Heft 176 (Juni 2005)

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Heft 176 (Juni 2005) UTOPIE 184-D_a 18.01.2006 14:40 Uhr Seite 1 Monatliche Publikation, herausgegeben von der 184 . Februar 2006 Rosa-Luxemburg-Stiftung VorSatz 99 Essay MARCUS HAWEL Negative Kritik und bestimmte Negation Zur praktischen Seite der kritischen Theorie 101 Debatte Grundsicherung SASCHA LIEBERMANN Freiheit ist eine Herausforderung, kein Schlaraffenland 110 Verfolgte Linke SIEGFRIED PROKOP Ernst Bloch und Wolfgang Harich im Jahre 1956 121 WOLFGANG HARTMANN Der »Fall Noel Field« Zum gleichnamigen Buch von Bernd-Rainer Barth 125 GERHARD WAGNER Zwischen Mondschein und Gaslicht Heine in der ästhetischen Kultur des Industriezeitalters 137 Lateinamerika heute RAINA ZIMMERING Frauenmorde und keine Aufklärung – die Frauen von Juárez 149 ERNESTO KROCH Ein großes Experiment. In Uruguay regiert die Linke 162 Europa heute JANE ANGERJÄRV Geschlechtsbezogene Diskriminierung von Frauen in Estland 168 UTOPIE 184-D_a 18.01.2006 14:40 Uhr Seite 2 SASCHA WAGENER Die Marxsche Verfassungskritik 176 Festplatte WOLFGANG SABATH Die Wochen im Rückstau 180 Bücher & Zeitschriften Thomas Bach (Hrsg.): Schelling in Rußland. Die frühen naturphilosophischen Schriften von Daniil Michajlovic Vellanskij (1774-1847) (REINHARD MOCEK) 182 Anne Applebaum: Der Gulag (BERT GROSSE) 183 Robert Foltin: Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich (BERND HÜTTNER) 185 Dieter Kelp, Jürgen Widera: Rheinhausen ist überall. Kirche als Anwalt der kleinen Leute (JURI HÄLKER) 185 Klaus Müller: Mikroökonomie – kritisch und praxisnah, mit Aufgaben, Klausuren und Lösungen (ULRICH BUSCH) 186 Jürgen Meier: »Eiszeit« in Deutschland (JÖRN SCHÜTRUMPF) 188 Summaries 190 An unsere Autorinnen und Autoren Impressum 192 UTOPIE 184-D_a 18.01.2006 14:40 Uhr Seite 99 VorSatz Nachdem sich die neue Bundesregierung in einen brandenburgi- schen Ort namens Genshagen zurückgezogen hatte, um mit sich und ihren Ideen in Klausur zu gehen, bestand nach Verkündung der Er- gebnisse die Gewissheit, dass sich auch unter Schwarz-Rot wenig am politischen Voluntarismus der jüngst zurückliegenden Jahre än- dern wird. Denn wer verkündet, Elterngeldbeträge bis zu 67 % des letztbezogenen Nettolohnes, höchstens jedoch bis zu 1 800 Euro (!) zahlen zu wollen, der muss in dem Glauben leben, in diesem Land sprössen die wohldotierten Jobs aus dem guten deutschen Boden oder wüchsen an den starken deutschen Eichen. Da mutet zumindest die Debatte um Kombilöhne und Mindestlohntarife nicht zynisch an. Wobei ich mir die Unterstellung von Ehrlichkeit in Richtung staats- tragender Politik lieber erspare. Und noch eine Gewissheit ist ge- wonnen: Schwarz-Rot in Deutschland ist leider kein anarchistisches Projekt. Auch im Jahr 2006 geht es – der Gewissheiten kein Ende – um »Weichenstellungen für die Zukunft«, »Reformen, die den Sozialstaat für alle leistungsfähig erhalten sollen«, »Schaffung von Investitions- anreizen« etc. Man mag es kaum glauben, da man es besser zu wis- sen meint. Und bevor der Leser resigniert die Zeitung zuschlägt und bestenfalls zum Anfeuern seines aufgrund permanent steigender Gaspreise wieder in Betrieb genommenen Ofens benutzt, sollte man – der kleine Werbeblock in eigener