dargelegten Be- tifikationsmerkmale an Neugeborene vergeben und ge- rechnungen bleiben aber das Geheimnis der Verfasser. speichert werden können. Die FDP hat immer deutlich Das kritisieren die Kommunalvertreter und dieser Kritik gemacht, dass sie dies ablehnt. schließen wir uns an. Eine Berechung, die wir als Parla- mentarier nicht nachvollziehen können ist nichts wert Am Schalter einer Behörde ist die Sicherheit persönli- und meistens wird es hinterher doch teurer. Alleine die cher Informationen für den Bürger schnell feststellbar. elektronische Führung der Personenstandsregister und Durch einen Blick nach rechts und links ist einfach er- Personenstandszweitregister führt zu einem Kostenauf- kennbar, ob eine unberechtigte Person etwas hören oder wand für die Einrichtung, Pflege und Sicherung der Re- sehen kann. Bei der Kommunikation über das Internet ist gister, der die kommunalen Haushalte in jedem Fall sehr das nicht so. Gerade beim Umgang mit sensiblen Daten stark belasten wird. Nach Expertenschätzungen sind die ist daher der umfassende Schutz, beispielsweise durch angegebenen Einsparungen in den kommenden 20 bis bestimmte Verschlüsselungstechniken, das A und O. 25 Jahren nicht zu erwarten. Politik sollte zwar in län- Hier sehe ich im vorliegenden Gesetzentwurf nur den gerfristigen Zeiträumen denken, aber ob das in diesem Hinweis, dass mit einer „dauerhaften überprüfbaren qua- konkreten Fall der Kommunen hilft, wage ich zu be- lifizierten elektronischen Signatur“ die Beurkundung zweifeln. beispielsweise gesichert werden soll. Deshalb ist für mich nicht einsichtig, warum Einzelheiten über den Ein- Die FDP-Bundestagsfraktion wird die Debatte über satz und die Beschaffenheit der elektronischen Verfahren die Reform des Personenstandswesens kritisch in den zur Führung der Personenstandsregister in einer Rechts- Ausschüssen und im Plenum des Deutschen Bundesta- verordnung am Parlament vorbei geregelt werden sollen. ges begleiten und ich hoffe, dass das weitere parlamenta- Darüber hinaus möchte ich die Frage stellen, ob durch rische Verfahren so nicht weitergeführt wird, wie es ge- die Ermächtigungsgrundlage an die Landesregierungen, rade begonnen hat. ein zentrales elektronisches Personenstandsregister und dessen Führung einzurichten, nicht die Gefahr besteht, Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Linke im Bundestag dass diese sensiblen Daten schneller und einfacher miss- begrüßt die Reform des derzeit geltenden Personen- braucht werden können. Auch bei der dezentralen Ein- standsgesetzes. Auch die – wenigstens angedeutete – all- (B) richtung eines elektronischen Personenstandsregisters gemeine Richtung der Reform – weg von einer Vor- (D) können Daten in kürzester Zeit verschlüsselt übermittelt schrift für bürokratische Datensammelwut hin zu einem werden, ohne dass ein Direktzugriff anderer Behörden bürgernahen und bürgerfreundlichen Gesetz – ist positiv erforderlich ist. Bei einem zentralen Register ist auch der zu bewerten. Leider folgt das Gesetz in der konkreten Druck zur Einrichtung automatisierter Abrufverfahren Ausgestaltung aber einer geradezu zur Mode geworde- wesentlich größer als bei dezentralen Registern mit ei- nen Tendenz, das Recht auf informationelle Selbstbe- nem entsprechend geringerem Datenbestand. Wir Libe- stimmung in ganz kleinen Münzen auszuzahlen. Zum rale lehnen zentrale Auskunfteien ab. Auch die Diskus- Beispiel werden das problematische Melderechtsrah- sion um den elektronischen Pass hat deutlich gemacht, mengesetz und das Justizmitteilungsgesetz zum Maßstab dass viele Fachleute ein zentrales Erfassen von Daten für zwischenbehördliche Datenübermittlung genom- nicht wollen. Deshalb ist die Einführung eines zentralen men. Abzulehnen ist das Gesetz also, weil es unter dem Personenstandregisters durch die Hintertür für uns nicht Strich den gläsernen Bürger zur Folge hat. Es eröffnet hinnehmbar. die Möglichkeit der unkontrollierten Datenübermittlung Auch die Frage der einheitlichen Zuständigkeit der zwischen den Behörden. Standesämter bei den Lebenspartnerschaften ist ein wei- Das bisherige Regelungswerk ist angefüllt mit Vor- terer wichtiger Bereich, den die Bundesregierung offen- schriften und Regelungen, die der heutigen Zeit und den bar jetzt wieder kippen will. Die Bundesjustizministerin heutigen Gegebenheiten schlicht und ergreifend nicht hat auf dem Verbandstag des Lesben- und