Sache – lieber von vornherein diese Zeitschrift zur Hand nehmen und sich mit der kritischen Refle- xion utopischer Potentiale in der Politik (Hawel) auseinandersetzen, das kritische Potential linker Politik in Uruguay (Kroch) reflektieren oder der fortgesetzten Debatte um die »linke Utopie« einer allge- meinen sozialen Grundsicherung (Liebermann) nachspüren. Oder man folgt Heinrich Heines politischer Fährte (Wagner), gelangt zu Noel Field (Hartmannn) und von dort zu Ernst Bloch und Wolfgang Harich im Jahre 1956 (Prokop). Oder, oder, oder… Apropos 1956. Vor 50 Jahren, in der alten Siegerrepublik wirt- schaftswunderte man fleißig vor sich hin, in der »Zone« waltete noch das Prinzip Hoffnung und ein Kollege vom »Neuen Deutschland« schrieb parteilinienverkehrt, da sprach man (beiderseits) ebenfalls von Lohnerhöhungen, vom Ausbau des Sozialstaats, von in die Zu- kunft weisenden Investitionen. Und irgendwie beschleicht mich der Verdacht, dass Konrad Adenauer und Walter Ulbricht ihren politi- schen Zielen näher waren als Angela Merkel und ihre Wasserträger von der SPD heutzutage. Womit ich wieder bei Genshagen wäre. UTOPIE 184-D_a 18.01.2006 14:40 Uhr Seite 100 Im Gegensatz zu aktueller Politik können Utopien wirklich in die Zu- kunft weisen. Ihre negativen Varianten, die Dystopien, warnen hin- gegen und enthüllen häufig in ihrer Wirkung fatale Tendenzen und Trends aktueller politischer Entwicklungen. Nun erinnert Gensha- gen 2006 nur schwerlich an das Orwellsche 1984. Jedoch verweist der Sprachgebrauch moderner Politik zunehmend in die Vergangen- heit, nämlich direkt in Richtung des Orwellschen 1984. Was Rot- Grün mit sprachlichen Verzerrungen wie den »Sozialreformen« oder den »humanitären Interventionen zum Schutz der Rechte der Frauen in Afghanistan« begann, wird Schwarz-Rot nahtlos fortsetzen und noch verstärken. So tun sich die Minister der konservativ-christli- chen Parteien bereits hervor, indem z. B. der neue Innenminister Wolfgang Schäuble den Einsatz der Bundeswehr während der Fuß- ballweltmeisterschaft zum Schutz der Bevölkerung vor terroristi- schen Angriffen fordert. Und bald marschiert die Truppe dann gegen friedliche Demonstranten, was von Schäuble voraussichtlich als Maßnahme zur Wiederherstellung der freiheitlich demokratischen Grundordnung bezeichnet werden wird. Horst Seehofer, seines Zei- chens Nachfolger der Grünen Renate Künast im Agrar- und Ver- braucherschutzministerium – von den Mainstreammedien ganz of- fensichtlich häufig zu Unrecht als der vermeintlich linke Rand der Christsozialen dargestellt; ein schickes Image, alle Achtung –, for- dert die Gleichberechtigung der Landwirte und ihrer Produktions- weisen. Ob chemo oder öko ist dem Verbraucher, dem kaum ein Cent in seinem Portemonnaie bleibt, doch egal, denkt der Herr Minister sicherlich. Nachhaltigkeit scheint lediglich noch ein Terminus bei der Billig-Versorgung der Bevölkerung mit pharmazeutisch präpa- riertem, pardon: verseuchtem Fleisch zu sein. Und Michael Glos, der politische Chefökonom von Merkels Gnaden, wird sein Süpp- chen mit der Atomindustrie schon zu kochen wissen. Man darf ge- spannt sein, wie der Vizekanzler Franz Müntefering und sein Trupp darauf reagieren. Müntefering bewies seine strategischen Fähigkei- ten