Schwulenver- mehr gerecht werden. Ich möchte das an einigen Bei- bandes in diesem Jahr noch angekündigt, die Vereinheit- lichung beibehalten zu wollen. Allerdings ist in der spielen zeigen: Zum einen gibt es die Konstruktion des Gegenäußerung der Bundesregierung von dieser Verein- Familienbuches. Der Öffentlichkeit ist das weitgehend heitlichung nichts mehr zu lesen. Vielmehr soll einer unbekannt. Nachfragen nach Urkunden aus diesem Fa- Länderöffnungsklausel zugestimmt werden, die diesem milienbuch sind selten. Dennoch führt gerade dieses widerspricht. Damit zeigt sich, dass es offenbar über- Buch zu einem enormen Arbeitsaufwand in deutschen haupt keine grundlegende Abstimmung gegeben hat. Die Standesämtern denn, das Familienbuch ist ein „wandern- FDP-Bundestagsfraktion hat eine Vereinheitlichung des“ Buch. Das bedeutet, dass es bei einem Wohnort- mehrfach angemahnt und wird dieses auch im weiteren wechsel an den neuen, zuständigen Standesbeamten wei- Gesetzgebungsverfahren tun. tergeleitet werden muss. Deshalb müssen, auch aufgrund der zunehmenden Mobilität der Bevölkerung, ständig Die Neuordnung des Personenstandswesens wird für neue Verschickungen erfolgen. Eine Abschaffung dieses die Standesämter der Kommunen einen großen organisa- aufwendigen Buches wäre wünschenswert. 4230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006

(A) Ein weiters Beispiel ist der Zwang, die Beurkundung stimmung sein. Dazu gehören die Regelung von Aus- (C) auf Papier durchzuführen. Gleichzeitig darf nach gelten- kunftspflichten, Einwilligungsregeln, Widerspruchs- dem Recht kein „drittes Personenstandsbuch“ geführt rechte und ein Antragsrecht auf Löschung. Solche werden. Wenn bei der Bearbeitung eines Personen- einschlägigen datenschutzrechtlichen Forderungen se- standsfalls nun alle Daten elektronisch erfasst werden, hen wir nicht eingelöst. Das Gesetz lehnen wir deshalb so müssen diese nach Beendigung der Bearbeitung wie- ab. der gelöscht werden, da eine Aufbewahrung einem drit- ten Buche entspräche. Das ist einfach nicht mehr zeitge- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE mäß. Eine ganze Reihe von Angaben in den GRÜNEN): Warum heute zur Geisterstunde dieser Ge- Personenstandsbüchern ist schlicht und ergreifend nicht setzentwurf von der Großen Koalition eingebracht wird, personenstandsbezogen, wie etwa Angaben über Beruf erschließt sich mir aufgrund des Vorlaufes nicht. Es geht und Religionszugehörigkeit. Sie haben deshalb darin hier um die grundlegende Reform des aus dem Jahre auch nichts zu suchen. Änderungen in diesen Punkten 1937 stammenden Personenstandsgesetzes in der Fas- könnten wir durchaus zustimmen. Die Umstellung der sung vom 8. August 1957. Seit 2003 verhandelt eine Personenstandsregister vom papierenen auf das elektro- Bund/Länder-Arbeitsgruppe über die Reform des Perso- nische Medium ist ein sinnvoller Ansatz. Positive Erfah- nenstandsrechts. Der bereits von der rot-grünen Bundes- rungen in benachbarten Staaten zeigen das. Auch die regierung in den Bundesrat eingebrachte Gesetzentwurf Minimierung des Registrierungsaufwandes durch Erset- wurde über Monate beraten; an die 50 Änderungsanträge zung des heutigen papiernen Zweitregisters durch ein kamen aus den Ländern. elektronisches, nur zu Sicherungszwecken extra aufzu- bewahrendes, unterstreicht diesen Weg. Das Gesetzgebungsverfahren finde ich außerordent- lich interessant. Als Gesetzestext wird hier offensichtlich Der künftige Verzicht auf das wenig genutzte Fami- die rot-grüne Fassung eingebracht. Als Anlage erhalten lienbuch reduziert den Arbeitsaufwand genauso wie die wir die Änderungswünsche des Bundesrates und die vorgesehene Beurkundungsmöglichkeit bei im Ausland Stellungnahme der jetzigen Bundesregierung, die in ei- geschlossenen Ehen und die Beurkundung von Sterbe- nem entscheidenden Punkt das Gegenteil von dem for- fällen im Ausland. Die Reduzierung der Personen- dert, was vernünftigerweise im Gesetz steht. standsurkunden um solche, die in Deutschland kaum notwendig sind, keinen Nutzen bringen und im Ausland Der eingebrachte Entwurf eines Gesetzes der Bundes- zum größten Teil unbekannt sind, wird von uns ebenfalls regierung zur Reform des Personenstandsrechts sieht für positiv gesehen. eingetragene Lebenspartnerschaften bundeseinheitlich das Standesamt als zuständige Behörde vor. Das begrü- Die wissenschaftsfreundliche Regelung eines erleich- (B) ßen