zur Genüge, als er die Neuwahlen ausrief. Das Ergebnis ist bekannt. Schröder ist seinen Job als Kanzler los und baut bald Pipelines, »uns Münte« verlor seinen als Parteivorsitzender, »den schönsten Job neben dem Papstberuf« und vermerkelt die Genossen, die SPD wurde durch den Wähler vom Senior zum Junior degradiert, aber das spielt eigentlich keine Rolle mehr. Angesichts solch über- ragender Fähigkeiten, solide in die Zukunft zu planen und zu inve- stieren sowie ein optimales Ergebnis für alle Beteiligten zu errei- chen, sieht man mit Gewissheit einem mit politischen Euphemismen jeder Couleur angereicherten Jahr 2006 entgegen. Gewiss: Aufga- ben zur Genüge für die Linke in diesem Land. Ich jedoch werde si- cherheitshalber erst einmal bei Orwell nachlesen und einen weiten Bogen um Genshagen schlagen. MARTIN SCHIRDEWAN UTOPIE 184-D_a 18.01.2006 14:40 Uhr Seite 101 UTOPIE kreativ, H. 184 (Februar 2006), S. 101-110 101 MARCUS HAWEL Negative Kritik und bestimmte Negation Zur praktischen Seite der kritischen Theorie Zum Verhältnis von Theorie und Praxis Der Rekurs politischer Praxis auf Gesellschaftstheorie ist sinnvoll, wenn die Verhältnisse erfolgreich vorwärts schreiten sollen. Pra- xis ist nicht frei zu wählen. Eine bestimmte Praxis erfolgt notwendig aus der Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen eine bestimmte Praxis als Negativ bereits angelegt ist. Auch die Philoso- phie ist nicht frei in der Wahl ihrer Prinzipien, wenn es darum geht, Wirkmacht zu entfalten. Die Prinzipien sind gebunden an den Boden gegenwärtiger gesellschaftlicher Widersprüche. In diesem Sinne hat, wie Heinrich Heine sagt, die Philosophie ihre Mission zu erfül- len. Wenn Philosophie auch heute ihre Mission zu erfüllen hat, dann muß man sich mit dem Boden und der Zeit auseinandersetzen, auf dem und in der sie entsteht. Mit der Reflexion des Verhältnisses von Theorie und Praxis zeigt Marcus Hawel – Jg. 1973, die Theorie ihre praktische Seite – vor allem auch negativ, weil sie Dr. (des), Studium der So- sich einer bestimmten Praxis durchaus verweigern und zugleich mit ziologie, Sozialpsychologie ihr arrangieren muß. Denn die Praxis erfolgt auf dem Feld der Real- und Literaturwissenschaft in Hannover. Promotion über politik, das einerseits eher theoriefeindlich ist, aber andererseits das »Die normalisierte Nation – einzige Feld ist, auf dem Praxis überhaupt möglich ist. Wer sich der Zum Verhältnis von Vergan- Realpolitik entzieht, ist praxisabstinent. Aber Realpolitik orientiert genheitsbewältigung und sich nicht bewußt an theoretischen Idealen, sondern am real Gegebe- Außenpolitik«. nen; sie nimmt Zweck-Mittel-Kalkulationen vor, ist instrumentelle Stipendiat der Hans Böckler Vernunft, die den Zweck und den Einsatz der Mittel ausschließlich Stiftung. Mitherausgeber der online-Zeitschrift nach den Kriterien des Erfolges, Profits, Nutzens und der Macht ab- »Sozialistische Positionen« wägt und dabei nicht weit in die Zukunft schaut. Politik aber ist nur (www.sopos.org). Seit 2005 dann auf kurze Sicht richtig, heißt es bei Manès Sperber, wenn sie im Vorstand des Rosa- auch auf lange Sicht richtig ist. Luxemburg-Bildungswerkes Realpolitik ist abstrakt, d. h. mehrfach
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