wir; das ist eine sachgerechte und vernünftige Lö- (D) terten Zugangs zu nicht mehr geführten Personenstands- sung. Eine einheitliche Behördenzuständigkeit schafft registern ist zu begrüßen, sofern grundsätzliche daten- Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. In der Stellung- schutzrechtliche Vorschriften und Verfahrensweisen und nahme der Bundesregierung zu den Änderungswünschen die Rechte der Betroffenen eingehalten, angewendet und des Bundesrates stimmt die große Koalition einer Län- geschützt werden. deröffnungsklausel zu. Das ist Unsinn. Damit würde die Die Erweiterung der Möglichkeit zur elektronischen Zersplitterung der Zuständigkeit für die eingetragene Le- Kommunikation zwischen Bürgerinnen und Bürgern ei- benspartnerschaft weiter zementiert. nerseits, Behörden und Gerichten andererseits ist eben- Fünf Jahre nach In-Kraft-Treten des Lebenspartner- falls ein Fortschritt, wenn technische und rechtliche Si- schaftsgesetzes ist es Zeit, endlich zu einer Vereinheitli- cherungen vor unerlaubtem Zugriff gewährleistet chung zu kommen. Von der Standesamtslösung abwei- werden. Auf die Sicherheit der Übermittlung derartiger chende Länderregelungen werden von den Betroffenen sensibler Daten ist allerdings fortlaufend zu achten. Da zu Recht als Diskriminierung empfunden. Der Hinter- es sich hier um sehr sensible Informationen handelt, ist grund ist klar: Ihnen soll signalisiert werden, dass ihre ein hoher Schutz gegen unbefugten Eingriff ständig zu Beziehung weniger wert ist als eine Ehe. Eine solche gewährleisten und dieser regelmäßig zu überprüfen. Haltung ist einer weltoffenen Gesellschaft nicht würdig. Die Datenübermittlung zwischen Behörden auf der Die Zersplitterung hat sich, wie abzusehen war, auch Grundlage einer schlichten Ermächtigungsformel wie verwaltungstechnisch nicht bewährt. Es gibt keine zu- „soweit es zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendig“ zu- verlässige Dokumentation der Lebenspartnerschaften in zulassen, wird dem Recht auf informationelle Selbstbe- den Personenstandsregistern. Zuständigkeitsregelungen stimmung nicht gerecht. Im Zusammenhang mit der Vor- sind nicht aufeinander abgestimmt. Menschen, die sich bereitung auf eine neue Volkszählung wird schon eintragen lassen wollen, treffen mitunter auf Kommunal- diskutiert, wie durch „Ertüchtigung“ der bei Behörden beamte, die im Personenstandsrecht alles andere als vorhandenen Registerdaten die schon existierende ein- sachkundig sind. Nur weil einige Länderregierungen heitliche Steuernummer erneut zu einer Personenkenn- weiter ideologische Vorbehalte gegen gleichgeschlecht- nummer ausgebaut werden könnte. Eine solche Perso- liche Paare haben, soll verwaltungstechnischer Wirrwarr nenkennziffer hatte das Bundesverfassungsgericht in fortgeschrieben werden. Dem viel beschworenen Büro- seinem Urteil zur Volkszählung eindeutig verboten. kratieabbau läuft das diametral entgegen. Zusammenfassend: Maßstab für alle Gesetze müssen Die große Koalition veranstaltet hier ein nächtliches die Standards des Rechts auf informationelle Selbstbe- Gesetzesmarathon. Zwischen 20 Uhr und 3 Uhr sollen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 29. Juni 2006 4231

(A) nach ihrem Zeitplan zwölf Regierungsgesetze vom Bun- sierung und des Bürokratieabbaus diametral entgegen. (C) destag behandelt werden. Offensichtlich scheuen Sie mit Es kann doch nicht ernsthaft am Ende des Gesetzesver- Ihrer widersprüchlichen Politik das Tageslicht. Wenn die fahrens ein elektronisches Personenstandsregister für die Ziele der Gesetze im Dunkeln bleiben, kann man sie ja Ehe geben und einen Rückfall in das Wirrwarr der auch im Dunkeln beraten. Kleinstaaterei für die eingetragene Lebenspartnerschaft. Ich fordere die Regierungsfraktionen auf, dem vorlie- Das Parlament ist der Gesetzgeber und ich habe die genden Gesetzentwurf zuzustimmen und nicht dem An- Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Schmerz- sinnen der Bundesregierung zu folgen, die Länderöff- grenze der Regierungsfraktionen gegenüber dem Murks nungsklausel im Nachhinein durch Änderungsanträge der Bundesregierung irgendwann erreicht ist. In diesem aufzunehmen. Dies wäre eine unsinnige Verschlechte- Sinne wünsche ich uns eine vernunftgeleitete Debatte in rung des Gesetzes und stünde den Zielen der Moderni- den Fachausschüssen.

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